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German Pages [273] Year 2020
zeithistorische studien
Rainette Lange
Erzählen vom Umbruch
Die „Wende“ von 1989/90 in der deutschen und tschechischen Gegenwartsliteratur
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Zeithistorische Studien Herausgegeben vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam Band 61
Rainette Lange
Erzählen vom Umbruch Die „Wende“ von 1989/90 in der deutschen und tschechischen Gegenwartsliteratur
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Forschung, Potsdam und des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds.
Diese Arbeit ist als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam entstanden und wurde am 24. Januar 2019 verteidigt.
Rainette Lange ist Literaturwissenschaftlerin und war Doktorandin am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Derzeit ist sie für die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen tätig. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie., Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Rangsdorf (bei Berlin) im Jahr 2011, Foto: Robert Lorenz Satz: Waltraud Peters, Potsdam Einbandgestaltung : Michael Haderer, Wien
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51851-6
Inhalt
Einleitung ................................................................................................................................... 7
Herangehensweise, Begriffe, Gliederung .............................................................................16 I.
Körpermetaphoriken der Kindheit......................................................................... 25
1.1 Zum Gedächtnis des Körpers ..................................................................................... 25 1.2 Julia Schoch: Der Körper des Salamanders (2001) ...................................................38 Die Körper der Ruderinnen............................................................................................42 Der Körper der Erzählerin ..............................................................................................47 1.3 Terézia Mora: Lager Mira. Moritat (2002) ...............................................................50 Geschwächte Körper .........................................................................................................51 Kontrollierte Körper .........................................................................................................55 1.4 Jochen Schmidt: Produktive Arbeit (2002) und Daniel Wiechmann: Immer bereit! Von einem jungen Pionier, der auszog, das Glück zu suchen (2004) .......59 Jochen Schmidt: Paradoxien des Alltags .....................................................................59 Daniel Wiechmann: Irritierende Wahrnehmungen ..............................................62 1.5 Bohuslav Vanĕk-Úvalský: Brambora byla pomeranč mého dĕtství (2001) (dt. Die Kartoffel war die Orange meiner Kindheit).................................................69 Der gespaltene Körper ......................................................................................................73 Der stigmatisierte Körper ................................................................................................77 Misslingende Integration........................................................................................... 80 1.6 Zusammenfassung....................................................................................................... 81 II.
Die Poetik der doppelten Entgrenzung ............................................................ 83
2.1 Die doppelte Entgrenzung der Wendezeit ............................................................ 83 2.2 Wendeliteratur als Literatur der Entgrenzung ..................................................... 89 2.3 Adoleszenzliteratur als Literatur der Entgrenzung.............................................. 99 Liminalität und Communitas ................................................................................103 2.4 Clemens Meyer: Als wir träumten (2006) ...........................................................109 Gleichzeitigkeiten: Wende und Adoleszenz .......................................................109 Entgrenzungen I: Gewalt und Rausch..................................................................114 Entgrenzungen II: Dunkelheit, Nacht, Traum ..................................................119 Communitas als Gegenordnung............................................................................123 2.5 Jana Simon: Denn wir sind anders. Die Geschichte des Felix S. (2002)...........129 Gleichzeitigkeiten: Wende und Adoleszenz .......................................................129 Entgrenzungen: Gewalt und Rausch ....................................................................134
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Inhalt
Communitas als Gegenordnung ............................................................................137 2.6 Zusammenfassung.....................................................................................................139 III. Die Poetik der Ödnis ..............................................................................................143
3.1 Anklam – Zentrum der Ödnis ...............................................................................143 3.2 Julia Schoch: Mit der Geschwindigkeit des Sommers (2009).............................151 Zur doppelten Verlusterfahrung............................................................................153 Starre Landschaften ..................................................................................................155 Das Nichts ..................................................................................................................159 3.3 Judith Zander: Dinge, die wir heute sagten (2010).............................................163 Kommunikative Ödnis ............................................................................................167 Metareflexionen über die DDR .............................................................................172 3.4 Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe. Bildungsroman (2011) ...................182 „Disanthropischer“ Ort? .........................................................................................184 Liebe als „Alibi für kranke Symbiosen“ ................................................................187 3.5 Zusammenfassung.....................................................................................................190 IV. Die Poetik der Distanz ...........................................................................................193
4.1 Eine distanzierte Generation? ................................................................................193 4.2 Markéta Pilátová: Žluté oči vedou domů (2007) (dt. Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein) ........................................................197 Räumliche Distanz....................................................................................................200 Distanz der Geschlechter.........................................................................................203 Generationelle Distanz ............................................................................................210 4.3 Marek Janota: Všechno, co vidím (2009) (dt. Alles, was ich sehe).....................214 Der distanzierte Blick...............................................................................................216 Die unsichtbare Vergangenheit..............................................................................220 4.4 Petra Hůlová: Strážci občanského dobra (2010) (dt. Die Hüter des Gemeinwohls)............................................................................226 Distanzierung der Schwestern................................................................................227 Räumliche Distanzierung........................................................................................231 4.5 Zusammenfassung.....................................................................................................239 V. Schluss: Die Wende – Das „unsichtbare Scharnier“? .................................241 Anhang
Literaturverzeichnis ..........................................................................................................257 Danksagung ........................................................................................................................269
Einleitung
„Die Revolution war über sie gekommen wie ein plötzliches Unwetter, dem man aus sicherer Behausung zuschaut.“ (Julia Schoch) „Als ob man bei Gewitter wie gebannt aus dem Fenster starren würde, obwohl man Wasser nicht mag und vor Blitzen Angst hat, doch es hilft nichts, man kann sich nicht lösen von dem Orkan da draußen.“ (Petra Hůlová)
Der Fall des Eisernen Vorhangs oder die Wende von 1989/90, zumeist ikonographisch verknüpft mit zerschnittenem Stacheldrahtzaun, jubelnden Menschenmassen auf der Mauer oder dem Wort ,Wahnsinn‘, erscheint in diesen beiden Zitaten der deutschen Autorin Julia Schoch und der tschechischen Autorin Petra Hůlová als eine passiv aus der Ferne beobachtete Naturkatastrophe.1 Beide IchErzählerinnen sind im Jahr des Mauerfalls Jugendliche, die in sozialistischen Planstädten an der Peripherie ihres Landes leben – Schochs Erzählerin in einer NVAKasernenstadt an der polnischen Grenze, Hůlovás Erzählerin in einer Tagebaustadt in Nordböhmen. Von den Turbulenzen des gesellschaftlichen Umbruchs werden sie offenbar nicht wirklich ergriffen, sie nehmen den politischen Einschnitt, dem als Naturgewalt zwar Dramatik und Zerstörungskraft zugeschrieben wird, aus einer eigentümlichen physischen wie psychischen Distanz war. Die Wende erweist sich in diesen Darstellungen als ein genauso überwältigendes wie entferntes Geschehen, das keinen spürbaren Bezug zum Leben der Protagonistinnen zu haben scheint. Die Textstellen erzählen vom Umbruch als einem heftigen Unwetter, das aus der Distanz betrachtet wird und dessen Bedeutung die Erzählerinnen aus erinnernder Perspektive zu ergründen versuchen. Mit der Frage nach der Bedeutung der ,Wende‘2 für das persönliche Erleben von damals Jugendlichen oder Kindern ist – zumindest in der deutschen Gegenwartsliteratur – in den letzten Jahren eine ganze Gruppe an Texten hervorgetreten, die ein breites Medienecho ausgelöst haben. Häufig wurde im Zusammenhang mit AutorInnen, die als Kinder noch im sozialistischen System sozialisiert wurden, 1
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Julia Schoch: Mit der Geschwindigkeit des Sommers, München 2009, S. 49; „Stejně jako když zírá při bouřce přilepenej k oknu, přestože vodu nemá rád a blesků se bojí, ale nemůže si pomoct, protože od toho peklení za sklem se nejde odtrhnout.“, Petra Hůlová: Strážci občanského dobra, Praha 2010, S. 87. Der Begriff der „Wende“ (sowie „Wendeliteratur“ u. ä.) wird trotz seiner problematischen Unschärfe und Alltagssprachlichkeit in dieser Arbeit aus Gründen der Lesbarkeit in der Regel ohne Anführungszeichen geschrieben.
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Einleitung
doch ebenso wesentliche biografische Reifeschritte nach 1989 gemacht haben und die Erfahrung des Systemwechsels nun in oftmals autobiografischen Texten literarisieren, das Label der Wendekinder oder Zonenkinder verwendet. Es geht zurück auf Jana Hensels viel diskutiertes Buch Zonenkinder aus dem Jahr 2002, in welchem die Erzählinstanz aus generalisierender Wir-Perspektive die Wahrnehmung der Wendezeit durch DDR-sozialisierte Jugendliche beschreibt.3 Zahlreiche Texte wurden im Anschluss publiziert, die eine ähnliche Thematik aufgreifen und Wendeerfahrungen aus der Perspektive von Heranwachsenden beschreiben.4 Die Rede von den Wendekindern war zudem einige Jahre im Zusammenhang mit der Dritten Generation Ost präsent, einer politischen Initiative junger Ostdeutscher, die besondere Erfahrungen und Prägungen durch die Wendezeit für eine bestimmte Altersgruppe noch in der DDR sozialisierter Jahrgänge (geboren zwischen 1975 und 1985) behauptet. Die Initiative war besonders in den Jahren 2011–2015 aktiv und erlangte durch verschiedene Aktivitäten wie Konferenzen, Generationentreffen, Biographieworkshops und Publikationen große mediale Aufmerksamkeit.5 Erklärte Ziele der Gruppe bestanden u. a. in der Förderung des Dialogs zwischen Ost und West sowie zwischen den verschiedenen Generationen in Ostdeutschland, im Bestreben, den Diskurs über den Osten von Vorurteilen und Klischees zu befreien, sowie in der Unterstützung zivilgesellschaftlichen Engagements junger Ostdeutscher. Dabei handelte es sich um einen losen Zusammenschluss einiger Aktiver mit der Absicht, eine Plattform für gegenseitigen Austausch zu schaffen und weniger mit dem Ziel, konkrete politische Anliegen zu formulieren. Eine in Medienbeiträgen immer wieder formulierte Kernthese der Dritten Generation Ost ist die Behauptung einer besonderen Bedeutung der Umbruchserfahrung für diese Generation, die zu einer doppelten Sozialisation und daraus resultierenden, speziellen Kompetenzen im Umgang mit gesellschaftlichen Brüchen geführt hätte. Worin diese besonderen Erfahrungen bestehen, ließ sich jedoch schwer konkretisieren und blieb lange Gegenstand der Diskussion. Ausgangspunkt der Debatte war offenbar ein diffus gefühltes und artikuliertes Anderssein, das weder eindeutig verbalisierbar noch soziologisch nachweisbar scheint und damit auch oftmals auf 3 4
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Jana Hensel: Zonenkinder, Hamburg 2002. Um nur einige der bekannteren zu nennen: Claudia Rusch (*1971): Meine freie deutsche Jugend, Frankfurt/Main 2003; Robert Ide (*1975) Geteilte Träume: Meine Eltern, die Wende und ich, München 2007; Andrea Hanna Hünniger (*1984): Das Paradies: Meine Jugend nach der Mauer, Stuttgart 2011; Sabine Rennefanz (*1974): Eisenkinder. Die stille Wut der Wendegeneration, München 2013; Peter Richter (*1973): 89/90, München 2015. Michael Hacker u. a. (Hrsg.): Dritte Generation Ost: Wer wir sind, was wir wollen, Berlin 2012; Adriana Lettrari u. a. (Hrsg.): Die Generation der Wendekinder: Elaboration eines Forschungsfeldes, Wiesbaden 2016.
Einleitung
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Unverständnis stieß oder als „übergeneralisierter Phantomschmerz“6 bezeichnet wurde. Die Wendekinder-Debatte, also die verstärkte mediale Diskussion besonderer Wende-Erfahrungen dieser Generation und die Häufung literarischer Publikationen zu diesem Thema bilden als Beobachtung einen Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit, die in vergleichender Perspektive das literarische Schaffen jüngerer deutscher und tschechischer AutorInnen über den Systemumbruch in den Blick nimmt. Mit ,jünger‘ sind dabei jene Jahrgänge gemeint, die im Jahr 1989 noch nicht oder gerade erst volljährig waren. ,Schreiben über den Systemumbruch‘ wird dabei in einem breiten Sinne verstanden als ein Schreiben aus der Gegenwart über die Wende und ihre gesellschaftlichen Folgen, was sowohl Erinnerungen an Kindheit im Sozialismus, an die Jahre 1989/90 sowie an die zeitlich schwer einzugrenzende Phase der Gesellschaftstransformation miteinbezieht. Der literarische Diskurs ist – zumindest in Deutschland – nicht unwesentlich beteiligt an dieser öffentlichen Debatte, wie sich allein schon am Wirkungsradius von Jana Hensels Zonenkinder sehen lässt, das zahlreiche Auflagen (350 000 Exemplare laut Verlagsangabe) erlangte und weitere Publikationen Hensels zum Thema nach sich zog.7 Katrin Löffler analysierte anhand der Amazon-Rezensionen zu Zonenkinder die Bedeutung des Textes als Generationenbuch für eine bestimmte Altersgruppe im Vergleich zu dem oftmals als westdeutsches Äquivalent betrachteten Generation Golf (2000) von Florian Illies, dessen Erzähler auch in der Wir-Form für seine ,Generation‘ spricht. Löffler betont die Intensität der Debatte bei Hensel, die sich an den stark polarisierenden Amazon-Meinungen festmachen ließe sowie an der Tatsache, dass – ganz anders als bei Illies – zwei Drittel der KommentatorInnen explizit ihre Herkunft, Alter oder Geburtsjahr nennen, Hensels Leserschaft also deutlich auf das Generationen-Thema reagiert, wie sie schlussfolgert: „Natürlich kann man die Frage, ob sich die Wendekinder unter den Lesern mehrheitlich identifiziert haben oder nicht, quantitativ nicht beantworten, aber unabhängig davon lässt schon die intensive Rezeption darauf schließen, dass es ein generationsspezifisches Bewusstsein für die besondere historische ,Lagerung‘ gibt, um mit Mannheim zu sprechen, oder dass dieses Bewusstsein durch die Lektüre
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Martin Sabrow im Interview mit Johannes Stämmler und Jens Bisky. Wie viel DDR steckt in den Wendekindern? SWR, 13.09.2012, (http://www.ardmediathek.de/radio/Forum/ Wie-viel-DDR-steckt-in-den-Wendekindern/SWR2/Audio-Podcast?bcastId=3046&docu mentId=48604720). U. a. Jana Hensel: Achtung Zone – Warum wir Ostdeutschen anders bleiben sollten, München 2009, sowie Begleitpublikation von Tom Kraushaar: Die Zonenkinder und Wir: Die Geschichte eines Phänomens, Hamburg 2004.
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Einleitung
befördert wurde.“8 Dies verweist also zumindest darauf, dass Wendeerfahrungen im Zusammenhang mit Generationenfragen in Deutschland auf breiterer gesellschaftlicher Ebene diskutiert werden und literarische Texte in diesen Diskurs eingebettet sind bzw. ihn mit konstituieren. Die durch Akteure wie Jana Hensel oder die Dritte Generation Ost in Umlauf gebrachte generationelle Selbstzuschreibung jüngerer ostdeutscher Jahrgänge prägt daher auch das literarische Feld, in dem die in dieser Arbeit untersuchten deutschen Texte entstanden und rezipiert worden sind. Bei den hier ausgewählten Werken von Clemens Meyer (*1977), Terézia Mora (*1971), Jana Simon (*1972), Judith Schalansky (*1980), Jochen Schmidt (*1970), Julia Schoch (*1974), Daniel Wiechmann (*1974) und Judith Zander (*1980) handelt es sich um fiktionale Geschichten über die Wende- und Nachwendezeit aus der Perspektive zumeist jugendlicher, ostdeutscher Protagonisten, die in der Rezeption in verschiedenem Maße als Texte über den Systemumbruch und dessen Folgen galten. Auch wenn sich die genannten AutorInnen in keiner Weise als Gruppe konstituieren oder sich, im Gegenteil, dagegen wehren, als „Berufsossis“ oder Sprachrohre einer Generation gesehen zu werden,9 werden sie dennoch in Interviews dazu befragt oder besetzen als obligatorische Literaten Diskussionspodien zu diesen Themen.10 Auf der Internetseite des Netzwerks Dritte Generation Ost findet sich eine Linkliste mit Lektüretipps, auf der – bis auf Daniel Wiechmann und Terézia Mora – alle der hier behandelten AutorInnen vertreten sind. Ihren Texten wird also Aussagekraft zu diesem Thema zugeschrieben und sie werden in den kommunikativen Prozess der Generationsbildung eingebunden. 8 Katrin Löffler: Systemumbruch und Lebensgeschichte. Identitätskonstruktion in autobiografischen Texten ostdeutscher Autoren, Leipzig 2005, S. 141. 9 Vgl. Clemens Meyer: „Ich sehe mich als Individualisten“, Interview. In: taz, 21.6.2006, (http://www.taz.de/1/archiv/?dig=2006/06/21/a0226); Terézia Mora: Das Kreter-Spiel oder Was fängt die Dichterin in ihrer Zeit mit dieser an, 2007, (https://www.tereziamora.de/ downloads/Kreter-Spiel.pdf). 10 Besonders Meyer und Schoch werden als Angehörige dieser Generation gesehen, z. B. auf einer Tagung des Bündnisses für Demokratie und Toleranz am 14./15.11.2013 in Berlin mit dem Titel „Die Kinder der Revolution“. „Die Tagung beleuchtet den gegenwärtigen literarischen Umgang mit der DDR. Sie versteht sich als Forum mit jungen und älteren Dichtern, deren Literatur ohne politische Reflexionen nicht vorstellbar ist. Wie begegne ich dem Erbe der DDR? Darüber diskutieren Clemens Meyer, Julia Schoch, Andrea Hanna Hünniger, Sabine Rennefanz und Thomas Freyer. Diese Autoren der sogenannten Dritten Generation wurden in den 1970er-Jahren und Anfang der 1980er-Jahre in der DDR geboren. Nach dem Mauerfall mussten sie sich während ihrer Jugend mit einem neuen Staat und dem gesellschaftlichen Wandel arrangieren. Sie sind doppelt sozialisiert.“ (http://www.buendnis-toleranz.de/aktiv/veranstaltungen/167524/die-kinder-der-friedlichen-revolution).
Einleitung
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Anders stellt sich die Situation in Tschechien dar. Die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit und den gesellschaftlichen Folgen des Systemwechsels seit 1989 tritt gerade unter jüngeren AutorInnen nicht als eigenständiges Thema in Erscheinung. Nur einige wenige Texte widmen sich dezidiert dieser Frage. Es herrscht in der Gegenwartsliteratur eine Tendenz zu globalen Themen vor, zu Reise- und Auslandsgeschichten mit Problemen wie Arbeitsmigration oder interkulturellen Differenzen. Von der tschechischen Autorin Markéta Pilátová wurde für diese Entwicklung in einem Artikel der Zeitschrift Respekt aus dem Jahr 2009 der Begriff der „Generation der Fliehenden“ („generace útĕkářů“) geprägt als Bezeichnung für eine Gruppe größtenteils jüngerer AutorInnen, denen eine literarische Beschäftigung mit aktuellen Entwicklungen der tschechischen Gesellschaft oder gar der kommunistischen Vergangenheit fern zu liegen scheint. Vielmehr würden sie nomadisch durch die Welt ziehen und kein Interesse daran haben, tschechische Probleme zu lösen.11 Im Zusammenhang mit der literarischen Darstellung von Wendeerfahrungen wurde der Situation in anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks bisher generell wenig Beachtung geschenkt. Dabei kann der Vergleich mit den Literaturen anderer postsozialistischer Gesellschaften Aufschluss darüber geben, ob es hier ähnliche Entwicklungen gibt oder in welcher Form eine literarische Auseinandersetzung mit dem Systemwechsel überhaupt stattfindet. Der Blick auf die tschechische Gegenwartsliteratur und eine vergleichende Analyse ausgewählter Texte von Petra Hůlová (*1979), Markéta Pilátová (*1973), Marek Janota (*1977) und Bohuslav Vaněk-Úvalský (*1970) soll zeigen, welche Tendenzen es diesbezüglich in der tschechischen Literatur gibt. Einige wenige wissenschaftliche Publikationen befassen sich mit entsprechenden literarischen Entwicklungen in anderen Ländern Ostmitteleuropas, doch liegt der Schwerpunkt meist auf Polen. So hat Svetlana Vassileva-Karagyozovas in „Coming of Age under Martial Law. The Initiation Novels of the Last Communist Generation“ (2015) eine größere Gruppe Texte polnischer AutorInnen unter generationellem Aspekt hinsichtlich der Darstellung prägender Erfahrungen durch das kommunistische Regime untersucht. In den wenigen ostmitteleuropäisch vergleichenden Studien zur Wendeliteratur12 sind 11 Markéta Pilátová: Spisovatelé na útĕku In: Respekt Nr. 21, 18/2009, S. 36. 12 Alicja Krauze-Olejniczak/Sławomir Piontek (Hrsg.): Die ,Wende‘ von 1989 und ihre Spuren in den Literaturen Mittelosteuropas, Frankfurt/Main 2017; Auch in dem Band von Frank Hoffmann (Hrsg.): „Die Erfahrung der Freiheit?“ – Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Europäischen Revolution 1989/91, Berlin 2012, dominieren Beiträge zu Polen, z. B.: Monika Tokarzewska: Das Kollektive und das Private. Neue Wege polnischer Gegenwartsliteratur (am Beispiel von Tokarczuk, Iwasiów und Dukaj) im Vergleich zur Wende-Symbolik bei deutschen Autoren; Mariella C. Gronenthal: Nostalgie und
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Einleitung
ebenfalls zumeist Untersuchungen zur polnischen Literatur vorherrschend, über die tschechische Situation erfahren wir relativ wenig. Grundsätzlich ist in Tschechien der Stellenwert der Literatur, die sich mit der Aufarbeitung von Vergangenheit befasst, ein anderer. Während in Deutschland literarische Texte über die Wende von 1989/90 und ihre Folgen den Prozess der Systemtransformation in Ostdeutschland und der Wiedervereinigung begleitet und die öffentliche Diskussion darüber mitgestaltet haben, seitdem unüberschaubar viele Prosatexte und wissenschaftliche Publikationen zum Thema erschienen sind,13 hat es in Tschechien keine derart intensiven Diskussionen über ,Wendeliteratur‘ gegeben. Der tschechische Literaturbetrieb hat seit der Samtenen Revolution 1989 eine andere Entwicklung genommen. Nach dem Ende der Dreiteilung der Literatur in eine offizielle, eine Exil- und eine Samizdatliteratur herrschte in den 1990er Jahren zunächst reges Interesse an allem, was vorher unzugänglich war, d. h. die Publikation von Werken bisher verbotener AutorInnen aus dem Samizdat oder dem Exil stieg sprunghaft an, ebenso die Veröffentlichung von Tagebuch- und Memoirenliteratur aus der Zeit vor 1989.14 Mit zunehmender Demokratisierung der Gesellschaft und auch Kommerzialisierung des Literaturbetriebs ging dieses Interesse jedoch bald zurück, häufig zugunsten der Übersetzung und Veröffentlichung der Texte internationaler AutorInnen.15 Die Rolle der Literatur und die Stellung der SchriftstellerInnen in der tschechischen Gesellschaft wurde neu diskutiert, ausgelöst durch einen Artikel des Autors Jiří Krachtochvil über die „ErneueSozialismus. Emotionale Erinnerung in der deutschen und polnischen Gegenwartsliteratur, Bielefeld 2018. 13 Die erste umfassende Bibliographie zur sogenannten Wendeliteratur erschien im Jahr 1996 von Jörg Fröhling: Wende-Literatur: Bibliographie und Materialien zur Literatur der deutschen Einheit, Frankfurt/Main 1996. Frank Thomas Grubs zweibändiges Handbuch „,Wende‘ und ,Einheit‘ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur“ aus dem Jahr 2003 kann als bisher letzter systematischer Versuch gelten, einen inhaltlichen wie bibliographischen Überblick zur Wendeliteratur zu schaffen. Bereits damals konstatierte Grub die Unüberschaubarkeit des Materials: „Die Bandbreite der Publikationen aus der Zeit der ,Wende‘ und über die ,Wende‘ ist riesig und mittlerweile kaum noch überschaubar. Sie reicht von Sachbüchern und Dokumentationen über Sammelbände mit mehr oder weniger polemischen Texten, Personenlexika mit satirischem Hintergrund bis zum Höhenkammroman, -gedicht und -drama, vom Tagebuch über die Reportage zum Essay. Am Umfang der in Band 2 enthaltenen Bibliografie lässt sich leicht ablesen, dass die Zahl allein der Primärtexte so groß ist, dass die meisten Werke hier nicht ausführlich dargestellt werden können.“, S. 8/9. 14 Miroslav Balaštík: Postgenerace. Zátiší a bojiště poezie 90. let 20. století, Brno 2000, S. 14, 17. 15 Jiří Holý: Tschechische Literatur 1945–2000. Tendenzen, Autoren, Materialien. Ein Handbuch. Herausgegeben von Gertraude Zand, Wiesbaden 2011, S. 115, 117, 118.
Einleitung
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rung des Chaos in der tschechischen Literatur“16, also über die Entkopplung der politischen und ästhetischen Funktion der Literatur im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems und die neu gewonnenen ästhetischen Freiheiten im postmodernen ,Chaos‘. Die Literatur hatte in der sich pluralisierenden Gesellschaft ihre Funktion als „Korrektiv der Macht“ und kritische Ersatzöffentlichkeit mit moralischem Anspruch verloren.17 Der Wandel der gesellschaftlichen Funktion der Literatur und des Literaturmarkts wird häufig als Form des Werteverfalls und Prestigeverlust der Literatur betrachtet. So beschreibt Jiří Holý diese Entwicklung als das „sinkende Prestige des Geistigen und der Kultur in der tschechischen Gesellschaft“18, die er im Wechsel von Václav Havel zu Václav Klaus an der Spitze des Staates symbolisch ausgedrückt sah. Aus diesem Kontext wird verständlich, warum zumindest für die erste Dekade nach 1989 eine eher apolitische Orientierung der Literatur und ein vorherrschendes Desinteresse an einer kritischen Betrachtung aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen konstatiert wird.19 Eine breite Feuilletondebatte und öffentliche ,Forderung‘ nach einem Wenderoman wie in Deutschland gab es wie gesagt nicht. Dabei gibt es durchaus zahlreiche Romane, die den gesellschaftlichpolitischen Einschnitt reflektieren. So ließe sich beispielsweise Jáchym Topols sprachgewaltiger Kult-Roman Die Schwester aus dem Jahr 1994 durchaus als Wenderoman bezeichnen, da er das Chaos der ersten Jahre nach 1989 in der Prager Unterwelt beschreibt und die vielfachen kulturellen Brüche dieser Zeit spürbar werden lässt.20 Auch Michal Vieweghs Erfolgsroman Blendende Jahre für Hunde21 von 1992 ist ein Wenderoman – obwohl oder gerade weil dieser sehr populäre Text für das mangelnde literarische Interesse an kritischer Vergangenheitsbetrachtung steht, lassen sich daraus Rückschlüsse auf verbreitete Deutungsmuster der Vergangenheit in den frühen 1990er Jahren ziehen. Viewegh beschreibt das Leben einer ,ganz normalen Familie‘ in der Normalisierungszeit mit viel Humor und Leichtigkeit. In diesem Rückblick auf den Kommunismus werden zwar Repressalien und Mängel des Systems keineswegs ausgespart, jedoch durch ironische Brechung entschärft und in nostalgisches Licht getaucht. 16 Jiří Kratochvil: Obnovení chaosu v české literatuře. In: Literární noviny 3, č. 47, 1992, S. 1, 4. 17 Balaštík, 2010, S. 12; Siehe auch Holý, 2011, S. 115–119. 18 Holý, 2011, S. 129. 19 Lubomír Machala: Der literarische November 1989 oder der Schriftsteller in der heutigen tschechischen Gesellschaft. In: Alicja Krauze-Olejniczak/Sławomir Piontek (Hrsg.): Die ,Wende‘ von 1989 und ihre Spuren in den Literaturen Mittelosteuropas, Frankfurt/Main 2017. 20 Jáchym Topol: Sestra, Praha 1994 (dt. Jáchym Topol: Die Schwester, Berlin 1998). 21 Michal Viewegh: Báječná léta pod psa, Praha 1992 (dt. Michal Viewegh: Blendende Jahre für Hunde, Köln 1998).
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Einleitung
Ein starker antikommunistischer Konsens22 kommt darin zum Ausdruck, doch werden gleichzeitig positive Erinnerungen erzählt und erzählbar. Damit steht Vieweghs Erzählstrategie für einen breiteren Trend der literarischen und auch filmischen Vergangenheitsbetrachtung: „Gerade seit Blendende Jahre für Hunde gibt es in der tschechischen Populärkultur den beliebten Typus des erbosten aber harmlosen Antikommunisten, der nur meckert.“23 Mit zunehmendem zeitlichen Abstand erscheinen seit ungefähr 2002 vermehrt literarische Texte, die sich kritischer mit der kommunistischen Vergangenheit befassen. Als thematische Schwerpunkte lassen sich die Vertreibung der Sudetendeutschen, die Verbrechen der 1950er Jahre, der Prager Frühling sowie die Normalisierungszeit ausmachen.24 Auch gibt es in Tschechien in jüngster Zeit eine Zunahme an Erinnerungstexten in Form von Familien- oder Generationsromanen, die sich jedoch wegbewegen von nationalen (Aufarbeitungs-)Themen. Es werden transnationale historische Traumata behandelt, wie der Holocaust, häufig aus der Sicht weiblicher Protagonistinnen und ihrer subjektiv-emotionalen Wahrnehmung historischer Ereignisse. (Radka Denemarková, Kateřina Tučková, Jakuba Katalpa) Die transgenerationale Weitergabe von Traumata sowie deren Einfluss auf Identitäten sind dabei ein vorherrschendes Thema. In diesen Trauma-Romanen kommt eine neue Art der Vergangenheitsdarstellung zum Tragen, die den komplexen Prozess des subjektiven Erinnerns und damit die „Multiplizität der Vergangenheiten“ ins Zentrum rückt. Die Texte dekonstruieren feststehende Bilder der Vergangenheit und reflektieren über plurale Identitäten in transnationalen Zusammenhängen.25 Die in dieser Arbeit betrachtete Literatur der „Generation der Fliehenden“ („generace útěkářů“) über das Reisen und die Fremde lässt sich als Teil dieser literarischen Entwicklung verstehen, in der sich ein Zurücklassen „kulturelle(r) wie nationale(r) Kategorisierbarkeiten und Homogenitätsideale“ beobachten lässt.26 Der Umbruch von
22 Jan Pauer: Die Aufarbeitung der Diktaturen in Tschechien und der Slowakei. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 42/2006, (http://www.bpb.de/apuz/29477/die-aufarbeitungder-diktaturen-in-tschechien-und-der-slowakei?p=all). 23 „Právě v Báječný létech pod psa vstoupil do české populární kultury tento oblíbený typ rozhořčeného antikomunistý, který jen neškodně láteří.“, Kamil Činátl: Naše české minulosti aneb jak vzpomínáme, Praha 2014, S. 316. 24 Alena Fialová: Reflexe totalitní minulosti v současné české próze. In: Daniel Kunštát/Ladislav Mrklas: Historická reflexe minulosti aneb ostalgie v Německu a Česku, Praha 2009. 25 Činátl, 2014, S. 321. 26 Alfrun Kliems: Lokalismen, Regionalismen, Exotismen. Poetische Verfahren in den „Nachwende“-Literaturen Mitteleuropas. In: Alicja Krauze-Olejniczak/Sławomir Piontek (Hrsg.): Die ,Wende‘ von 1989 und ihre Spuren in den Literaturen Mittelosteuropas, Frankfurt/Main 2017, S. 15.
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1989 und seine Folgen stehen in diesen Texten also nicht als Thema im Vordergrund im Sinne einer expliziten Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit, wie es sich für viele der deutschen Texte behaupten lässt, sondern sind vielmehr Teil eines breiteren Themenkomplexes der Gegenwart. Reflexionen über die Vergangenheit sind darin eingewoben, denn das Reisen als literarisches Motiv, also die räumliche Distanznahme, reflektiert schließlich eine Entwicklung der Gesellschaft seit 1989: Im Kontakt mit dem Fremden werden immer auch Neubewertungen der eigenen Identität und Vergangenheit ermöglicht oder gar erforderlich, der Standortwechsel kann Perspektivenwechsel fördern und festgefahrene Sichtweisen verändern oder relativieren. In diesem Sinne implizieren die Texte daher ebenso Narrative über den gesellschaftlichen Umbruch – so eine These dieser Arbeit – denn viele der Auslandsgeschichten reflektieren mittels der Erkundung und Beschreibung des Fremden Fragen von Identität und Geschichte. Die Möglichkeit des Reisens selbst ist schließlich ein Effekt des politischen Umbruchs von 1989. Literatur über das Reisen erzählt somit auch von einem gesellschaftlichen Einschnitt: der Öffnung der Grenzen und der neuen Selbstverständlichkeit der Freiheit. Auch tschechische Gegenwartstexte lassen sich somit als Texte über den Systemumbruch lesen. Sie beinhalten ebenso Deutungsmuster der jüngsten Vergangenheit, und zwar sowohl über Kindheit im Sozialismus, die Jahre 1989/90 als auch die Folgen der Gesellschaftstransformation. Im hier vorliegenden Vergleich deutscher und tschechischer Texte geht es jedoch nicht primär um die in der Germanistik bereits häufig gestellte Frage nach Identitätskonstruktionen27 in der Wendeliteratur oder der Narration eines besonderen, generationellen Wir-Bewusstseins, zumal dies in den tschechischen Texten keine vordergründige Rolle spielt. Es ist nicht das Ziel, das „Doing Generation“28 (Björn Bohnenkamp) der Dritten Generation Ost als narrative Strategie in der Literatur zu bestätigen, auch wenn diesbezügliche Tendenzen in den Texten an entsprechender Stelle thematisiert werden, wie beispielsweise im Falle von Jana Simon, in deren Denn wir sind 27 In zahlreichen literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zur Wende- oder auch DDRLiteratur ist die Frage nach ostdeutscher Identität sehr zentral, vgl. z. B.: Karsten Dümmel: Identitätsprobleme in der DDR-Literatur der siebziger und achtziger Jahre, Frankfurt/Main 1997; Katrin Löffler: Systemumbruch und Lebensgeschichte. Identitätskonstruktion in autobiografischen Texten ostdeutscher Autoren, Leipzig 2005; Hyacinthe Ondoa: Literatur und politische Imagination. Zur Konstruktion der ostdeutschen Identität in der DDR-Erzählliteratur vor und nach der Wende, Leipzig 2005; Magdalena Kardach: Auf der Suche nach einer neuen Selbstbestimmung. Identitäts- und Mentalitätswandel in der autobiographisch inspirierten Literatur nach der ,Wende‘, Frankfurt/Main 2011; Christiane Micus-Loos: Bildung, Identität, Geschichte. Ost- und Westdeutsche Generationenerfahrungen im Spiegel autobiographischer Texte, Paderborn 2012. 28 Vgl. Björn Bohnenkamp: Doing Generation. Zur Inszenierung von generationeller Gemeinschaft in deutschsprachigen Schriftmedien, Bielefeld 2011.
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anders. Die Geschichte des Felix S. die Verbindung zwischen Generationszugehörigkeit und spezifischen Wendeerfahrungen deutlich hergestellt wird, oder auch Clemens Meyers Als wir träumten, das von einem besonderen Wir-Gefühl erzählt in der Erinnerung seines Protagonisten an eine entgrenzende Communitas-Erfahrung seiner Jugendclique, die unter den speziellen gesellschaftlichen Bedingungen der ersten Nachwende-Jahre möglich wurde. Vielmehr wird allgemeiner danach gefragt, welche literarischen Deutungsmuster der Wende und Nachwendezeit in einem breiteren Korpus an ganz unterschiedlichen Texten aus heutiger Sicht entworfen werden und welche narrativen und ästhetischen Funktionen die erzählerische Verknüpfung von Jugend und Wende dabei hat. Auf welche Weise damit auf gegenwärtige öffentliche Diskurse zur Wende und Gesellschaftstransformation seit 1989/90 Bezug genommen wird, soll dabei ebenso herausgearbeitet werden.
Herangehensweise, Begriffe, Gliederung Diese Arbeit geht von der Grundannahme aus, dass Literatur ein wichtiges Medium der gesellschaftlichen Selbstreflexion darstellt. Literatur entsteht in einem bestimmten politisch-gesellschaftlichen Kontext und wirkt in diesen hinein: „Literarische Texte sind keine ahistorischen Schöpfungen, sondern entspringen immer einer konkreten historischen Situation, einer konkreten gesellschaftlichen Realität, die sie mit konstituieren und von der sie auch geprägt werden; sie sind in Kämpfe verwickelt, von denen sie hervorgerufen werden und in denen sie mitwirken.“29 Literatur ist eingebunden in Prozesse der kollektiven Sinnstiftung und beteiligt an Diskursen der Erinnerungs- und Gedächtnisbildung, d. h. in diesem Zusammenhang an Vorstellungen darüber, was die ,Wende‘ war und bedeutete. Literarische Werke wirken diesbezüglich mit sowohl am Entstehen kollektiver Deutungsmuster als auch an ihrer Dekonstruktion im fiktionalen Möglichkeitsraum des literarischen Werks.30 Astrid Erll spricht daher von der „Ko-Präsenz zweier Perspektiven auf Wirklichkeit“ oder von der „Gedächtnisbildung“ und der „Gedächtnisbeobachtung“ als Funktionen der Literatur.31 Literatur kann also Identität, Wertvorstellungen und Weltdeutungen einer bestimmten Zeit gleichzeitig vermitteln wie diesen Prozess hinterfragen und dekonstruieren. Diese Doppelfunktion, die auch Eva Horn analysiert, ermöglicht den spezifischen Erkenntnisgewinn der Literatur 29 Ondoa, 2005, S. 12. 30 Vgl. Katja Stopka: Zeitgeschichte, Literatur und Literaturwissenschaft. In: www.zeitgeschichte-digital.de, 11.02.2010, S.4. 31 Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Metzler 2005, S. 166.
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über gesellschaftliche Prozesse: „Literatur hat somit einen eminenten Anteil an der Konstruktion des Sozialen, aber in ihrer Form macht sie auch die Operationen sichtbar, die diese Konstruktion als willkürlich, kontingent und nicht selten gewaltsam ausweisen.“32 In der Literatur, d. h. in der narrativen und ästhetischen Struktur von Texten, werden diese Prozesse beobachtbar. Auch die psychologischen Schichten gesellschaftlicher Veränderung werden sichtbar, das NichtGreifbare und Nicht-Belegbare subjektiver Erfahrungen, das dennoch reale Wirkungen hat und zu einem kollektiven Thema werden kann, wie die Diskussion über die behauptete besondere Wendeerfahrung der Initiative Dritte Generation Ost zeigt. Literatur „vermag auch solche Erfahrungsbereiche auszuloten und zum Gegenstand kultureller Sinnwelten zu machen, die in anderen Diskursen unartikulierbar bleiben.“33 Diese Arbeit untersucht daher, welche Erfahrungen von den genannten AutorInnen literarisch artikuliert und sichtbar gemacht werden. Welche Vorstellungen und Deutungsmuster des gesellschaftlichen Umbruchs werden damit generiert oder auch hinterfragt bzw. dekonstruiert? Welche Formen und Funktionen nimmt die in diesen Texten anzutreffende erzählerische Verknüpfung von Jugend und Wende dabei an? Ziel ist es, dies in der Poetik der Texte nachzuverfolgen sowie dabei Anknüpfungspunkte und Schnittstellen zu größeren gesellschaftlichen Diskussionen zu beleuchten. Die Arbeit basiert auf einem breiteren Korpus an Texten deutscher und tschechischer AutorInnen unterschiedlichen Bekanntheitsgrads und unterschiedlicher literarischer Qualität, aus dem eine kleinere Gruppe an Romanen und Erzählungen exemplarisch für die Analyse ausgewählt wurde. Die grundlegenden Auswahlkriterien für das Textkorpus bildeten das Alter der AutorInnen (geb. ab 1970), also ihre Zugehörigkeit zu derjenigen Alterskohorte, die in beiden Systemen sozialisiert wurde, sowie der thematische Bezug ihrer Werke zum Systemwechsel 1989/90 und die Transformation der Gesellschaft seit den 1990er Jahren. Damit wird einerseits das Schreiben dieser AutorInnen über den Systemumbruch mit ihrem tatsächlichen Alter bzw. mit ihren eigenen autobiografischen Erfahrungen in einen generationellen Zusammenhang gestellt, der erklärungsbedürftig ist, andererseits sind ihre Texte im weiten Feld der sogenannten Wendeliteratur zu verorten, womit ebenfalls ein problematischer Begriff im Raum steht. Die spezifisch generationelle Herangehensweise bei der Auswahl der AutorInnen zielt, wie weiter oben bereits angedeutet, nicht darauf ab, eine literarische 32 Eva Horn: Gibt es Gesellschaft im Text? In: Stephan Moebius/Andreas Reckwitz (Hrsg.): Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt/Main 2008, S. 380. 33 Birgit Neumann: Literatur, Erinnerung, Identität. In: Astrid Erll/Ansgar Nünning: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft, Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, Berlin 2005, S. 170.
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Generation auf Grundlage autobiografischer Faktoren zu konstruieren. Vielmehr ist die Auswahl – neben der Notwendigkeit der Begrenzung – der auffälligen Häufung von Texten zu diesem Thema geschuldet und versucht zu ergründen, mit welchen narrativen und ästhetischen Mitteln sich AutorInnen dieser Altersgruppe, die sich literarisch mit der Darstellung der Wendezeit befassen, dies tun. Es ist offensichtlich, dass autobiografische Faktoren dabei vielfach eine Rolle spielen, denn die AutorInnen haben die Zugehörigkeit zu einer konkreten Alterskohorte gemeinsam, die einschneidende politische Ereignisse, d. h. die Wende, in einem bestimmten Alter erlebt hat. Der Kollaps des Sozialismus und die beginnende Transformation des Gesellschaftssystems fiel für sie in die sensible Phase der Adoleszenz. Abgesehen von dieser Voraussetzung und Gemeinsamkeit als einer Generationslagerung im Sinne Karl Mannheims wird Generation als ein Deutungsmuster verstanden, dessen besondere Relevanz in der öffentlichen Debatte und der Rezeption dieser Texte als Ausgangsbeobachtung dient. Die Rede von Generationen ermöglicht Identifikation von Einzelnen mit einer größeren Gruppe, es wird ein Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv ausgedrückt, das auf Prozessen der Inklusion und Exklusion beruht.34 Es geht also um die diskursiven Bedingungen der Entstehung von Generationen: „Nicht die Frage, ob es so etwas wie Generation und Generationen gibt, gilt es also zu analysieren, sondern in welcher Weise und mit welchem Interesse ihr Vorhandensein jeweils deklariert und konstruiert wird.“35 Die Generationssemantik der Dritten Generation Ost scheint die Identifikationsbedürfnisse bestimmter gesellschaftlicher Gruppen zu erfüllen, indem sie u. a. ein Kommunikationsdefizit über die Umbruchserfahrungen thematisiert. Die literarischen Texte über Wendeerfahrungen sind wiederum zumindest in Deutschland in diesen Diskurs eingebunden. Sie zeigen die Breite der Erfahrungen in einem Spannungsfeld zwischen Selbstzuschreibung und Fremdzuschreibung, indem sie sowohl Medien der „Gedächtnisbildung“ als auch der „Gedächtnisbeobachtung“ (A. Erll) sind. Die Frage „Sind Generationen Akteure, die einen Wandel betreiben, oder formiert der Wandel Generationen? “36 lässt sich letztlich nicht beantworten. Doch anhand der Analyse der narrativen und ästhetischen Merkmale der Texte lassen sich Themen und Motive sowie poetische Verfahren ausfindig machen, die dieses Verhältnis thematisieren, d. h. zu bestimmten öffentlichen Diskursen in Relation stehen. Ob diese Texte Wenderomane sind, ist wiederum eine andere Frage, die nicht unbedingt zielführend ist. Was einen Wenderoman eigentlich ausmacht, lässt sich 34 Bohnenkamp, 2011, S. 47. 35 Ohad Parnes/UlrikeVedder/Stefan Willer: Das Konzept der Generation, Frankfurt 2008, S. 20, zitiert nach Bohnenkamp, 2011, S. 25. 36 Ebd., S. 23.
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auch mit zunehmendem zeitlichen Abstand zu 1989 nicht unbedingt leichter definieren. Versuche, die Merkmale sogenannter Wendeliteratur zu konkretisieren, hat es seit Auftauchen des Begriffs im Jahr 1993 gegeben.37 „Wendeliteratur – das ist ein häufig gebrauchter, aber nur selten präzise definierter Begriff, der sich bemüht, Texte ost- wie westdeutscher Autoren der Nachwendezeit zu erfassen, die das historische Ereignis, seine Ursachen und Auswirkungen auf Individualgeschichte wie auf das kollektive Gedächtnis erkunden.“, konstatiert Thomas Jung im Jahr 2002.38 Einflussreich war die gattungsübergreifende Definition von Frank Thomas Grub, der fünf Aspekte benennt, die Wendeliteratur auszeichnen. Er zählt dazu Texte, die einen thematisch-stofflichen Bezug zur politischen Wende von 1989/90 aufweisen oder über die DDR-Vergangenheit und BRD-Gegenwart aus der Nachwende-Perspektive reflektieren. Ebenso betrachtet er vor 1989 entstandene Texte als Wendeliteratur, die mehr oder weniger offensichtlich gesellschaftliche Missstände der DDR thematisierten und dadurch wegbereitend waren, oder aber Texte, die erst im Nachhinein durch Wegfall der Zensur erscheinen konnten. Auch dokumentarische Texte (Forschungsberichte, Briefe, Staatssicherheitsakten), die ebenfalls erst nach 1989 zugänglich wurden, bezeichnet Grub als Wendeliteratur.39 Sowohl im öffentlichen Bewusstsein als auch im Fachdiskurs bezeichnet der Begriff jedoch zumeist Veröffentlichungen, die nur zwei der von Grub genannten Kategorien abdecken, und zwar Texte, die entweder einen stofflichen Bezug zu 1989 haben oder die DDR-Vergangenheit und BRD-Gegenwart aus der Nachwende-Perspektive reflektieren – was letztlich ein weites Spektrum inhaltlicher wie ästhetischer Merkmale umfasst. Viele Definitionsversuche der Folgezeit akzentuierten daher bestimmte Aspekte der Wendeliteratur, was jedoch laut Sonja Kersten nicht immer fruchtbar gewesen sei. Sie spricht von einem mittlerweile entstandenen Begriffsdschungel, in dem die vielfältigen Bezeichnungen für Wendeliteratur wie „Mauerfall-“, „Wiedervereinigungs-Literatur“, „Nach-Wende-Narrationen“, „Post-Wende“- oder „Post-DDR-Literatur“ jedoch nicht unbedingt einen deutlichen begrifflichen Mehrwert bringen würden. Denn wenn man mit Wende als Bezugsgröße ausschließlich die politische Wende als punktuelles Ereignis meint, so wie es Basis für Grubs Defintion war,40 erfüllten diese neuen Begriffsschöpfungen 37 Grub, 2003, S. 69. 38 Thomas Jung: Wende gut, alles gut? Die ostdeutsche Nachwendeliteratur im Zeichen des Pop. In: Thomas Jung (Hrsg.): Alles nur Pop? Anmerkungen zur populären und PopLiteratur seit 1990, Frankfurt/Main 2002, S. 65. 39 Grub, 2003, S. 71–84. 40 „Der Begriff ,Wende‘ wird im Folgenden für die Ereignisse von Sommer 1989 bis zu den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 gebraucht; der Begriff ,Vereinigung‘ für die Zeit danach bis zum 3. Oktober 1990.“, Ebd., S. 8.
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ebenfalls Grubs Kriterien der ,stofflichen Bezugnahme auf 1989‘ oder vor allem der ,reflektierenden Narration aus Perspektive der Nachwendezeit‘ und wären damit „kaum mehr als neu klingende Synonyme“.41 Im Rahmen dieser Arbeit geht es auch nicht um eine Neubestimmung des Begriffs des Wenderomans oder der Wendeliteratur. Festzuhalten ist jedoch, dass ,Wende‘ in der gesellschaftlichen Wahrnehmung – und eben auch in der literarischen Darstellung – offensichtlich mehr bedeutet als Mauerfall und Zusammenbruch des sozialistischen Systems. Sie ist vielmehr ein umwälzender Veränderungsprozess, der sich zeitlich nicht unbedingt feststecken lässt: „ (…) wann beginnt die Wende? Wann ist ihr Ende festzusetzen? Welche konkreten historischen Ereignisse und Entwicklungen, Diskurse und Tendenzen sind ihr zuzurechnen? Und kann sie überhaupt als bereits vollständig vollzogen angesehen werden? “42 Wendeliteratur wäre damit auch Literatur, die genau diese Fragen aufwirft: nach dem Wesen von gesellschaftlichen Veränderungen, nach deren Beginn und Ende, nach Ursachen und Folgen für Individuum und Gesellschaft. Zudem spielt die Gegenwartsbezogenheit, also die Bewertung der beschriebenen Entwicklungen aus der Jetztzeit dabei immer eine Rolle, da in der Regel aus der Rückschau erzählt wird. Die in dieser Arbeit untersuchten Texte sind alle nach dem Jahr 2000 erschienen und erzählen sowohl von Erinnerungen an die DDR oder die Tschechoslowakei, vom Jahr 1989 oder der folgenden Zeit der Gesellschaftstransformation, wobei die eigentlichen Wendeereignisse, verstanden als politischer Einschnitt, sehr selten thematisiert werden. Die Texte werden daher als Nachwende-Narrative gefasst, d. h. als Texte, entstanden mit einem zeitlichem Abstand zu 1989, für die der Systemumbruch jedoch eine Voraussetzung ist und die in ganz verschiedener Form seine Folgen thematisieren. Damit orientiert sich die Arbeit am Begriff der „NachWende-Narrationen“ von Gerhard Jens Lüdeker und Dominik Orth.43 In NachWende-Narrationen bilden nicht die politischen Ereignisse um das Jahr der Wende den thematischen Bezugspunkt, sondern „die kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die sie ausgelöst hat, (…).“44 Das bedeutet, 1989 muss nicht in der Handlung auftauchen, doch wären diese Erzählungen wiederum ohne 1989 nicht möglich gewesen. Es geht also vielmehr um Nachwende- als um Wendeliteratur, auch wenn klar ist, das beides mitunter nicht deutlich zu trennen ist. Nach-Wende41 Sonja Kersten: Mauerfall-, Post-DDR-, Vereinigungs-, Nachwende- oder doch Wendeliteratur? Eine kleine Expedition durch einen großen Begriffsdschungel. In: literaturkritik.de, 9.10.2015, (http://literaturkritik.de/id/21125). 42 Ebd. 43 Gerhard Jens Lüdeker/Dominik Orth (Hrsg.): Nach-Wende-Narrationen. Das wiedervereinigte Deutschland im Spiegel von Literatur und Film, Göttingen 2010. 44 Ebd., S. 7/8.
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Narrationen in der Definition von Lüdeker und Orth umfassen zudem nicht nur Erinnerungen an DDR- und Wende-Erfahrungen, sondern implizieren auch westdeutsche oder migrantische Perspektiven zu diesem Thema, stellen also eine breitere Gegenwartsdiagnose aus der Post-1989-Perspektive dar. Auch wenn diese beiden Perspektiven hier keine Rolle spielen, ermöglicht es die Breite des Begriffs dennoch, den Interpretationsrahmen offen zu halten für Einflüsse von Themen der Gegenwart (wie Globalisierung oder Migration), die neben der postsozialistischen Thematik koexistieren. Anders als in einer allgemein als ,Post-DDR-‘ oder ,postsozialistisch‘ betrachteten Literatur bleibt darüber hinaus im Begriff der NachwendeNarrative dennoch ein Bezug auf die Wende als Ereignis bestehen. Denn dass der Moment des Umbruchs, auch wenn er schwer greifbar ist, durchaus ein Faszinosum darstellt, haben die Eingangszitate über die Revolutionen als ,Unwetter‘ gezeigt. Die Wende von 1989/90 bleibt in diesem Begriff also als wesentliche Voraussetzung für die Reflexion und das literarische Erzählen über die Gesellschaftstransformation sichtbar. Aufgrund seiner Breite ist der Begriff auch gut auf die tschechische Situation anwendbar, wenn der Umbruch von 1989 gemeint ist. Die Ereignisse der Samtenen Revolution spielen in den ausgewählten Prosatexten (mit Ausnahme von Petra Hůlovás Roman Die Hüter des Gemeinwohls) eine marginale oder gar keine Rolle, dennoch sind es Texte, die ohne 1989 nicht möglich gewesen wären und die implizit durch den Systemwechsel ausgelöste Veränderungen reflektieren. Das Reisen und die Begegnung mit dem Fremden stellen dabei einen wichtigen Aspekt der neuen gesellschaftlichen Verhältnisse dar. Nach der Lektüre eines Textkorpus von ungefähr 45 deutschen und tschechischen Texten haben sich bestimmte wiederkehrende Themen und Motive herauskristallisiert, die das Gerüst für die Gliederung der Arbeit bilden und gleichzeitig eine chronologische Betrachtung der Wende- und Nachwendedarstellungen ermöglichen. Es hat sich gezeigt, dass das Erzählen vom Umbruch sowohl in den deutschen als auch in den tschechischen Texten in einer Entfaltung verschiedener Körper- und Raumpoetiken zum Tragen kommt: Der Körper und Metaphoriken des Körpers spielen im Zusammenhang mit einer inszenierten Erinnerung an die kindliche Perspektive auf den Sozialismus eine prominente Rolle – der Körper erweist sich immer wieder als Ort der Darstellung für spezifisch kindliche Erfahrungen im sozialistischen Alltag. In den Beschreibungen der Nachwendezeit hingegen sind es bevorzugt die Räume und Raumdarstellungen, in denen die Veränderungsprozesse durch und seit dem Umbruch sichtbar werden. Es ist eine Poetik der Weite, Leere und Entfernung, die sich als übergreifende Motivkette feststellen lässt und in der sich grundlegende gesellschaftliche Veränderungen seit der Öffnung der Grenzen raumpoetisch manifestieren. Konkreter gefasst wird dies als Poetik der Entgrenzung, der Ödnis und Distanz, die in gesonderten Kapiteln behandelt werden. Dafür wurden jeweils unterschiedliche theoretische Zugänge
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gewählt, um auf die besonderen narrativen und ästhetischen Merkmale der Texte besser eingehen zu können. Die Sekundärliteratur wird an entsprechender Stelle vertieft. Kapitel 1 befasst sich mit Kindheitsdarstellungen, also mit Erinnerungen an Kindheit im Sozialismus in vergleichender Perspektive, wobei verschiedene Metaphoriken des Körpers im Zentrum stehen. Analysiert werden Texte von Julia Schoch, Terézia Mora, Jochen Schmidt, Daniel Wiechmann und Bohuslav VaněkÚvalský, die den Bereich Erziehung thematisieren und von sozialistischen Erziehungseinrichtungen wie Schule, Internat oder Ferienlager erzählen. In diesen Texten wird der kindliche Körper metaphorisch als Ort der präkognitiven Wahrnehmung inszeniert, wodurch es möglich wird, die kindliche Sicht auf das System als eine Erfahrung jenseits intellektueller Bewertung zu beschreiben. Zentral für die Analyse ist der Begriff des Körpergedächtnisses, der in der Germanistik zumeist im Zusammenhang mit der Darstellung traumatischer Erfahrungen wie dem Holocaust Verwendung findet. Er wird unter Rückgriff auf Maurice MerleauPonty und sein Konzept der Zwischenleiblichkeit erweitert als wahrnehmender Körper, es geht hier also nicht um Erinnerungen, die im Körper gespeichert sind und das Aufbrechen von Erinnerungen an traumatische Erfahrungen auslösen. Mittels der Körpermetaphorik wird vielmehr der kindliche Alltag in den Blick genommen, beschrieben werden sinnliche Wahrnehmungen der kindlichen Protagonisten in ihrem sozialistischen Alltag. Körpermetaphoriken stellen auf diese Weise Sinnbilder des erinnerten sozialen Umfelds dar, dessen Eigenheiten sich in ihnen abbilden. Diese Perspektive ist jedoch nur aus der Retrospektive möglich, sie impliziert gleichzeitig Erkenntnisse und damit Wertungen über das System aus der Erzählergegenwart. Auch in die erzählten Räume ist der gesellschaftliche Umbruch vielfach eingeschrieben. So geht es u. a. um die Auflösung von Grenzen und damit auch die Ausweitung von individuellen Erfahrungsräumen für die jugendlichen Protagonisten, wie sich vor allem anhand der Texte von Clemens Meyer und Jana Simon sehen lässt, die in Kapitel 2 verglichen werden. Beide Texte beschreiben die Zeit von Mauerfall und Wiedervereinigung aus der Perspektive von Jugendlichen. Als gemeinsames inhaltliches wie ästhetisches Merkmal zeigt sich hier eine Dopplung der Entgrenzungsthematik: die Öffnung der Landesgrenzen geht für die Protagonisten einher mit der an Grenzüberschreitungen reichen Lebensphase der Adoleszenz und bewirkt eine doppelte Entgrenzung. Räumliche und physische Entgrenzungen werden hier gleichzeitig erfahren und verstärken sich. Anhand der Liminalitäts-Theorien des Ethnologen Victor Turner wird die erzählerische Verbindung der beiden Themen als Darstellung einer doppelt liminalen Phase untersucht, in der sich ebenso Gefährdungen wie (erhoffte) Chancen verdoppeln. Diese Texte reflektieren am
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stärksten die Generationen-Thematik, wird hier doch von besonderen Erfahrungen einer Generation erzählt. Sie greifen Themen auf, die in der Soziologie für diese Generation diskutiert werden, wie die „Unberatenheit“ der WendekinderGeneration (Bernd Lindner)45 als Folge der Orientierungsschwierigkeiten der Eltern kurz nach der Wende. Das Kapitel untersucht daher die Erzählstrategien der doppelten Liminalität sowohl als Mittel der Gesellschaftskritik – denn erzählt werden Geschichten des sozialen Scheiterns – als auch der Darstellung besonderer und außergewöhnlicher Erfahrungen einer exklusiven (Erinnerungs-)Gemeinschaft, die sich mit Victor Turners Begriff der Communitas fassen lässt. In der Darstellung leerer und verödender Räume an der Peripherie des Landes wiederum, die im Kapitel 3 anhand der Texte von Julia Schoch, Judith Zander und Judith Schalansky untersucht wird, bildet sich die Frage nach der Wahrnehmung der Wende in der Provinz ab – räumlich gefasst auch als Frage nach der Reichweite des gesellschaftlichen Umbruchs. Die Texte stehen damit für eine ganze Reihe von Romanen der letzten Jahre, die eher desolate Regionen Nordostdeutschlands zum Handlungsschauplatz machen, die in der öffentlichen Wahrnehmung mit den problematischen Langzeitfolgen der Wende auf dem Lande wie Arbeitslosigkeit, Wegzug oder Rechtsradikalismus assoziiert sind.46 Diese literarischen Landschaften sind mit bestimmten Eigenschaften ausgestattet (dünn besiedelt, flach, öde, unwirtlich) und scheinen wie eine Chiffre für den Osten bzw. die ehemalige DDR zu stehen. Mittels der Poetisierung der Ödnis evozieren diese scheinbar ereignis-, geschichts- oder gar menschenlosen non-places und disanthropischen Orte in den peripheren nordöstlichen Landesteilen die Frage danach, was sich eigentlich verändert hat an diesen ,ostigen‘ Orten. Entworfen werden somit Spielräume von Kontinuität und Wandel, womit auch eine Neubewertung der Vorstellung der Wende als nachhaltiger gesellschaftlicher Bruch einhergeht. Die Poetisierung der Ödnis erweist sich als Doppelstrategie: Die Romane reproduzieren wie provozieren Stereotypen über das Leben in der DDR oder der Nachwendezeit in der ostdeutschen Provinz und bieten damit einen differenzierteren Blick auf Entwicklungen im lokalen Raum. In den tschechischen Texten treten Raumpoetiken am deutlichsten zutage. 45 Bernd Lindner: Die Generation der Unberatenen. Zur Generationenfolge in der DDR und ihren strukturellen Konsequenzen für die Nachwendezeit. In: Schüle/Ahbe/Gries: Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur, Leipzig 2006. 46 Eine ähnliche Thematik greifen auch folgende Romane auf, die in ebenso abgelegenen Gegenden Mecklenburg-Vorpommerns oder der Uckermark spielen: Kerstin Preiwuß: Restwärme, Berlin 2014; Moritz von Uslar: Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung, Köln 2010. Saša Stanišić: Vor dem Fest, München 2014; Manja Präkels: Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß, Berlin 2017.
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Die in Kapitel 4 analysierten Reisebewegungen der Protagonisten erzählen von Distanzen und Entfernungen: dem Sich-Entfernen und Entfernt-Sein als einer Erfahrungsdimension der Gegenwart, was das Vorhandensein eines Ursprungs und die Frage nach Herkunft bereits impliziert. Rückkehr und Reflexion über Herkunft sind daher ebenso Themen der Distanz. Untersucht werden drei Romane von Markéta Pilátová, Marek Janota und Petra Hůlová. Alle drei lassen sich der „Generation der Fliehenden“ („generace útěkářů“) zuordnen. Besonders Pilátová und Hůlová sind in diesem Zusammenhang bekannte Namen – Pilátová, Autorin und Journalistin, als Erfinderin des Begriffs, und Hůlová als eine der bekanntesten tschechischen Gegenwartsautorinnen, deren Romanhandlungen sehr häufig im Ausland angesiedelt sind. Ihr in diesem Kapitel behandelter Roman stellt jedoch eine Ausnahme dar und thematisiert explizit die Folgen des Systemwechsels in der nordböhmischen Provinz. Auch der unbekanntere Janota fällt in diese Generations-Kategorie, in seinem Debütroman Všechno, co vidím geht es um das Thema der Arbeitsmigration. In den Textanalysen wird das Motiv der Distanz herausgearbeitet und in seinen erzählerischen Funktionen untersucht. Denn Distanz tritt in verschiedener Form zutage – in Erzählungen vom Reisen in andere Länder (Pilátová, Janota) ist es die räumliche Distanz, die es ermöglicht oder bedingt, Distanz zur eigenen Geschichte und Identität zu entwickeln. In Hůlovás Nordböhmen-Roman stehen innergesellschaftliche Distanzen im Blickpunkt: In grotesker Überhöhung werden sich scharf voneinander abgrenzende politische Gruppen in einer sich ebenso räumlich segregierenden Stadt in der Transformationszeit beschrieben. Die Poetik der Distanz ermöglicht in diesen Texten verschiedene Perspektiven: Distanz zur kommunistischen Vergangenheit, aber auch zum neuen Gesellschaftssystem. Ebenso lassen sich Schreibweisen der Distanz als raummetaphorischer Ausdruck der Identitätssuche in einer sich globalisierenden Gesellschaft verstehen. Der Vergleich von ausgewählten Texten der deutschen und tschechischen Gegenwartsliteratur wirft Schlaglichter auf Entwicklungen und Tendenzen, die sich im Nachwende-Erzählen jüngerer AutorInnen über den Umbruch zeigen. Diese Arbeit möchte Themen und Motive bündeln und in breitere NachwendeDiskurse einordnen sowie die poetologischen Merkmale dieser Texte herausarbeiten. Vielfach wird sichtbar, dass AutorInnen mit ihren Texten beteiligt sind an der Deutung des Wendegeschehens aus Sicht einer Gegenwart, die bereits mit ganz anderen Problemen konfrontiert ist und dennoch geprägt bleibt von der Gesellschaftstransformation seit 1989/90. Dieses Spannungsfeld in literarischen Darstellungen auszuloten ist Ziel dieser Arbeit.
I. Körpermetaphoriken der Kindheit
1.1 Zum Gedächtnis des Körpers In den fünf Texten von Julia Schoch (*1974), Terézia Mora (*1971), Jochen Schmidt (*1970), Daniel Wiechmann (*1974) und Bohuslav Vaněk-Úvalský (*1970), die in diesem Kapitel analysiert werden sollen, erzählen jeweils IchErzähler über ihre Kindheit im Sozialismus in den späten 1970er und 1980er Jahren. In allen fällt auf, dass die Beschreibung des kindlichen Alltags von Erinnerungen an Körpererfahrungen geprägt ist – erzählt wird von sensuellen Eindrücken, von körperlichen Phänomenen und Metamorphosen, die die Darstellung des Erlebten bestimmen. Die Erinnerung an Kindheit in der DDR oder Tschechoslowakei scheint in diesen Texten in starkem Maße mit der sensuellen Wahrnehmung des Körpers verknüpft zu sein. So beschreibt Julia Schochs Erzählung vom DDRFrauenrudersport Der Körper des Salamanders die subtilen körperlichen Reaktionen ihrer kindlichen Protagonistin auf das allgegenwärtige Wasser. Ähnlich verhält es sich in Terézia Moras Ferienlagergeschichte Lager Mira. Moritat. Hier sind ebenfalls die körperlichen Reaktionen und Symptome der Hauptfigur im Zusammenhang mit einer alles durchdringenden Feuchtigkeit ein zentrales Motiv. In Jochen Schmidts Erzählung Produktive Arbeit und Daniel Wiechmanns Immer bereit! Von einem jungen Pionier, der auszog, das Glück zu suchen werden bestimmte wiederkehrende physische Empfindungen im Schulalltag beschrieben. In Bohuslav Vaněk-Úvalskýs groteskem Roman über eine Prager sozialistische Kindheit entwickelt der Protagonist schließlich eine körperliche Deformation, die sich metaphorisch als Reaktion auf die Anforderungen seiner Umwelt verstehen lässt. Die Frage danach, welche Rolle die Körperlichkeit (in) der Erinnerung an den spätsozialistischen Alltag spielt, soll im Zentrum dieses Kapitels stehen. Dass der Körper im Zusammenhang mit autobiografischen Erinnerungen eine zentrale Bedeutung hat, ist eine aus der Gedächtnispsychologie bekannte und unbestrittene Tatsache. Autobiografische Erinnerungen sind in spezifischer Weise an die Sensorik des Körpers gebunden, da individuell bedeutsame und identitätsstiftende Erinnerungen immer an Emotionen gekoppelt sind, welche wiederum auf physiologischen Vorgängen basieren. Emotionalität gilt daher als zentrales Merkmal autobiografischer Erinnerungen.1 Ebenso bekannt ist die Tatsache, dass sensorische Wahr1
Rüdiger Pohl: Das autobiografische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte, Stuttgart 2007, S. 45.
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nehmungen Erinnerungen auslösen bzw. reaktualisieren können. Durch bestimmte Schlüsselreize (Gerüche, Geräusche) können lange verborgene oder auch verdrängte Gedächtnisinhalte wiederbelebt und dem Bewusstsein zugänglich werden. Ein paradigmatisches Beispiel aus der Literatur für diesen Vorgang ist die Proustsche Madeleine-Episode, die in der Gedächtnispsychologie wiederum als „ProustPhänomen“ bezeichnet wird.2 Der Sinneseindruck bildet den Auslöser für die Erinnerung bzw. den Erzählanlass für den Erzähler. Über solcherart Sinneswahrnehmungen können angenehme wie unangenehme Erinnerungen bis hin zu Traumata wieder in das Bewusstsein rücken. Dieser Zusammenhang ist aus psychotherapeutischen Verfahren bekannt. Bestimmte Erfahrungen in der Gegenwart (emotionale Situationen, die einen Schlüsselreiz beinhalten) können traumatische Situationen der Vergangenheit ,triggern‘, die dann mit großer emotionaler Intensität wiedererlebt werden und den zeitlichen Abstand zum Geschehen gänzlich aufheben. Auch kann ein Körper in der Gegenwart Symptome hervorbringen, die auf ein (psychisches) Leiden hinweisen, das seinen Ursprung in der Vergangenheit hat. Der Körper transportiert dann eine Botschaft, die sich mitteilen will; er drückt etwas aus. In der Forschung, die sich mit dem Körper und seinem Erinnerungsvermögen befasst, wird häufig mit dem Begriff des Körpergedächtnisses operiert, um dieses Phänomen zu beschreiben. Generell ist ein verstärktes Interesse am Körper in den Kultur- und Geisteswissenschaften seit ca. den 1980er Jahren zu beobachten und hat eine Vielzahl von Forschungsfragen aufgeworfen.3 In der Literaturwissenschaft wurde der Begriff des Körpergedächtnisses erstmals von Sigrid Weigel geprägt. Nach ihrer Definition ist das Körpergedächtnis „in den Leib in Form von Dauerspuren eingeschrieben, die durch bestimmte Wahrnehmungen die Wiederholung von Affekten und damit verbundenen Vorstellungsbildern auslösen, wobei diese Wiederholungen nie die Wiederholung desselben, sondern immer eine andere Wiederkehr ist, die Wiederkehr des Anderen.“4 Im Zusammenhang mit dem Körpergedächtnis geht es um Botschaften und Wahrheiten des Körpers, die auf unaussprechliche, häufig traumatische Erfahrungen verweisen, um eine ,Wahrheit‘ des Körpers jenseits der begrifflichen Ebene. Eine solche Konzeption des Körpergedächtnisses zeichnet sich dadurch aus, dass die Außerdiskursivität des Körpers im Vordergrund steht, d. h. der Körper als das ,Andere‘ betrachtet wird, als das
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Ebd., S. 43. Vgl. Aleida Assmann: „Körper“. In: Aleida Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen, Berlin 2011. Sigrid Weigel: Bilder des kulturellen Gedächtnisses. Beiträge zur Gegenwartsliteratur, Dülmen-Hiddingsel 1994, S. 49/50.
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„Gegenteil von Zeichen“.5 Die Zeichen (z. B. Texte) bilden dabei gesellschaftliche Sinnsysteme ab, wohingegen der Körper das Unberechenbare und Namenlose darstellt (Schmerz, Krankheit, Endlichkeit etc.). Der Körper ist eine „widerständige Realität“, die begrifflich und diskursiv nur schwer zu fassen ist, da sie als existenzielle Dimension des menschlichen Lebens über die Ebene sozialer oder kultureller Konstrukte hinaus verweist.6 Indem der Körper in der Sphäre des Außerdiskursiven angesiedelt wird, kommt ihm jedoch gleichzeitig eine eher passive Rolle als bloßer Speicher unbewusster Erfahrungen zu, wie verschiedene weitere Beiträge zum Körpergedächtnis zeigen. So hält Arnd Beise7 beispielsweise fest, dass die Rede vom Körpergedächtnis gerade für die Literatur grundsätzlich metaphorisch zu verstehen ist – schon allein deshalb, weil die realen psychosomatischen Wirkzusammenhänge schwer erklärbar sind. Als Körpergedächtnis im eigentlichen Sinne betrachtet er daher Gedächtnismuster, die durch Training und Disziplinierung entstehen (sein Beispiel: militärischer Drill8), d. h. durch stetiges Wiederholen und Üben, wodurch ein bestimmtes Wissen im Körper so gespeichert wird, dass Eingeübtes später unbewusst und reflexhaft wiederholt werden kann. Die literarischen Formen des Körpergedächtnisses würden hingegen versprachlichte Repräsentationen dessen darstellen, was das Faszinosum des Körpergedächtnisses ausmacht: Es wird als stummer „Beglaubiger von Wahrheit“9 regelrecht sakralisiert. Die schriftliche „Verleiblichung seelischer Vorgänge“10 sei daher als eine literarische Technik zu verstehen, die sichtbar macht, was sonst verborgen bleibt. Der Körper repräsentiert den stummen Zeugen einer vergangenen Erfahrung, die nicht verbalisierbar ist: „Der Körper wird dabei zum geeigneten Medium, weil er anders als die Seele noch immer nicht aufgeklärt, vielleicht auch gar nicht aufklärbar ist, und daher als Träger der ‚wahren‘, sprachlosen Erinnerung taugt.“11 Die Sprachlosigkeit seiner Wahrheit prädestiniert den Körper zum stummen Zeugen, zum Träger von Spuren und Zeichen eines ,Anderen‘, von dem es ohne Übersetzung in mentale Repräsentationen keine Kunde gäbe. Diese Spuren und Zeichen gelangen wiederum mittels Einschreibung in den Körper. In einer solchen Betrachtung ist der Körper als grundlegend passiv konzipiert. 5 Assmann, 2011, S. 91. 6 Ebd., S. 91/92. 7 Arnd Beise: ,Körpergedächtnis‘ als literaturwissenschaftliche Kategorie. In: Bettina Bannasch: Übung und Affekt: Formen des Körpergedächtnisses, Berlin/New York c2007. 8 Ebd., S. 15. 9 Ebd., S. 19. 10 Ebd., S. 18. 11 Ebd., S. 18.
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Eine ebenso an Sigrid Weigel angelehnte Konzeption des Körpergedächtnisses findet man bei Arletta Szmorhun in einem Artikel über den „Körper als Erinnerungsort“12. Szmorhun untersucht drei Texte von Nechama Tec, Alona Frankel und Ruth Klüger, in denen es jeweils um jüdische Mädchenschicksale im Holocaust verknüpft mit einer später im Leben auftretenden körperlichen Problematik geht. Auch hier dominiert eine Rhetorik der Einschreibung und Prägung. Der Körper wird als passiver Empfänger oder Speicher verstanden. Er konserviert Erlebtes, das er in späteren Momenten im Leben mittels einer Symptomsprache wieder zum Ausdruck bringen kann. Für Szmorhun ist der Körper ein „Medium der Erinnerung, Einschreibung und Speicherung kultureller Zeichen“13, somit spielt auch hier die Möglichkeit der Lesbarkeit des Eingeschriebenen eine Rolle. Die Funktion der „Körperzeichen“14 ist die Auslösung der Erinnerung an die Gewalttaten des Holocaust. Die im körperlichen verankerte Erfahrung verweist auf den außersprachlichen Bereich. Szmorhun sieht den Körper in einer Mittlerfunktion zwischen dem Diskursiven und dem Außerdiskursiven: „Der Körper, in den sich das jüdische Mädchenschicksal in Form von Dauerspuren eingeschrieben hat, wird demzufolge zum Träger einer Zeichenfunktion. Er gehört somit gleichzeitig zwei voneinander getrennten Ordnungen an: zum einen der Ordnung des Symbolischen, zum anderen der außerhalb des Zeichens liegenden Ordnung des Realen, da sich in ihr Schmerz, Trauer, Zeitlichkeit und Tod abzeichnen.“15
Szmorhun unterscheidet zwei getrennte Ordnungen, das Symbolische und das Reale. Der Körper ist stumme Materie, in die etwas eingeschrieben wird, und gleichzeitig ein schwer definierbarer Ort eines Übersetzungsprozesses zwischen Materie und geistig-symbolischer Welt. In Claudia Öhlschlägers Artikel zum Zusammenhang von Körper und Erinnerung ist der Körper ebenso vorrangig ein Ort der Repräsentation, an dem sich vergangene Erfahrung abbildet und für einen Interpreten ,lesbar‘ wird. Ein grundsätzlich passives Verständnis des Körpers zeigt sich in den Begriffen, die sie verwendet, um das Gedächtnis des Körpers zu erfassen. Diese beschreiben den Körper als Objekt, das äußeren Einflüssen ausgesetzt ist: er wird als „Medium“ bezeichnet, als „Ort“ oder „Gegenstand“ kultureller und historischer Einschreibungen, als „Träger von Zeichen“, „Schauplatz einer Symbolsprache“ oder „Symbolisierungs12 Arletta Szmorhun: Körper als Erinnerungsort – Zu jüdischen Mädchenschicksalen im 2. Weltkrieg bei Nechama Tec, Alona Frankel und Ruth Klüger. In: Carsten Gansel/Paweł Zimniak: Kriegskindheiten und Erinnerungsarbeit. Zur historischen und literarischen Verarbeitung von Krieg und Vertreibung, Berlin 2012. 13 Ebd., S. 185. 14 Ebd., S. 185. 15 Ebd., S. 192.
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feld“, das Spuren von Vergangenem aufweist.16 Das Körpergedächtnis wird als Speicher verstanden, von dem man Informationen abrufen kann, er ist „eine Art ,Gedächtnisspeicher‘, in dem geschlechtsspezifizierte Kulturtechniken und Muster der Weltaneignung aufbewahrt sind“.17 In der Erinnerungsforschung wird jedoch allgemein davon ausgegangen, dass das Gedächtnis kein Ort der Aufbewahrung ist, sondern dass Gedächtnisfunktionen immer an Aktualisierungsprozesse geknüpft sind, die im jeweiligen gegenwärtigen Erlebniskontext ausgelöst werden. Aus den Bedingungen der Gegenwart heraus verleihen Individuen den vergangenen Geschehnissen Bedeutung; die Gedächtnisinhalte sind somit keine feststehenden, reproduzierbaren Fakten, sie werden selektiv aktuellen Bedürfnissen der Sinnstiftung angepasst.18 Konzeptionen, die das Körpergedächtnis ausschließlich als Speicher verstehen, lassen den prozessualen Charakter des Gedächtnisses jedoch größtenteils ausser Acht bzw. unterscheiden offenbar zwischen einem aktiv selektierenden mentalen Gedächtnis und dem passiven, außerdiskursiven Speichergedächtnis der Physis, obwohl dieses jedoch ebenfalls selektiv auf bestimmte Schlüsselreize reagiert und daher offensichtlich in einen aktiven Austauschprozess mit der Umwelt eingebunden ist. Claudia Öhlschläger beschreibt selbst an einer Stelle den „Körper“ als in einem „ständigen Prozess der erinnernden Aneignung bzw. Verwerfung kultureller Normen und vorgegebener Identitätsmuster“19 befindlich. Dies macht den Widerspruch deutlich bzw. verweist auf die Tatsache, dass der Körper in irgendeiner Form aktiv an einem Prozess beteiligt ist – er eignet an und verwirft und ist nicht nur Träger von Bedeutung, Zeichen, Spuren etc. Offenbar ist es schwierig, den Körper als Ort der Einwirkung längerfristiger Prägungen, der er unbestritten ist, und gleichzeitig als aktiv wahrnehmendes sowie kommunizierendes Organ zu denken. Die Tatsache, dass der das Leben in seinem Zeitverlauf erfahrende Körper nicht nur eine Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Gegenwart, sondern ebenso der natürliche „Umschlagplatz“20 sensorischer und mentaler Prozesse ist, macht es so schwer, den Körper und seine Gedächtnisfunktion zu konzeptualisieren. Das Wissen des Körpers erscheint in Konzeptionen des Körpergedächtnisses immer als eines außerhalb des Bewusstseins, als außerhalb 16 Claudia Öhlschläger: Gender/Körper, Gedächtnis und Literatur. In: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hrsg.): Gedächtniskonzepte der Literatur. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, Berlin 2005, S. 228, 230 u. 236. 17 Ebd., S. 244. 18 Vgl. Birgit Neumann: Literatur, Erinnerung, Identität. In: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hrsg.): Gedächtniskonzepte der Literatur. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, Berlin 2005, S. 151 ff. 19 Öhlschläger, 2005, S. 230. 20 Paul Good: Maurice Merleau-Ponty. Eine Einführung, Düsseldorf und Bonn 1998, S. 79.
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der geistigen Welt, obwohl es an dieselbe Materialität des Körpers gebunden ist, die auch Basis für alle mentalen Prozesse ist. Diese kategoriale Trennung zwischen Physischem und Mentalem ist letztlich zurückzuführen auf Traditionen europäischen Denkens seit Descartes, d. h. auf die Vorstellung von der Trennung des Körpers und der Sphäre des Geistigen, in der Bewusstsein und Identität angesiedelt sind. Körper und Geist werden seitdem als zwei unterscheidbare Entitäten gesehen: „Das Denken der europäischen Moderne – seit Descartes bis zu Luhmann – hat sich angewöhnt, den Körper als eine Einheit zu begreifen, dem das Bewusstsein, das Denken oder der Geist als ein anderes System gegenüber steht: Körperliche Vorgänge sind etwas fundamental anderes als Bewusstseinsprozesse, obwohl beide auf prekäre Weise aufeinander angewiesen sind und aufeinander verweisen.“21 Vom System des Bewusstseins aus wird so gesehen der Körper als ein autonomes Gegenüber betrachtet, das mit dem Bewusstsein zwar in einer engen Wechselwirkung steht, von diesem jedoch nicht gänzlich kontrolliert werden kann. Diese Trennung der Systeme hat zwar eine gewisse Objektivierung des Körpers ermöglicht; er ist Materie, die bestimmte Eigenschaften aufweist. Doch es ist diese Perspektive, die den Körper gleichzeitig erst als etwas fundamental anderes erscheinen lässt, das – da nicht beherrschbar – dem Bereich des Außerdiskursiven, der Natur zugeordnet wird. In soziologischen Untersuchungen zu Körper und Gedächtnis zeigt sich diese Tendenz besonders deutlich – der Körper wird objektiviert und nur selten als Subjekt betrachtet.22 Bei der soziologischen Betrachtung der Zusammenhänge zwischen dem Körper und sozialen Prozessen wird der Körper vorrangig als passives Objekt der Einwirkung des Sozialen gesehen, als Produkt von Diskursen und Zuschreibungen. Er wird als kulturell und historisch geprägt, als gesellschaftlich gemacht verstanden. Analysiert wird z. B. der kulturell unterschiedliche Umgang mit dem Körper oder der historische Wandel körperlichen Verhaltens sowie dessen soziale Bewertung. Es dominiert auch hier der Blick auf Prägemechanismen, wie in Alois Hahns Sammelband mit verschiedenen Artikeln des Autors zu „Körper und Gedächtnis“.23 Das „Körpergedächtnis“24 bezeichnet bei Hahn – ähnlich wie bei Arnd Beise – reale, physisch verankerte Lernerfahrungen, die zwar nicht mehr bewusst sind, jedoch ohne Willensanstrengung reflexhaft wiederholt werden können. Diesen Vorgang bezeichnet der Autor als Herausbildung eines habituellen
21 Alois Hahn: Körper und Gedächtnis, Wiesbaden 2010, S. 131. 22 Vgl. Robert Gugutzer: Soziologie des Körpers, Bielefeld 2004, Einleitung: Körper und Gesellschaft, S. 5 ff. 23 Siehe Hahn, 2010. 24 Ebd., S. 98.
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Gedächtnisses,25 das wiederum die Teilhabe an einer bestimmten Kultur sichert. Der Körper ist die organische Gedächtnisbasis, die die „habitualisierte Verankerung“26 kultureller Gewohnheiten ermöglicht. Dies umfasst nicht nur konkrete Kulturtechniken wie Musizieren, Sportarten, Spracherwerb, Schreiben,27 sondern implizit auch die Weitergabe von Normen, Moral oder Wertvorstellungen. Das Körpergedächtnis verbindet den individuellen Körper mit der Dimension des Sozialen und hat damit eine kulturkonstituierende Funktion. Die Vorstellung vom Körpergedächtnis als organischer Anker des Habitus hat mit der Konzeption vom Körpergedächtnis als einem Speicherort traumatischer Erfahrungen gemeinsam, dass die körperlich gemachten Erfahrungen der bewussten Steuerung nicht mehr oder nur schwer zugänglich sind. Dies erläutert Hahn am Beispiel der Inkorporierung gesellschaftlicher Normen. Diese seien – einmal eingeprägt – nachträglich kaum willkürlich zu verändern. Dem liegt nicht nur eine eher mechanische Vorstellung von Prägung zugrunde, nach der eine bestimmte Kultur und ihre Techniken dem Menschen durch Sozialisation stempelartig eingeprägt werden, sondern wiederum die Vorstellung getrennter Ordnungen. So spricht Hahn selbst von den „höchst unterschiedlich operierenden Systemen wie dem Körper, dem Bewusstsein und der Kommunikation“.28 Durch die Trennung der Systeme mutet auch die Funktion des Körpers im sozialen Miteinander wie ein mechanisches Geschehen an, wenn Hahn z. B. über die Herausbildung von habituellen Gewohnheiten schreibt: „Habitusbildung führt zur Kopplung von Gesellschaft, Bewusstsein und Körper“, oder wenn er – wenn auch in Anführungszeichen – von der „,Verschraubung‘“ von Gedächtnisarten spricht.29 Der Körper bleibt auf diese Weise außerdiskursiv, das unkontrollierbare ,Andere‘: „Der Körper ist nie völlig gefügig, weder dem Bewusstsein noch der Gesellschaft.“30 Auch hier ist es die Perspektive der Trennung, die die Vorstellung mangelnder Gefügigkeit des Körpers erst hervorbringt. Damit in Zusammenhang steht auch die Vorstellung einer Autonomie und Wahrheit des Körpers, die sich dem intellektuellen Zugriff entzieht. Für den Soziologen ist daher bezüglich der ,ungewollten‘ kreatürlichen Äußerungen des Körpers das kulturelle Zuschreibungssystem entscheidend. Es ist der soziale Kontext, der die Körpersprache mit bestimmten Bedeutungen auflädt: „Was man also für gewöhnlich ,Körpersprache‘ nennt, ist nichts anderes als ein soziales Bedeutungssystem, selbst wenn die Form der Bedeutungs25 26 27 28 29 30
Ebd., S. 102. Ebd., S. 111. Ebd., S. 104. Ebd., S. 114. Ebd., S. 111. Ebd., S. 114.
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träger, z. B. ein Niesen, ein Schweißausbruch, eine Konvulsion oder ein Schüttelfrost nicht von der Gesellschaft erfunden worden sind.“31 Diese Betrachtungsweise fokussiert ausschließlich auf die Zeichenebene und blendet die subjektive Wahrheit des Körpers, d. h. die Bedeutung subjektiver Wahrnehmung aus. Im Interpretationsrahmen kultureller Normen und Zeichen bleibt der Körper ein Objekt von Diskursen und passiver Träger von Zeichen, die dechiffriert werden müssen. Dies erfolgt mittels ,Leseprogrammen‘32, die wiederum in einem bestimmten sozialhistorischen Kontext entstehen. Nicht decodierbare Äußerungen und Symptome des Körpers sind somit immer auch eine potentiell systemgefährdende, eben außerdiskursive Erscheinung, da sie Ordnungsschemata des Bewusstseins zu stören vermögen und sich durch kommunikative Normen und soziale Ordnungen hindurch Bahn brechen können. Diese Perspektive erschwert es grundsätzlich, den Körper als ,soziales Organ‘ jenseits seiner kulturstiftenden Gedächtnisfunktionen durch kulturelle Prägungen zu betrachten und die individuelle Qualität einer fühlbaren Körperlichkeit als subjektive Wahrheit miteinzubeziehen. Einen anderen Ansatz wählt die Wissenssoziologin Anke Abraham, die sich ebenfalls mit dem Zusammenhang von individuellem Körpergedächtnis und sozialen Prozessen befasst. In ihrer Untersuchung zur Körperwahrnehmung im biografischen Kontext stellt sie die aktive Beteiligung des Körpers an sozialen Prozessen in den Mittelpunkt.33 Abraham fragt danach, wie in individuellen Lebensgeschichten, die sie anhand biografischer Interviews rekonstruiert, etwas Kollektives sichtbar wird, das sich z. B. als „ein klassen-, milieu-, generationen- oder auch geschlechtsspezifisches ,W issen‘“34 zeigen kann. Sie befragte verschiedene ältere Personen zu ihren Körpererinnerungen und Körpererfahrungen sowie nach dem Umgang mit ihrem Körper. Auch ihre eigene Körperwahrnehmung in der Interviewsituation hat Abraham berücksichtigt und somit die Erkenntnispotentiale ihrer eigenen körperlichen Selbstwahrnehmung genutzt und explizit gemacht. D. h. der Körper ist für sie nicht nur Forschungsobjekt, sondern ebenso Subjekt der Erkenntnis. Durch die Beachtung der eigenen Wahrnehmungsebene und die Reflexion dieser Wahrnehmung wird es Abraham möglich, ihr methodisches Spektrum zu erweitern. Es gelingt ihr eine Synthese aus den Körpererfahrungen, die ihre Interviewpartner in der Selbstbeschreibung anbieten, und der Erfahrung, die aus der eigenen körperlich-sensorischen Wahrnehmung der Interviewsituation resul31 Ebd., S. 135. 32 „Ob solche ,Leseprogramme‘ entwickelt werden und ob sie benutzt werden, hängt für den Soziologen selbstverständlich von historischen Konstellationen ab.“, Ebd., S. 12. 33 Anke Abraham: Der Körper im biografischen Kontext. Ein wissenssoziologischer Beitrag, Wiesbaden 2002. 34 Ebd., S. 166.
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tiert; beides gemeinsam führt sie letztlich zu den Einschätzungen, die sie über den Zusammenhang zwischen individuellen körperbezogenen Erfahrungen ihrer Interviewpartner und dem spezifischen sozialen Kontext abgibt. Dieser Herangehensweise liegt ein grundsätzlich anderes Verständnis des Körpers und des Körpergedächtnisses zugrunde, welches mehr Wert auf die körperlich-sensorische Wahrnehmung in der sozialen Interaktion legt und damit auch ein anderes Verständnis des Eingebundenseins des Körpers in soziale Prozesse ermöglicht.35 In der folgenden Textanalyse soll genau dieses aktive Eingebundensein des Körpers in soziale Prozesse untersucht werden, da in der Darstellung der Kindheitserinnerungen die individuelle körperlich-sensorische Wahrnehmung sowie die Reflexion dieser Prozesse im Vordergrund stehen. Die geschilderten Körpererfahrungen der Protagonisten sind Ausdruck eines spezifischen sozialen Geschehens und alltagskulturellen Kontexts. Sie stehen nicht unbedingt mit Traumata in Verbindung, wie es jedoch häufig mit literarischen Körpergedächtnissen der Fall ist. Arnd Beise hat sehr richtig darauf hingewiesen, dass das Körpergedächtnis offenbar vornehmlich leidvolle Erfahrungen speichert, denn das Konzept des Körpergedächtnisses wird hauptsächlich herangezogen, wenn es um die Beschäftigung mit Traumata geht, meist im Zusammenhang mit dem Holocaust. Das Körpergedächtnis ist überwiegend mit Schmerz assoziiert, wohingegen angenehme Erinnerungen selten thematisiert werden.36 Die Erinnerungen an den Sozialismus, die diese Texte beschreiben, bilden vielmehr Alltagserfahrungen ab, die eine stark sensorische Qualität aufweisen. Die sinnliche Erfahrung als Modus der Weltwahrnehmung steht im Zentrum der Beschreibungen. Die kindlichen oder jugendlichen Protagonisten erschließen sich die Welt elementar über körperlich-sinnliche Erfahrungen, so dass es gerade für die literarische Darstellung körpermetaphorischer Kindheitserinnerungen nicht angebracht ist, den Körper konzeptionell als einen reinen Wissensspeicher oder Symptomträger nicht verbalisierbarer (oder gar traumatischer) Erfahrung zu betrachten. Vielmehr erweist sich in den Texten „… Emotionalität, Empfindsamkeit und Körperlichkeit“, wie Anke Abraham es beschreibt, als „Grundschicht unserer Wahrnehmung und Erfahrung“.37 Körpererfahrungen stellen in dieser Betrachtungsweise eine vorbewusste Perzeption der Umwelt über somatische Reize bzw. Sinneswahrnehmungen dar und thematisieren damit eine wenig beachtete Schnittstelle zwischen der subjektiven, physischen Wahrnehmung und dem sozialen Kontext. Es geht also weniger um Prozesse der Einschreibung, als vielmehr um eine grundsätzliche Responsivität des 35 Robert Gugutzer macht auf die Ausnahmestellung dieser Arbeit aufmerksam. Vgl. Gugutzer, 2004, S. 17. 36 Beise, 2007, S. 19. 37 Abraham, 2002, S. 162.
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Körpers, um die Mitbeteiligung von Sinnesempfindungen an der Entstehung von individuellen Deutungsmustern des autobiografischen Gedächtnisses und dem Gefühl von Identität, denn über die Sinneswahrnehmungen sind wir ganz wesentlich mit unserer Umgebung verbunden und diese wirkt auf uns ein. In dieser Denkrichtung einflussreich war der französische Phänomenologe Maurice MerleauPonty, auf dessen Konzepte im Folgenden zurückgegriffen werden soll. Sein philosophischer Begriff der Zwischenleiblichkeit gründet darauf, die objektive Welt nicht als abgetrennt vom Individuum zu beschreiben, sondern die Subjekt-ObjektSpaltung zu überwinden und den verbindenden Zwischenraum ins Zentrum seiner Philosophie zu rücken. Der Leib spielt dabei die entscheidende Rolle, denn er ist der Ort der Vermittlung: „Leib als Wahrnehmungsorgan, als Nullpunkt der Orientierung, als Weise des Weltzugangs: Das sind Stichworte, die sich mit der phänomenologischen Tradition eines Denkens der Leiblichkeit verbinden, (…). Seinen deutlichsten, geradezu paradigmatischen Ausdruck hat diese Tradition in der Philosophie Maurice Merleau-Pontys gefunden, dessen Phänomenologie der Wahrnehmung eine Theorie der leiblichen Erfahrung der Welt ist.“38 Bei Merleau-Ponty wird Wirklichkeit als etwas grundsätzlich Offenes verstanden, das auf Verbundenheit basiert, wodurch es nicht möglich wird, Positionen des Eigenen und Fremden klar zu trennen und damit eindeutig zu bestimmen. Die Verbundenheit funktioniert über den Körper bzw. wird hier wahrnehmbar. Unser Körper lässt sich zwar beobachten (Objekt), doch gleichzeitig sind wir dieser Körper (Subjekt). Ein in diesem Zusammenhang häufig zitiertes Beispiel Merleau-Pontys ist das der sich selbst berührenden Hände – d. h. ein Handschlag der eigenen rechten mit der eigenen linken Hand – um in dieser Geste den gleichzeitigen Kontakt von Eigenem mit Fremdem zu symbolisieren bzw. die paradoxe Ununterscheidbarkeit von Eigenem und Fremden vorzuführen. Das Beispiel verunsichert die Perspektive auf den Gegenstand ,Hand‘ denn sie berührt und ist berührte gleichzeitig. Darüber hinaus impliziert diese Gleichzeitigkeit auch immer ein doppeltes Wissen – denn jede Hand ,weiß‘, wie es sich anfühlt zu berühren und berührt zu werden. Dieses Wissen entspringt der Verbundenheit der Hände, d. h. der Zugehörigkeit beider Hände zum gleichen Körper. Übertragen auf den menschlichen Leib muss es daher ebenso eine Form der Verbundenheit sein, die es ermöglicht, das Fremde als nicht gänzlich abgetrennt zu erleben, sondern als etwas, von dem wir bereits ein Wissen haben: „Der Leib eines anderen Menschen begegnet uns scheinbar als ein abgegrenzter Körper. Doch zugleich haben wir die klare Intuition, dass dieser Körper sich selbst so empfindet und dass er in ähnlicher Weise denkt, wie wir uns selbst 38 Emmanuel Alloa/Thomas Bedorf/Christian Grüny/Tobias Nikolaus Klass (Hrsg.): Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen 2012, S. 2.
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erleben. Der Körper des Anderen ist nicht etwas vollständig anders (sic), wir kommen immer schon von einem intimen Wissen um seine Existenz her, nie begegnen wir einem anderen Menschen als ganz und gar Fremden.“39 Merleau-Ponty differenziert dabei zwischen Körper und Leib. Der Körper bezeichnet bei ihm den physischen Körper, der den Gesetzmäßigkeiten der Natur folgt, wohingegen der Leib gleichzeitig etwas Offenes impliziert, d. h. er ist bewusst wahrnehmender und kommunizierender Körper. Damit ist der Leib sowohl körperlich real als auch in einem offenen Raum zwischen dem Ich und dem Anderen angesiedelt und betrifft die Ebene der gemeinsam erfahrbaren Welt.40 Die in der Zwischenleiblichkeit ausgedrückte Verbundenheit stellt aber keine Gemeinschaft dar als ein bewusster Zusammenschluss im humanistischen oder moralischen Sinne. Denn dies würde Inklusions- oder Exklusionsmechanismen bedeuten, die auf Regeln basieren.41 Vielmehr geht es um eine Gemeinsamkeit, die nicht auf objektiven Annahmen gegründet ist, da es sich um etwas handelt, das man erfahren kann und das auch den physischen Raum miteinbezieht. Der Begriff der Erfahrung ist daher wichtig. Ebenso der Begriff der Kommunikation: „Mit Erfahrung ist nichts anderes als jene Kommunikation gemeint, welche der Leib mit dem Sein der Dinge unterhält.“42 Diese Erfahrung ist jedoch weiter gefasst als das rein reflektierende Bewusstsein, denn im Zentrum steht eben die körperlichsinnliche Wahrnehmung, welche ein vorprädikatives Geschehen darstellt, aus dem heraus Reflexion erst möglich wird. Dieser Gedanke eines vorprädikativen Bewusstseins ist wichtig in der Philosophie Merleau-Pontys. Er begreift Wahrnehmung als eine „unreflektierte Verankerung“ im Sein der Dinge.43 Der Leib ist hierfür die Basis, denn er ist die gemeinsame stumme Erfahrung der Welt, die alle Körper teilen. Der Leib als Basis ermöglicht daher erst die Individuationsprozesse durch unser reflektierendes Bewusstsein, die das Andere als das Andere erscheinen lassen, das jedoch immer auf einer Gleichheit beruht. Grundlage von Kommunikation zwischen dem Eigenen und dem Anderen ist in dieser Auffassung somit eine bereits bestehende Verbindung (die Zwischenleiblichkeit) – im Gegensatz zu einer Vorstellung, bei der durch Kommunikation Verbindung geschaffen wird. Das Konzept des 39 Frank Vogelsang: Identität in einer offenen Wirklichkeit. Eine Spurensuche im Anschluss an Merleau-Ponty, Ricoeur und Waldenfels, München 2014, S. 68. 40 Zur Unterscheidung zwischen Körper und Leib siehe auch Frank König: Vertieftes Sein. Wahrnehmung und Körperlichkeit bei Paul Celan und Maurice Merleau-Ponty, Heidelberg 2014, S. 38, sowie Alloa u. a. 2012, S. 2. 41 Vgl. Vogelsang, 2014, S. 98–99. 42 Good, 1998, S. 91. 43 Ebd., S. 91.
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Leibes oder der Zwischenleiblichkeit fokussiert also auf die Verbundenheit durch gemeinsame Erfahrung, ohne diese jedoch als einen rein physischen oder rein geistigen Prozess zu begreifen: „Gleichwohl fällt der Leib als gelebter Körper nicht unterschiedslos mit dem gelebten Körper in eins; nicht nur stellt er einen Überschuss über das Körperding dar, er leistet zugleich einer vollständigen Reduktion auf ein transparentes Bewusstsein Widerstand. Damit unterläuft das Konzept des Leiblichen die kategoriale Trennung zwischen materiell vorliegendem Körper und psychischem Erleben, zwischen physis und psyche, indem es eine Ebene eröffnet, die dieser Unterscheidung vorausliegt. Es beschreibt den unüberschreitbaren Modus menschlicher Erfahrung und fasst den Körper als funktionalen Zusammenhang, der Medium und Gegenstand der Erfahrung gleichzeitig ist, ohne ihn auf einen bloßen Funktionalismus reduzieren zu wollen.“44 Wenn man nun die soziale Dimension miteinbezieht bzw. sich mit der sozialen Dimension der Wahrnehmung beschäftigen möchte, stellt sich die Frage, welche Rolle der Körper und Leib hier spielen. Die Identität des Einzelnen in einem sozialen Gefüge ist nach diesem Konzept grundsätzlich nicht als abgetrennt oder abgeschlossen vorstellbar und entsteht immer aus einem Zusammenhang heraus, d. h. auf der Basis einer Verbindung mit der Umgebung, die wiederum durch den Leib ermöglicht wird „als fundamentale Auseinandersetzung mit der Welt und mit anderen Menschen.“45 So lässt sich mit Frank Vogelsang behaupten: „Unser Leib ist nicht nur die Bedingung für unseren Zugang zur Wirklichkeit, er bestimmt zugleich auch unsere Identität.“46 Leib (d. h. auch Identität) und Umwelt sind in dieser Sicht nicht getrennt, das Konzept der Zwischenleiblichkeit vereint Bindung und Trennung und verhindert damit eine konzeptionelle „Selbstabschließung“ (Vogelsang). Vogelsang bringt die Verbundenheit des Einzelnen mit der Umwelt in einem Bild zum Ausdruck, nach welchem die Umwelt in den Einzelnen gewissermaßen einfließt – und nicht einprägt wird – und die Grenze zwischen beiden als gradueller Übergang gedacht wird. Das soziale „Feld“ ließe sich demnach verstehen als ein „dynamisches Gebilde von fließenden Übergängen, das zwar Zentren kennt, die aber ähnlich den Wirbeln in einem fließenden Gewässer nur dadurch Zentren sein können, weil sie sich aus dem Umgebenen nähren.“47 Das Hervortreten und Sichtbarwenden von einzelnen Wirbeln wird aus einer grundsätzlich offenen physischen Umgebung heraus erst möglich. Ein ,W irbel‘ ist von seiner Umgebung physisch nicht getrennt, sondern bringt diese gewissermaßen zu einem verdichteten, sichtbaren Ausdruck. Eine ähnliche Darstellung des in eine grenzen44 45 46 47
Alloa, 2012, S. 2. Vogelsang, 2014, S. 66. Ebd., S. 11. Ebd., S. 90.
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lose, ,offene Wirklichkeit‘ (Vogelsang) eingebetteten Leibes findet man in Paul Goods Auseinandersetzung mit der Philosophie Merleau-Pontys, wenn er über den Leib schreibt: „Selbst eingelassen in eine Welt, verleibt er sich die Dinge ein.“48 Es wird hier also schwer, innen und außen zu trennen, aber genau das ist das Anliegen Merleau-Pontys, denn es geht um eine Gleichzeitigkeit von innen und außen und um die „Vermittler-Tätigkeit“49 des Leibes bei der Wahrnehmung der Welt. Durch die Vermittler-Tätigkeit des Leibes wird die Außenwelt, d. h. der umgebende Raum, ein „unablösliches Korrelat“50 des Leibes. Good beschreibt dies auch als „Synomymität äußerer Wahrnehmung mit der Leibwahrnehmung“ oder als ein „Ganzes erlebter Entsprechungen“.51 Die hier zu analysierenden Texte zeichnen sich dadurch aus, dass sie gesellschaftliche Zusammenhänge mittels einer ausgeprägten Körpermetaphorik ausdrücken und dass auch Erkenntnisse über die Gesellschaft mittels Körpererfahrungen gewonnen und dargestellt werden. Alle Protagonisten sind Kinder oder Jugendliche, was die sensuelle Ebene als zentrale Form der Wahrnehmung und Deutung des sozialen Umfelds noch einmal anders hervorhebt: Gerade Kinder, deren intellektuelle Fähigkeiten noch nicht vollständig entwickelt sind, eignen sich die Welt in besonderem Maße über die körperlich-sinnliche Wahrnehmung an, d. h. kindliches „Sinnverstehen“52 basiert auf ihrem leiblichen „Zur-Welt-Sein“.53 Es ist das „implizite Vorverständnis des Leibes“54, das Kindern Orientierung in der Welt ermöglicht. Responsivität gegenüber der Umwelt und das Agieren des Leibes in und mit der Umwelt bzw. das Ineinandergreifen der physischen und psychischen Welt sind zentral für das kindliche Sinnverstehen. Das (kindliche) implizite Wissen entsteht auf einer präreflexiven Ebene, es ist der „unentfaltete oder eingefaltete Sinn“ oder das „was wir ,wissen‘, ohne es bewusst zu ,kennen‘“.55 Der Blick richtet sich in der Textanalyse daher auf den Körper und seine Darstellung als offen, unbegrenzt und eingebunden agierend sowie auf seine Erfahrungen „als durch fortgesetzte Aktivität und (Inter)Aktion konstituierte.“56 Mit dieser Perspektive auf den 48 49 50 51 52 53 54 55 56
Good, 1998, S. 79. Ebd., S. 84. Ebd., S. 80. Ebd., S. 85. Jürgen Seewald: Leib und Symbol. Ein sinnverstehender Zugang zur kindlichen Entwicklung, München 1992, S. 17. Ebd., S. 451. Ebd., S. 66. Ebd., S. 538. Pia Haudrup Christensen: Kindheit und die kulturelle Konstitution verletzlicher Körper. In: Heinz Hengst/Helga Kelle (Hrsg.): Kinder – Körper – Identitäten, Theoretische und empirische Annäherungen an kulturelle Praxis und sozialen Wandel, Weinheim/München 2003, S. 132.
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Körper als Leib im Sinne Merleau-Pontys im Gegensatz zur Vorstellung des Körpers als Speicher habitueller oder traumatischer Erfahrungen soll untersucht werden, auf welche Weise der kindliche Alltag mittels körperlicher Wahrnehmung dargestellt wird, wie diese mit der Dimension des Sozialen verflochten ist und wie sich in den Körperbeschreibungen Merkmale der DDR- bzw. ČSSR-Gesellschaft abbilden.
1.2 Julia Schoch: Der Körper des Salamanders (2001) Der Körper des Salamanders ist die erste von neun Erzählungen in einem 2001 erschienenen Erzählband der Autorin, der denselben Titel trägt.57 Eine IchErzählerin erzählt darin vom Frauenrudersport in der späten DDR. Sie berichtet in der Retrospektive von ihrem Alltag als Mädchen in einem Sportinternat, das sich offenbar in oder bei Potsdam befindet, wie die räumlichen Angaben im Text (Schwielowsee bzw. Havel-Seen, Glienicker Brücke) vermuten lassen. Dass wir uns zeitlich in den späten 1980er Jahren der DDR befinden, lässt sich aus dem biografischen Hintergrund der Autorin mutmaßen – Julia Schoch besuchte selbst als Mädchen von 1987–89 eine Kinder- und Jugendsportschule in Potsdam. Aber auch aus Details der Erzählung lässt es sich ableiten, wie z. B. dem Auftreten eines Verantwortlichen für politische Erziehung, den bewaffneten Grenzern auf der Glienicker Brücke oder auch den Alltagsgegenständen (Sprelacarttische, DynamoJacke, Weiße-Flotte-Dampfer). Die Ich-Erzählerin, die gleichzeitig die Hauptfigur ist, beschreibt ihren Alltag im Internat. Es ist Winter und das zentrale Thema ist die Unlust der Ruderinnen, in der winterlichen Kälte auf den Seen zu trainieren. Sie hoffen auf Minustemperaturen, um im beheizten Becken trainieren zu können, was jedoch nicht immer geschieht. Beschrieben werden verschiedene Trainingssituationen – auf den kalten Seen oder im Becken – sowie andere Momente des Alltags, wie das gemeinsame Essen in der Kantine oder Wohnen im Internat. Der Erzählerin kommt dabei eine Sonderrolle zu – sie ist keine Ruderin, sondern Steuerfrau. Damit ist sie in einer herausgehobenen und verantwortlichen Position – sie steuert nicht nur, sondern ist ebenso für den Wetterbericht verantwortlich, misst mit der Stoppuhr die Zeit oder kontrolliert Pulswerte, wenn im Becken trainiert wird. Während die Mädchen sich mit dem kräftezehrenden Training abmühen, befindet sich die Erzählerin als Steuerfrau in einer vergleichsweise komfortablen Beobachterposition. Sie nutzt diese Sonderstellung, um sich dem als sehr eintönig geschilderten Trainings57 Julia Schoch: Der Körper des Salamanders, München 2001.
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alltag mental zu entziehen, indem sie sich in Tagträumen verliert oder über ihre Einträge ins „blaue Buch“ (10) nachdenkt, die ihr nicht recht gelingen wollen. Es handelt sich also gleichzeitig um die Geschichte einer Initiation: Die Erzählerin schildert, wie sie mit dem Schreiben beginnt. Den Schluss der Erzählung bildet ein Gedicht – ihr erster Eintrag ins blaue Buch. Das Gedicht greift das titelgebende Motiv des Salamanders auf – ein „in Stein gehaunes Untier“ (28), das zugrunde sinkt, heißt es dort. Auf die Eigenschaften des Körpers des Salamanders und dessen Symbolik wird daher auch zu achten sein, da er mehrfach im Text auftaucht. Er symbolisiert eine bestimmte Körperlichkeit und begleitet den Entwicklungsweg der Erzählerin. Der Körper, den die Erzählung bereits im Titel trägt, steht im Mittelpunkt des Textes. In der Darstellung des Trainingsalltags der Mädchen sind Körperbeschreibungen und sinnliche Wahrnehmungen sehr präsent. In der Körpermetaphorik bildet sich der Alltag in einer schulischen Einrichtung für Leistungssport vor dem gesellschaftlichen Hintergrund der späten DDR ab, wodurch Facetten der DDRGesellschaft zum Ausdruck kommen. Eine besondere Rolle kommt in der Erzählung dem Verhältnis des Körpers zum Wasser zu. Es stellt eine allgegenwärtige Umweltbedingung dar, der die Mädchenkörper im Training permanent ausgesetzt sind. Eine ausgeprägte Wassermetaphorik ist auffällig – es wird nicht nur auf dem Wasser gerudert, sondern Wasser wird in seinen verschiedenen Aggregatzuständen beschrieben. Es zeigt sich als ein ambivalentes Element, das den Körper bedrohen oder ihm Schutz bieten kann, und es lässt sich im Text mit der kaum greifbaren Präsenz von Machtstrukturen assoziieren. Die Körperlichkeit des Sports steht immer in einem besonderen Verhältnis zu ihrem gesellschaftlichen Kontext, denn beim Sport – und besonders beim Gruppen- oder Mannschaftssport – handelt es sich nicht um eine freie und individuelle Bewegungsform, sondern die sportliche Betätigung basiert auf sozialer Interaktion. Sport ist eine körperliche Tätigkeit, die sich von anderen körperlichen Praktiken wie z. B. dem Spazierengehen durch bestimmte Merkmale unterscheidet, wie Strukturiertheit (es gibt verbindliche Regeln), Ziel- und Wettbewerbsorientierung (Gewinner und Verlierer, Brechen von Rekorden) sowie spielerische Elemente (Freude an der Bewegung, Verbundenheit mit anderen Menschen). Sport ist daher eine kulturelle Praktik, die eng mit dem Wertesystem einer Gesellschaft, ihren Sozialstrukturen und Machtverhältnissen verwoben ist, weshalb Sport als Untersuchungsfeld besonders in der Soziologie auf Interesse stößt.58 Häufig wird dabei auf Pierre Bourdieu Bezug genommen. Die Habitus-Theorie Bourdieus stellt den subjektiven Akteur und auch seine Körperlichkeit ins Zentrum, denn Bourdieu 58 Vgl. Richard Giulianotti: Sport. A Critical Sociology, Cambridge 2016, S. xii.
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geht davon aus – u. a. auch in Bezugnahme auf phänomenologische Denktraditionen –, dass die Aneignung des ,natürlichen Verhaltens‘ von Menschen über unbewusste, vorreflexive Prozesse verläuft und immer auch körperlich fundiert ist.59 Gegenüber anderen, eher funktionalistisch oder systemtheoretisch ausgerichteten soziologischen Theorien bezieht er also die unbewusste körperliche Wahrnehmungsebene mit ein. Im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zum Sport60 wird dies besonders deutlich, hier spricht er wörtlich das „Verstehen mittels des eigenen Körpers“ an als eine häufig zu wenig beachtete Form der Intelligenz – auch wenn er diese Art des Verstehens „jenseits des Bewusstseins“ verortet.61 Im Sport (aber auch beispielsweise im Tanz) würden Verhaltensnormen vermittelt, die nicht verbalisiert und intellektuell begriffen werden können, sondern über eine „stillschweigende, praktische Kommunikation, gewissermaßen von Leib zu Leib“ übertragen werden.62 Sport sei daher als ein Medium zu betrachten, anhand dessen sich die Inkorporierung der Regeln des Sozialen beobachten lässt. Sport ist gewissermaßen eine Verkörperung dieser Regeln, die eben nicht nur als festgeschriebenes System von Vorschriften zu verstehen sind, sondern ebenso als Feld ,stillschweigender‘ Übertragung von Verhaltensnormen. In der öffentlichen Inszenierung sportlicher Wettstreite kommen diese Regeln und impliziten Verhaltensnormen wiederum zur Aufführung. Am Beispiel des Sports „lassen sich die Prozesse der sozialen Formung des Körpers und der Person wie durch ein Brennglas hindurch beobachten.“63 Bourdieu betrachtet die verschiedenen Sportarten hauptsächlich als Ausdruck sozialer Unterschiede und als Mittel der Distinktion. Wenn man im Bourdieuschen Sinne einen kurzen Seitenblick auf die Kulturgeschichte des Rudersports wirft, lässt sich festhalten, dass die historischen, d. h. antiken Ursprünge dieser Sportart besonders in der militärischen und wirtschaftlichen Nutzung des Ruderns liegen, lange bevor sich das Rudern im England des 18. Jahrhunderts als Freizeitsport zu etablieren begann. Es ist daher ein Sport, der mehr als andere Sportarten mit Disziplin und Effizienz assoziiert ist, ebenso mit der Gleichförmigkeit der Bewegung, auf die in Schochs Erzählung immer wieder angespielt wird. In 59 Frank Adloff, Sebastian M. Büttner, Stephan Moebius, Rainer Schützeichel (Hrsg.): Kultursoziologie. Klassische Texte – Aktuelle Debatten, Frankfurt/Main 2014, S. 284. 60 Pierre Bourdieu: Programm für eine Soziologie des Sports. In: Ders.: Rede und Antwort, Frankfurt/Main 1992. 61 Ebd., S. 205. 62 Ebd., S. 205. 63 Thomas Alkemeyer: Zwischen Verein und Straßenspiel. Über die Verkörperungen gesellschaftlichen Wandels in den Sportpraktiken der Jugendkultur. In: Heinz Hengst/ Helga Kelle (Hrsg.): Kinder – Körper – Identitäten, Theoretische und empirische Annäherungen an kulturelle Praxis und sozialen Wandel, Weinheim/München 2003, S. 301.
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ihrem Text wird das Ruderboot auch als Galeere bezeichnet – und zwar als „stumm gewordene Galeere“ (28), was den militärischen Charakter des Ruderns betont und auch die Unfreiheit, die damit assoziativ verbunden ist, waren doch die Galeerenruderer der Antike häufig „Sklaven, Leibeigene und Tagelöhner“.64 Der Text bringt hauptsächlich die Unlust und Abgestumpftheit der Ruderinnen zum Ausdruck. Dabei handelt es sich jedoch um die subjektive Wahrnehmung der Ich-Erzählerin, wie betont werden muss, denn der Leser bekommt keine Einsicht in die Psychologie der Ruderinnen; die Erzählung konzentriert sich auf die Evokation einer von der Erzählerin wahrgenommenen Atmosphäre. Der in Schochs Text gezeigte Alltag des Rudersports lässt damit ein ganz anderes Bild des Trainings entstehen, als beispielsweise in Berichten von professionellen DDR-Ruderern abgegebenen wird. Laut einem Erfahrungsbericht in der Zeitschrift des Ruder-Sport-Verbandes der DDR aus dem Jahr 1987, der sich mit den besonderen Herausforderungen des Wintertrainings befasst, gilt zum Beispiel – anders als in der Erzählung – gerade das Training im beheizten Becken als notwendiges Übel und besonders eintönig, wohingegen das Rudern auf den Seen trotz winterlich unwirtlicher Bedingungen viel größeren Reiz ausübte. Als Ruderer im Wintertraining, heißt es dort, „(…) hofft man natürlich darauf, möglichst bald aus dem ,ollen Kasten‘ herauszukommen und nimmt das Naßwerden, Frieren und die Gefahr letzter Eisstückchen in Kauf, um sich schnell wieder ein richtiges Bootsgefühl zu erarbeiten und an Wind, Wellen und Schaukeleinlagen zu gewöhnen.“65 Hier wird tapfer der Kälte getrotzt, wohingegen sich in der Erzählung alles um eine Vermeidungshaltung oder eher Gleichgültigkeit der Ruderinnen dreht. Auch in Anbetracht der Tatsache, dass die offizielle Darstellung ein möglichst positives Bild des Sports intendiert und der reale Rudersportler eine positivere Einstellung zu Eis und Kälte haben mag als die Erzählerin im Text, wird hier dennoch eine Disziplin erfordernde Selbstüberwindung deutlich; Rudern kann jedenfalls nicht als Sportart gelten, die spielerische Elemente aufweist, sondern ist habituell betrachtet eher mit Selbstbeherrschung, Durchhaltevermögen und Leistungsorientierung assoziiert. Effizienz ist ein hervorstechendes Merkmal: „Nicht umsonst sind bis heute Ruderboote die schnellsten durch menschliche Kraft fortbewegte Wasserfahrzeuge.“ (16) Ein weiterer Aspekt ist der des ,Teamgeists‘ bzw. das, was Bourdieu „Korpsgeist“ nennt.66 Im Rudern spielt das Funktionieren in der 64 Gerhard Reckendorf: Entwicklungsgeschichte des Ruderns in England und Deutschland, Bochum 1991, S. 17. 65 Jutta Abromeit: Wenn draußen Kälte herrscht. Gedanken zur Wintersaison der Ruderer. In: Rudersport. Organ des Deutschen Ruder-Sport-Verbandes der DDR, 30. Jahrgang, 1/1987, S. 6. 66 Bourdieu, 1992, S. 206.
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Gemeinschaft eine entscheidende Rolle, denn Rudern ist ein Gruppensport, der Synchronizität erfordert, d. h. möglichst gleichförmige und reibungslose Bewegungsabläufe. Der Artikel der DDR-Ruderzeitschrift betont beispielsweise, dass es nach der Winterpause darum ginge, „sich so komplikationslos wie möglich wieder in die Mannschaft einzufügen.“67 In der literarisch-ästhetischen Zuspitzung, die Schoch in ihrer Erzählung vom Rudersport abgibt, wird diese Konnotation des Sports mit dem Korpsgeist stark gemacht und lesbar als eine Auseinandersetzung mit Disziplin- und Leistungsanforderung im gesellschaftlichen Kontext der DDR. Dabei geht es um Formen eben jener ,stillschweigenden Übertragung‘ von Verhaltensnormen, die auf der vorreflexiv-körperlichen Ebene der subjektiven Wahrnehmung wirken. Das Phänomen der Übertragbarkeit wird durch die Präsenz des Wassers zum Ausdruck gebracht, denn das Wasser mit seinen spezifischen Eigenschaften (kalt, durchnässend, durchdringend, seine Form wandelnd von Nebel bis Eis etc.) ist immer anwesend und symbolisiert eine allgegenwärtige und die Körper der Sportlerinnen zermürbende Kraft. Im Zusammenhang mit dem Verhältnis der Körper zum Wasser zeigt sich nochmals die herausgehobene Position der IchErzählerin: Ihr Verhältnis zum Wasser ist ein anderes als das der Ruderinnen, denn während die Ruderinnen (aus Sicht der Erzählerin) dem Wasser offenbar wehrlos ausgesetzt sind, entwickelt die Erzählerin Strategien der Manipulation und Sabotage, um dem Training auf den kalten Seen zu entgehen oder aber sich durch Anpassung und Metamorphose mit dem Wasser zu verbünden (wie etwa ,Verschwinden‘ im Nebel), was auf eine ambivalente Haltung gegenüber dem Wasser verweist, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Die Körper der Ruderinnen Der Alltag im Sportinternat ist hart und fordert den Mädchen strenge Disziplin ab. Niemand scheint mit Freude am Training teilzunehmen – das lustlose Abarbei-ten der täglichen Trainingseinheiten dominiert. Hier wird kein lebendiger sportli-cher Ehrgeiz geschildert, sondern ein kräfteraubender Trott, dem man sich nur mit Unmut ergibt. Es werden Zustände der körperlichen Entkräftung beschrieben – die Sportlerinnen sind müde, schlapp, schlafen in den Schulbänken vor Erschöp-fung ein, „schleppen“ sich durch das Gebäude. Beim Training wirken sie gleichgültig und wie ferngesteuert. Die Monotonie der Ruderbewegung stumpft ihr Reak-tionsvermögen ab: „Nach zwanzig Kilometern gleichförmiger Bewegung fiel es ihnen schwer, auf etwas Plötzliches zu reagieren.“ (13) Eine Grundstimmung der Antriebs-losigkeit scheint über allem zu liegen – Bilder vertikaler Abwärtsbewegungen 67 Ebd., S. 6.
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‚ziehen‘ den Leser ‚runter‘ und schaffen eine resignative Atmosphäre: „gesenkte Lider“, „Gesichter lang“, „Mundwinkel fielen herab“, der herunterklappende Kiefer eines Ruderers in der Straßenbahn oder das Bild des schweren, sinkenden Salamander-Körpers: „in Stein gehauenes Untier, er sinkt zum Grund und anderes fällt mit.“ (28) Ganz zu schweigen vom beharrlich fallenden Regen oder Schneematsch und „tiefhängenden Wolken“ – auch in dieser Erzählung Julia Schochs wird ganz ähnlich wie in ihrem Roman Mit der Geschwindigkeit des Sommers mittels Landschafts- und Naturbeschreibungen eine Atmosphäre evoziert, die als Projektionsfläche für innere Zustände dient. Auch dieser Text arbeitet mit der Ästhetisierung von Kälte und Tristesse, dennoch erscheint die Atmosphäre nicht zuletzt durch das dominante Motiv des Wassers weniger statisch als im Roman, in welchem die ausweglose Situation der Hauptfigur von statischen Landschaftsbeschreibungen getragen wird. Das Wasser in der Erzählung wird in der Vielfalt seiner sinnlich wahrnehmbaren Zustände dargestellt, als Regen, Nässe, Feuchtigkeit, Raureif, Nebel, Niesel, Schneematsch oder Eis. Darüber hinaus ist auch die Akustik des Wassers sehr präsent durch onomatopoetische Verben wie rauschen, gurgeln, schlecken, sprudeln, spritzen, schmatzen oder schwappen. (7, 14, 22) Dies bringt nicht nur ein Fließen in den Text, also ein Element stetigen, hintergründigen Wandels, sondern zeigt ebenso die exponierte Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung für die Erzählung. Die Körper der Ruderinnen als Organe der sinnlichen Wahrnehmung werden jedoch als lustlose, passive, abgestumpfte Körper beschrieben. Es ist gar die Rede von „blinden Körpern“ (25). Hier wird dem Körper an sich – und nicht separaten Organen wie z. B. den Augen – eine ursprüngliche Sehkraft zugeschrieben, also die Fähigkeit, die Umwelt sehend zu erkennen und sich darin zu orientieren. Der gesamte Körper wird zum Organ der Sehkraft gemacht und ist daher als wahrnehmender Leib im Sinne Merleau-Pontys zu begreifen. Doch diese Fähigkeit der Ruderinnen zur sinnlichen Wahrnehmung über den Körper ist offenbar nicht mehr vorhanden, wenn ihre Körper als ,blind‘ beschrieben werden. Die Blindheit der nicht mehr wahrnehmenden Körper wird häufig durch das Schließen der Augen ausgedrückt, z. B. in den mehrfach erwähnten, beim Rudern „gesenkten Lidern“ (25). Die blinden Körper der Mädchen weisen Bezüge zum Körper des Salamanders auf, der als immer wiederkehrendes Motiv bestimmte körperliche Merkmale symbolisiert, die mit den physischen Eigenschaften der Ruderinnen (oder an anderen Stellen auch der Erzählerin) korrelieren. So taucht er an einer Stelle auf als winterstarrer Molch68, den die Erzählerin in der Bootshalle entdeckt. Dort wird er als ein 68 Molche und Salamander gehören derselben Gattung an (Salamandridae). Vgl. Burkhard
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Wesen beschrieben, das in einem Versteck sitzend „die blinden Augen geschlossen“ hält. (22) Er ist nicht nur in Winterstarre und damit ganz wie die Ruderinnen unfähig zu schnellen Bewegungen. Die Erzählerin schreibt ihm darüber hinaus Blindheit zu (Molche können jedoch durchaus sehen) und zusätzlich geschlossene Augen, d. h. einen doppelten Ausfall der Sehkraft. Die Körper der Ruderinnen werden in der Darstellung der Erzählerin auf eine funktionale Körperlichkeit ohne Sensorik reduziert. Sie scheinen von der sinnlichen Wahrnehmung gekappt zu sein, eben blind – und müssen offenbar auch blind sein, um als auf sportliche Leistungssteigerung ausgerichtete Körper zu funktionieren. Sie sind rein an den Bedingungen ihrer Umwelt orientiert. Auch hier lässt sich eine aufschlussreiche Verbindung zum symbolischen Körper des Salamanders aufzeigen. Molche und Salamander sind Wechselblüter, d. h. ihre Körpertemperatur und alle Lebensvorgänge sind von der Temperatur der Umgebung abhängig. Mit Merleau-Ponty ließe sich hier wörtlich von einer ,Einleibung‘ der Außenwelt sprechen; die Körpertemperatur von Molchen und Salamandern ist ein tatsächlich „unablösliches Korrelat“69 der Außentemperatur. Der im Text von der Erzählerin gefundene Teichmolch ist darüber hinaus ein Wesen, dessen Lebensgrundlage das Wasser ist, obwohl er teilweise auf dem Land lebt, wie es typisch ist für Amphibien. Ähnlich wie der Alltag der Ruderinnen ist auch das Leben der Teichmolche von ,aquatischen‘ und ,terrestrischen‘ Phasen bestimmt. Bei sinkenden Temperaturen bewegen sich Teichmolche an Land, um Winterquartiere zu suchen70 – wie auch die Ruderinnen vom Wetter abhängig sind und bei Minustemperaturen an Land trainieren müssen. Dies drückt ein leibliches Ausgerichtetsein auf die Umweltbedingungen aus, jedoch ohne eine Bewusstheit über diese Vorgänge, da die reflektierende Wahrnehmung ausgeblendet ist. Die Körper der Mädchen werden als überanstrengt beschrieben, doch diese Wahrnehmungen werden ignoriert, es geht um Disziplin: „Auch wenn ihre Körper nicht mehr wollten, hielten sie sich an die Regel, meine Kommandos abzuwarten.“ (15) Die Körper der männlichen Internatsschüler werden ähnlich fremdbestimmt und nahezu maschinell beschrieben – sie gleichen Karikaturen künstlich geschaffener Lebewesen, denn es sind „zu groß gebaute Golems“, die „mit gebeugtem Kreuz und ballongroßen Oberarmen über das Gelände (schlichen).“ (13) Ein Golem ist der Sage nach ein künstlich erschaffenes und fremdbestimmtes Wesen mit übermenschlichen Kräften. Auch den ,Golems‘ im Internat wird die subjektive sinnliche Wahrnehmung abgesprochen, was ebenfalls durch eingeschränkte Sehkraft zum Ausdruck kommt: „Ihre Lider hielten sie halb Thiesmeier/Kurt Grossenbacher (Hrsg.): Handbuch der Reptilien und Amphibien Europas, Band 4/IIB, Wiebelsheim 2004. 69 Good, 1998, S. 80. 70 Thiesmeier/Grossenbacher, 2004, S. 932.
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geschlossen.“ (13) Es zeigt sich also in der Darstellung der Erzählerin, dass die physischen Zustände der Erschöpfung von den Sportlerinnen und Sportlern nicht sensorisch wahrgenommenen, nicht ,gesehen‘ werden. Ihre Körperwahrnehmungen sind dem Funktionieren und der Leistungskraft des Körpers untergeordnet. Die Körper werden als zu optimierende Objekte beschrieben, der Leib als Wahrnehmungsorgan ist nicht mehr existent oder jedenfalls nicht aktiv. Das beschriebene ,Erblinden der Körper‘ kann als ein der Situation physischer Überanstrengung geschuldetes, mehr oder weniger bewusstes Ausblenden der subjektiven, leiblichen Wahrnehmungsebene verstanden werden, um sportliche Höchstleistungen zu erzielen. Vor dem dargestellten gesellschaftlichen Hintergrund der DDR-Gesellschaft der 1980er Jahre bekommt das ,blinde Rudern‘, wie man überspitzt sagen könnte, jedoch eine andere Konnotation und bringt eine umfassende gesellschaftliche Anforderung des Funktionierens zum Ausdruck. Eine Störung der gewünschten funktionalen Abläufe wird als Bedrohung gesehen. Dies wird an der Stelle explizit, als die Erzählerin eine Bemerkung des Verantwortlichen für politische Erziehung über das Training wiedergibt: „Auf keinen Fall dürfe man zulassen, daß Disziplinlosigkeit um sich griffe. Bei dieser Art Seuche, hatte er geschlossen, müsse man schnell und durchgreifend handeln.“ (19) Die Bedrohung durch Disziplinlosigkeit wird als Seuche gedacht, d. h. als hochansteckend und unsichtbar sich verbreitend. Hier zeigt sich eine Facette der Wassermetaphorik im Text: Wasser ist beim Training allgegenwärtig und hat die Eigenschaft, alles zu durchdringen, ohne sichtbar zu sein: Es gibt klamme T-Shirts, quietschend-nasse Schuhsohlen oder die feuchten, schimmligen Pappwände der Trainingsbaracke. (8/9) Auch bei der Seuche der Disziplinlosigkeit geht es um eine unsichtbare Durchdringungskraft – diese muss jedoch bewusst abgewehrt werden. Das Wasser wird allerdings nicht abgewehrt, es wird vielmehr von den Ruderinnen hin- und aufgenommen. Die Bedeutung des Wassers im Text ist vielschichtig. Es dringt in ihre Körper ein, ihre Haut scheint so durchlässig wie die Haut von Molchen, die Wasser ebenso über die Haut aufnehmen können. Das Wasser „war bis in ihre Knochen gedrungen“, heißt es. Auch die Erzählerin selbst ist vor dem Wasser nicht sicher – sie spricht von „Eiswasser, das meinem Körper gegenüber gleichgültig war“ oder sich durch die Trainingsjacke „bis zu meiner Haut vorarbeiten würde.“ (11, 12, 22) Wasser wird als zudringliche Kraft beschrieben, vor der es keinen echten Schutz, keinen wirklichen Rückzugsort gibt. Denn betrachtet man die beschriebenen Innenräume, die den Sportlern eigentlich zur Erholung dienen sollen, weisen sie ähnlich ,zudringliche‘ Eigenschaften auf und verweigern diese Erholung. Das Internatszimmer riecht nach Schweiß und der Trockenraum wird als „Quarantänezone“ oder „Brutkasten“ bezeichnet, dessen stickige Luft man nicht atmen kann. Sie betreten die Räume daher „nur mit zugehaltener Nase“ (9), was
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wiederum auf die Ausschaltung der Sinneswahrnehmung, die einen kaum erträglichen Zustand anzeigen würde, und ihre Existenz als bloße Körper verweist. Ein mit dem Gestank in Verbindung stehendes Motiv ist das der Verunreinigung. Die Internatsräumlichkeiten sind dreckig (nicht entfernte Blutflecken auf dem braunen Linoleum im Flur, die „fleckenstarrende Tischdecke“ im Zimmer, der Spermafleck im Teppich). Was also nicht bereits mit Wasser vollgesogen ist, das stinkt oder ist besudelt (ihr Spind gleicht einem „dunklen, stinkenden Schrank“ 10). Die Alternative zu Nässe, Kälte und sportlichem Drill („Die Mädchen befanden sich seit sieben Uhr auf den Liegebrettern im Kraftraum und schwitzten oder weinten in ihre Handtücher.“ 20) scheinen überheizte, stickige, schmutzige Innenräume zu sein, die weder echte Erholung noch Rückzug ermöglichen, was wiederum einen Zustand der Erschöpfung hervorruft. Die Erzählerin beschreibt hier offenbar den Mangel eines verlässlich abgrenzbaren (auch psychischen) Raums – bildlich dargestellt durch die allgegenwärtige ‚osmotische‘ Kraft des Wassers, der sie und die Ruderinnen permanent ausgesetzt sind. Die allgegenwärtige Durchdringungskraft des Wassers erscheint zermürbend. Eine andere Eigenschaft von Wasser ist jedoch die schon angesprochene Vielfalt seiner Formen – es steht daher ebenso für Veränderung. Auch hier gibt es eine Verbindung zum Salamanderkörper, denn ein weiteres Merkmal von Molchen und Salamandern ist ihre Fähigkeit zur Metamorphose und Anpassung. Im Verlauf ihres Lebens durchlaufen sie verschiedene Entwicklungsstadien von der Kiemenatmung zur Haut- und Lungenatmung, darüber hinaus bildet sich aus ihrer Knorpelsubstanz ein Knochenskelett. Auch die Körper der Ruderinnen und ebenso der Erzählerin weisen metamorphosierende Eigenschaften auf. Das Wasser verändert ihre Körper: Olfaktorische Beschreibungen lassen die Körper der Ruderinnen wie Bestandteile von Flora und Fauna wirken, als würden sie sich ihrer Umgebung anpassen: sie „rochen algig“ oder verströmen einen „fischigen Geruch“ (10, 15). Dabei wird auch beschrieben, wie sich der Dampf ihrer Körper mit der feuchten Luft der Umgebung vermischt (15), was darüber hinaus einen subtilen Vermengungsprozess, eine unlösbare Verbindung des subjektiv Körperlichen mit den physischen Eigenschaften der Umgebung (Luft) ausdrückt. Die blinden Körper der Ruderinnen sind dem Wasser ausgesetzt, das seine Wirkung entfaltet, ohne dass sie dies bewusst wahrnehmen würden, denn ihre sensorische Fähigkeit der Wahrnehmung wird als eingeschränkt beschrieben. Dies führt in der Darstellung der Erzählerin zu einem Prozesses der Abstumpfung und Zermürbung, dem die Mädchen ausgesetzt sind und der zu besagter Erschöpfung und Reaktionslosigkeit führt. Ebenso zeigen ihre Körper Merkmale der metamorphischen Anpassung an die Umweltbedingungen. Über die Körper- und Wassermetaphorik wird also das Verhältnis zwischen den Ruderinnen und ihrer Umwelt deutlich: Sie sind offen für die osmotischen Einflüsse der Umwelt, was als ein per-
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manentes Ein-Fließen von Wasser verbildlicht wird, doch nehmen sie dies nicht wahr, sie sind unempfindlich oder unempfindlich geworden. Der Körper der Erzählerin Auch für den Körper der Erzählerin wird die Wahrnehmungsfunktion der Sinne thematisiert, die ,Ausschaltung‘ der Sinneseindrücke geschieht jedoch bewusst: „Oder ich stellte mir vor, daß ich nur ein Kopf wäre, dessen Körper zu rein maschinellen Zwecken genutzt wurde und keine Sensoren auf der Haut trug.“ (21) Deutlich wird der Versuch, sich der ,Sensoren‘ zu entledigen, also die sinnliche Wahrnehmung physischen Unwohlseins zu unterdrücken, die vom Körper ausgeht. Hier erfolgt eine bewusste Trennung von ,Kopf ‘ und einem ,Körper ohne Sensoren‘. Die Erzählerin ist die einzige Instanz, die über diesen Zustand reflektiert, Einblick in die Figuren gibt es wie gesagt nicht. Sie ist auch die Einzige, deren körperliche Merkmale sich von denen der Ruderinnen abheben. Dies ist in ihrer besonderen Position als Steuerfrau bedingt. Ihr Körper wird z. B. als besser geschützt beschrieben – als Steuerfrau trägt sie als einzige Handschuhe, „während sich die Mädchen schweigend in die rot gefrorenen Hände“ hauchen. Auch ist sie flexibel, denn sie ist „absprungbereit“ im Liegesitz des Ruderbootes, wohingegen die Mädchen mit den Füßen „fest in den Schnürschuhen auf den Stemmbrettern steckten.“ Ihr Körper wird als so leicht beschrieben, dass er von Windböen erfasst und weggeweht werden kann. (8, 27, 11) Damit wird über den Körper eine Beweglichkeit – und eine Möglichkeit des plötzlichen Verschwindens! – ausgedrückt, die den Ruderinnen nicht zu eigen ist, denn sie sind durch das monotone Rudern abgestumpft und reaktionslos (,gefroren‘ ,feststeckend‘) geworden. Die Körperbeschreibungen drücken die grundlegende Ambivalenz der Erzählerin aus. Sie lebt nicht nur wie die amphibienhaften Ruderinnen in zwei verschiedenen physischen Welten (,aquatisch‘ und ,terrestrisch‘), sondern spielt auch ein doppeltes Spiel mit ihren Vorgesetzten. Sie ist einerseits angepasst und wird von den Mitschülerinnen um ihre Privilegien beneidet: „Sie verübelten mir meine Noten und haßten meinen ewig ausgeruhten Körper, der als einziger im Klassenzimmer aufrecht saß und sogar Worte herausbrachte, die zu den Fragen der Lehrer paßten.“ (9) Andererseits sabotiert und manipuliert sie, um nicht aufs Wasser zu müssen und letztlich ihrem eigenen Interesse nachzugehen, dem Schreiben ins ,blaue Buch‘. Beispielsweise lässt sie absichtlich die Startnummern der Mädchen verschwinden, um auf Anordnung des Trainers neue anfertigen zu müssen – ein Grund, das Training zu umgehen und allein in der Werkstatt zu bleiben. (11, 12) Sie nutzt ihre Privilegien als Steuerfrau aus, um sich bestimmten Situationen zu entziehen. Während des Ruderns auf den Seen verliert sie sich in Tagträumen und verursacht durch diese Unaufmerksamkeit kleinere Unfälle, für die sie keine Reue
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empfindet. Sie beschreibt es als „Genugtuung“, mit der Steuerflosse des Bootes die Landschaft „zu zerstören“. (23) Dieses ambivalente Verhalten wird bemerkt – der Verantwortliche für politische Erziehung schätzt sie als ungeeignet für Einsätze im Ausland ein und auch die Mädchen trauen ihr „selbst bei klarstem Wetter“ nicht. (19, 23) Die Tendenz der Erzählerin zur Anpassung an die Umstände wird daher als ebenso ambivalent beschrieben: Es ist keine Selbstaufgabe oder Gleichgültigkeit wie im Falle der Ruderinnen, sondern die Anpassung ist hier immer auch ein Untertauchen, das genutzt wird, um sich einem Ziel, und zwar dem Schreiben zu nähern. Anpassungsvermögen und Mimikry sind ausgewiesene Eigenschaften von Amphibien. Auch ist bekannt, dass Lurche sich nicht aktiv gegen Fressfeinde wehren, sondern Strategien der Tarnung, des Verbergens oder der Flucht anwenden. An einer Stelle im Text wird der Körper der Erzählerin als „fast durchsichtig“ und „reglos“ (18) im Boot liegend beschrieben. In Verbindung mit dem SalamanderMotiv weckt dies einen chamäleonhaften Eindruck der Nicht-Sichtbarkeit. Anpassungsfähigkeit an die Umwelt ist eine auffällige Eigenschaft der Erzählerin, was ähnlich wie bei den Ruderinnen mittels Körpermetamorphosen beschrieben wird. Diese sind bei der Erzählerin noch deutlicher ausgeprägt als bei den Mädchen, die auf subtile Weise mit ihrer Umgebung zu verschmelzen scheinen. Der Körper der Erzählerin hingegen wird prompt „zu einem Stück Holz“, als der Wetterbericht keine Minustemperaturen vermeldet und draußen gerudert werden muss. Oder sie beschreibt das Wachsen von Schwimmhäuten an ihren Händen, wo sich „bereits winzige Schuppen gebildet“ hatten. An einer anderen Stelle versucht sie, um besser mit dem Wasser klarzukommen, „ein Fisch zu werden“. (8, 9, 21) Auch die Initiation der Erzählerin zur Autorin stellt eine Metamorphose dar, denn sie ist motivisch mit dem Salamanderkörper verknüpft. Am Ende des Textes entsteht schließlich ihr erstes Gedicht und es handelt von diesem „Untier“. Als die Erzählerin den Teichmolch in der Bootshalle entdeckt, sind seine blinden Augen geschlossen. Seine winterstarren Bewegungen in ihre Richtung begreift sie jedoch als Aufforderung71, aktiv zu werden – aktiv im Sinne der Sabotage. Ihr größter Sabotageakt besteht darin, am Ende der Erzählung das Ruderboot kentern zu lassen. Die Szene beginnt mit einer expliziten Beschreibung ihrer aktiven Sehkraft: „An diesem Februarmorgen aber waren meine Augen offen, (…).“ (26) Auch einige Sätze weiter heißt es: „Ich (…) sah so klar, als hätte ich mir eine Nebelbrille aufgesetzt.“ (27) Sie ist sich also ihres Tuns bewusst, obwohl sie gleichzeitig in der 71 „Bedächtig und müde schwenkt er seinen winzigen Kopf. Aber ich wußte schon, dass ich diese Geste als Aufforderung nehmen mußte, den Bewegungen und dieser Jahreszeit selbst ein Ende zu bereiten.“ (21)
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Tarnhaltung bleibt – denn im Moment des Kenterns springt sie aus dem Liegesitz und verschwindet in einer Nebelschwade, in der sie sich vom Wasser treiben lässt: Der Nebel zieht sie „in seine feuchte Wolke hinein.“ (28) Auffällig ist, dass die Erzählerin genau in diesem Moment das Motiv der geschlossenen Augen wieder aufgreift, die diesmal jedoch „geöffnet oder geschlossen sein (konnten)“ (28), was nochmals ihre Ambivalenz und Anpassungsfähigkeit betont. Die Erzählerin ist überhaupt die einzige Figur im Text, die die Augen öffnet. Dies kann symbolisch verstanden werden als ein Erkennen der Situation auf der Wahrnehmungsebene, was den anderen Figuren offenbar versagt bleibt oder von ihnen nicht gewünscht wird. Es gibt sogar eine Szene, in der die Erzählerin gewissermaßen erkennend die Augen ,weit aufreißt‘, und zwar in dem Moment, als die Ruderinnen durch die Unachtsamkeit der Steuerfrau viel zu nah an die Glienicker Brücke rudern. Eine verdichtete Körper- und Wassermetaphorik bringt hier gesellschaftliche Machtverhältnisse zum Ausdruck: Das Boot gelangt so dicht an die Brücke, dass die Erzählerin behauptet, auf den Stirnen der dort postierten Grenzsoldaten kleine Schweißperlen erkennen zu können, „die nach drei weiteren Ruderschlägen direkt über mir sein und von dort in unser Boot fallen würden oder auf die gekrümmten Rücken der Mädchen.“ (26) Hier ist es der Schweiß der Grenzposten, der als ,Wasser‘ auf gekrümmte Rücken tropft, was auch ein Machtgefälle symbolisiert: Wasser tritt aus ihren erhöht stehenden Körpern aus und fällt hinab auf die Körper der Ruderinnen, die sich zudem in einer gebeugten Haltung befinden. Auch hier hebt sich die Erzählerin körperlich ab, denn sie beschreibt sich selbst an anderer Stelle als eine „aufrecht“ sitzende Person. (9) Der Körper der Erzählerin unterscheidet sich von den anderen Körpern. Seine Sinnesfunktionen sind aktiv und werden von der Erzählerin bewusst genutzt oder auch kontrolliert (sie kann ihre Augen öffnen oder schließen), um sich Situationen anzupassen. Ihre Figur ist ambivalent und wandelbar und ihr Körper hat auch ein anderes Verhältnis zum Wasser als die Körper der Ruderinnen. Sie entzieht sich dem Wasser wenn möglich – oder lässt sich „als leichter Ast vom Wasser treiben“ (28), und unterläuft damit auf verschiedene Weise die ,zudringlichen‘ Effekte des Wassers. In der Erzählung wird anhand des Rudersports und der allgegenwärtigen Präsenz von Wasser in seinen verschiedenen Formen eine subtile Form der ,Somatisierung des Sozialen‘ (Bourdieu) beschrieben. Es geht sowohl um das Antrainieren ganz bestimmter Verhaltensweisen, die im Falle des DDR-Rudersports mit Gleichförmigkeit und Disziplin assoziiert sind, als auch um die Unsichtbarkeit gesellschaftlicher Kräfte und Machtstrukturen, die geradezu osmotisch aufgenommen werden und durch die Wassermetaphorik zum Ausdruck kommen. Die Körper der Ruderinnen sind permanent und ganz selbstverständlich mit Wasser in Kontakt, das
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Wasser wirkt physisch auf sie ein und stellt eine durchdringende Kraft dar, die bei den Ruderinnen offenbar eine Abstumpfung der Sinne oder Anzeichen von Metamorphose bewirkt. Sie sind sich dieses Prozesses nicht bewusst im Gegensatz zur Erzählerin, die ihre sensorische Wahrnehmung aktiv beibehält und diese auch zu regulieren weiß. Die Körpermetaphorik in dieser Erzählung zeigt also den menschlichen Körper als ,Umschlagplatz‘ feiner sozialer Wirkkräfte, deren Komplexität durch die Vielgestaltigkeit der Zustandsformen des Wassers symbolisiert wird. Die sensorische Wahrnehmung ist dabei gleichzeitig das entscheidende Medium, über das Erkenntnis über eben jene Wirkkräfte möglich wird.
1.3 Terézia Mora: Lager Mira. Moritat (2002) In dieser kurzen Erzählung, die 2002 in der kaum beachteten Anthologie Der wilde Osten. Neueste deutsche Literatur72 erschienen ist, beschreibt die deutschungarische Autorin Terézia Mora den Aufenthalt einer zwölfjährigen IchErzählerin in einem Ferienlager in Polen im Jahr 1983. Auch dieser Text hat deutliche autobiografische Bezüge, wie die Autorin selbst in einem Essay anmerkt, in dem sie diese Fahrt nach Polen in den frühen 1980er Jahren als prägende Kindheitserfahrung erwähnt.73 Die Erzählung weist sowohl thematische als auch ästhetische Parallelen zu Julia Schochs Der Körper des Salamanders auf. Sie spielt eben72 Roland Koch (Hrsg.): Der wilde Osten. Neueste deutsche Literatur, Köln 2002. Der Herausgeber Roland Koch versammelte in dieser Anthologie Texte von 26 zwischen 1965 und 1979 in der DDR geborenen AutorInnen, die dezidiert über Kindheitserinnerungen berichten. Das Buchprojekt entstand im Rahmen der Gastprofessur des Herausgebers am Leipziger Literaturinstitut im Jahr 2001. Der Band wurde jedoch kaum rezensiert und wenn, dann eher negativ beurteilt. In der Berliner Zeitung heißt es, er würde sich in „das Geschäft mit der Selbstermutigung junger Ostdeutscher“ einreihen (da erschienen im Zuge der Veröffentlichungen von Jana Hensels Zonenkinder sowie den Romanen von Jakob Hein, André Kubiczek u. a.). Der Rezensent beschreibt die Aufarbeitungsbemühungen der jüngeren Generation als „schlaff “ und als „Abklatsch“, wesentlichen Fragen würde man ausweichen: „Die Eltern und Großeltern der ,Zonenkinder‘ hätten uns mehr zu erzählen, aber sie sind nicht Mode.“ Martin Z. Schröder: Schlaffer Osten. Erkenntnisvermeidung in der grassierenden Erinnerungsliteratur. In: Berliner Zeitung, 17.2.2003. In der Tat ist der Band deutlich als Auftragsarbeit zu erkennen und die Beiträge sind von sehr unterschiedlicher Qualität, enthalten jedoch auch Texte von AutorInnen (Mora, Schmidt, Schoch, Strubel), die sich auch in ihrem weiteren Werk noch eingehender mit der DDRThematik beschäftigen. 73 Terézia Mora: Das Kreter-Spiel Oder Was fängt die Dichterin in ihrer Zeit an. (erschienen online 2007, www.tereziamora.de).
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falls in einer sozialistischen Erziehungseinrichtung – kein Sportinternat, sondern ein Ferienlager, in dem ungarische und polnische Kinder gemeinsam den Sommer verbringen. Auch in diesem Fall beschreibt die Erzählerin einen streng durchorganisierten und freudlosen Alltag, der zudem von einer ähnlich unwirtlichen Atmosphäre geprägt ist. Das Wetter ist permanent schlecht – es regnet die meiste Zeit und alles ist mit Wasser vollgesogen (die Kinder befinden sich auf einem Zeltplatz im Wald). Wasser als metaphorisches Element der Durchdringung spielt also ebenfalls eine wichtige Rolle. Auch in diesem Text steht die Erinnerung an eine bestimmte Atmosphäre im Vordergrund, die hauptsächlich über die Beschreibung körperlich-sensorischer Wahrnehmungen der Kinder ausgedrückt wird. Die Körpermetaphorik verbildlicht hier in ähnlicher Weise eine vorreflexive Form der Inkorporierung des Sozialen. Der Körper lässt sich als ein „Brennglas“74 für soziale Prozesse betrachten und anhand der Körperlichkeit der Kinder, d. h. anhand bestimmter Reaktionen auf ihr Umfeld bzw. der Symptome, die ihre Körper entwickeln oder bestimmter Bedürfnisse, die ihre Körper äußern, wird ein gesellschaftlicher Zustand beschrieben. Die Körpermetaphorik hat in Moras Erzählung eine deutliche, fast einseitige Prägung und verbildlicht die Kinder überfordernden körperlichen Belastungen, was auf den Versorgungsmangel im Spätsozialismus anspielt und eine Kritik am maroden Gesellschaftssystem darstellt. Diese Kritik umfasst jedoch nicht nur den rein materiellen Mangel, sondern auch die soziale Ebene, denn ähnlich wie bei Schoch wird durch das Motiv des alles durchdringenden Wassers und damit verbundener physischer Zermürbung eine Form der sozialen Kontrolle thematisiert, der die Kinder ausgesetzt sind. Geschwächte Körper Am Ende der Erzählung wird der Aufenthalt im Ferienlager abrupt abgebrochen, da ein Großteil der Kinder an Verdauungsbeschwerden erkrankt ist. Ganz deutlich werden die Umstände der Abreise nicht. Klar wird jedoch, dass die Kinder das Ferienlager in einem körperlich ausgesprochen schlechten Zustand verlassen: An-statt sich in der Ferienzeit zu erholen, leiden ihre Körper Mangel. Zuvor wird der Alltag im Lager Mira beschrieben, wie z. B. die Beschaffenheit der Unterkünfte (Zelte) und Waschgelegenheiten, die Mahlzeiten oder Gruppenaktivitäten (Spiele, Ausflug). Dabei gibt es unverhohlene KZ-Analogien – das Ferienlager wird immer nur „Lager“ genannt, die Mädchen „Frauen“, die Rede ist von kahl rasierten Schä-deln bei den polnischen Kindern, Essen aus Blechnäpfen, die ein wertvolles Gut 74 Alkemeyer, 2003, S. 301.
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darstellen, und Waschen im Eisentrog mit Kaltwasserhähnen. Ein Tagesausflug in eine Salzmine wird beschrieben mit „als sie uns in die Salzmine brachten“ und zu guter Letzt verlassen die Kinder das Lager abgemagert: Als sie zuhause ankamen, „gab es welche, die wogen keine 35 Kilo mehr“. (27, 32) Vorweg sei erwähnt, dass sich Terézia Mora in einem 2007 auf ihrer Internetseite veröffentlichten Essay75 von diesem Text und der Art und Weise, ihre Kindheitserfahrungen darzustellen, distanziert hat und ihre eigene Unzufriedenheit bzw. eine generelle Schwierigkeit, bestimmte Erfahrungen aus der Zeit des Sozialismus zu literarisieren, zum Ausdruck bringt. Sie bezeichnet dieses Kindheitserlebnis zwar als „das wichtigste Moment meiner Diktaturerfahrung“76, doch sieht sie in der literarischen Darstellung ihre Intentionen nicht verwirklicht, die „Lächerlichkeit und Gefährlichkeit des real.exis.Soz.“ darzustellen.77 Mora, die sich dagegen verwehrt, als „Berufsossi“78 gehandelt zu werden, behauptet im Übrigen, sie hätte nach diesem und einigen weiteren Textversuchen „den Plan, eine ganze Reihe mit Moritaten, mit Gruselgeschichten aus dem real.exis.Soz. zu schreiben, aufgegeben.“79 Doch abgesehen von den groben Analogien zu einem Aufenthalt im Konzentrationslager, die den Text allzu schnell in Richtung eines vereinfachenden Totalitarismus-Vergleichs lenken, ist es aber auch die erzählerische Ästhetisierung der körperlich-sensorischen Wahrnehmung, die den Aufenthalt im Ferienlager als bedrückende und physisch erschöpfende Erfahrung erscheinen lässt und gleichzeitig etwas über die Beschaffenheit des sozialen Kontexts zum Ausdruck bringt. Die permanente Präsenz von Wasser stellt auch in diesem Text ein Element der Durchdringung und Zermürbung dar – die Protagonisten sind vor dem Wasser nirgendwo geschützt und fühlen sich unwohl, denn da es die meiste Zeit nieselt oder regnet, ist alles von Feuchtigkeit durchdrungen: „Alles sog sich voll mit Nässe, Zelte, Kleider, Haut und Haare, die einzigen trockenen Flecken waren dort, wo die Mäuse wohnten: unter unseren Betten.“ (24) Der Hinweis auf die Mäuse ist an die75 Mora, 2007. 76 Ebd., S. 8. 77 Ebd., S. 11. „Das Reden über unsere Zeit – die vergangene, gegenwärtige, zukünftige – aus der Geiselhaft der Floskeln zu befreien (ich zeige mit Fingern auf die Medien, aber ich zeige auch mit Fingern auf „uns“), das wäre, ist, eine der nützlichsten Nebenwirkungen guter Kunst. Vorausgesetzt, jemand kann es. Ich konnte es nicht. Nach einem zweiten Blick, den ich auf LAGER MIRA, DAS KRETER-SPIEL und die paar Fragmente, die es außerdem gab, geworfen hatte, war mir klar: so geht das nicht. Ich weiß nicht, wie es geht – so nicht.“, S. 9. 78 Ebd., S. 7. 79 Ebd., S. 8.
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ser Stelle wichtig, denn die Kinder haben Angst vor ihnen. Der ganze erste Absatz der Erzählung ist den Mäusen gewidmet, die einen Aspekt der Beunruhigung darstellen (sie wuseln nachts unter den Betten und die Kinder haben Angst, dass sie sich in ihren Stiefeln einnisten, die sie „danach nicht mehr anzufassen wagten“ 24). Es ist nicht zu übersehen, dass die Mäuse die Herrschaftsstrukturen des Sowjetsozialismus repräsentieren: Sie werden als eine Armee dargestellt, die nachts unter den Betten der Kinder ihr Unwesen treibt (eine „alte Armada, wegen besonderer Grausamkeit in Mäuse verwandelt“). Die zugrundeliegende Symbolik ist eindeutig, denn die Mäuse „zogen von Ost nach West durch das Zelt hindurch“ (24), kommen also aus dem Osten und stellen eine diffuse Bedrohung dar, die hier im Gewande einer übermächtigen Bürokratie (‚Armee grauer Mäuse‘) auftritt. Die Mäuse sind zudem mit Privilegien (trockene Orte) ausgestattet, die den Kindern nicht zuteil werden: Die Kinder sind nicht nur der Feuchtigkeit ausgesetzt, sondern leiden gleichzeitig Mangel an Grundlegendem, wie die Erzählerin noch einmal mit der Bemerkung verdeutlicht, dass es im Lager abgesehen vom permanenten Regen „mit Wasser eher knapp“ war. (24) Mangel und Unterversorgung sind ein wichtiges Thema der Erzählung und spielen auf die Situation der polnischen Gesellschaft in den frühen 1980er Jahren an. Nicht nur das Wasser ist knapp, sondern ebenso die Blechnäpfe, die zum waschen verwendet werden und aus denen auch gegessen wird, es gibt kein Haarwaschmittel, keine Hygieneartikel etc. Das Finale bildet der Mangel an Brechmitteln, als die Kinder schließlich erkranken. Die gesamte Erzählung schildert im Prinzip die Zuspitzung des Mangels als eine körperliche Schwächung, was auch auf den Raum außerhalb des Lagers bezogen ist, denn einmal sehen die Kinder, die ansonsten von der Außenwelt abgeschottet sind80, eine Frau und eine Kuh durch den Wald gehen – beide „knochendürr“. (26) Die zu Beginn der Erzählung beschriebenen Mäuse unterm Bett bewirken Ekelgefühle bei den Kindern – sie scheuen sich, ihre Stiefel zu berühren, da Mäuse darin sein könnten. Mit diesem Ekel vor den Mäusen in Verbindung steht das Motiv der Verunreinigung, das in dieser Erzählung ebenso auffällig ist wie in Schochs Der Körper des Salamanders. Dies bezieht sich beispielsweise auf die Schilderung der hygienischen Bedingungen im Lager (Latrinen, Waschzelt). Das Lebensumfeld, d. h. der die Zelte umgebende Wald, wird als von Papier- und Watteresten verunreinigt beschrieben. An anderer Stelle schildert die Erzählerin, wie sich die „grauweißen und rosa Krümel“ (25) des Klopapiers in den Schamhaaren der Mädchen verfangen, da es angesichts ihrer Menstruation an Hygieneartikeln mangelt. Verunreinigt ist sogar das Essen, und zwar von den allgegenwärtigen 80 „Im Dreikilometerumkreis gab es keinen Laden, und es war sowieso nicht erlaubt, das Lager zu verlassen.“ (26)
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Kiefernnadeln, die die Kinder „Krokodile“ nennen: Kleben die ,Krokodile‘ nicht beim Suppenschöpfen unten am Essnapf, dann fallen sie von den Bäumen in die Suppe hinein – die Kinder nennen den täglichen Eintopf daher „Krokodilsuppe“. (25) Die Vorstellung von Krokodilen in der Suppe ist zumindest ambivalent, da Krokodile potentiell gefährliche Tiere sind und auch in ihrer verniedlichten Form als Kiefernnadeln einen Rest an Bedrohlichkeit transportieren, ganz zu schweigen von der Unannehmlichkeit beim Essen. Diese Mischung aus einer kindlichen Perspektive, die das Wahrgenommene märchenhaft-phantastisch interpretiert (Kiefernnadeln als Krokodile, die Mäuse unter dem Bett werden auch als spanische Adlige mit merkwürdiger Halskrause oder als „Minilöwenherde“ (24) beschrieben) und einer darin mittransportierten Beunruhigung oder einer latenten Abscheu kann als merkmalhaft für die Ästhetik des Texts gelten. Trotz dieser märchenhaften Ebene (auch der Ausflug in die Salzmine wirkt märchenhaft, denn die Salzmine gleicht einer glitzernden Märchenwelt unter Tage), evoziert der Text hauptsächlich Ekelgefühle durch die Motive der Verunreinigung und Feuchtigkeit bzw. ein grundlegendes physisches Unwohlsein angesichts der Bedingungen im Ferienlager. Dieses kulminiert darin, dass die Kinder nach ihrem Ausflug in die Salzmine, bei dem sie verbotenerweise an den Salzwänden geleckt hatten, fast alle erkranken und sich übergeben müssen, was sie im Wald um den Zeltplatz herum tun. Feuchtigkeit und Verschmutzung dominieren die unwirtliche Szenerie: „Jeder Baum ein Mann, eine Hand an der nassen Rinde, in der anderen der Napf, erbrach man sich auf die Krokodile und die durchnässten Fahnen der Klopapiere und Binden. Es war still im Wald, nichts mehr zu hören, nur der Niesel, der die Bäume, die Papiere, die Blechnäpfe traf, ab und an ein leises Würgen.“ (29)
Hier wird also grundsätzlich mit ähnlichen ästhetischen Mitteln gearbeitet wie in der Erzählung von Julia Schoch. Hinzu kommt jedoch ein finales (und kollektives) Sich-Übergeben als symbolischer Widerwille gegen die Situation. Dies kann auch als Weigerung verstanden werden, die Umstände noch länger zu erdulden, was am Ende des Texts von der Erzählerin auch offen artikuliert wird. Sie beschreibt ihre Rückfahrt bzw. Ankunft in der Heimat als Vorgang der Reinigung und Erlösung: Die Kinder bekommen endlich „den Schmutz und den Gestank“ (32) abgewaschen. Hier tritt darüber hinaus die Gegenwart des Erzählens deutlich hervor – und damit eine starke Wertung der geschilderten Kindheitserinnerung – denn die Erzählerin bezeichnet diesen Moment retrospektiv als Schlüsselerlebnis, bei dem ihr die Mängel des Systems deutlich geworden sind. Sie sagt, sie hätte genug „von dieser ganzen Misere, die sie das Paradies nannten“. (32) Im letzten Satz weist sie dabei ausdrücklich auf ihr junges Alter hin (12 Jahre), in welchem sie behauptet, diese Tatsache erkannt zu haben. In diesem Punkt unterscheidet sich Moras Erzählerin deutlich von Schochs Erzählerin. Moras Erzählerin bewertet das Geschehen und benennt eine für die ,Mi-
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sere‘ verantwortliche Instanz („sie“). Auch befindet sie sich nicht in einer herausgehobenen Position, sondern berichtet aus der Perspektive der gesamten Gruppe, denn anders als in Schochs Erzählung der Fall wechselt Moras Ich-Erzählerin sehr häufig in die Wir-Form und beansprucht damit eine verallgemeinernde Sicht. Bei Schoch wird der konkrete politische Kontext zwar spürbar, aber es wird niemand verurteilt, vielmehr werden subtile Sozialisierungsprozesse beschrieben, die ,Macht‘ des Systems ist dabei nicht wirklich greifbar, sondern wird als Wirkprozess auf die Physis beschrieben (Verlust der sinnlichen Wahrnehmung, Metamorphose). In Lager Mira. Moritat wird auch ein Wirkprozess auf die Physis beschrieben, doch steht hier stärker der Protest gegenüber den zermürbenden Bedingungen im Vordergrund, die die Körperkraft und damit die materielle Substanz des Lebens schwächen. Kontrollierte Körper Im Text werden kindliche Körper beschrieben, die, statt die Sommerferien genießen zu können, Entbehrungen erleiden müssen. Der Text endet also mit der Abreise der Kinder in einem abgemagerten Zustand und der Bemerkung, dass „die nächsten Jahre (…) erst einmal gegessen werden (musste)“ (32). Neben der fehlenden Grundversorgung ist ein weiteres Thema die soziale Kontrolle, die als wesentlicher Bestandteil des Ferienlageraufenthalts erinnert wird. Beschrieben wird ein strenger Tagesablauf mit z. B. festen Waschzeiten, aber auch die Ununterscheidbarkeit der Kinder, die sich darin äußert, dass alle die gleiche Kleidung tragen und sie dadurch „unsichtbar“ sind für ihre „Aufpasser“. (26) Das Element der Kontrolle wird noch stärker angedeutet in der Angst der Kinder, nachts die Latrinen zu benutzen, weswegen sie lieber in den Wald gehen. Doch auch die Bäume im Wald werden als „Aufpasser“ beschrieben, die nur darauf warten, die Kinder zu schikanieren und die „Losung“ abzufragen, was ein Gefühl der Kontrolle physischer Grundbedürfnisse impliziert – oder anders betrachtet ein auf physischer Ebene internalisiertes und in diesem Sinne ,einverleibtes‘ Kontrollverhalten des Umfelds, was sogar Bäume als kontrollierend erscheinen lässt.81 Das Sinnesorgan, das am häufigsten im Text genannt wird und in der Schlüsselszene – dem Ausflug in die Salzmine – eine entscheidende Rolle spielt, ist die Zunge: Durch das Lecken an den Salzwänden kommt es zur Erkrankung der Kinder und schließlich zur Abreise. Die Zunge hat im Text eine ähnliche Funktion wie das 81 „Manche der Bäume waren Aufpasser, sie warteten, bis man sich hingehockt hatte und sagten dann: Losung? Dann musste man aufspringen und die Losung sagen, und sie lachten. Das war ihr Spiel, ansonsten ließen sie uns machen.“ (25)
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Motiv der geöffneten oder geschlossenen Augen bei Julia Schoch, denn sie symbolisiert die Ebene der sensorischen Wahrnehmung. Während bei Schoch also die Augen eine motivische Schlüsselrolle spielen und Erkenntnis (oder das Fehlen von Erkenntnis) auf der sensuellen Ebene ausdrücken, rückt bei Mora die Zunge als Organ des Geschmackssinns in den Mittelpunkt: es geht um das Schmecken und um die Lust an dem, was schmeckt. Die der Zunge als Organ kulturgeschichtlich zugeschriebenen Leitfunktionen sind das Sprechen und das Schmecken, ebenso ist sie ein Organ der Sinnlichkeit und Erotik. Gewaltanwendung an der Zunge gilt wiederum als ein Zeichen von Machtausübung. Auf verschiedenen Ebenen ist die Semantik der Zunge mit einer potentiell zerstörerischen Kraft ausgestattet, oder mit einer Zügellosigkeit, die bedrohlich werden kann. Dies bezieht sich auch auf Sprache und Artikulationsvermögen, für das die Zunge (lingua) metonymisch steht.82 Die sprechende Zunge kann gefährlich werden, wie es in zahlreichen Redensarten zum Ausdruck kommt (,hüte deine Zunge‘, ,die Zunge im Zaume halten‘, ,eine spitze/scharfe Zunge haben‘). Auch in ihrer semantischen Verbindung mit dem Geschmackssinn lässt sich eine potentiell zerstörerische Kraft erblicken, denn beim Schmecken (zumindest im Zusammenhang mit Essen) geht es auch immer um Prozesse der Einverleibung und Auflösung: Speisen schmelzen, zergehen oder zerfließen auf der Zunge; was in den Mund kommt, löst sich als Objekt auf.83 Hinzu kommen die vielfältigen erotischen Konnotationen der Zunge, die sie als ein Organ der Sinneslust und damit Zügellosigkeit codieren. Sie kann als ein phallisches, penetrierendes Organ erscheinen, dem in seiner „unkontrollierbaren muskulären Tätigkeit“ ein „,Eigenleben‘“ zugeschrieben wird, doch werden in ihr ebenso weibliche Eigenschaften gesehen, wie z. B. in der lexikalischen Verknüpfung zwischen Zunge und weiblicher Klitoris als „Schamzünglein“.84 In jedem Fall ist sie ein Organ, das mehr als andere Sinnesorgane – wie z. B. das Auge, das viel stärker mit dem menschlichen Bewusstsein, mit Licht und Erkenntnis in Verbindung gebracht wird – für eine reine und lustbetonte Körpersensorik steht, die vom Geist in Schach gehalten werden muss: „Die Zunge ist – in einer Art Vorgriff des cartesianischen Dualismus – pars pro toto des ganzen Körpers, dessen mächtige unwillkürliche Regungen der Geist zu beherrschen sucht.“85 Wird also von der Zunge erzählt, wird auch von den ,unwillkürlichen Regungen des Körpers‘ erzählt. 82 Claudia Benthien: Zwiespältige Zungen: Der Kampf um Lust und Macht im oralen Raum. In: Claudia Benthien/Christoph Wulf (Hrsg.): Körperteile: eine kulturelle Anatomie, Hamburg 2001, S. 104/105. 83 Ebd., S. 124/125. 84 Ebd., S. 118/119. 85 Ebd., S. 106.
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Hinsichtlich der Konnotationen der Zunge steht in Moras Erzählung das Schmecken im Vordergrund. Vor dem Hintergrund der beschriebenen materiellen Mangelsituation im Ferienlager erweist sich der Ausflug in die Salzmine als unverhoffter Ausbruch von Lust und sinnlichem Genuss, der den Kindern im ,LagerAlltag‘ verwehrt ist. Die Salzmine wird als eine unterirdische Märchenwelt aus Salz beschrieben, die allein schon durch ihr Aussehen (Ballsaal, Lüster, Spiegel, Springbrunnen etc. aus Salz) die Kinder in Entzücken versetzt. Es herrscht das ausdrückliche Verbot, irgendetwas zu berühren oder daran zu lecken – d. h. ein Verbot der sinnlichen Erkundung – doch: „Wie es trotzdem dazu kam, dass auf eimal alle mit den Zungen an den Wänden klebten, niemand weiß es mehr.“ (28) Beschrieben wird ein rauschhafter Moment der Sinneslust, ein regelrechter Ausbruch von Sinneshunger, denn plötzlich „gibt es kein Halten mehr, es schmeckt wie Salzstangen“ – die Kinder lecken also an den Wänden und genießen das Salz, bis ihnen die Sinne schwinden: „Hören und Sehen verging.“ (28) Das Erlebnis in der Salzmine bietet ein Surrogat für fehlenden Genuss und auch Genussmittel (,Salzstangen‘), denn dieser Moment wird als der einzig glückliche während des gesamten Aufenthalts dargestellt und die Kinder bei der Heimfahrt als „glückliche Herde“ (28) bezeichnet. Dass die Episode in der Salzmine letztlich kein gutes Ende nimmt und zum vorzeitigen Abbruch des Aufenthalts führt, verweist auf die Überforderung des Aufsichtspersonals mit der Gesamtsituation. Das Resultat ist die Erkrankung der Kinder und es ist wiederum der Körper, der heftig auf das Geschehen reagiert: „Es brannte im Mund, der Speiseröhre, dem Magen, der Blase, den Gliedern.“ (29) Die Erzählerin beschreibt den Umgang mit der Situation – erst bekommen die Kinder Brechmittel verabreicht und da dieses schnell aufgebraucht ist, sollen sie warmes Wasser trinken. Die Erzählerin hat jedoch ihren Essnapf verloren und daher kein Gefäß zum Trinken. Sie hat nur ihre Zunge, die sie verzweifelt in den Nieselregen hinausstreckt, um sich dann besser übergeben zu können: „Die ausgestreckte Zunge, der verschluckte Regen half, ich konnte wieder etwas hervorwürgen, (…).“ (30) Durch das Herausstrecken der Zunge erfüllt die Erzählerin ihre physischen Grundbedürfnisse, doch die demonstrativ herausgestreckte Zunge lässt sich ebenso als provokative Gebärde der Ablehnung verstehen, denn die Abneigung gegenüber dem System thematisiert die Erzählerin schließlich am Schluss ganz offen. Hier zeigt sich die Doppelfunktion der Zunge. Sie ist nicht nur ein erotisch konnotiertes Organ des Geschmackssinns und der Lust, sondern ebenso ein Organ der Provokation, denn eine ausgestreckte Zunge kann ebenso Ekel oder Abscheu verursachen. Die Zunge als kulturgeschichtlich ambivalentes, ja ein ,suspektes‘ Körperteil ist das einzige Organ, das sich sowohl innerhalb als auch außerhalb des Körpers befinden kann. Durch die Möglichkeit, die Höhle des Mundraums zu
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verlassen, ist sie potentiell immer auf der „Schwelle zwischen Intimität und Öffentlichkeit“.86 Dies unterstreicht ihre Bedeutung als Leitmotiv, denn in Moras Erzählung geht es immer wieder um die kindliche Wahrnehmung dieses Grenzbereichs zwischen Intimität und Öffentlichkeit, dargestellt ebenso anhand der intimen körperlichen Bedürfnisse der Kinder (essen, schlafen, Toilettengang) und deren öffentlicher Regulierung durch „Aufpasser“ oder schikanöser Störung durch „Mäuse“ oder „Krokodile“. Die an etwas leckende oder herausgestreckte Zunge steht hier also für die kindliche Provokation dieser Grenzen: Es sind unerfüllte physische Grundbedürfnisse und der Mangel an Lust, Genuss und Zügellosigkeit im Ferienlager, die sich in der Zungenmetaphorik zeigen bzw. der kindliche Versuch, sich gegen Verbote und Kontrolle durch „Aufpasser“ zu wehren. Das Lecken an der Salzwand, das auch ein ausdrückliches Verbot nicht verhindern konnte, führt schließlich zum Zusammenbruch des Systems – das Lager muss abgebrochen werden. Das Agieren der Zunge stellt somit eine Bedrohung der Ordnung dar – sie soll gezähmt werden, was jedoch nicht gelingt. Ähnlich wie bei Schoch wird im Text über die Körpermetaphorik eine Form der Somatisierung des Sozialen dargestellt. Stand bei Schoch die osmotische Übernahme von Verhaltensweisen, aber auch die Erkenntnis dieser Tatsache durch sinnliche Wahrnehmung (Augen/Sehen) im Mittelpunkt, geht es hier stärker um die Nicht-Erfüllung physischer Grundbedürfnisse im Kontext der sozialistischen Mangelgesellschaft und ein Auflehnen gegen zu starke Kontrolle und Reglementierung, die durch die Körpermetaphorik zum Ausdruck kommt. Es gilt für die Kinder ein Verbot der sinnlichen Erkundung und des Genusses, das durch die der Zunge eigene Doppelcodierung als Organ der Provokation wiederum gebrochen wird. Gemeinsam ist den Texten auch die Auseinandersetzung mit der kindlichen Wahrnehmung der Grenzen zwischen Intimraum und Öffentlichkeit in einer sozialistischen Erziehungseinrichtung, denn so wie bei Julia Schoch ein Fehlen von Intimität, d. h. von abgrenzbarem Eigenraum im Sportinternat thematisiert wird, geht es auch hier um die fragilen Grenzbereiche zwischen Intimität und Öffentlichkeit, die durch die Zunge als Organ, das sich verbergen oder herausstrecken lässt, erkundet und provoziert werden.
86 Ebd., S. 104.
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1.4 Jochen Schmidt: Produktive Arbeit (2002) und Daniel Wiechmann: Immer bereit! Von einem jungen Pionier, der auszog, das Glück zu suchen (2004) Die folgenden beiden Texte von Jochen Schmidt und Daniel Wiechmann lassen sich ebenfalls als Erinnerungstexte an Kindheiten im Spätsozialismus bezeichnen. Beide berichten vom sozialistischen Schul- bzw. Erziehungsalltag aus einer kindlichen Perspektive, wobei die Beschreibung physisch-sensorischer Wahrnehmungen auch hier Alltagserfahrungen zum Ausdruck bringt, auch wenn die Körpermetaphorik nicht in dem Maße die Ästhetik dieser Texte prägt, wie es bei den beiden zuvor behandelten Autorinnen der Fall war. Dennoch ist sie vorhanden und es gibt Ähnlichkeiten in den beschriebenen Körpererfahrungen. Die kurze Erzählung von Jochen Schmidt Produktive Arbeit (2002) und der Roman von Daniel Wiechmann Immer bereit! Von einem jungen Pionier, der auszog, das Glück zu suchen (2004) lassen sich der Popliteratur zuordnen. Beide bedienen sich der Ironie als vorherrschendem Stilmittel. Sie schlagen also einen ganz anderen Ton an als Schoch und Mora. Beide Ich-Erzähler, die aus der Retrospektive über ihre Kindheit berichten, kennzeichnet ein innerer Abstand zum Erzählten. Doch auch ihre ironische Darstellung umfasst Körperbeschreibungen, in denen sich Alltagserfahrungen niederschlagen. Es sind bestimmte Motive, die auch hier auftauchen, wie Monotonie und Langeweile, oder aber Schmutz und Verunreinigung als charakteristische Eigenschaften der erzählten Welt, die hauptsächlich sensorisch wahrgenommen werden. Der Protagonist bei Jochen Schmidt ist teilweise ähnlichen Umwelteinflüssen ausgesetzt bzw. nimmt diese wahr, wie sie auch bei Schoch und Mora beschrieben werden, doch geht er anders damit um. In Daniel Wiechmanns Roman tauchen Körperwahrnehmungen immer wieder am Rande auf. Sie haben eher einen latenten Charakter, grundieren jedoch ebenfalls Beschreibungen der erinnerten Kindheitserfahrungen in Form von ,Störgefühlen‘, die die kindliche Weltsicht des Erzählers irritieren. Jochen Schmidt: Paradoxien des Alltags Wie der Titel Produktive Arbeit87 bereits verspricht, handelt die kurze Erzählung vom Schulfach Produktive Arbeit (PA), d. h. der praktischen Einführung der Schü-ler in die sozialistische Arbeitswelt. Ein jugendlicher IchErzähler berichtet über seinen wöchentlichen PA-Unterricht und von seinem Widerwillen, daran teil87 Jochen Schmidt: Produktive Arbeit. In: Roland Koch (Hrsg.): Der wilde Osten. Neueste deutsche Literatur, Köln 2002.
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nehmen zu müssen; dabei wechselt er ähnlich wie Mora gelegentlich in die WirForm und spricht für das Kollektiv der Schüler. Geschildert wird ein Tagesablauf, also ein ganz normaler Schultag, an dem der Ich-Erzähler mit dem Bus in einen Industriebetrieb fährt, in dem offenbar Metallteile verarbeitet werden. In der Darstellung nimmt die Busfahrt breiten Raum ein und wird als genauso unangenehm beschrieben (es wird ihm regelmäßig dabei schlecht) wie der Alltag in der Werkhalle, der daraus besteht, monotone, sinnlose Arbeiten zu verrichten. Der Text endet mit der Heimkehr am Abend in die elterliche Wohnung (die Eltern sind jedoch nicht anwesend) und dem Bedürfnis des Protagonisten, am liebsten nur noch fernzusehen. Zentral ist also das Thema der Unlust und der Wunsch, den Unterricht zu umgehen, um es sich Zuhause gemütlich zu machen. Schmidts Erzähler beschreibt Topoi, die auch in biografischen Interviews mit ehemaligen Schülern zum Werk-Alltag angesprochen werden. Erinnert werden von diesen hauptsächlich Langeweile, Monotonie, Ineffizienz der Arbeit und auch eine Form des Realitäts- oder ‚Kulturschocks‘, wie der Historiker Emmanuel Droit in seiner Studie zum Erziehungsauftrag der Arbeiterklasse in Schulen und Betrieben feststellt, die sich auf Interviews mit ehemaligen Schülern stützt: „Die negative Erfahrung bestand nicht nur darin, den Schmutz und die Monotonie der Arbeit zu erleben, sondern auch die soziale Distanz zu den Arbeitern zu entdecken.“88 Es sind genau diese Aspekte, die auch Jochen Schmidts Erzähler hervorhebt: „Obwohl wir wussten, dass wir in der nächsten Woche alles wieder auseinander schrauben würden, wenn in der Zwischenzeit keine neuen Teile gekommen waren, waren wir noch weit entfernt von der Motivationslosigkeit der richtigen Arbeiter, die ihr Leben lang das gleiche Gewinde in das gleiche Winkelstück bohrten und sich ihre Kräfte dementsprechend einteilten. Wir waren noch voller Ideale und meldeten es dem Lehrmeister, wenn auf dem Hof ein Fass mit alter Bohrmilch durchgerostet war und die giftige weiße Brühe in den Ascheboden sickerte. Er kam dann mit raus, warf einen kurzen Blick auf das Fass, drückte eine Schraube ins Rostloch und ging wieder.“ (36)
Auch auf die soziale Distanz wird angespielt – der Erzähler fühlt sich den Arbeitern überlegen und bewertet die Erfahrung im sozialistischen Betrieb als „Grund, studieren zu wollen.“ (36) Es werden darüber hinaus Geschlechterverhältnisse beschrieben – der Erzähler beobachtet eine latente Übergriffigkeit des Lehrmeisters, der den Mädchen einfach in die Hosentaschen greift, um zu überprüfen, ob sich dort Schraubenzieher befinden.
88 Emmanuel Droit: Die „Arbeiterklasse“ als Erzieher? Die Beziehung zwischen den Schulen und den Betrieben in der DDR (1949–1989). In: Sandrine Kott/Emmanuel Droit (Hrsg.): Die ostdeutsche Gesellschaft. Eine transnationale Perspektive, Berlin 2006, S. 48.
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Obwohl es sich um einen sehr ironischen Text handelt, der von der Beschreibung der sozialistischen Misere immer wieder umstandslos auf die persönlichen Pubertätsdramen des Erzählers zu sprechen kommt und damit ebenso das altersbedingte Desinteresse der Schüler an den politischen Umständen zum Ausdruck bringt, weisen die Alltagswahrnehmungen charakteristische Elemente auf. Es geht um den „Schmutz und die Monotonie der Arbeit“ (Droit), die den atmosphärischen Hintergrund der Erzählung bilden und trotz der Ironisierung die als hervorstechend wahrgenommenen Eigenschaften des erinnerten Alltags darstellen. Schmutz kennzeichnet den Betrieb (es z. B. ist von einer „verrußten Umkleidekabine“ die Rede, 34), der darüber hinaus auch als fahrlässig und die Umwelt gefährdend dargestellt wird. Es sickert ,giftige weiße Brühe‘ in den Boden; an einer anderen Stelle soll der Erzähler Kupferkabel verzinnen und konstatiert lakonisch, er „würde also heute giftige Dämpfe einatmen, (…)“. (35) Es wird auf Verantwortungslosigkeit und Gleichgültigkeit angespielt, ebenso auf (Material)mangel und die Notwendigkeit gewagter Improvisationen (,Schraube ins Rostloch‘). Dabei geht es nicht nur um die Umstände in einem konkreten Betrieb, sondern der Konnex zur gesamtgesellschaftlichen Situation wird vom Erzähler explizit gemacht. Er beschreibt eine Gesellschaft, die ebenso schmutzig und marode ist: „Draußen nieselte es auf die Schrottberge und Kokshaufen, aus denen sie dieses Land gebaut hatten.“ (36) Auch hier ist kontinuierlicher Regen eine Ingredienz für die Darstellung einer resignativen, tristen Atmosphäre. Aus Schmutz und Feuchtigkeit entsteht Schlamm – sowohl morgens als auch abends muss der Erzähler über eine „schlammige Wiese“ zur Bushaltestelle gehen. Die Erzählung vom Werksalltag wird gerahmt durch das Gehen über diese Wiese; beim morgendlichen Sprint zum Bus rutscht der Erzähler regelmäßig aus und fällt „in den Schlamm.“ (38, 34) Bei der Ankunft vor seiner Wohnung wird sein Wohnumfeld mit nur einem Satz charakterisiert: „Der nasse Sand auf dem Spielplatz, die verkokelten Klingelknöpfe, die Mülleimer vor der Wohnungstür.“ (38) Die Gesamtszenerie ist unwirtlich: Feuchtigkeit, Zerstörung und Müll sind die Konstanten seines Alltags. Das Motiv der Verschmutzung, das bereits bei Schoch und Mora auftauchte, ist auch in diesem Text präsent. Verunreinigung, Feuchtigkeit und Schmutz haben bei Schmidt jedoch keine durchdringenden Qualitäten, sondern der desolate Zustand wird ironisiert. Darüber hinaus gibt es in dieser Erzählung einen schutzbietenden Rückzugsraum, der völlig gegensätzliche Qualitäten aufweist – und zwar die elterliche Wohnung. Diese bildet den Gegenpol zu Regenwetter und schmutzigem Betrieb. Die ganze Geschichte beginnt in der Wohnung und endet dort. Der Erzähler phantasiert davon, sie nicht verlassen zu müssen – am liebsten würde er den ganzen Tag fernsehen und Kakao trinken „mit einem unserer Weststrohhalme, die wir immer wieder abwuschen, (…)“ (34) Es gibt hier eine Gegenwelt, die mit Genuss und
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Entspannung assoziiert ist sowie ausdrücklich mit Konsum und Westorientierung (Medien, Genussmittel, Westprodukte). Auch das Wetter zuhause ist anders, es scheint die Sonne durchs Fenster. (33) Hier werden angenehme physische Empfindungen beschrieben. Dieser Kontrast fehlt bei Schoch und Mora, Rückzugsräume oder Gegenwelten dieser Art gibt es dort nicht. Es wird damit seitens des Erzählers bei Schmidt also auch ein anderes Verhältnis zum gesellschaftlichen Umfeld ausgedrückt, nämlich das Bewusstsein um das Vorhandensein verschiedener gesellschaftlicher Sphären und damit auch um die Möglichkeit verschiedener Verhaltensmodi. Die erzählte Welt besteht bei ihm aus verschiedenen gesellschaftlichen Räumen. Die Erzählungen von Mora und Schoch wirken in dieser Hinsicht absoluter, hier gibt es keine Fluchtmöglichkeiten bzw. nur die Flucht in einen subjektiven Innenraum (Schoch). Es wird stärker das Ausgesetztsein der Protagonistinnen in den Blick genommen, wohingegen Schmidts Erzähler eine eigentlich paradoxe gesellschaftliche Situation darstellt, diese als Alltagsnormalität begreift und sie ironisiert. Doch auch Schmidts ironischer Erzähler beschreibt den spätsozialistischen Alltag mittels einer bestimmten Ästhetik und Körpermetaphorik, in der ,Schmutz und Monotonie‘ eine wesentliche Rolle spielen und einen gesellschaftlichen Zustand materieller und moralischer Verwahrlosung abbilden. Während das Zuhause-Sein also mit Angenehmem, mit Kakaogenuss und TV-Berieselung assoziiert ist, wird das öffentliche Leben, also der beschriebene Schulalltag, auf der sensorischen Ebene vor allem mit „Brechreiz“ (33) verknüpft. So während der Busfahrt zum Werk – die Luft im Bus „schmeckt nach Benzin“ (37) und beim Fahren wird dem Erzähler regelmäßig so übel, dass er sich nach Tüten umschaut. Auf der Rückfahrt ist es nicht besser: „Jetzt war mir so schlecht, dass ich nicht mehr stehen konnte.“ oder „Aber wenn ich nicht ausstieg, würde ich gleich auf den verschmierten Boden kotzen.“ (37/38) Das Motiv des Sich-Übergebens als Zuspitzung des Unwohlseins und einen reflexhaften, physischen Widerwillen gegenüber den Umständen gibt es also auch hier. Daniel Wiechmann: Irritierende Wahrnehmungen Der Klappentext von Daniel Wiechmanns 200489 erschienenem Erinnerungstext an DDR-Kindheit steckt bereits einen eindeutigen Rahmen für die Rezeption ab: Es geht im Buch um eine „Auseinandersetzung mit den Erziehungsinstanzen der Republik“. In dem autobiographisch angelegten Roman berichtet ein Ich-Erzähler in 31 teils sehr kurzen Kapiteln über seine Kindheit, angefangen von Erinnerungen 89 Daniel Wiechmann: Immer bereit! Von einem jungen Pionier, der auszog, das Glück zu suchen, München 2004.
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an die Kinderkrippe bis ins Jahr 1989 und seine Wahrnehmung des Mauerfalls aus Sicht eines Teenagers. Den Schreibanlass bildet – 15 Jahre nach der ‚Wende‘ – das Gefühl, zu einem „Geschöpf mutiert“ zu sein, „das im Westen zu Hause ist, dem aber der Osten noch immer tief in den Knochen steckt.“ (9) Es geht also um die Exploration dessen, was der Erzähler eine geraume Zeit nach der Wiedervereinigung an sich selbst als ein Erbe der Sozialisierungserfahrungen durch die ,Erziehungsinstanzen der Republik‘ beobachtet und was offenbar als Erfahrung in seinen Körper, d. h. in seine Knochen gedrungen ist. In der Rückschau rekapituliert er daher seine prägendsten Kindheitserfahrungen und versucht, einen Entwicklungsprozess bis in die Jetztzeit, seine Mutation – was immerhin eine anormale Veränderung auf Zellebene bezeichnet – zu einem anderen Geschöpf daraus abzuleiten. Die einzelnen Kapitel, die alle jeweils mit dem Emblem der Pionierorganisation verziert sind und damit den Rezeptionsrahmen als Erinnerungsbuch an eine sozialistische Kindheit nochmals stärken, bilden eine lose Aneinanderreihung von anekdotisch zugespitzten Erinnerungssequenzen, die alle demselben Erzählmuster folgen. Wiechmanns Roman nutzt noch stärker als Jochen Schmidts Erzählung das Mittel der Ironie. Der Erzähler stellt sich selbst als Person dar, die schon in Kinderkrippe und Kindergarten auf die Widersprüche des Systems stieß, ohne sie jedoch – altersbedingt – wirklich durchschauen zu können. Gleichzeitig beschreibt er sich als Kind, das sich mit den Werten und Normen der Gesellschaft identifiziert und eifrig darum bemüht ist, eine sozialistische Persönlichkeit zu werden. In seinen streberhaften Bemühungen und dem Wörtlich-Nehmen von Erziehungsbotschaften (z. B. der Pioniergebote) stellt sich das Kind jedoch immer wieder selbst ein Bein und gerät – scheinbar absichtslos – in Konflikte mit den Erziehungsinstanzen. Durch diese exponierte Schein-Naivität versucht der Erzähler einen Spagat zwischen der Schilderung eines Alltagsgefühls, das von der kindlich-affirmativen Übernahme geltender Wertvorstellungen geprägt war, und einer ironisch grundierten, weil frühreif erscheinenden Kritik am System, die dem tatsächlichen Wissensvorsprung bzw. der nachträglichen Bewertung aus der Gegenwart des Erzählens entspringt. Die sich hier ergebenden Paradoxien sind das Kernthema des Buches. Die Widersprüche zwischen Ideal und Wirklichkeit im Alltag sind für den Protagonisten jedoch letztlich nicht auflösbar, sondern werden lediglich anhand verschiedener Beispiele immer wieder vorgeführt. Die ,Wende‘ von 1989 wird als Kulminationspunkt erzählt, an dem sich alles ändert. Der Erzähler schildert diesen Moment als Zusammenbruch seines Wertesystems. Beispielsweise beschreibt er als dominierendes Gefühl dieser Zeit seine Verwirrung über den abrupten Wechsel der Gesellschaftsordnung: „Was vorher richtig gewesen war, galt jetzt als falsch.“ (167) Seinen ersten Besuch im Westen stellt er als Realitätsschock dar, denn er verliert sein ‚Normalitätsgefühl‘ und fühlt sich als Ossi angestarrt. Damit einher geht die Wahrnehmung sozialer Unterschie-
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de; erstmals stellt er fest: „Wir waren arm gewesen.“ (165) Doch bleiben auch diese Beschreibungen im Anekdotischen; die Wirkungen auf sein Selbstverständnis werden nicht weiter ausgelotet. Der Text endet sehr versöhnlich – Wiechmanns Pionier findet das Glück letztlich im Kapitalismus. Im Epilog beschreibt er sich als glücklich im neuen Gesellschaftssystem angekommen – jedoch mit einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber Ideologie oder Religion ausgestattet, wie er betont. Die Perspektive auf den Untergang der DDR ist also die der Erleichterung über das Ende eines repressiven Systems. Die Mängel des Systems werden nachträglich moralisch verurteilt, wodurch die Perspektive einseitig wirkt. Die Abgrenzung des Erzählers vom System zeigt sich auch anhand der großen Distanz, die er in verschiedener Hinsicht zur Erfahrung des Aufwachsens in der DDR aufbaut. Einmal durch die Ironie des Erzählers, die ihn schon als Kind über den Dingen stehen lässt, jedoch die stark wertende Sicht eines Erwachsenen verrät. Darüber hinaus kehrt er sich unwiderruflich vom alten System ab, indem er sich zum neuen bekennt – er macht im Epilog „dem Kapitalismus ein stilles Kompliment“ (174). Diese Einstellung wird im Epilog verstärkt durch den plötzlichen Wechsel der Erzählperspektive aus der IchPerspektive in eine allwissende Haltung – eine Ich-Erzählinstanz berichtet nun über ihn, den Jungen Pionier. Der Abstand des Erzählers zum Geschehenen und auch zu ihm, dem Pionier, der er einmal war, wird deutlich. Der Fokus wird auf die Gegenwart gerichtet, wodurch die Vergangenheit als abgeschlossen erscheint. Der Erzähler hat die Vergangenheit offenbar abgehakt bzw. sich erfolgreich neu orientiert. Die Behauptung aus der Einleitung, der ,Osten würde ihm noch tief in den Knochen stecken‘ oder der Rückblick auf sein Leben würde mehr wachrufen „als nur eine verklärte Erinnerung an die gute alte Zeit“ (9), verliert damit an Gewicht und weist den Text als genau ebensolche aus. Trotz der Einseitigkeit des im Text enthaltenen und offiziellen Deutungsmustern entsprechenden Wende-Narrativs sowie seiner literarischen Schwächen zeigen sich in körpermetaphorischen Darstellungen bestimmte Facetten des Alltags bzw. des erinnerten Alltagsgefühls der Kindheit. Anhand körperlicher Reaktionen werden gesellschaftliche Verhältnisse wahrgenommen, die auf einer vorreflexiven Ebene registriert werden und die Stimmungslage des Protagonisten beeinflussen. Wiechmanns Erzähler stellt also immer wieder fest, dass das Gesellschaftssystem, in dem er lebt, unerklärliche Widersprüche aufweist. Er nimmt diese Widersprüche zwar wahr, kann sie aber nicht erklären und bekommt auf Fragen (z. B. an Lehrer) keine befriedigenden Antworten. Für den kindlichen Erzähler bleiben die Zusammenhänge daher undurchschaubar und drücken sich lediglich als ungutes Gefühl aus: „Irgend etwas stimmte hier nicht, aber ich wusste nicht, was es war.“ (27) Gleich im nächsten Satz wird dieser kindliche Reflexionsversuch als latent unangenehme körperliche Empfindung beschrieben: „Vorerst waren diese Gedanken wie
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Mückenstiche. Sie juckten zwar eine Weile, aber dann, ohne dass man hätte sagen können, wann, hörte das Verlangen, sich zu kratzen, auf, und alles war wie zuvor.“ (27) Die durchaus vorhandene kindliche Identifikation mit dem System wird durch irritierende Reize gestört, die Unbehagen auslösen. Derartige Körperwahrnehmungen werden auch in anderen Situationen beschrieben und machen immer wieder auf Widersprüche zwischen kindlicher Wahrnehmung und ideologischen Erklärungsmustern aufmerksam. Dabei gibt es Episoden, die thematisch den Erzählungen von Schoch, Mora oder Schmidt ähneln und daher gut vergleichbar sind, wie z. B. ein Aufenthalt im Pionierferienlager, der PA-Unterricht, eine Fahrt nach Polen oder eine Erfahrung des jungen Protagonisten mit der Realität der Mauer. Im Vergleich zeigt sich, dass die körpermetaphorische Darstellung in bestimmten Situationen ähnlich gelagert ist, in anderen hingegen überwiegt die ironisch distanzierende Sicht. So z. B. bezüglich des Aufenthalts im Pionierferienlager, den Wiechmanns Erzähler als rein positive Erfahrung erinnert und in dem es keine ,störenden‘ Körperwahrnehmungen gibt. In seiner Erinnerung entsteht ein gänzlich anderes Bild des Ferienlagers als bei Terézia Mora, auch wenn die Szenerie ähnlich ist: Die Kinder wohnen in Zelten, die von Wald umgeben sind. Es gibt jedoch keinerlei Wetterbeschreibungen; die Stimmung ist sehr gut, und zwar „prächtig wie immer“ (100). Der Erzähler erinnert die Zeit als durchweg positiv, sie ist durch nichts getrübt und er bezeichnet sie als „pures Glück“ (101). Kernthema der Erinnerung ans Ferienlager ist die kindliche Begeisterung des Jungen für die zahlreichen Spiele und Wettbewerbe, deren latent militärischen Charakter er nicht wahrnimmt. Er hat genauso Freude am Fußball oder Tischtennis wie am „Granatenweitwurf “ oder am Suchen von versteckten Granaten; besonders stolz ist er, als er den Titel des „stärksten Pioniers“ erhält (99, 101). Nur für den Leser wird die Ambivalenz offensichtlich und sie wird durch den Kommentar des Erzählers verstärkt: „Kindersoldaten in der DDR.“ (99) Im Zentrum der Darstellung steht also diese Ambivalenz zwischen einer rundum positiv erinnerten Zeit und der nachträglichen Erkenntnis des ideologischen Erziehungsanspruchs. Hier wird, anders als bei Mora, dem Protagonisten in der erzählten Zeit keine unterschwellige Wahrnehmung der Umstände als in irgendeiner Form problematisch zugeschrieben, sondern es überwiegt die positive Erinnerung, die lediglich durch den (erwachsenen) Kommentar des Erzählers relativiert wird. Im Kapitel Einführung in die sozialistische Produktion berichtet der Erzähler über seine Erinnerungen an den PA-Unterricht in der siebten Klasse, die etwas durchwachsener ausfallen. Dabei konzentriert er sich im Wesentlichen auf drei Punkte: das Desinteresse der regulären Arbeiter (sie spielen Karten), die soziale Distanz (der ansonsten sehr gute Schüler beschreibt einen tiefen Frust über seine Unfähigkeit „Winkeleisen planzufeilen“ (105), das Arbeiten im Betrieb ist für ihn eine „echte Herausforderung“ (104)) sowie das Thema Planerfüllung, um das der
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gesamte Arbeitsalltag kreist. Ähnlich wie bei Schmidt stößt der Erzähler auf den Widerspruch zwischen Ideal (die zu erfüllende Norm) und Realität (die Maschine ist defekt, aber die Arbeiter lassen den Ausschuss einfach verschwinden). Als er den Lehrer damit konfrontiert, dass es deswegen unmöglich ist, die Norm zu erfüllen, erhält er jedoch die Antwort, das sei nicht von Belang, interessiere niemanden und man müsse sich daran gewöhnen. Im Zentrum steht hier also die Schilderung des moralischen Konflikts, wie mit einer Situation umzugehen sei, in der die Norm nur um den Preis der Lüge bzw. der allgemein akzeptierten Vertuschung offensichtlicher Tatsachen (einer defekten Maschine, die offiziell keinen Ausschuss produziert) umzugehen sei. Der Erzähler inszeniert sich als unschuldiges Kind, das unbefangen Missstände bzw. widersprüchliches Verhalten der Vorgesetzten anspricht. Das Kind nimmt hier also ein Problem wahr, benennt es und ist über diesen Schritt „erleichtert“, doch ist es enttäuscht über die Reaktion des Lehrers, der diese Tatsache übergeht und damit leugnet. Dies wird beschrieben als ein NichtWillkommensein der „Wahrheit“ beim Lehrer, woraufhin sich der Erzähler „ganz elend“ fühlt (108) – eine physische Empfindung der Situation, die sich auch noch in anderen Episoden beobachten lässt. Es steht die Wahrheit des Kindes der Doppelbödigkeit des Lehrers gegenüber, was dazu führt, dass der Erzähler weitere Fragen nicht zu fragen wagt. (109) Der Lehrer wird als Person charakterisiert, die sich weigert Verantwortung zu übernehmen, sondern den ,autoritativen Diskurs‘ (Alexei Yurchak)90 bestätigt, also trotz besseren Wissens die Erfüllung der Norm behauptet und damit offensichtliche Missstände legitimiert, was vom Erzähler als moralisch fragwürdig bewertet wird. Auch dies geschieht in einer nachträglich kommentierenden Perspektive, denn der letzte Satz lautet: „Vor langer Zeit war in meinem Lehrer etwas kaputtgegangen. Etwas, das mit Aufrichtigkeit und Stolz zu tun hatte. Und daran mag niemand gerne erinnert werden.“ (109) An dieser Stelle folgt der Text einem Narrativ, nach welchem das System Opfer hervorbringt bzw. Menschen bricht. Es wird ebenso angedeutet, dass sich der Erzähler möglicherweise ebenfalls auf diesem Weg befindet, da er angesichts dieser Erfahrung seinem Lehrer gegenüber keine weiteren Fragen zu stellen wagt. Auch hier geht es also um Ambivalenz – die Ambivalenz zwischen Realität und Ideologie, die im Gegensatz zur Ferienlager-Episode vom kindlichen Protagonisten wahrgenommen und artikuliert wird sowie nachträglich eine eindeutige moralische Einschätzung bekommt. Auch im Vergleich mit Jochen Schmidts PA-Geschichte gibt es eine Parallele, denn anhand dieser Erfahrung beschreiben beide Autoren ein gewisses Bewusstsein ihrer kindlichen Protagonisten über das Auseinanderklaffen eines offi90 Vgl. Alexei Yurchak: Everything Was Forever Until It Was No More: The Last Soviet Generation, Princeton 2005, S. 14 ff.
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ziellen Diskurses und einer privaten Gegenwelt, die bei Schmidt als willkommener Rückzugsraum erlebt wird, wohingegen bei Wiechmann die moralische Verurteilung der Situation im Vordergrund steht. Wiechmann schildert ebenso eine Klassenfahrt nach Polen und die Begegnung seines Protagonisten mit der polnischen Alltagswirklichkeit. Wie bei Mora wird die Polen-Erfahrung als Katastrophe dargestellt und als Begegnung mit einer Realität im ,sozialistischen Bruderland‘, von der er ganz andere, ideologisch verklärte Vorstellungen hatte. Die wichtigsten Themen in dieser Episode sind heftige antideutsche Ressentiments seitens der polnischen Schüler (der Erzähler sieht das erste Mal ein Hakenkreuz außerhalb des Schullehrbuchs), Diebstahl (ein Portemonnaie) und Armut (er nimmt die Leere eines Kaufhauses in Warschau wahr; der Stadtführer isst die Reste von den Tellern der Kinder) bzw. soziale Unterschiede im Vergleich zum Lebensstandard in der DDR (die Schüler verkaufen DDRSchokolade zu Wucherpreisen an die Polen). Versorgungsprobleme in Form mangelhafter Nahrung bekommen einen etwas breiteren Raum, in diesem Zusammenhang geht es auch an die Physis. Das Essen wird als „widerlich“ (138) bezeichnet und die Kinder haben wie bei Mora mit Durchfall zu kämpfen: „Wenn wir nicht verhungern wollten, mussten wir das essen, was er (der Koch, RL) uns vorsetzte. Die Folge war allerdings fürchterlicher Durchfall. Wir waren in einem Teufelskreis gefangen.“ (138) Der Erzähler fasst die Erfahrung prägnant zusammen: „Was war das für eine Reise gewesen? Diebe, Hakenkreuze, Hass, Armut.“ (…) Das alles hatte ich in einem unserer sozialistischen Bruderländer erlebt. Ich war froh, als ich wieder zu Hause war.“ (141) Auch diese Episode endet mit der Erleichterung darüber, abreisen zu können. Die Erfahrung wird als physisch unangenehm erinnert und als Konfrontation mit Ekelgefühlen (widerliches Essen, Durchfall). Ebenso endet sie mit dem Bewusstsein darüber, dass Ideal und Wirklichkeit in der sozialistischen Staatengemeinschaft auseinanderfallen. Anders als bei Mora, deren Hauptfigur behauptet, durch die Polenreise die Mängel des Systems endgültig erkannt zu haben, ist dies bei Wiechmann ,nur‘ eine von vielen Episoden, die ein vages Gefühl des Erzählers für die Doppelbödigkeit des Systems bestärken, jedoch hingenommen werden. Ekel ist dabei oft ein vorherrschendes Gefühl, so z. B. auch bei einem Fahnenappell auf dem Schulhof, bei dem sein Mitschüler Ricardo öffentlich beschämt wird,91 worauf der Erzähler folgendermaßen reagiert: „Nach dem Appell fühlte ich mich so schlecht wie noch nie in meinem Leben. Ich ekelte mich. Vor dem, was die Direktorin mit Ricardo veranstaltet hatte, und vor mir selber. Ich hätte doch allen erzählen müssen, was wirklich vorgefallen war.“ (85) 91 Ricardo hatte den Sohn des vietnamesischen Botschafters, der beim Tischtennisspiel in der Schule die Jungs schikanierte, vor Wut ‚Schlitzauge‘ genannt und wird nun vor der ganzen Schule der Fremdenfeindlichkeit bezichtigt und aus der Pionierorganisation ausgeschlossen.
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Ähnlich wie in Julia Schochs Der Körper des Salamanders gibt es auch in diesem Text die Schilderung einer verstörenden Begegnung des Protagonisten mit der Präsenz der Mauer. Der Erzähler lebt in Ost-Berlin und ist begeisterter Tennisspieler. Ein Auswärtsspiel seines Vereins findet auf einem Tennisplatz in der Nähe der Mauer statt, was bei ihm eine physische Reaktion auslöst: „Als wir die Anlage betraten, stockte mir der Atem. Die Mauer zu West-Berlin verlief direkt entlang den Tennis-Plätzen.“ (130) Beim Spiel schießt der Erzähler vor Aufregung zwei Bälle über die Mauer, womit die Bälle für immer verloren sind. Im Folgenden reflektiert er über das Faszinosum Mauer, das für ihn Alltagsrealität ist. Sie weckt jedoch widersprüchliche Gefühle in ihm, denn die in der Schule vermittelte Sicht auf die Mauer als ein Schutz „gegen die faschistischen Angriffe aus dem Westen“ (134) passt nicht zu den Störgefühlen, die er bei ihrem Anblick empfindet. Die physische Präsenz der Mauer ruft eine Irritation hervor, die sich in körperlichen Wahrnehmungen äußert – dem Erzähler ist bei ihrem Anblick „mulmig zumute“. (133) Dieses Gefühl kann er nicht übergehen, da es ihn ein weiteres Mal auf Widersprüche aufmerksam macht: „Ich dachte darüber nach, warum ich es als so merkwürdig empfunden hatte, auf dem Platz direkt neben der Mauer zu spielen. Das flaue Gefühl in meinem Bauch war der Grund. Als ich die Mauer so nah gesehen hatte, fühlte ich mich nicht beschützt, sondern bedroht.“ (134) Für diese Art Widersprüchlichkeit gibt es jedoch keine Erklärung in der erzählten Welt. Als Schlüsselszene erweist sich ein Besuch seiner Klasse in der Volkskammer, bei dem die Schüler von einer jungen Frau herumgeführt werden. Wieder werden die unbedarft kritischen Fragen des Erzählers nicht adäquat beantwortet, woraufhin dem Erzähler „schlecht und schwindelig zugleich“ (147) wird. Das Störgefühl ist hier so stark, dass es in eine bewusste Wahrnehmung und ein Reflexionsbedürfnis führt: „Mehr und Mehr hatte ich das Gefühl, dass mit unserer Gesellschaft der besseren Menschen etwas nicht stimmte. Ich wußte nur nicht, was.“ (147) Im Kapitel über den Besuch in der Volkskammer schildert der Erzähler gleichzeitig noch eine weitere typische Körperwahrnehmung, und zwar die ‚Starre‘ als Reaktion auf ideologische Belehrung: „Während ich fasziniert den Ausführungen der Frau folgte, um ihr Rätsel zu ergründen, war der Rest der Klasse in die für Junge Pioniere typische Politikstarre verfallen. Ungefähr am dritten uninteressanten Pioniernachmittag hatten wir herausgefunden, wie man sämtliche Lebensfunktionen auf das Wesentliche herunterfährt, um einerseits gerade noch zu überleben und andererseits sowenig Schaden wie möglich an der uns umgebenden Langeweile zu nehmen. In dieser Starre war es uns möglich, zu reden, zu nicken, den Arm für Abstimmungen zu heben oder sogar wie jetzt geordnet in einer Gruppe umherzuwandern. Was man redete, wofür man abstimmte oder wo man sich gerade befand, prallte in dieser Situation jedoch vollkommen an einem ab.“ (145)
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Die hier geschilderte ‚Politikstarre‘ und das ‚Herunterfahren der Lebensfunktionen‘ erinnert durchaus an das Motiv der Erstarrung in Julia Schochs in Der Körper des Salamanders (und auch in Mit der Geschwindigkeit des Sommers). In ihrer Erzählung über die Ruderinnen ist es letztlich sogar ein Prozess der Versteinerung (der Salamander als ein in Stein gehauenes Untier oder der winterstarre Molch im Boot), dem die Erzählerin durch ihre Sabotage-Akte versucht entgegenzuwirken. Während die Erstarrung bei Schoch jedoch eine existentielle Dimension hat, ist sie für Wiechmanns Erzähler ein vorübergehender Reaktionsmodus. Dennoch wird hier eine ähnliche physische Reaktion gegenüber einer ,Erziehungsinstanz der Republik‘ beschrieben. In den beiden Erzählungen von Schmidt und Wiechmann weisen die Beschreibungen physischer Wahrnehmungen und Reaktionen auf widersprüchliche Alltagserfahrungen hin, die jenseits der Reflexionsmöglichkeiten der kindlichen Erzähler liegen. Auch wenn beide Texte sich durch die ironische Haltung der Erzähler deutlich von den beiden zuvor betrachteten abheben und auch weniger komplex erzählt sind, werden ähnliche Wahrnehmungen und physische Zustände mit der Erinnerung an bestimmte Kindheitsepisoden verknüpft, wie Gefühle von Unwohlsein und Ekel oder auch die Wahrnehmung von Schmutz und Verunreinigung als Merkmale bestimmter Situationen des Alltags. Damit entsteht nicht nur ein Bild einer gesellschaftlichen Atmosphäre, es wird auch deutlich, dass die kindlichen Protagonisten durchaus Widersprüche wie die Gleichzeitigkeit verschiedener Diskurse und gesellschaftlicher Sphären sowie entsprechend divergierende Verhaltensmodi der Erwachsenen auf einer vorreflexiven Ebene wahrnehmen wie z. B. durch Störgefühle, Unwohlsein usw., für die erst durch einen ironisch kommentierenden Erzähler im Nachhinein Erklärungen gefunden werden.
1.5 Bohuslav Vaněk-Úvalský: Brambora byla pomeranč mého dětství (2001) (dt. Die Kartoffel war die Orange meiner Kindheit) Bohuslav Vaněk-Úvalský (*1970) ist in der tschechischen Literaturszene eher ein Außenseiter und Exzentriker, der sich selbst als „Batman der Literatur“ bezeichnet.92 Seit den frühen 1990er Jahren veröffentlicht er popliterarische Romane, die er teilweise in seinem eigenen Verlag (Krásné nakladatelství) veröffentlichte, später auch bei anderen Verlagen. Er ist ebenso als Journalist und Grafiker tätig und lebt in Prag. In seinem 2001 erschienenen Roman Brambora byla pomeranč mého dětství 92 Vgl. http://www.czechlit.cz/cz/autor/bohuslav-vanek-uvalsky-cz/
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(Die Kartoffel war die Orange meiner Kindheit)93 beschreibt er eine Kindheit im Prag der 1970er und frühen 1980er Jahre. Der Roman lässt sich den ironischen Texten über Kindheit im Spätsozialismus zuordnen und ist vordergründig auf die humorvoll-distanzierte Beschreibung von Phänomenen des sozialistischen Alltags ausgerichtet. Er ist zudem mit einem Glossar versehen, in dem für den Leser Begriffe aus der realsozialistischen Lebenswelt ironisierend erklärt werden. Das Buchcover bildet eine Collage aus sozialistischen Parolen oder Schlagworten. Ähnlich wie in Daniel Wiechmanns Immer bereit! – auf dessen Cover drei Jungpioniere mit Wimpel abgebildet sind – werden auch in diesem Text dem Leser typische Stationen der sozialistischen Sozialisation in Form kürzerer Episoden vorgeführt, wie z. B. das Pionierleben, der Wehrunterricht, das Improvisieren aufgrund materiellen Mangels, Wohnungsnot, sozialistischer Schlendrian, ,die Russen‘, Umzüge und Demonstrationen oder die Faszination für Westprodukte. Im Zentrum steht ein Junge namens Piolin und es wird sein Leben von der Einschulung bis zu seinem Tod über den Systemwechsel von 1989 hinweg geschildert. Der größte Teil der Erzählung widmet sich jedoch seiner Kindheit und Jugend im spätsozialistischen Alltag. Begebenheiten in der Schule oder in der Familie stehen im Vordergrund. Seinem Leben als Erwachsener ist hingegen wenig Raum gewidmet: Der Leser erfährt lediglich, dass Piolin, wie in kurzen Prolepsen vage angedeutet wird, in den Jahren nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems Präsident des Europäischen Parlaments geworden ist. Das Präsidentenamt Piolins bildet die Schlusspointe des Romans: der Text endet nach einem großen Zeitsprung mit einer Szene am Sterbebett des Erzählers, wobei sich herausstellt, dass die Ich-Erzählstimme zu einer Krankenschwester spricht: „Ich weiß, Schwester, ich hab schon lange geredet, nun bin ich müde (…)“ 94 – der Text erweist sich ganz unvermittelt als mündlicher Monolog, nämlich als Lebensbeichte gegenüber einer Zeugin. Daraufhin verstirbt Piolin und besagte Krankenschwester greift zum Telefon, um den Tod des Präsidenten zu vermelden. In dieser fingierten ProminentenAutobiografie geht es um ein sozialistisch sozialisiertes Kind aus einfachen Verhältnissen, das es nach 1989 bis an die Spitze der Europäischen Union geschafft hat. Gleichzeitig ist Brambora byla pomeranč mého dětství ein ironischer und oft auch slapstickhafter Coming-of-Age-Roman, denn er handelt ebenso von der ersten großen Liebe, die hier den Namen Lilu trägt. Der Plot, also die Präsidentenkarriere Piolins, ist daher auch lesbar als Größenfantasie eines jugendlichen Protagonisten, der bereits als Kind sehr damit beschäftigt ist, die angebetete Lilu durch außergewöhnliche Aktionen zu beeindrucken. 93 Bohuslav Vaněk-Úvalský: Brambora byla pomeranč mého dětství, Praha 2001. 94 „Ja vím, sestřičko, že už jsem mluvil dlouho, už jsem unavený, (…)“ (149)
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Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass die stark ironische Erzählweise zwar den Anschein erweckt, als würden hier auf entlarvende Art und Weise die gesellschaftlichen Verhältnisse der Tschechoslowakei der 1970/80er Jahre aufs Korn genommen. Doch gleichzeitig werden die kritischen Spitzen gegen das System immer wieder relativiert und zurückgenommen, so dass der Leser über die Intentionen der Erzählinstanz unschlüssig bleibt. Es lässt sich schwer urteilen, ob hier kritische Entlarvung oder nostalgische Reminiszenzen – oder absichtlich keines von beiden – den Text bestimmen sollen, da die Relativierungsmechanismen stark hervortreten. Die Autorin Barbora Gregorová kommt in einer Rezension gar zu der negativen Einschätzung, nach dem Lesen des Textes „sind Sie keinen Deut klüger“ („nejste o nic moudřejší“).95 Die Erzählstruktur ist darauf angelegt, Ambivalenzen zu produzieren und Sinn zu verweigern. Der Roman schreibt sich damit in tschechische Erzähltraditionen ein – das Erzählmuster lässt sich als Form der Schwejkiade betrachten und steht damit auch in einer bestimmten literarischen Tradition der autostereotypen tschechischen Haltung gegenüber staatlicher Autorität. Vaněk-Úvalskýs Roman zeichnet sich durch eine komplizierte Erzählkonstruktion aus, bei der die ungewöhnliche Physis der Erzählerfigur Piolin eine entscheidende Rolle spielt. Die Form des Erzählerkörpers steht mit den Ambivalenz produzierenden Erzählstrukturen in Zusammenhang – denn Piolin ist ein Wesen mit zwei Köpfen, die beide eine Stimme haben. Er gleicht einem siamesischen Zwilling, d. h. er ist eigentlich zwei Personen in einem Körper. Gleichzeitig verbildlicht dieser Erzählerkörper eine elementare gesellschaftliche Erfahrung der 1970/80er Jahre. Im Roman wird ein Alltagsleben geschildert, in dem die für die Normalisierungszeit charakteristische Trennlinie zwischen öffentlicher und privater Welt sehr scharf ist und die Menschen Strategien entwickelt haben, sich in einer Welt „zweier im Widerspruch zueinander stehender Normsysteme“ zu bewegen.96 Im Text drückt sich dies durch das leitmotivische Merkmal der Spaltung oder auch der Dopplung aus. Spaltungen und Dopplungen sind das stärkste und immer wiederkehrende Symbol der ‚schizophrenen‘ tschechischen Normalisierungsgesellschaft, in der sich die Zustimmung zum kommunistischen Regime häufig als rein formale Anerkennung erwies, die mit der Entstehung ideologiefreier privater Nischen einherging.97 Auch der kindliche Erzähler nimmt diesen Widerspruch wahr. Er 95 Barbora Gregorová, Rezension zu Bohuslav Vaněk-Úvalský: Brambora byla pomeranč mého dětství vom 9.4.2003, (http://www.iliteratura.cz/Clanek/10857). 96 Helena Srubar: Ambivalenzen des Populären. Pan Tau und Co. zwischen Ost und West, Konstanz 2008, S. 39. 97 Srubar, 2008, S. 39/40; Siehe auch Václav Havel: Versuch, in der Wahrheit zu leben: Von der Macht der Ohnmächtigen, Hamburg 1980.
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somatisert eine gesellschaftliche Verhaltensstrategie, denn seine zweiköpfige Physiognomie verkörpert dieses ‚schizophrene‘ Dasein. Die beiden Köpfe Piolins sind nicht gleichberechtigt – es gibt einen ErzählerKopf, aus dem die Ich-Erzählstimme Piolins zum Leser (bzw. zur Krankenschwester) spricht, und einen Kopf, über den als Piolin in der Er-Form berichtet wird. Mittels dieser körperlichen Spaltung wird ein Wechsel möglich aus der IchPerspektive in eine stark allwissende und kommentierende Form, die jedoch gleichzeitig an das Ich des Erzähler-Körpers gebunden ist. Die ,natürliche‘ Form des autobiografischen Erzählens aus der Ich-Perspektive wird somit bewusst immer wieder durchbrochen und eine gleichzeitige Draufsicht auf das Geschehen geschaffen, die durch ein körperliches Derivat der Ich-Erzählerstimme – einen anderen Kopf als ein ,er‘ – entsteht. Die zwei Stimmen im Körper des Protagonisten rufen Assoziationen zur ,gespaltenen Zunge‘ wach oder weisen zumindest auf eine Erzählinstanz hin, die die Kohärenz der Erzählung bewusst durchbricht und Verwirrung stiftet. Die zwei Köpfe des Piolin erfüllen verschiedene erzählerische Funktionen: Sie ironisieren den Prozess der intensivierten Selbstbetrachtung bzw. auch Selbstmystifizierung, wie er jedem autobiografischen Bericht zugrunde liegt. Indem Piolin nicht nur über sich (,ich‘), sondern auch über sich selbst als ein Anderer (,er‘) berichtet, verleitet er einerseits zur Identifikation mit dem erzählenden Ich und der Perspektive des Erzählers, andererseits erzeugt die gleichzeitig distanzierte Sicht auf sich selbst als ,er‘ ein ironisches Pathos des Ich – denn ,er‘ (nicht ,ich‘) ist die herausragende Persönlichkeit, deren Lebensgeschichte es unbedingt wert ist, erzählt zu werden. Durch eine Figur mit zwei Stimmen lassen sich ebenso kindliche und pubertäre Gefühle der Unzulänglichkeit zum Ausdruck bringen, wie man sie häufig im Zusammenhang mit der Coming-of-Age-Thematik findet – Piolin leidet unter seiner körperlichen Missbildung und wird teilweise gehänselt (z. B. als „Drache“ bezeichnet). Auch im Umgang mit Mädchen wird seine Gespaltenheit zum Problem, da Piolin als ,er‘ oft anders handelt und reagiert als die Ich-Erzählstimme es wünschen würde. Daraus speist sich wiederum der ironische Effekt des Textes, wenn z. B. der Ich-Erzähler seine Unfähigkeit, Liebesgefühle gegenüber Lilu auszudrücken, auf seine hermetische Existenz im zweiten Kopf zurückführt: „Aber ich, der ich mich sofort in Lilu verliebte, hatte weder Mund noch Hände, um ihr zu sagen ‚Hallo, ich bin auch hier! Ich lebe auch!‘, und so schaute ich nur und schaute.“98 Festzuhalten ist an dieser Stelle auch, dass sich der Ich-Erzähler als ein stummer Beobachter dar98 „Ale já, který se do Lilu hned zamiloval, jsem neměl ani ústa ani ruku, abych jí sdělil ‚Haló, jsem tu taky! Taky žiju!‘, a tak jsem se jen díval a díval.“ (17)
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stellt, der unfähig ist, in das eigentliche Geschehen und in Piolins Handlungen einzugreifen, denn in der erzählten Welt ist es Piolin als ,er‘ der spricht und agiert. Damit ist der Punkt angeschnitten, an dem die pubertäre Thematik mit der Beschreibung der sozialistischen Alltagswelt als ein Leben in ,zwei Welten‘ verbunden ist. Der gespaltene Körper Mit Piolin wird ein Kind beschrieben, das sich den äußeren Umständen in der Schule anpassen muss. Anpassung und die Mechanismen der Anpassung werden wiederkehrend thematisiert, wobei die körperliche Spaltung des Erzählers eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit Reaktionen auf den Anpassungsdruck spielt. Die Kinder werden beispielsweise von der Lehrerin aufgefordert, ihre Straßenschuhe ordentlich unter die Bank zu stellen. Dies wird als Form der Enteignung und Homogenisierung beschrieben: „Die Schuhe stellte er schweigend zu den anderen Paaren unter die Bank. Plötzlich hörten sie auf, unsere Schuhe zu sein und wurden zu einer einheitlichen Schuhreihe.“99 Piolin rebelliert zwar gegen die Erziehungsmethoden der Lehrerin. Doch durch die erzählerische Spaltung entsteht der Eindruck, als wäre der Ich-Erzähler gar nicht beteiligt und bliebe – obwohl körperlich ebenso anwesend – passiv im Hintergrund. Piolin als ,er‘ reagiert gewissermaßen anstelle des Erzählers, welcher in seiner Beobachterposition verbleibt, wie folgende Szene verdeutlicht: „,Gut,‘ sagte die Direktorin und nickte. ‚Jetzt wiederhole, was ich dir gesagt habe.‘ Und Piolin holte Luft und antwortete für mich, denn das tat er das ganze Leben: ‚Gut,‘ sagte er, ‚jetzt wiederhole, was ich dir gesagt habe.‘ Er bekam eine Ohrfeige und die Direktorin sprach mit höherer Stimme, denn wer aussehen will, als hätte er alles im Griff, spricht mit höherer Stimme (…).“100
Wie dieser Wortwechsel zwischen Schulleiterin und Piolin zeigt, reagiert der Junge zwar aufmüpfig und macht die pädagogischen Methoden der Lehrerin lächerlich. Davon abgesehen, dass Piolins akkurate Wiederholung des Gesagten an das Schwejksche Wörtlich-Nehmen von Anweisungen erinnert, wodurch sich Autoritäten aus der Fassung bringen lassen, offenbart diese Szene jedoch deutlich einen 99 „Boty mlčky přiřadil k ostatním párům pod lavičku. Najednou přestaly být našimi botami a staly se jednolitou řadou obuvi.“ (15) 100 „‚Dobře,‘ pokývala hlavou ředitelka. ‚Teď mi zopakuj, co jsem ti řekla.‘ A Piolin se nadechl a odpověděl za mně, protože to dělal celý život: ‚Dobře,‘ pravil, ‚teď mi zopakuj, co jsem ti řekla.‘ Takže dostal pohlavek a ředitelka zvýšila hlas, protože když chtěl někdo vypadat, že ovládá situaci, zvyšoval hlas (…).“ (15)
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Widerspruch zwischen äußerem Verhalten und innerem Erleben. Es ist schließlich Piolin als ,er‘, der antwortet und die Ohrfeige bekommt, und nicht der IchErzähler in seinem zweiten Kopf. Diese gespaltene Wahrnehmung betrifft nicht nur die kindliche Hauptfigur, auch das Verhalten der Erwachsenen ist von dieser Ambivalenz gekennzeichnet. Im Zusammenhang mit der hier geschilderten Episode wird das an der Figur von Piolins Stiefvater (Onkel Jéro) deutlich. Er wagt es nicht, die Lehrerin mit seinem Ärger über ihre Erziehungsmethoden zu konfrontieren, sondern begnügt sich mit stiller Rechthaberei: „‚Weißt du, was ich ihr hätte sagen sollen?‘ eröffnete mir mein Onkel draußen auf der Straße: ‚Ich hätte sagen sollen: Jetzt hör‘n sie mal, Genossin, dass wir ihnen unser Kind anvertrauen, heißt nicht, dass sie ihm die Ohren langziehen können! Punkt.‘“101 Dass damit ein bestimmter Verhaltensmodus angesprochen ist, wird durch folgenden Kommentar des Ich-Erzählers verdeutlicht: „In dieser Zeit wusste jeder, was wann und wo zu sagen war, nur sagte man es lieber nicht.“102 Der offizielle Diskurs wird nicht angetastet bzw. nur privat hinterfragt. Spaltungs- bzw. Dopplungsvorgänge tauchen an vielen weiteren Stellen auf. In einer Gute-Nacht-Geschichte mutiert der Held der Geschichte – der gute Räuber Rumcajz, eine bekannte tschechische Variante des Robin Hood – zum ‚bösen‘ Räuber Sakrblajz, „der gern Bier trank und das Gegenteil des guten Rumcajz war.“103 Onkel Jéro erzählt in seiner Version Piolin eine Geschichte vom Mörder Sakrblajz, der schließlich ins Irrenhaus kommt. Er ist nicht nur der negative Gegenpol zu Rumcajz, sondern ebenfalls gespalten: „,(…) Ein normaler Psycho. Wie hieß das noch? Achja, Schizophrenie. Davon hast du keinen Schimmer, also träum was Schönes.‘ Mein Onkel beendete das Märchen, streichelte mich und machte das Licht aus. Ich glaube, er irrte sich. Über Gespaltenheit wusste ich mehr, als mir lieb war.“104 In Onkel Jéros Geschichte setzt sich die „Schizophrenie des sozialen Bewusstseins“105 bis in eine harmlose Gute-Nacht-Geschichte fort. In der pubertären Liebesgeschichte zwischen Piolin und Lilu gibt es das Dopplungs- bzw. Spaltungsmotiv ebenfalls. Beide sind sich einer gewissen Doppelbödigkeit im sozialen Miteinander bewusst, die dem eigenen Schutze dient. So sagt Lilu: 101 „,Víš, co jsem jí měl říct?‘ svěřoval se mi pak strýc venku na ulici: ‚Mel měl říct: ‚Tak hele, soudružko, že jsme vám svěřili dítě, neznamená, že ho budete tahat za hlavu. Mlčte!“ (19) 102 „Každý v té době věděl, co kdy kde měl říct, ale radši to nedělal.“ (19) 103 „který měl rád pivo a byl protipólem pozitivního Rumcajze.“ (53) 104 „,(…) Normální psycho. Jak tomu říkali? Jo, schizofrenie. O tom víš prd, tak hezký sny.‘ Strýc zakončil pohádku, pohladil mě a zhasl. Myslím, že se mýlil. O rozdvojenosti jsem věděl víc, než mi bylo milé.“ (54) 105 Zdeněk Mlynář in: Z. Mlynář u. a.: „Normalisierungsprozesse“ im sowjetisierten Mitteleuropa, Köln 1982, zitiert nach Srubar, 2008, S. 39.
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„‚Weißt du, was ich glaube?‘ sagte Lilu und räumte ihre Sachen zurück in die Handtasche, ‚dass wir gespalten sind. Ein Gesicht verbergen wir und das andere haben wir nur, damit an das erste keiner rankommt.“106 Ganz am Ende des Romans und am Schluss seines Lebensberichtes kommt der zweiköpfige Protagonist nochmals auf diese Formulierung zurück: „Lilu hat mir irgendwann mal gesagt, dass wir alle gespalten sind. Dass wir ein Gesicht verbergen, um uns selbst zu schützen. Ich war diese zweite, verborgene Hälfte. Und das war gar nicht schlecht.“107 Deutlich wird hier ebenfalls, dass die Spaltung nicht unbedingt negativ gesehen wird, sondern eine Versteckfunktion erfüllt, die Vorteile bietet. Das Motiv des Verstecks taucht wiederholt im Text auf, Piolin entwickelt sogar eine sogenannte „Spaltentheorie“ („teorie škvír“, 85), nach welcher die Menschen danach bestrebt sind, im Leben Verstecke „Hohlräume“, „Spalten“ („dutiny“, „škvíry“) zu finden, die Räume der Freiheit darstellen. Gleich auf der ersten Seite des Romans erläutert der Erzähler diese Vorstellung, die er mehrfach im Text wieder aufgreift: „Ich glaube nämlich, die Welt basiert auf einem Angebot verborgener Hohlräume, in denen es sich leben lässt, und der verzweifelten Suche der Menschen, die sie nicht finden können.“108 Hier wird nochmals auf die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre angespielt. Die Suche nach Verstecken oder privaten Fluchtmöglichkeiten, in denen es sich leben lässt, wird als existenzieller Verhaltensmodus beschrieben. Die gesamte Text-Struktur des Romans beruht auf diesen Dopplungs- bzw. Spaltungsverfahren: Der Erzählfluss wird von Beginn an durchbrochen mit kursiv gedruckten, metafiktionalen Einschüben von Zitaten aus zwei später erschienenen Biografien über den Protagonisten, die parallel zum Bericht des Ich-Erzählers die Kindheit des angehenden Präsidenten kommentieren. Diese stammen von einer Autorin mit dem Namen Rigid Pincová. Auch ein drittes und besonders erfolgreiches da skandalöses Buch von einer Olivia Rupertová wird erwähnt: Das grausame Geheimnis des zweiten Kopfes (Kruté tajemství druhé hlavy), doch Olivia Rupertová stellt sich schließlich als Pseudonym der Autorin Rigid Pincová heraus – welche dann im allerletzten Satz des Romans als Lilu enttarnt wird. Es erzählt also nicht nur Piolin eine Geschichte für seine Jugendliebe Lilu, sondern auch Lilu erzählt über Piolin, indem sie drei Bücher schreibt, aus denen der Erzähler wiederum zitiert. Auch wird im Text ein Film über Piolins Leben gedreht – bei der Premiere 106 „,Víš, co si myslím?‘ skládala si Lilu věci zpátky do kabelky, ‚že jsme rozdvojení. Jednu tvář skrýváme pro sebe a tu druhou máme jenom proto, aby se k té prvni nikdo nedostal.“ (110) 107 „Lilu mi kdysi řekla, že jsme všichni rozdvojení. Že jednu tvář skrýváme, abychom uchránili sami sebe. Já jsem byl tou druhou, skrytou polovinou. A nebylo to vůbec špatný.“ (152) 108 „Svět je totiž podle mého založený na nabídce utajených dutin, ve kterých by se dalo žít, a na zmateném pohybu lidí, kteří je nemohou najít.“ (9)
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des Films stirbt dann Piolins Ziehvater Onkel Jéro genau in dem Moment, als dieser selbst als Statist in einer Szene auf der Leinwand auftritt – d. h. als Kopie seiner selbst erscheint. Diese Dopplungseffekte bewirken eine permanente Vervielfachung der Perspektiven, so dass die lineare Erzählung des autobiografisch angelegten Berichts immer wieder durchbrochen wird. Die dabei entstehende Multiperspektivität dient jedoch nicht dazu, ein möglichst facettenreiches Bild der Figur des Piolins entstehen zu lassen, sondern läuft ins Leere. Sie ist als selbstreferentielles Verfahren zu verstehen, das jede gemachte Aussage des Erzählers durch die Präsentation einer anderen Variante des Erzählten oder durch eine überraschende Wendung ad absurdum führt und sie damit relativiert. Piolin wird als psychologische Figur nicht greifbar, sondern es wird mit Kopien oder Doppelungen operiert – wodurch auch die eigentlichen Geschehnisse doppeldeutig bleiben und der kausale Handlungszusammenhang immer wieder durchbrochen wird. Auch der Titel des Romans Die Kartoffel war die Orange meiner Kindheit lässt sich als Kopierverfahren deuten – die Kartoffel als Double einer Orange. Dass es sich dabei offensichtlich um die schlechte Kopie von etwas Begehrenswertem handelt, ist ebenso Ausdruck der gesellschaftlichen Situation, die der Roman darstellt. In diesem Bild kommt der großangelegte Bluff, den der Text auf allen Ebenen beschreibt, bereits zum Tragen. Nicht nur die unglaubwürdige Geschichte und Gestalt des zweiköpfigen Präsidenten stellt einen absurden ‚Auswuchs‘ dar, auch der beschriebene Alltag der 1970/80er Jahre in der Tschechoslowakei wird als ein solcher wahrgenommen. Das Kopieren im Sinne der Imitation wird als gesellschaftskonstituierender Vorgang dargestellt: „Imitation! Das war das Wort! Wir waren alle Imitationen. Wir lebten in einer Nachahmung der Welt. Imitation der Liebe zum Regime. Imitation der Wahrheit über uns selbst. (…) Imitation von Jeans und Imitation von Begeisterung bei den Mai-Paraden.“109 Dargestellt wird eine Gesellschaft, die sich dessen bewusst ist und sich in den Umständen eingerichtet hat. Es dominiert im Text eine Sicht auf den Alltag, in der offenkundige Widersprüche mit Humor und Gleichmut genommen werden. Die textbestimmenden Spaltungs- und Dopplungsmotive versinnbildlichen zwar die alltägliche Ambivalenz zwischen öffentlichem und privatem Normsystem, genauso wie das Motiv der Imitation die kulturelle Orientierung am Westen und den eher missglückten Kopierversuch westlicher Lebensstandards symbolisiert. Doch die vom Erzähler und den weiteren Romanfiguren hervorgebrachte Kritik an den Umständen greift 109 „Imitace! To bylo to slovo! Byli jsme všichni imitace. Žili jsme v napodobenině světa. Imitace lásky k režimu. Imitace pravdy o sobě samých. (…) Imitace džinsů a imitace nadšení v prvomájových průvodech.“ (109/110)
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nicht, da das Leiden an der Situation so stark ironisiert oder relativiert wird, dass Ironie und Bluff als rein ästhetische Mittel in den Vordergrund rücken und Sinnzusammenhänge und festgelegte Positionen dadurch ausgehebelt werden. Der Erzähler inszeniert sein Leben als Posse und Verwechselungsspiel, in dem das Absurde immer dann zur Hilfe kommt, wenn die Frage nach Ursachen oder gesellschaftlichen Entwicklungen im Raum steht. Der stigmatisierte Körper Piolins körperliche Missbildung als physischer Ausdruck einer gesellschaftlichen Ambivalenz wird jedoch in bestimmten Situationen für sein soziales Umfeld zu einem allzu offensichtlichen Problem, das versteckt werden muss. Bei einer offiziellen Veranstaltung in der Schule – der erste tschechoslowakische Kosmonaut kommt zu Besuch in die Klasse – soll Piolin auf Geheiß seiner Lehrerin zuhause bleiben. Er wird wegen seiner beiden Köpfe ausgegrenzt, denn er vermittelt nicht das offiziell erwünschte Bild des Pioniers. Piolin versteckt sich daraufhin in einem Schrank, weil er dennoch dabei sein möchte. Der Schrank wird jedoch vor der Veranstaltung zufällig aus dem Raum getragen und Piolin sitzt letztendlich in einem dunklen Schrank im Keller fest. Durch slapstickhafte Wendungen wie diese springt der erzählerische Fokus immer wieder auf die Ebene nicht steuerbarer, schicksalhafter Ereignisse und es entstehen Situationen, in der höhere Mächte zu walten scheinen, die für jegliche Missstände verantwortlich sind. Aufgrund dieses Erzählmusters lässt sich der Text auch als Schwejkiade betrachten. Den Bezug zu Jaroslav Hašek stellt der Autor auch selbst her – in einer online-Kurzbiographie wird behauptet, Bohulsav Vaněk-Úvalskýs Großvater mit Namen Úvalský wäre mit Hašek befreundet gewesen, weswegen der Autor schließlich den Doppelnamen Vaněk-Úvalský angenommen hätte.110 Auch wenn es sich hierbei vermutlich um reine Selbstmystifizierung handelt, lässt es doch auf das Selbstbild des Autors schließen. Die Figur des Piolin weist zudem Merkmale auf, die für Jaroslav Hašeks Schwejk ebenso charakteristisch sind – bei beiden handelt es sich um Figuren, deren Handlungsmotivation und Verhaltensweisen nicht psychologisch nachvollziehbar sind. Sie handeln akausal und scheinen dem Schicksal ausgeliefert zu sein, wobei sie sich jedoch widrigen Umständen immer wieder mit Leichtigkeit entziehen. Die erzählte Welt bildet jeweils einen realen gesellschaftspolitischen Kontext ab, gegen den die Figuren zu rebellieren scheinen, doch lässt sich ihre Widerständigkeit schwer nachweisen. Über Schwejk heißt es: „Die Figur scheint ohne psychologische Dimension, ohne klare Motive zu handeln, so dass die 110 http://www.czechlit.cz/cz/autor/bohuslav-vanek-uvalsky-cz/.
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Frage nach seiner Intelligenz bzw. Dummheit und seiner politischen und gesellschaftlichen Funktion nicht zu einem klaren und überzeugenden Entweder-Oder führen kann.“111 Aufgrund dieser Ambivalenz und der Tatsache, dass Schwejk „schwierige Situationen auf mehr oder weniger humorvolle Weise (überlebt)“112, avancierte die Figur im Zuge der Rezeption von Hašeks Roman auch in außerliterarischen Diskursen zu einem tschechischen Autostereotyp des passiven Widerstands – Schwejk verkörpert in dieser Wahrnehmung das „spezifisch tschechische Schicksal in Auseinandersetzungen mit überlegenen Gegnern.“113 Züge hiervon lassen sich auch als merkmalhaft für die Piolin-Figur nachweisen, wie eben die Ambivalenz und auch Passivität des Protagonisten, dem für sein Handeln keine Verantwortung zugeschrieben werden kann, da es anderen Logiken (d. h. dem Zufall oder höheren Mächten) folgt. Doch gibt es auch deutliche Unterschiede. Schwejk erscheint als „ein Übermensch in dem populären Sinne, dass er nichts braucht, alles übersteht und sich vor nichts fürchtet; aber er besiegt einen Gegner nicht, ja er benennt nicht einmal Gegner.“114 In Vaněk-Úvalskýs Roman verhält sich dies anders. Sowohl Erzähler als auch Figuren verhalten sich dem System gegenüber wertend, d. h. es wird durchaus ein ‚Gegner‘ konstruiert, unter dem die Romanfiguren leiden, auch wenn dies immer wieder relativiert wird. Dieser Gegner besteht im kommunistischen System. Es werden immer wieder tragische Schicksale angedeutet – um dann durch absurde Wendungen relativiert zu werden, wodurch sich ein harmonisierender Effekt einstellt. Dennoch sind sie vorhanden. Auch über das Ende des Systems gibt es deutliche Wertungen. Beispielsweise werden mehrere Nebenfiguren eingeführt, die nach 1989 alle einen tragisch-absurden Tod sterben, da sie anscheinend mit den neuen Verhältnissen nicht klargekommen oder enttäuscht sind. Ein Beispiel ist der Ingenieur Chlupatý, ein schrulliger Bastler aus dem Viertel, der den ersten Multifunktional-Farbfernseher entwickelt hat, der sich auch zum Kaffee kochen und Wäsche trocknen eignet. Er wird als Visionär dargestellt, der aufgrund seiner Erfindungen bereits vor 1989 das Internet voraussieht. Als Mitte der 1990er Jahre wirklich das Internet entsteht, erhängt sich Chlupatý. Der Schlusssatz über ihn lautet: „Er war der Welt egal, und egal war ihr auch die Sehnsucht des unglücklichen Visionärs, im elektronischen Netz wenigstens ein Gedenk-Banner zu bekommen.“115 111 Kenneth Hanshew: Švejkiaden – Švejks Geschicke in der tschechischen, polnischen und deutschen Literatur, Frankfurt/Main 2009, S. 13. 112 Ebd., S. 198. 113 Ebd., S. 198. 114 Ebd., S. 201. 115 „Svět o ni nestál, tak jako nestál o touhu nešťastného vizionáře mít v elektronické síti umístěný alespoň pamětní banner.“ (29)
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(29) Die Episode erzählt vom Gefühl der Benachteiligung im Zusammenhang mit der früheren gesellschaftlichen Mangelsituation und einem späteren NichtAnerkennen von Leistungen oder auch vertanen Chancen, worauf Chlupatý schließlich mit Selbstmord reagiert. Für die gesamte Generation des Erzählers wird zudem eine gesellschaftliche Benachteiligung behauptet – der Erzähler kommt einmal auf die ‚besonders verlorene Generation der 1970er Jahre‘116 zu sprechen; am Schluss heißt es dann gar „ziemlich kaputte/beschädigte Generation“.117 Hier kommen starke Behauptungen und Wertungen zum Vorschein, die aufgrund der relativierenden Textstruktur aber dennoch kein starkes Gewicht bekommen. Auch Piolins tragikomische Erfolgsgeschichte transportiert Wertungen dieser Art, die sich wiederum an der Eigenart seines Körpers festmachen lassen. Der zweiköpfige Piolin leidet durchaus unter seiner körperlichen Abweichung, die ihn zum Außenseiter macht. In seiner Autofiktion stilisiert der Erzähler diese Tatsache zwar zu einer Besonderheit, die ihn letztendlich bis an die Spitze der Europäischen Union bringt. Doch diese Kompensationsphantasie ist ebenfalls ambivalent, denn auch als Präsident wird Piolins Zweiköpfigkeit wie bereits in seiner Kindheit als Makel stigmatisiert – und indirekt als Folge seiner Diktaturerfahrung betrachtet. Im letzten Kapitel wird eine amerikanische Studentin zitiert, die sich über eine politische Rede Piolins äußert. Auf diese Weise wird eine Außensicht konstruiert, die – wie alles im Text – ein zweideutiges Bild abgibt, das sowohl Glorifizierung als auch Abwertung beinhaltet. Die Studentin sagt: „Mir wurde klar, wie gut es ist, dass unsere amerikanische Präsidentin nur einen einzigen Kopf hat. Damit möchte ich nicht sagen, dass ich etwas gegen behinderte Menschen hätte. Ich glaube sogar, dass ein Behinderter ein besserer Präsident sein kann, als ein NichtBehinderter. Es war nur schockierend, unbegreiflich, unamerikanisch, (…).“118
Die Zweiköpfigkeit des Präsidenten wird zwar als Besonderheit anerkannt, doch bleibt sie befremdlich und erscheint gleichzeitig als osteuropäisch suspekte ,Behinderung‘. Der Körper Piolins als Ausdruck einer Erfahrung gesellschaftlicher Ambivalenz bleibt im Kontext Piolins späterer Karriere zum Präsidenten der EU ein Stigma, das beargwöhnt wird.
116 „(…), že mezi ztracenými generacemi sedmdesátých let byla ta naše nejztracenější.“ / „(…), dass unter den verlorenen Generationen der siebziger Jahre unsere die verlorenste war.“ (40) 117 „dost poničená generace“ (151) 118 „Uvědomila jsem si, jak je dobré, že naše americká prezidentka má jen jednu hlavu. Tím nechci říci, že mám něco proti postiženým lidem. Myslím si dokonce, že postižený může být lepší prezident než nepostižený. Bylo to jen šokující, nepochopitelné, neamerické, (…).“ (149)
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Misslingende Integration Auch wenn man den Entwicklungsprozess der Hauptfigur betrachtet, wird man als Leser in die Irre geführt: In der Selbstdarstellung des Ich-Erzählers wird seine körperliche Situation als handlungsunfähige Stimme im zweiten Kopf zunehmend problematisiert. Er leidet an dem Gefühl, Piolins Handlungen nicht kontrollieren zu können und als eigenständiges Wesen nicht sichtbar zu sein. Im Folgenden wird nun der Prozess einer Ermächtigung erzählt: Ab einem bestimmten Punkt (und zwar bei einer romantischen Begegnung mit Lilu) beginnt der Ich-Erzähler plötzlich, Teile des gemeinsamen Körpers, d. h. zuerst die linke Hand, selbständig zu bewegen – wogegen Piolin sich wehrt und die Hand mit einem Gürtel an den Körper zu binden versucht. In dieser Schlüsselszene mit Lilu, in der der IchErzähler beweisen will, dass ihm seine Hand sehr wohl gehorcht, erfolgt der Durchbruch, denn er beschließt, „dass die unbeherrschbare Hand meine Hand ist“119 und bezeichnet diesen Moment als seine ‚Geburt‘ „So wurde ich also wirklich geboren.“120 Die Liebe zu Lilu ist ausschlaggebend für den erstarkenden Eigenwillen des Ich-Erzählers, sich nicht mehr hinter Piolin verstecken zu müssen. Im weiteren Verlauf entwickelt er eine immer bessere Motorik, bis es ihm irgendwann möglich ist, beide Hände gleichzeitig zu benutzen. Später kann der Ich-Erzähler auch selbst ein Bein bewegen und am Schluss den gesamten Körper (S. 127, 134, 138). Kurz vor seinem Tod verliert Piolin (,er‘ stirbt zuerst) schließlich sogar seine Stimme und ‚übergibt‘ sie dem Ich-Erzähler, indem er sagt: „,Meine Stimme. Nun deine. Rede, schon bald wirst du mir folgen.'“121 Dies erst ermöglicht es dem Erzähler, seine Geschichte der besagten Krankenschwester zu erzählen, bevor er kurz darauf verstirbt – er kann also nur einen sehr kurzen Moment ‚er selbst‘ sein. Der Text endet mit dem Bekenntnis des Erzählers, dass er die Geschichte eigentlich für Lilu erzählt hat, diese aber gewissermaßen ‚wieder verpasst‘ (152) hat – denn schon als Erzähl- und Beobachtungsinstanz hinter Piolin konnte er sich nie wirklich bemerkbar machen – und jetzt, wo er reden kann, erzählt er die Geschichte wiederum einem ‚falschen‘ Gegenüber – einer Krankenschwester. („Wieder bin ich am falschen Ort.“)122 Die Selbstermächtigung des Erzählers führt also nicht zu einem Ende der Spaltung und zu einer Ganzwerdung, sie ist allerdings auch nicht als moralische Entwicklung zu lesen, sondern wird ebenfalls ad absurdum geführt, denn am Ende hat es der Erzähler wieder nur mit einer Kopie des Eigentlichen zu tun – d. h. mit einer Krankenschwester, statt mit Lilu. 119 120 121 122
„že nezvladatelná ruka je mojí rukou“ (97) „Tak jsem se doopravdy narodil.“ (98) „,Můj hlas. Tvůj. Mluv, za chvíli jdeš za mnou.‘“ (150) „Opět jsem na špatném místě.“ (152)
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In Bohuslav Vaněk-Úvalský Roman über Kindheit im Sozialismus erweist sich der gespaltene, zweiköpfige Erzählerkörper als Leitmotiv in der Darstellung des Alltags in der spätsozialistischen ČSSR. Piolins physische Besonderheit verkörpert ein Merkmal der Gesellschaft. Auch dieser kindliche Erzähler somatisiert also eine soziale Erfahrung, auch wenn dies stärker metaphorisch zu verstehen ist und weniger spezifische Sinneswahrnehmungen im Zentrum stehen. Dennoch wird ein Anpassungsprozess an Umweltbedingungen auf der körperlichen Ebene ausgedrückt. Auch wird die Ambivalenz dieser Anpassung thematisiert bzw. kommt in den Ambivalenz produzierenden Erzählstrukturen zum Ausdruck, denn das Leben in der Gleichzeitigkeit zweier gesellschaftlicher Wertesysteme wird nicht als reine Negativerfahrung geschildert, sondern wird in der Erzählhaltung eines fröhlichen Fatalismus nach Schwejkscher Manier dargeboten. Nach 1989 bleibt die körperliche Spaltung der Hauptfigur bestehen und wird zu einer fragwürdigen Besonderheit, die sowohl Bewunderung als auch Ablehnung hervorruft. Die körperliche Gestalt Piolins erweist sich als physischer Ausdruck eines offenbar unlösbaren Konflikts zwischen widersprüchlichen Anforderungen und Einflüssen des Umfelds. Eine Integration der Körperhälften bzw. Normsysteme ist für Piolin scheinbar nicht möglich, er scheitert beim Versuch der Ganzwerdung und stilisiert sich in einem ewigen erzählerischen Versteckspiel zu einem ungreifbaren Imitat seiner selbst.
1.6 Zusammenfassung In der Darstellung der spätsozialistischen Kindheiten in DDR und ČSSR lassen sich die beschriebenen Körperwahrnehmungen der Protagonisten als ein ästhetisches Mittel betrachten, um Erinnerungen an Facetten des Alltags zum Ausdruck zu bringen. Soziale Zusammenhänge und gesellschaftliche Wirkkräfte werden auf der körperlichen Ebene wahrgenommen und körpermetaphorisch dargestellt. Bestimmte Motive tauchen mehrfach auf. So hat sich gezeigt, dass immer wieder Formen der Anpassung thematisiert werden. Bei Schoch geht es um grundsätzliche gesellschaftliche Anpassungsmechanismen, wobei die beschriebenen „Körperpraktiken“ wie das ,blinde Rudern‘ als „Symbolisierung des Sozialen“123 verstanden werden können und eine gesellschaftliche Atmosphäre zum Ausdruck bringen. Verbildlicht wird die wortlose und unsichtbare Übertragung von Verhaltensnormen, wobei das Wasser als Mittel der Übertragung und Durchdringung eine entscheidende Rolle spielt. Die Metamorphosen der Figuren zeigen verschiedene 123 Bourdieu, 1992, S. 207.
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Reaktionsweisen von blinder, d. h. unbewusster Anpassung bei den Ruderinnen oder einer bewussten Anpassung und verinnerlichten Ambivalenz bei der Erzählerin. Um Anpassung an die Umwelt geht es auch bei Bohuslav Vaněk-Úvalský, bei dem sich der Protagonist der ,schizophrenen‘ tschechischen Normalisierungsgesellschaft anpasst. Piolins Körper bildet ein „unablösliches Korrelat“ (Paul Good) dieser Gesellschaft, indem sein Körper zwei Köpfe ausbildet, die zwei parallel existierende Verhaltensnormen darstellen, eine private und eine offizielle. Die Paradoxien der spätsozialistischen Gesellschaft werden in seiner Figur verkörpert und zum Symbol seiner Diktaturerfahrung stilisiert. Die Existenz zweier Normsysteme wird auch bei Jochen Schmidt und Daniel Wiechmann thematisiert. Ihre kindlichen Erzähler nehmen das Vorhandensein verschiedener gesellschaftlicher Sphären wahr. Diese stellen bei Schmidt einen deutlichen Gegensatz dar, den der Erzähler ironisiert. Beide Sphären sind bei Schmidt mit unterschiedlichen physischen Empfindungen verknüpft, d. h. der öffentliche Raum mit Unlust und latenter Abscheu, der private Raum hingegen mit Behaglichkeit. Bei Wiechmann wird immer wieder das Auseinanderfallen von öffentlichem und privatem Diskurs als verwirrende Doppelbödigkeit thematisiert, die der Erzähler als physische Störgefühle beschreibt, für die das Kind entweder keine Erklärung bekommt oder die kaum die Bewusstseinsschwelle überschreiten. Als übergreifendes Motiv in den Texten hat sich ebenso die Darstellung einer unwirtlichen Atmosphäre erwiesen. Die Ästhetisierung der Unwirtlichkeit findet sich besonders bei Terézia Mora und Julia Schoch, aber auch bei Jochen Schmidt ist der öffentliche Raum, d. h. die beschriebene Erziehungseinrichtung, mit bestimmten Merkmalen assoziiert wie Feuchtigkeit (Regen), Verunreinigung, Zerstörung oder Mangel. Diese werden als Wahrnehmungen des Unwohlseins beschrieben, mit denen die Erzähler unterschiedlich umgehen: ambivalente Anpassung bei Schoch, kindlicher Protest bei Mora oder ironische Distanz bei Schmidt. Der Körper wird in diesen Texten als ein sozial ausgerichtetes Organ der Wahrnehmung literarisiert und weniger als Speicherort, in den sich soziale Erfahrungen als ,Dauerspur‘ einprägen, um später durch sensorische Reize oder ,Trigger‘ wieder ins Bewusstsein zu dringen. Vielmehr wird das responsive Eingebundensein des Körpers in soziale Prozesse beschrieben und seine damit zusammenhängenden aktiven Wahrnehmungen. Er stellt einen Ort der Erkenntnis bzw. der erkennenden Wahrnehmung dar und wird damit zu einer Voraussetzung für Reflexion, d. h. auch für kindliche Erkenntnisse über die Beschaffenheit des Systems. Damit betten sich die Texte in einen Diskurs über die Frage danach ein, in wie weit Kinder die Einflüsse des Systems wahrnehmen konnten. Körpererfahrungen sind dabei ein zentrales Mittel der Darstellung dieser Einflüsse sowie auch ihrer Bewertung – die jedoch mehr oder weniger offensichtlich aus der Gegenwart der Erzählinstanz erfolgt.
II. Die Poetik der doppelten Entgrenzung
2.1 Die doppelte Entgrenzung der Wendezeit „Es gab keine Grenzen mehr, nur noch unendliche Freiheit. Was nur sollte man mit dieser Freiheit anfangen? “ (49), fragt sich die Erzählinstanz in Jana Simons autobiografischer Reportage Denn wir sind anders. Die Geschichte des Felix S. aus dem Jahr 2002, in der es um die Erinnerungen der Autorin an die ersten Jahre unmittelbar nach der Wende geht.1 Simon (*1972) erzählt darin die Geschichte ihres Jugendfreundes Felix, der als Teenager in den frühen 1990er Jahren im Wirrwarr dieser ,unendlichen Freiheit‘ in die kriminelle Szene Berlins abrutscht, sich aus dem von Gewalt und Drogen geprägten Milieu nicht mehr befreien kann, verhaftet wird und sich schließlich im Gefängnis erhängt. Beschrieben werden sein Erwachsenwerden in der Wendezeit und seine Orientierungssuche in einer Phase massiven gesellschaftlichen Wandels. Ein ähnliches Thema steht im Zentrum von Clemens Meyers (*1977) preisgekröntem und 2015 von Andreas Dresen verfilmten Roman Als wir träumten (2006).2 Dieser erzählt ebenfalls von einer Gruppe von Jugendlichen und ihrem Werdegang in den Wendejahren. Gewalt, Drogen und ein großstädtisch-subkulturelles Milieu spielen ebenfalls eine wichtige Rolle; auch Meyers Protagonisten verlieren im Rausch der neuen Freiheit den Halt und Scheitern bei dem Versuch, in ihr erwachsenes Leben hineinzufinden. Die Wendezeit wird für diese Jugendlichen als Phase intensiv erlebter, aber auch bedrohlicher Anarchie erzählt: „Alles war verrückt wie ein Albtraum in einer Sommernacht bei 30 Grad“, sagt Meyers Ich-Erzähler in Als wir träumten über die frühen 1990er Jahre. (14) Trotz ihres unterschiedlichen literarischen Zuschnitts (Reportage versus Roman) und Bekanntheitsgrads ist ein Vergleich aufgrund der inhaltlichen Ähnlichkeiten lohnenswert. Die Orientierungslosigkeit von Jugendlichen in der Zeit nach der Wende ist zudem ein Topos, der im Zusammenhang mit der Frage, in wieweit jüngere Generationen von den Wendegeschehnissen geprägt wurden oder vom Glück der Freiheit begünstigte Nachgeborene seien, vielfach diskutiert und auch zum Thema von soziologischen Forschungen wurde. Die unmittelbare Nachwendezeit stellte auf gesellschaftlicher Ebene eine Phase beschleunigter Veränderungen und einer nachhaltigen Erosion von Wertvorstellungen und alltagskultureller Normalität für die Bürger und Bürgerinnen Ost1 2
Jana Simon: Denn wir sind anders. Die Geschichte des Felix S., Berlin 2002. Clemens Meyer: Als wir träumten, Frankfurt/Main 2007.
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deutschlands dar. Der Moment des Mauerfalls und die ersten Jahre nach 1989 wurden häufig als Zeit des Chaos und der Anarchie beschrieben, in der die alten Gesetze nicht mehr galten und die neuen noch nicht griffen. Im Prozess der völligen Umstrukturierung des alten Gesellschaftssystems erschien vieles möglich, was noch wenige Monate zuvor außerhalb jeglicher Vorstellungskraft lag. Die Wendezeit mit ihrem ungeahnten Maß an neuen Freiheiten lässt sich als fragiler gesellschaftlicher Moment des Ordnungsverlustes beschreiben, in dem plötzlich das Potenzial zu tiefgreifender Veränderung spürbar gegenwärtig war. Verstanden als eine „strukturelle Zäsur (…), die den Kollaps des Kommunismus, das Ende des Kalten Krieges, die deutsche Vereinigung und das Zusammenwachsen Europas markiert“3, lassen sich die Umwälzungen im Zuge des Jahres 1989 im anthropologischen Sinne auch als ein liminaler Übergang von einer alten zu einer neuen sozialen Ordnung betrachten, wie sie der Ethnologe Victor Turner für gesellschaftliche Transformationsphasen in kleinen Stammesgesellschaften untersucht und beschrieben hat.4 Liminale Übergänge sind dieser Auffassung nach integrativer Teil jeder Sozialstruktur und definieren sich als eine temporäre Passage der Grenzauflösung und Umkehr aller geltenden Gesetze. Sie stellen einen transformativen Moment des Dazwischen dar: einen transitorischen Freiraum mit ganz eigener Logik. Es geht dabei um eine zeitlich begrenzte Phase, nach der eine Rückkehr zur Ordnung bzw. die Etablierung einer neuen Ordnung erfolgt. Auch die Phase der Adoleszenz lässt sich als eine solche Phase des liminalen Übergangs betrachten. Der Adoleszent befindet sich in einem Zwischenstadium zwischen Kindheit und Erwachsensein und ist auf der Suche nach dem eigenen Platz in der Gesellschaft: eine transitorische Phase voller Unsicherheit, in der noch alles möglich scheint, bevor die soziale Position gefunden, angenommen oder auch abgelehnt wird. Die Begrenzungen der Kindheit gelten nun nicht mehr, doch die neuen Grenzen sind noch nicht klar abgesteckt. Texte wie die von Clemens Meyer und Jana Simon, die den biografischen Einschnitt der Adoleszenz vor dem Hintergrund der Wende thematisieren, beschreiben gleichsam eine Phase doppelter Liminalität, in der sich die sozialen Bezugssysteme für die Protagonisten sowohl auf der individuellen wie auch auf der gesellschaftlichen Ebene grundlegend verändern und damit offenbar auch eine doppelte Herausforderung darstellen. Die Adoleszenz, die in der Regel mit Krisen, Rebellion, Ablösung von den Eltern und der Suche nach der eigenen Identität verknüpft ist, vollzieht sich in diesem Fall parallel zu einem gesamtgesellschaftlichen Prozess der Auflösung der bekannten Ordnung und Neudefinition sozialer Positionen, in 3 4
Konrad H. Jarausch: Der Umbruch 1989/90. In: Martin Sabrow: Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 529. Vgl. Victor Turner: Das Ritual: Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt/Main 1989.
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dem die ostdeutschen Eltern der Adoleszenten gewissermaßen mit ähnlich herausfordernden Identitätskrisen konfrontiert sind. Für diese Generation Jugendlicher, die in der Wendezeit erwachsen wurde, hat der Soziologe Bernd Lindner den Begriff der „Generation der Unberatenen“ geprägt. Lindners Studie bezieht diese Bezeichnung auf Menschen, die nach 1975 in der DDR geboren wurden. In der entscheidenden Lebensphase ihrer frühen Jugend seien sie ohne ausreichende Hilfestellung durch die Elterngeneration gewesen, da diese zu sehr von eigenen Lebenskrisen durch den Systemwechsel beansprucht gewesen sei.5 Darin bildet sich im Prinzip ebenfalls die hier verfolgte These einer doppelten Liminalität ab: Die Elterngeneration macht selbst einen Übergang durch, durch den sich für viele die sozialen Statuspositionen ändern, und fällt daher als feste Orientierungsgröße für die Adoleszenten aus. Seine auf verschiedene soziologische Studien und Umfragen gestützte Argumentation untermauert Lindner ausdrücklich mit Zitaten aus Texten von Autoren dieser von ihm postulierten Generation wie Jana Hensel, Julia Schoch oder Jakob Hein, die sich „in den letzten Jahren zunehmend mit (ersten) literarischen Verarbeitungen ihres unbehausten Wendeerlebens zu Wort melden“6 würden – was zeigt, wie Literatur als Medium gesellschaftlicher Selbstreflexion in außerliterarische Diskurse zurückwirkt und diese beeinflusst. Eine genauere Analyse von literarischen Publikationen dieser Autoren, die mit dem Label des Wende-Generationentexts versehen sind, ist daher aufschlussreich um zu verstehen, inwieweit durch literarische Texte diese Vorstellungen mitgetragen werden. Wird hier tatsächlich ein ,unbehaustes Wendeerleben‘ vermittelt und durch welche narrativen und ästhetischen Strategien? Die beiden Texte von Clemens Meyer und Jana Simon, die in diesem Kapitel auf ihre Wende- und Adoleszenzdarstellungen hin vergleichend analysiert werden sollen, gehören in diese Kategorie von Texten. Sowohl Meyers Als wir träumten als auch Simons Denn wir sind anders wurden als Texte über Jugend in der WendeZeit mit generationellem Anspruch vermarktet und rezipiert. Im Klappentext zu Clemens Meyer ist die Rede vom „Monument einer Jugend“ und dem Aufwachsen im „Leipzig der Nachwendejahre“. Die Jury zur Vergabe des Clemens Brentano Förderpreises der Stadt Heidelberg im Jahr 2007 an Clemens Meyer lobt seine „hochauthentische, stilistisch brillante und unmittelbare Schilderung einer verlorenen Jugend im Leipzig der Wendezeit“.7 Das Buch von Jana Simon wird als 5
6 7
Vgl. Bernd Lindner: Die Generation der Unberatenen. Zur Generationenfolge in der DDR und ihren strukturellen Konsequenzen für die Nachwendezeit. In: Annegret Schüle/ Thomas Ahbe/Rainer Gries (Hrsg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur, Leipzig 2006. Ebd., S. 103. Clemens-Brentano Preis an Clemens Meyer im Jahr 2007, Bekanntgabe auf der Online-
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„Geschichte (…) der Generation der Wendekinder“ beworben und eine SPIEGELRezension von 2002 sieht hier das „Lebensgefühl einer in Ostdeutschland aufgewachsenen jungen Generation“ beschrieben.8 Wende und Jugend werden somit in einen narrativen Zusammenhang gebracht und ein spezielles Lebensgefühl einer Generation sowie die Verlorenheit der Jugend in der Wendezeit behauptet. Was ist mit diesem Lebensgefühl und der Verlorenheit gemeint bzw. wie wird dies narrativ und ästhetisch vermittelt? Zusammenhänge zwischen Jugend und Wendeerfahrung wurden bisher hauptsächlich in der Soziologie und weniger in literarischen Darstellungen untersucht. Dabei gibt es über Lindners Kategorisierung hinaus unterschiedliche Auffassungen darüber, welche Altersgruppe mit ,Jugend‘ überhaupt gemeint ist. Claus Leggewie beschreibt in „Die 89er. Portrait einer Generation“ die ab Mitte bis Ende der 1970er Jahre Geborenen als besonders geprägt durch den Mauerfall und seine Folgen und prognostiziert für diese Altersgruppe das Entstehen einer neuen politischen Generation aufgrund der spezifischen Einflüsse der Wende: „(…) Schüleraufsätze aus dieser Zeit bezeugen die Tiefe und Tragweite, auch die Ambivalenz dieser Lebenserfahrung, die sich in unterschiedlicher Weise festsetzt, jedenfalls ein erhöhtes politisches Interesse und politische Aufmerksamkeit hinterlassen hat.“9 Tanja Bürgel stellt anhand biografischer Interviews für die etwas später, und zwar um 1980 in der DDR Geborenen fest, diese würden infolge der frühzeitig gemachten Erfahrung des Zusammenbruchs einer Welt ein hohes Maß an Skepsis und Distanz zur Gesellschaft aufweisen: „Die Zeit der Nachwende-Krise, so scheint es, wurde zum Prägungsereignis dieser ostdeutschen Altersgruppe. In einer Gefühls-Melange aus Verunsicherung und Genuß erinnern sie sich an eine, wie sie es nennen, ,anarchistische Phase‘, die die Geschichte ihrer späten Kindheit vergönnte, ihnen aber den frühen Verlust sozialer und kultureller Verwurzelung einbrachte.“10 In den wenigen literaturwissenschaftlichen Beiträgen, die sich mit dieser Thematik befassen und Wendedarstellungen von AutorInnen dieser Altersgruppe untersuchen, wird ebenfalls häufig Distanz konstatiert. Volker Wehdeking, der jedoch nur einen Seitenblick auf diese Generation wirft, wertet die Distanz als ,Indiz‘ für eine neue ,Unbeschwertheit‘ oder zumindest politische Losgelöstheit von der DDR-Vergangenheit, die bei diesen AutorInnen zu bemerken sei: „Für den Mentalitätswandel im ersten Jahrzehnt nach 2000 sind solche Autobiografien wie Jana Hensels Zonenkinder (2002, von ihr abwechselnd als ,Bericht‘, ,Essay‘ oder ,Roman‘ bePräsenz der Stadt Heidelberg, (http://www.heidelberg.de/hd,Lde/217735.html). 8 Klappentext sowie Eva Maria Schnurr: Farbiger Hooligan. In: Der Spiegel 18/ 29.04.2002. 9 Claus Leggewie: Die 89er. Portrait einer Generation, Hamburg 1995, S. 28. 10 Tanja Bürgel: Mauerfall-Kinder. Wie orientieren sich junge Ostdeutsche 15 Jahre nach der Wende? In: Berliner Debatte Initial 15, 2004, 4, S. 23.
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zeichnet), Jakob Heins Mein erstes T-Shirt oder Clemens Meyers Als wir träumten (2006), bei denen die Auflösung der DDR in ihrer rückblickenden Schilderung in die Jahre der Adoleszenz fielen, ein Indiz für den nunmehr unbeschwerten Umgang mit dem SED-Erbe. Bei allen drei Autoren wird nun deutliche Distanz zur eine Dekade zurückliegenden ,Ostalgie‘Welle thematisiert, wobei Hein eher dem Pop-Roman Einflüsse abgewinnt, während Meyer die nach dem Mauerfall einsetzende Ziellosigkeit und sich in destruktiver Gewalt und Drogen auslebende Leere im Lebensgefühl einer Jugendgang jenseits politischer Konnotate beschreibt.“11
Eine andere Perspektive nimmt Katarzyna Norkowska ein. Sie deutet die Distanz eher als Form der indirekten Bezugnahme. In ihrem Artikel zum „Einfluß der ,Wende‘ auf die Identitätsbildung junger ostdeutscher AutorInnen“12 befasst sie sich mit der Verarbeitung der Auflösung der DDR durch Autoren dieser Generation und betrachtet dabei ausdrücklich die Darstellung der Gleichzeitigkeit von politischem Umbruch und persönlichem Umbruch.13 Sie stellt in Anlehnung an Bernd Lindners14 Thesen zu Generationenfolge in der DDR fest, dass sich anhand der literarischen Verarbeitung von Kindheitserinnerungen und Wende-Erfahrungen jüngerer Autoren generationelle Trennlinien innerhalb dieser Gruppe auffinden lassen. Stärkere Distanz zum DDR-Erbe und zur DDR-Identität findet sie bei etwas älteren AutorInnen (ihre Beispiele: Claudia Rusch, Jakob Hein), die sich nach Lindner der „distanzierten Generation“ zurechnen ließen, welche – geboren ungefähr zwischen 1961 und 1975 – nicht mehr wirklich mit dem DDRSystem identifiziert war und sich stärker Richtung Westen orientierte. Jüngere Autoren (ihr Beispiel: Jana Hensel) hingegen würden andere Themen in den Mittelpunkt rücken wie Anpassung, Orientierungslosigkeit oder Identitätssuche, wo11 Volker Wehdeking: Die DDR in der Literatur nach der Friedlichen Revolution. In: HansJoachim Veen (Hrsg.): Das Bild der DDR in Literatur, Film und Internet. 25 Jahre Erinnerung und Deutung, Köln 2015, S. 50. 12 Katarzyna Norkowska: Adoleszenz im Zeichen eines politischen Umbruchs – Der Einfluß der ,Wende‘ auf die Identitätsbildung junger ostdeutscher AutorInnen. In: Carsten Gansel (Hrsg.): Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung. Bilder von Adoleszenz in der deutschsprachigen Literatur, Heidelberg 2011, S. 459–482. 13 „Eine besondere Dimension gewinnt die ,Wende‘ für eine Bevölkerungsgruppe, die in der Zeit des politischen Umbruchs eine identitätsprägende Entwicklungsphase – ihren eigenen ,Lebensumbruch‘ – erlebt. Das Ende der Kindheit und der Übergang zum Erwachsenenalter, was mit dem Begriff Adoleszenz bezeichnet wird, ist eine stürmische Periode, die mit einer Vielzahl physiologischer wie soziologischer Prozesse verbunden ist und die Identitätsfindung maßgeblich bestimmt.“, Ebd. S. 460. 14 Vgl. Bernd Lindner: Die Generation der Unberatenen. Zur Generationenfolge in der DDR und ihren strukturellen Konsequenzen für die Nachwendezeit. In: Annegret Schüle/ Thomas Ahbe/Rainer Gries (Hrsg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur, Leipzig 2006.
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rin sie eine Zugehörigkeit zur „unberatenen Generation“ sieht. Beide würden sich jedoch in ihrem Schreiben auf die DDR-Erfahrung als identitären Fixpunkt beziehen, indem sie ihr Verhältnis zur Vergangenheit thematisieren – was wiederum gegen die von Wehdeking festgestellte neue Unbeschwertheit spricht. Svetlana Vassileva-Karagyozova untersucht eine ähnliche Fragestellung zum Zusammenhang von soziokulturellem Umbruch und individueller Entwicklung für die polnische Literatur. Die Überschneidung von Wende und Adoleszenz steht im Mittelpunkt ihres Erkenntnisinteresses: „The overlap of the political cataclysm with an equally profound transformation in these young people's lives – their transition from adolescence to adulthood – is what makes this generation an appealing and worthwhile subject of scholarly interest.“15 Mit ,Generation‘ ist hier wiederum eine etwas anders definierte Alterskohorte gemeint; bei ihr geht es um die zwischen 1960 und 1975 geborenen AutorInnen. Nach der Untersuchung einer umfangreichen Textauswahl kommt sie zu dem Schluss, dass sich regelmäßig wiederkehrende Themen in den Adoleszenzbeschreibungen dieser Autorengeneration finden lassen: „In novel after novel, the young protagonist emerge from their quest for self-identity fragmented and incomplete, uncertain about the purpose of their existence, and unable to put their lives together.“16 Der Adoleszenzprozess scheint gestört, denn es geht vorrangig um Themen wie das Scheitern, Eskapismus, Leben an den Rändern der Gesellschaft und dysfunktionale Familienbeziehungen, die sich immer wieder ausmachen lassen und die nicht nur als Zeichen postmoderner Fragmentierung zu deuten seien, sondern in strukturellem Zusammenhang mit der Umbruchserfahrung stünden.17 Es wird deutlich, dass die Erfahrung des Kollapses des Sozialismus in der Lebensphase der Adoleszenz nicht nur in der Soziologie auf Interesse stößt, sondern auch als literarisches Thema in Texten jüngerer Autorengenerationen vielfach präsent ist und daher Aufschlüsse geben kann, welche Bedeutung dieser Phase der Gleichzeitigkeit von Adoleszenz und Wende für die biografische Entwicklung der Protagonisten zugeschrieben wird. Gerade die Zeit der frühen 1990er Jahre wird in vielen Darstellungen als von prägender Bedeutung hervorgehoben, vielleicht mehr als die Kindheit und frühe Jugend im kommunistischen System. In den Texten von Clemens Meyer und Jana Simon ist dies zumindest der Fall. Bei beiden sind Schilderungen von intensiven Entgrenzungserfahrungen, hauptsächlich durch Gewalt und Drogen, ein besonders auffälliges Merkmal. Es wird daher nach der narrativen und ästhetischen Funktion der Entgrenzungserfahrungen zu fragen 15 Svetlana Vassileva-Karagyozova: Coming of Age under Martial Law. The Initiation Novels of the Last Communist Generation, Rochester 2015, S. 6/7. 16 Ebd., S. 44. 17 Ebd., S. 45.
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sein. Wie wird diese doppelte Liminalität erfahren bzw. im Nachhinein durch die Darstellung der Erzählinstanz gedeutet?
2.2 Wendeliteratur als Literatur der Entgrenzung In literaturwissenschaftlichen Arbeiten zur Literatur aus und über die Wendezeit ist Entgrenzung ein zentraler Begriff. Die Konjunktur des Begriffs beginnt bereits kurz nach 1989 – im politischen Kontext der frühen 1990er Jahre erscheinen zahlreiche Publikationen, die sich im weiteren Sinne dem Thema ‚Grenze‘ widmen. Dem Gebot der Stunde folgend, reflektieren sie die politischen Veränderungen und neuen Grenzziehungen im Zuge des Mauerfalls. Publikationen, die in dieser Zeit erscheinen, tragen Titel wie „Grenze und Entgrenzung“ (Germanica 7/1990)18, „Literatur der Grenze – Theorie der Grenze“ von Richard Faber und Barbara Naumann (1995)19 oder „Über Grenzen“ von Frauke Meyer-Gosau und Wolfgang Emmerich (1995).20 Auch in bekannten Romanen aus der Mitte der 1990er Jahre steht oftmals der einschneidende historische Moment der Grenzöffnung im Zentrum: Thomas Brussigs Buch Helden wie wir (1995), das fulminant mit der grotesken Grenzöffnung durch den Protagonisten Klaus Uhlzscht endet, oder Thomas Hettches Nox (1995), das die rauschhafte Nacht des Mauerfalls in Berlin als Sado-Maso-Groteske inszeniert, bringen die weitreichende Symbolkraft dieser Nacht wohl am besten zum Ausdruck. Die erste Euphorie der deutschen Entgrenzung ließ jedoch bekanntermaßen schnell nach, es folgte der sprichwörtlich gewordene ‚Einheitskater‘. Auf der gesellschaftlichen Ebene rücken in den Jahren nach der Wiedervereinigung die Schwierigkeiten des Zusammenwachsens von Ost und West in den Mittelpunkt der Debatten. Nun ist die Rede von den „Grenzen der Entgrenzung“21, wie der Titel des 2001 von Martin Sabrow herausgegebenen Jahresbandes des Helmstedter Colloquiums lautet, in welchem auf die „Passiva und fortbestehenden Defizite der Vereinigungsbilanz“22 hingewiesen 18 Grenze und Entgrenzung, Germanica 7/1990, Université Charles de Gaulle, Lille III. Der Band ist das Ergebnis einer Tagung, die kurz vor dem Mauerfall 1989 stattfand und das Thema offenbar antizipiert hat. 19 Richard Faber/Barbara Naumann (Hrsg.): Literatur der Grenze – Theorie der Grenze, Würzburg 1995. 20 Frauke Meyer-Gosau/Wolfgang Emmerich (Hrsg.): Über Grenzen, Jahrbuch für Literatur und Politik in Deutschland 2, Göttingen 1995. 21 Martin Sabrow (Hrsg.): Grenzen der Entgrenzung. Zehn Jahre Deutsche Einheit. (Helmstedter Colloquien, Heft 3) Leipzig 2001. 22 Ebd., S. 10.
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wird, die im einleitenden Beitrag des Herausgebers dementsprechend breiteren Raum als die „unbezweifelbaren Erfolge“23 einnehmen. Während in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Folgen von Mauerfall und Wiedervereinigung das befreiende Moment der Entgrenzung und die Unfassbarkeit des historischen Ereignisses längst an Glanz eingebüßt haben, bleibt die ,Entgrenzung‘ in der literaturwissenschaftlichen Forschung weiterhin ein ergiebiges Thema. Die Popularität des Begriffs steigt um die Jahrtausendwende noch einmal an. Nicht nur Elke Brüns‘ prominente Studie über die Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Gesellschaft nach 1989 stellt ihn ins Zentrum: „Nach dem Mauerfall. Eine Literaturgeschichte der Entgrenzung“ (2006), auch zahlreiche weitere Publikationen befassen sich damit.24 Der Blick öffnet sich jedoch zunehmend in Richtung eines breiteren Verständnisses von Entgrenzung. Die deutsch-deutsche Entgrenzung dient häufig eher als Schlüsselereignis für den Einstieg ins Thema, um dann ,Grenzfragen‘ auch aus einer stärker kulturphilosophischen oder ästhetisch-poetologischen Perspektive zu betrachten. Die durch den Mauerfall ausgelöste Begriffskonjunktur einer „Literatur der Grenze“25 hat somit 23 Ebd., S. 10. 24 Um die Jahrtausendwende erschienen weiterhin: Suzanne Kirkbright: Border and Border Experience. Investigations into the philosophical and literary understanding of a German motif, Frankfurt/Main 1997; Claudia Benthien/Irmela Marei Krüger-Fürhoff (Hrsg.): Über Grenzen. Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik, Stuttgart 1999; Ina Paul-Horn (Hrsg.): Entgrenzung und Beschleunigung. Widersprüche und Fragen im Prozeß der Modernisierung, Wien 1999; Dieter Lamping: Über Grenzen. Eine literarische Topographie, Göttingen 2001; „Und gehen auch Grenzen noch durch jedes Wort“. Grenzgänge und Globalisierung in der Germanistik. Beiträge der Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik in Ljubljana 2000, Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik, Beiheft 4, Wien 2001; Rüdiger Görner: Grenzen, Schwellen, Übergänge. Zur Poetik des Transitorischen, Göttingen 2001; Dorothea Lauterbach/Uwe Spörl/Uli Wunderlich (Hrsg.): Grenzsituationen. Wahrnehmung, Bedeutung und Gestaltung in der neueren Literatur, Göttingen 2002; Edgar Platen/Martin Todtenhaupt (Hrsg.): Grenzen, Grenzüberschreitungen, Grenzauflösungen. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur, München 2004; Ute Dettmar/Mareile Oetken (Hrsg.): Grenzenlos. Mauerfall und Wende in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien, Heidelberg 2010. 25 Vgl. Dieter Lamping: Über Grenzen – Eine literarische Topographie, Göttingen 2001. Auch Lamping eröffnet sein Vorwort mit der einschneidenden Bedeutung des Mauerfalls: „Als 1989 am 9. November, diesem ‚deutschen Schicksalsdatum‘, das Brandenburger Tor und damit die deutsch-deutsche Grenze geöffnet wurde, waren auch die meisten Schriftsteller sprachlos. (…) Der Fall der Mauer ist die letzte der vielen wechselhaften und dramatischen Erfahrungen, die das deutsche Volk im 20. Jahrhundert mit Grenzen gemacht hat. Sie haben ihren Reflex in zahlreichen literarischen Texten erhalten, die ein eigenes Genre bilden: die Literatur der Grenze.“ (S. 8)
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breit gefächerte Forschungen zum Thema literarischer Grenzen und Entgrenzungen mit sich gebracht, die kurz umrissen werden soll. Der Begriff der Grenze ist offensichtlich auf ganz unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche anwendbar: „Grenzen können topographisch, politisch, soziologisch, kulturell oder sprachlich bedingt sein, sie können zwischen Wirklichkeit und Phantasie, Bild und Abbild, Wahnvorstellung und stringentem Denken liegen.“26 In literaturwissenschaftlichen Forschungen zu Grenze und Entgrenzung geht es dennoch häufig um die Thematisierung politischer bzw. territorialer Grenzen, d. h. um den literarischen Umgang mit den Grenzen zwischen den Kulturen, Regionen und Sprachen. Gerade für die europäischen Literaturen des 20. Jahrhunderts ist dies ein wichtiges Thema, das vielfach aufgegriffen wurde und bedeutende Werke hervorgebracht hat. Konflikthafte Grenzregionen, Grenzverschiebungen im Zuge der Neugründung von Staaten, die Unüberwindbarkeit oder auch die Durchlässigkeit von Grenzen sind Themen einer solchen Grenzliteratur.27 Die Auseinandersetzung mit Grenzbereichen bezieht sich auch auf existenzielle Dimensionen des Daseins.28 In dieser Betrachtungsweise geht es um die Grenzerfahrungen der menschlichen Existenz bzw. darum, wie sie in literarischen Texten ausgelotet werden. Dies umfasst beispielsweise die Grenze zwischen Leben und Tod oder Sinn und Wahnsinn. Im Mittelpunkt steht daher häufig die Beschäftigung mit Grenzgängern und Außenseiterfiguren, welche die jeweiligen Übergänge oder Grenzräume erkunden; zentral ist also die Erforschung der Grenzen des ,Normalen‘ in jeglicher Hinsicht, verbunden mit der Frage nach den Bedingungen der Konstruktion gesellschaftlicher Normen. Ebenso wird in einem philosophischen aber auch begriffsgeschichtlichen Sinne gefragt, was denn eine Grenze überhaupt ausmacht, wie z. B. in Norbert Wokarts häufiger zu diesem Thema zitiertem Artikel über die „Differenzierungen im Begriff ‚Grenze‘: Zur Vielfalt eines scheinbar einfachen Begriffes“.29 Grenze und Entgrenzung in der Literatur werden darüber hinaus verstärkt im Zusammenhang mit den Erscheinungen der Moderne und Postmoderne diskutiert, 26 Grenze und Entgrenzung, Germanica 7/1990, Université Charles de Gaulle, Lille III., Einleitung S. 9. 27 Vgl. z. B. Anton Schwob (Hrsg.): „Und gehen auch Grenzen noch durch jedes Wort“, Grenzgänge und Globalisierung in der Germanistik, Beträge der Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik in Ljubljana 2000, Wien 2001; MeyerGosau/Emmerich, 1995; Lamping, 2001. 28 Vgl. Dorothea Lauterbach/Uwe Spörl/Uli Wunderlich: Grenzsituationen. Wahrnehmung, Bedeutung und Gestaltung in der neueren Literatur, Göttingen 2002; Rüdiger Görner: Grenzen, Schwellen, Übergänge. Zur Poetik des Transitorischen, Göttingen 2001. 29 Norbert Wokart in: Richard Faber, Barbara Naumann (Hrsg.): Literatur und Grenze. Theorie der Grenze, Würzburg 1995, S. 275–289.
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mit der Beschleunigung des Lebens, mit Globalisierung und Vernetzung. Die Tatsache, dass die globalen Grenzen durchlässiger geworden sind, gibt Anlass dazu, diese Auflösungserscheinungen in den Blick zu nehmen und angesichts eines diffus gefühlten Grenzverlusts die Frage nach der identitätsstiftenden Bedeutung von Grenzen zu stellen: „Wie gewinnen wir Orientierung in einer Situation, in der es unüberwindbare Grenzen nicht mehr zu geben scheint?“, fragt Ina Paul-Horn in ihrem kulturphilosophisch ausgerichteten Sammelband „Entgrenzung und Beschleunigung. Widersprüche und Fragen im Prozeß der Modernisierung“.30 Auch die Publikation von Rüdiger Görner zur „Poetik des Transitorischen“ ließe sich hier zuordnen. In seiner Sicht bringt die Literatur der Moderne das „Poetische der Grenzhaftigkeit menschlicher Erfahrung“31 zum Ausdruck und zeigt „das von Auflösungserscheinungen bedrohte Ich der Moderne“.32 Er beschäftigt sich mit der literarischen Darstellung von Räumen des „Dazwischen“ bzw. Transitorischen und widmet sich der Frage, „weshalb der paradoxe Versuch, mit sprachkünstlerischen Mitteln Verankerung auf Grenzen und Schwellen oder im Übergang zu finden, einen so erheblichen (ästhetischen) Reiz haben kann.“33 Der Begriff der Entgrenzung ist ebenso auf die sprachlich-ästhetische Ebene eines Textes anwendbar, wie beispielsweise in Georg Meins Analyse des literarischen und gesellschaftlichen Phänomens der Kanak-Sprak (Feridun Zaimoglu). Er versteht die Kanak-Sprak als „Widerrede“ gegen kulturelle Hegemonie und diese Art des Heraustretens aus der sprachlichen Norm als Vorgang der Entgrenzung.34 Eine ganz andere Form sprachlicher Entgrenzung untersucht wiederum Ortrud Gutjahr, wenn sie den Rezeptionsvorgang beim Lesen als Prozess der Grenzauflösung betrachtet. Unter Rückgriff auf psychoanalytische Konzepte über die Entstehung der Selbstgrenzen des Individuums fragt sie danach, welche Grenzen „im Rezeptionsvorgang tatsächlich überwunden (werden) in diesem Zustand, der oft auch als Versunkenheit bezeichnet wird“.35 Beiträge, die sich nun unter dem Blickwinkel der Entgrenzung mit literarischen 30 Ina Paul-Horn (Hrsg.): Entgrenzung und Beschleunigung. Widersprüche und Fragen im Prozeß der Modernisierung, Wien 1999, S. 11. 31 Görner, 2001, S. 75. 32 Ebd., S. 9. 33 Ebd., S. 12. 34 Georg Mein: Die Migration entlässt ihre Kinder. Sprachliche Entgrenzungen als Identitätskonzept. In: Clemens Kammler/Torsten Pflugmacher (Hrsg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989: Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven, Heidelberg 2004, S. 213. 35 Ortrud Gutjahr: Der Leser als Grenzgänger: Grenze und Entgrenzung im Rezeptionsvorgang. In: Grenze und Entgrenzung, Germanica 7/1990, Université Charles de Gaulle, Lille III., S. 38.
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Wendegeschichten befassen, fokussieren zumeist auf die psychosozialen Folgen der Grenzauflösung für die Ostdeutschen. Dabei stehen oft Verlusterfahrungen im Mittelpunkt sowie die neu entstandene Offenheit als ein Raum sowohl ungeahnter Möglichkeiten als auch einer fundamentalen Verunsicherung. Das Verschwinden der Grenze(n) wirft also in erster Linie Identitätsfragen auf. Katharina Grätz36 zeigt am Beispiel des Vergleichs zweier Texte von Julia Franck (Lagerfeuer, 2003) und Wolfgang Hilbig (Das Provisorium, 2000), wie sich das identitäre Koordinatensystem ihrer Protagonisten durch einen Grenzübertritt verschiebt: In beiden Romanen ist die Handlung vor 1989 angesiedelt und es wird ein Grenzübertritt in den 1980er Jahren geschildert sowie damit verbundene innere Grenzsituationen bzw. ein Grenzdasein der Protagonisten in einer neuen und befremdlichen Umwelt.37 Katharina Grätz sieht darin dennoch eine Gegenwartsdiagnose. Sie deutet diese Art der retrospektiven „Grenzliteratur“ als eine „Reaktion auf die Entwurzelungserfahrungen vieler Ostdeutscher nach der ‚Wende‘ – eine Reaktion auf das dumpfe Gefühl, in einer von westdeutschen Maßstäben geprägten Welt nicht angekommen zu sein. Nach dem Wegfall der äußeren Grenzen ist vielfach das Bewusstsein eines ungeklärten Dazwischen geblieben, das Gefühl in einem inneren Schwellenzustand zu leben zwischen ‚Nicht-Mehr‘ und
36 Katharina Grätz: Das Andere hinter der Mauer. Retrospektive Grenzkonstruktion und Grenzüberschreitung in Julia Francks „Lagerfeuer“ und Wolfgang Hilbigs „Das Provisorium“. In: Barbara Beßlich, Katharina Grätz und Olaf Hildebrand: Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989, Berlin 2006. Katharina Grätz macht auch darauf aufmerksam, dass zahlreiche Romane bereits vor 1989 die Grenze thematisieren: „Vor 1989 wurde die Mauer überwiegend von DDR-Autoren thematisiert und zwangsläufig verlief deren Blickrichtung fast immer vom Osten zum Westen. Initiale Bedeutung für die poetische Verarbeitung der deutschen Teilung in der Literatur der DDR besitzt Christa Wolfs Roman „Der geteilte Himmel“ (1963). In der Nachfolge entstanden Texte wie Fritz Selbmanns „Die Söhne der Wölfe“ (1971), Thomas Braschs „Vor den Vätern sterben die Söhne“ (1977), „Der schöne 27. September“ (1980), Kurt Bartschs „Kaderakte“ (1979), „Wadzeck“ (1980) und Helga Schuberts „Das verbotene Zimmer“ (1982). In der westdeutschen Literatur fanden Grenze und Mauer bis 1989 nur schwache Resonanz. Bedeutende Ausnahmen sind Uwe Johnsons „Zwei Ansichten“ (1965) und Peter Schneiders Berliner Erzählung „Der Mauerspringer“ (1982).“ In: Grätz, 2006, S. 244. 37 Beide weisen autobiografische Bezüge auf: Bei J. Franck geht es um die Übersiedlung mehrerer Personen aus der DDR in die BRD, darunter eine Mutter mit ihren beiden Kindern. Der Text spielt im Notaufnahmelager in Marienfelde in West-Berlin, in dem auch die Autorin als Kind neun Monate verbracht hat. Bei W. Hilbig bekommt ein ostdeutscher Autor ein Visum für eine Lesereise in die BRD und kehrt daraufhin nicht zurück. Auch Hilbig selbst lebte seit 1985 in der Bundesrepublik.
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‚Noch-Nicht‘.“38 Damit beschreibt sie im Prinzip einen liminalen Zustand der Entgrenzung, denn es ist die Rede von „Übergangszuständen“ oder „Zuständen des Transitorischen“.39 Die hier untersuchte Entgrenzung besteht in der beschriebenen inneren Haltlosigkeit und Ich-Dissoziation der Protagonisten aufgrund der Veränderung ihres identitären Bezugsrahmens (d. h. dem Übertritt von der DDR in die BRD). Sie sieht darin eine „Schwebesituation“40 zwischen zwei definierten Zuständen ausgedrückt, da sie von einem „,Nicht-Mehr‘ und ,Noch-Nicht‘“41 spricht. Auf die Gegenwart appliziert, wird dies von ihr als ein ,Nicht-Ankommen‘ der Ostdeutschen in der neuen Gesellschaft gedeutet. Eine ähnliche Sicht auf die gesellschaftliche Entwicklung nach 1989 lässt sich in Mirjam Gebauers Artikel über „Karnevaleske Inszenierung als Verarbeitung von Grenzauflösungen im Roman der 1990er Jahre“ ausmachen.42 Am Beispiel der Romane von Thomas Brussig, Günter Grass und Fritz Rudolf Fries untersucht sie die karnevalesken Elemente in diesen Texten, die sie in Anlehnung an Michail Bachtins Konzept des Karnevals analysiert. Die Wendezeit erscheint hier – in Kürze zusammengefasst – als eine Übergangsphase, die den „Abschied von der alten Ordnung“ markiert und gleichzeitig „den Weg für neue Entwicklungen, jenseits der Grenze“43 freimacht. Die Romane beschreiben in ihrer Sicht einen Übergang von einem alten Zustand in einen neuen, wobei dieser Übergang einer chaotisch-karnevalesken Phase der Verunsicherung entspricht, in der kritische Entwicklungen genauso thematisiert werden wie die Bereitschaft des Vergessens und das Bedürfnis nach einem Neuanfang. Es wird hier also ebenfalls die liminale Schwellensituation zwischen zwei definierten Zuständen und die mit der Entgrenzung einhergehende Verunsicherung und Orientierungslosigkeit in den Blick genommen, die einer temporären Phase des Chaos zwischen einer alten und einer neuen Ordnung entspricht. In Edgar Platens Band über „Grenzen, Grenzüberschreitungen, Grenzauflösungen: Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur“ finden sich weitere Artikel zu Romanen, die die unmittelbare Zeit nach der Wende thematisieren. Im Mittelpunkt der Untersuchungen stehen auch hier Auf38 39 40 41 42
Grätz, 2006, S. 256. Ebd., S. 257. Ebd., S. 257. Ebd., S. 257. Mirjam Gebauer: Karnevaleske Inszenierung als Verarbeitung von Grenzauflösungen im Roman der 1990er Jahre. In: Edgar Platen/Martin Todtenhaupt (Hrsg.): Grenzen, Grenzüberschreitungen, Grenzauflösungen. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur, München 2004. 43 Ebd., S. 21.
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lösungserscheinungen und eine durch die Entgrenzung entstandene neue Offenheit mit ihren Potentialen und Gefährdungen. Der Mauerfall wird als Ausgangspunkt verstanden, um die existenzielle Unsicherheit des menschlichen Daseins zu reflektieren. Anne-Sofie Dideriksen untersucht in diesem Zusammenhang Ingo Schulzes sehr erfolgreichen Roman Simple Storys. Roman aus der ostdeutschen Provinz (1998), der in vielen, miteinander verwobenen Episoden von der direkten Nachwendezeit in dem kleinen thüringischen Städtchen Altenburg erzählt.44 Auch sie untersucht Formen der Entgrenzung, die sie hauptsächlich aus einer räumlichen Perspektive betrachtet. So sei die Provinz in Schulzes Roman als eine „offene“45 und mit der Welt verflochtene dargestellt und nicht dichotomisch einem Zentrum gegenübergestellt. Dies ließe sich an der Nivellierung von Grenzen sehen, die im Text „auf der thematischen, bildlichen sowie auf der narrativen Ebene verfolgt werden“46 kann. Die dargestellte Offenheit und Verflechtung Altenburgs mit der Welt liest Dideriksen als „Verflechtung vom Osten und Westen“, aber auch als „das allmähliche Verschwinden des historischen Ostens“.47 Durch die Nivellierung der Grenzen entsteht also auch hier ein entgrenzter Raum, der sich in einem postmodernen Sinne einerseits als sich neu eröffnendes „fröhliches Spielfeld“ oder andererseits als „unüberschaubares Möglichkeitsfeld“48 bewerten ließe. Dideriksen beurteilt den Roman jedoch dahingehend, dass sich die im Text als Folge der ‚Wende‘ dargestellte Offenheit „durchgehend als eine Bedrohung lesen lässt.“49 Sie arbeitet den Umgang der Protagonisten mit dieser Offenheit heraus und kommt zu dem Schluss, „dass die freie Bewegung in die Welt, die die offenen Horizonte erlauben, entweder in Orientierungslosigkeit oder Immobilität umschlägt.“50 Es werden also die bedrohlichen Dimensionen der Entgrenzung betont. Auch in Bezug auf die Darstellung von DDR-Vergangenheit tritt das Motiv der Entgrenzung auf. Die Rückbezüge auf das erinnerte DDR-Leben der Protagonisten lassen ebenfalls feste Bezugspunkte vermissen (vieles bleibt unausgesprochen, ist undurchschaubar) und verlieren sich genauso in einer unbestimmbaren Weite wie der 44 Anne-Sofie Dideriksen: Grenzauflösung zwischen Provinz und Welt bei Ingo Schulze. In: Edgar Platen/Martin Todtenhaupt (Hrsg.): Grenzen, Grenzüberschreitungen, Grenzauflösungen. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur, München 2004, S. 35. Vgl. Norbert Mecklenburg: Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman, Königstein/Ts. 1986. 45 Ebd., S. 37. 46 Ebd., S. 36. 47 Ebd., S. 38. 48 Ebd., S. 35. 49 Ebd., S. 43. 50 Dies zeigt sich in einer motivischen Verknüpfung von Bewegung und Tod, die vielfach im Text zu finden sei. Ebd., S. 43 f.
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Provinzraum nach der Wende. Die „Auflösung der Provinz“ ist damit doppelt codiert – als Orientierungslosigkeit sowohl bezüglich der Zukunft als auch der Vergangenheit: „(…) die Darstellung der Provinz in Simple Storys (hat) die Funktion [], die ostdeutsche Vergangenheit als problematischen Bezugspunkt räumlich zu inszenieren. Die ostdeutsche Provinz tritt als fast charakterlos in Erscheinung und ist von den übrigen Räumen des Romans nur schwer zu unterscheiden. Parallel zu dieser Wegschreibung des ostdeutschen Provinzraumes findet auch ein zeitlicher Horizontverfall statt, der eine Wegschreibung der ostdeutschen Vergangenheit zur Folge hat: Weder dem Leser, noch den Figuren steht ein stabiler Vergangenheitshorizont als Orientierungspunkt für das Erzählte zur Verfügung.“51
Es geht um das Verschwinden von Orientierung und Identität auf verschiedenen Ebenen. Gleichzeitig kommt Dideriksen nicht umhin zu bemerken, dass das konstatierte Gefühl der Bedrohung durch Auflösung dennoch zu kurz greift, wenn sie auf den „hintergründigen Humor und die leise Ironie“52 im Text aufmerksam macht. Ohne also mit der alleinigen Betrachtung der Auflösungserscheinungen in Simple Storys der Komplexität von Schulzes Roman wirklich gerecht werden zu können, lässt sich anhand Dideriksens Analyse trotzdem behaupten, dass diese bei Schulze eine zentrale Rolle spielen. Inez Müller beschreibt in „Der Verlust von Grenze in Weggeküßt von Angela Krauß“ die Grenze als durchgehendes literarisches Motiv in diesem Text der DDRAutorin Angela Krauß. Im Zentrum ihrer Analyse steht die Erfahrung von Grenze und Begrenztheit als identitätsprägend für die Ich-Erzählerin. Die Öffnung der Mauer ist für sie mit der Sehnsucht nach einem Zustand der Grenzenlosigkeit verbunden, wie sie ihn für ihre Kindheit beschreibt – denn die ‚Grenze‘ in ihrer Kindheit (eine Gartenmauer, die ein wichtiges Motiv im Text bildet), bot Schutz und ermöglichte gleichzeitig durch die Möglichkeit des sicheren Rückzugs das Erkunden des dahinterliegenden grenzenlosen Raums. Einen ähnlichen Effekt erwartete die Ich-Erzählerin offenbar von der Öffnung der Mauer 1989: „Meine Stunde war gekommen, als es fortan weder Ost noch West gab und das Ganze endlich wieder eine Kugel war, wie vor fünf Jahrhunderten vorausgesagt, also ohne Anfang und Ende. Da die Welt von Beginn an rund, ganz und grenzenlos war, müssen die Lebewesen ans Grenzenlose angepaßt sein. Ursprünglich sind wir fürs Grenzenlose gemacht, was lange in Vergessenheit geraten sein muß. Von Natur aus sollten wir uns im Grenzenlosen bewegen wie die Vögel in der Luft und uns fühlen wie die Fische im Wasser.“53 51 Ebd., S. 40. 52 Ebd., S. 44. 53 Angela Krauß zitiert nach Inez Müller: Der Verlust von Grenze in Weggeküßt von Angela Krauß. In: Platen, Edgar/Todtenhaupt, Martin (Hrsg.): Grenzen, Grenzüberschreitungen,
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Die dann im Roman geschilderte reale Erfahrung der deutsch-deutschen Entgrenzung hingegen ist mit ambivalenten Gefühlen von „Orientierungsverlust und Schutzlosigkeit“54 verbunden. Thematisiert wird ein Zustand der Grenzenlosigkeit, der einen beängstigten Zerfall der Ich-Identität bewirkt bei gleichzeitiger Nichterfüllung der Sehnsucht nach einem beglückenden Zustand der Entgrenzung, der jedoch mit dem Stoßen auf neue, nicht erwartete zwischenmenschliche Grenzen zusammenhängt. Die enttäuschende Entgrenzung wirft die Erzählerin gewissermaßen auf Grenzen zurück. Das Dasein im Grenzenlosen erweist sich als schwieriges Unterfangen. In Texten über die unmittelbare Nachwendezeit sind Entgrenzungserfahrungen offenbar ein vielfach präsentes Thema und mit Verunsicherungen über die eigene Identität verknüpft. Es stehen eher die latent bedrohlichen Dimensionen der neuen Offenheit im Vordergrund, die als ein Übergang in etwas Ungewisses erscheint. Dies wiederum kann auch identitäre Abgrenzungsprozesse verstärken, wie sie beispielsweise Martina Ölke in zwei literarischen Rückblicken auf die DDR ausmacht.55 In diesen Texten steht nicht die Verunsicherung durch die Auflösung von Grenzen im Vordergrund, sondern die Suche nach und das Entstehen neuer Grenzen. Ölke vergleicht Erwin Strittmatters in den neuen Bundesländern sehr erfolgreichen dritten Teil der Roman-Trilogie Der Laden von 1992 mit Monika Marons Endmoränen (2002). In beiden Werken, die scheinbar wenig gemein haben, findet man nach Ölke dennoch einen „Blick auf die untergegangene DDR als Provinz der (sprachlichen) Ordnung und Stimmigkeit, auch wenn diese Ordnung nicht immer positiv konnotiert und keineswegs frei von Unterdrückung ist.“56 Die DDR wird gewissermaßen bei beiden als sicherer, wenn auch nicht unbedingt behaglicher Raum dargestellt: „als heimatlich-bergende, aber auch beklemmende Provinz“ bzw. als „Sinnstiftungs-Provinz“.57 Es fällt zunächst – ähnlich wie bereits bei Schulze – eine wiederholte Darstellung der DDR als provinzieller Raum auf. Auf diesen Topos, der auch in den Texten der in dieser Arbeit behandelten AutorInnen eine Rolle spielt, wird im 3. Kaptitel zur Poetik der Ödnis noch genauer eingegangen. Aus der Perspektive des Entgrenzungsbegriffs ist die bei Strittmatter
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Grenzauflösungen. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur, München 2004, S. 30. Ebd., S. 27. Martina Ölke: Reisen in die versunkene Provinz: Die DDR in der literarischen Retrospektive. In: Barbara Beßlich, Katharina Grätz, Olaf Hildebrand: Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989, Berlin 2006, S. 209–224. Ebd., S. 214. Ebd., S. 211/212.
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dargestellte Provinz jedoch eine klassische, das heißt nicht offen und verflochten wie bei Schulze, sondern entlegen und geschlossen. Die Provinz steht hier synonym für einen Halt und Sinn bietenden Rahmen; die Fokussierung auf ihre Grenzen ist lesbar als Ausdruck eines Sicherheitsbedürfnisses. Für Strittmatters Roman konstatiert Ölke z. B. eine „Tendenz, Vertrautheit und Kontinuität zu suggerieren“ – unter anderem durch starke regionale bzw. dialektale Verankerung (Lausitz) und die ‚Kleinheit‘ und Alltäglichkeit der Themen oder einen mündlicharchaischen Erzählstil, der „Orientierung und eine gewisse Autorität im (erzählerischen) Wirrwarr der Nachwendezeit“ bietet. Ölke spricht gar von einer „Verschworenheit zwischen Leser und Autor“58, die auf verschiedene Weise evoziert wird. Sie geht ebenfalls auf die Selbstinszenierung und Vermarktung des Autors Strittmatter ein (sein Buch wurde in verschiedene Sprachen, aber nicht ins ,Westdeutsche‘ übersetzt, wie er behauptet) und erwähnt Strittmatters großen Erfolg bei den Lesern aus der ehemaligen DDR, wohingegen er im Westen kaum bekannt ist. Sie beschreibt ihn als eine „Galions- und Identifikationsfigur für ein neu erwachendes Ost-Gefühl, schließlich war (er) politisch verhältnismäßig unbelastet und schon lange als zurückgezogener Autor ländlich-menschlicher Themen bekannt“.59 Am Beispiel von Strittmatters Roman Der Laden zeichnet sie eine Orientierungssuche der ostdeutschen Leserschaft nach, die sich in dem großen Interesse an der nachträglichen und abgrenzenden Inszenierung des Vertrauten zeigt: „Nach der Auflösung der faktischen (Staats-)Grenze findet hier eine klare (sprachlichliterarische) Grenzziehung statt, Deutschland, so scheint es, besteht immer noch aus zwei Ländern mit verschiedenen Sprachen.“60 Ähnliches stellt Ölke für die Verfilmung des Romans von 1998 fest, der ebenfalls auf „Wiedererkennen und Vertrautheit“ angelegt sei und eine „beruhigende Begrenztheit“61 zum Ausdruck bringe. Trotz einer ganz anders gelagerten Thematik in Monika Marons Roman Endmoränen – die Protagonistin ist eine kritische DDR-Intellektuelle, die über ihr DDR-Leben und die Wende reflektiert – ginge es hier ebenfalls um Grenzsicherungen, denn auch hier wird die DDR-Vergangenheit als sichere Provinz betrachtet, und zwar als eine nicht mehr existierende „Sinnstiftungs-Provinz“. Marons Hauptfigur leidet trotz ihrer oppositionellen Einstellung am Verschwinden der DDR, da diese „in all ihrer Verhasstheit doch einen verlässlichen Orientierungsrahmen geboten hatte“.62 Damit ist auf den Bedeutungsverlust angespielt, den viele der kritisch eingestellten DDR-Intellektuellen nach 1989 erlebten, da mit dem Fall 58 59 60 61 62
Ebd., S. 215. Ebd., S. 214. Ebd., S. 218. Ebd., S. 217 u. 216. Ebd., S. 221.
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der Mauer auch der Sinn einer oppositionellen Haltung gegenüber dem Regime hinfällig wurde. Auch wenn der Staat einen negativen Bezugsrahmen dargestellt hatte, konnte sein Wegfall als Verlust empfunden werden und die Entgrenzung des Mauerfalls daher nicht nur als Befreiung. So kommt Martina Ölke für beide Texte zu dem Schluss, dass sie gegen den „globalisierten Nach-Wende-Wirbel“ anschreiben, denn es ginge hier mehr um „Geborgenheit und Begrenzung statt Verluste und Entgrenzung“.63 Die neue Ordnung wird hier scheinbar nicht gut angenommen und es werden Möglichkeiten nachträglicher, sichernder Grenzziehungen gesucht. Festhalten lässt sich daher in jedem Fall, dass die häufig raummetaphorisch angelegten literarischen Reflexionen der Entgrenzung durch den Mauerfall 1989 vornehmlich die psychosoziale Dimension der neuen Offenheit in den Blick nehmen und mögliche Reaktionen darauf beschreiben. Die Suche nach Halt in einem grenzenlosen Raum erweist sich dabei als wichtiges Motiv.
2.3 Adoleszenzliteratur als Literatur der Entgrenzung Die beiden Texte von Clemens Meyer und Jana Simon sind nicht nur Texte über die Wendezeit als Zeit der Entgrenzung, sondern lassen sich auch als klassische Adoleszenz- oder Coming-of-Age-Romane rezipieren. Adoleszenzliteratur lässt sich dabei ebenfalls als eine Literatur der Entgrenzung begreifen. Die Adoleszenz stellt in jedem individuellen Leben einen transitorischen Zeitabschnitt dar, in dem die Grenze zwischen der Kindheit und dem Erwachsenenalter passiert und damit ein neuer sozialer Status erreicht wird. Dies ist – zumindest in modernen westlichen Gesellschaften – in der Regel mit dem Austesten und Überschreiten von Grenzen, d. h. dem Verletzen elterlicher bzw. gesellschaftlicher Normen sowie mit der Suche nach Orientierung und Identität verbunden. Dem Beginn der Adoleszenz liegen biologische Faktoren zugrunde wie verschiedene physische und psychische Veränderungen (Pubertät/Geschlechtsreife), die die Voraussetzungen bilden für das schrittweise Eintreten ins Erwachsenenalter, in dem der Mensch aufgefordert ist, sich von seiner Herkunftsfamilie zu lösen und einen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Dieser Prozess ist stark kulturell geprägt und damit Veränderungen unterworfen. War für vormoderne Gesellschaften eine klare Konturierung und Ritualisierung der Adoleszenz im Rahmen festgefügter gesellschaftlicher Strukturen kennzeichnend, lösen sich eindeutige Bezugssysteme im Prozess der
63 Ebd., S. 224.
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Modernisierung mehr und mehr auf.64 Was Jugend ausmacht, wann sie beginnt und wann sie endet, lässt sich nicht mehr mit Bestimmtheit sagen – was sich nicht zuletzt auch in den oben genannten soziologischen Kategorisierungsversuchen widerspiegelt, zu bestimmen, welche Alterskohorte nun die von der Wende besonders geprägte Jugendgeneration sei, die den abrupten Veränderungen in erhöhtem Maße sensibel ausgesetzt war. In der Regel wird für die Adoleszenz „die Zeitspanne zwischen dem 11./12. bis zum 25. Lebensjahr angesetzt. Unter den veränderten kulturellen Bedingungen in (post)modernen Gesellschaften gewinnt die sogenannte Postadoleszenz an Bedeutung, die im 20./21. Jahrhundert mitunter bis in das vierte Lebensjahrzehnt hineinreicht.“65 Ein wesentliches Merkmal für die Adoleszenz in postmodernen Gesellschaften scheint daher ihre Offenheit und Unbestimmtheit zu sein: „Die sozialen Definitionen, soziostrukturellen Bedingungen und individuellen Ausgestaltungen verlieren an Bestimmtheit und Festgelegtheit.“66 Damit geht eine Ausweitung der Gestaltungsoptionen für das Finden des zukünftigen Lebensweges als Erwachsener einher, deren Kehrseite jedoch Orientierungsverlust und Unsicherheit sind. Gerade diese Ambivalenz zwischen einer Vervielfältigung der individuellen Möglichkeiten und einer damit ebenfalls vergrößerten Gefahr des Scheiterns ist ein Charakteristikum der postmodernen Adoleszenz. Ihre zeitliche Unbestimmtheit lässt sie als „psychosoziales Moratorium“ erscheinen, als „Aufschub vor dem Schritt ins Erwachsenendasein.“67 Nichtsdestotrotz bleiben die anthropologischen Merkmale der Adoleszenz Konstanten, die sie als biologische sowie psychosoziale Reifephase im Leben eines Menschen charakterisieren. Ganz allgemein lässt sich sagen, dass die Adoleszenz „als lebensgeschichtliche Phase angesehen werden kann, in der es zu einem Mitund Gegeneinander von körperlichen, psychischen und sozialen Prozessen kommt. Insofern geht es um die ‚Neuprogrammierung‘ der physiologischen, psychologischen und psychosozialen Systeme.“68 Das Besondere an dieser Lebensphase ist das Ineinandergreifen innerer, physiologischer Entwicklungsschritte und äußerer, kulturell bedingter Veränderungen des sozialen Status sowie des Habitus von Jugendlichen. Diese Wechselwirkung stellt einen sensiblen Prozess und eine existenzielle biografische Krise dar, in der Individuation sowie Eingliederung in die Gesellschaft 64 Carsten Gansel und Paweł Zimniak: Adoleszenz und Adoleszenzdarstellung in der Literatur – Vorbemerkungen. In: Carsten Gansel: Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung: Bilder von Adoleszenz in der deutschsprachigen Literatur, Heidelberg 2011, S. 29. 65 Ebd., S. 31. 66 Ebd., S. 30. 67 Ebd., S. 30. 68 Ebd., S. 29.
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gleichzeitig gefordert werden. Die Adoleszenz kann daher sicherlich als diejenige Lebensphase gelten, die am stärksten von einem „untrennbaren Zusammenhang von individueller und sozialer Veränderung.“69 bestimmt ist. Sie konstituiert sich in einer Wechselwirkung innerer und äußerer Prozesse, bei der die Grenzen zwischen inneren und äußeren Veränderungen im Leben eines Individuums durchlässig werden. Carsten Gansel weist in mehreren Studien zur Literaturgeschichte des Adoleszenzromans auf die Verankerung der Adoleszenzdarstellungen in ihrem kulturellen Kontext hin und spricht von „zeittypischen Konfigurationen“, die darin zum Ausdruck kommen und gleichzeitig Veränderungen in der Gesellschaft sichtbar machen.70 Generell sei die Entstehung des modernen Adoleszenzromans als eigener Gattung auf Prozesse der gesellschaftlichen Modernisierung zurückzuführen, die die heutige individuelle wie soziale Bedeutung der Adoleszenz als einer kritischen Phase des Übergangs von der Kindheit ins Erwachsenenalter erst hervorgebracht haben. Der Wandel der kulturgeschichtlichen Bedeutung der Adoleszenzphase findet wiederum seinen Ausdruck in sich wandelnden Adoleszenzdarstellungen in der Literatur. In der Geschichte des Adoleszenzromans als Gattung lassen sich diese Veränderungen nachvollziehen. Gansel zeichnet in seiner kurzen literaturhistorischen Überblicksdarstellung71 die wichtigsten Entwicklungsstufen des Adoleszenz-Romans als literarischer Gattung nach, macht jedoch ebenso deutlich, dass bestimmte Themen sich wiederholen bzw. konstant bleiben und daher als typisch für die biografische ,Krise des Übergangs‘ jenseits ihrer spezifischen kulturellen Verankerung gelten können. Er schlägt dabei einen Bogen von den Vorläufern des Adoleszenzromans aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert wie Goethes Werther oder Moritz‘ Anton Reiser über amerikanische Klassiker wie Mark Twains Huckleberry Finn (1885), Texte der deutschen Romantik von Tieck, Novalis, E.T.A. Hoffmann u. a., in denen Individualisierungsprozesse adoleszenter Figuren eine tragende Rolle spielen, bis hin zu den zahlreichen Schultexten der Jahrhundertwende wie – um nur die bekanntesten zu nennen – Hermann Hesses Unterm Rad (1906) oder Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906), die junge männliche Gymnasiasten im Konflikt mit autoritären Erziehungsanstalten zeigen. Eine neue Phase der literarischen Adoleszenz-Darstellung kündigt sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Veröffentlichung von Jerome D. Salingers Roman Der Fänger im Roggen (1951, dt. 69 Carsten Gansel: Adoleszenz und Adoleszenzroman als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung. In: Zeitschrift für Germanistik XIV, 1/2004, S. 371. 70 Carsten Gansel: Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung: Bilder von Adoleszenz in der deutschsprachigen Literatur, Heidelberg 2011, S. 48. 71 Vgl. Gansel: Adoleszenz, 2004.
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1956) an, dessen Popularität und Breitenwirkung in besonderem Maße einen gesellschaftlichen Entwicklungssprung anzeigt, da die hier geschilderte Adoleszenzkrise dem Lebensgefühl einer ganzen Generation Ausdruck verlieh, die gegen etablierte gesellschaftliche Strukturen und Rollenvorbilder revoltierte. Der ‚moderne‘ Adoleszenz-Roman spielt eine Rolle als Orientierungsgröße für junge Menschen; häufig ist von Kultcharakter die Rede (ein weiteres prominentes Beispiel: Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. aus dem Jahr 1973), wenn er den Nerv der Zeit zu treffen vermag, d. h. „eindrucksvolle Bilder für Adoleszenz- bzw. Generationenerfahrungen zu finden“72, wie Gansel es formuliert. Trotz der Unterschiede in der Gestaltung des Themas ‚Jugend‘ und ihrer jeweils historisch bedingten Konfliktlagen, die die von Gansel exemplarisch angeführten Adoleszenztexte ganz unterschiedlicher Epochen aufweisen, würden sie dennoch alle im Kern krisenhafte Übergangsprozesse von der Kindheit in das Erwachsenenalter abbilden. Gansel fasst die verbindenden Merkmale dieser Texte folgendermaßen zusammen: „Im Zentrum der Darstellung stehen ein oder mehrere jugendliche Helden, wobei sich die Darstellung anders als im Entwicklungsroman auf die Jugendphase konzentriert, und diese kann von der Vorpubertät (11/12 Jahre) bis in die Postadoleszenz (bis in das dritte Lebensjahrzehnt) reichen. Kennzeichnend ist zudem der Umstand, dass die jugendliche Hauptfigur in einer ‚existentiellen Erschütterung‘ und ‚tiefgreifenden Identitätskrise‘ angetroffen werden kann, aber auch in einer Situation, da sie auf einer lustvollen Sinn- und Identitätssuche ist.“73 Auch die grundlegenden Themen beschreibt er trotz der kulturellen Wandlungen in diachroner Perspektive als gleichbleibend: „die Ablösung von den Eltern; die Ausbildung eigener Wertvorstellungen (Ethik, Politik, Kultur usw.); das Erleben erster sexueller Kontakte; das Entwickeln eigener Sozialbeziehungen; das Hineinwachsen oder das Ablehnen einer eigenen sozialen Rolle.“74 Für Texte der Moderne und Postmoderne sei darüber hinaus ein offenes Ende kennzeichnend, d. h. die Identitätsfindung bleibt häufig unabgeschlossen und die Protagonisten gewissermaßen auf der Suche.75 Die bewusste Thematisierung von Generationserfahrungen im Sinne von Selbstzuschreibungen, d. h. die literarischen Selbstvergewisserungstendenzen und Abgrenzungsbemühungen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, ist jedoch eher eine postmoderne Erscheinung. ‚Generationserfahrung‘ und ‚Kultcharakter‘ sind Attribute, die beispielsweise ebenso zahlreichen Pop-Romanen der Gegenwartsliteratur zugeschrieben werden. Auch diese sind laut Gansel ihrer Struktur nach Adoleszenztexte, die den „Abschied von der un72 73 74 75
Gansel, 2011, S. 28. Ebd., S. 40. Ebd., S. 40. Ebd., S. 40.
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schuldigen Kindheit und den Eintritt in die Welt der Erwachsenen“76 thematisieren und in der Wahrnehmung und Beschreibung dieses Prozesses einen Generationswechsel sowie typische generationelle Erfahrungen behaupten. Die Krise der Adoleszenz ist immer durch mehrfache Grenzauflösungen und Grenzüberschreitungen gekennzeichnet. Adoleszenzdarstellungen sind daher per se Entgrenzungstexte. Der zentrale Punkt ist die Suchbewegung der Adoleszenten, das Infragestellen der vorgefundenen Ordnung. Dies wird von Älteren in der Regel als Provokation oder auch Bedrohung wahrgenommen, als eine „Störung“ der Ordnung laut Gansel, bei der regelmäßig Aspekte wie Risikosuche, Provokation, Größenphantasien aber auch Selbst- und Fremdschädigung eine Rolle spielen und die zumeist negativ konnotiert ist mit „Devianz, Irritation, Dysfunktion, Destruktion, Verlust“.77 Diese adoleszenztypischen Formen der Entgrenzung im Sinne eines Verlusts von oder Angriffs auf normative Grenzen stellen eine Übergangsphase dar, weshalb Gansel von der Adoleszenz als „Zwischenzeit“ spricht. Die Zwischenzeit entspreche einem „transitorischen Zeitabschnitt, der sich als eine Art Gegenstruktur mit chaotisch-anarchischen Kennzeichen manifestiert“ (27). Auch wenn die postmoderne Adoleszenz weitgehend von Entritualisierung und genereller Unbestimmtheit gekennzeichnet sei, bilden diese Gegenstrukturen ein wesentliches Merkmal der Adoleszenzdarstellungen. Die Ausbildung von Gegenstrukturen sind sowohl in Meyers Als wir träumten als auch in Simons Denn wir sind anders ein entscheidendes Thema. Sie werden getragen von einem besonderen Gefühl von Gemeinschaft, das die Eigenschaften des Liminalen aufweist. Im Folgenden soll differenzierter auf die ethnologische Begrifflichkeit der Liminalität eingegangen werden, um das in den Texten dargestellte temporäre oder auch längerfristige Außerkrafttreten geltender sozialer Regeln und Strukturen besser zu fassen. Gleichzeitig ist danach zu fragen, inwieweit diese liminalen Gegenstrukturen für die Protagonisten wirklich als adoleszenztypische ,Störung der Ordnung‘ funktionieren, da sich die gesellschaftliche Ordnung in der erzählten Zeit selbst gerade in Auflösung befindet und sie also mit einer doppelten Entgrenzung – der adoleszenten wie der gesamtgesellschaftlichen – konfrontiert sind. Liminalität und Communitas Der einflussreiche schottische Ethnologe Victor Turner (1920–1983), auf den der Begriff der Liminalität zurückgeht, forschte hauptsächlich zu Übergangsriten in vorindustriellen Gesellschaften und knüpfte dabei an die klassischen Ritualtheo76 Zitiert nach Katharina Rutschky, ebd., S. 39. 77 Ebd., S. 41/42.
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rien Arnold van Genneps an. Nach van Genneps Definition begleiten Übergangsriten in einer Gesellschaft den Übergang zwischen individuellen Lebensabschnitten bzw. zwischen sozialen Statuspositionen (z. B. Hochzeit). Der Moment des Übergangs stellt dabei eine Phase der Regel- und Strukturlosigkeit zwischen zwei definierten sozialen Positionen dar. Ein klassischer Übergangsritus weist drei Phasen auf: die Trennungsphase, die Schwellenphase und die Wiedereingliederungsphase. Victor Turner hat sich in seinen Forschungen hauptsächlich auf die Schwellenphasen konzentriert, die den eigentlichen Moment der Strukturlosigkeit darstellen, in dem sich die am Ritual beteiligten Personen in einer Sphäre zwischen dem eindeutigen Loslösen von einem definierten Zustand und der Neuanbindung an einen anderen befinden, d. h. gewissermaßen zwischen zwei Welten. Für diese Phase prägte er den Begriff der Liminalität. In der Liminalität befinden sich die Individuen also außerhalb der herrschenden Sozialordnung. Um die bestehende soziale Ordnung als Ganzes aufrechtzuerhalten, wird diese Phase der Unordnung durch Rituale strukturiert, die den Übergang gewährleisten. Gerade die Phase der Adoleszenz ist in den von ihm untersuchten vorindustriellen Gesellschaften stark ritualisiert; Initiationsriten spielen hier eine bedeutende Rolle. Die liminale oder Schwellenphase weist dabei bestimmte Merkmale auf: die Auflösung jeglicher Status- und Rangunterschiede bzw. die Nivellierung oder Umkehr der sozialen Ordnung, die Dekonstruktion der Individuen als soziale Wesen und ihre Reduzierung auf einen Zustand der Gleichheit (z. B. Geschlechtslosigkeit, Anonymität). Es geht um das kurzzeitige Auslöschen des Einzelnen, auch durch Demütigungen sowie eine umfangreiche Todessymbolik, die die soziale Nivellierung unterstreicht, bevor der Einzelne in seinen neuen Status überführt wird. Gleichzeitig geht die Erfahrung der Liminalität mit einem aufkommenden Gefühl tiefer Humanität einher oder der Begegnung mit Kräften von übermenschlicher Natur und mystischem Charakter, d. h. Schwellensituationen werden magisch-religiöse Eigenschaften zugeschrieben. Sie sind immer beides: eine Phase des Ich-Verlusts und damit eine potentielle Gefährdung, die dem Einzelnen klar macht, dass er außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung und der darin für ihn bestimmten Position verloren ist. Ebenso ermöglichen sie eine Ausweitung der Wahrnehmung und das mystische Erleben von Einheit. Ausgehend von diesen Forschungen zu Übergangsriten in vorindustriellen Gesellschaften untersuchte Victor Turner ähnliche Phänomene der liminalen Strukturlosigkeit in modernen westlichen Industriegesellschaften und hat hieraus kulturtheoretische Überlegungen abgeleitet. Liminale Phänomene gibt es in jeder Gesellschaft mit einer differenzierten hierarchischen Sozialstruktur und einem auf Besitz oder Status ausgerichteten Klassifikationssystem, sie bilden einen Gegenpol dazu und stellen gleichzeitig eine existenzielle Dimension menschlicher Gemeinschaft dar. In modernen westlichen Gesellschaften übernimmt z. B. teilweise die
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Religion die Funktion des Liminalen. Die Maximen der großen Religionen weisen Eigenschaften der Schwellenphase auf wie z. B. Selbstlosigkeit, Gleichheit, Demut, Hingabe an die Autorität einer höheren Macht. Mit zunehmender Komplexität der Gesellschaft ist eine Institutionalisierung erfolgt: Religiöse Systeme haben das Liminale verstetigt und zu einer feststehenden Ordnung erhoben, wobei die Übergangsqualitäten erhalten bleiben. Damit sind sie jedoch wiederum Teil der Sozialstruktur (mit eigener Hierarchie) und erfüllen ähnliche Funktionen wie die zeitweilige Nivellierung der Ordnung im Übergangsritus, die letztlich den Zweck hat, die Ordnung zu bestätigen. Das Liminale kann somit als Teil der Sozialstruktur betrachtet werden. Es entspricht dem Raum an den Nahtstellen zwischen fixen gesellschaftlichen Strukturen und als Erlebnisqualität einer strukturlosen Gemeinschaft Gleicher. Um von Phänomenen zu unterscheiden, die ebenfalls die Eigenschaften des Liminalen aufweisen, aber stärker von diesem integrativen Gesellschaftsmodell abweichen, hat Turner den Begriff des Liminoiden eingeführt. Dieser bezieht sich auf (post)moderne, industrialisierte Gesellschaften, in denen Arbeit und Freizeit zwei getrennte Sphären bilden. Liminoide Phänomene sind den liminalen ähnlich, haben aber mehr spielerischen als rituellen Charakter. Sie umfassen gemeinschaftliche Tätigkeiten, die Turner als Mußegattungen beschreibt, d. h. Tätigkeiten, die auf Freiwilligkeit beruhen und nicht Teil einer Organisationsstruktur sind. Mußegattungen oder Mußesituationen lassen ein freies Spiel mit den Zeichen und Symbolen einer Kultur zu (ihre Statusnivellierung, Verkehren ins Gegenteil), wie z. B. auch im künstlerischen Schaffen. Die Form des Liminoiden ist nicht institutionalisiert oder professionalisiert, es hat einen individuellen, experimentellen und spontanen Charakter. Es ist gewissermaßen in den Bedingungen kapitalistischer Industriegesellschaften entstanden, in einer gesellschaftlichen Situation also, in der das Arbeit-Freizeit-Kontinuum keinen gesellschaftlich geregelten Kreislauf bildet, wie in den von Turner ursprünglich untersuchten Gesellschaften. Die Entkopplung von Arbeit und Freizeit bringt mit sich, dass die Phasen der Nicht-Arbeit immer die Möglichkeit der experimentellen Befreiung von der Normativität beinhalten. Die hier entstehenden symbolischen Welten sind tendenziell nicht nur eine spielerische Umkehr der Realität, um temporär – wie im Schwellenritual – die bestehende soziale Ordnung auszuhebeln. Das z. B. im Spiel freigesetzte Potential der nicht zielgebundenen Entfaltung kognitiver, kreativer Fähigkeiten des Menschen im Sinne einer mitunter radikalen Verschiebung von Perspektiven zielt nicht unbedingt darauf ab, das soziokulturelle System so wie es ist zu erhalten. Turner sieht hier den Keim kultureller Entwicklungssprünge, indem er den als liminoid bezeichneten Phasen potentiell kritische, revolutionäre und befreiende Qualitäten zuschreibt. Die Möglichkeiten zur Neugestaltung und zum Hinterfragen zentraler Werte sind unbegrenzter und potentiell auch ausführbar (was sich z. B. in Revolu-
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tionen gegen festgefahrene Zustände äußern kann). Die liminoiden Hervorbringungen der Industriegesellschaften sind also tendenziell subversiv, kritisch und untergraben althergebrachte Wertvorstellungen, umfassen jedoch ebenso Formen des symbolischen Ausdrucks oder der Unterhaltung, des Spiels etc., die der gesellschaftlichen Realität nicht zwangsläufig kritisch sondern eben spielerisch gegenüberstehen. Bedeutsam ist jedoch das kreative Potential der liminoiden Phänomene, die sie zwar mit den liminalen Situationen teilen, denn beides sind Momente der Entgrenzung im Sinne der Auflösung der Norm. Doch die liminoiden Phänomene stehen eher abgespalten von der strukturellen Normativität und sie dienen nicht ihrer Erhaltung wie die liminalen Phänomene, welche zwar den Keim möglicher Veränderung in sich tragen, aber aufgrund ihrer Verknüpfung mit der Gesellschaftsstruktur innerhalb eines Rahmens bleiben. Im Kern geht es in Turners Forschungen also um das dialektische Verhältnis zwischen fest strukturierten sozialen Hierarchien und Formen von Gemeinschaft, die auf Struktur- und Regellosigkeit beruhen.78 Ein Gleichgewicht zwischen beiden ist für das Funktionieren einer Gesellschaft unerlässlich. In hochkomplexen modernen Gesellschaften gibt es sowohl liminale wie liminoide Phänomene. Diese Freiräume liminaler und liminoider Momente sind nötig für das Funktionieren der Gesellschaft, da die sozialen Beziehungen begrenzte und definierte Rollen sind, aber nicht dem Bedürfnis des Menschen nach unvoreingenommener Zwischenmenschlichkeit und Spontanität nachkommen. Die Sozialstruktur steht einer vollkommenen und ganzheitlichen sozialen Befriedigung immer im Wege, wohingegen die Auflösung dieser Strukturen zwar befreiende und erfüllende, aber auch bedrohliche und zerstörerische Dimensionen hat. Turner hat auf die Bedeutung der Untersuchung dieser strukturlosen Phasen verwiesen, um die Momente gesellschaftlicher Veränderungen und des Entstehens neuer Werte und Ideale besser fassen zu können.79 Mit dem Begriff der Communitas, dem lateinischen Wort für Gemeinschaft, bezeichnet Turner ursprünglich eine Seinsform mit liminaler bzw. liminoider Qualität, die jedoch nicht unbedingt oder ausschließlich der hierarchischen Sozialstruktur gegenübersteht. Auch diesen Begriff hat Turner aus der Untersuchung vormoderner, tribaler Gesellschaften abgeleitet. Er bezieht sich jedoch nicht auf Rituale oder rituelle Übergänge, sondern auf gemeinschaftsbildende Strukturen, die die hierarchische Struktur der Gesellschaft gewissermaßen unterlaufen oder die 78 Vgl. Turner, Ritual, 1989. 79 Victor Turner: Das Liminale und das Liminoide in Spiel, „Fluß“ und Ritual. Ein Essay zur vergleichenden Symbologie. In: Ders.: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt/Main 1989.
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parallel existieren und eine andere, aber ebenso wichtige Form von Gemeinschaft darstellen. Turner verdeutlicht dies zum Beispiel anhand von Gesellschaften, deren soziales Gerüst auf der Vererbung von Besitz, Status, Privilegien, Pflichten etc. über die männliche Abstammungslinie beruht, wohingegen über die strukturell inferior erscheinende weibliche Linie eine Ausbildung sozialer Gemeinschaft erfolgt, die Klangrenzen überschreitet und die für die verbindende, spirituell-religiöse Ebene der Gesellschaft entscheidend ist. Hier entstehen Bindungen jenseits der gesellschaftlichen Positionen und Pflichten und damit eine größere und umfassendere Gemeinschaft, die das politisch-rechtliche System der Gesellschaft durchdringt und eine existenzielle und spirituelle Dimension aufweist. Die Grenzen und Begrenzungen der Sozialstruktur werden also aufgeweicht bzw. unterlaufen. Diese Form der Gemeinschaft bezeichnet er als Communitas. Sie ist gleichzeitig Gegenmodell zur hierarchisch funktionierenden Sozialstruktur, existiert aber dennoch innerhalb dieser Sozialstruktur als eine dauerhafte und umfassende Gemeinschaftsform mit Elementen des Liminalen und Liminoiden. Ihre Funktion ist es, der strukturellen Zergliederung, also den sozialen Trennlinien in der Gruppe entgegenzuwirken. Die strukturelle Unterlegenheit geht dabei mit einer gewissen moralischen oder religiös-spirituellen Überlegenheit einher, die von den Mitgliedern der Gesellschaft akzeptiert wird. Turner geht davon aus, dass alle Gesellschaften solche Phänomene strukturloser Gemeinschaftsformen hervorbringen. Es scheint daher, dass CommunitasErscheinungen eine Dimension jeder strukturierten menschlichen Gemeinschaft sind. Die Struktur liefert die Denk- und Ordnungssysteme zur Regelung des öffentlichen Lebens, wohingegen Communitas existentielle Qualitäten hat, das Ganzheitliche betont wird und reine menschliche Verbundenheit besteht, ganz ohne Abhängigkeitsverhältnisse durch Rollen und Ämter. Communitas wird nur sichtbar oder verständlich in der Gegenüberstellung mit (Sozial-)struktur, denn da sie ihrem Wesen nach dem Bereich des Unbestimmten, des Außergewöhnlichen und Regellos-Chaotischen angehört, ist sie auch schwer exakt definierbar. In (post)modernen Gesellschaften findet man Communitaserscheinungen meist in den Lücken innerhalb der Sozialstruktur, an ihren Grenzen und Rändern oder auf ihren niedersten Stufen – sie sind also strukturell unbedeutend oder gar rechtlos. Dies betrifft nicht nur Gruppen von Menschen, sondern kann sich auch auf Einzelpersonen beziehen, die außerhalb der Gesellschaft stehen. Communitas bietet ähnlich wie die liminale Phase im Übergangsritus einen Raum der Unbegrenztheit, in dem symbolische Welten entstehen können, die die Voraussetzung für die Entwicklung von Kunst, Religions- oder Philosophiesystemen sind. In der Ausrichtung auf eine existenzielle, gemeinschaftliche (auch transzendente) Erfahrung stehen nicht Bestand und Dauer der strukturellen Notwendigkeiten im Vordergrund, sondern ständige Reflexion und Neudefinition des
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Verhältnisses des Menschen zur Gesellschaft, zur Natur und Kultur. Der Mensch wird somit zum Denken und Handeln angeregt, denn da Communitas nicht auf Regeln und erlernten Mustern beruht, bietet sich hier die Möglichkeit zur völligen Neuschöpfung. Ihr wohnt ein lebendiges, kreatives Potential inne, das in keine bestimmte Richtung weist. Alles scheint möglich zu sein – und dies ist wiederum eine Eigenschaft des Liminalen – weshalb die Communitaserfahrung oft mit dem Gefühl von übermenschlicher Kraft einhergeht (in den von Turner untersuchten Stammesgesellschaften mit mystischen Kräften, Verbindung zu Gottheiten, Dämonen usw.). Auch die totale Konfrontation menschlicher Identitäten, Freiheit, Gleichheit und auch mystische, ekstatische Zustände sind Attribute von Communitas, die sie immer wieder für Einzelne oder bestimmte Gruppen als ideale und universelle Form menschlicher Gemeinschaft erscheinen lässt. Turner hat daher auch Verstetigungsprozesse untersucht, die ebenso ein Kennzeichen von Communitaserscheinungen sind. Verstetigung und Strukturierung stehen jedoch im Widerspruch zu den Kerneigenschaften von Communitas. Der Versuch der Verstetigung führt in der Regel zum Ende von Communitas, da dies eine Differenzierung mit sich bringt, die die Gleichheit bedroht. So gehen einstmalige Communitasbewegungen in normengeleitete, strukturierte Beziehungen über, womit sich der Communitas-Charakter praktisch auflöst. Die Vorstellung von einer globalen, homogenen Communitas wäre also utopisch. Sie ist eine Überbetonung von nur einem Gesichtspunkt menschlicher Gesellschaft, der ohne das Gegengewicht des anderen zu einem Ungleichgewicht führen würde. Ebenso führt Überbetonung von Struktur zu teilweise aggressiven Erscheinungsformen von Communitas, die oftmals direkt gegen das Gesetz gerichtet sind. Turner unterscheidet drei Formen der Communitas: 1. die existenzielle/spontane Communitas, 2. die normative Communitas, 3. die ideologische Communitas. Die existenzielle/spontane Communitas ist die eigentliche und intensivste Form der Communitas, sie hat am stärksten liminale Qualitäten, d. h. sie ist ihrem Charakter nach vergänglich (so wie das Liminale eben einen Zeitabschnitt markiert, eine Passage). Dieser Zustand ist nicht aufrechtzuerhalten, er mündet bis zu einem gewissen Grade immer in Struktur, zumeist an dem Punkt, an dem die Selbstdefinition einer Gruppe und die Abgrenzung nach außen erfolgt. Damit geht die ursprünglich existentielle Communitas über in die normative Communitas, die im eigentlichen Sinne bereits Struktur ist, da sie von Dauer ist. Dauer wiederum macht soziale Kontrolle und Organisation notwendig, sie setzt Wiederholung voraus und damit auch Institutionalisierung. Die 3. Form, die ideologische Communitas, ist der Versuch, die positiven Eigenschaften und Bedingungen existentieller Communitas so zu formulieren, dass sie auf die ganze Gesellschaft anwendbar sind, also als Gesellschaftsmodell dienen können. Diese trägt Züge der Utopie, denn Communitas beruht auf persönlichen, konkreten Bezie-
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hungen zwischen den Menschen, die ab einer bestimmten Größenordnung nicht mehr zu realisieren sind. Der Begriff lässt sich sehr gut auf die Texte von Clemens Meyer und Jana Simon anwenden und ermöglicht es, auf die Adoleszenzdarstellungen als eine bestimmte Form von Gemeinschaft zu fokussieren, denn in beiden werden Phänomene beschrieben, die Elemente einer Communitaserfahrung beinhalten. In beiden Erzählungen geht es um temporäre ekstatische Zustände (Gewalt, Drogen), die mit Übergangsprozessen zu tun haben (Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter, Übergang von einer Gesellschaftsform in eine andere). Die wesentlichen Aspekte der Communitas sind in diesem Zusammenhang ihre existenzielle und gemeinschaftsbildende Dimension, ihre strukturelle Inferiorität (oft im Verbund mit moralischer Überlegenheit) sowie die Ummöglichkeit der Verstätigung dieses Zustandes. Durch die geschilderte Gleichzeitigkeit mit der turbulenten Zeit um den Mauerfall als Phase der Anarchie, Unordnung und Neuorientierung, die in Meyers und Simons Texten unauflösbar mit der individuellen Adoleszenzthematik verstrickt ist, erscheint das Erleben der Jugendlichen als Form einer potenzierten Communitaserfahrung.
2.4 Clemens Meyer: Als wir träumten (2006) Gleichzeitigkeiten: Wende und Adoleszenz Clemens Meyers 500 Seiten starker Roman erzählt von einer Clique Leipziger Jungen und ihrer Wahrnehmung der Wendejahre. Berichtet wird aus Sicht des Ich-Erzählers Daniel Lenz (Danie), wobei der Text zwischen verschiedenen Erinnerungsebenen wechselt und nicht chronologisch vorgeht. Geschildert werden Kindheitserlebnisse aus der DDR-Zeit sowie Erinnerungen an die ersten Jahre nach 1989, als die Jungen langsam erwachsen werden und mehr und mehr in die Drogenszene geraten. Dabei wird eine Entwicklung deutlich: Aus den Kindern werden gewaltbereite Halbkriminelle und Drogenabhängige, die am Rande der Gesellschaft leben, teilweise ins Gefängnis müssen oder durch Drogen und Gewalt sterben. Schauplatz ist die desolate Leipziger Vorstadt und ein proletarisches Milieu. Die Ereignisse der Wende, wie z. B. die Montagsdemonstrationen, sind dabei im Hintergrund präsent, werden jedoch erzählerisch nicht exponiert. Im Zentrum stehen die adoleszenten Erlebnisse der Clique, wie Mutproben, sexuelle Erfahrungen, Drogenrausch, illegale Autorennen oder Gefängnisaufenthalte. Dass in diesem Roman die gesellschaftliche Wende von 1989 und das Erwachsenwerden der Protagonisten im Sinne einer doppelt liminalen Phase für die Romanfiguren eine unauflösbare Einheit bilden, lässt sich anhand bestimmter wie-
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derkehrender Motive der Gleichzeitigkeit nachvollziehen. Immer wieder wird eine erzählerische Verknüpfung geschaffen zwischen den massiven gesellschaftlichen Veränderungen dieser Zeit und dem Ende der Kindheit der Figuren. Sie sind nicht nur in einem Alter, in dem der Einflussbereich der Eltern kleiner und das soziale Umfeld größer wird: Die Gruppe der Gleichaltrigen erlangt nun mehr Bedeutung für die subjektive Entwicklung, sie treten aus dem Erfahrungsraum der Familie heraus in eine soziale Gemeinschaft, die nach anderen Regeln funktioniert. Gleichzeitig sind sie Zeugen des gesellschaftlichen Umbruchs von Wende und Mauerfall, sie erleben einen ganz ähnlichen Prozess der Öffnung und Neuorientierung auf der Ebene der gesamten Gesellschaft. Die Romanhandlung ist genau in diesem Moment des doppelten liminalen Übergangs angesiedelt, wie verschiedene Textmerkmale verdeutlichen. Es geht, wie gleich im ersten Kapitel klar wird, ausdrücklich um „die Zeit nach der großen Wende“ in „Leipzig“, d. h. um einen für den politischen Umbruch symbolträchtigen Ort, und um die Wahrnehmung dieser Zeit durch Jugendliche, denn das konkrete Alter der Protagonisten wird genannt: „Wir waren um die fünfzehn damals.“80 Die gleichzeitig vom Erzähler gestellte Frage „ist man mit fünfzehn auch noch Kind? “ verdeutlicht die eigentliche Kernproblematik, denn es lässt sich im Nachhinein nicht mehr ausmachen, wann genau sich die entscheidenden Veränderungen zwischen Pubertät und Erwachsensein aber auch zwischen dem Ende des einen und dem Beginn des anderen Gesellschaftssystem vollzogen haben. Fokussiert wird auf den Übergang an sich als eine Phase der Ambivalenz, in der verschiedene Dinge parallel existieren. Physische, psychische und soziale Veränderungen finden für die Adoleszenten gleichzeitig statt, wie z. B. eine Szene mit Walter zeigt, in der beschrieben wird, wie er mit seinen Freunden im Erotikmagazin Praline blättert. Der Erzähler bemerkt dazu, dass Walter unter seinem Hemd ein Micky-Maus-T-Shirt trägt und dass seine Freunde ihn auslachen würden, wenn sie es sähen. Walter ist weder ein Kind noch ein Mann und doch beides gleichzeitig. Seine noch vorhandene Kindlichkeit steht zudem in krassem Gegensatz zu seiner angehenden Männlichkeit, denn diese ist als gewaltbereit und kriminell codiert: „er liebt Micky Maus, obwohl er ganz gut Autos knackt.“ (69) Die Widersprüchlichkeit der Phase kommt in diesen Gleichzeitigkeiten zum Ausdruck, und das auch bezüglich der gesellschaftlichen Ebene. Die Nennung von Symbolen westlicher Warenwelt (Micky Maus, Praline) verortet das Geschehen im zeitlichen Kontext kurz nach der Wende, als sich auch die vertrauten Koordinaten der All80 Im Roman wird das genaue Geburtsdatum des Protagonisten genannt, als dieser in Polizeigewahrsam muss. Dort weist er sich aus mit: „,Daniel Lenz, geboren zwanzigster elfter neunzehnhundertsechundsiebzig in Leipzig‘“. (197)
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tagskultur zu verändern beginnen. Das Ende der Kindheit der Protagonisten wird als das Verschwinden einer Sinnwelt dargestellt. Ein Textsymbol dafür ist die Leipziger Premium Pilsner Brauerei. Sie ist in den Jahren nach der Wende „Mittelpunkt unseres Viertels und unseres Lebens“ und „Ursprung (…) endloser Zerstörungsorgien und Tänze auf Autodächern während der Bockbiersaison“, wie der Erzähler behauptet. (7) Die Brauerei steht damit sowohl für das wichtige Textmotiv der Entgrenzung durch Rausch und Gewalt als auch für das Ende der unschuldigen Kindheit, das gleichzeitig das Ende der DDR ist, denn kurz zuvor war der wichtigste Bezugspunkt ihrer Kindheitswelt noch ein VEB-Betrieb, der nun nicht mehr existiert: „als wir liebe Kinder waren, war der Mittelpunkt des Viertels für uns der große ,Volkseigene Betrieb Duroplastspielwaren und Stempelsortimente‘“. (8) Mit der Wende verschwindet der Spielzeugbetrieb sowohl als realer Industriebetrieb als auch im altersgemäßen Bedeutungshorizont der mittlerweile jugendlichen Protagonisten. Das Verschwinden der alltagskulturellen Sinnwelt wird jedoch nicht durch Erzählerkommentare erklärt oder bewertet. Der Erzählfokus ist auf die Nahwelt gerichtet, auf den Alltag der Jungen. Es wird aus ihrer pubertären Perspektive berichtet und ein kindlich unwissender Blick auf tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen inszeniert. Der implizite Leser weiß jedoch um die eigentliche Tragweite der Ereignisse, was die kindliche Unschuld der Protagonisten nochmals hervorhebt. Bei der Beschreibung der nur am Rande erwähnten Montagsdemonstrationen in Leipzig offenbart sich die ganze kindliche Naivität der Protagonisten, denn sie gehen dort aus reiner Abenteuerlust hin, weil da „Bullen“ sind und „was los“ ist. Die politische Dimension der Ereignisse bleibt ihnen völlig verschlossen, sie wollen einfach nur dabei sein: „Ich hab noch ne Fahne zu Hause“, sagte Mark, „vom Ersten Mai, ‘ne Pionierfahne …“ „Ne, ich glaub das passt nicht.“ „Wieso, im Fernsehen, da haben die auch alle Fahnen.“ (422/424) Auch in der Schule nehmen sie Veränderungen war, ohne den politischen Kontext zu durchschauen. Der Erzähler beobachtet, dass am Ende der 1980er Jahre in seiner Klasse mehr und mehr Mitschüler verschwinden und deren Plätze plötzlich leer bleiben, weil sie ,in den Westen sind‘. Auch die Lehrer verhalten sich anders. Als der aggressive Rico einem Pionierleiter vor Wut ein Stück von der Nase abbeißt, weil dieser seine West-Comics konfiszieren wollte, behauptet der Erzähler lediglich: „Rico (ist) nur deshalb nicht von der Schule geflogen (…), weil es kurze Zeit später keine Pioniere und keine Pionierleiter mehr gab.“ (12) Das Verschwinden von Pionieren und Pionierleitern wird in keiner Weise vom Erzähler kommentiert, wodurch der gesamte gesellschaftliche Kontext, der zu diesem Verschwinden geführt hat, aus dem Blick gerät: Es gab bestimmte Dinge einfach plötzlich nicht mehr. Durch diese Erzählweise werden die Veränderungen im Alltag zwar spürbar, doch ohne dass für die Geschehnisse kausale erzählerische
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Verknüpfungen mit dem Mauerfall hergestellt werden. Ähnlich verhält sich dies auch mit anderen alltagskulturellen Beschreibungen, besonders bezüglich der Konsumkultur. Die Erzählinstanz reflektiert nicht über die Hintergründe dieser Veränderungen. Auch hier wird eine Phase des Nebeneinanders von alt und neu beschrieben, denn plötzlich gibt es viele neue Konsumgüter, ohne dass die alten verschwunden wären. Bereits im ersten Kapitel fällt dies auf: Es werden zahlreiche Produkte genannt, die für die westliche Warenwelt stehen: bunte Autos, Holsten Pilsner, Jägermeister. (7) Diese werden kommentarlos neben die alte Warenwelt und die Symbole der DDR-Kultur gestellt, wie VEB, Pionierehrenwort oder Stroh 80. Es lassen sich keine Bewertungs- oder Distinktionsstrategien finden, die neue Warenpalette wird als selbstverständlich hingenommen. Dies betrifft z. B. auch den häufig konsumierten Alkohol. Es geht viel mehr ums Trinken an sich, denn die namentliche Aufzählung von Marken, wie sie für popliterarische Texte als Archivierungsstrategie und generationelles Distinktionsmerkmal beschrieben wurde, greift hier nicht wirklich.81 Es wird unterschiedslos alles getrunken und die Möglichkeit der Distinktion zwischen Ost- und Westprodukten (Goldblatt, Stroh 80 und Apfelkorn) liegt beim Leser. Die Nennung von Marken dient bei Meyer nicht der ironischen Distanzierung und bewussten Reflexion kultureller Veränderungen, wie es z. B. bei dem etwas älteren Autor Jakob Hein der Fall ist. In dessen autobiografisch gefärbtem Roman Mein erstes T-Shirt aus dem Jahr 2001 wird der Umgang mit der westlichen Warenwelt aus Sicht eines pubertären Jungen ganz anders beschrieben. Allein der Titel ist diesbezüglich aufschlussreich. Mein erstes T-Shirt ironisiert kulturelle Unterschiede, denn es geht nicht um irgendein erstes T-Shirt, sondern um das erste aus dem Westen, was daran deutlich wird, dass der Begriff T-Shirt statt dem DDR-Wort Nikki verwendet wird – eine Bezeichnung, die mit der Verbreitung der neuen westlichen Warenkultur verschwindet. Mein erstes T-Shirt erinnert ebenso an den bekannten TITANIC-Titel vom November 1989: Zonengabi (17) im Glück (BRD): Meine erste Banane, wobei Zonengabi eine geschälte Gurke in der Hand hält. Heins Titel thematisiert den ersten Kontakt mit westlichen Waren und die Wahrnehmung von Differenzen, d. h. auch ein politisches Bewusstsein. Hein arbeitet grundsätzlich stark mit dem Stilmittel der Ironie und erzählt DDRKindheit als Farce. Diese Ironie drückt jedoch eine Distanz aus, die bei Meyer nicht zu finden ist. Meyer erzählt den Übergang von naiv-kindlicher Unschuld ins Erwachsensein, der gleichzeitig von einem unmerklichen und doch tiefgreifenden kulturellen Wandel begleitet ist. Alles erscheint neu und aufregend und wird ungefiltert aufgenommen. Als Danie und ein Schulfreund das erste Mal eine Mikro81 Vgl. Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München 2002.
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welle ausprobieren, ist sie ein Faszinosum, mit dem die Jungen nicht recht umzugehen wissen. Sie ergehen sich in kindlichen Phantasien über die Strahlen im Inneren der Mikrowelle und deren vermutete Wirkungsweise auf die Pizza, die sie versuchen zu erwärmen – und letztlich mit Löffeln essen müssen. Die Mikrowelle ist neu und spannend, doch über ihre Herkunft und ihre implizite Bedeutung als Symbol der neuen westlichen Konsumkultur macht der Text nur insofern eine Aussage, als dass dies für die Kinder einfach neu, fremd – und irgendwie egal ist. Es geht hier weniger um kulturelle Umlernprozesse der Ostdeutschen oder damit einhergehende Unsicherheiten und befremdliche Erfahrungen, sondern vielmehr um kindliche Neugier. Dementsprechend gehen die Protagonisten auch umstandslos über zum eigentlich spannenden Thema: den Pornomagazinen im Nachtschrank des Vaters, deren noch viel stärkere Symbolkraft für den Einzug der westlichen Warenwelt für den Leser zwar nicht zu übersehen ist, im beschriebenen pubertären Wahrnehmungshorizont der Jungen jedoch mit Ost und West nicht viel zu tun hat. Die Figuren in Meyers Roman haben kein Wissen um die gesellschaftlichen Zusammenhänge und auch kein Interesse daran. Sie erklären sich die zahlreichen für sie gleichzeitig stattfindenden Veränderungen mit: „Is eben alles neu.“ (65) Der inszenierte kindliche Blick steht hier also nicht im Dienste der Ironisierung und Distanzierung durch die Erzählinstanz wie z. B. bei Jakob Hein (oder auch Daniel Wiechmann). Bei Meyers Figuren geht es stärker um die Darstellung einer Wahrnehmung des Umbruchs in seiner Alltäglichkeit. Die politischen und kulturellen Veränderungen bestimmten zwar den Alltag der Jungen, aber die Erzählinstanz ironisiert, kommentiert und wertet nicht, erzählendes und erlebendes Ich scheinen nah beieinander. Dies lässt den Eindruck eines fehlenden Erklärungszusammenhangs entstehen. Jana Hensel hat in ihrer Laudatio zu Meyers Roman die Wende in seinem Text ein „unsichtbares, aber dennoch nicht zu übersehendes Scharnier“82 genannt, was dieses Phänomen zum Ausdruck bringt. Denn wiedergegeben wird die Perspektive von Kindern bzw. Jugendlichen, die viel mehr mit ihren persönlichen Problemen ihres Alters beschäftigt sind. Der politische Umsturz wird aus der Perspektive der Protagonisten nur in den eher schleichenden Veränderungen ihres persönlichen alltagskulturellen Umfelds sichtbar; das hintergründige Gefühl für das Ausmaß des Einschnitts ergibt sich für den Leser aus dem Kontextwissen. Dabei werden soziale Verwerfungen sichtbar, die jedoch durch die Protagonisten nicht wahrgenommen werden.
82 Jana Hensel: Von einem, der übrig geblieben ist. Laudatio auf Clemens Meyer, Heidelberg 2007, (https://www.fischerverlage.de/sixcms/media.php/308/Hensel.pdf).
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Entgrenzungen I: Gewalt und Rausch Die Darstellung der Gleichzeitigkeit von Wende und Adoleszenz als doppelt liminaler Phase wird im Roman von einer ausgeprägten Poetik der allumfassenden Entgrenzung als dem entscheidenden Merkmal des Liminalen getragen. Das Erfahren und Ausüben von Gewalt spielt dabei eine Hauptrolle. Prügeleien (z. B. mit Neo-Nazis oder im Zusammenhang mit Fußballspielen) sowie der professionelle Boxkampf sind bestimmende Themen. In ihrer Gewalttätigkeit gehen die Protagonisten bis an die Grenzen der physischen Unversehrtheit bzw. überschreiten diese. Die Gewalterfahrungen werden als Rauschzustände beschrieben, die häufig mit Drogen- und Alkoholkonsum einhergehen. Die Gewalt erstreckt sich dabei ebenso auf Dinge (wie gestohlene Autos, Möbel) und zeigt sich als Zerstörungswut: „Ich liebte es, Türen einzutreten.“, behauptet der Erzähler. (404) Zerstörung ist ein weitreichendes Thema im Text, denn das Verhalten der Protagonisten selbst lässt sich ebenfalls als Form der (Selbst-)zerstörung bewerten, da mehrere von ihnen im Verlauf der Erzählung sterben, im Gefängnis oder Drogenentzug landen und dadurch geplante Karrieren (z. B. Ricos professionelle Boxerkarriere) nicht zustandekommen. Das destruktive Verhalten der Protagonisten lässt sich als Mittel der Entgrenzung verstehen. Die Gewalt- und Rauscherfahrungen sind gleichzeitig ekstatisch und zerstörerisch und bringen die Protagonisten in einen Zustand, in dem die Regeln der sozialen Welt nicht mehr gelten und sie selbst als Individuen gewissermaßen ausgelöscht werden. Dies geht ebenso einher mit der Erfahrung übermenschlicher Kräfte – „wir waren die Größten damals“ (251) heißt es mehrfach. Nivellierung sozialer Positionen und mystisches Einheitserleben sind kennzeichnend für liminale Phasen. Dass der Text eine liminale Phase thematisiert, zeigt bereits die Struktur des ersten Kapitels. Dieser sehr kurze, aus nur knapp acht Seiten bestehende Textteil mit dem Titel Kinderspiele funktioniert wie ein Prolog für den gesamten Roman oder wie ein Filmtrailer, der das Geschehen in Kürze spannungsreich zusammenfasst und die wichtigsten Personen einführt. Dabei zeigt sich ein Muster. Alle Figuren werden durch Extremerfahrungen und Laufbahnen der Zerstörung charakterisiert. Sie machen wie im Zeitraffer einen beschleunigten Entwicklungsprozess von unschuldiger Kindheit zu ihrem gesellschaftlichen Scheitern als junge Erwachsene durch. Dieses Scheitern wird dadurch bereits proleptisch vorweggenommen, dass in nur wenigen Sätzen das Umkippen einer ekstatischen Rauscherfahrung in verschiedene Formen der Selbstzerstörung geschildert wird. Es werden sechs Figuren eingeführt, die als die wesentlichen handelnden Personen gelten
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können: Fred, Silvio, der kleine Walter, der verrückte Rico, Mark und Estrellita.83 Ihre Einführung in den Text erfolgt in Form von Mikro-Biographien, bei der zunächst eine positive Eigenschaft der Figur genannt wird, um diese dann mit der vorweggenommenen Entwicklung zu kontrastieren, was den Extremcharakter der Geschehnisse unterstreicht. Fred wird eingeführt als jemand, der mit seiner runden Brille zwar aussieht „wie ein lieber Schüler“ (9), jedoch ohne Führerschein geklaute Autos fährt und dessen liebes Schülergesicht schließlich „von der Sauferei graublau geworden ist wie allerfeinster Schimmel“ (9). Mit dem Bild vom lieben Schüler mit schließlich verschimmeltem Gesicht spannt sich ein Bogen von kindlicher Unschuld hin zu Verwesungsmetaphern, die das Ende von etwas symbolisieren sowie auch die hohe Geschwindigkeit dieses Entwicklungsprozesses verdeutlichen, wenn man bedenkt, dass der erzählte Zeitraum nur einige wenige Jahre nach dem Fall der Mauer umfasst. Nicht nur bei illegalen Auto-Rallyes übertritt Fred die gesellschaftlichen Normen – sein Kurzportrait wird zugespitzt auf schockierendes, selbstschädigendes Verhalten: Während er einmal auf Bewährung ,draußen‘ ist und in einer Kneipe von „irgendwelchen(n) Typen“ belästigt wird, verweigert er sich der Provokation, indem er diese Leute schockiert und seine eigene Hand auf der Theke festnagelt: „Dann zog Fred ein Springmesser aus der Tasche, es klackte kurz, die Klinge stand, er legte die Linke auf die Theke und rammte mit der Rechten die Klinge durch seine Hand ins Holz der Bar. ,Ihr dreckigen Mistschwuchteln kriegt mich hier nicht weg!‘“ (11) WEG? Ähnlich extrem sind auch die Verhaltensweisen der anderen Figuren. Freds Bruder Silvio wird als Schachspieler beschrieben, was die Vorstellung eines konzentrierten, rational taktierenden Menschen aufruft. Sein weiteres Verhalten steht jedoch in völligem Gegensatz zu diesem Bild und wird auf den traumatischen Aufenthalt in einem DDR-Kinderheim zurückgeführt, in welchem er angeblich „medizinisch verpfuscht“ (10) wurde. Silvio gebärdet sich auf eine Weise, die an die ekstatischen Zustände während der von Victor Turner beschriebenen Übergangsrituale erinnert: „Außerdem machte sein Gesicht manchmal schreckliche Verrenkungen, er verdrehte die Augen, bis das Weiße grün wurde, und schlug mit dem Kopf immer wieder aufs Schachbrett (ich hatte furchtbare Angst, einer der spitzigen Läufer könnte ihm im Auge stecken bleiben).“ (10) So wie sich Fred durch die Hand sticht, sticht sich Silvio fast ins Auge – beides Akte der Selbstschädigung bzw. Grenzübertritte. Walters Verhalten ist ebenfalls extrem. Er wird als Lebensretter charakterisiert, 83 Lediglich Pitbull (Stefan), eine ebenfalls wichtige Figur, wird nur kurz erwähnt, jedoch nicht näher vorgestellt.
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der dem Erzähler einmal das Leben gerettet hat. Der Erzähler behauptet zudem, er selbst habe Walter „später in einer Nacht zweimal das Leben gerettet“ (9), worin der starke Gruppenzusammenhalt angesichts einer permanenten Todesnähe zum Ausdruck kommt. Walters Leben endet schließlich tatsächlich tragisch bei einem Autounfall, wie im Kurzportrait vorweggenommen wird. Die Charakterisierung seiner Person endet an dieser Stelle jedoch mit einem Blick auf seinen Selbstmordversuch im Rausch, als er versucht, wegen einer unglücklichen Liebe aus dem dritten Stock zu springen, was er zunächst überlebt. Die Figur des Rico wird eingeführt als „der damals noch saubere() Rico“ (9), was seine ursprüngliche Unschuld und eine kommende kriminelle Karriere andeutet – folgerichtig endet sein Kurzportrait mit Verhaftung und Gefängnis. Beschrieben werden Fred und Rico beim nächtlichen Bierklauen in der Leipziger Premium Pilsner Brauerei; dabei werden sie erwischt. Auch die Geschichte von Mark endet drastisch. Er wird als eine vor lauter Drogenkonsum mental abwesende Figur beschrieben, die sich innerlich in einem permanenten Zustand der Entgrenzung befindet – er ist „der halb besinnungslose Mark“ (11), „der motorisch nicht mehr handlungsfähige Mark“ (13) oder an zwei Stellen der „mit Drogen voll gestopfte Mark“ (9 und 11). Sein Kurzportrait endet „irgendwo in einem leeren weißen Zimmer, ans Bett geschnallt, auf Entzug.“ (11) Die einzige Frau in der Clique ist Estrellita, die als Hurenfigur betrachtet werden kann. Auch sie befindet sich in einem Zustand der Entgrenzung und wird mit Attributen wie ,vertrippert, kotzend, schreiend, tanzend‘ beschrieben (12/13). Ihre liminale Ekstase läuft hinaus auf einen schweren Autounfall, nach dem sie fünf Wochen im Koma liegt. Die auf den ersten Seiten des Romans dargestellten Erlebnisse der Figuren lassen sich als Extremerfahrungen fassen, die sie in einen Zustand versetzen, wie Victor Turner ihn für Übergangsrituale beschreibt. Auch die Clique als Gruppe macht Erfahrungen der Liminalität, indem sie sich bewusst in Situationen begibt, in denen es zu einem gemeinsamen Verlust der Ich-Grenzen kommt. Durch eine Kombination aus Rauschmitteln, Gewalt und/oder Beschleunigung (z. B. beim Autofahren) erreichen sie den Zustand der Grenzenlosigkeit, der ebenso mit dem Gefühl unbändiger, übermenschlicher Kräfte einhergeht: „Irgendwas passierte mit uns, wenn wir bei ihm einstiegen, irgendwas ließ uns alle Hemmungen verlieren, wir fühlten eine absolute Freiheit und Unabhängigkeit, die wir nie gekannt hatten und die wir jetzt aus uns herausbrüllten; (…) Das war wie Karussell fahren nach einer Flasche ,Stroh 80‘.“ (9) Die Entgrenzung durch Rausch und Gewalt ist eine ambivalente Erfahrung, die ein Spektrum von Glücksgefühlen (Freiheit, Einheit, Stärke) bis zur Selbstzerstörung abdeckt (Drogensucht, Todesfälle). Im Gruppenerlebnis überwiegen die positiven Seiten der Rauscherfahrung wie Gefühle der Einheit und Stärke. Doch es gibt auch zahlreiche Schilderungen von grenzüber-
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schreitenden Gewalterfahrungen, in denen die Destruktivität der Geschehnisse im Vordergrund steht. Das destruktive, gewalttätige Verhalten der Jugendlichen und ihr intensives, entgrenztes Gemeinschaftsgefühl werden als eingebettet in die sich transformierende Gesellschaft der ersten Nachwendejahre erzählt. Es geht nicht um das klassische Adoleszenzthema der Rebellion gegen festgefügte Strukturen, da sich diese Strukturen selbst in Auflösung befinden. Doch kann auch nicht behauptet werden, dass die Anarchie der Nachwendejahre der alleinige Auslöser für diese Entwicklung, für das Scheitern und die „Verlorenheit“ der Jungen darstellt. Im Text gibt es zahlreiche Hinweise dafür, dass hier auch über strukturelle Gewalt erzählt wird bzw. über Gewalt als intergenerationelles Problem. Die Elterngeneration tritt im Text auffällig wenig in Erscheinung, doch gerade das ist bezeichnend für das Verhältnis zwischen den Generationen. Wiederkehrende Charakteristika sind Alkoholkonsum, Gewaltbereitschaft und zerrüttete Beziehungen. Über die Familienverhältnisse des Erzählers erfährt man, dass seine Mutter in einer Fischfabrik arbeitet und der Vater abwesend ist – er sitzt im Gefängnis, die Mutter erzählt jedoch, er wäre auf einer Weiterbildung. Fast alle der Jungen haben ein problematisches Verhältnis zu ihren Eltern – besonders zu den Vätern. Im Kapitel „Das schwarze Loch“ steht beispielsweise Pitbulls Beziehung zu seinem Vater im Vordergrund, der als „Arschloch“ bezeichnet wird. (96) Auch wenn der Leser nicht viel über die Person von Pitbulls Vater erfährt, dann doch soviel, dass er trinkt und offenbar seine Frau schlägt, wie in diesem Kapitel angedeutet wird. Pitbull, der eigentlich Stefan heißt und Pitbull genannt wird, weil er eine zeitlang einen Pitbull-Terrier besaß, übernimmt das gewalttätige Verhalten des Vaters. Viel später im Text (Kapitel 25) gibt es eine Stelle, die die gegenseitige Gewalt in der Familie zeigt: Pitbulls Vater tötet im Rausch dessen Hund (er wirft ihn aus dem Fenster!), woraufhin Pitbull auf seinen Vater losgeht und ihn brutal zusammenschlägt. Die ganze Szenerie zeigt Zerstörung – die Wohnung ist zerstört (zersplitterte Glastür, kaputte Tür), während Pitbulls Mutter apathisch in der Küche sitzt und ihren Kopf „mitten zwischen die Flaschen“ gelegt hat. (464) Diese Situation in Pitbulls eigener Familie erklärt, warum er heftig auf Gewalt reagiert und auch selbst gewaltbereit ist. Im Kapitel „Das schwarze Loch“ gibt es eine Episode, in der die Jungen Zeugen häuslicher Gewalt bei einem Paar in einem Mietshaus werden. Aus dem Impuls heraus, der Frau helfen zu müssen, dringt Pitbull in die Wohnung das Paars ein und schlägt den Mann zusammen. Die geschilderte Situation ähnelt der in der eigenen Familie – die Wohnung ist zerstört und voller leerer Flaschen, die Frau ist halb bewusstlos und der Mann ebenso, nachdem Pitbull ihn verprügelt hat. Pitbull ist für einen Moment verstört über seine eigene Tat, doch kurz darauf sitzen die Jungs wieder beisammen „und Pitbull macht die Gläser voll.“ (86) Im Text wird eine Genealogie der Gewalt und des Alkoholismus geschildert, die ihre Wurzeln in dem dargestell-
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ten Ausschnitt der ehemaligen DDR-Gesellschaft hat; die zerrütteten Familienverhältnisse sind kein Resultat der Wende und der gesellschaftlichen Umwälzungen der frühen 1990er Jahre wie Arbeitslosigkeit und Unsicherheit, die im Text auch anklingen, sondern eine bereits bestehende gesellschaftliche Problematik wird offenbar nach 1989 potenziert. Gillian Pye hat ebenfalls darauf hingewiesen, dass hier eigentlich keine ausschließlich durch die Wende verunsicherte und geschwächte Elterngeneration dargestellt wird, die aus diesem Grunde keinen Halt bieten kann. Hier wird vielmehr gezeigt, dass die Elterngeneration bereits schwach war. Die politischen Ereignisse sind zudem im Erlebnishorizont der Eltern kaum von Bedeutung, zu sehr sind sie mit ihren persönlichen Problemen beschäftigt. Auch darin liegt eine Erklärung, warum die Wende im Roman als „unsichtbares Scharnier“ ( Jana Hensel) erscheint, denn es wird ein politisch passives Milieu beschrieben, für das – zumindest in der Perspektive des jugendlichen Erzählers – die Wende nicht von großer Bedeutung zu sein scheint. Ähnlich schätzt Susanne Bach das Generationenverhältnis ein und sieht darüber hinaus in Meyers Als wir träumten thematische Querverbindungen zu Romanen wie Das Mädchen von Angelika Klüssendorf und Scherbenpark von Alina Bronsky, in denen es auch um Gewalt und emotionale Kälte in der Unterschicht der späten DDR gehen würde.84 Sie analysiert u. a. die Kontinuität zwischen den Generationen, d. h. zwischen Vätern und Söhnen, und kommt gar zu dem Schluss, 1990 würde hier so wenig Einfluss auf die Gesellschaft in dem Leipziger Vorort haben, dass die Darstellung der generationenübergreifenden Milieugebundenheit der Figuren im Vordergrund stehe.85 Es ist jedoch fraglich, inwieweit bei Meyer wirklich Aussagen über die ,Unterschicht‘ der späten DDR gemacht werden sollen, oder ob dies nicht auch ein Eindruck etwas exotisch anmutender Armut ist, der durch eine westliche Perspektive auf die spätsozialistische Lebensweise entsteht, obwohl es eigentlich um relativ verbreitete Erfahrungen geht. Jana Hensel – als Kommentatorin aus dem Osten – sieht zumindest im Roman keine ,Milieu-Studie‘ sondern ausdrücklich ein Stück DDR-Normalität dargestellt: „Wie die anderen Jungen auch entstammt Daniel nämlich eigentlich einer ganz normalen Familie. Zumindest halbwegs so normal, wie wir sie uns landläufig denken können, wenn die Eltern ab und zu ein Gläschen heben und mit dem Sohn samstagnachmittags ins Fußballstadion gehen, um danach auch noch ein Gläschen zu heben. Auch die anderen Jungen stammen keinesfalls aus Unterschichtenfamilien, wie wir ein bestimmtes Milieu, (…) in jüngster
84 Susanne Bach: Wende-Generationen / Generationen-Wende. Literarische Lebenswelten vor dem Horizont der Wiedervereinigung, Heidelberg 2017, S. 103. 85 Ebd., S. 142 ff.
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Zeit und in den öffentlichen Debatten genannt haben.“86 Der Roman bildet vielmehr eine Realität der späten DDR-Gesellschaft ab, die durch die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse nach der Wende aus einer anderen Perspektive erscheint. Die Motivkette der Entgrenzungen durch Gewalt und Rausch steht im Dienste der Darstellung des Übergangs der Protagonisten von DDR-Kindheit zu BRDErwachsensein, der als Phase gesteigerter Liminalität beschrieben wird. Der Übergang gelingt jedoch nicht, denn die meisten Figuren scheitern in ihren Lebensentwürfen oder gehen an der Intensität der Entgrenzungserfahrungen zugrunde. Die geschilderte Entfesselung der Gewalt ist dabei Merkmal der liminalen Erfahrung. Doch wird ebenfalls deutlich, dass die Gewalt strukturelles Element der beschriebenen Gesellschaft ist. Die Entgrenzung durch die politische Wende ist somit nicht alleiniger Auslöser für die einsetzende Destruktivität, sondern bewirkt eher eine Potenzierung generationell vererbter Muster der Gewalterfahrungen und Gewaltbereitschaft. Entgrenzungen II: Dunkelheit, Nacht, Traum Auf der metaphorischen Ebene spielt die Nacht eine auffällige Rolle, und zwar im Zusammenhang mit der Welt des Traums als auch mit einer Bildlichkeit des Dunklen. Bereits der Titel Als wir träumten lässt auf eine hervorgehobene Bedeutung des Traummotivs schließen. Martin Jörg Schäfer hat in seinem Artikel „Die Intensität der Träume“ ebenfalls auf die Bedeutung des Traummotivs bei Meyer hingewiesen.87 Der Traum lässt sich auch als eine Form der Entgrenzung betrachten, denn die fühlbare Grenzenlosigkeit im Traum steht für ein Erleben, das Elemente des Liminalen beinhaltet: Die Regeln der bekannten Welt sind aufgehoben, es gibt Irrationales, Verkehrtes und keinerlei Hierarchien oder Sicherheiten. Im ersten Kapitel ist mehrfach von einem Traum die Rede, und zwar in Verbindung mit dem Wort Nacht. Es sind also keine Tragträume gemeint. Der nächtliche Traum symbolisiert die Aufhebung der Regeln von Bewusstsein und Willen und steht für das potenziell grenzenlose Unbewusste, das sich in der Welt des Nachttraums manifestiert. So spricht der Erzähler in seiner Erinnerung an diese Zeit von „seltsam traumartigen Flugnächte(n)“ oder sagt: „Es war eine Nacht wie ein Traum.“ (7, 12) Das Motiv des Fliegens – als Anspielung an fliegende Teppiche in der Beschreibung von Autos, die sich durch Alkoholkonsum in „Flugmaschinen“ (7) verwandeln – veranschaulicht wie kaum ein anderes einen Raum ohne jegliche Grenzen und ohne Halt. Der nächtliche Traum ist sowohl befreiend ent86 https://www.fischerverlage.de/sixcms/media.php/308/Hensel.pdf, S. 5/6. 87 Martin Jörg Schäfer: Die Intensität der Träume. Clemens Meyers Poetik des Kinos. In: LiLi 43/2013, Heft 170, S. 53–66.
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grenzend und als auch bedrohlich entgrenzend, denn dem „Spaß“ (14) der Entgrenzung werden immer auch ihre Gefahren gegenübergestellt – die gefühlte „Verlorenheit“. (14) Der Traum als Entgrenzungsmetapher deutet auf den ungewissen, nicht steuerbaren Verlauf des Geschehens im Sinne einer vulnerablen, liminalen Phase hin, deren Spektrum von Ekstase bis Orientierungsverlust reicht. Auch die Metaphorik von Nacht und Dunkelheit lässt sich in diesem Sinne interpretieren. Nacht und Dunkelheit stehen für einen sowohl umhüllenden als auch bedrohlichen Raum, in dem die Regeln der bekannten Welt des Tages nicht gelten. Die Protagonisten stehen der Dunkelheit als etwas Ungewissem gegenüber: Das Buchcover der Taschenbuchausgabe von 2007 ist komplett schwarz und zeigt im unteren, rechten Bildrand einen in schwach grünlichem Licht beleuchteten Boxer im Ring, der dort in typischer Boxerpose steht. Er ist im Profil abgebildet und boxt aus dem Bildausschnitt hinaus, wo sich für den Betrachter unsichtbar ein Gegner zu befinden scheint. Die Abbildung zeigt nicht nur einen Kampf gegen einen nicht sichtbaren Gegner, sondern greift ebenso die Überwertigkeit dunkler Räume im Text auf, die das Gefühl, ins Leere zu boxen oder sich allein in einem leeren, dunklen Raum zu befinden, verstärken. Anhand des erzählerischen Umgangs mit den Lichtverhältnissen im Roman lässt sich diese Motivkette von Leere und Dunkelheit weiterverfolgen. Ein Kapitel des Buches ist betitelt mit: Das schwarze Loch.88 So nennen die Protagonisten den entlegenen und heruntergekommenen Stadtteil, in dem die Handlung dieses Kapitels teilweise spielt. Im Kapitel werden verschiedene exzesshafte und grenzüberschreitende Aktionen der Jungen beschrieben. Sie brechen betrunken in einen Lottoladen ein, der im besagten Viertel liegt, und stehlen dort was sie finden können. In einer anderen Episode helfen sie einer alten Frau auf ihre Bitte hin für etwas Geld beim Kohlentragen in den vierten Stock. Daraus entwickelt sich eine doppelbödige Beziehung: Sie tragen nun regelmäßig die Kohlen für „die Alte“ hoch und leisten ihr Gesellschaft, doch bestehlen sie sie auch heimlich und trinken reichlich von ihrem Alkohol. Sie stellen sogar die Klingel aus, da auch andere Cliquen versuchen, die Situation für sich auszunutzen. Um der „Alten“ einen Gefallen zu tun, fahren sie mit ihr auf den Nordfriedhof zum Grab ihres verstorbenen Mannes. Sie alle sind minderjährig und fahren betrunken mit gestohlenem Auto am helllichten Tag durch die Stadt, am Grab betrinken sie sich mit Schnaps. Diese Grenzüberschreitungen sind adoleszente Mutproben, in denen sie Freiheit und Allmacht erleben. Das titelgebende schwarze Loch bildet dabei einen erzählerischen Rahmen, der die Entgrenzungsthematik verstärkt. Es bezeichnet nicht nur das Viertel, in wel88 Meyer, S. 67–111.
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chem sich der Lottoladen befindet, sondern die Charakteristika dieser Gegend werden auf ganz Leipzig-Ost bezogen als ein Gebiet, das von Verfall, Zerstörung und Leerstand geprägt ist: „Wir nennen das Viertel vor der Messe „das schwarze Loch“, weil dort jede Menge Häuser leer stehen und verfallen, die Leute verschwinden einfach, und auch fast alle Straßenlaternen sind tot. Eigentlich ist’s wie in unserem Viertel, in Reudnitz, und wie überall in LeipzigOst, (…)“ (67)
Damit wird der Handlungsort dieses Kapitels ausgedehnt und bestimmt als ein dunkler (die Straßenlaternen sind tot) sowie bedrohlicher Raum (Menschen verschwinden), was als Motiv im Folgenden fortgeführt wird, denn ähnliche Beschreibungen finden sich mehrfach: „Die Straße ist ziemlich dunkel, weil die meisten Laternen kaputt sind.“ (99) Die Dunkelheit dominiert das Kapitel. Zahlreich sind die Szenen, in denen Licht an und ausgemacht wird oder das Licht von selbst ausgeht (92), und zwar besonders im Keller und Treppenhaus der „Alten“ (72): „Das Licht geht aus, aber wir machen es nicht wieder an und laufen im Dunkeln nach unten.“ (79) Die Erzählinstanz fokussiert auf die Lichtverhältnisse, wodurch diese dem Leser ins Bewusstsein rücken. So heißt es beispielsweise an einer Stelle „alle Fenster sind dunkel“ (99) oder in nur „wenigen Fenstern ist Licht“ (100). Der dunkle Raum der Nacht umhüllt das Geschehen – abgesehen von der taghellen Fahrt zum Friedhof, die in gewisser Weise jedoch auch mit der Hell-DunkelMetaphorik spielt, da die Fahrt zu einem Ort führt, der sich wiederum mit Tod und Dunkelheit assoziieren lässt und an dem Menschen für immer verschwinden. Auffällig oft werden Räume lediglich mit Feuerzeugen erhellt (101) – ein Bild, bei dem ein kleiner Lichtschein die umgebende grenzenlose Dunkelheit erst recht fühlbar werden lässt. Dieses Motiv findet man auch verstärkt im 3. Kapitel über das ehemalige Kino des Viertels, das Palast-Theater, in dem die Verwendung des Feuerzeugs ebenfalls eine starke Symbolkraft entfaltet. Danie klettert in das ausgebrannte, leerstehende Kino auf der Suche nach seinem drogensüchtigen Freund Mark, der hier gelegentlich Unterschlupf findet. Das Kino wird als ein Ort der Zerstörung beschrieben, dessen Wände schwarz und dessen Leinwand zerfetzt ist (49), gleichzeitig symbolisiert es einen Erinnerungsort ihrer Kindheit, als sie dort gemeinsam Filme wie „Winnetou“ schauten. Danie begibt sich also mit seinem Feuerzeug nicht nur in den dunklen Saal, um dort Mark zu suchen, sondern auch, um diesen Raum der Erinnerung zu erhellen. Er bewegt sich durch den dunklen Kinosaal und ruft nach Mark, während er gleichzeitig Momente aus der Vergangenheit imaginiert, in denen er beispielsweise eine Kinokarte kauft oder seine Hand in den Lichtkegel des Filmprojektors hält oder sich an bestimmte Szenen aus Filmen erinnert, wie z. B. die Blutsbrüderschaft zwischen Winnetou und Old Shatterhand, die auf die enge Freundschaft zwischen den Jungen anspielt. Die Suche nach Mark und die Erinnerung an das gemeinsame Filmeschauen wird also
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erzählerisch miteinander verwoben, wobei das Feuerzeug zentral ist, denn es geht immer wieder aus und erschwert den Prozess der Suche nach Mark bzw. der Erinnerung. Es ermöglicht zwar einen Blick in den Raum und damit auch in die Erinnerung, doch da es schnell heiß wird, muss Danie es immer wieder ausmachen. Das geschieht auf wenigen Seiten gleich mehrfach, so dass in der Imagination des Lesers der Raum an sich größtenteils dunkel bleibt.89 Am Ende erscheint wirklich der gesuchte Mark im Kinosaal, doch er möchte im Dunklen bleiben. Der Erzähler sagt: „als ich mein Feuerzeug anmachte und mich umdrehen wollte, sagt er: ,Nein. Bitte, Danie. Mach's aus.‘“ (51) Mark weigert sich, angeleuchtet zu werden, er ist in einem schlechten Zustand. Er verweigert sich auch der Erinnerung – im Dunklen sitzend erzählt Danie ausholend von den alten Zeiten, doch plötzlich spürt er, dass Mark nicht mehr anwesend ist. Als er ihm nachleuchten möchte, ist er im dunklen Raum verschwunden: „,Mark‘, rief ich leise, ,Mark‘, aber er antwortete nicht. Ich machte mein Feuerzeug an und leuchtete zu ihm hinter. Er war verschwunden. Und ich ahnte, nein, ich wusste es, dass ich ihn nicht wieder sehen würde.“ (55) Wie für das schwarze Loch behauptet (,Menschen verschwinden‘), wird auch in diesem Kapitel eine Person von der Dunkelheit verschluckt. Die eben geschilderte Begegnung von Danie und Mark im ehemaligen PalastTheater ereignet sich chronologisch nach der Zeit der Mutproben und Grenzüberschreitungen und stellt den traurigen Endpunkt einer Entwicklung dar, die mit dem Rumhängen bei „der Alten“ und den damit einhergehenden Exzessen beginnt. Die Begegnung im Kino wird jedoch zuerst erzählt, der Leser weiß also bereits um dieses Ende und um Marks Drogensucht, wenn er von der wilden Zeit im Schwarzen Loch liest. Die Abwärtsspirale, in die die Jungen geraten, wird damit angedeutet. Die Symbolik des Schwarzen Loches ist daher ambivalent. In dem Winter, in dem die Jungen notorisch der „Alten“ helfen, funktioniert die lichtlose, verfallene Stadt wie ein dunkler Schutzraum, in dem sich die Protagonisten frei fühlen. Sie verspüren keine Angst im Viertel: „Wir drehen unsere Köpfe, wir blicken in den Himmel, wir blicken in die Nacht, wir sind alleine und haben keinen Schiss.“ (100) Im Schutze der Dunkelheit begehen sie ihre kriminellen Taten und setzen sich ihr aus auf der Suche nach Möglichkeiten der Grenzüberschreitung. Später wird die Dunkelheit bedrohlicher, Mark verschwindet darin. 89 „Unter meinen Füßen knirschten Scherben, ich holte mein Original-Zippo-Sturmfeuerzeug raus und macht es an. Ich stand in einem leeren Raum, nur Filmplakate an den Wänden, (…).“ (48); „(…) dann lief ich mit dem Feuerzeug an der Wand entlang.“ (49); „Das Feuerzeug wurde heiß in meiner Hand und ich machte es aus.“ (49); „Ich machte mein Feuerzeug wieder an und lief die Stufen runter zu den Sitzen.“ (49); „Mein Zippo wurde wieder heiß, und ich stellte es auf den Boden.“ (49); „Mein Feuerzeug ging aus, und ich suchte es im Dunkeln.“ (50)
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Gleichzeitig hat die Dunkelheit auch eine gemeinschaftsstiftende Funktion, die mit dem Erzählen über diese Zeit zu tun hat. Der Roman endet mit einer gewissermaßen archaischen Erzählsituation: „Draußen wurde es dunkel, Fred zündete ein paar Kerzen an, und wir rückten zusammen und aßen und tranken und waren glücklich.“ (517) Die Jungen sitzen also im Schein einer Kerze, gleichsam ums Feuer versammelt, das den dunklen Raum erhellt. Es wird nicht nur zum wiederholten Male ein dunkler Raum mit spärlicher Lichtquelle beschrieben, die Szene erinnert auch an das gemeinschaftliche Erzählen von der Vergangenheit, von Märchen und Mythen, die den Zusammenhalt der Gruppe gegenüber der äußeren Ungewissheit – symbolisiert durch die Dunkelheit – stärken. Communitas als Gegenordnung Die Erlebnisse und der Werdegang der Clique, die der Roman schildert, sind von einem außerordentlichen Gemeinschaftsgefühl gekennzeichnet. Dabei erleben die Protagonisten Verbundenheit und Stärke. Die gesamte erzählte Zeit ihres Erwachsenwerdens erscheint als ein Ausnahmezustand der Liminalität. Das dargestellte Verbundenheitsgefühl in der gemeinsamen Entgrenzung lässt sich in seiner erzählerischen Funktion noch genauer mit dem Communitas-Begriff fassen. Communitas ist ebenso durch liminale Eigenschaften charakterisiert, die jedoch bei Versuchen ihrer Verstetigung mittels Normen und Regeln ihren Sinn verlieren. Ähnliche Prozesse lassen sich im Text beobachten, denn auch die Clique zerfällt am Ende und ihre intensiven Verbundenheitsgefühle sind – wie die ,klassische‘ existenzielle Communitas-Erfahrung im Sinne Victor Turners – nicht von Dauer. Der Versuch der Herausbildung einer Gegenordnung durch die Jungen führt schließlich zur Gründung der illegalen Disco Eastside auf einem leerstehenden Fabrikgelände. Diese Zeit stellt in der Erinnerung des Erzählers einen Kulminationspunkt dar, der besonders deutlich die Eigenschaften das Liminalen aufweist, also den undefinierbaren Status der Protagonisten zwischen Kindheit und Erwachsensein, den Verlust von Zeitgefühl und Realitätsbezug sowie entgrenzende Allmachtsgefühle: „Und auch jetzt noch träume ich oft von der Eastside und der Zeit damals, und es scheint mir, obwohl es nicht mal ein Jahr war, das Jahr der Eastside, und so vieles noch danach kam und schon passiert war, als wäre das die längste Zeit meiner Jugend gewesen, oder waren wir noch Kinder? Und wenn ich von diesem einen Jahr träume oder daran denke, dann weiß ich, wir waren die Größten damals.“ (251)
Die Protagonisten sind stolz darauf, die „jüngsten Discobesitzer der Stadt“ (251) zu sein und feiern jede Menge Parties, doch bald erfolgt der Untergang ihrer gemeinsam erschaffenen Welt. Eine Verstetigung der Gemeinschaft gelingt nicht, denn „alles begann kaputtzugehen“. (264) Martin Jörg Schäfer weist ebenfalls auf diese Facette des Textes hin: „Die gemeinsam erlebten und für ein verlorenes Wir nach-
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erzählten Überschreitungs-, Krisen- und Ausnahmezustände sollen die Bande marginalisierter männlicher Jugendlicher gegen den Rest der Welt zusammenschweißen, ohne jedoch eine Gegenordnung verstetigen zu können.“90 Das ,verlorene Wir‘ ist hier jedoch der zentrale Punkt, denn der Text lässt sich auch als Erinnerungserzählung an dieses außerordentliche Gemeinschaftsgefühl verstehen. Susanne Bach stellt in diesem Zusammenhang für Meyers Erzählweise fest: „Sowohl Daniel als rückblickender Erzähler wie auch die jugendlichen Figuren wirken auf den Leser ungewöhnlich nostalgisch für ihr junges Alter.“91 Sie interpretiert auch den Titel Als wir träumten als Ausdruck nostalgischer Erinnerungen an eine Jugend, in der die Jungen von einem besseren Leben träumten.92 Bach beschreibt den Text als „sehnsuchtsvolle Erinnerung an eine Zeit, in der die jungen Männer noch voller Hoffnungen waren, einst aus ihrem Milieu, aus dem Leipziger Osten entfliehen und ein anderes, selbstbestimmtes Leben führen zu können“.93 Die Nostalgie gilt also der ekstatischen Phase der Eastside, bevor die Protagonisten in eine Abwärtsspirale geraten und scheitern. Ebenso stellt Bach jedoch fest, dass sich im Text keine wirklich sozialkritischen Tendenzen finden lassen, da ihr Scheitern vom Erzähler weder begründet noch bewertet wird, denn Meyer „lässt seine Leser mit der Frage nach dem Warum allein.“ (…) „Aus der Hoffnung, das Viertel endgültig zu verlassen, und der gleichzeitigen engen Verbundenheit mit dem Heimatviertel entsteht eine schwer erklärbare Ambivalenz.“, erklärt Bach.94 Doch eigentlich wird nicht ganz klar, ob die Jungen wirklich davon träumen, das Viertel zu verlassen, denn ihr Scheitern wird eben nicht als Niederlage oder Kritik an gesellschaftlichen Umständen erzählt. Der erzählerische Fokus liegt auf der nostalgisch erinnerten Communitas-Erfahrung. Auch bei aller Tragik und Drastik des Geschilderten überwiegt am Ende des Romans das Glücksgefühl der Gemeinschaft: „wir rückten zusammen und aßen und tranken und waren glücklich.“ Der Text überhöht die Erinnerung an diese Zeit und glorifiziert die liminale Ekstase samt ihrer existentiell bedrohlichen Qualitäten. Das spezielle Gemeinschaftsgefühl, das in diesem Text erzählt wird, entsteht aus der besonderen Situation des adoleszenten sowie gesellschaftlichen Übergangs und speist sich aus Elementen der DDR-Kindheitserfahrung sowie den Neuerungen der Wendezeit, die das Amalgam der Nachwendejahre bilden. Die Erinnerungen an DDR-Kindheit sind bedeutsam für den Gruppenzusammenhalt, doch 90 91 92 93 94
Schäfer, 2013, S. 55. Bach, 2017, S. 106. Ebd., S. 119. Ebd., S. 106. Ebd., S. 115.
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handelt es sich nicht um nostalgische Erinnerungen mit dem Unterton einer Verlusterfahrung, sondern es wird erzählt, welche Elemente aus dieser Zeit für die erzählte Gegenwart und die Kommunikation innerhalb der Gruppe eine Rolle spielen. Es wird in ganz bestimmten Situationen auf Kindheitserinnerungen Bezug genommen. Die Gemeinschaft der Jungen beruht auf Freundschaften, die bereits in der Kindheit bzw. in der Schule entstanden sind. Gleich zu Anfang des Romans wird dies markant hervorgehoben, denn das erste Kapitel wird erzählerisch von einer Kindheitserinnerung umklammert. Das Kapitel beginnt und endet mit exakt denselben zwei Sätzen, die lauten: „Ich kenne einen Kinderreim. Ich summe ihn vor mich hin, wenn alles anfängt, in meinem Kopf verrückt zu spielen.“ (7/14) Die Rückbesinnung und das mantra-artige Wiederholen des Kinderreims hat offenbar einen beruhigenden Effekt auf den Erzähler. Daran wird der Stellenwert der Kindheit als ein haltgebendes Element und implizit auch die Bedeutung der mit der Kindheit verknüpften kulturellen Äußerungen (Kinderlied) deutlich. Der Leser ist sich zudem durch die erwähnten Orts- und Zeitangaben darüber im Klaren, dass es sich um eine DDR-Kindheit handeln muss. In der Phase der nie gekannten „absolute(n) Freiheit“ (9) der frühen 1990er Jahre stellt diese Kindheit einen Bezugspunkt dar, der Sicherheit bietet. Dies bedeutet jedoch keine Sehnsucht nach dem Vergangenen als etwas unwiederbringlich Verlorenem, sondern ein aktives Bezugnehmen auf kulturelle Codes aus dieser Zeit und ihre produktive Umdeutung für die Gegenwart, wie noch anhand anderer Textstellen erläutert werden soll. Wichtige Themen im Text sind Schulalltag und Pionierleben. Verschiedene Episoden schildern retrospektiv den Schulalltag der Protagonisten als junge Pioniere, wobei die politische und auch militärische Durchdringung des Unterrichts thematisiert wird. Susanne Bach macht ebenfalls darauf aufmerksam, dass die Folgen der Kollektiverziehung sich in den späteren Gruppenritualen wiederfinden und Selbstbild und Ethos der Gruppe beeinflussen.95 Von besonderer Bedeutung ist der Schwur des ,Pionierehrenworts‘. Er erfüllt unterschiedliche Funktionen, denn das Pionierehrenwort wird in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet. Als ideologische Floskel hat es im Alltagsleben der Protagonisten eine vielschichtige Bedeutung. Meist werden ideologische Anteile mit ganz anderen Bedeutungsebenen verbunden. So z. B. in dem Moment, als Danies heimliche Liebe, die Gruppenratsvorsitzende Katja, ihn aus Sorge ums Klassenkollektiv dazu bewegen will, besser auf den aggressiven Rico aufzupassen und Danie dies mit dem „Pionierehrenwort“ verspricht. (346) Das Pionierehrenwort ist hier ein Versprechen gegenüber der ,Funktionärin‘ Katja, sich wie ein vorbildlicher Pionier zu 95 Ebd., S 105.
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verhalten und sich für die Gemeinschaft verantwortlich zu fühlen, doch viel mehr wird es in dieser erotisch aufgeladenen Szene zu einem Geheimcode der Intimität und Vertraulichkeit, mit dem Danie hofft, mehr Nähe zu seinem Schwarm Katja herstellen zu können. Auch an anderer Stelle ist das Pionierehrenwort ein Code für eine verschworene Gemeinschaft, wie z. B. im Kapitel Immer bereit (145), das von Danies und Ricos Freundschaft handelt. In dem Kapitel wird geschildert, wie Rico einmal aus Wut über seinen Vater, der die Familie wegen einer Geliebten verlassen hat, öffentlich sein Pionierhalstuch verbrennt und als Problemkind schließlich in den Jugendarrest muss. Danie steht vor seinem Haus, um sich zu verabschieden, aber Ricos Mutter lässt ihn nicht herein, so dass der Ich-Erzähler Danie seinen Freund Rico nur am Fenster sehen kann: „Ich trat ein paar Schritte zurück, auf die Straße, blickte hoch zu Rico und legte meine rechte Hand an meinen Kopf, zum Pioniergruß. ,Immer bereit‘, flüsterte ich. Ich konnte sehen, wie Rico oben am Fenster lachte. (…) Rico hatte gelacht, als ich unten auf der Straße den Pioniergruß machte. Er hatte gelacht, obwohl er morgen früh wegmusste. ,Halb sieben geht’s los‘, hatte er gestern zu mir gesagt, ,mit dem Zug, spannend, was? ‘, und auch dabei hatte er versucht, ein bisschen zu lachen.“ (145)
Der Pioniergruß schafft über ihre räumliche Trennung hinweg eine Verbindung. Diese beruht jedoch nicht auf den Grundprinzipien der Pionierorganisation und hat keinerlei politische Bedeutung, sondern besiegelt ironisch die Freundschaft zwischen Danie und Rico und ihren Zusammenhalt gegenüber den Erwachsenen wie z. B. Ricos Mutter, die Danie nicht ins Haus lässt und schließlich die Gardinen zuzieht. Der Pioniergruß wird auch nach der Wende von den Jungen ironisch weiterverwendet, wie z. B. in der Zeit, als sie der „Alten“ Kohlen aus dem Keller holen. Durch diesen Code wird ihre in Kindertagen entstandene Freundschaft reaktiviert, er bestätigt gemeinsam Erlebtes und Erlerntes und schafft eine Brücke in die neue Zeit. Im neuen Kontext wird der Sinn des Pionierehrenworts umgedeutet. Er wirkt wie ein Anachronismus (es gibt die DDR nicht mehr, sie sind keine Kinder mehr), hat aber dennoch eine identifikatorische Bedeutung für ihr Handeln. Die gesamte Episode mit der „Alten“ lässt sich daher als Parodie auf die staatlich gelenkten Pionieraktivitäten lesen, denn die Jungen orientieren sich ironisch an den Geboten der Pionierorganisation96, wenn sie der alten Frau die Kohlen in die Wohnung tragen: „,Immer bereit‘, sagt Rico, legt die Hand an die Stirn und grinst. ,Wisst ihr noch: Ein Pionier ist immer ehrlich und hilfsbereit.‘ Wir nehmen die Eimer und schmeißen die Kohlen rein. (…)“ (72) Ihre vermeintliche Hilfsbereitschaft 96 Gebot Nummer 6: Wir Jungpioniere achten alle arbeitenden Menschen und helfen überall tüchtig mit.
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ist mit einem schamlosen Ausnutzen der Situation verbunden. Auch die Fahrt zum Friedhof folgt diesem Narrativ, bei dem die Hilfsbereitschaft des braven Pioniers mit dem Brechen von Verhaltensregeln verknüpft wird und in dieser Gleichzeitigkeit nochmals die adoleszente Übergangssituation zum Ausdruck kommt. Die Verwendung des Pionierehrenworts bringt hier keine nostalgische Sehnsucht nach der Vergangenheit zum Ausdruck. Für die Clique hat das Pionierehrenwort die Bedeutung eines Codes und dient der gruppeninternen Kommunikation, wobei es in verschiedenen Kontexten umgedeutet wird. Bezogen auf die doppelte Passage des Übergangs von Kindheit zum Erwachsenenalter bzw. von DDR zu BRD-Gesellschaft zeigt sich auch hier eine Spezifik des Liminalen: Die Regeln der alten Ordnung sind aufgehoben (kindliches Verhalten und Geltungskraft der Pioniergebote) und machen einem freien, liminalen Spiel mit kulturellen Zeichen Platz, in dem sich neue Deutungssysteme und Sinnverknüpfungen entwickeln können. Die Elemente der DDR-Kultur werden als gemeinschaftsstiftende Symbole verwendet, die sich auf der Grundlage bestimmter Gruppenerfahrungen neu zusammenfügen und dem Gemeinschaftsgefühl der adoleszenten Gruppe einen Ausdruck geben. Communitas-Momente werden darüber hinaus auch über die Unzuverlässigkeit des Erzählers thematisiert. An vielen Stellen im Text werden verschiedene Versionen derselben Episode dargeboten und damit immer wieder auf die Fiktionalität des Erzählten verwiesen. Susanne Bach deutet dies als Thematisierung der grundsätzlichen Unsicherheit von Erinnerungen. Sie sieht darin bei Meyer eine Strategie der Humanisierung des Erzählers. Es soll dadurch der Eindruck ,echten Erinnerns‘ geweckt werden, indem seine Erinnerung von Emotionen und Stimmungen beeinflusst ist und daher unterschiedliche Formen annehmen kann.97 Die Erinnerungsversionen weisen jedoch auch eine Facette auf, die sich als Strategie der bewussten Mystifizierung des Erzählten deuten lässt. Im ersten Kapitel behauptet der Erzähler z. B. über die Mutter eines Klassenkameraden, die ihr ganzes Leben im VEB „Duroplastspielwaren und Stempelsortimente“ gearbeitet hatte, sie „wurde nach zwanzig Jahren arbeitslos und erhängte sich auf dem Außenklo“ (8). Dieser dramatische Post-Wende-Lebensverlauf wird einige Zeilen später jedoch relativiert: „Das mit der Mutter des Jungen stimmt nicht. Sie fand 1992 in einer neuen Shell-Tankstelle Arbeit (…).“ (8) In der zunächst geäußerten Drastik ihres Lebensverlauf findet sich das bereits beschriebene Entgrenzungsnarrativ der einführenden Kurzporträts wieder, die im Prolog-Kapitel die Lebenswege der Protagonisten vorwegnehmen. Doch die folgende Relativierung des Erzählten zieht die Drastik in Zweifel, denn schließlich ist ebenso möglich, dass besagte Mutter den 97 Bach, 2017, S. 99.
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Jobwechsel gut überstanden hat. Es geht somit auch um eine erzählerische Überhöhung der Phase der anarchischen Entgrenzung durch unzuverlässiges Erzählen. Derartige Übertreibungen findet man zudem auch an anderen Stellen.98 Dies bewirkt eine Dramatisierung und Mystifizierung der Episoden. Im Kapitel über den Unfalltod des kleinen Walters (Kleiner Rennfahrer, 410) wird der Leser darüber im Unklaren gelassen, welche Version des Erzählten Gültigkeit hat, denn erzählt werden in drei Unterkapiteln drei verschiedene Varianten von Walters Tod. Sie sind überschrieben mit Erste Runde, Zweite Runde und Dritte Runde. Alle drei Varianten beginnen damit, dass die Jungen in der Kneipe sitzen und trinken. Mit „Runden“ sind die drei Versionen des Autorennens gemeint, bei dem Walter zu Tode kam, aber denkbar sind auch Getränkerunden, bei denen sich mit steigendem Alkoholkonsum der Inhalt des Erzählten ändert. In der ersten „Runde“ kommt Paul mit der Nachricht in die Bar, Walter hätte in der Nähe einen Unfall gehabt – daraufhin rennen sie hinaus und finden Walter noch lebend einige Meter neben dem brennenden Auto liegend. In der zweiten „Runde“ – wieder kommt Paul mit der Nachricht in die Bar – befindet sich Walter im brennenden Auto, Danie will ihn retten, wird aber zurückgehalten. In der dritten „Runde“ erfahren sie die Nachricht von Walters Tod aus der Zeitung. Passend zur dritten Runde heißt es nun: „Walter war seit drei Tagen tot, und wir soffen seit drei Tagen.“ (415) Deutlich wird die Zunahme der Dramatik – in der ersten Version überlebt Walter, in der letzten ist er definitiv tot und die Jungen ertränken ihre Trauer und vermutlich auch ihre Schuldgefühle in Alkohol, denn sie haben ihn nicht retten können. Die Unklarheit über den Hergang des Unfalls bewirkt die Mystifizierung eines tragischen Todesfalls. Das Erzählen verschiedener Versionen bildet hier tatsächlich unzuverlässige Erinnerungsprozesse ab, denn thematisiert wird auch eine Kneipen-Situation, bei der unter Alkoholeinfluss schwadroniert wird und die Erinnerungen verschwimmen. Die Protagonisten stricken gemeinsam an den eigenen tragischen Heldengeschichten über eine Zeit, in der sie dennoch glücklich waren. Auch auf dieser Erzählebene wird also eine Form der Communitas-Erfahrung vermittelt, denn es wird mit der Wahrheit gespielt im Dienste der Schaffung einer außergewöhnlichen Gemeinschaft, deren (Selbst-) Zerstörung Teil der Legende ist.
98 Ein ähnliches Verfahren findet man in den Kapiteln 5, 6, 8, 12, 14, 17, 19.
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2.5 Jana Simon: Denn wir sind anders. Die Geschichte des Felix S. (2002) Gleichzeitigkeiten: Wende und Adoleszenz In Jana Simons autobiografisch angelegter Geschichte des Felix S. wird ebenfalls die adoleszente Entwicklung der Hauptfigur Felix vor dem Hintergrund der sich verändernden Gesellschaft der Nachwendejahre dargestellt. Auch bei ihr geht es um die spezifische Perspektive von Jugendlichen auf diese Zeit. Es gibt verschiedene inhaltliche Parallelen zu Meyer: Ort der Handlung ist (Ost-)Berlin, also ebenfalls ein großstädtisches Umfeld. Auch das Milieu ist ähnlich. Beschrieben wird eine subkulturelle Szene, die von Gewalt, Drogen und Kriminalität geprägt ist. In der Unübersichtlichkeit der Wendejahre geraten mehrere Protagonisten in eine Abwärtsspirale und finden ihren Platz in der neuen Gesellschaft nicht. Die Hauptfigur Felix verstrickt sich in Drogengeschäfte und erhängt sich schließlich im Alter von knapp dreißig Jahren in einer Moabiter Gefängniszelle. Die Wendejahre werden als Phase der Anarchie, als ein „Exzess der Entgrenzung“99 beschrieben. Es wird offensichtlich ebenfalls ein doppelter Übergang mit liminalen Kennzeichen thematisiert, bei dem der Fokus auf dem Nicht-Ankommen der Adoleszenten liegt. Wie bei Meyer wird das intensive Gemeinschaftsgefühl der Clique hervorgehoben, das sich als Communitaserfahrung betrachten lässt. Auch diese Gemeinschaft zerfällt schließlich. Gleich zu Beginn des Textes wird der Leser mit Felix' plötzlichem Selbstmord konfrontiert, der für die Erzählinstanz den Anlass bildet, die Bedingungen zu rekonstruieren, die zu dieser Entwicklung geführt haben und die offenbar mit dem ,Exzess der Entgrenzung‘ in den Wendejahren in Zusammenhang stehen. In der Erzählweise unterscheidet sich der Roman stark von Als wir träumten. Es berichtet eine auktoriale Erzählinstanz über die Geschichte der Jugendfreundschaft zwischen Felix und der Autorin Simon, über die im Text ausschließlich in der dritten Person als sie berichtet wird. Eine Danksagung und eine kurze Notiz am Ende des Buches weisen den Text als Tatsachenbericht aus, in dem nur „einige Details“ und Namen verändert wurden. Er ist als Reportage verfasst und es werden Zitate realer Personen (Freunde, Bekannte, Familie, Anwälte) verwendet („faction“). Damit wird im Paratext bereits ein anderer Anspruch signalisiert: Der Text versteht sich als Zeitzeugnis, das Deutungsmuster über diese Zeit anbietet. Die Christa WolfEnkelin Simon ist generell eher durch journalistische Arbeiten bekannt, am bekanntesten ist dabei sicherlich das 2013 erschienene Sei dennoch unverzagt. Ge99 Simon, S. 90.
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spräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf. Abgesehen von der spannungserzeugenden Vorwegnahme von Felix' Selbstmord werden die Ereignisse größtenteils chronologisch erzählt. Die ersten drei Kapitel spielen vor dem Mauerfall und schildern die gemeinsame Kindheit und Jugend der beiden Protagonisten in Ost-Berlin sowie die Zeit um den Mauerfall. Anschließend konzentriert sich die Erzählung auf Felix' Entwicklung in den 1990ern Jahren bis hin zu seiner Verhaftung. Dabei gibt es immer wieder Einschübe über Felix' besondere Familiengeschichte, in der Erklärungen für sein Verhalten und sein zunehmendes Außenseiterdasein gesucht werden. Felix ist Enkel südafrikanischer Kommunisten, die seit 1961 in der DDR im Exil lebten. Felix‘ komplizierte Familiengeschichte und seine dunkle Hautfarbe, mit der er in der homogenen DDR-Gesellschaft auffällt, begründen ein Identitätsproblem, das ein zentrales Thema des Buches darstellt. Seine englischsprachigen Großeltern, bei denen er aufgewachsen ist (über seine Mutter und seinen leiblichen Vater sowie Stiefvater erfährt der Leser kaum etwas) und die als überzeugte Kommunisten in die DDR gekommen waren, sind dort nie heimisch geworden und konnten mit ihrer Trauer über den Verlust ihrer Heimat sowie mit der Enttäuschung über die Realität des real existierenden Sozialismus schwer umgehen. Felix hingegen wächst im Ost-Berlin der 1970/80er Jahre auf und teilt die Sozialisationserfahrungen seiner Generation in der späten DDR. Dennoch ist er aufgrund der Herkunft seiner Familie „anders“, wie der Buchtitel ankündigt. Im Text wird grundsätzlich eine generationelle Perspektive stark gemacht und es ist häufig von Generationserfahrungen die Rede. Dabei wird die Alterskohorte konkret eingegrenzt, um die es geht. Die Protagonisten sind etwas älter als in Meyers Roman. Sie sind „17, 18, 19 oder 20 Jahre alt, als die Mauer fiel“. (50) Für sie wird ein spezifisches Lebensgefühl behauptet: „Die Generation der Anfang der siebziger Jahre Geborenen war schon, als die DDR noch existierte, eine Zwischengeneration; sie waren keine Kommunisten, wie vielleicht noch ihre Großeltern oder Eltern, aber auch keine Antikommunisten. Es war ihnen egal, viele planten ihre Zukunft nicht im Ostteil der Welt, gedanklich waren sie schon lange emigriert.“ (45/46) Dieses Lebensgefühl ist es, was die beiden Protagonisten verbindet. Die Erzählinstanz beschreibt eine bestimmte Atmosphäre für das Ost-Berlin der 1980er Jahre, wo beide aufgewachsen sind. Spürbar sind die gesellschaftliche Stagnation des Spätsozialismus und der zunehmende Verfall der Stadt, doch ebenso die kreativen Freiräume dieser Zeit sowie die starke Westorientierung der Jugendkultur. Unter Bezugnahme auf den in der DDR seit 1985 populären BreakdanceFilm Beat Street100 heißt es über diese Zeit: „Mit Beat Street identifizierten sie sich 100 Gründungsfilm der DDR-Hip-Hop-Szene, Vgl. Leonard Schmieding: „Das ist unsere
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irgendwie, die abgetakelten Häuser in der New Yorker Bronx erinnerten ein wenig an Ostberlin, das Leben sah ziemlich düster aus, trotzdem feierte immer jemand eine Party.“101 Beide Protagonisten kennen sich seit ihrer gemeinsamen Schulzeit und waren als Teenager vor 1989 für einige Monate ein Paar, für beide war es die erste Liebesbeziehung. Ihre Verbundenheit basiert auf gemeinsamen Interessen: Beide treiben in ihrer Kindheit exzessiv Sport – sie tanzt im Ballett, Felix trainiert verschiedene Kampfsportarten wie Karate oder Kickboxen. Besonders für Felix wird das Training als ein Lebensinhalt beschrieben. Auch darin ist er ein Außenseiter, denn Karate ist in der DDR offiziell verboten. Die Wende stellt einen Einschnitt für diese Freundschaft dar, denn beide entwickeln sich ab diesem Punkt sehr unterschiedlich. Sie erleben diese Zeit als entgrenzend: Sie ist rauschhaft, surreal, verwirrend und „extrem in jeder Hinsicht“.102 Während die Protagonistin Abitur macht, studiert und für einige Zeit ins Ausland geht, die sich nun bietenden Möglichkeiten also nutzt, bleibt Felix in (Ost-)Berlin und ist ausschließlich mit Ostberlinern befreundet. Er konzentriert sich weiter auf sein Training und arbeitet in den frühen 1990er Jahren als Türsteher in Berliner und Brandenburger Clubs. Der Text beschreibt im Erzählverlauf Felix‘ Abgleiten in die kriminelle und gewaltbereite sowie teilweise rechtsradikale Szene. Auch für ihn geht es um neue Freiheiten – Drogen und schnelles Geld – doch Felix verliert sich darin, sein Lebensgefühl ist das der Anarchie. Er verdient sein Geld mit illegalen Geschäften und beteiligt sich an organisierten HooliganPrügeleien. Aufgrund dieser Prügeleien wird er bei der Polizei als gewaltbereiter Jugendlicher geführt. Gleichzeitig wird Felix als extrem widersprüchlicher Charakter beschrieben, der sehr feinfühlig und verschlossen ist und mit seinem Naturell, seinen geistigen Interessen sowie seinem Aussehen gar nicht in die Szene passt, in der er sich bewegt. Gegen Ende der 1990er Jahre verwickelt er sich in Drogengeschäfte, aufgrund derer er schließlich von der Polizei verhaftet wird und sich nach mehreren Gerichtsverhandlungen in seiner Gefängniszelle erhängt. Die Erzählung über ihre unterschiedlichen Lebensläufe nach der Wende ist eingebettet in ein Generationsnarrativ mit dem Anspruch auf verallgemeinernde Aussagen über die Auswirkungen des Systemumbruchs auf diese Altersgruppe. Ihr Umgang mit der entgrenzten Situation wird als Anpassungsprozess beschrieben, der jedoch ganz unterschiedlich erfahren wird. Über Felix heißt es: „Zunächst versuchte er aber, wie alle anderen, dazuzugehören im neuen Land. Die Ergebnisse dieses Anpassungsprozesses ihrer Generation sollten sehr unterschiedlich aussehen.“ (49) Es werden zwei grundlegende Tendenzen für diese Generation behauptet, für Party“ – Hip-Hop in der DDR, Stuttgart 2014, S. 40 ff. 101 Simon, S. 17. 102 Simon, S. 64 u. 48.
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die Felix und die weibliche Hauptfigur jeweils stehen: das Scheitern und die geglückte Anpassung an die neue Gesellschaft. Die Erzählinstanz sucht Gründe dafür. Im Zentrum steht dabei immer die Frage danach, an welchem Punkt die Freundschaft der beiden so weit auseinander ging, dass sie Felix' problematische Entwicklung nicht bemerken konnte, obwohl sie immer Kontakt hielten, und inwieweit dies mit den gesellschaftlichen Veränderungen der Nachwendezeit zusammenhängt. Der Text sucht bewusst Erklärungsmuster für Felix' Lebensweg sowie implizit für die Radikalisierung von Teilen der Gesellschaft (Rechtsradikalismus), worin er sich stark von Meyers Roman unterscheidet, in dem es diese Reflexionsebene der Erzählinstanz nicht gibt. Die Wende ist bei Simon nicht das „unsichtbare Scharnier“ (Jana Hensel), sondern wird retrospektiv als deutlich wahrgenommener biografischer Bruch erzählt. Zudem wird der Anpassungsprozess im Zuge der Wende auch für die weibliche Hauptfigur als ambivalent geschildert, da sie sich Felix dennoch verbunden fühlt und seine Weltsicht in gewisser Weise nachvollziehen kann. Ihre gemeinsame DDR-Vergangenheit erweist sich als verbindendes Element und als Schlüssel zum Verständnis von Felix' Geschichte.103 Die in diesem Text erzählte Entgrenzung durch die Wende trifft die Protagonisten in einem Alter, in dem sie bereits eigene Lebensentscheidungen treffen müssen (Ausbildung, Studium). Sie müssen den sich bietenden Möglichkeiten bewusst(er) begegnen als die Protagonisten in Als wir träumten, deren Wahrnehmung sich auf Veränderungen der kindlichen Alltagswelt beschränkt. Aber auch Simons Protagonisten erleben die Phase der gesellschaftlichen Anarchie in der vulnerablen Phase ihrer Adoleszenz, auch wenn sie bereits etwas älter sind. Felix ist zum Zeitpunkt der Wende neunzehn Jahre alt und hat eine Berufsausbildung zum Herrenschneider abgeschlossen. Die sich anbahnenden Veränderungen werden von ihm und seiner Freundin bewusst wahrgenommen. Anders als bei Meyer überwiegt z. B. bei Beschreibungen der neuen westlichen Konsumkultur das Konstatieren gefühlter kultureller Unterschiede. Es wird ein spürbarer Bruch erzählt, dem die beiden bewusst begegnen. Hier überwiegen nicht kindliche Neugierde und Naivität, sondern Bewertung. Dies wird wiederum als generationelle Erfahrung behauptet, indem die Erzählinstanz einen Vergleich zu den Altersgenossen im Westen zieht: 103 „Sie trauerten nicht, dazu hatten sie ihr Land zu sehr verabscheut. Es gab nur eine unbestimmte Sehnsucht nach Menschen, mit denen man die verschwundenen Erinnerungen teilen konnte, (…). Denen sie nichts erklären mussten und die nichts ,seltsam‘ oder ,exotisch‘ fanden. Felix war einer dieser wenigen. Im Prinzip war sie da wohl ganz ähnlich wie er, der nie lassen konnte von Ostberlin und den alten Freunden. Die Nähe war stärker. Sie hatte nur andere Menschen getroffen als er, hatte sie vielleicht auch gesucht.“ (170)
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„Ihr Land löste sich vor ihnen auf. Sicher, sie hatten darauf gewartet, irgendwie; es ging dann aber doch ziemlich schnell, und sie schienen keinerlei Einfluss auf die verwirrenden Geschehnisse zu haben. Die Wendezeit nahmen Felix und sie wahr wie im Rausch, wie eine einzige riesige Demonstration. Diese Zeit war extrem in jeder Hinsicht. Dass ein ganzes System mitsamt seinen ungeliebten Repräsentanten und Produkten verschwinden kann, ist eine Erfahrung, die sie von den Altersgenossen im Westen trennt.“ (48)
Angesprochen werden Verwirrung und Ohnmacht – Gefühle, die auch in Meyers Roman thematisiert werden („Verlorenheit“), doch werden sie dort von der Erzählinstanz nicht kommentiert. Auch die Ankunft der neuen westlichen Warenwelt wird bei Simon als bewusst wahrgenommenes Ereignis erzählt. Der kulturelle Wandel wird reflektiert als überwältigende und auch etwas verstörende Erfahrung: „Über Nacht kam er dann – der Kapitalismus. Gegen vier oder fünf Uhr morgens war sie damals durch die Schönhauser Allee in Prenzlauer Berg gelaufen und hatte die Schaufenster betrachtet: Riesige Cornflakes-Packungen, kleine Haufen von Milka-Schokoladetafeln, die zu Pyramiden geschichtet waren, drängten sich neben Wella-Haarkuren und ViledaWischmopps. Sie sah noch einige andere in dieser Nacht, die wie sie ungläubig und eigentümlich euphorisiert vor den neuen Auslagen stehen blieben. Der Traum ihrer Kindheit vom Schlaraffenland hatte sich erfüllt. Es war so surreal, man musste es einfach hinnehmen, nachdenken konnte man nicht mehr darüber.“ (63/64)
Besonders die Konsumerfahrung wird Ausgangspunkt für die Reflexion generationeller Unterschiede zwischen Ost und West. Die Erzählinstanz grenzt sich ab zu der „etwas überhebliche(n) Generation Golf“, der man sich dennoch versucht anzupassen: „Die Kinder des Ostens versuchten zu sein wie sie, nur fehlte ihnen der dazu notwendige finanziell stabile und psychisch ausgeglichene Hintergrund.“ (50) Als wesentliche Erfahrung für diese Zeit des Erwachsenwerdens in den Wendejahren erscheint hier also die Wahrnehmung von Unterschieden.104 Beschrieben wird ein Prozess des Treffens erster Lebensentscheidungen mit langfristigen Auswirkungen und die damit einhergehende Ausdifferenzierung sozialer Unterschiede in einer Gruppe ehemals Gleicher. Die Gründe hierfür sieht die Erzählinstanz in den Umwälzungen von 1989/90, die als Riss in der bisher gekannten Realität dargestellt werden.
104 Erwähnenswert ist ebenfalls eine Essay-Sammlung aus dem Jahr 2000, die Jana Simon mit herausgegeben hat und die eine ähnliche Thematik wie die Geschichte des Felix S. bereits vorausnimmt: Wiete Andrasch/Frank Rothe/Jana Simon (Hrsg.): Das Buch der Unterschiede. Warum die Einheit keine ist, Berlin 2000.
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Entgrenzungen: Gewalt und Rausch Beschreibungen von Gewalt und körperlichen Grenzverletzungen stellen auch in Jana Simons Buch ein dominierendes Thema dar und erscheinen in Felix' Leben als existenziell. Dabei geht es sowohl um professionellen Kampfsport (Karate, Kickboxen) als auch um regellose Gewaltakte auf der Straße oder nach Fußballspielen. Der eher schmächtige Felix beginnt bereits als Kind mit dem Kampfsport, um sich besser verteidigen zu können und um das Gefühl des Ausgegrenztseins zu überwinden. Am Ende der 1990er Jahre wird er allerdings von der Berliner Polizei in der Extrakategorie der besonders gewaltbereiten Hooligans gelistet, die ca. 300 Personen umfasst. Um dieses zugespitzte Gewaltpotential zu erklären, entwickelt der Text ein Narrativ, bei dem psychologisierende und gesellschaftliche Erklärungsansätze verknüpft werden. Ähnlich wie bei Meyer implizieren die Gewalterfahrungen der Protagonisten ein Spektrum zwischen Ekstase und (Selbst)zerstörung. Die dargestellte Entfesselung der Gewalt weist somit Eigenschaften einer liminalen Passage im Sinne Victor Turners auf. Auf einer psychologischen Ebene wird Felix als extremer und rigider Charakter beschrieben, für den schon als Teenager Selbstbeherrschung sehr wichtig ist. Dies zeigt sich in dem harten Training, das er sich selbst auferlegt und bei dem er bis an seine Grenzen geht und vor Verletzungen nicht zurückschreckt. Seine Fixierung auf körperliche Perfektion durch unablässiges Training wird immer wieder betont. Die Selbstbeherrschung bietet ihm Befriedigung, doch gleichzeitig wird die destruktive Seite seines Verhaltens sichtbar: „Und er trainierte wie besessen. Er war ständig verletzt und erzählte ihr einmal, dass er sich eine Nadel in die Ferse gerammt und sie dort gelassen hatte. Es war, als füge er sich mit Absicht Schmerz zu, als wolle er sich selbst gegenüber alle Grenzen auflösen.“ (161) Später ist er in der Szene dann als brutaler Schläger bekannt und legt viel Wert auf sein Image als harter Mann, der jedoch gleichzeitig feinfühlig ist und am liebsten klassische Musik hört. Auch in persönlichen Beziehungen wird er als extrem beschrieben. Er hat sehr hohe Ansprüche an Freundschaften und fordert absolute Loyalität, offenbart sich selbst aber niemandem. So äußern viele seiner Freunde und Bekannten nach seinem Tod, nicht einmal seinen Nachnamen gekannt zu haben geschweige denn Details über seine Familie. Zudem trinkt er im Gegensatz zu seinen Freunden keinen Alkohol, gibt sich also niemals die Blöße. Der Text widmet Felix' psychologischem Profil immer wieder Raum, da hier Erklärungen für sein Verhalten gefunden werden. Dabei steht seine Widersprüchlichkeit im Vordergrund. Seine Sensibilität und Selbstbeherrschung auf der einen Seite verstärken den Eindruck eines extrem entgrenzenden Verhaltens bei Prügeleien auf der anderen Seite. Auch Felix' persönliche Familiengeschichte wird beleuchtet, um sein Verhalten zu erklären. Seine Familienverhältnisse sind nicht nur wegen seiner südafrikanischen Abstammung kompliziert – seine Eltern sind getrennt, er lebt bei seiner
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Mutter, mit der er sich nicht gut versteht, bis er mit sechzehn Jahren zu seinen südafrikanischen Großeltern zieht, die durch ihr Lebensgefühl der Fremdheit in der DDR Felix' Gefühl des ,Andersseins‘ mitgeprägt haben. Von seinem Großvater Arnold, der in den 1950er Jahren in Südafrika im kommunistischen Widerstandskampf engagiert war, übernimmt Felix bestimmte Männlichkeitsvorstellungen. Er wird im Text zu einem Kämpfer stilisiert, dessen Konsequenz, Stärke und Mut er bewundert, wenn er z. B. in hohem Alter trotz Herzschrittmacher Marathon läuft. Sein Großvater ist sein männliches Vorbild. Dieser wiederum wird als „Pausenhofboxer“ (121) beschrieben, der sich in seiner Jugend mit wachsendem politischen Bewusstsein und aus dem Gefühl heraus, jüdische Exildeutsche in Südafrika verteidigen zu müssen, in den Straßen von Johannesburg mit Nazis prügelt. (120) Er tritt 1942 in die Kommunistische Partei ein und meldet sich freiwillig zur Armee, um in Nordafrika gegen die deutschen Truppen zu kämpfen. Für Felix wird später ein ausgesprochen starkes Interesse am Zweiten Weltkrieg beschrieben sowie am Kämpfen an sich, an absolutem Füreinandereinstehen und an strengen Hierarchien. Arnold führt ein intensives, vom Kampf für die richtige Sache und von Verfolgung bestimmtes Leben. Für ihn wird beschrieben, was später auch für Felix gelten kann: „Praktisch alles, was er tat, war irgendwie verboten, der Feind erschien übermächtig, aber moralisch unterlegen.“ (131) Dass die Erzählinstanz in der Prägung durch die Person Arnolds eine Erklärungsebene sieht, wird besonders deutlich, als sie Arnold nach Felix' Tod in dessen ehemaligem Kinderzimmer interviewt: „Es ist als würden ihrer beiden Leben sich in diesem Zimmer treffen und allmählich ineinander verschwimmen.“ (120) Eine explizite Auseinandersetzung mit Felix' zahlreichen Gewalterfahrungen im Zusammenhang mit der Wendezeit erfolgt im 7. Kapitel. Hier werden organisierte Massenprügeleien beschrieben, die im Anschluss an Fußballspiele stattfanden. Dies wird als gesellschaftliches Phänomen von größerer Tragweite dargestellt. Felix bewegt sich in Kreisen, die auch an international bekannten Vorfällen organisierter Gewalt beteiligt sind. Felix ist meist eher zufällig dabei; es wird jedoch klar, dass er sich in einer extrem gewaltaffinen Szene bewegt. Die Darstellung der organisierten Gewalt nach Fußballspielen folgt dem Narrativ einer liminalen Passage. Felix' gesellschaftliches Umfeld befindet sich in einer Phase des Übergangs bzw. des Verlusts bekannter Strukturen und mangelnder Verfestigung von neuen. Die im 7. Kapitel beschriebene Gewalt zeigt einen liminalen Zustand der völligen Regel- und Gesetzlosigkeit, sie steht für die temporäre Umkehrung bzw. Aufhebung der Regeln der sozialen Welt. Die Zeit nach dem Mauerfall wird von Felix als ein einziger Prozess der Auflösung wahrgenommen: „Um Felix herum schien nichts mehr zu stimmen. Es gab kaum noch Festpunkte in seinem Leben, alles zerfiel in Anarchie.“ (98) Die herrschende Anarchie ermöglicht den Ausbruch der Gewalt nach Fußballspielen: „Am Anfang, zu Beginn der neunziger Jahre, war die
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Staatsmacht praktisch nicht vorhanden. Völlig verunsichert von dem Zusammenbruch ihrer staatlichen Ordnung und dem Ausbruch lang angestauter Aggressionen, tauchten die Beamten entweder gar nicht oder viel zu spät am Tatort auf.“ (95) Die Entgrenzung im Gewaltrausch wird aus Felix' Sicht beschrieben als eine „Art Schwerelosigkeit, losgelöst von allen irdischen Problemen“ (89). Die Vorstellung einer liminalen Passage wird dabei besonders deutlich im Bild des ,Tunnels‘, der durch die Intensität der Gewalt entsteht: „Felix hatte ihr einmal erzählt, es sei wie ein Rausch, bei dem man alles vergesse, was einem vorher wichtig gewesen war. Die Welt würde schmal wie ein Tunnel, es existierten nur noch er und der Gegner. Es scheine, als sei jegliches Denken abgeschaltet, die totale Entfesselung der Aggression.“ (88/89) Die Eskalation der Gewalt in Felix' sozialem Umfeld wird aber nicht ausschließlich als Resultat des Systemzusammenbruchs beschrieben oder aus der gesellschaftlich unsicheren Situation nach dem Mauerfall erklärt. Schließlich ist vom „Ausbruch lang angestauter Aggressionen“ die Rede, es wird also – ähnlich wie bei Meyer – auch auf strukturell bedingte Gewalt verwiesen, die Felix' Gewaltaffinität miterklären. Ähnlich wie Meyers Figuren bewegt sich auch Felix in halbkriminellen Kreisen, in denen schwierige Familienverhältnisse eine Rolle spielen, wobei jedoch meist nicht deutlich wird, um welche gesellschaftliche Schicht es sich handelt, da beispielsweise über Berufe der Eltern o. ä. nichts ausgesagt wird. Beschrieben wird hauptsächlich Vernachlässigung. Felix' offenkundig krimineller Freund Marco, der eine Hauptrolle in Felix' Verwicklung in die Drogenszene spielt, hat einen schwer gewalttätigen Vater, der für seine Taten mehrere Jahre im Gefängnis sitzt (angedeutet wird, dass er seinen eignen Sohn, Marcos Bruder, im Affekt getötet hat). Auch für Felix' letzte Freundin Tina werden problematische Familienverhältnisse beschrieben; ihre Mutter hat sich „zu Tode gesoffen“, der Vater „nicht viel um sie gekümmert“. (184) Das soziale Umfeld, in dem Felix sich in den 1990er Jahren bewegt, war daher bereits von Gewalterfahrungen verschiedener Art geprägt, was im Moment der politischen Entgrenzung des Mauerfalls schwierige Entwicklungen begünstigt. Die neue Gesellschaftsform stellt für die Protagonisten offenbar hauptsächlich eine Überforderung und Verunsicherung dar. Kernthema ist die Bündelung von vorausgehenden Bedingungen, die besonders für Felix im Zuge des Mauerfalls in eine fatale Entwicklung münden. Der Text knüpft damit an Narrative der Radikalisierung und Integrationsverweigerung von Teilen der ostdeutschen Gesellschaft an, deren Gründe in der Beschaffenheit der DDR-Gesellschaft gesucht werden. Halt in einer Phase der Verunsicherung wird hier in massiver Abgrenzung durch Gewalt gesucht.
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Communitas als Gegenordnung Ein ebenso zentrales Thema im Buch ist die Herausbildung eines speziellen, sehr ausgeprägten Gemeinschaftsgefühls in der Szene, der Felix sich zugehörig fühlt. Ähnlich wie bei Meyer wird auch hier eine besondere Gemeinschaft Gleichgesinnter im Sinne einer Communitas-Erfahrung beschrieben, die am Ende zerfällt. Es geht um die sich in den 1990er Jahren zunehmend kriminalisierende Berliner Türsteher-, Kampfsport- und BFC-Szene, für die das oft provokative Herauskehren ihrer DDR-Herkunft auffällig ist. Die Bedeutung dieser Herkunft wird explizit als Grundlage für das Gemeinschaftsgefühl beschrieben: „In einer Zeit, in der die meisten Ex-DDR-Bürger versuchten, ihre Herkunft zu verschleiern oder zu vergessen, tätowierten sie sich Eastside auf die Bäuche.“ (83) Oder: „Sie kannten sich alle schon aus dem Osten und schworen Zusammenhalt in der neuen veränderten Umwelt.“ (82) Felix verbindet mit der DDR-Herkunft bestimmte Werte, die mit seiner von Großvater Arnold geprägten Auffassung von Männlichkeit verschmelzen. DDR steht offenbar für ein diffuses Gefühl von Authentizität, Aufrichtigkeit und Verbindlichkeit, das sich im Zuge der Wende scheinbar aufgelöst hat: „Nicht zu dem stehen, was man macht, das bedeutet ‚Westen‘ für sie. Davon wollen sie sich abgrenzen.“ (115) Die Abgrenzungsversuche wiederum sind extrem und gehen mit Gewaltbereitschaft und Kriminalität einher. Felix bewegt sich in einer männlichhierarchischen Welt, in der „,Ehre, Ritterlichkeit, Vertrauen‘“ (83) zentrale Werte sind und deren Angehörige „wie in einem Geheimbund“ (48) agieren. Auch hier funktioniert die DDR-Herkunft als kultureller Code, der aktiviert wird, um das Gemeinschaftsgefühl zu bestätigen, aber sehr stark auch, um zu provozieren. Zum Beispiel wird beschrieben, wie in der Gruppe gelegentlich Pionier- und NVALieder gesungen werden sowie die Freude darüber, wenn diese von Außenstehenden für Nazilieder gehalten werden. Im Unterschied zu Meyers kindlich wirkenden Protagonisten werden die Bezüge zur DDR-Kultur hier also sehr bewusst hervorgekehrt und als Mittel der Distinktion verwendet. Durch die forcierte Abgrenzung entsteht auch hier so etwas wie eine Gegenordnung – im Text ist die Rede von „Parallelwirklichkeit, Parallelgesellschaft und Parallelfamilie“ (112). Ähnlich wie bei Meyer ist diese Gegenordnung von Rausch und Intensität geprägt. In der Terminologie Victor Turners betrachtet, handelt es sich hier jedoch weniger um die Form der spontanen/existenziellen Communitas, sondern es lassen sich deutlich Merkmale einer normativen Communitas erkennen. Dies lässt sich beispielsweise anhand der Beschreibungen der Prügeleien nach den Fußballspielen zeigen. Der ,Tunnel‘ der Gewalt, in dem keine Regeln mehr gelten, ist der Zustand, der von Felix und den anderen angestrebt wird. Die Intensität lässt sich jedoch nicht aufrechterhalten. Spätestens mit der Etablierung der neuen staatlichen Ordnung setzt das Ende dieser Phase ein: „Je mehr sich der neue Staat festigte, umso sicherer wurde die Polizei. Die Stadien wurden mit Kameras
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überwacht, es gab mehrere Gerichtsverfahren gegen Hooligans, Stadionverbote wurden erteilt.“ (95/96) Es beginnt ein Prozess der Regulierung. Die Hooligans reagieren darauf, indem sie die Prügeleien woanders organisieren, an anderen Orten und nicht mehr in Stadionnähe. Mit der Verstetigung der neuen Ordnung setzt also ebenso eine Verstetigung der Gewalt ein, die professionell organisiert und demonstrativ weiterbetrieben wird. Diese Szene ist darüber hinaus hierarchisch strukturiert und folgt einem strengen und exklusiven Moralkodex, wie die obigen Zitate zeigen. Die hier beschriebene Gegenordnung, die sich bewusst gegen die geltenden sozialen Normen stellt und eine Gemeinschaft sein will, „die den Leuten Halt gibt“ (111) in einer gesellschaftlichen Situation des Wandels, ist also wesentlich etablierter und daher ,normativer‘ als die Art der Gemeinschaft, die in Als wir träumten beschrieben wird. Felix' Umfeld ist mehr als eine spontane Gemeinschaft Gleicher in einem Moment der doppelten Entgrenzung. Die Gleichheit wird im Laufe der Zeit an Regeln gebunden, wie der Treue gegenüber einem Moralkodex, der auf Werten basiert, die mit der gemeinsamen DDR-Erfahrung in Zusammenhang stehen. Auch gibt es die Tendenz, sich bewusst einer höheren Autorität zu unterwerfen, wie es für die normative Communitas charakteristisch ist – die Szene weist teilweise mafiöse Strukturen auf, es gibt bestimmte Personen, die das Sagen haben. Weitere Communitas-Merkmale sind die Gefühle der Allmacht, des Kontakts mit übermenschlichen Kräften. Die Erzählinstanz beschreibt, wie Felix sich immer stärker in kriminelle Handlungen verstrickt. Es geht nicht nur um physische Gewalt, sondern das Dasein außerhalb der sozialen Regeln bestimmt auch seinen Alltag, da er seinen Lebensunterhalt durch verschiedene illegale Geschäfte verdient (Fahrrad- und Autodiebstahl, Drogengeschäfte, zeitweise ist er Bordellbetreiber). Auch dies hat einen berauschenden und intensitätssteigernden Effekt, da in der Illegalität alles möglich erscheint. Die Unübersichtlichkeit der neuen gesellschaftlichen Situation nach der Wende verstärkt das Gefühl der Regellosigkeit: „Vielleicht war es zu Beginn noch ein Spiel, eine Art Gangsterfilm, in der jeder austestete, wie weit er in der neuen Freiheit gehen könnte. Schon bald sollte es Ernst werden.“ (83) Alles scheint möglich zu sein in dieser Zeit. Darüber hinaus ist die Rede vom ,Gangsterfilm‘, mit dem die Erzählinstanz dieses Leben vergleicht, nicht der einzige Bezug auf das Unwirkliche des Geschehens bzw. auf die Welt des Films. Die Hauptfigur scheint sich der Außergewöhnlichkeit des Geschehens bewusst zu sein, wie die zitierte Rede zeigt: „,Andere sehen einen Film, ich lebe ihn.‘“ (140) Für eine andere wichtige Figur aus Felix' Kreis (Marco) heißt es: „Er war wie berauscht von diesem Leben, von dem Gefühl, morgen könnte es schon vorbei sein.“ (193) Auffällig in Äußerungen wie diesen sind auch die Verklärung und Überhöhung des eigenen Lebens sowie der Gruppenerlebnisse. Dass dabei oftmals Film und Realität ineinanderfließen, zeigt sich ebenso in der Gruppenkommunikation
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und im gemeinsamen Erzählen über diese Zeit. Hier wird an den eigenen Heldengeschichten gestrickt, was der identitären Selbstvergewisserung und der Abgrenzung der Gruppe dient. Im Rausch der Gewalt erleben die Protagonisten Stärke und Unverwundbarkeit, doch ist die gemeinsame Kommunikation darüber genauso wichtig. Auf diese Weise entstehen Legenden des außerordentlichen Lebens: „Ab und zu waren die Zähne seiner Gegner im Fleisch seiner Hand stecken geblieben, später hatte sich die Wunde entzündet und geeitert. Das war dann Stoff für Geschichten und Legenden, die sie sich untereinander noch Jahre später mit einem seltsam entrückten Grinsen im Gesicht erzählten.“ (91) Oder ganz unumwunden: „Es war die Stunde der Heldengeschichten.“ (94) Auch in diesem Text werden die Geschichten aus der anarchischen Nachwendezeit überhöht und mystifiziert. Es wird ein besonderer Gruppenzusammenhalt beschrieben sowie letztlich die Zerstörung der Gemeinschaft, wobei auch die Erzählinstanz, die schließlich vorgibt, sachlich über den Fall Felix zu berichten, nicht immer zur Aufklärung beiträgt. Wenn es um das Ende der Gruppe geht, reproduziert sie die Mythen, die die Szene selbst hervorgebracht hat, und bietet dem Leser mehrere Varianten: „Zum Anfang waren sie stark in der Gemeinschaft, es gab kleinere Untergrüppchen, aber keine wirklich großen Streitereien innerhalb der Szene. Vom großen Bruch der neunziger Jahre gibt es mehrere Versionen. Die einen sagen, die Drogen hätten den Zusammenhalt zerstört. Andere meinen: Es ging um den Einfluss von Ausländern an den Türen des Ostens.“ (104/105) Auch hier wird deutlich, dass die Zerstörung der Gruppe Teil der Legende selbst ist.
2.6 Zusammenfassung Sowohl in Clemens Meyers Als wir träumten als auch in Jana Simons Denn wir sind anders. Die Geschichte des Felix S. wird der Umgang kindlicher oder jugendlicher Protagonisten mit dem Systemumbruch von 1989/90 geschildert, womit Adoleszenz und Wende in einen narrativen Zusammenhang gebracht werden. Diese Gleichzeitigkeit von Adoleszenz und Wende wurde als eine Phase der doppelten Entgrenzung untersucht: Die Jugendlichen haben zeitgleich sowohl einen individuell-biografischen Schritt zu bewältigen als auch einen Umbruch auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene zu verarbeiten. Mit dem erzählerischen wie ästhetischen Fokus auf Entgrenzungserscheinungen stehen sie einerseits im Kontext einer Literatur über die Wende, in der Motive der Entgrenzung generell von Bedeutung sind. Denn wie eingangs gezeigt wurde, sind weitreichende Entgrenzungserfahrungen nach 1989 und damit zusammenhängende Verlust- und Bedrohungsgefühle ein häufig auftauchendes Thema in Texten über diese Zeit. Andererseits lassen sie sich in der Tradition der Adoleszenzliteratur betrachten mit dem
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entsprechenden Themenspektrum der Coming-of-Age-Problematik als einem individuellen Austesten gesellschaftlicher Grenzen. In der literarischen Gestaltung der Gleichzeitigkeit dieser Entgrenzungen wird in beiden Texten eine Potenzierung des Erlebten zum Ausdruck gebracht. Die Protagonisten machen massive Rausch- und Gewalterfahrungen. Diese sind teilweise so extrem, dass sie scheitern oder auch sterben. Die Potenzierung von Entgrenzungen auf narrativer und ästhetischer Ebene lässt den Eindruck der sowohl in der öffentlichen Rezeption als auch in soziologischen Studien (B. Lindner) diagnostizierten ,Verlorenheit‘ der Jugendlichen entstehen. Da die gesellschaftlichen Turbulenzen der Wende den politischen Hintergrund der Ereignisse bilden und die biographischen Entwicklungen mitbedingen, liegt der Schluss nahe, in ihnen die wesentliche Ursache für das Scheitern der Protagonisten zu sehen. Dies wird besonders bei Jana Simon deutlich, deren Reportage darauf angelegt ist, Felix' fatale Entwicklung – wenn auch im Zusammenhang mit anderen biografischen Einflussfaktoren – als Folge des Systemumbruchs und gesellschaftlicher Fehlentwicklungen zu erklären. Bei Clemens Meyer ist dies nicht so offensichtlich; die Erzählinstanz stellt diese sozialkritische Verbindung nicht deutlich her, es liegt beim Leser, den Systemumbruch als Kontext mitzudenken und das Scheitern der Protagonisten auf die Wendeerfahrungen zurückzuführen. Dies funktioniert zudem nur teilweise als Erklärung, da die ,Milieugebundenheit‘ (S. Bach) der Figuren stark gemacht wird, also Ursachen für ihre Lebensläufe auch in der Prägung durch die Elterngeneration und somit der Sozialisation durch die späte DDR-Gesellschaft liegen. Auch bei Simon wird diese Facette im Übrigen sichtbar, denn auch sie beschreibt ein soziales Umfeld der Figuren, in dem Gewalt und Vernachlässigung bereits vor 1989 eine Rolle spielen. Beide Texte beinhalten also deutliche Signale, die Wende nicht als alleinige Erklärung heranzuziehen, sondern die Strukturen der späten DDR-Gesellschaft mitzubeachten. Dies soll jedoch nicht heißen, dass die dargestellte DDR-Normalität der 1980er Jahre als gewaltbereite Gesellschaft von Alkoholikern anzusehen wäre. Die Normalität des Dargestellten (wie sie z. B. Jana Hensel für Meyers Roman behauptet)105 ließe sich eher daraus erklären, dass es innerhalb der DDR-Gesellschaft weniger Trennlinien gab und sich solche Szenarien somit nicht am Rande der Gesellschaft abspielten. Beide Texte wurden als Generationenromane gelabelt und rezipiert. Der Anspruch, für eine Generation zu sprechen, ist bei Simon sehr deutlich. Bei Meyer lässt sich eine entsprechende Tendenz nicht finden und der Autor verwahrt sich wie bereits erwähnt dagegen, für eine Generation sprechen zu wollen. Dennoch ist Als wir träumten als Generationentext rezipierbar, denn es werden konkrete Zeit-, 105 Vgl. Fußnote 86.
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Orts- und Altersangaben gemacht und die Erzählinstanz spricht für das ,Wir‘ einer Gruppe, über deren prägende Jugendphase in einer gesellschaftlichen Umbruchszeit berichtet wird. Auch hier liegt es beim Leser, ob bestimmte Textmerkmale als Signale gesehen werden, die Identifikation ermöglichen. Im Vergleich der Texte lässt sich die Feststellung von Katarzyna Norkowska106 bestätigen, dass in der Beschreibung altersbedingte Erfahrungsunterschiede auszumachen sind: So ließen sich die etwas älteren Protagonisten in Simons Buch der „distanzierten Generation“ (B. Linder) zuordnen, die bereits vor 1989 eine indifferente Haltung gegenüber dem Staat hat und stark westlich orientiert ist. Im Zuge der Wende gehen sie sowohl dem neuen als auch dem alten System gegenüber auf Distanz, sie verhalten sich demonstrativ unangepasst und bilden ihre eigene Gemeinschaft von Außenseitern. Meyers Protagonisten hingegen weisen deutliche Merkmale der „unberatenen Generation“ auf. Sie verlieren sich und finden keine Orientierung, die Elterngeneration tritt kaum in Erscheinung und wenn, dann als sehr schwach. Dass Meyer dies jedoch nicht als reinen Wendeeffekt erzählt, darauf wurde gerade hingewiesen. Die Textanalyse hat darüber hinausgehend gezeigt, dass das Erzählen über altersspezifische Wendeerfahrungen in beiden Texten stark mittels der erzählerischen Überhöhung eines besonderen Gemeinschaftsgefühls funktioniert, das sich als Communitas-Erfahrung im Sinne Victor Turners auffassen lässt. Mit Communitas ist ein Zustand gemeint, in dem die Struktur- oder Regellosigkeit einer liminalen Phase und ihre Merkmale wie Rausch oder Allmacht konstituierend für die Gemeinschaft sind. Sie kann als versuchte Verstetigung des liminalen Zustands verstanden werden. Damit unterscheidet sie sich von einer temporären liminalen Phase dahingehend, dass sie nicht integrativ für die Sozialordnung funktioniert, jedenfalls nicht im Sinne eines Übergangs in einen neuen sozialen Status, der von einer vorübergehenden Krise der Unsicherheit begleitet wird: In beiden Texten kommen die Protagonisten schließlich nach der Krise der Adoleszenz nicht wirklich in der neuen Gesellschaft an, um ihre Strukturen mitzutragen, sondern verlieren größtenteils den Halt. Wichtiger ist für sie die Gemeinschaftlichkeit der Gruppe und ihre gemeinsamen Erfahrungen, darin liegt das integrative Moment und ein narrativer Bezug zu ostdeutschen Kollektiv- oder Generationserfahrungen, wie sie den Texten in der Rezeption zugeschrieben werden. Wie Turner beschrieben hat, ist Communitas dauerhaft nicht möglich, sondern führt in die (Selbst)zerstörung oder in Formen der Verstetigung, die wiederum Normen und Regeln ausbildet (normative Communitas bis hin zu ideologischer Communitas). Die beschriebenen Gruppenerlebnisse weisen diese Merkma106 Vgl. Fußnote 12.
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II. Die Poetik der doppelten Entgrenzung
le auf und führen in die unausweichliche Zerstörung der Gemeinschaft. Beide Texte lassen sich also auch als Erinnerungstexte an eine besondere Gemeinschaft lesen, die nur in einer speziellen gesellschaftlichen Situation wie dem Umbruch von 1989/90 entstehen konnte, der ein entsprechend erhöhtes, d. h. doppeltes liminales Potenzial aufwies. Es geht um die ,Stunde der Heldengeschichten‘ mit tragischem Ende, in denen die häufig zitierte Unbehaustheit oder Verlorenheit der Protagonisten zu einer besonders liminalen Wendeerfahrung stilisiert wird. Bei Simon ist dies deutlich mit einem gesellschaftskritischem Impetus verknüpft. Die beschriebene Gemeinschaft stellt eine Gegenordnung dar und dient einer strikten Abgrenzung, wobei auf kulturelle Codes aus gemeinsamen DDR-Erfahrungen zurückgegriffen wird. Bei Meyer wird hingegen viel weniger um verlorene Möglichkeiten und gescheiterte Lebenswege getrauert, als die Überhöhung der Erinnerung an diese Zeit zum Ausdruck gebracht.
III. Die Poetik der Ödnis
3.1 Anklam – Zentrum der Ödnis „Von Berlin fährt ein Zug nach Norden. Er fährt durch ein Land sanfter Hügel und schwarzer Erde, einsamer Moore und dichten Nebels, ein Land zerbrochener Scheiben und hohler Häuser, dunkler Wälder und langer Alleen, ein Land leerer Hallen und vergessener Versprechen, demontierter Maschinen und Träume, ein Land stiller Schönheit und tragischer Geduld, ein weites, wogendes Land, verwunschen am Tag, lichtlos in der Nacht. In diesem Land, zweihundert Kilometer entfernt von Berlin, liegt Anklam.“ In diesem Zitat über die Gegend um den vorpommerschen Ort Anklam, das nicht etwa aus einem literarischen Text sondern aus einem ZEIT-Artikel aus dem Jahr 2004 mit dem Titel „Selbst der Bürgermeister will weg“1 stammt, finden in einem Satz ganze siebzehn Adjektive Platz, um die Landschaft zu charakterisieren: sanft, schwarz, einsam, dicht, zerbrochen, hohl, dunkel, lang, leer, vergessen, demontiert, still, tragisch, weit, wogend, verwunschen, lichtlos. Diese Suggestivkraft überrascht in einer Reportage, die vorgibt, sich kritisch mit Abwanderung und hoher Arbeitslosigkeit in den dünnbesiedelten Regionen Vorpommerns zu befassen und über Anklam als Beispiel für einen gescheiterten Transformationsprozess berichtet. Die der Landschaft zugeschriebenen Attribute evozieren eine düstere, menschenleere, fatalistische, aber auch geheimnisvolle Atmosphäre. Die genaue Kilometerangabe zu Berlin unterstreicht den Effekt einer Reise in die geheimnisvolle Fremde, die sich nur 200 Kilometer entfernt vom Zentrum in Richtung Norden auftut. Eine solche mediale Perspektive auf Mecklenburg-Vorpommern, die die Verlassenheit der Landschaft hervorhebt und dabei latent exotisiert, ist verbreitet und sie prägt das Image des Bundeslandes mit. Derartige Vorstellungen werden ebenso in der Popkultur aufgegriffen, wie beispielsweise im Song des Liedermachers Rainald Grebe über „Doreen aus Mecklenburg“, der ähnlich wie sein wohl bekanntester Hit „Brandenburg“ funktioniert und das Leben in der strukturschwachen nordostdeutschen Provinz persifliert: „Kommen Sie zu uns, die meisten von uns sind eh nicht mehr hier!/ Drei Tage Rügen müssen genügen!/ Schalten Sie einfach 1
Mario Kaiser: Selbst der Bürgermeister will weg. „In Anklam in Ostvorpommern geht alles verloren: Die Arbeitsplätze, die Zuversicht, die Bewohner. Und das Stadtoberhaupt, ein erfolgreicher Unternehmer aus dem Westen, ist die Angriffe leid.“, Die ZEIT 11, 2004, (http://www.zeit.de/2004/11/Anklam_1).
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ab in Mecklenburg!/ Wir schalten Sie ab in Mecklenburg!“2 Auch in Filmen wie dem Dokumentarfilm „Am Ende der Milchstraße“ (2012) von Dirk Uhlig und Leopold Grün, der in der Online-Mediathek der Bundeszentrale für Politische Bildung einsehbar ist und damit als bildungspolitisch repräsentativ gelten kann, wird die mecklenburgische Provinz in den Jahren nach der Jahrtausendwende als rückständig und verlassen problematisiert. Gezeigt wird der Alltag in dem kleinen Dorf Wischershausen, das laut der Beschreibung der Bundeszentrale „vom Wandel der letzten Jahrzehnte, vor allem aber von großer Armut geprägt ist“.3 Tatsächlich wirkt das Leben der Bewohner des ehemaligen LPG-Dorfes anachronistisch und auf eine Weise autark, die nachdenklich macht, denn der Ort scheint kaum angebunden an regionale Zentren und sich größtenteils durch Selbstversorgung am Leben zu erhalten. In der ZEIT-Rezension zu diesem Film heißt es: „Manchmal kommt einem Wischershausen vor wie der letzte Ort vor dem Nichts. Als hätte man die 50 Menschen, die dort leben, irgendwie vergessen.“4 Die Darstellung bestimmter Regionen Mecklenburg-Vorpommerns in der topischen Tradition des locus desertus als leere, öde, entvölkerte Orte ist Teil eines medialen sowie literarischen Diskurses, nach welchem diese ländlichen Gebiete (aber auch andere strukturschwache Regionen Ostdeutschlands wie z. B. die Lausitz) die Defizite der Gesellschaftstransformation seit 1989 in besonderem Maße sichtbar werden lassen. Der desolate Zustand mancher Regionen seit der Wende wird als Resultat des überstürzten Wiedervereinigungsprozesses betrachtet, bei dem die wirtschaftliche Infrastruktur ganzer Landstriche zusammenbrach und auch der institutionell-kulturelle Umbruch offenbar nicht sehr erfolgreich verlaufen ist. Damit in Zusammenhang steht die medial häufig verbreitete Rede von den sich ,abgehängt‘ fühlenden Ostdeutschen auf dem Lande, was als Erklärungsmuster für politischen Extremismus, für Fremdenfeindlichkeit und Anfälligkeit für Populismus herangezogen wird, wie u. a. in einem SPIEGEL-Artikel von Annett Meiritz über Mecklenburg-Vorpommern als „Das passiv-aggressive Land“.5 Die in 2 3 4
5
Vgl. http://www.songtexte.com/songtext/rainald-grebe-and-die-kapelle-der-versohnung/doreen-aus-mecklenburg-43c153f7.html Vgl. http://www.bpb.de/mediathek/193881/am-ende-der-milchstrasse Anne-Sophie Balzer: Der letzte Ort vor dem Nichts. ZEIT-ONLINE 21.10.2013. (http://www.zeit.de/kultur/film/2013-10/am-ende-der-milchstrasse-film/komplettansicht). Annett Meiritz: Mecklenburg-Vorpommern. Das passiv-aggressive Land. „In MecklenburgVorpommern ging zuletzt nur jeder zweite Bürger wählen. Gleichzeitig lässt das Land Populisten und Extreme gedeihen. Wer konnte, hat die Region längst verlassen – so wie unsere Autorin.“ In: SPIEGEL Online, 02.09.2016, (http://www.spiegel.de/politik/ deutschland/mecklenburg-vorpommern-das-passiv-aggressive-bundesland-a-1109409. html).
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Berlin lebende Autorin beschreibt ihre heutige Wahrnehmung der mecklenburgischen Provinz bei einem Besuch in ihrer Heimat: „Von meinem Heimatdorf zum Schweriner Bahnhof sind es zwölf Kilometer. Die Route führt vorbei an Pferdekoppeln, Reihenhäusern und den üblichen Wende-Trümmern. Ein Kaufladen, in der DDR Konsum genannt, modert seit den Neunzigern vor sich hin. Ein paar Straßen weiter stehen Überreste einer Gaststätte. Im abgefackelten Gebälk trafen sich früher Punks, dann Neonazis. Inzwischen trifft sich dort niemand mehr.“6 Wie viele andere Autoren konstatiert sie einen Entwicklungsrückstand und eine soziale Verödung seit der Wende und vor allem auch ein damit zusammenhängendes politisch-kulturelles Gefälle zwischen Zentrum und Peripherie. Die Spuren der jüngsten Geschichte scheinen in dieser Region in die Landschaft eingeschrieben zu sein. Die DDR-Geschichte ist immer noch physisch sichtbar und steht ausgedient in der Gegend herum: „Auf dem Weg zum Zug, der mich zurück nach Berlin bringen soll, sieht man einige solcher Geistergebäude. Ruinenfans fotografieren sie und stellen die Bilder ins Internet. Ansonsten erfüllen die Häuser keinen Zweck. Sie sind so überflüssig, dass sich nicht mal jemand die Mühe machte, sie abzureißen.“7 Die Ruine ist, wie David Williams in seiner vergleichenden Untersuchung postkommunistischer Schreibweisen gezeigt hat,8 ein wichtiger Topos in der literarischen Auseinandersetzung mit dem Ende des Sozialismus und in ganz unterschiedlichen Texten ein vielschichtiges, polysemantisches Motiv sowohl für Ende und Vergänglichkeit eines kulturellen Raums als auch für utopischen Eskapismus. In ihr materialisiert sich ein Zeitenwechsel, gleich einem Mahnmal symbolisiert sie die Überlagerung und die Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitschichten. Mit der Beschreibung von Leerstand in einer leeren Landschaft, so könnte man sagen, wird der Topos der Wende-Ruine durch die Verknüpfung mit landschaftlichen Gegebenheiten potenziert. Die Landschaft selbst weist hier Eigenschaften der Ruine auf, d. h. der Verlassenheit und des Verfalls: Es ist eine „platte, etwas heruntergewirtschaftete Landschaft.“9 In den drei Romanen, die in diesem Kapitel untersucht werden sollen, findet man eine ähnlich geartete Darstellung der Mecklenburger Landschaft und ihrer Ortschaften als öde, verwaist und von ruinösen Hinterlassenschaften der DDRGesellschaft durchzogen. So steht in den Romanen von Julia Schoch (Mit der Geschwindigkeit des Sommers, 2009), Judith Zander (Dinge, die wir heute sagten, 2010) oder Judith Schalansky (Der Hals der Giraffe, 2011) – alle drei Autorinnen 6 7 8 9
Ebd. Ebd. David Williams: Writing postcommunism: towards a literature of the East European ruins, Basingstoke 2013. Balzer, 2013.
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mit biografischem Bezug zu Mecklenburg-Vorpommern, d. h. entweder dort geboren und/oder dort aufgewachsen – die Darstellung des Alltagslebens im Nordosten des Bundeslandes in den 2000er Jahren im Vordergrund. Es werden ebenfalls Bilder gesellschaftlichen Stillstands oder Niedergangs gezeichnet und Themen wie Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, Rechtsradikalismus sowie ein allgemeines Abgekoppelt-Sein vom Zentrum der Gesellschaft zur Sprache gebracht. In den Texten wird eine ähnliche Atmosphäre evoziert, wie sie durch die medialen Bilder bekannt ist: Es geht um die Eintönigkeit und Ereignislosigkeit vor dem Hintergrund der kulturellen Rückstände des DDR-Staates wie leerstehender Plattenbauten oder LPG-Anlagen in vorpommerschen Dörfern, deren Präsenz die Atmosphäre der Texte grundiert. Alle drei Texte sind als Texte über DDRVergangenheit und Folgen des Transformationsprozesses lesbar und werden größtenteils auch so rezipiert. Alle drei Romane spielen in derselben Gegend in Vorpommern, wobei die eingangs zitierte Kleinstadt Anklam eine besondere Rolle spielt. Der Handlungsort von Judith Schalanskys Roman Der Hals der Giraffe wird zwar nicht konkret benannt, doch anhand der Stadtbeschreibungen lässt sich der Ort als Anklam ausmachen. Judith Zander, selbst in Anklam geboren, siedelt ihre Handlung in dem fiktiven Dorf Bresekow an und situiert dieses ganz in der Nähe von Anklam, wodurch das Städtchen zum regionalen Zentrum wird, in dem auch Teile der Handlung spielen. Julia Schochs Text spielt ebenfalls in einer nicht näher benannten vorpommerschen Kleinstadt, die sich als der ehemalige NVA-Armeestützpunkt Eggesin am Oderhaff erkennen lässt, in dem die Autorin aufgewachsen ist und der nicht weit entfernt von Anklam gelegen ist. Anklam und seine Umgebung sind nicht unbedingt ein Landstrich, den man für literaturfähig halten würde. Doch im Zusammenhang mit der Thematik historischer Umbrüche und ihrer Folgen in der Provinz ist der Ort als literarischer Schauplatz bei ganz unterschiedlichen Autoren präsent. In Andrea Hanna Hünnigers Buch Das Paradies: Meine Jugend nach der Mauer (2011), das sich autobiographisch mit ihrem Aufwachsen in einem Plattenbauviertel der Nachwendezeit in Weimar befasst und ihre Identitätsverwirrung als Kind desillusionierter ostdeutscher Eltern beschreibt, taucht Anklam am Rande auf. Der Ort ist hier Symbol für historische Erblasten. Ein aus Anklam stammender Freund der Ich-Erzählerin erwähnt Anklam in einem Brief an sie: „Wenigstens kommst du nicht aus Anklam. Die erste Stadt, die sich judenfrei gemeldet hat. Na gute Nacht. Noch besser wäre, du kämst gar nicht aus der Zone. Tschau.“10 Anklam erscheint hier als historisch dop10 Andrea Hanna Hünniger: Das Paradies. Meine Jugend nach der Mauer, Stuttgart 2011, S. 193.
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pelt stigmatisiert, es ist nicht nur ,Zone‘, sondern zudem bereits aus nationalsozialistischer Zeit belastet. Auch der Autor Uwe Timm (*1940) schreibt über den Ort. In seiner Novelle Freitisch (2011), in der es um das Wiedersehen zweier alter Studienfreunde geht, die in den 1960er Jahren gemeinsam in München studiert haben, treffen sich die beiden Protagonisten zufällig in Anklam wieder. Während der Ich-Erzähler nach seiner Pensionierung mit seiner Frau nach Anklam gezogen ist und dort ein Antiquariat führt, kommt sein ehemaliger Studienfreund als Unternehmer aus dem Westen in den Ort, um den Bau einer Mülldeponie zu planen, die Arbeitsplätze schaffen soll. Auch wenn die Auseinandersetzung mit dem lokalen Raum nicht im Mittelpunkt des Textes steht, sondern es um die Jugenderinnerungen und gemeinsame Prägung der beiden Hauptfiguren durch das Werk Arno Schmidts geht, zeigen sich in dieser Figuren-Konstellation symbolische Zuschreibungen an den Ort in der ostdeutschen Provinz: auf der einen Seite die Verklärung als entlegene Idylle für die Zeit der Pensionierung, auf der anderen Seite der durch den Strukturwandel gebeutelte Ort, der nun zur Mülldeponie taugt, worin der in der Figur des Kolonialisten auftretende westdeutsche Geschäftsmann ein lukratives Geschäft erblickt. Auch in Timms Text funktioniert Anklam als ein symbolischer Projektionsraum für die Vergangenheit, was offensichtlich durch die Verlassenheit und Rückständigkeit des Ortes möglich wird. Timms Ich-Erzähler beschreibt seine Anreise mit dem Zug, bei der sein Blick aus der oberen Etage der Regionalbahn über die Landschaft schweift. Die Landschaft ist schön, aber menschenleer: „Du kommst hier an – Stille. Im Bahnhofsgebäude nisten die Schwalben. Du steigst aus und stehst auf dem Bahnsteig in der freien Landschaft.“11 Nach der Ankunft auf dem offenbar verlassenen Bahnhof, der mehr einem Naturraum als einem Stadtraum zugehörig scheint, beschreibt er über mehrere Seiten den Weg mit dem Taxi in den Ort. Die Stadtbeschreibung vermittelt den Eindruck eines verschlafenen Provinzstädtchens mit viel Leerstand und Verfall sowie billigen Geschäften und einigen Imbissläden. Der Erzähler aus dem Westen fühlt sich angesichts seines Eindrucks von Zerstörung in seine Kindheit nach dem Zweiten Weltkrieg zurückversetzt: „Weiter die Straße entlang rechts ein altes Haus, die Fensterläden herausgerissen, daneben der Schuttberg eines anderen Hauses, ein Haufen Ziegel, darin Bruchstücke von Türen, Fensterkreuze, gesplitterte Balken, als wäre das Haus eben von einer Bombe oder Granate getroffen worden. Der Geruch nach Moder und Mörtel und Ziegelbruch steigt auf und bringt dir die Erinnerung an die Kindheit, das Spielen in den Trümmern.“12
Die ,Wende-Trümmer‘ Anklams als physisch sichtbare Spuren der Vergangenheit 11 Uwe Timm: Freitisch. Novelle, Köln 2011, S. 74. 12 Ebd., S. 75/76.
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ermöglichen dem Erzähler eine Rückprojektion bis in die Zeit nach 1945. Die Eignung des literarischen Schauplatzes Anklam als Projektionsraum für die Vergangenheit lässt sich in verschiedener Weise begründen. Hier fließen Diskurse zusammen, die auf unterschiedliche Weise hauptsächlich mit Rückständigkeit in Zusammenhang stehen und eine mentale Zeitreise in die Vergangenheit ermöglichen. So ist es zum einen die ,Östlichkeit‘ der Lage des Ortes an der östlichen Grenze eines der neuen Bundesländer, die hier mitwirkt. Die Reise in den Osten bildet bekanntermaßen einen eigenen Topos in der Literaturgeschichte. Der europäische Osten erweist sich dabei hartnäckig als Sinnbild für Rückständigkeit, als ein Gegensatz zum ,zivilisierten‘ Westen, um in der Terminologie von Larry Wolff zu bleiben, der die Entstehung des kulturellen Konstrukts ,Osteuropa‘ bis in die Zeit der Aufklärung hinein zurückverfolgt.13 Es ist auffällig, dass in Literatur und Medien zur Kennzeichnung der Entlegenheit des Ortes auf das Motiv der Zugreise zurückgegriffen wird – Uwe Timm schildert die Ankunft mit dem Zug in einer menschenleeren Landschaft genauso wie es in den zitierten Zeitungsartikeln um Zugreisen aus einem Zentrum (Berlin/Schwerin) an die Peripherie geht. Auch in Julia Schochs Roman wird die Entfernung ihres Handlungsorts von einem Zentrum in Zugstunden gemessen: „…, mit dem Zug brauchte man einen ganzen Tag, bis man heraus war aus dieser Ödnis.“ (24) Das Bild Anklams als symbolischer Ort der vom Strukturwandel geschwächten ostdeutschen Provinz ist also zusätzlich eingebettet in einen weiter gefassten Diskurs über die Rückständigkeit des fernen ,Ostens‘ als geopolitischer Raum. Ein weiterer Topos, der in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist und einen Ort wie Anklam nicht nur für Vorstellungen von materieller und kultureller Rückständigkeit, sondern auch für eine damit verbundene zeitliche Lage in der Vergangenheit prädestiniert, ist die Grenzhaftigkeit seiner Lage. Durch seine Lage in der Nähe der (ehemals geschlossenen) Grenze zu Polen ist Anklam auch Teil einer Grenzlandschaft. Grenzlandschaften stellen das Ende des bekannten Raums dar und ermöglichen Assoziationen zum Übergang in eine fremde Welt. Dies bezieht sich nicht nur auf kulturelle Räume, sondern kann auch einen temporalen Aspekt haben, der im Zusammenhang mit Vergangenheitsprojektionen wirksam ist. Erhard Schütz14 stellt diesbezüglich fest, dass gerade die Grenzlandschaften des Kalten Krieges ein konservatorisches Moment aufweisen. Er beschreibt sie als 13 Vgl. Larry Wolff: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford 1994. 14 Erhard Schütz: „Wirklich unwirtlich? Zwischen Zone, Winkel und dem Ende der Welt. Östliche Landschaften – nach der Grenze“. In: Sabine Eickenrodt/Katarína Motyková (Hrsg.): Unwirtliche Landschaften. Imaginationen der Ödnis in Literatur und Medien, Frankfurt/Main 2016.
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„Ruheräume der Geschichte“ oder als „verschonte Räume“.15 Die Entlegenheit und Weltfremdheit mancher Gegenden an der Peripherie ermögliche es, dort eine gewisse Unberührtheit von modernen Entwicklungen zu entdecken. Hier wurde scheinbar die Zeit konserviert und die Vergangenheit hat „mehr oder weniger unverändert überdauert“.16 In so einem Grenzgebiet bleibt Vergangenheit materiell länger sichtbar und physisch erlebbar – so sagt beispielsweise Judith Schalanskys Hauptfigur in Der Hals der Giraffe über ihr Anklam: „Man sah immer noch, dass man hier im Osten war. Man würde es noch in fünfzig Jahren sehen.“ (206) Schütz' Artikel befasst sich mit dem Begriff der Unwirtlichkeit. Dabei geht es um eine speziell östliche Unwirtlichkeit: Er untersucht verschiedene Facetten der Unwirtlichkeit östlicher Landschaften bzw. die Unwirtlichkeit des Ostens als wirkmächtige Zuschreibung aus westlicher Perspektive, die er anhand verschiedener in Literatur und Film verbreiteter Topoi näher beleuchtet. Dabei benennt er einen Aspekt, der bezüglich der literarischen Eigenschaften Anklams von Interesse ist, nämlich die Unwirtlichkeit als zivilisatorische Kategorie. Die Zuschreibung der Unwirtlichkeit einer Landschaft liege laut Schütz kulturgeschichtlich seit der vollständigen Entdeckung der Welt durch den Menschen nicht mehr in der Unberührtheit und Wildheit der Natur begründet, sondern ist Resultat zivilisatorischer Prozesse der Zerstörung. Als unwirtlich erscheinen heute daher hauptsächlich Landschaften, die vom Menschen in Beschlag genommen worden sind: „Vielmehr sind unwirtliche Landschaften heute weithin solche zweiter Ordnung, Landschaften, die von politischen, militärischen wie wirtschaftlichen Interessen durchregelt, ausgebeutet, kassiert und transformiert worden sind, schließlich weggeworfene, hinterlassene Räume.“17 Die unwirtliche Landschaft ist so betrachtet eine Negativ-Landschaft, sie ist das Gegenteil der Idylle. Es ist eine zivilisatorisch kaputte Landschaft und bezogen auf den Topos einer speziell östlichen Unwirtlichkeit speist sich diese Vorstellung letztlich aus dem Scheitern des gesellschaftlichen Experiments des Sozialismus, der auch eine zerstörte Landschaft hinterlassen hat. Bilder des unwirtlichen Ostens können daher auf dieser Ebene eine hegemoniale Sicht transportieren. Der Zerstörungsaspekt des Ostens findet sich sowohl bei Uwe Timm und einer Anklam-Beschreibung, die mit Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg verbunden wird, als auch in den zitierten medialen Beschreibungen Mecklenburg-Vorpommerns, wie im eingangs erwähnten ZEIT-Artikel: „ein Land zerbrochener Scheiben (…) demontierter Maschinen“, oder im Liedtext Rainald Grebes über das ,abgeschaltete‘ Land Mecklenburg-Vorpommern. Die Perspektive richtet sich auf Spuren einer offenbar für den Zerstörungsakt verant15 Ebd., S. 34. 16 Ebd., S. 34. 17 Schütz, 2016, S. 29/30.
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wortlichen Vergangenheit, deren Überreste nun als Ruinen in der Landschaft stehen. Die Darstellung Mecklenburg-Vorpommerns als öde Gegend hat neben der semantischen Kodierung als eine ruinöse östliche Landschaft der Unwirtlichkeit und Rückständigkeit eine literaturgeschichtliche Tradition, die weiter zurückzuverfolgen ist. Ein Nachdenken über die Literarisierung mecklenburgischer Landschaften ist ohne den Einfluss Uwe Johnsons schwer möglich, dessen Werk für das literarische Bild Mecklenburgs prägend gewesen ist. Uwe Johnson lässt sich in dieser Hinsicht mit Theodor Fontane vergleichen, dem eine ähnliche Rolle für das literarische Brandenburg zukommt, wie Roland Berbig in einem Artikel zu den Landschaftsbezügen im Werk beider Autoren vergleichend herausarbeitet. Berbig stellt eine gewisse Verwandtschaft zwischen Fontane und Johnson dahingehend heraus, als dass beide Autoren mit ihrem Werk eine Poetisierung von Landschaften betrieben haben, die in der literarischen Tradition kein glanzvolles Erbe aufzuweisen haben, an das sich anknüpfen und das sich ausbauen ließe, Länder also, von denen „Nicht Glanz und kaum Gloria“ ausgingen.18 Beides seien in der Literaturgeschichte Landschaften, „die im Verdacht standen, ein verklärendes Auge zu benötigen, um in romantischem Licht zu erscheinen“.19 Und beide Autoren hätten auf ihre jeweilige Weise und zu unterschiedlichen Zeiten landschaftliche und regionale Aufarbeitung betrieben, einen „poetischen Aufmöbelungsakt“ vollbracht.20 Berbig vergleicht daher verschiedene Aspekte ihres literarischen Schaffens aus dieser Perspektive. Er stellt fest, dass beide Autoren mit ihrer Literatur eine Nobilitierung des Regionalen bewirkt haben, indem sie die ,Sandige Einöde‘ durch literarische Narration auf- und umwerteten und damit überhaupt erst ein breiteres Bewusstsein für die regionalen Eigenheiten dieser Gegenden schufen, dessen außerliterarische Effekte schließlich auch das kulturelle Selbstbild der Länder mitprägten. Auch die literarische Verknüpfung des spezifisch Regionalen mit nationalen und politischen Entwicklungen ist ein Aspekt, der das Schaffen beider Autoren verbindet: „Wurde die Mark Fontanes in ihren Regionen und Landschaften preußisch grundiert und legitimiert, (…), rückte das Mecklenburg Johnsons aus seiner regionalen Abgelegenheit auf zu einer deutschen Angelegenheit.“21 Uwe Johnson ist in diesem Zusammenhang (d. h. der Verknüpfung des Regiona18 Roland Berbig: Sandige Einöde oder Märchenplatz? Theodor Fontanes Mark Brandenburg und Uwe Johnsons Mecklenburg. In: Sabine Eickenrodt/Katarína Motyková (Hrsg.): Unwirtliche Landschaften. Imaginationen der Ödnis in Literatur und Medien, Frankfurt/Main 2016, S. 248. 19 Ebd., S. 251. 20 Ebd., S. 255. 21 Ebd., S. 253.
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len mit dem Politischen) von besonderer Bedeutung, denn gerade für Judith Zanders Roman lassen sich hier deutliche Anknüpfungspunkte erkennen. Vor diesem Hintergrund betrachtet, erweist sich der literarische Schauplatz Anklam in Vorpommern als weniger randständig als vermutet und ermöglicht ein Geflecht an Assoziationen, die mit dem Ort als einem literarischen Zentrum der Ödnis verknüpft sind. Sowohl Fontane als auch Johnson haben zudem einen Teil ihrer Kindheit in dem Städtchen verbracht, ihre Biografien kreuzen sich gewissermaßen gerade dort. Roland Berbig sieht darin auf „subtile Weise“22 bereits eine Verbindung zwischen den beiden Autoren begründet. In wieweit die Texte von Julia Schoch, Judith Zander und Judith Schalansky ebenfalls subtil mit Aspekten dieses landschafts-literarischen Erbes verbunden sind, soll u. a. in diesem Kapitel untersucht werden. Im Mittelpunkt steht der Versuch, die semantische MehrfachKodierung in der literarischen Darstellung der öden Landschaft MecklenburgVorpommerns und der darin befindlichen Ruinen der DDR-Zeit aufzuschlüsseln. Welche Bedeutungsebenen lassen sich in der Ästhetisierung der Ödnis in den Texten ausmachen? Welche Gewichtung hat die DDR-Thematik in den Texten? Für alle drei Texte kann behauptet werden, dass sie sich mit der Frage nach mentalen wie materiellen Kontinuitäten der DDR beschäftigen und die Bedeutung bzw. Folgen des Systemumbruchs in einer spezifisch ,öden‘ Region ausloten.
3.2 Julia Schoch: Mit der Geschwindigkeit des Sommers (2009) Lethargie und Stillstand, die ein unsichtbares Drama verbergen – so ließe sich die Stimmung beschreiben, die diesen 2009 erschienenen Roman der Potsdamer Autorin Julia Schoch (*1974) durchdringt.23 Erzählt wird die Geschichte zweier Schwestern, die in den letzten Jahren der DDR in einem Armee-Stützpunkt am Oderhaff aufwuchsen, also in der besagten, von Abwanderung geprägten vorpommerschen Gegend nahe der polnischen Grenze. Die Lebenswege der Schwestern haben sich mit der ‚Wende‘ getrennt: Während die ältere Schwester in dem kleinen Ort geblieben war, eine Familie gegründet und ein Haus gebaut hatte, ist die jüngere Schwester in die Großstadt gegangen. Ausgangspunkt der Geschichte ist der plötzliche Selbstmord der älteren Schwester, wobei die jüngere als IchErzählerin fungiert und versucht, die Entscheidung ihrer Schwester nachzuvollziehen und deren Leben zu rekapitulieren. Dabei stellt sich heraus, dass ihre Schwes22 Ebd., S. 250. 23 Zitiert wird im Folgenden aus: Julia Schoch: Mit der Geschwindigkeit des Sommers, München 2010.
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ter vor dem Selbstmord einige Jahre lang neben ihrem nach außen hin angepassten und unauffälligen Leben ein heimliches Doppelleben mit einem Liebhaber geführt hatte, einem ehemaligen NVA-Soldaten, der bereits in ihrer Jugend für eine kurze Zeit ihr Liebhaber gewesen war. Der Soldat steht in der Erzählung für ihre Erinnerung an die DDR-Zeit und die Zeit ihrer Jugend. Mit dem Soldaten teilt sie die Erinnerung an ein untergegangenes Land und an ein kulturelles Wissen, das im neuen System keinen Nutzen mehr hat und keinen Sinn mehr ergibt. Er symbolisiert für sie eine „Zukunft, die sie niemals kennenlernen würde“ (63). Die Schwester wird von der Erzählerin im Gegensatz zu ihr selbst als eine Person charakterisiert, die nicht fähig ist, sich aus der (DDR-)Vergangenheit zu lösen: „Während sie all das nicht mehr los wurde, hatte ich Glück gehabt. Ich, die Jüngere, hatte den Absprung geschafft.“ (108) Der Text ist getragen von Bildern tiefer Melancholie und Einsamkeit; Apathie und Sinnlosigkeitsgefühle dominieren die Stimmungslage der Schwester der Erzählerin. Sie erscheint als eine am äußeren Leben nur scheinbar beteiligte Figur, die schließlich überraschend nach New York reist, um dort in einem Hotelzimmer ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Schochs Roman wurde bisher vorwiegend im Kontext der Erinnerungskulturbzw. Ostalgie-Debatte und hinsichtlich Fragen lokaler Identität diskutiert, da offensichtlich ist, dass es im Text um das Verhältnis der Hauptfigur zur DDRGeschichte wie auch zum lokalen Raum geht. In der Analyse von Franziska Meyer24 steht das häufig im Zusammenhang mit DDR-Erinnerungstexten diskutierte Thema des Verlusts im Vordergrund. Durch die erzählerische Verknüpfung des Freitods ihrer älteren Schwester mit Erinnerungen an den untergegangenen Staat DDR würde hier ein doppelter Verlust thematisiert, mit dem sich die Erzählerin auseinandersetzt. Meyer hebt die Melancholie als dominierendes ästhetisches Mittel hervor und weist gleichzeitig auf verschiedene distanzschaffende erzählerische Verfahren hin, wie z. B. die Anonymität der handelnden Personen, die allesamt keinen Namen tragen („der Soldat“, „meine Schwester“) sowie das wiederholte metafiktionale Eingreifen der Erzählerin, das Distanz zum Erzählten schafft: „Vielleicht. Es scheint. Ich nehme an. Die Wahrheit ist anders.“ (10) Ebenso streicht sie die textbestimmenden Effekte des Stillstands und den Mangel jeglicher Entwicklung hervor: „Stasis, not development, characterizes this narrative; the way the narrator sketches her sister is likewise static, and the striking omission of verbs and the nominalizations of the narrative style arrest any sense of movement.“25 In Fran24 Franziska Meyer: The Past is Another Country and the Country is Another Past: Sadness in East German Texts by Jacob Hein and Julia Schoch. In: Mary Cosgrove/Anna Richards: Edinburgh German Yearbook 6, Sadness and Melancholy in German-Language Literature and Culture, Rochester/New York, 2012. 25 Ebd., S. 185.
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ziska Meyers Interpretation ist es in erster Linie die erzählerische Distanz zum Geschehen, die trotz der im Zentrum stehenden Verlusterfahrung vor Sentimentalität bewahrt und eine ostalgische Lesart verhindert, da es dem Leser dadurch erschwert wird, sich positiv mit der Hauptfigur und ihrer Fixierung auf DDRErinnerungen zu identifizieren. Zudem erfolgt keinerlei Parteinahme für eine der Figuren, auch wird kein Mitleid erregt. Die ungeschönte Darstellung einer doppelten Verlusterfahrung, ohne diese jedoch implizit zu bewerten, führt Franziska Meyer zu der Schlussfolgerung, dass es der Autorin wohl kaum um verklärende Rückschau, doch auch nicht um die kritische Darstellung einer als unzureichend empfundenen öffentlichen Auseinandersetzung mit DDR-Geschichte gehen kann. Zentral sei hingegen die Darstellung der Unwiederbringlichkeit und Absolutheit eines erlittenen Verlusts und des damit verbundenen Schmerzes. Es geht um die existentielle Dimension der Verlusterfahrung im Sinne des Zusammenbruchs eines alltagskulturellen Sinnsystems und den damit verbundenen Gefühlen der Sinnentleerung und Fremdheit, denen – so Franziska Meyer – im Post-Wende-Kontext öffentlich nicht genügend Rechnung getragen wurde. Es gelte daher, diese Stimmungslagen bewusst zu machen und zu akzeptieren. Obwohl Meyer das Thema des Verlusts und den persönlichen Umgang mit dieser Erfahrung ins Zentrum ihrer Analyse stellt, weist sie darauf hin, dass das Ende des Romans zumindest einen positiven Ausblick bietet, da die Erzählerin in der Schlusssequenz ihren Blick weg von der Vergangenheit in eine unbekannte und ‚leere‘ Zukunft richtet, in eine Zeit, „in der noch gar nichts geschehen ist. Absolut nichts.“ (150) Aus Meyers Sicht wirft Schochs Text grundsätzlich die Frage auf, in welchem Maße und auf welche Weise die mit der Verlusterfahrung verbundenen „komplizierten Gefühle“26 im gegenwärtigen Deutschland überhaupt kommuniziert und verarbeitet werden können, da dies anscheinend nur in „predictable, safe communicative spaces“27 möglich sei, wie z. B. in den heimlichen Treffen der Schwester mit dem Soldaten. Zur doppelten Verlusterfahrung Die Verlusterfahrung steht für beide Schwestern im Vordergrund ihrer Wahrnehmung, denn beide verlieren die Heimat ihrer Kindheit, verstanden als vertrauter kultureller Kosmos der DDR. Diese Art von Verlust ist jedoch abstrakt und schwer zu fassen. Die Schwester der Erzählerin wird nicht als Frau beschrieben, die ihrem konkreten DDR-Leben nachtrauert, denn ostalgische Tendenzen lassen sich eben nicht ausmachen, da sowohl ihr Leben vor als auch nach der Wende als gleichermaßen eintönig, ja stumpfsinnig beschrieben wird. Was sie vielmehr zu 26 Ebd., S. 188. 27 Ebd., S. 188.
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beklagen scheint, ist der Verlust ihrer Jugend: „Wann war aus dem irren Lauf in die offene Zukunft, die Unbegrenztheit, wie es hieß, dieser Galopp auf der Stelle geworden, bei dem man sich eingrub? Das Entsetzen war ein ganz neues geworden: Sie war mit fünfundzwanzig schon dreißig, mit dreißig fragte sie sich, wie sie wohl mit vierzig aussähe, mit fünfunddreißig hatte sie schon alles hinter sich.“ (118)
Die besondere Problematik besteht für die Figur darin, dass dieser Verlust der Jugend und der vor ihr liegenden offenen Zukunft an das Verschwinden eines Staates und seiner Alltagskultur gekoppelt ist. Beides steht in einem unauflöslichen Zusammenhang, wodurch das Verlustgefühl und damit ihre Melancholie potenziert wird. Das Lebensgefühl der Protagonistin ist offenbar das einer frühzeitig Gealterten, die nicht in die ‚neue‘ Gesellschaft passt und daher eine Fixierung auf die Spuren des untergegangenen Staates entwickelt. Durch ihre wieder entfachte Liaison mit dem (inzwischen ebenfalls verheirateten) Soldaten sucht die Schwester eine Verbindung zurück in die Vergangenheit hin zu dem Punkt, an dem noch ein Zukunftsversprechen vor ihr lag. Gemeinsam suchen sie verwaiste, heruntergekommene Orte auf wie die ehemalige LPG (62) oder ihre alte Plattenbau-Siedlung, die sich im Abriss befindet (83). Für beide ist klar, dass diese Beziehung keine Zukunft hat, sondern auf ihre gemeinsamen „Ausflüge in die Vergangenheit“ (61) beschränkt bleibt. In der Realitätsflucht der Schwester aus dem tristen und zukunftslosen Alltag offenbart sich jedoch ein grundlegendes Verhaltensmuster, das sich schon in ihrer Kindheit und Jugend abzeichnet und das nicht nur als melancholische Reaktion auf eine Verlusterfahrung zu verstehen ist. In den durch die Wiederbegegnung mit dem Soldaten reaktivierten Kindheitserinnerungen zeigen sich bereits ähnliche Rückzugstendenzen und ein ausgeprägtes Phantasieleben, die einen Fluchtweg aus der geschilderten äußeren Monotonie des DDR-Alltags bilden. So behauptet die Erzählerin über ihre Schwester: „Es kann gar nicht anders gewesen sein. Sie hat ein geheimes Eigenleben geführt. (…) Sie war Klassenbeste, um nicht aufzufallen. Wer seine Pflicht tat, konnte ungestört untertauchen für eine bestimmte Zeit.“ (39) Dieses Leben in einer „Gegenwelt“ oder „Kammer des Überdauerns“ (40) wird als Charaktermerkmal der Schwester beschrieben: Ihr inneres Erleben scheint von den trostlosen äußeren Lebensumständen abgekoppelt. Diese Fluchtbewegung aus dem „Grau der Abläufe“ (45) erscheint als „Eine Art Notausgang, über den man sich nicht verbreitete, der niemanden etwas anging.“ (81). Der Zusammenbruch des DDR-Systems, der kurzzeitig eine Menge Bewegung in den Ort bringt (51), ändert jedoch nichts an dem Verhalten der Schwester. Der Abstand zum Geschehen bleibt auch in den folgenden Jahren bestehen, in denen ihr Leben mit Familie und Eigenheim von einem ähnlichen inneren Rückzugsverhalten geprägt ist. Die Affäre mit dem Soldaten kann als extremste Ausbildung dieser selbstgeschaffenen „Gegenwelt“ gesehen werden. Doch selbst über diese Liebschaft heißt es letztlich,
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sie wäre „nur wie das Zerstreuungsprogramm in einem Zug, der gegen eine Wand raste.“ (115) Es wird deutlich, dass die Schwester nicht nur etwas verloren hat, sondern auch etwas beibehält, nämlich ein Verhaltensmuster und eine bestimmte Art, dem Leben gegenüberzutreten. In dem gemeinsam erinnerten „Raum“ DDR (61), den sie mit dem Soldaten immer wieder aufsucht, trifft sie daher nicht nur auf eine Alternative ihres Lebens, die ihr durch den Systemumbruch genommen wurde, sondern ebenso auf die Erkenntnis, dass die Hoffnungen schon damals gering waren („Die Welt des Sozialismus hatte die Wünsche schrumpfen lassen. (…) Die Träume waren so klein gewesen, dass ihre Erfüllung unspektakulär leicht war. (…)“ (109/110) und dass ihr Lebensgefühl das gleiche geblieben ist. Sie wird sich gewissermaßen der Teilnahmslosigkeit voll bewusst, in der sie ihr Leben zugebracht hatte und die sie bis in die Gegenwart hinein nicht ablegt, bis sie schließlich Selbstmord begeht. Neben der doppelten Verlusterfahrung, die im Roman thematisiert wird, werden daher ebenso Kontinuitäten des Verhaltens thematisiert, die im DDR-Alltag entstanden sind und über 1989 hinaus beibehalten werden. Starre Landschaften Die Landschaftsbeschreibungen in Julia Schochs Roman entfalten eine starke ästhetische Wirkung. Der Eindruck der Nach-Wende-Tristesse auf dem platten Land, den der Text hervorruft, wird hauptsächlich durch eindringliche Landschaftsbilder evoziert, in denen der historische Bruch fühlbar wird. Historisches Geschehen ist der Landschaft eingeschrieben: „Landschaft und Geschichte: logisch haben sie wenig miteinander zu tun, aber sie verzahnen sich in der kontingenten Erfahrung ineinander und durchdringen sich dann nur umso unauflöslicher.“, heißt es zu dieser Verquickung in einer Rezension der Süddeutschen Zeitung.28 Die Landschaften sind ebenso Projektionsflächen für innere Zustände der Figuren, wie Anne Fuchs feststellt: „An die Stelle des Einblicks in das Innenleben tritt hier eine präzise Beschreibungspraxis, die sich auf die äußeren Erscheinungsbilder des Ortes und der Natur vor und nach der Wende verlegt.“29 Julia Schoch selbst äußert in einem Interview mit Frauke Meyer-Gosau, diese Thematik hätte sie beim Verfassen des Romans beschäftigt. Sie nimmt dabei Bezug auf Christa Wolf, da Meyer-Gosau eine gewisse thematische und ästhetische Nähe zu Christa 28 Ijoma Mangold: Das Echo des Schellenrings. Rezension in der Süddeutschen Zeitung, 10.3.2009. 29 Anne Fuchs: Poetiken der Entschleunigung in Prosatexten Wilhelm Genazinos, Julia Schochs und Judith Zanders. In: Silke Horstkotte, Leonhard Herrmann: Poetiken der Gegenwart. Deutschsprachige Romane nach 2000. Berlin/Bosten 2013, S. 223.
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Wolfs Nachdenken über Christa T. zur Sprache bringt, und behauptet über ihre Relektüre dieses Romans: „Mich interessierte Christa Wolfs literarische Technik: Wie sie die Beschreibung von Landschaften und Räumen mit den Gedanken der Erzählerin und der Hauptfigur verquickt, das ist schon toll.“30 Die Garnisonsstadt im Text wird sowohl vor als auch nach der Wende als künstliches Gebilde am Ende der Welt beschrieben. Der Text spielt mit der Semantik des Grenzraums als einem von den Einflüssen des Zentrums entkoppelten Gebiet: in den 1980er Jahren ein aus dem Boden gestampfter Militärstützpunkt nahe der geschlossenen polnischen Grenze und damit an der Peripherie gelegen; nach 1989 und dem Abzug des Militärs wiederum ein Ort im Nichts – die neu gebaute Autobahn führt weit am Ort vorbei, seine Einwohnerzahl schrumpft, Plattenbauten werden abgerissen. Zentral sind die Kontinuitäten des Alltagsgefühls, nicht der Einbruch der Wende: Das Leben in dem Ort am Oderhaff wird über den Systemwechsel hinweg als provisorisch, traditionslos und ohne wirkliche sinnstiftende Perspektiven beschrieben, über allem liegt eine lethargische Stimmung. War es vor 1989 seine einseitige Funktion als Militärstützpunkt, die das Lebensgefühl bestimmte, hat sich dies nach dem Systemwechsel nicht wesentlich geändert: Schein30 Frauke Meyer-Gosau: Wir sind zu früh. In: http://cicero.de/kultur/wir-sind-zufrueh/43305. Im Interview heißt es: „Als ihr von den Staats- und Literatur-Organen der DDR lange wütend befehdeter Roman „Nachdenken über Christa T.“ erschien, war Christa Wolf etwa so alt wie Julia Schoch heute, auch die Heldinnen beider Autorinnen haben ungefähr dasselbe Alter. Beide sind sie Familienmütter, die an dem Versuch scheitern, ihre Wünsche und die sie umgebende gesellschaftliche Wirklichkeit miteinander in Übereinstimmung zu bringen. Beide bezahlen ihr Scheitern mit dem Leben und von beiden heißt es, sie hätten „zu früh“ gelebt. Julia Schoch freut sich sichtlich, dass die Lektüre ihres Buches das Erzählprojekt der Grande Dame der DDR-Literatur wieder ins Gedächtnis ruft. Ohne ein Zögern beschreibt sie die reale Verbindung zwischen beiden Romanen. „Christa Wolf hat ihr Buch in einem ähnlichen Moment ihres Lebens geschrieben wie ich. Als ich mit dem Schreiben fast fertig war“, sagt sie, „habe ich ,Nachdenken über Christa T.‘‘ noch mal gelesen. (…) In meinem Roman interessiere ich mich für die künstlichen Orte, die von ihrer Generation gebaut wurden und die jetzt ,zurückgebaut‘ werden – was da einmal für ein Leben war, was für ein Ausblick auf das, was noch kommen würde, die Zukunft, die da angehäuft wurde. Und plötzlich, zack!, ist das alles weg. Christa T. stirbt an Leukämie, bei mir begeht die ,Schwester‘ Selbstmord, und ich wollte wissen, welche äußeren Faktoren dazu beitragen und wie die Umgebung hätte sein müssen, damit das nicht passiert wäre. Das ist eine Frage, die viel mit der Fragestellung von Christa Wolf zu tun hat. Nur sind die historischen Voraussetzungen unserer beiden Figuren eben grundverschieden.“ Auch Iris Radisch stellt in ihrer Rezension in der ZEIT u. a. einen Bezug zu Wolfs Christa T. her und bezeichnet die Protagonistin von Schochs Roman als „ein wenig aus der Mode gekommene Schmerzensfrau“. Iris Radisch: Die Geschichte von der Schneekönigin, der Mauer und dem Soldaten, Die ZEIT Nr. 12, 24.3.2009.
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bar gleichgültig haben sich die verbleibenden Bewohner in den neuen Bedingungen eingerichtet, der Ort wird nun als „aufgegebene Goldgräberstadt, leer und geisterhaft“ (59) beschrieben. Die Atmosphäre der Verlassenheit wird durch Naturbeschreibungen hervorgerufen, die unbehaglich wirken. Die Landschaft ist weit und flach, durch die Nähe zum Oderhaff gleichzeitig feucht, „klamm und schmierig“ (29). Wegen des vielen Wassers ist die Vegetation zwar üppig, aber damit auch undurchdringlich und abweisend – ein „Pflanzendickicht“ (18) durchsetzt von „trüben Seen“ (37). Ähnlich abweisend wirkt die unbewegliche, graue Wasseroberfläche des Oderhaffs, die als ein „Spiegel aus Quecksilber“ beschrieben wird, in den Nieselregen „senkrecht“ wie „Feine Nadeln“ eindringt. (78) Der Ort ist nicht nur abweisend und unwirtlich, sondern gar toxisch (Quecksilber) oder verletzend (Nadeln) und greift damit den Topos der verbotenen Zone31 im Grenzgebiet auf als ein bedrohliches und doch geheimnisvolles, hochästhetisches Niemandsland. Ein besonderes Merkmal der beschriebenen Landschaft ist zudem ihre Unbewegtheit. Es wird ein Raum entworfen, der einzig von Horizontalen (Wasseroberfläche) und Vertikalen (senkrechte Nadelstiche) dominiert wird und daher einen statischen Eindruck macht. Dieser Effekt tritt häufiger auf, denn in der beschriebenen flachen Landschaft bilden strenge vertikale Elemente einen deutlichen Kontrast: „Das Gras, sehr dunkelgrün, steht hoch, wie erstarrt, als hätten die Pflanzen den Moment des Welkens verpaßt.“ (91) An anderer Stelle wird diese vertikale, im Kontext der Erzählung soldatisch wirkende Starre zu einem Gefängnis: „Alleen, lang und gleichförmig. Baumstämme wie Stäbe von Gittern.“ (131) Es ist die innere Befindlichkeit der Schwester, die in diesen Landschaftsbildern verdichtet wird. Zu Beginn des Romans hat die Erzählerin eine Erinnerung an ihre Schwester, die sich als Bild bei ihr festgesetzt hat: die Schwester, wie sie bei Dunkelheit und Regen mit schweren Müllsäcken in der Hand vor dem Haus steht und Richtung Wald starrt. Auch dieses Bild ist bewegungslos. Und transportiert bereits die wesentlichen Themen: Einsamkeit, Unwirtlichkeit, Lasten (Müll) und den Wunsch zu fliehen (Richtung Wald). In ihrer Studie über „Heimat as Nonplace and Terrain Vague“ befasst sich Mary Cosgrove32 ausführlicher mit dem Verhältnis von Schochs Hauptfigur zum Ort, an dem sie lebt. Unter Anwendung von Marc Augés Konzept des ‚Nicht-Ortes‘ 31 Erhard Schütz beschreibt die „Zone“ als einen der Topoi östlich-unwirtlicher Landschaften, wobei A. Tarkowskijs Film Stalker von 1979 das Urbild der verbotenen Zone darstellt. Die „Zone“ ist eine hochambivalente Landschaft, ebenso kontaminiert und wie betörend, eine „inverse Idylle der Postapokalypse“. Vgl. Schütz, 2016, S. 31. 32 Mary Cosgrove: Heimat as Nonplace and Terrain Vague in Jenny Erpenbeck’s Heimsuchung and Julia Schoch’s Mit der Geschwindigkeit des Sommers. In: New German Critique 39, 2012, 2.
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stellt sie eine fehlende emotionale bzw. soziale Verbindung zwischen den Einwohnern und der Landschaft fest,33 die sie auf den funktionalen Charakter des Ortes als Militärstützpunkt in der Einöde zurückführt, der eine historische Verbundenheit mit dem Ort „as a place with history, tradition, and roots“34 im Sinne Marc Augés ‚anthropologischem Ort‘ nicht ermöglicht, sondern den provisorischen und fluiden Charakter des ‚Nicht-Ortes‘ beibehält. Das daraus entstehende Lebensgefühl ist von jenen Verlassenheits- und Sinnlosigkeitsgefühlen geprägt, die die Hauptfigur kennzeichnen. Mary Cosgrove sieht in der Charakterisierung des Ortes ein Abbild der DDR-Gesellschaft, die in der Wahrnehmung der Romanfiguren von fatalistischer Pflichterfüllung durchdrungen ist: „In this context place is little more than the mechanical performance of a corrupt, inefficient state that disenfranchises its citizens emotionally and psychologically. Place is the creaturely vacuum exposed by the charade of orderly society in which individuals, like the sisters and the many young men sent to the settlement – ,this hole‘, as they call it – must participate (GS, 36).“35
Doch kommt sie zu dem Schluss, hierin sei keine eindeutige DDR-Kritik zu sehen, denn die Darstellung des Ortes erfolgt eben auch nach dem Systemwechsel in einer ähnlichen Bildlichkeit: „These images of place – the settlement of the past, GDR ruins in the present, hotel rooms, supermarkets, the nearby lagoon and forest – evoke the non-place as a somewhere that exudes the dullness, ennui, and blandness of existence, both before and after unification.“36 Wie bereits Franziska Meyer stellt sie fest, der Text entziehe sich damit sowohl einer nostalgischen als auch einer kritischen Lesart bezüglich der DDR-Vergangenheit, denn die mangelnde lokalhistorische Verwurzelung und eine mangelnde sinnstiftende Zukunftsorientiertheit werden als Kennzeichen beider Gesellschaftssysteme dargestellt. Cosgrove deutet dieses provisorische Verhältnis zum Ort, das sie in ihrem vergleichenden Artikel ebenso für Jenny Erpenbecks Roman Heimsuchung feststellt, als Ausdruck einer ungeklärten deutschen Identität zwei Dekaden nach der Wiedervereinigung.37 Denn sowohl Erpenbecks als auch Schochs Text erzählen vom Leben an einem ‚Nicht-Ort‘, an dem die jeweils weiblichen Protagonistinnen einer absoluten Leere gegenüberstehen („image of nothingness“/ „absolute emptiness“)38, was sich in Cosgroves Sicht als symbolische Aussage über ein im gegenwärtigen Deutsch33 34 35 36 37 38
Ebd., S. 81/82. Ebd., S. 81. Ebd., S. 81. Ebd., S. 83. Ebd., S. 71. Ebd., S. 86.
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land fehlendes Einheitsgefühl („absence of a sense of the unified nation“)39 deuten ließe. Die Tatsache, dass in beiden Texten kaum westdeutsche Figuren auftreten und Westdeutschland als Bezugspunkt in keiner Weise eine Rolle spielt, interpretiert sie als Thematisierung der nicht vorhandenen Einheit des Landes, d. h. im Interpretationsrahmen der deutsch-deutschen Wiedervereinigung. Schochs Roman ist jedoch nicht nur eine Erzählung über das DDR- bzw. Wende-Schicksal einer jungen Frau. Durch die Fixierung auf den lokalen Raum und seine spezifische Landschaftsmetaphorik der Ödnis ist hier ebenso die Darstellung einer lokalen Thematik zu sehen. Denn das, was Mary Cosgrove mit Augés Konzept des „Nicht-Ortes“ zu erfassen versucht, d. h. die mangelnde Verwurzelung und das provisorische Lebensgefühl der Menschen („Man war hineingeraten in diese Landschaft, irgendwie, und genauso rasch und unspektakulär würde man sie wieder verlassen.“, 21), wird im Text nicht ausschließlich auf die Funktion des Ortes als abgelegener Militärstützpunkt und damit auf die DDR-Geschichte zurückgeführt, sondern auch mit der weiter zurückreichenden Geschichte der Gegend in Zusammenhang gebracht. Bei der Beschreibung der vorherrschenden Armut früherer Zeiten herrscht dieselbe fatalistische Stimmung vor wie im DDRAlltag der 1980er Jahre oder in der Zeit nach 1989: „Während anderswo die Landwirte dickbäuchig auf dem Kutschbock durchs Dorf gefahren waren, lief man hier neben den Fuhrwerken her, schonte die klapprigen Pferde.“ (18) Für die Charakteristik der Gegend wird dies von der Erzählinstanz auch auf landschaftlichgeologische Aspekte zurückbezogen, die die Landwirtschaft schon immer erschwerten und die „Armseligkeit“ (21) des Ortes mitbedingen würden. Die Ödnis wird im Sinne einer longue durée als kulturhistorisches Signum der Gegend ästhetisiert, die ,Glanz und Gloria‘ vermissen lässt. Die DDR-Geschichte des Ortes führt gewissermaßen die Armseligkeit und fehlende sinnstiftende Identifikation mit dem Ort fort bzw. ist eingebettet in einen Raumdiskurs, der diese Themen bereits aufwirft. Das Nichts Im Roman wird nicht viel über das Verhältnis der beiden Schwestern offenbart. Deutlich wird nur der sehr unterschiedliche Verlauf ihrer Biographien nach der ,Wende‘. Die Ich-Erzählerin erzählt nicht über sich selbst, sondern über ihre Schwester; ihr eigenes Leben bleibt im Dunkeln bis auf einige Andeutungen, die mutmaßen lassen, dass sie ein urbanes Leben mit vielen beruflichen Reisen führt. In der extern fokalisierten Beschreibung des Lebens ihrer Schwester, die voller 39 Ebd., S. 86.
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Mutmaßungen über deren Alltag steckt („manchmal stelle ich mir vor, …“ (126), „Jetzt sehe ich plötzlich deutlich, daß sie …“ (56), „Ich bin sicher, sie hat geahnt, daß …“ (45) u. ä.), bildet sich jedoch indirekt die Einstellung der Erzählerin zum Ort ihrer Herkunft ab. Obwohl sie sehr distanziert berichtet, ist sie es nicht wirklich. Auffällig ist, dass sie gelegentlich in die Wir-Form wechselt, wenn sie über den Ort schreibt: „Wir haben später nie gesagt, wir würden von dort stammen.“ (21) Dies zeigt innere Beteiligung und Identifikation, die Erzählerin sieht sich durch den Tod ihrer Schwester ebenso mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert, von der sie sich offenbar durch Verlassen des Ortes abgewendet hat und die sie nun zu rekonstruieren versucht. Auch Mary Cosgrove unterstreicht die Bedeutung eines Rekonstruktions- und Reflexionsprozesses für die Erzählerfigur, da diese sich durch das Erzählen selbst sehr tief in ihre eigene Lebensgeschichte begibt: „However, we cannot overlook the self reckoning implicit in the narrator’s developing self-understanding.“40 Auch die Armseligkeit der Gegend beschreibt sie in der Wir-Form als eine sowohl landschaftliche als auch soziale Leere, in der die Umfunktionierung des Ackerstädtchens in einen DDR-Armeestützpunkt eigentlich keinen großen Unterschied macht: „In unserer Kindheit hat es weder den Singsang kirchlicher Litaneien gegeben noch bürgerliches Salongeschwätz, untermalt von Klavieren. Und erst recht kein Gebrüll irgendeines Diktators. Auch alte Volksweisheiten gab es nicht, in der Gegend wurden kaum Rituale oder Feste begangen. Diese Leere wußten die meisten mit irgendeiner Arbeit zu füllen, eher: einem Dienst. Die geschäftige Mattheit war das Gefühl, in dem sich alle fanden, Stationierte wie die wirklichen Bewohner des Orts. Ich halte es für möglich, daß der wortlose Gleichmut jener Zeit in uns geblieben ist, daß wir ihn mitschleppen bis zum Tod. Und daß gar nichts ihn ersetzen kann, nicht eine neue Liebe, auch kein Plan zum Fortgehen, ja: nicht einmal die Lust der Freiheit.“ (119/120)
Durch die Wir-Form wird sehr deutlich, dass das Aufwachsen in dem Ort bei beiden Schwestern Spuren hinterlassen hat, auch für die Erzählerin geht es um Kontinuitäten („der wortlose Gleichmut“). Die Nähe der Schwestern zueinander wird durch die erzählerische Distanznahme nur scheinbar unterlaufen, durch ihre gemeinsame Geschichte sind sie miteinander verbunden. Iris Radisch bemerkt dazu: „Es ist diese hellere, globalisierte Seite des Ich, das die traurige Ballade von seiner anderen, verhockten ostdeutschen Seelenhälfte erzählt.“41 Beide Schwestern haben ein gespaltenes Verhältnis zu dieser Vergangenheit 40 Ebd., S. 85. 41 Iris Radisch: Die Geschichte von der Schneekönigin, der Mauer und dem Soldaten, Die ZEIT Nr. 12, 24.3.2009.
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und können sich nicht wirklich lösen. Dies zeigt sich auch im Schluss des Romans, der ambivalent ist. Er endet – ähnlich wie er begann – mit einem symbolstarken Bild der Schwester. Die Erzählerin imaginiert die letzten Stunden ihrer Schwester in New York anhand einer Postkarte, die diese vor ihrem Tod geschickt hatte. Sie stellt sich eine Straßenszene in Manhattan vor, die von „Mittagshelligkeit“ geprägt ist und in der die Distanziertheit der Schwester, ihr „Abstand zur Welt getilgt“ ist (145). Am Textende wird also das düstere Bild vom Beginn des Romans (Schwester mit Müllsäcken im Regen) durch ein anderes, ‚mittagshelles‘ ersetzt. Doch dahinter werden der Wunsch und die Willensanstrengung der Erzählerin spürbar, die letzten Momente der Schwester als hell und unbeschwert zu zeichnen: „Ich weiß nicht, ob es tatsächlich um die Mittagszeit war. Aber es muß in hellem Sonnenlicht stattgefunden haben, (...).“ (144) Es ist jedoch nicht klar, inwieweit die Loslösung von der Vergangenheit wirklich geglückt ist. Die letzten Sätze machen dies deutlich: „Die Wahrheit ist anders. Ist die, daß sie mich ablenken wollte von meinem sicheren Schmerz, mich in eine andere Richtung leiten, einmal nicht der Vergangenheit zu. Daß ich endlich dorthin blicken müßte, wo noch nichts ist, einer Zeit entgegen, die noch lange nicht begonnen hat, in der noch gar nichts geschehen ist. Absolut nichts.“ (150)
Das Nichts, der Blick in die ,leere Zukunft‘, die in den letzten Sätzen zur Sprache kommt, scheint zwar von der Last der Vergangenheit zu erlösen und wird von Mary Cosgrove als Möglichkeit zum Neuanfang gedeutet. Doch ist das ,Nichts‘ im Zusammenhang mit der Ästhetisierung der Ödnis und Leere in diesem Roman mindestens ambivalent. Es bedeutet eben nicht nur die Möglichkeit eines völligen Neuanfangs nach dem Ende der DDR, sondern steht auch in Verbindung mit einer Kontinuität des Nichts als ein wichtiges Text-Motiv. Denn mit dem Blick ins ‚Nichts‘ wird lediglich ein neuer Raum eröffnet, der in keiner Vergangenheit wurzelt und ohne sinnstiftende Vergangenheit, eben völlig leer (=‚nichts‘) ist, womit ein Zustand beschrieben wird, der für die Schilderung des Ortes und das Leben der Schwester bereits kennzeichnend war. Der Text endet gewissermaßen mit dem Bild eines ‚Nicht-Ortes‘ im Sinne der von Cosgrove analysierten Bildlichkeit der Leere und mangelnden historischen Tiefe. Das ,Nichts‘ ragt aus der Vergangenheit in die Zukunft der Erzählerin und ist eine Erfahrung, die sie mit ihrer Schwester teilt. Es ist das Erbe der Vergangenheit an diesem Ort und bringt ein Unbeteiligtsein hervor, das sich im Leben beider Schwestern äußert – die Erzählerin ist unbeteiligt durch physische Abwesenheit, die verstorbene Schwester durch ein nur äußerlich angepasstes Leben bei innerer Abwesenheit. Die beiden Schwestern teilen in ihrer Erinnerung an den Ort also ein gemeinsames Wissen um das Fehlen von etwas, das sich im Text als immer präsentes Motiv der Leere ausdrückt. Beide Schwestern
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gehen unterschiedlich damit um. Die „Unbeteiligtheit des Subjekts“42, die hier geschildert wird, umfasst jedoch zwei gegensätzliche Pole, denn der Selbstmord der Protagonistin steht einem hohen Maß an innerer Freiheit der Erzählerin gegenüber, die sich in ihrer distanzierten Betrachtungsweise und der ‚leeren‘ Zukunft ebenfalls erblicken lässt. Die Poetisierung der Ödnis stellt in diesem Text das zentrale ästhetische Mittel dar und weist verschiedene Bedeutungsebenen auf. Die Darstellung der landschaftlichen Gegebenheiten in einer spezifischen Weise als verlassen, reglos, leer etc. dient der Verbildlichung von innerpsychischen Zuständen der Hauptfigur: Die Landschaft ist Projektionsfläche für ihre innere Unbeteiligtheit. Dabei wird erzählerisch auf einen Landschaftsraum zurückgegriffen, der mit bestimmten landschaftsliterarischen Traditionen und Diskursen verknüpft ist, die durch seine Lage an der östlichen Peripherie des Landes sowie in einem dünn besiedelten Grenzraum bestimmt werden. Es wird ein Assoziationsgefüge der Unwirtlichkeit und Verlassenheit aktiviert, das in eben jene psychischen Zustände einfließt, die die Hauptfigur charakterisieren. Die landschaftlichen Eigenschaften des Raums fallen mit den psychischen Merkmalen der Hauptfigur in eins. Doch geht es hier nicht nur um die Beschreibung einer klinischen Depression, als die der Text schließlich auch betrachtet werden kann. Landschaft und Psyche der Hauptfigur sind ebenso mit den Spuren der Geschichte verwoben und bilden historische Entwicklungen ab. Im Mittelpunkt steht das Ende der DDR als einschneidende Verlusterfahrung und der Wandel des Ortes zur sich entvölkernden ,Geisterstadt‘. Doch spielt sich diese Entwicklung in einem breiteren Kontext ab. Der Text handelt nicht nur vom Verlust sondern ebenso von Kontinuitäten, die über das zentrale Motiv der Leere der Landschaft transportiert werden. Die Leere, das Nichts, der ,Nicht-Ort‘ sind hierbei nicht oder nicht nur als Zustandsbeschreibungen eines durch die Gesellschaftstransformation bedeutungslos gewordenen ehemaligen NVA-Stützpunktes zu betrachten, sondern es sind ebenso längerfristige Eigenschaften des Ortes, der Landschaft sowie auch mentale Eigenheiten der beiden Schwestern als eine grundlegende ,Unbeteiligtheit des Subjekts‘, die sowohl Depression als auch innere Freiheit bedeuten kann. Dass die Hauptfigur ausgerechnet nach New York reist, um ihr Leben zu beenden, also in die Stadt, in der Uwe Johnson einen Teil seines Leben verbracht hat und in der auch die Hauptfigur Gesine Cressphal aus Johnsons Roman Jahrestage lebt, ließe sich wiederum als eine 42 Sabine Kyora: Neuere Literatur zur Wende. In: Ute Dettmar/Mareile Oetken (Hrsg.): Grenzenlos. Mauerfall und Wende in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien, Heidelberg 2010, S. 215.
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weitere ,subtile Verbindung‘ betrachten bezüglich der literarischen Verknüpfung von Provinz und Weltgeschichte.
3.3 Judith Zander: Dinge, die wir heute sagten (2010) Judith Zanders Roman wird auf dem Buchrücken mit folgendem kurzen Zitat beworben: „Es gibt keine Kneipe in Bresekow. Es gibt überhaupt nichts. Es ist das Zentrum des Nichts, das sich kurz hinter Berlin auftut und bis Rostock nicht aufhört. Ein hässliches Endlein der Welt, über das man besser den Mund hält.“43 Auch hier geht es um den Topos des ‚Nichts‘ in Mecklenburg-Vorpommern, um eine Landschaft, die öde und noch dazu hässlich ist und deren Existenz man lieber verschweigen sollte. Die Themen des Romans sind denen bei Julia Schoch verwandt: beschrieben wird das Leben in einem abgelegenen vorpommerschen Dorf – das fiktive Bresekow in der Nähe von Anklam. Die Stimmung dort ist ähnlich. Es wird ein Alltag dargestellt, der die Folgen des Strukturwandels seit 1989 erkennen lässt – die LPG im Dorf ist geschlossen. Es geht um Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit der Jugend, Langeweile. Dass diese Ödnis als ein hässliches Endlein der Welt betitelt wird, über das lieber geschwiegen werden sollte, deutet ,hässliche‘ Dinge an, die sich im Dorf hinter dem vordergründigen ,Nichts‘ der Ereignislosigkeit abspielen – in gewisser Weise auch eine Parallele zu Schoch, bei der das innere Drama der Protagonistin ebenfalls hinter äußerem Gleichmut verborgen bleibt. Anders als bei Schoch wird hier jedoch nicht aus der Perspektive einer Ich-Erzählerin erzählt, sondern es gibt viele verschiedene Erzählstimmen, die die Sicht verschiedener Generationen im Dorf abbilden. Ausgangspunkt des Geschehens ist die Rückkehr von Ingrid Hanske nach Bresekow, die als junges Mädchen Anfang der 1970er Jahre nach West-Berlin geflohen war. Sie lebt inzwischen in Irland und kommt nun anlässlich des Todes ihrer Mutter Anna Hanske im Jahr 1999 zum ersten Mal wieder ins Dorf, um die Beerdigung auszurichten und das Haus ihrer Mutter zu verkaufen. Sie reist gemeinsam mit ihrem Mann Michael, einem irischen Uwe-Johnson-Forscher, und ihrem gemeinsamen Sohn Paul an, was im Dorf genau registriert wird und Anlass für Erinnerungen und Spekulationen gibt, mittels derer ein indirektes und langsames Aufblättern des lokalen Beziehungsgeflechts erfolgt. Dabei offenbaren sich für den Leser die bedrückenden Umstände, die damals zu Ingrids Flucht führten, nur Stück für Stück: Ingrid wurde im Alter von 17 Jahren vergewaltigt und hat ein Kind bekommen – den geistig behinderten Henry, den sie bei ihrer Flucht als Kleinkind 43 Zitiert wird im Folgenden aus: Judith Zander: Dinge, die wir heute sagten, München 2010.
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bei ihrer Mutter zurückließ und der, nachdem er später als ‚Dorfverrückter‘ eine alte Frau erschlagen und vergewaltigt hat, nun in einer geschlossenen Anstalt lebt. Der Vater des Kindes, der ‚Dorfschönling‘ und Sohn des Bürgermeisters Roland, kam kurz nach der Vergewaltigung bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Außer Ingrid, die diese Geschehnisse später vor ihrem Mann und ihrem Sohn verheimlichte, gibt es im Dorf nur einen Mitwisser – Hartmut Wachlowski, Schulfreund des schönen Rolands. Auch er hatte das Wissen um die Vergewaltigung zeitlebens für sich behalten und wird nun durch Ingrids Wiederkehr erneut damit konfrontiert. Der Erzählstrang um Ingrids Flucht repräsentiert die Sichtweise der mittleren, in der DDR aufgewachsenen Generation auf die DDR- und Wendegeschichte im Dorf. Ebenso präsent sind aber die Perspektiven der älteren Generation, die von der Nachkriegszeit und Kollektivierung geprägt sind, so z. B. durch Erzählungen der Freundinnen der verstorbenen Anna Hanske, sowie der jüngeren Generation, wie durch die beiden jugendlichen Protagonistinnen Ella Wachlowski (die Tochter von Hartmut) und Romy Plötz, die sich wiederum mit Ingrids Sohn Paul anfreunden und beide heimlich in ihn verliebt sind. Sie besitzen noch Kindheitserinnerungen an die DDR, machen jedoch ihr Abitur bereits im neuen System und wachsen in einer sich globalisierenden Welt auf – auch wenn im Dorfalltag davon scheinbar nicht viel zu spüren ist. „Ist das hier eigentlich noch so was wie Zivilisation?“ – fragt sich die Jugendliche Ella über die Gegend, in der sie aufwächst. (177) Die Landschaft um Bresekow scheint ebenso verlassen und östlich unwirtlich wie die bei Julia Schoch, doch spielen Landschaftsbeschreibungen bei Zander eine weniger markante Rolle. Es steht der desolate Ort im Mittelpunkt, der wie Schochs Kasernenstadt einen Funktionsverlust erlitten hat: die Schließung der ehemaligen LPG. Dieser ehemalige Lebensmittelpunkt des Dorfes hat seine integrative Bedeutung verloren und es wird eine zunehmende soziale Vereinzelung beschrieben: „Die Alten wie die paar Jungen, die leben alle nur noch in ihrem Haus, die bauen das aus noch und nöcher, aber mehr nicht, lauter einzelne Häuser. Das ist kein Dorf mehr. In der Mitte ist nichts.“ (458) Das beklagte ‚Nichts‘ in der Mitte ist eine soziale Ödnis, die sich um die Ruine der LPG in der Dorfmitte ausbreitet, welche symbolisch von der perspektivlosen Jugend besetzt wird, die die „Elpe“ als informellen Jugendtreff nutzt. Welche Rolle spielt also die leerstehende LPG als symbolisches Zentrum der Ödnis im Text? Trotz ihrer materiellen Präsenz im Dorfzentrum als Zeichen für den Untergang der DDR und einen schwierigen Strukturwandel seit 1989 wird der tiefgreifende Umbruch der Wende im Dorf kaum als solcher spürbar. Auch darin zeigt sich eine Parallele zu Schoch. Der gesellschaftliche Bruch von 1989 hat offenbar das Lebensgefühl in Bresekow nicht wesentlich beeinflusst – es war schon vorher öde und es bleibt öde. Wäre die leerstehende LPG nicht so zentral, könnte man sich fragen, ob die Wende überhaupt stattgefunden hat – der Roman provo-
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ziert genau diese Frage, wie sich in den Kommentaren von Mitgliedern der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises zeigt, für den Dinge, die wir heute sagten im Jahr 2010 nominiert wurde. Die dargestellte Ödnis aktiviert offenbar einerseits verbreitete Deutungsmuster über den Alltag in der DDR – so sieht Hubertus Winkler im Roman einen Text über die graue DDR, obwohl die Romanhandlung explizit im Jahr 1999 angesiedelt ist: „Jedenfalls ist man einmal mehr total dankbar dafür, dass es die DDR nicht mehr gibt, denn da muss es zum Einschlafen zugegangen sein, (…). (…) Das Ganze kommt mir vor (…) wie ein Wiegenlied für das entsetzliche Grau in diesem Land, das es wie gesagt glücklicherweise nicht mehr gibt.“ Doch wird im Roman ebenso eine generelle Gleichgültigkeit gegenüber Geschichte und dem Einschnitt von 1989 spürbar, die eine DDR-fokussierte Lesart andererseits erschwert und den Blick auf die Gegenwart lenkt, so Meike Feßmann: „Es entsteht kein DDR-Bild, aber diese Biografie ist eingebettet in die DDR.“, oder Burkhard Spinnen: „Das ist für mich kein Text über die DDR, sondern es ist ein Text über Schicksalslosigkeit.“44 Diese Einschätzungen zeigen, dass der Roman Diskussionen provoziert über die Zusammenhänge zwischen der DDR-Vergangenheit und der heutigen Ödnis im Dorfleben. Diese Frage nach der Geschichtshaltigkeit oder Gegenwartsbezogenheit des Romans bildet sich auch in literaturwissenschaftlichen Betrachtungen ab und wird dort unterschiedlich perspektiviert. Anne Fuchs analysiert diesen Text ebenfalls wie auch Julia Schochs Roman Mit der Geschwindigkeit des Sommers hinsichtlich Fragen von lokaler Identität und ‚Heimat‘ im Zeitalter der Globalisierung. Ihr Vergleichskriterium ist die Frage danach, inwieweit die provinziellen NachwendeOrte, die in beiden Romanen beschrieben werden, ,Heimaten‘ darstellen, verstanden als identitäts- und sinnstiftende lokale Räume. Sie macht zwischen beiden Romanen den grundlegenden Unterschied aus, dass während bei Schoch der provinzielle Raum abgekoppelt von sowohl historischer Verankerung als auch Zukunftsvision erscheint und das Leben der Protagonistin dadurch in keinem sinnproduzierenden Kontext stattfindet („disjuncture between subjectivity and territory“45), bei Zander eine Reterritorialisierung der Provinz erfolgt. Die Ödnis in Zanders Roman sei kein ,non-place‘ wie bei Schoch (sie bezieht sich u. a. auf Mary Cosgroves Studie), denn „... unlike Schoch, Zander makes this non-eventfulness the very basis for a local identity that is only seemingly divorced from history.“46 Sie sieht einen starken Geschichtsbezug hinter der ,non-eventfulness‘; Weltgeschichte wird hier auf die sehr kleinteilige lokale Ebene nachverfolgt und bildet sich im Beziehungsgeflecht der Dorfbewohner ab, obwohl durch den Schauplatz gleichzei44 Hubert Winkels (Hrsg.): Klagenfurter Texte. Die Besten 2010, München 2010, S. 88–91. 45 Fuchs 2013, S. 138. 46 Ebd., S. 128.
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tig der Eindruck der Weltferne erweckt wird: „On the one hand, the perception of history from the periphery undermines the notion of the historical event; on the other, it simultaneously foregrounds patterns that interwaeve the local with national and global affairs.“47 Fuchs macht also gerade die Verwobenheit des Historischen mit dem Lokalen stark und versteht die Provinz als Ort, „where history brings forth a range of small-scale but highly symptomatic local incidents that have left their marks on the protagonist's lives.“48 Julian Reidy49 sieht dies etwas anders. Er liest den Roman in erster Linie als Generationen- und Familienroman, womit er ihn in einen etwas anderen Kontext einordnet. In seiner Studie über Paradigmen des Generationenromans in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zielt er darauf ab, Zanders Generationenpanorama (zusammen mit einigen anderen Gegenwartstexten) von einem gegenwärtig dominierenden Paradigma abzuheben, demgemäß die derzeit zahlreich erscheinenden Familiengeschichten vor dem Hintergrund eines Gedächtnisbooms hauptsächlich auf ihre erinnerungskulturelle Funktion hin gelesen werden. Dies führt er zurück auf die Dominanz eines „rekonstruktiven“ Erzählschemas, das sich in vielen gegenwärtigen Familienromanen ausmachen lässt. Dabei würde sich in der Regel die Enkelgeneration durch ‚Aufarbeitung‘ der eigenen Familiengeschichte den eher belastenden historischen Themen zuwenden und somit ‚große Geschichte‘ durch die Linse des Privaten erfahrbar machen.50 Dieser Typus des „rekonstruktiven Generationenromans“ basiere auf der „Rekonstruktionsarbeit der Nachgeborenen“51 und intendiere nachträgliche Sinn- und Identitätsstiftung sowie nicht zuletzt einen therapeutischen Effekt. Für Zanders Roman stellt er dieses Verfahren nicht fest, er ordnet ihn den „postheroischen“ Generationstexten zu, die nicht unbedingt die großen historischen Einschnitte auf Ebene der Generationenfolge thematisieren. Zanders Mehr-Generationen-Perspektive sei nicht darauf angelegt, durch das Prisma der Familiengeschichte historische Traumata und Schuldkomplexe aufzuarbeiten, sondern richte den Blick vielmehr auf die Gegenwart. Er weist anhand verschiedener Text-Aspekte nach, dass die diachrone Erzählebene, die in die Tiefe der Generationenproblematik führen würde, im Roman immer wieder ausgehebelt wird und die synchrone Erzählebene in den Vordergrund 47 Ebd., S. 128. 48 Ebd., S. 139. 49 Julian Reidy: Mutmaßungen über Bresekow oder ‚the attack of the clones‘: Judith Zanders Dinge, die wir heute sagten. In: Julian Reidy: Rekonstruktion und Entheroisierung: Paradigmen des „Generationenromans“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Bielefeld 2013. 50 Ebd., S. 197 ff. 51 Ebd., S. 10.
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rückt. Ein wichtiger Punkt ist z. B. die Temporalität des Erzählten. Reidy sieht im Roman eine subversive Anknüpfung an die Gattung des Heimatromans aufgrund seines Tempus. Unter Bezugnahme auf Bachtins Konzept des Chronotopos zeigt er, dass in Zanders Text eine zyklische Zeitvorstellung dominiert, die für das Provinzstädtchen bzw. den Provinzroman charakteristisch sei.52 Es geht hier um eine Zeitvorstellung, die „keinen fortschreitenden historischen Verlauf “53 kennt, sondern das Verweilen in einem „ewigen Präsens“54 ausdrückt. Die Zeitlosigkeit – eigentlich kennzeichnend für Darstellungen der Idylle – wird in Zanders Text zur Anti-Idylle, da die stehengebliebene Zeit einen Zustand der Stagnation ausdrückt, der von den Dorfbewohnern beklagt und als „Langeweile (…) im Endstadium“55 empfunden wird. Darüber hinaus gäbe es keine ,echten‘ Aufarbeitungsbestrebungen seitens der jüngeren Generation, also nicht die typischen Enkel als Erzählerfiguren, die sich daran machen, ihre persönliche Familiengeschichte zu erforschen und die oftmals schuldhafte Verwicklung ihrer Vorfahren in historische Ereignisse aufzuarbeiten. Auch das im Text aufgedeckte Familiengeheimnis stelle im Prinzip ein ‚klassisches‘ bzw. ahistorisches Familiengeheimnis dar (verschwiegene sexuelle Gewalt) und kein innerfamiliär tabuisiertes historisches Trauma. Die Metareflexionen über die DDR, die im Text mittels intertextueller Bezüge zu Uwe Johnson und Christa Wolf angelegt sind, laufen laut Reidys Analyse erzähltechnisch auf Sackgassen hinaus, die ebenso eine diachrone Perspektive und Erkenntnisgewinn über die Vergangenheit verhindern. Reidy kommt daher zu einem anderen Schluß als Anne Fuchs: „Der ‚Engel der Geschichte‘ fliegt an Bresekow vorbei; im Dorf geht es nicht um die großen historischen Verwerfungen, sondern um die ‚kleinen‘ Gemeinheiten, Verbrechen und Lügen.“56 Kommunikative Ödnis Dass und auch wie im Roman der Eindruck der Zeit- und Geschichtslosigkeit entsteht, lässt sich besonders gut anhand der lokalen Beziehungs- und Kommunikationsstrukturen erkennen, die der Text abbildet. Der Roman beschreibt das soziale Gefüge in einem Dorf, in dem zunehmende Vereinzelung beklagt wird. Die Beziehungen zwischen den Dorfbewohnern sind der narrativen Struktur des Textes eingeschrieben. Der ca. 500 Seiten starke Roman bildet ein polyphones Geflecht aus zahlreichen verschiedenen Erzählstimmen. Jedes Kapitel entspricht dem 52 53 54 55 56
Ebd., S. 218/219. Michail Bachtin, zitiert nach Reidy, Ebd., S. 218. Ebd., S. 219. Zitiert nach Reidy, Ebd., S. 220. Ebd., S. 199.
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inneren Monolog einer Figur und ist mit deren Namen überschrieben. Auch die Gemeinde an sich hat eine eigene Erzählstimme und ist als Chor konzipiert, der die Geschehnisse im Ort dokumentiert – der Dorfklatsch. Durch das Nebeneinanderstellen vieler einzelner Stimmen, das von keiner auktorialen Instanz überblickt und geleitet wird, setzt sich ein Mosaik aus autonomen Innensichten zusammen. Die meisten Figuren erzählen in der Ich-Form. Abweichungen hiervon gibt es jedoch: Maria Wachlowski, eine Angehörige der Generation der verstorbenen Anna Hanske, erzählt zwar auch in der Ich-Form, führt aber gleichzeitig einen imaginierten Dialog mit ihrer verstorbenen Freundin Anna Hanske, wodurch indirekt deren Leben rekonstruiert wird. Auch ihr Sohn Hartmut imaginiert Gesprächspartner, wie z. B. im gedanklichen Kreisen um eine Auseinandersetzung mit seiner Ehefrau Britta, wenn er sagt: „Bisschen bequem ist sie nämlich auch, mal so unter uns gesagt.“ (197) – obwohl kein Gegenüber vorhanden ist. Der Leser wird mitangesprochen und so zum intimen Mitwisser. Stärkere Abweichungen von der Ich-Form finden sich beim verrückten Henry, der über sich selbst in der Er-Form spricht und damit entpersonalisiert erscheint – durch das Erzählen von sich selbst als einem Anderen bringt er bereits seinen Status als ,nicht zurechnungsfähig‘ im Sinne von nicht zur Gemeinschaft gehörend zum Ausdruck. Ähnlich verhält es sich bei der sexuell traumatisierten Ingrid Hanske, die über sich selbst ausschließlich in der Du-Form spricht: „Du fandest dich in einem Acht-Bett-Zimmer des Lehrlingswohnheims in Kießow wieder.“ (424) Das dissoziierte innere Erleben der Figur sowie ihr Außenseiterstatus (schließlich flieht sie aus dem Dorf ) sind bereits in der Stimme angelegt. Die monologische Ausrichtung der Stimmen hat zudem grundsätzlich einen weiteren Effekt: der Erzählfokus richtet sich auf die Selbstbetrachtung, d. h. auf einen Erzählimpuls, der keines Kommunikationspartners bedarf. Die Form der Selbstbetrachtung wird durch das Motiv des Tagebuchschreibens verstärkt. Für die siebzehnjährige Romy ist es von existenzieller Bedeutung. Bereits im anderthalbseitigen Einführungskapitel stilisiert sie sich zur Außenseiterin, indem sie ein knappes, abschätziges Bild der gesamten Gegend um Bresekow und des Geschehens auf der „Elpe“ zeichnet, wovon sie sich innerlich distanziert. Das Tagebuchschreiben bietet für ihr gefühltes Anderssein ein Ventil – auf die Frage ihrer Mutter „Was grübelst du?“ antwortet sie: „Als ob man so hirnverbrannt wäre, solche Fragen irgendjemandem außer sich selbst zu beantworten, und das ist schon heikel. Sprich: Tagebuch.“ (41) Die Kapitel der Figur der Romy haben dabei selbst den Charakter von Tagebucheinträgen, die sich auch sprachlich unterscheiden – sie sind stärker schriftsprachlich als die oftmals derb umgangssprachlichen und dialektal gefärbten Kapitel anderer Figuren. Sie zeugen von Romys ausgeprägter Fabulierlust, mit der sie ihren äußerlich ereignisarmen Teenager-Alltag wortreich
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ausschmückt57, und damit gleichzeitig von ihrem Anspruch, sich (auch sprachlich) von den Gleichaltrigen in diesem „Kacknest“ (468) abzuheben. Ihre Freundin Ella, ebenso gelangweilt und sich als Außenseiterin fühlend, betreibt das Tagebuchschreiben auf eine andere Art – sie schreibt ihre Texte in den PC, um sie anschließend zu löschen: „Ich könnte das nicht, so wie Romy, ein Tagebuch nach dem anderen füllen und die irgendwo horten. Diesen ganzen Haufen von Wörtern dann am Hals haben. Ich denk, man schreibt es auf, um es loszuwerden. Aber das kommt mir eher wie eine Verdopplung vor, da hast du den ganzen Scheiß dann noch mal – schwarz auf weiß. Wenn ich was aufschreibe, dann will ich es richtig loswerden. Ich schreibe es auf, aus mir heraus, und dann kommt es weg. Das gehört doch dazu. Das ist ein gutes Gefühl: ein weißes Blatt.“ (451)
Durch das Löschen des Geschriebenen läuft der Kommunikationsimpuls bei Ella gänzlich ins Leere, ihre Mitteilungen werden vernichtet. Dies spiegelt sich auch in ihrem Verhalten – von Romy wird sie als schweigsam charakterisiert, denn sie macht „den Mund nur auf, wenn sie was gefragt wird. (…) Wäre sie ein Junge, würde ich sie für einen angehenden Psychopathen halten.“ (24) Doch auch Romy selbst verhält sich in ihren Abgrenzungsbestrebungen ganz ähnlich. Dies lässt sich bei beiden als alterstypische Verweigerungshaltung und Identitätssuche verstehen. Doch ist es auch ein Kommunikationsmuster im Dorf, das alle Generationen betrifft. Die Szenen, in denen nicht gesprochen oder etwas zurückgehalten wird, sind zahlreich. Die Schweigsamkeit oder vielmehr Maulfaulheit wird als Mentalitätscharakteristikum der Gegend ironisiert – „Wo dei Lüü dat Muul nich upkräägn.“ (173) Die Redeunwilligkeit hat jedoch nicht nur eine ironische, sondern ebenso eine existenzielle Dimension, in der sich die eigentliche Dramatik des Textes verbirgt. Geschwiegen wird auch aus innerer Not: Sowohl Ingrid als auch Ella werden vergewaltigt und verschweigen die Tat. Ellas Weigerung zu kommunizieren gipfelt in dem beschriebenen ‚Löschverhalten‘ – auch im Moment der Tat will sie „einfach nich mehr da sein“ (327). Nur Romy schafft es, sie durch eine Provokation zum Reden zu bringen. Ella erzählt ihr schließlich von der Vergewaltigung auf der „Elpe“. Aus Scham verlor sie nie ein Wort darüber: „Ich bin nach Hause gerannt, zu 57 Über die langen dunklen Haare ihrer Freundin Ella z. B. phantasiert sie: „Ich stelle mir Ella in einem mongolischen Epos vor, wie sie unter bleischweren Wolken mit wehender schwarzer Mähne auf einem Steppenpferd mit ebenso wehender Mähne über die Steppe reitet, ihr Haar die Todesflagge des dräuenden Krieges: Wird sie den kühnsten aller Krieger, ihren herrlichen Geliebten, noch erreichen in seiner Jurte, noch verkünden können ihm die schreckliche Botschaft, bevor das feindliche Heer gleich einem donnernden, vernichtenden Ungewitter über die unbewehrte Siedlung hereinbricht?“ (155)
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Mutti und Vati, und hab mich im Bad eingeschlossen und kein Wort gesagt. Nie. Niemals, hab ich gedacht. Und die ganze Zeit hat das keiner gewusst, außer die Drecksärsche vonner Elpe.“ (326) Ingrid hingegen hat sich niemandem offenbart. Noch stärker als Ella ist sie von der Vergewaltigung traumatisiert, denn sie bekommt ein Kind und verrät nicht einmal ihrer Mutter den Namen des Vaters: „… oft dachtest du, das Schicksal einer Stummen wäre für dich kein schweres gewesen.“ (417) Die schwangere Ingrid beginnt desinteressiert eine Lehre bei der LPG und fühlt sich unter den Gleichaltrigen im Lehrlingswohnheim fehl am Platz. Ihr Zustand ist von massiver Selbstentfremdung und Überforderung gekennzeichnet. Als drei Jahre später ihr Vater in West-Berlin verstirbt, sieht sie eine Chance und kehrt von der Reise zu seiner Beerdigung nicht wieder. Auch Hartmut Wachlowski spricht nicht über sein Mitwissen um Ingrids Vergewaltigung (der Täter hatte es ihm erzählt um zu prahlen) und dem daraus entstandenen ,verrückten‘ Henry. Erst, als die Geschichte angesichts Ingrids Rückkehr ins Dorf wieder aufgewühlt wird und ihn immer stärker belastet (370/71), erzählt er es seiner Tochter Ella und auch dem Vater von Romy, aus Sorge um die beiden Mädchen, die schließlich eng mit Paul befreundet sind, dem Halbbruder Henrys. Die sozialen Beziehungen im Ort sind von großer Verschlossenheit und einem damit einhergehenden stillen Argwohn geprägt, der sich bereits auf der Ebene der Familienbeziehungen zeigt. Mehrfach wird die Fremdheit von Familienmitgliedern untereinander thematisiert – Ella belauscht einen Streit ihrer Eltern, bei dem ihr Vater Hartmut ihre Mutter Britta verdächtigt, Ella sei nicht sein Kind. Eine ganz ähnliche Konstellation findet man bei Sonja, der Mutter von Romy. Auch sie berichtet aus ihrer Kindheit von Fremdheitsgefühlen innerhalb der Familie, die von Vereinzelung zeugen: „Und da hab ich mir denn immer vorgestellt, dass das gar nicht wirklich meine Geschwister sind, dass ich gar nicht zu dieser Familie gehör und die mich nur ausnutzen und ich bloß ihre Magd bin“. (54) Ebenso zahlreich sind Anspielungen auf emotionale Schwierigkeiten sowie häusliche Gewalt und latenten Alkoholmissbrauch, auch wenn diese Probleme durch die pointierte Verwendung des regionalen Idioms und die Beiläufigkeit, mit der sie zur Sprache kommen, in ihrer eigentlichen Drastik wieder entschärft werden. Die Isolation ist ein grundlegendes Thema in den zwischenmenschlichen Beziehungen im Dorf. Es herrscht eine Atmosphäre latenter und unausgesprochener Ressentiments – man beäugt sich gegenseitig mit Misstrauen. Das Verschließen vor dem Anderen und auch eine Form der sozialen Kontrolle zeigt sich im wiederholt auftretenden Gardinen-Motiv. Es wird genau registriert, wer Gardinen hat und wer
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nicht, und hinter Gardinen stehend das Geschehen im Dorf beobachtet.58 Das Mitwissen um konflikthafte Ereignisse im Dorf auf diese Weise ‚verschleiert‘. Auch das abweichende Verhalten des verrückten Henrys mit heruntergelassener Hose auf offener Dorfstraße wird heimlich beobachtet. Die Dorfbewohner beobachten im Schutze der Gardinen und kommentieren, fühlen sich aber nicht verantwortlich einzugreifen: „,Ick künn doo goor nich henkieken‘, hat Martha gesagt, aber gesehn hat sie denn doch alles hinter ihre Gardine. (…)“ (234) Der Schutz vor fremden (Ein-)blicken bei gleichzeitiger Möglichkeit des geschützten Beobachtens ist ein Merkmal der kommunikativen Praxis im Dorf. Die Dorfbewohner wissen so einiges (z. B. weiß Hartmut, wer der Vater von Henry ist), kommunizieren aber nicht offen untereinander. Es handelt sich, wie Anne Fuchs feststellt, um „eine von verdrängten Konflikten geprägte Dorfwelt, in der die Erinnerung an vergangene Ereignisse immer nur tuschelnd, d. h. über die Dynamik der Verdrängung, wach gehalten wird.“59 Als extremes Beispiel für die Verdrängungsmechanismen im Dorf kann die Figur der Ingrid gelten, die bei ihrer Rückkehr in die Dorfgemeinschaft nicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch mit der Unfähigkeit zu einer (verbalen) Auseinandersetzung mit der Vergangenheit konfrontiert wird: „Und du, du treibst zurück in ihre Wortlosigkeit, entfällst allen angelernten Wörtern, knallst hin auf dieser spiegelglatten Stummheit, aber du weinst nicht, Knie, Hände, alles taub. Du rutschst zurück in die Augensprache deiner Kindheit, deiner Jugend, deiner sogenannten Vergangenheit, die nicht vergessen ist und nicht vergeben, aber die fernab von Worten liegt und zu der kein Hohlwort führt.“ (60)
Ingrid hat jedoch gar kein großes Interesse daran, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Als sie in das Haus ihrer Kindheit zurückkehrt, findet sie dort die alte „Truhe aus Kirschholz“, doch „außer ein paar leeren Keksdosen und einem Kinderfotoapparat war nichts darin“ (69) Julian Reidy deutet diese Szene als Inversion ‚klassischer‘ Schlüsselszenen in anderen Generationenromanen, in denen ein derartiger Fund Anstoß geben würde zur Rekonstruktion der Familiengeschichte. Ingrid hingegen scheint regelrecht erleichtert, in der Truhe ‚nichts‘ vorzufinden: „Und so stießest du in der Truhe nicht auf abgelegte Kleider, Fotoalben, Spielsachen, Teekessel. Weißwäsche für deine Aussteuer. (…) Die Truhe enthielt (…) keinen Hinweis auf dich, ihre Übersichtlichkeit erleichterte dich; (…) Und auch 58 „Bei Plötzens hängen gar keine Gardinen vor den Fenstern, obwohl sie unten wohnen. Wodrüber sich natürlich schon das halbe Dorf aufgeregt hat. ‚Na ja, wenigstens so halbe hätten sie vormachen können‘, hat Mutti gesagt. Wie wir. Damit man wenigstens noch einen kleinen Zipfel hat, hinter dem man sich verstecken kann, wenn man Leute draußen beobachtet.“ (181) 59 Fuchs, 2013, S. 225.
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von dem, was du damals zurückgelassen hast, ist alles verschwunden. Tatsächlich alles. Und das wusstest du vorher, denn sonst wärst du nicht hierhergekommen, nicht wahr.“ (70) Es geht hier tatsächlich nicht um Aufarbeitung und Rekonstruktion der Lebensgeschichte. Im Gegenteil – Ingrid hat den Ort verlassen in dem bewussten Bemühen, ihre Vergangenheit zu begraben. Ihre Gewissheit darüber, diese wäre inzwischen mit dem nicht mehr Vorhandensein ihrer persönlichen Dinge gänzlich verschwunden, lässt sich auch als Analogie zur verlässlichen Atmosphäre der Verschwiegenheit bzw. die Dynamik der Verdrängung im Dorf deuten. Das ,Nichts‘ in der Truhe symbolisiert eine narrative Leerstelle, die mangelnde Kommunikation und ein Verschweigen von Vergangenheit in der Dorfgemeinschaft. Metareflexionen über die DDR Julian Reidy bezieht sich u. a. auf intertextuelle Bezüge zu Uwe Johnson und Christa Wolf, um die nicht intendierten Aufarbeitungsbemühungen der Figuren und das Verschweigen der Vergangenheit in Bresekow zu beleuchten. Er argumentiert, dass auch durch offensichtliche intertextuelle Bezüge zur DDR-Literatur in Zanders Roman weiterführende Reflexionen über die DDR unterminiert werden und eine sinnstiftende, ,rekonstruktive‘ Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit erzähltechnisch nicht angelegt ist. Die Anspielungen an Uwe Johnson sind zahlreich und deutlich, wie Reidy60 festhält: Der Name Uwe Johnson taucht mehrfach im Text auf – Ingrids irischer Mann Michael ist Johnson-Forscher und schreibt gerade ein Buch über den Autor – nach Bresekow ist er „schon allein deshalb mitgekommen“. (49) Auch das erste Geschenk, das Ingrid ihrem Mann bei ihrem Kennenlernen macht, ist ein Johnson-Roman – die Mutmaßungen über Jakob. Als weiterer Bezug zu Johnson auf der formalen Ebene lässt sich die polyperspektivische Erzählweise betrachten, denn auch für die meisten Johnson-Texte ist eine starke Relativierung des auktorialen Erzählens charakteristisch. Am ausführlichsten widmet sich Reidy jedoch der Analyse einer behaupteten Ähnlichkeit des Plots in Dinge, die wir heute sagten und in Mutmaßungen über Jakob, da es schließlich in beiden Texten um Menschen geht, die die DDR verlassen haben und dann zurückkehren – auch wenn Judith Zanders Ingrid natürlich nicht in die DDR zurückkehrt, sondern in das wiedervereinigte Deutschland, wo sie allerdings nicht auf völlig veränderte Verhältnisse, sondern auf das „ewige Präsenz der Dorfgemeinschaft“61 trifft. Reidy geht soweit zu behaupten, es handele sich hier um einen Pastiche der Mutmassungen, da Ingrids Situation bei Johnson gewissermaßen vorweggenommen wird. Die Ironie bestünde nun darin, dass weder Ingrid noch Mi60 Reidy, 2013, S. 223 ff. 61 Ebd., S. 225.
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chael – obwohl dieser selbst explizit mit Johnson beschäftigt ist – nicht zu erkennen vermögen, dass sie einen Plot aus einem Johnson-Text reinszenieren. Reidy sieht dies als Ausdruck einer Blindheit der Figuren gegenüber der deutschdeutschen Thematik in Johnsons Werk, die sich darüber hinaus auch darin zeigen würde, dass Michael sich ausschließlich für die sprachlichen Aspekte in Johnsons Texten zu interessieren scheint62 und auf die Fluchtproblematik bzw. DDRGeschichte kaum eingeht. Ingrid selbst blockt Michaels Forschungen generell ab und signalisiert damit, dass sie kein Interesse an einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit der ‚doppelten‘ Johnson-Thematik, also auch nicht an der Beschäftigung mit ihrer eigenen Vergangenheit hat: „Michael geht dir auf den Geist. Paul geht dir auf den Geist. Was soll diese ganze Fragerei. Stop getting on my nerves. Michael fragt dich Dinge, die er dich vor zwanzig Jahren hätte fragen sollen, er fragt die Leute Dinge, die er besser in Büchern nachlesen kann. Die nicht stattgefundene Lautverschiebung im Niederdeutschen und ihre Auswirkung auf die mentale und soziale Verfasstheit der Sprecher. Eine Studie an Lebendmaterial. Was hat er rumzulaufen und den Leuten auf den Geist zu gehen, was hat er sie zu fragen nach Wörtern, die sie längst vergessen haben.“ (60)
Reidy sieht in der textimmanenten Auseinandersetzung der Figuren mit Johnson eine auffällige Weigerung, sich bewusst mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Ihre Anspielungen auf Johnson verfehlen in seiner Interpretation ihren Zweck und negieren sich gewissermaßen selbst, indem sie einen ‚blinden Fleck‘ repräsentieren oder sich in sprachlichen Details verlieren. Nicht nur Michael, sondern auch die schreibaffine Abiturientin Romy ‚outet‘ sich im Text als JohnsonKennerin, konzentriert sich aber ebenfalls auf die sprachliche Thematik: „Seit Uwe Johnson kann man einen der häufigsten Laute des Plattdeutschen richtig schreiben, ich meine, dass er auch von Leuten, die des Plattdeutschen nicht mächtig sind, richtig plattdeutsch ausgesprochen werden kann, und zwar das lange offene O, das gibt’s nämlich eigentlich gar nicht. Går nich, nach Johnson.“ (49)
Reidy schlussfolgert hieraus, dass die intertextuellen Anspielungen auf Johnson keinen tiefergehenden Erkenntnisgewinn generieren sollen, sondern ebenso darauf abzielen, mittels der Vermeidung eines diachronen Blicks den Aspekt der ‚Geschichtslosigkeit‘ des Dorfes hervorzuheben. Reidy interpretiert dies als intendierte referentielle Blindheit gegenüber der offenkundigen inhaltlichen Nähe zu Johnsons Werk: „Mutmassungen über Jakob ist zwar einigen von Zanders Romanfiguren 62 Romy über Michaels Sohn Paul: „Er hatte neulich erzählt, dass sein Vater tatsächlich versucht, die Leute hier auszuquetschen, nach irgendwelchen verschollenen plattdeutschen Wörtern und für seine Uwe-Johnson-Arbeit.“ (287)
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bekannt; diese reflektieren aber höchstens formalästhetische Aspekte von Johnsons Text und scheinen kein Sensorium für dessen Inhalt zu haben.“63 Die Johnson-Bezüge lassen sich jedoch auch anders interpretieren. Michaels und auch Romys Sprachfixiertheit sind nicht nur als Vermeidungsverhalten oder Weigerung zu verstehen, sich mit der historiografischen Ebene im Werk Johnsons auseinanderzusetzen, denn die Sprachfixiertheit der Figuren an sich kann ebenso als eine spezifische Form der Bezugnahme auf Johnson betrachtet werden. Gerade die Fixierung auf die sprachlich-ästhetische Ebene und die sich daraus entfaltende Darstellung einer bestimmten regionalen Lebenswelt in ihrem historischen Kontext ist ein literarisches Verfahren, über das ein Bezug zu Johnson hergestellt wird, denn die genaue Beobachtung und Abbildung der Alltagssprache ist ebenso charakteristisch für Johnsons Werk. Überdies scheinen Zanders Bezüge zu Johnsons posthum erschienenem Erstlingswerk Ingrid Babendererde, Reifeprüfung 1953 deutlicher als zu den Mutmaßungen über Jakob. In Ingrid Babendererde geht es um eine Schülerfreundschaft und schließlich die Flucht einer jungen Frau – ebenfalls namens Ingrid – nach West-Berlin: Die Abiturientin Ingrid flieht nach einem Schulverweis aufgrund unparteilichen Verhaltens gemeinsam mit ihrem Freund Klaus aus einer fiktiven mecklenburgischen Kleinstadt nach West-Berlin. Neben dieser inhaltlichen Parallele ist es ebenso die Sprachfixierung, die auch für Johnson typisch ist. In Ingrid Babendererde wird beispielsweise eine Unterrichtsszene im Jahr 1953 in einer mecklenburgischen Kleinstadtschule beschrieben, deren Duktus den Einträgen in Romys Schülerinnen-Tagebuch sehr verwandt scheint: „Ähnst stand müde an die Tafel gelehnt und sprach zögernd vor sich hin. (…) Ähnst hieß eigentlich Herr Dr. Ernst Kollmorgen, und er sprach ein Wort wie ‚Erde‘ als ‚Ähde‘: er hatte also Ähnst geheissen von jeher. Und Ähnst berichtete mit ebensolcher Aussprache über die grossartige Umgestaltung, die die Natur erfahren hatte in der Sowjetunion.“64
Beschrieben wird ein Lehrer, der die Fortschrittlichkeit des Sozialismus lehrt, doch der Fokus auf seine Aussprache verweist gleichzeitig auf eine spezifische Sprachtradition und damit auf eine alltagskulturelle Verankerung im Lokalen. Gesamtgesellschaftliche Entwicklungen werden durch das Prisma eines sprachlich sehr genau beobachteten Mikrokosmos dargestellt, in dem die verwendete Sprache gegenüber den historischen Entwicklungen anachronistisch erscheint und damit auch poetische Effekte ermöglicht. Der zielsichere Umgang mit dem Plattdeutschen und die Kontrastierung bzw. der Dialog der Sprachebenen ist wichtiges Merkmal der Texte Johnsons, wie Barbara Scheuermann in ihrer Untersuchung zum Niederdeutschen in Johnsons Werk feststellt (434). Die bewusste Verwendung des Plattdeutschen ist 63 Reidy, 2013, S. 321. 64 Uwe Johnson: Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953, Frankfurt/Main 1953, S. 16.
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für ihn ein Mittel poetischer Verdichtung und ermöglicht ein „Surplus an Konnotationen, die die entsprechende hochdeutsche Wendung nicht aufrufen würde.“65 Laut Einschätzung Barbara Scheuermanns bietet Johnson „für das Niederdeutsche als Literatursprache eine eigene, weiterführende Perspektive in einem Gedächtnisraum der Rede- und Sprachvielfalt.“66 Ähnliches kann für Zander gelten und die für ihre Generation sicherlich ungewöhnliche literarische Verwendung des Plattdeutschen. So hat Zanders vielstimmiges Dorfpanorama auf sprachästhethischer Ebene eine große Komplexität aufzuweisen. Soziale Positionen und damit die Struktur der Dorfgemeinschaft werden in Dinge, die wir heute sagten stark durch Sprache definiert. Die Erzählstimme der Gemeinde (bzw. der Chor) redet fast ausschließlich Plattdeutsch, auch die Angehörigen der Großeltern-Generation werden häufig in Platt wiedergegeben. Die mittlere Generation und die Enkel (Romy, Ella) reden im heutigen regionalen Idiom, in dem der Einfluss des Plattdeutschen noch zu spüren ist. Die Umgangssprache der Dorfbewohner wird genau abgebildet, z. B. durch das geläufige „dat“: „Übrigens, weißt dat schon, dat se dat Haus nu verkaufen, dat dat nu einer kaufen will, mein ick?“ (375) oder auch der sehr häufigen temporalen Verwendung der Konjunktion „denn“ anstelle von „dann“: „Na, wenn du nich willst, dass dein Kind das hier mitkriegt, denn betst du besser dafür!“ (243). Der Text lebt von der Wiedergabe und Kontrastierung verschiedener sprachlicher Ebenen, durch die gleichzeitig die soziale Zugehörigkeit der Sprecher markiert wird. Die Spannweite reicht von stark literarisiertem Hochdeutsch (besonders Pastor Wietmann, aber auch Romy) bis hin zum derben Slang der Jugendlichen auf der „Elpe“. Der zugezogene Pastor Wietmann verfällt z. B. gern in einen ironisierten biblischen Duktus67, mit dem er seine Sonderstellung und Distanz zum gemeinen Volk unterstreicht; der aus dem Dorf stammende Lehrer Hartmut Wachlowski68 hingegen hebt sich sprachlich in keiner Weise ab und betont damit seine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft. Das Wechseln der Sprachebenen wird teilweise auch von den Figuren selbst reflektiert und ironisiert. Wie bereits erwähnt, sind die Teenager Romy und Ella 65 Barbara Scheuermann: Zur Funktion des Niederdeutschen im Werk Uwe Johnsons, Göttingen 1998, S. 433. 66 Ebd., S. 435. 67 Pastor Wietmann: „Und so sitze ich hier in meiner nur durch ein Uhrticken getakteten Stubenstille bei dünnem Kaffee und einem selbstgezogenen Rübengemüse und warte demütig auf die Eingebungen des Geistes für die Niederschrift der Predigt, welche erbaulich zu hören sein soll am fünfzehnten Sonntage nach Trinitatis.“ (81) 68 Hartmut Wachlowski: „Gleich sieme. Ich wollt eigentlich noch mit den Mathearbeiten vonner Neunten anfangen, wird nu auch nix mehr.“ (199)
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weibliche Außenseiterfiguren, die sich auch sprachlich versuchen abzugrenzen (hauptsächlich Romy), insbesondere vom Milieu der „Elpe“ samt der dort gesprochenen Sprache. Dies wird deutlich bei einem Treffen der beiden Mädchen mit ihrem neuen irischen Freund Paul, der aus Neugier auf der „Elpe“ war und von seiner – sprachlichen – Begegnung mit der Dorf-Clique berichtet: „,Sie haben gesagt, ich soll wiederkommen. Sie sind nicht schlimm. Sie waren nett. Aber ich hatte Schwierigkeiten zu verstehen alles.‘ ‚Dat kann’k mir vorstelln, ey!‘ Ella lacht kurz auf. ‚Yeah, exactly! Ihr sprecht auch so, ich mein, wenn ihr nicht mit mir seid?‘ ‚Nee!‘ Wir gucken uns an, Ella und ich, wir lachen. Wir lachen es einfach weg, ok?‘“ (290)
An der Empörung der Mädchen wird deutlich, dass sie demselben Sprachmilieu angehören, von dem sie sich eigentlich abgrenzen wollen. Das regionale Idiom ist ein Code für Zugehörigkeit und verdeutlicht somit auch Bindekräfte bzw. einen gemeinsamen sprachkulturellen Raum, den die Figuren durch ihre Herkunft teilen. Über Sprache wird darüber hinaus Verbindung zwischen den Generationen geschaffen und damit auch die diachrone Tiefe des lokalen Raums beleuchtet. Der historische und kulturelle Wandel in diesem Raum zeigt sich ebenfalls auf der Sprachebene bzw. wird sprachästhetisch abgebildet: Ein wichtiges Motiv im Roman ist beispielsweise die Musik der Beatles. Die Band wird von allen Dorfgenerationen thematisiert und jede Generation hat ihren eigenen – auch sprachlichen – Bezug dazu. Schon bei dem etwas sperrigen Titel des Romans Dinge, die wir heute sagten handelt es sich um die wortgetreue Übersetzung eines Beatles-Songs (Things we said today). Abiturientin Romy ist ein großer Beatles-Fan – auf ihrem Regal stehen zwei getrocknete Flusskrebse mit den Namen John und Paul (7), die eine eigene Erzählstimme haben und in acht Mini-Kapiteln Teile aus Beatles-Songs in wortgetreuer deutscher Übersetzung rezitieren und somit eine sehr eigenwillige poetische Wirkung entfalten. Der Beatles-Bezug rahmt die gesamte Handlung: Der Text beginnt mit einem solchen deutschen JOHN&PAUL-Zitat und endet mit einem kurzen Schlusskapitel, das als einziges nicht nach einer Erzähl-Figur benannt ist, sondern nach einem Beatles-Song (STRAWBERRY FIELDS FOREVER). Auch sind verschiedene Figuren mit der Beatles-Thematik zusätzlich verknüpft. Ellas Eltern Hartmut und Britta Wachlowski aus der mittleren Generation werden als die vor der Wende „größten Beatles-Fans im ganzen Bezirk Neubrandenburg“ (75) bezeichnet. Romys Mutter Sonja hat ebenfalls ihre eigene Beatles-Geschichte. Sie erinnert sich an ihre Großmutter (mit der sie sich besser versteht, als mit ihren Eltern) und deren Kommentare über moderne Popkultur: „(…) altmodisch war sie eigentlich nicht, meine Oma. Sie hat auch mit mir Fernsehn geguckt, auch meine Sendungen, und wenn da sone langhaarige Gruppe auftrat, hat sie gefragt: ‚Sün dat de Büdels?‘ Mit sowas hat sie mich immer zum Lachen gebracht, ich glaub, sie wusste das auch.“(55/56) Das verschwörerische Band zwischen Sonja
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und ihrer Großmutter wird über Sprache, über das Plattdeutsche hergestellt. Das anachronistisch wirkende Idiom ironisiert dabei das popkulturelle Massenphänomen „De Büdels“ und thematisiert gleichzeitig die Bedeutung der Beatles im Alltag der Dorfbewohner, die für jede Generation eine andere ist: vom Schimpfwort für zu lange Haare bei den Älteren im Dorf („‚Wie süühst du denn ut, wien Büdel!‘“) bis hin zu glühender Verehrung in gleich zwei nachfolgenden Generationen. Die vielfache Bezugnahme auf die Band zeigt daher, dass die moderne Popkultur auch in Bresekow Einzug gehalten hat und das Dorf nicht wirklich abgeschieden vom Weltgeschehen in einem ,ewigen Präsenz‘ zyklischer Zeitlichkeit liegt: Kultureller Wandel wird auch in Bresekow sichtbar und die Bewohner sind von ihm beeinflusst, und zwar sowohl in der DDR-Zeit als auch nach 1989. Am Beispiel der Beatles-Bezüge wird ersichtlich, dass das Dorf ebenso mit globalen Entwicklungen verbunden ist, was sich auf Ebene der Sprachbeobachtung und sprachästhetischen Nuancierung des regionalen Idioms im Text abbildet. Die Sprachfixiertheit der Figuren reflektiert Verbindungen in die historische Tiefe das sprachkulturellen Raums, wodurch kulturhistorische und soziale Entwicklungen durchaus in ihrer Zeitlichkeit abgebildet werden, der Fokus also nicht nur auf der Gegenwart liegt, sondern ebenso auf dem Wandel der Dorfgemeinschaft in historischer Perspektive. Es würde daher zu kurz greifen, die Johnsonbezüge auf die referentielle Blindheit der Figuren gegenüber seinem Werk zu reduzieren, denn gerade die Sprachfixierung macht den Bezug zu Uwe Johnson produktiv und lässt sich als historiografische Reflexion verstehen. Es wird zwar tatsächlich nicht über Geschichte kommuniziert, was den Eindruck von Desinteresse an ,rekonstruktiver‘ Aufarbeitung entstehen lässt. Vielmehr bildet sich jedoch Geschichte im Kommunikationsmittel, in der Sprache ab. Die Sprache ist der Ort, der die Vergangenheit mit der Zukunft verbindet und an dem sowohl Kontinuitäten wie Brüche sichtbar werden. Das Erstlingswerk von Uwe Johnson Ingrid Babendererde wurde im Übrigen von seinem späteren Verleger Siegfried Unseld im Jahr 1957 noch wegen seiner allzu vordergründigen Provinzialität abgelehnt: „Sicher waren es außerliterarische Kriterien, die mir den Zugang zum Text versperrten. Die Fremde des Milieus, die vertrackte Provinzialität dieser Kleinstadt, die vielen Textpassagen im Mecklenburgischen Platt (…) … die ganze, so kompliziert geschilderte Geschichte transportierte für mich (…) mit einem Wort zu wenig Welt.“69 Auch Judith Zanders – laut einer Rezension in der Süddeutschen Zeitung – „Prosa gewordene(n) Kaffeeklatsch“70 trifft offenbar dieser Verdacht des Fehlens von Welt, wie sich in einigen 69 Siegfried Unseld: Die Prüfung der Reife im Jahre 1953. Nachwort. Ebd., S. 258. 70 Christoph Bartmann: Bei Tante Homer auf dem Sofa. Judith Zanders erster Roman ist ein Prosa gewordener Kaffeeklatsch, und doch nominiert für den Deutschen Buchpreis. In:
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der bereits zitierten Kommentare der Mitglieder der Bachmann-Preis-Jury herauslesen lässt (,zum Einschlafen‘, kein ,DDR-Bild‘). Doch ist es gerade die Kleinheit der Welt und die Genauigkeit der Beobachtung, die den Roman, von Anne Fuchs als „quasi-anthropological case study“71 bezeichnet, zu einem Brennglas machen für globale historische Entwicklungen. Julian Reidy macht noch auf einen zweiten intertextuellen Bezug zur DDRLiteratur aufmerksam, der seiner Ansicht nach darauf angelegt ist, ein tiefergehendes Interesse an der DDR-Geschichte im Roman auszuhebeln. Es geht um eine Anspielung an Christa Wolfs Erzählung Leibhaftig aus dem Jahr 2002.72 Der Bezug zu Christa Wolf ist nicht ganz so offensichtlich wie der zu Uwe Johnson. Weder wird Christa Wolf namentlich genannt noch gibt es klare ästhetische Anknüpfungspunkte (wie beispielsweise bei Julia Schoch) – eine Ähnlichkeit gibt es jedoch auf der Handlungsebene, denn in Leibhaftig geht es um die Schilderung einer schwerkranken Ich-Erzählerin, die in der DDR der 1980er Jahre mit einem Blinddarmdurchbruch im Krankenhaus liegt und im Zustand dieser physischen ExtremSituation ihr Leben reflektiert. Die Schilderung ihrer körperlichen Erfahrung (Schmerz, Narkose, bevorstehende OP, Ungewissheit, Todesangst) wird erzählerisch mit ihren Erinnerungen verknüpft. Die Rückblicke werden eingewoben in eine hierarchische und bedrohliche, teilweise alptraumhafte KrankenhausAtmosphäre und evozieren Bilder einer „ebenfalls ‚todkranken‘ DDR“.73 In Dinge, die wir heute sagten gibt es eine ganz ähnliche Situation, als Romys Mutter Sonja ebenfalls wegen eines lebensbedrohlichen Blinddarmdurchbruchs ins Krankenhaus eingeliefert wird. Auch diese Szene spielt in den 1980er Jahren (Sonja berichtet aus der Erinnerung) und beschreibt somit einen Krankenhausaufenthalt in der DDR-Zeit. Julian Reidy gelangt zu folgendem Schluss: „In beiden Texten erleiden Patientinnen einen beinahe tödlich verlaufenden Blinddarmdurchbruch, der in einem als ‚totale Institution‘ gezeichneten DDR-Krankenhaus behandelt wird und zur Selbstreflexion Anlass bietet.“74 Der Unterschied bestünde jedoch darin, dass die intellektuelle Erzählerin im Wolf-Text (sie ist beruflich in verschiedenen „Kommissionen“75 tätig) ihr Leiden im Krankenhaus mit einer Systemkritik verbindet, wohingegen bei Sonja (Angestellte in einem Fotoladen) kein expliziter Erkenntnisprozess einsetzt: Sie lässt ihre Krankenhausbehandlung wie eine Tortur über sich ergehen und nimmt alles hin. Nach der Entlassung beschließt sie zwar,
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Süddeutsche Zeitung, 30.9.2010, S. 14. Fuchs, 2013, S. 139. Christa Wolf: Leibhaftig, München 2002. Reidy, 2013, S. 227. Ebd., S. 230. Wolf, 2002, S. 36.
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ihr Leben zu ändern und denkt „das erste Mal wirklich wieder an Gott“ (465), doch ist der Entschluss von kurzer Dauer. Dies deutet Reidy dahingehend, dass auch die Bezugnahme auf Christa Wolf nicht in „sinn- oder erkenntnisstiftender Weise fruchtbar gemacht“76 und historiografische Reflexion in Dinge, die wir heute sagten somit systematisch verweigert wird. Allerdings ist offensichtlich, dass es sich bei Sonja um keine intellektuelle Figur handelt. Es stimmt zwar, dass Sonja den gesamten Prozess nicht hinterfragt. Die „schmerzhafte Selbsterkenntnis, die Wolfs Erzählerin im Krankenhaus gelingt, (bleibt ihr) eben gerade verwehrt“.77 Auf welche Weise Christa Wolfs Erzählerin den Prozess der Selbsterkenntnis und impliziten Systemkritik mit dem physischen Leiden verknüpft, zeigt folgende Passage aus Leibhaftig: „Endlich fällt mir ein Wort ein, das den Sachverhalt trifft: Vergiftung, denke ich. Ich bin vergiftet. Was ich brauche, ist eine Entgiftung, eine Reinigung, ein Purgatorium. Eine Entdeckung. Daß sie so spät kommt, bleibt verwunderlich. Und daß sie so anstrengend ist. Anstrengender als die Vergiftung selbst. Die Infektion mochte früh erfolgt sein, die jahrzehntelange Inkubationszeit ist vorbei, jetzt bricht die Heilung aus, als schwere Krankheit. Bleibt bloß noch, sie zu benennen. Benannt, gebannt. Wo habe ich das gehört?“78
Es ist tatsächlich aufschlussreich, diese deutlich auf eine Systemkritik abzielende Wahrnehmung des Leidens an einer körperlichen Vergiftung nun der Erfahrung von Sonja aus Dinge, die wir heute sagten gegenüberzustellen, denn auch sie spricht von einer Vergiftung: „Normalerweise wäre ich tot gewesen, mit einem geplatzten Blinddarm. Aber irgendwas hatte sich abgekapselt, der Eiter war nicht in die Blutbahn gelangt, hatte mich nicht vergiftet. Ich hab das nie genau kapiert, es war mir auch egal, (…).“ (464)
Sonja ‚übersteht‘ die Krankheit also ohne zu wissen bzw. wissen zu wollen, wie und warum. Aus ihrer Sicht gibt es nichts zu reflektieren, ihr Körper hat sich der Vergiftung eben widersetzt. Dies ist insofern interessant, als dass Sonja sich ab einem bestimmten Punkt ihrer Erkrankung auch den Ärzten widersetzt und handelt. Nach dreimonatigem Krankenhaus-Aufenthalt kehrt sie heim und wird von ihrem eigenen Kind nicht mehr erkannt (Romy ist zu dem Zeitpunkt ca. ein Jahr alt). Als es Komplikationen mit der Wunde gibt und Sonja wieder „dabehalten“ werden soll, wehrt sie sich aus Sorge um ihre Beziehung zu Romy: „Aber ich hab mich geweigert, ich hab gesagt: ‚Nein‘ Einfach nein. Ich glaub, ich bin eigentlich gar kein Typ, der was aushält, ich hatte einfach Angst. Sie haben mir erlaubt, jeden Tag zu 76 Reidy, 2013, S. 231. 77 Ebd., S. 231. 78 Wolf, 2002, S. 93.
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kommen, um die Wunde versorgen zu lassen. Irgendwie heilte es dann.“ (465) Sonja reagiert also auf ihre Art und erwirkt gar ein Einlenken der ‚totalen Institution‘ Krankenhaus. Die Feststellung, im Text würde historiografische Reflexion völlig verweigert, ist daher nicht ganz stimmig – es wird jedoch ein anderes Bild vom Verhältnis zwischen Patientin und DDR-Krankenaus geboten. Zanders ‚Sonja‘ und Wolfs ‚intellektuelle Erzählerin‘ bilden zwar sehr unterschiedliche und schwer vergleichbare Charaktere ab. Doch lässt sich nicht behaupten, dass Sonja in ihrem Verhalten gegenüber der Ärzteschaft zu „einer Art identitätsloser Verfügungsmasse“79 wird, wie Reidy behauptet, denn sie stellt eine Figur dar, die widerständiges Verhalten zeigt, wenn ihre persönlichen Grenzen erreicht sind, auch wenn sie dies kaum reflektiert bzw. „zu solchen Reflexionen gar nicht imstande scheint.“80 Die historiografische Reflexion wird in Zanders Text durch die mangelnde Reflexion der Figur aber nicht vermieden, sondern es wird lediglich ein anderes DDR-Bild vermittelt, bei dem es nicht unbedingt um die Darstellung des totalitären und ,vergiftenden‘ Charakters der DDR geht. Gezeigt wird der Blick in ein anderes Lebensmilieu und einen anderen Alltag (DDR-Provinz der 1980er Jahre). Zanders Romanfigur ist unpolitisch und sehr auf ihren eigenen Lebensradius beschränkt. Sie handelt jedoch eigensinnig im Sinne Thomas Lindenbergers81 und erwirkt einen Kompromiss zum eigenen Vorteil. Das Krankenhaus erscheint hier nicht als ,totale Institution‘ und die DDR nicht als ,ebenfalls todkranker Staat‘, sondern dargestellt wird ein lokales Beziehungsgeflecht, das durchaus einen Handlungs79 Reidy, 2013, S. 229. 80 Ebd., S. 230. Reidy stellt fest, dass die Krankenaus-Episode für Sonja anstelle von DDRReflexion lediglich zu der „banalen“ Erkenntnis führt, das Leben sei lebenswert. (S. 229) Doch ließe sich dies ebenso für Christa Wolfs Text behaupten: Die Ich-Erzählerin im WolfText kokettiert zwar regelrecht mit dem Tod (d. h. mit der definitiven Abkehr von den Werten des Sozialismus), überwindet aber ihr ‚Leiden‘ und erkennt am Ende Schönheit und Sinnhaftigkeit des Lebens. Der Text endet mit einem schlichten Blick aus dem Fenster des Krankenhauses: „Das Panorama besteht aus Stadt und Gärten und dem See, der bis zum Horizont reicht und in der Sonne blinkt. Darüber, wie ein See in der Sonne blinkt, gibt es ja ganze Gedichte. In Natur ist es aber auch schön, sagst du. Ich sage, ja, es ist schön. Du sollst ja nicht weinen, sagst du. Das, sage ich, steht auch in einem Gedicht.“ (Wolf, S. 185) Der Unterschied zu Sonja besteht darin, dass Wolfs Erzählerin für diese Erkenntnis auf ein mentales Konzept (‚Gedicht‘) zurückgreift, wohingegen Sonja – ebenfalls von Demut ergriffen – pragmatisch beschließt, ihr Leben zu ändern: „Da hab ich das erste Mal wieder an Gott gedacht, dass es den wohl doch geben muss. Ich wollt alles anders machen. Ich wollt mich nie mehr mit Friedhelm streiten. Ich wollt mein Kind ganz anders erziehen, sowieso. Ich wollt nie wieder jammern.“ (Zander, S. 465). 81 Vgl. Thomas Lindenberger: Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur: Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln 1999.
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spielraum ermöglicht. Die Suche nach historiografischen Reflexionen im Text sollte sich also nicht darauf beschränken, bestimmte DDR-Bilder bestätigen zu wollen oder mangelnde Systemkritik als Fehlen von Einsicht auszulegen. Das Ineinandergreifen von staatlichen Institutionen und der spezifischen Geschichte der Region wird in Zanders Roman als sehr komplex dargestellt und lässt sich nicht auf stereotype DDR-Bilder reduzieren. Sonjas Schilderung ihrer eigenen Kindheits- und Familiengeschichte lässt beispielsweise erkennen, dass sie viel weniger als Wolfs Erzählerin mit dem Staat identifiziert ist, so dass auch ihre Bewertung der Krankenhaus-Situation ganz anders ausfällt. In Judith Zanders Roman über das ,Zentrum des Nichts‘ Bresekow ist es das komplexe Geflecht der Dorfgemeinschaft, das als eine soziale Ödnis poetisiert wird. Die sozialen Beziehungen sind von einem Mangel an Reflexion über die Vergangenheit bzw. einem Mangel an Kommunikation geprägt, der fehlende Austausch und die Verdrängungsmechanismen verstärken den Eindruck eines abgeschotteten ewigen Dorf-Präsenz. Der Einschnitt der Wende 1989, der symbolisch in Form der leerstehenden LPG in der Dorfmitte einen zentralen Raum einnimmt, erscheint dadurch einerseits bedeutungs-leer und ist andererseits als Ruine der Vergangenheit immer präsent. Alle Figuren sind offensichtlich von ihrer DDRGeschichte beeinflusst und geprägt, doch steht im Zentrum nicht ihre bewusste Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und ein bestimmtes Erkenntnisinteresse. Insofern ist Julian Reidy zuzustimmen – es geht hier nicht um aktive Aufarbeitungsbemühungen (beispielsweise der Enkelgeneration), aber es stimmt auch nicht, dass es sich hier ausschließlich um eine Gegenwartsdiagnose ohne intendierte Vergangenheitsreflexion handelt. Das Sozialleben von Bresekow ist in der historischen Tiefe des lokalen Raums verankert, was hauptsächlich auf der Ebene der Sprache zum Ausdruck kommt, d. h. durch die fein beobachteten Alltagserzählungen der einzelnen Figuren. Hier bilden sich globale gesellschaftliche Einflüsse und soziale Veränderungen ab, die zeigen, dass Bresekow ein ,geschichtshaltiger‘ Ort ist und kein ,non-place‘ ohne Vergangenheit und Zukunft. Die Zeitlosigkeit und der Erinnerungs- bzw. Erkenntnismangel der Figuren, den Reidy konstatiert, ist vielmehr u. a. ein Aspekt, der als eine historisch tradierte Mentalitätscharakteristik dargestellt wird. Es handelt sich um ein ländlich-peripheres Milieu und geschildert werden mit nahezu ethnografischer Genauigkeit die Eigenheiten des sozialen Gefüges und die Art und Weise, wie historische Entwicklungen, von denen auch Bresekow betroffen ist, im Dorf ihren Niederschlag finden. Dabei entsteht durchaus ein Bild der DDR-Vergangenheit, das sich jedoch der eindeutigen Bewertung als nostalgisch oder systemkritisch entzieht (ähnlich wie bei Schoch), sondern das die Widersprüche des DDR-Lebens zeigt: Es gibt sowohl die beklemmende Vergewaltigungs- und Fluchtgeschichte von Ingrid und ihre Unfä-
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higkeit, diese Erfahrung ,aufzuarbeiten‘, als auch Charaktere wie Sonja, die sich nach eigenen Prämissen den Umständen anpassen.
3.4 Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe. Bildungsroman (2011) Judith Schalanskys ,Bildungsroman‘ über die ehemalige DDR-Biologie-Lehrerin Inge Lohmark hat ebenfalls den Strukturwandel in einer vorpommerschen Kleinstadt zum Thema – wie sich anhand der Ortsbeschreibung82 vermuten lässt, handelt es sich um Anklam.83 In Schalanskys Anklam-Darstellung verwaist der Ort zunehmend und wird regelrecht von der Natur zurückerobert. Der Raum entvölkert sich und übrig bleibt die Natur, die Brachflächen besiedelt und die Spuren der Zivilisation verschwinden lässt. Die Ödnis ist hier Resultat des Fehlens bzw. Verlusts menschlicher Gestaltungskraft: ein unwirtlich gewordener, ehemaliger Stadtraum, der wie die zuvor beschriebenen Orte seine gemeinschaftsstiftende Funktion durch Wegzug der Einwohner aufgrund mangelnder wirtschaftlicher Perspektiven im Zuge der Gesellschaftstransformation verloren hat. Inge Lohmark arbeitet im von der Schließung bedrohten Charles-DarwinGymnasium, ehemals Polytechnische Oberschule Lilo Hermann. Sie verkörpert einen bestimmten Typus Lehrer der älteren Generation, dessen Unterrichtsstil im Text als DDR-spezifisch markiert ist. In der Einschätzung des aus dem Westen zugezogenen Schuldirektors heißt es über sie: „Kreidelastiger Unterricht. Mangelhafte Sozialkompetenz. Verknöcherte Persönlichkeit.“ (207) Lohmark hat ihr ganzes Leben als Biologielehrerin gearbeitet und steht am Ende ihrer Berufslaufbahn. Seit der Wende ist sie mit einem neuen Schulsystem konfrontiert, das ihrer Unterrichtsauffassung zuwiderläuft. Der Text rekapituliert ihr persönliches wie ihr berufliches Leben, in dem sich die Wende als tiefgreifender Einschnitt erweist, mit dem sie schwer umgehen kann, obwohl sie den Umbruch äußerlich betrachtet gut 82 Mehrere Ortsmerkmale weisen auf Anklam hin, wie der Fluß, die Zuckerfabrik, die Kirche mit beschädigtem Turm und die Beschreibung der Autobahn: „Eine Stadt im vorpommerschen Hinterland, die außer dem Sitz der Kreisverwaltung nichts mehr zu bieten hatte. Am schmalen Fluss ein Hafen für Schrott und Schuttgüter, eine Zuckerfabrik und ein Museum. Der Markt ein Parkplatz. Ein, zwei historische Straßenzeilen. Die turmlose Kirche ein riesiges Rudiment der Backsteingotik. Das Zentrum selbst voller Neubauten, WBS-Siebzig, einfachste Ausführung, ohne Spaltklinker oder Kieselsteine im Waschbeton. Erst waren sie saniert worden. Jetzt standen sie zum größten Teil leer. Die neue Autobahn vor der Tür, nur eine halbe Stunde weit weg. Dreißig Kilometer entfernt machte sie einen scharfen Knick nach Westen.“ (64/65) 83 Alle Zitate aus: Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe, Bildungsroman, Berlin 2012.
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verkraftet hat – sie hat ihre Arbeit behalten, ihr Mann, ehemals bei der LPG beschäftigt, betreibt erfolgreich eine Straußenfarm. Geschildert wird die zunehmende Diskrepanz zwischen den pädagogischen Überzeugungen Lohmarks und den völlig gewandelten pädagogischen Vorstellungen, die der Systemwechsel mit sich gebracht hat: „Dreißig Jahre Berufserfahrung für die Katz.“ (203) Im Textverlauf versucht die Lehrerin daher, sich in einem inneren Rechtfertigungsmonolog den neuen Umständen entgegenzusetzen und ihre persönliche Auffassung zu verteidigen. Erzählt wird aus einer auktorialen Perspektive, wobei der Eindruck des sarkastischen inneren Monologs Lohmarks durch den Wechsel aus erlebter Rede (z. B. Unterrichtsszenen) in die zitierte Gedankenrede (innerer Kommentar des Geschehens) entsteht. Der Gesinnungskonflikt mit ihrer Schule gipfelt in der Androhung von Konsequenzen seitens des Schuldirektors anlässlich eines Mobbing-Falls in ihrer Klasse, den sie weder bemerkt noch unterbunden hatte. Inge Lohmark reagiert auf seine Ermahnung äußerlich stoisch, aber innerlich gekränkt und trotzig. Diese innere Haltung sowie ein verächtlicher Blick auf ihre Schüler sind charakteristisch für die Figur Lohmark und lassen ihre Verunsicherung angesichts der Veränderungen spürbar werden. Der Roman lässt sich als Biologismus-Parodie betrachten. Der gesamte Text ist als Biologiebuch aufgebaut. Er enthält die Unterkapitel Naturhaushalte, Vererbungsvorgänge, Entwicklungslehre sowie zahlreiche Tier- und Pflanzengrafiken von der auch als Illustratorin tätigen Autorin Schalansky. Die Namen der Hauptfigur Lohmark sowie des Gymnasiums nehmen Bezug auf zwei wegweisende Evolutionstheoretiker: Jean Baptiste Lamarck und Charles Darwin. Inge Lohmarks Weltanschauung ist stark durch ihren Beruf als Biologielehrerin und das System, in dem sie ihn ausübte, geprägt. Der Roman parodiert die ,wissenschaftliche Weltanschauung‘ der DDR-Lehrerin, denn Lohmarks grotesk überhöhte biologistische Sichtweise stellt das erzählerische Hauptmerkmal des Textes dar. Auch die gesellschaftlichen Veränderungen nach 1989 interpretiert sie als evolutionsbiologische Kausalitäten und wehrt soziale wie psychologische Einsichten ab. Das zentrale Thema ihres Denkens ist im Grunde die Anpassung, worauf bereits der Buchtitel Der Hals der Giraffe hindeutet, der auf Lamarcks Theorie der aktiven Anpassung von Lebewesen an ihre Umweltbedingungen anspielt – ein Erklärungsmodell, das Lohmark als Fundament ihrer Lebensanschauung betrachtet. Der lange Giraffenhals hat sich demnach aufgrund der Notwendigkeit für die Tiere entwickelt, sich nach hochhängenden Blättern strecken zu müssen, wie sie ihren Schülern erklärt. Die Anpassungsbemühungen der Giraffe sind jedoch auch eine Metapher für Lohmarks eigenes Verhalten – „Wer den längeren Hals hat, lebt auch länger.“ (…) „Anpassung ist alles.“ (209/210). Anpassung lässt sich als Lohmarks Lebensthema verstehen. Sowohl ihre autobiografische Rückschau auf ihr DDR-Leben als auch ihre Darstellung der Veränderungen des Ortes in der Wende- und Nachwendezeit
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kreisen darum. Die von Lohmark beklagte Verödung des Ortes in den 1990er Jahren stellt sich in dieser Sicht auch als ein Anpassungsprozess dar: Die einheimische ,Population‘ geht zurück und die Natur passt sich der Entwicklung an, in dem sie Stadtbrachen überwächst. Die Ödnis ist für Lohmark ein rein biologisches Phänomen der natürlichen Verwilderung der von Bevölkerungsrückgang geprägten Stadt. „Disanthropischer“ Ort? Die atmosphärischen Parallelen in den Orts- und Landschaftsbeschreibungen zu Judith Zander und Julia Schoch (sowie zu Uwe Timms Anklam-Beschreibung) sind auch bei Schalansky deutlich zu erkennen: „Ein paar Häuser. Der brüchige Asphalt. In den Löchern stand noch Regenwasser. Wieder ein Gehöft. Zu verkaufen. Kopfsteinpflaster. Das letzte Dorf. Tiefe Zäune, zugezogene Gardinen. Menschenleer.“ (178) oder „Endstation Vorpommern. Ein zugewiesener Lebensraum.“ (45) Inge Lohmark ist jedoch drastischer und sarkastischer in ihren Schilderungen. In ihren Augen erobert die Natur den Raum zurück und verdrängt den Menschen, denn die Menschenleere des Ortes kommt wiederholt zur Sprache. Jakob Christoph Heller rezipiert den Roman daher aus der Perspektive disanthropischer Imaginationen – es geht um eine außerzivilisatorische Landschaft ohne die Anwesenheit von Menschen. „Die disanthropische Imagination konzipiert Orte und Landschaften, die für den Menschen kategorial unwirtlich sind.“84 Diese Unwirtlichkeit sei von apokalyptischen Landschaften zu unterscheiden, die einen Zeugen, die Figur des ,letzten Menschen‘ benötigen und damit eine ethische Dimension aufweisen, die disanthropische Landschaften nicht unbedingt auszeichnet. Es geht also um die Darstellung einer sich selbst überlassenen Natur ohne die Anwesenheit eines betrachtenden Subjekts. Heller sieht in Schalanskys „Imgagination einer Kreisstadt in Vorpommern nach Aussterben des Menschen“85 also genau diese disanthropische Qualität, die in Lohmarks Erkenntnis gipfelt: „Die Pflanzen waren vor uns da, und sie würden uns überleben.“ (86) Erzähltechnisch – schließlich ist die Abwesenheit eines betrachtenden Subjekts eigentlich ein erzähltechnisches Paradoxon – würde dies hauptsächlich durch eine Verzeitlichung des dargestellten Landschaftsraums mittels Anthropomorphisierung der Pflanzenwelt gelingen. In der Betrachtung des Pflanzenwachstums wird eine Blickachse in die erdgeschichtliche Tiefe des Raums 84 Jakob Christoph Heller: ,Die ganze Schöpfung eine bloße Wüste‘. Disanthropische Imagination und ästhetische Landschaft bei D.H. Lawrence und Judith Schalansky. In: Sabine Eickenrodt/Katarína Motyková (Hrsg.): Unwirtliche Landschaften. Imaginationen der Ödnis in Literatur und Medien, Frankfurt/Main 2016. 85 Ebd., S. 85.
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sowie in eine Zukunft ohne Menschen geschlagen: „Die Imagination vollzieht gewissermaßen die zeitliche Achse mit, anthropomorphisiert die Flora zugunsten eines temporalen Effekts.“86 Bei Hellers Fokussierung auf den temporalen Zeitraffer-Effekt, der sich in den Beschreibungen der mehr und mehr zuwuchernden Stadt einstellt, geht jedoch der Blick auf ein anderes Merkmal der anthropomorphisierten Flora verloren. Die Pflanzen weisen ein auffälliges Aggressionspotential auf, das Heller nicht thematisiert: „Einige Pflanzen hatten mehr Gene als der Mensch. Die vielversprechendste Strategie, an die Macht zu kommen, war immer noch, unterschätzt zu werden. Um dann, im richtigen Moment, zuzuschlagen. Es war nicht zu übersehen, dass die Flora auf der Lauer lag. In Gräben, Gärten und Gewächshauskasernen warteten sie auf ihren Einsatz. Schon bald würde sie sich alles zurückholen. Die missbrauchten Territorien mit sauerstoffproduzierenden Fangarmen wieder in Besitz nehmen, der Witterung trotzen, mit ihren Wurzeln Asphalt und Beton sprengen. (…) Irgendwann, schon in ein paar Jahrhunderten würde hier ein stattlicher Mischwald stehen.“ (69)
Hier geht es wohl eher um die vorsätzliche Eroberung (,Strategie‘, ,Macht‘, ,Gewächshauskasernen‘) eines Raums, die von der Protagonistin Lohmark imaginiert und in einen evolutionsbiologischen Prozess hineinprojiziert wird. Eigentlich wird bereits durch die Anthropomorphisierung der Flora an sich der disanthropische Anschein dieser Landschaft negiert, denn sie ist ganz und gar nicht subjektlos. Es gibt in ihr aggressive Subjekte, die ,lauern‘, ,zuschlagen‘, ,zurückholen‘ und ,sprengen‘ wollen, um eines Tages einen ,stattlichen Mischwald‘ zu bilden. Die politischen Anspielungen sind hier nicht zu übersehen – z. B. wird Helmut Kohls Wahlkampfversprechen von 1990 als heimtückische botanische Annexion inszeniert: „Nicht der Verfall würde diesen Ort heimsuchen, sondern die totale Verwilderung. Eine wuchernde Eingemeindung, eine friedliche Revolution. Blühende Landschaften.“ (71) Heller merkt in seinem Artikel abschließend anhand dieses Zitats zwar an, hier wäre offenbar „auch ein trotziges oder konsolatorisches Motiv mit im Spiel“.87 Lohmarks Trotz und ihre verkniffene Kritik sind jedoch das Hauptcharakteristikum der Figur und äußern sich gerade in ihrer Fixierung auf evolutionsbiologische, quasi-disanthropische Erklärungen, hinter denen sie ihre eigene Subjektivität und Ressentiments verbirgt. Die Natur wird mitunter regelrecht als Gegner beschrieben (gegen den man jedoch nichts machen kann). Auch andere Aspekte der Ortsentwicklung werden aus biologistischer Perspektive beschrieben und transportieren ebenfalls kritische Kommentare gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen. Lohmark wehrt sich durchaus gegen das konstatierte Aussterben des 86 Ebd., S. 85. 87 Ebd., S. 86.
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Ortes bzw. thematisiert die politische Dimension dieser Entwicklung, wobei sie ebenfalls evolutionsbiologisch argumentiert. Rein biologisch betrachtet ist auch dieser Ort ein fruchtbarer Lebensraum: „Alle pflanzten sich munter fort. Nur ihre Artgenossen nicht. Stattdessen taten sie, als wäre hier nichts mehr zu holen, als fände die Zukunft woanders statt, irgendwo da draußen, jenseits der Elbe, der Grenze, des Kontinents. Alle sahen zu, dass sie irgendeinen Zipfel der Wirklichkeit zu fassen bekamen, den sie hier partout nicht sehen wollten. Als ob es an diesem Ort kein Leben gab. Überall war Leben. Selbst im abgestandenen Regenwasser.“ (41)
Lohmarks Betrachtungsweise erscheint durch die wissenschaftliche Betrachtung entsubjektiviert. Doch ihre persönliche Kritik wird dennoch deutlich, denn das abgestandene Regenwasser ist nicht nur pejorativ assoziiert mit dem Stillstand des Lebens im Ort – wofür es im Übrigen eine Analogie in Schochs Mit der Geschwindigkeit des Sommers gibt: Hier ist es das Oderhaff, das als ein stehendes Gewässer beschrieben wird, womit sowohl eine reg- und leblose Landschaft als auch der ausweglose psychische Zustand der Protagonistin beschrieben werden: „Nie ein Tosen, keine Drohung, ein gigantisches, stehendes Meer.“ (26) Das abgestandene Regenwasser bei Schalansky ist im Gegensatz zum passiv wirkenden, nie tosenden Oderhaff bei Schoch jedoch auch ein Ort, an dem unentwegt neues Leben entsteht – was zu Lohmarks Bedauern nur von niemandem außer ihr selbst bemerkt und gewürdigt wird. Die Ödnis-Darstellungen in diesem Text funktionieren dennoch ähnlich wie auch bei Julia Schoch als Projektionsflächen für die Innenwelt der Hauptfigur, also für ihr inneres Erleben und ihre Überzeugungen. Diese formuliert sie kontinuierlich im stereotypen Modus der verknöcherten DDR-Lehrerin als vermeintlich objektive, evolutionsbiologische Tatsachen. Lohmarks Handeln wird davon äußerlich allerdings nicht tangiert. Sie geht jeder offenen Auseinandersetzung aus dem Weg, wie auf der Handlungsebene des Textes ersichtlich wird: Der Konflikt mit dem Schuldirektor bezüglich des Mobbingfalls wird nicht gelöst. Auch über das Schicksal des Gymnasiums an sich erfährt der Leser nichts Konkretes. Die aufgenommenen Handlungsfäden werden nicht wirklich verknüpft, sondern die Ereignisse bleiben skizzenhaft und dienen als Auslöser für die Darstellung der Innensicht und Befindlichkeit der Inge Lohmark. Durch diese Erzählhaltung dringt Lohmarks Unzufriedenheit im Prinzip nie nach außen, sondern beschränkt sich auf die Form eines inneren Monologs. Der zurückgehaltene Groll auf gesellschaftliche Entwicklungen wird in die Naturdarstellungen verlagert. Diese von Lohmark beschriebene Natur erweist sich daher trotz des Fehlens des Menschen in ihr als weniger disanthropisch als die Beschreibungen verlassener und überwuchernder Stadtbrachen glauben lassen. Vielmehr ist diese Natur im Stillen unermüdlich aktiv: Sie wächst und wuchert, ist angriffslustig oder gar heimtückisch und stellt metaphorisch den Konflikt um die „sogenannte Wende“ (177) als ein in
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Lohmarks Sicht rein naturgesetzmäßiges Geschehen ohne menschliche Subjekte dar. Durch den Zeitraffer-Effekt, der sich durch den Blick in die evolutionsgeschichtliche Tiefe des Raums ergibt, erscheint der Mensch zudem klein, er ist lediglich „ein flüchtiges Vorkommnis auf Proteinbasis.“ (70) Er ist nicht mehr als eine Episode in der Naturgeschichte und sein Dasein in diesem Maßstab irrelevant. Die Darstellung des Endes der DDR und der Wiedervereinigung als in erdgeschichtlicher Perspektive bedeutungsloser Wandel eines Ökosystems greift Stefan Heyms Vorstellung von der ,DDR als Fußnote der Geschichte‘ auf. Dies zeigt die Relativität des historischen Zeitabschnitts und eines Menschenlebens darin und transportiert doch gleichzeitig latente Frustrationen seitens der Ostdeutschen über die Umstände der Wiedervereinigung. Ebenso wird mit der Hauptfigur ein DDR-geprägter Persönlichkeitstypus gezeichnet. Für Lohmark ist Kritik an den Umständen nur im diskursiven Rahmen der Evolutionsbiologie artikulierbar, somit über ein wissenschaftlich abgesichertes Bezugssystem. Sie ist nicht fähig oder willens, diesen ideologischen Rahmen zu verlassen – wodurch ihr in der Nachwendezeit gerade das nicht gelingt, was sie als Grundlage ihrer Lebensanschauung betrachtet: die Anpassung an sich verändernde Umweltbedingungen. Liebe als „Alibi für kranke Symbiosen“88 Lohmarks biologistische Perspektive bewirkt vor allem eins: die Relativierung ihres Lebens und ihres Verhaltens. Dies betrifft nicht nur ihre Wahrnehmung der Nachwendejahre in der Stadt. In der Fokussierung auf ein quasi evolutionsbedingtes Anpassungsverhalten steckt ebenso Abwehr gegenüber Fragen nach gesellschaftlichen Zusammenhängen sowie persönlichen Verhaltensweisen und Verantwortungen in der DDR-Zeit. Ihre wissenschaftliche Betrachtungsweise klammert moralische Fragen aus: „Moral hatte in der Biologie genauso wenig zu suchen wie in der Politik.“ (161) Über das Verhalten ihrer Familie in der DDR-Zeit gibt es lediglich Andeutungen, die jedoch erkennen lassen, dass über dieses Thema nicht kommuniziert wird. Beiläufig wird erwähnt, dass Lohmarks Vater in der Parteikreisleitung beschäftigt war, doch „Was er wirklich arbeitete, wusste wohl nicht mal ihre Mutter.“ (152) Genaueres zu der Tätigkeit des Vaters bleibt im Dunkeln; ebenso wie die verharmlosend angedeutete Tatsache, dass Lohmark selbst offenbar für die Stasi tätig gewesen war: „Sie brauchte sich nichts vorzuwerfen. Andere hatten auch unterschrieben. Und geschadet hatten die paar Berichte niemandem. Dass das jetzt so breitgetreten wurde.“ (92) Generell erfährt man über ihre Familienbeziehungen bzw. ihr privates, emotio88 Schalansky, S. 98.
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nales Leben wenig – „Familial connections are a mystery here“, wie Emily Jeremiah feststellt.89 Durch die Relativierung der Bedeutung des Menschen im evolutionären Prozess ergibt sich in Lohmarks Logik auch eine Relativierung der Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen, die sie ebenfalls als rein biologische Notwendigkeiten beschränkt betrachtet. Lohmarks Beziehung zu ihrem Mann Wolfgang ist für sie eine notwendige Allianz zur „Aufzucht der Jungen“ (97). Auch in ihrer biologischen Auffassung von Beziehungen verbirgt sich Zynismus und Enttäuschung. Die Beziehung zwischen Lohmarks Eltern wird als unterkühlt beschrieben: „Zwei Menschen, die aus unerfindlichen Gründen jede Nacht gemeinsam im selben Doppelbett schliefen. Ohne Not. Ein Paar waren sie jedenfalls nicht. Nie gewesen. Und nie geworden.“ (152) Ihre spätere Ehe zu ihrem Mann erweist sich als ebenso pragmatisch-kühl: „Dass Wolfgang und sie nicht mehr miteinander sprachen, fiel gar nicht auf, wenn man sich tagelang nicht sah. Was sollte all das Kuscheln? (…) Das Kind war aus dem Haus. Der Fall erledigt.“ (97) Die Distanz und Entfremdung in den Beziehungen überträgt sich auf die nachfolgenden Generationen. Auch Lohmarks Verhältnis zu ihrer Tochter Claudia ist unterkühlt. Diese hat den Ort verlassen und lebt seit zwölf Jahren in den USA, der Kontakt ist spärlich. Über ihre Hochzeit informiert Claudia ihre Mutter per E-Mail. Details über Claudias Leben erfährt der Leser nicht. Inge Lohmark phantasiert jedoch von Claudias Rückkehr und einem gemeinsamen Leben im Ort. Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter wird nur an einer Stelle genauer charakterisiert, als deutlich wird, dass Lohmark auch die Biologielehrerin ihrer Tochter war und an der Doppelrolle als Lehrerin und Mutter gescheitert ist. Geschildert wird eine Schulszene, in der Claudia im Unterricht zu weinen beginnt und ihre Mutter nicht fähig ist, darauf einzugehen. Sie bleibt in der Rolle der rigiden Lehrerin: „Sie (Claudia) hörte nicht auf zu wimmern. Mama. Immer wieder: Mama. Ein kleines Kind. Claudia schrie nach ihr. Vor der ganzen Klasse. Natürlich war sie ihre Mutter. Aber zuallererst ihre Lehrerin. Sie lag nur da und konnte sich nicht beruhigen. Niemand ging zu ihr. Niemand tröstete sie. Auch sie nicht. Es ging nicht. Vor der ganzen Klasse. Nicht möglich. Sie waren in der Schule. Es war Unterricht. Sie war Frau Lohmark.“ (219)
Lohmarks rigorose Haltung und ihr starres Festhalten an übergeordneten Gesetzmäßigkeiten verhindert die flexible Gestaltung von sozialen Situationen. Die Bezugnahme auf Prinzipien funktioniert für Lohmark als Rechtfertigungsstrategie für ihr mangelndes subjektives Verantwortungsgefühl in verschiedenen Bezie89 Emily Jeremiah: Shameful Stories: The Ethics of East German Memory Contests in Fiction by Julia Schoch, Stefan Moster, Antje Rávic Strubel, and Judith Schalansky. In: Emily Jeremiah/Frauke Matthes: Edinburgh German Yearbook 7. Ethical Approaches in Contemporary German-Language Literature and Culture, Rochester/New York 2013.
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hungskonstellationen. Der Fokus auf die Notwendigkeit der Anpassung verschleiert die Frage nach ihren eigenen persönlichen Handlungsmotiven sowie denen ihrer Familie. Auch hier wird eine soziale Ödnis abgebildet, indem soziale Beziehungen auf biologische Abläufe reduziert werden. Der Wegzug der Tochter lässt sich daher nicht nur als symptomatisch für das Schicksal des Ortes nach 1989, sondern auch als Ausbruch aus dem Familiensystem betrachten. Das gedankliche Kreisen der Hauptfigur um das Thema der evolutionsbedingten Anpassung als wissenschaftlich objektive Tatsache erweist sich als eine grundsätzliche Rechtfertigungs- und Relativierungsstrategie zur Vermeidung von Subjektivität. Dies bezieht sich sowohl auf die implizite, bissige Kritik am neuen Gesellschaftssystem, die Lohmark stets nur in einer grotesk biologisierten Weise formuliert und rechtfertigt. Ebenso bezieht es sich auf ihr Verhalten in sozialen Beziehungen sowohl im familiären als auch gesellschaftlichen Kontext, bei dem die Frage der subjektiven Verantwortung und Beteiligung durch Objektivierung und Orientierung an Gesetzmäßigkeiten obsolet wird: Es scheint für nichts verantwortliche Akteure zu geben und auf Anforderungen der Außenwelt wird grundsätzlich mit Anpassung reagiert. Der disanthrophisch überwachsene Ort ist Sinnbild dafür. Lohmarks Objektivierungsbestrebungen sind jedoch immer Relativierungsversuch und Problematisierung des Relativierten zugleich, was einen latent unterminierenden Effekt zur Folge hat, wie auch Emily Jeremiah feststellt: „The references to nonhuman animal behavior relativize human norms. Normality is in fact questionable (…). Indeed, normality is only definable against the opposite: ,Was normal war, zeigte sich erst in den Abweichungen‘. The novel thus challenges heteronormativity; Inge’s biologism actually renders her queer. While reductive and ostensibly apolitical and amoral, it is actually subversive.“90 Mit der Darstellung Lohmarks als querulantischem Außenseiter-Typus wird gleichzeitig ein kommunikatives Problem bezüglich der DDR-Vergangenheit reflektiert und auf Schwierigkeiten der älteren Generation angespielt, DDR-Erfahrungen offen zu artikulieren und sinnhaft zu integrieren, da diese nicht der neuen gesellschaftlichen ,Norm‘ entsprechen. Die DDR-Lebenserfahrung Lohmarks wird offensichtlich von der Natur überwuchert und damit nivelliert, was sie immer wieder zynisch konstatieren und gleichzeitig als natürlichen Prozess rechtfertigen muss, um sich mit ihrer tatsächlichen Unfähigkeit, zu ihrer Lebensgeschichte zu stehen, sie zu verarbeiten und mit den Veränderungen im Ort umzugehen, nicht zu konfrontieren.
90 Ebd., S. 79.
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3.5 Zusammenfassung Die drei Romane von Julia Schoch Mit der Geschwindigkeit des Sommers, Judith Zander Dinge, die wir heute sagten und Judith Schalansky Der Hals der Giraffe weisen sowohl auf inhaltlicher als auch auf ästhetischer Ebene signifikante Gemeinsamkeiten auf. Sie schildern das lokale Leben in der nordostdeutschen Provinz in der zweiten Dekade nach der Wiedervereinigung und reflektieren die Veränderungen des Alltagslebens im Zuge der Gesellschaftstransformation seit 1989/90. Die Ödnis als landschaftliches wie soziales Phänomen spielt dabei eine entscheidende Rolle – die Poetisierung der Ödnis und des ,Nichts‘ ist ästhetisches Charakteristikum aller drei Romane, womit verbreitete mediale wie auch literarische Diskurse über die Region aufgegriffen werden. Die diskursive Kodierung der Region als öde, also östlich-rückständig, entlegen und verlassen prädestiniert sie für solche literarischen Darstellungen, die das Interpretationsschema der ,grauen DDR‘ aufrufen oder der von den Folgen der Gesellschaftstransformation gebeutelten strukturschwachen, ländlichen Gebiete in Ostdeutschland. Alle drei Texte lassen sich als Bestandsaufnahmen der Gegenwart lesen, die Bezüge in die DDRGeschichte herstellen und die Schicksale ihrer Protagonisten über den Bruch der Wende hinweg beleuchten und die Bedeutung dieses Einschnitts ausloten. Es werden die in diesem Zusammenhang prominenten Themen aufgegriffen wie Abwanderung, Arbeitslosigkeit, Fremdenfeindlichkeit, Perspektivlosigkeit, Alkoholismus, Politikferne oder das Aufeinanderprallen von Nachwende-Realität und DDRMentalität, wie sich z. B. in der Figur der Inge Lohmark zeigt. Doch provozieren die Texte gleichzeitig eine genauere Betrachtung der gegenwärtigen ,Ödnis‘, die sich als vielschichtig erweist und nicht allein auf den Einschnitt der Wende oder das Erbe der DDR zurückgeführt werden kann. Auffällig ist besonders für die dargestellten Orte und Landschaften in Schochs und Zanders Roman, dass sich die Stimmungslage vor und nach 1989 scheinbar kaum ändert, sondern gleich öde bleibt, obwohl sich offensichtlich strukturell einschneidende Dinge ereignet haben (Abzug des Militärs, Schließung der LPG). Dargestellt werden also auch Kontinuitäten der Alltagskultur oder der Mentalitäten, die die Bedeutung von 1989 ebenso relativieren. Gerade in dieser Perspektive, die nicht ausschließlich den strukturellen Einbruch der Wende als zentrale Problematik thematisiert, liegt der Wert der historiografischen Reflexionen in diesen Texten. Gezeigt werden lokale Entwicklungen in längerfristiger Perspektive, die einen differenzierten Blick auf die DDR-Zeit, die ,Wende‘ und die Gesellschaftstransformation entstehen lassen. Die Poetisierung der Ödnis legt in diesem Zusammenhang verschiedene Bedeutungsschichten frei: Unwirtlichkeit und Ödnis sind hier also nicht ausschließliche ästhetische Signale für die misslungene Gesellschaftstransformation oder ein
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problematisches, ungenügend aufgearbeitetes DDR-Erbe, das nun von einer leeren und ,runtergewirtschafteten‘, einer ruinierten Landschaft symbolisiert wird. In den jeweiligen Romanen hat die Poetisierung der Ödnis unterschiedliche erzählerische Funktionen. So ist die Ödnis landschaftliche Projektionsfläche für die sich selbst und dem Ort entfremdete Innenwelt der Protagonistin in Julia Schochs Roman. Die mangelnde sinnstiftende Verbundenheit mit dem Ort (,non-place‘) kommt hier sowohl bei der Protagonistin als auch bei der Erzählerin zum Tragen, wodurch zwei Facetten der Unverbundenheit zum Ausdruck kommen – sowohl die Depression der Hauptfigur als auch die große innere Freiheit und Fähigkeit distanzierter Betrachtung der eigenen Geschichte bei der Erzählerin. In Judith Zanders Roman ist die Ödnis zuallererst ein soziales Phänomen und bildet sich in der Kommunikationsstruktur der Dorfgemeinschaft ab, die von Verschweigen und Verdrängung gekennzeichnet ist. Die Abschottung voreinander wird als Mentalitätscharakteristikum sowohl ironisiert als auch problematisiert und lässt den Eindruck des mangelnden Willens oder Vermögens an Aufarbeitung entstehen. Doch ist das Dorf auch eine nach außen hermetisch wirkende, da ebenso eingeschworene Gemeinschaft, die über subtile sprachliche Verbindungen über die Generationen hinweg entsteht und zusammenhält. Das Dorf ist kein ,non-place‘, sondern es erzählt seine eigene, vielstimmige Geschichte. Diese bietet durchaus ein DDR-Bild, doch nicht im Sinne einer kritischen, ,rekonstruktiven‘ Aufarbeitung, sondern durch einen genauen und ethnografisch geprägten Blick auf die Veränderungen der Alltagskultur und den individuellen Umgang der Dorfbewohner damit. Die Ödnis in Schalanskys Roman ist sowohl eine landschaftliche wie soziale. Der Wandel des Ortes zur ,Geisterstadt‘, aus der die Menschen verschwinden und die von Pflanzen überwuchert wird, erscheint als rein biologisches Geschehen ohne subjektiv-menschliche Dimension. Gesellschaftliche Zusammenhänge und individuelle Verantwortung werden biologisiert und durch ein quasi-objektives Bezugssystem erklärt. Die Relativierung auch der DDR-Geschichte hat entlastende Funktion für die Hauptfigur, die sich in ihrer Lebensleistung gekränkt sieht, gleichzeitig wird ihre Denkweise vorgeführt, die eine DDR-systemgeprägte ist und die sie nicht ändern kann oder will. Die Poetisierung der Ödnis lässt sich in diesen Texten verstehen als ästhetische Strategie in der Darstellung von nur scheinbar peripheren Gemeinschaften, in denen auch nur scheinbar „die geschichtlichen Ereignisse als insignifikante und gleichgültige Vorfälle jenseits des eigenen Erfahrungshorizonts“91 angesiedelt sind. Die historiografische Reflexion besteht im Sichtbarmachen der Einflüsse globalgeschichtlicher Umbrüche und ihrer Auswirkungen auf den Alltag in Orten an der 91 Fuchs, 2013, S. 224.
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Peripherie, wobei trotz des zentralen historischen Einschnitts von 1989 nicht der Zusammenbruch der DDR und dessen Aufarbeitung, sondern ebenso auch Kontinuitäten in den Vordergrund rücken, die sich als Thema in allen drei Texten finden lassen – sei es bei Schoch in der ,Unbeteiligtheit des Subjekts‘, die auch eine Form der Freiheit bedeuten kann, bei Zander in lokalen Verstrickungen und Verdrängungspraktiken, die aber auch Dauerhaftigkeit und Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft betonen, oder bei Schalansky im Weiterbestehen einer Mentalität, die sich neuen Lebenssituationen nicht flexibel anzupassen vermag.
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4.1 Eine distanzierte Generation? Es gibt wenige Texte jüngerer tschechischer AutorInnen, die den Systemumbruch von 1989 und seine gesellschaftlichen Folgen ausdrücklich thematisieren. Die jüngere tschechische Literatur zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass über das Ausland erzählt wird. Zahlreiche AutorInnen verlegen Handlungen und Schauplätze ihrer Geschichten in andere Länder und verarbeiten nicht selten eigene Reise- oder Auslandserfahrung, die mit der Reisefreiheit seit 1989 möglich wurde. Für die Altersgruppe der hier untersuchten AutorInnen sind Reise- und Auslandserfahrung – häufig im Zusammenhang mit Studium und beruflichen Praktika – offenkundig ein zentraler Bestandteil der Biografie. Dieses Phänomen einer auffälligen Auslandsorientierung von jüngeren AutorInnen der tschechischen Gegenwartsliteratur wurde in Literaturkritik und Feuilleton mit dem Begriff der „generace útĕkářů“ („Generation der Fliehenden“) bezeichnet – erstmals verwendet 2009 von der Autorin Markéta Pilátová in einem Artikel der Zeitschrift Respekt, in dem sie am Beispiel einer ganzen Reihe von bekannten tschechischen (und auch slowakischen) Autorinnen und Autoren wie Petra Hůlová, Jaroslav Rudiš, Barbora Gregorová, Michal Hvorecký oder Martin Ryšavý deren Neigung diskutiert, Inspiration in der Fremde zu suchen oder exotische Orte und Kulturen zu thematisieren. Sie beschreibt diese SchriftstellerInnen – sich selbst inbegriffen – als Nomaden: „(...) sie ziehen durch die Welt, das Laptop im Rucksack, hängen auf Skype oder Facebook rum und sind am liebsten da zuhause, wo es ihnen gerade passt. Ihre Helden leben nicht in Tschechien und lösen keine tschechischen Probleme.“1 Ihre Romanfiguren scheinen sich von der Beschäftigung mit tschechischen Themen zu distanzieren, was ihnen nicht selten den Vorwurf einer „Flucht vor wirklichen Problemen“2 seitens der Kritik einbringen würde. Als Gründe dafür umreißt Pilátová die grundlegend veränderte politische Situation seit 1989, d. h. eben die Reisefreiheit und damit einhergehende Möglichkeiten sowie auch die zunehmende Selbstverständlichkeit dieser Möglichkeiten gerade für jüngere AutorInnen. Autoren wie Jaroslav Rudiš oder Šimon Šafránek wollen nicht auf tschechische Themen 1
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„(...) kočují po svĕtĕ, v batohu nosí laptopy, visí na Skypu a na Facebooku a doma by byli rádi všude, kde se jim zamane. Jejich hrdinové nežijí v Čechách a neřeší české problémy.“, Markéta Pilátová: Spisovatelé na útĕku. In: Respekt 18, 2009, Nr. 21, S. 36. Ebd., S. 38.
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beschränkt sein, sondern würden sich als Teil eines größeren Zusammenhangs begreifen. Es ginge ihnen laut Pilátová um die Weitung des eigenen Horizonts, um Freiheit, um Abstand und die Veränderung der Perspektive, die mit dem Reisen verbunden sind. Eine Rolle spiele aber auch das Bewusstsein darüber, als Autor einer kleinen Sprache mit nationalspezifischen Themen nur ein kleines Publikum erreichen zu können; wer übersetzt werden will, müsse also allgemeinere Themen aufgreifen. Pilátová behauptet für jüngere Autoren zudem eine gewisse Abneigung gegenüber Vergangenheitsthemen, die bereits von älteren Autoren wie Arnošt Lustig, Pavel Kohout oder Jáchym Topol besetzt seien: „Die dreißigjährigen Autoren fühlen sich außerdem vom Aufruf, über die Dramen des Kommunismus zu schreiben, nicht angesprochen.“3 Aus Pilátovás Beitrag lässt sich herauslesen, dass eine latente gesellschaftliche Erwartungshaltung gegenüber der literarischen Darstellung der Vergangenheit möglicherweise auch den Blick auf die Gegenwart verstellt und jüngere AutorInnen davon abhält, über das Gegenwartstschechien zu schreiben, das in der Sicht der Autoren durchaus Themen jenseits der kommunistischen Vergangenheit bereithalte: „Šimon Šafránek ist der Auffassung, dass auch Tschechien unterm Bett verborgene Schätze bereit hält. Und angeblich müssen das nicht unbedingt die Dramen der fernen oder jüngeren Vergangenheit sein.“4 Das Phänomen der „útĕkáři“, also der „Fliehenden“, wurde bisher kaum literaturwissenschaftlich betrachtet; bis auf einige Magisterarbeiten, die sich beispielsweise mit Aspekten wie dem Umgang mit dem Fremden, dem Heimatbegriff oder der Dekonstruktion bzw. dem Fortschreiben des exotisierenden Blicks auseinandersetzten, gibt es keine systematisierenden Untersuchungen darüber, was Kriterien der Zugehörigkeit zu dieser Autorengruppe sein könnten.5 Diese Fragen sollen dennoch nicht im Zentrum des Kapitels stehen. Im Fokus der folgenden Textanalysen werden Zusammenhänge zwischen der literarischen Darstellung der Fremde und dem politischen Umbruch von 1989 stehen bzw. es soll herausgearbeitet werden, inwieweit es hier Zusammenhänge gibt. Es wird die in Pilátovás Artikel angesprochene vordergründige Abkehr dieser AutorInnen von der literarischen Beschäftigung mit der Vergangenheit, die durch die Auslandsthematik suggeriert wird, näher beleuchtet. Inwieweit berichten diese Texte dennoch von der kommunistischen Vergangenheit und dem politischen Umbruch, gerade weil sie sich vom eigenen Land abwenden? Ich möchte zeigen, dass sich die Auslandstexte durchaus als Nachwende-Narrative lesen lassen, die sie gleichzeitig auch sind, denn auch sie 3 4 5
„Třicetileté autory zároveň nijak nepřitahuje výzva psát o dramatech komunismu.“, Ebd., S. 38. „... Šimon Šafránek si myslí, že i Česko je plné pokladů pod postelí. A nemusí to prý být nutně dramata dávné či nedávné minulosti.“, Ebd., 41. Diese Angaben verdanke ich Henriette Koštál.
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erzählen oft sehr deutlich vom gesellschaftlichen Wandel seit 1989 und enthalten narrative Strukturen, die eine Diskussion der Vergangenheit beinhalten und auf den tschechischen Aufarbeitungsdiskurs verweisen. Analysiert werden drei Romane aus den 2000er Jahren – Markéta Pilátovás Žluté oči vedou domů (dt. erschienen unter: Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein, 2010), ein Text von Marek Janota Všechno, co vidím (Alles, was ich sehe) und ein Roman von Petra Hůlová: Strážci občanského dobra (Die Hüter des Gemeinwohls). Markéta Pilátová (*1973) ist nicht nur Beobachterin des Phänomens der „útĕkáři“, sondern als Autorin ebenso prominent beteiligt. Wie auch Janota und Hůlová hat sie selbst in dem Land gelebt, über das sie schreibt, so dass von autobiografischen Einflüssen ausgegangen werden kann. Pilátová, deren 2010 erschienener Roman in Brasilien und in Prag spielt und von den Lebenswegen tschechischer Emigranten nach dem Zweiten Weltkrieg in Brasilien handelt, ist studierte Hispanistin und hat einige Zeit in Brasilien und Argentinien verbracht, wo sie u. a. Tschechisch für die Nachkommen von Emigranten unterrichtet hat. Neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin berichtet sie als Südamerika-Korrespondentin für die Wochenzeitschrift Respekt. Marek Janota (*1977) ist eine weniger bekannte Figur im tschechischen Literaturbetrieb. Er lebt und arbeitet als Architekt in Prag. Alles, was ich sehe aus dem Jahr 2009 ist sein Debüt und bisher einziges veröffentlichtes Buch. Es handelt von einem jungen Prager Architekten, der nach einem längeren Arbeitsaufenthalt in London bzw. einem Londoner Architekturbüro nach Prag und in die Prager Arbeitswelt zurückkehrt. Die autobiografischen Bezüge zum Leben des Autors sind offensichtlich, denn Marek Janota hat ebenfalls vier Jahre in London gelebt und gearbeitet. Zudem ist sein Roman mit einer Jahres- und Ortsangabe (London) unterschrieben, die einen authentischen autobiografischen Bericht suggeriert. Petra Hůlová (*1979), die in Prag Kulturwissenschaft und Mongolistik studiert hat, gilt als eine der bekanntesten Vertreterinnen der „generace útĕkářů“. Sie debütierte im Jahr 2002 mit dem vielbeachteten und mehrfach übersetzten Roman Kurzer Abriss meines Lebens in der mongolischen Steppe6, der in der mongolischen Steppe spielt und dort die Schicksale verschiedener Frauengenerationen beschreibt. Zwei ihrer weiteren Romane spielen ebenfalls im Ausland (New York, Sibirien).7 Dennoch ist sie eine Autorin, die sich ebenso mit Binnenproblemen befasst und auch Themen aus dem eigenen kulturellen Kontext aufgreift.8 In ihrem 6 7 8
Petra Hůlová: Paměť mojí babičce, Praha 2002 (dt. Kurzer Abriss meines Lebens in der mongolischen Steppe, München 2007). Cirkus Les Mémoires, Praha 2005 (dt. Manches wird geschehen, München 2008); Stanice Tajga, Praha 2008 (dt. Endstation Taiga, München 2010). Z. B. in Umělohmotný třípokoj (2006) (dt. Dreizimmerwohnung aus Plastik, Köln 2013) beschreibt sie den Erfahrungsbericht einer alternden Prostituierten.
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Roman Die Hüter des Gemeinwohls aus dem Jahr 2010, der in einer fiktiven nordböhmischen Plattenbausiedlung spielt, setzt sie sich erstmals explizit mit dem Erbe des Kommunismus auseinander. Der Roman bildet insofern eine Ausnahme in meiner Auswahl, als dass er zwar nicht vom Reisen und dem damit verbundenen räumlichen Sich-Entfernen aus der Heimat handelt, das bei Pilátová und Janota als Motiv im Zentrum steht. Dennoch spielen räumliche Distanzierungen auch bei Hůlová motivisch eine wichtige Rolle. In allen drei Texten werden durch die (Reise-)Bewegungen der Protagonisten symbolische Raumordnungen sichtbar, die näher untersucht werden sollen. Denn die Beschreibungen ganz bestimmter Räume bzw. ihre jeweiligen Konnotationen versinnbildlichen mehr als nur eine temporäre Abkehr von Inlandsthemen, Neugier auf die Teile der Welt, die bisher nicht zu bereisen waren, oder ein Bedürfnis nach der Internationalisierung von Themen o. ä., sondern implizieren immer auch einen Vergleich mit der eigenen Gesellschaft, da die Erfahrungen in der Herkunftskultur den Blick auf die Fremde und somit ihre Darstellung mitbestimmen. In der Beschreibung der Fremde und in der symbolischen Raumordnung bildet sich daher ein Gesellschaftsvergleich ab, bei dem ebenso Aussagen über die eigene Gesellschaft getroffen werden, also über das post-sozialistische Tschechien der 1990er bis in die 2000er Jahre – der ungefähre Zeitraum, der in allen drei Texten die erzählte Gegenwart darstellt. Die räumliche Distanz zur eigenen Gesellschaft und ihren aktuellen Entwicklungen bedeutet also nicht, dass diese Gesellschaft nicht mitreflektiert wird. In allen drei Romanen sollen daher Erzählformen der Distanz im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Umbruch von 1989 und seinen Folgen untersucht werden. Der Begriff der Distanz stand bereits im Mittelpunkt des 2014 erschienenen Bands Distanz. Schreibweisen, Entfernungen, Subjektkonstitutionen in der tschechischen und mitteleuropäischen Literatur.9 Ausgegangen wird dort von der Distanz als einem Begriff in der tschechischen Literatur- und Kulturgeschichte, der – ebenso wie die Rede von ,Differenz‘ oder ,Alterität‘ – für das multiethnische und multireligiöse Mittel-Osteuropa von weitreichender Bedeutung ist und die Diskurse über die Region geprägt hat, was besonders für die Konstitution der tschechischen Kultur von Bedeutung ist: „Spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts werden tschechische kulturelle Selbstbeschreibungen als fortgesetzte Aushandlungen, Herstellungen und Reduktionen von Distanzen semantisiert“.10 Im Zuge der Nationalbestrebungen spielten Abgrenzungsbewegungen (z. B. gegenüber der deutschen Kultur) eine wichtige Rolle; auch wirkmächtige politische 9 Nora Schmidt/Anna Förster (Hrsg.): Distanz. Schreibweisen, Entfernungen, Subjektkonstitutionen in der tschechischen und mitteleuropäischen Literatur, Weimar 2014. 10 Ebd., S. 14.
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Vorstellungen wie die von der kleinen Nation (Miroslav Hroch) oder die „habitualisierte Rede über kulturelle Kleinheit“ (Christian Prunitsch) lassen sich in diesem Deutungsrahmen betrachten.11 Der Band nutzt die historischen und kulturgeschichtlichen Implikationen des Begriffs als Ausgangspunkt, um in den Beiträgen Distanz ebenso auf der narratologischen Ebene als ein textuelles Verfahren bei ganz verschiedenen Autoren zu untersuchen. In den nun folgenden Textanalysen wird konkret danach gefragt, was die Erzählformen der Distanz im jeweiligen Text über das Verhältnis der Protagonisten zur sozialistischen Vergangenheit und der Wende aussagen. Die räumlichen Distanznahmen, die im Motiv des Reisens der Protagonisten, in ihren Ortswechseln und symbolischen Ortsbeschreibungen zum Ausdruck kommen, eröffnen immer auch Perspektiven auf die tschechische Gegenwartsgesellschaft und sollen analysiert werden. Die Distanz als Motiv kann dabei ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen: So kann der räumlichen Distanz beispielsweise gleichzeitig eine zeitliche Distanz zur Vergangenheit eingeschrieben sein, wie es in Pilátovás mehrgenerationeller Emigrations-Erzählung der Fall ist, in der räumliche und zeitliche Distanz zur Vergangenheit erzählerisch miteinander verbunden werden und damit Themen wie Überwindung und Abschluss dieser Zeit in den Vordergrund rücken. Bei Janota lässt sich die distanzierte Perspektive des Protagonisten als emanzipatorischer Versuch interpretieren, einen objektivierenden Blick auf die Gesellschaft zu erlangen, aber auch als eine grundsätzliche Haltung der sich distanzierenden Abkehr sowohl von der Vergangenheit als auch der Gegenwart. In Hůlovás Roman distanzieren sich einzelne Personen und Gruppen voneinander und nehmen dabei auch räumlich Abstand, wodurch innergesellschaftliche Konflikte zum Ausdruck gebracht werden.
4.2 Markéta Pilátová: Žluté oči vedou domů (2007) (dt. Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein) Markéta Pilátová hat mit Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein12 einen Roman geschrieben, der weit entfernte Schauplätze miteinander in Beziehung setzt: die gesamte Handlung spannt sich zwischen Tschechien und Brasilien auf, die entscheidenden Handlungsorte sind Prag und São Paulo. Der Roman lässt sich in erster Linie als Generationenroman charakterisieren, der die Lebenswege tschechi11 Ebd., S. 14. 12 Markéta Pilátová: Žluté oči vedou domu, Praha 2007 (dt. Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein, Salzburg 2010).
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scher Emigranten nachzeichnet, die während oder nach dem Zweiten Weltkrieg nach Brasilien ausgewandert sind. Ebenso geht es um die Lebensgeschichten ihrer in Brasilien aufgewachsenen Nachfahren, die in der erzählten Gegenwart – einer nicht genau bestimmten Zeit nach dem Ende des Sozialismus – im Alter von ungefähr Mitte Zwanzig ein reges Interesse an ihrer tschechischen Herkunft entwickeln und sich auf eine Reise nach Prag begeben. Einige der Romanfiguren – sowohl der jüngeren als auch der älteren Generation – siedeln am Ende der Erzählung aus Brasilien nach Prag um oder zurück, womit sich lebensgeschichtliche Kreise schließen, die durch den Zweiten Weltkrieg und die kommunistische Herrschaft unterbrochen wurden. Mit der Emigrations- sowie Rückkehrthematik im Vordergrund erweckt der Roman den Eindruck eines Texts mit Anspruch auf ,Geschichtsaufarbeitung‘, denn die Biografien der Protagonisten und auch die Liebesgeschichte zwischen der Hauptfigur Jaromir und seiner Frau Luiza sowie seiner Geliebten Maruška, die auf der Handlungsebene zentral ist, sind eingebettet in die tschechoslowakische Geschichte der Nachkriegszeit bzw. in die Geschichte des Kalten Kriegs. Die Lebensverläufe aller Romanfiguren werden in irgendeiner Form erzählerisch mit historischen Themen verknüpft: Es geht um Krieg und Diktatur, Emigration und Heimatverlust, um verpasste Chancen zur Emigration, den grauen Alltag des Kommunismus oder die Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Geschildert werden die Auswirkungen historischer Großereignisse auf individuelle, ,kleine‘ tschechische Schicksale. In der Rezeption dieses wahrscheinlich bekanntesten Texts von Markéta Pilátová rücken die deutlichen Geschichtsbezüge jedoch zumeist in den Hintergrund. Es werden andere Aspekte, wie die Liebesgeschichte oder auch die sich entwickelnden Frauenfreundschaften, die auf der Handlungsebene ebenfalls bestimmend sind, hervorgehoben. Generell wurde der Roman in der tschechischen Literaturkritik größtenteils wohlwollend und als Debüt gelungen, aber auch nicht nur positiv aufgenommen.13 Auf die Thematisierung von tschechoslowakischer Geschichte im Roman reagieren Rezensenten eher verhalten und schneiden das Thema meist nur kurz an. Die literarische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wird zwar erwähnt, doch als dezent bewertet. Ein Rezensent merkt hierzu lediglich an, dass die männliche Hauptfigur Jaromir der Diktatur in der Heimat entflieht, um in Brasilien erneut auf eine Diktatur zu treffen. Auch die Motivation der tsche13 Moniert wurden mehrfach die verwirrende Vielzahl der Erzählstimmen, die sich in ihrem ruhig dahinfließenden Tonfall stark ähneln, wodurch die Figuren schwer unterscheidbar seien. Auch die Handlung wirke teilweise konstruiert und unmotiviert. Vgl. D. Kaprálová, MF Dnes 19, Nr. 15, 2008, S. 5, H. Cermanová/A. Haman, Tvar 19, Nr. 1, 2008, S. 2, P. Sladký, A2 3, Nr. 44, 2007, S. 7.
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chisch-brasilianischen Handlung wird nicht als überzeugend empfunden.14 Eine ähnlich ausweichende Haltung gegenüber den Geschichtsbezügen findet sich auch in den ansonsten sehr positiven deutschen Rezensionen. Hier heißt es beispielweise, der Roman „illustriert“ die „Wirren eines totalitären Jahrhunderts“.15 Es bleibt bei der Feststellung von ,Wirren‘, die nicht näher spezifiziert werden. Das breite historische Panorama, in das die Figuren verwoben sind, wird offenbar eher als Illustration, als eine Kulisse für die Liebesgeschichte verstanden. Tatsächlich wirkt der historische Kontext wie eine Kulisse und es wird nicht unbedingt klar, warum in Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein auf nur ca. 200 Seiten die Geschichte des Kalten Kriegs beginnend vor dem Zweiten Weltkrieg bis in die Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus hinein erzählt wird, denn die lebensgeschichtlichen Zusammenhänge und Entwicklungen der einzelnen Figuren werden aufgrund der stark summarischen Erzählweise stets nur sehr oberflächlich beleuchtet. Vielmehr entsteht dadurch der Eindruck, als würde die hohe Erzählgeschwindigkeit auf einen bestimmten Punkt zulaufen bzw. diesen mit Bedeutung aufladen, ohne jedoch, dass er auf der Handlungsebene explizit wird, und zwar auf den Zusammenbruch des sozialistischen Systems im Jahre 1989, das eigentlich als der historische Schlüsselmoment im Zentrum der Geschichte steht, wie die Textanalyse zeigen wird. In Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein steckt daher mehr ,Wendethematik‘ als man auf den ersten Blick vermuten würde. Das Jahr 1989 stellt den impliziten teleologischen Fixpunkt dar, um den sich die gesamte Erzählung rankt, denn es ist das Ende des Kommunismus, das die Handlung des Romans auslöst und durch das die historischen ,Wirren‘ – endlich – einen glücklichen Ausgang finden. Somit erzählt der Roman nicht nur vom Kalten Krieg und der kommunistischen Vergangenheit in Tschechien, sondern enthält auch ein Narrativ über das Ende des Kommunismus in der Tschechoslowakei, obwohl Pilátovás Buch in keiner Weise als Wenderoman rezipiert wird. Die im Roman enthaltene Perspektive auf das Jahr 1989 stellt sich dabei als sehr einseitig heraus, denn sie ist sehr am offiziellen Geschichtsbild orientiert und erzählt von 1989 als Befreiung von der Fremdherrschaft, von der es sich zu distanzieren gilt. Das im Text enthaltene Narrativ über die kommunistische Vergangenheit und ihr Ende lässt sich an einer binär angelegten Raummetaphorik von ,West‘ und ,Ost‘ festmachen, die erzählerisch in einem stark harmonisierenden Grundtenor zu einem glücklichen Ende aufgelöst wird. Die Schauplätze Brasilien und Tschechien 14 P. Sladký, A2 3, Nr. 44, 2007, S. 7. 15 Irma Weinreich: Identitätsfindung in São Paolo und Prag. In: Die Berliner Literaturkritik, 01.06.2010, (http://www.berlinerliteraturkritik.de/detailseite/artikel/identitaetsfindungin-sao-paulo-und-prag.html?width=95%25&height=95%25&cHash=afd9821b1c014af484a3fbbc8137e2e0).
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stehen dabei in einem bestimmten Verhältnis zueinander, das sich im Verlauf der Erzählung verändert: Zwei geografisch und kulturell weit entfernte Welten werden in Beziehung gesetzt, ihr Verhältnis und ihre Annäherung beschrieben. Es geht also um die Überwindung einer geografisch-kulturellen Distanz, die letztlich mit 1989 möglich wird. Aber auch auf der Ebene der Geschlechterverhältnisse wird das Distanzverhältnis der politischen Systeme ausgedrückt sowie auf der Ebene des generationellen Verhältnisses. Es sollen nun daher die Erzählformen der Distanz bezüglich Raum, Geschlecht und Generation untersucht und die darin enthaltenen Perspektiven auf die Vergangenheit herausgearbeitet werden. Räumliche Distanz Die vier wesentlichen Protagonistinnen des Romans sind weiblich und erzählen in der Ich-Form in kürzeren, jeweils mit ihrem Vornamen überschriebenen Kapiteln über ihr Leben: Luiza, Maruška, Lena und Marta. Im Zentrum steht dennoch eine männliche Figur – der während des Zweiten Weltkriegs nach Brasilien emigrierte Tscheche Jaromir. Sein plötzlicher Tod im Jahr 1987 ist Movens der gesamten Handlung. Jaromir, aufgewachsen als Sohn jüdischer Eltern in einem mährischen Dorf, hat sein Leben als Geheimagent bzw. Doppelagent für den amerikanischen und tschechischen Nachrichtendienst verbracht. Er wird als politisierte Figur gezeichnet, deren Lebensweg von geschichtlichen Ereignissen geprägt ist. Aus Verzweiflung über die politische Situation des Kalten Kriegs und seine Isolation in Brasilien bringt Jaromir sich schließlich um. Luiza ist seine brasilianische Ehefrau; Maruška seine Geliebte aus seiner Jugendzeit in dem mährischen Dorf, in dem er aufwuchs. Beide Frauen sind in der Erzählgegenwart der 1990er Jahre ältere Damen. Zu Maruška unterhielt Jaromir zeitlebens Briefkontakt, um den Kontakt zur Heimat nicht abreißen zu lassen und auch um sich Informationen über den tschechoslowakischen Alltag zu verschaffen. Er führt eine Art Doppelleben, hin- und hergerissen zwischen seinem Alltag in Brasilien und der Verbindung zu seiner Heimat, die ihm immer fremder wird. Sein Selbstmord veranlasst seine Frau Luiza – offenbar nach 1989 – nach Prag zu reisen, um die ehemalige Geliebte ihres Mannes kennenzulernen, auf deren Briefe sie immer eifersüchtig war. Unabhängig davon machen sich die beiden wesentlich jüngeren weiblichen Hauptfiguren Marta und Lena (beide Mitte Zwanzig), die sich bereits in São Paulo flüchtig begegnet sind, auf den Weg nach Prag, um ihre jeweilige Familiengeschichte zu erforschen. Beide sind Nachfahren tschechischer Einwanderer und kennen die Tschechoslowakei nur aus Erzählungen oder Briefen von Verwandten, in denen ein negatives Bild vom Kommunismus als repressivem und die Nationalkultur bedrohendem System gezeichnet wird. In Prag werden die Erzählfäden zusammengeführt, denn hier treffen die vier Frauen aufeinander. Die beiden älteren Frauen freunden sich
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an und rekapitulieren ihre Lebensverläufe sowie die Rolle Jaromirs darin. Marta und Lena hingegen versuchen, sich in den für sie fremden tschechischen Alltag einzuleben und die jüngere tschechische Geschichte zu verstehen. Es entspinnt sich aus dieser Begegnung eine tschechisch-brasilianische generationenübergreifende Vierer-Freundschaft, in der die jüngeren Frauen teilweise eine KatalysatorFunktion übernehmen, um das Gespräch zwischen den beiden älteren Damen über ihren gemeinsamen Geliebten Jaromir in Gang zu bringen (z. B. durch Dolmetschen zwischen Maruška und Luiza). Auf der Handlungsebene ist das Reisen der Figuren, ihre Überwindung großer Entfernungen ein wichtiges Motiv. Sie emigrieren zunächst von Tschechien nach Brasilien, fliehen also vor einem diktatorischen System in die Ferne: sie distanzieren sich räumlich. Dabei kommt eine bestimmte Raummetaphorik zum Tragen. Der Systemkonflikt zwischen Ost und West, d. h. die Teilung der Welt in Machtblöcke, wird zunächst als eine unüberbrückbare – geografische wie kulturelle – Distanz zwischen beiden Lagern dargestellt. Die Hauptschauplätze Brasilien und Tschechien sind vor 1989 nicht nur räumlich weit voneinander entfernt, sondern auch mit kulturellen Konnotationen belegt, die ihre Zugehörigkeit zur westlichen bzw. östlichen Welt verdeutlichen. Die Beschreibungen Brasiliens – obwohl lange Jahre ebenfalls eine Diktatur, was im Text zwar gelegentlich erwähnt wird, sich aber nicht in Alltagsbeschreibungen niederschlägt – sind von einer Exotik des Fremden und Wilden geprägt: intensive Gerüche und überbordende Natur, Magie und Spiritismus, aber auch Brutalität und Armut. Die Beschreibungen der kommunistischen Tschechoslowakei und besonders Prags hingegen sind vom stereotypen kommunistischen Grau oder einer ähnlich gelagerten Metaphorik dominiert. Ungezügelte Freiheit wird also der kommunistischen Tristesse gegenübergestellt, wobei Klischeevorstellungen vom exotischen Südamerika und vom grauen Osteuropa perpetuiert werden. Beide Welten sind bis 1989 durch den Eisernen Vorhang voneinander getrennt. Besonders Jaromir leidet darunter, er zerbricht letztlich daran, zwischen zwei Welten zu leben und keiner wirklich anzugehören. Seine Frau Luiza in Brasilien kennt die Welt nicht, aus der Jaromir kommt, Maruška in Prag kennt die Welt nicht, in der Jaromir nun lebt. Das Reisen der Figuren nach 1989 bricht diese statische Raum-Konfiguration auf und lässt das Jahr des Systemzusammenbruchs als einen Schlüsselmoment hervortreten: Nicht nur Luiza reist nun nach Prag, um Maruška und Jaromirs Osteuropa kennenzulernen, sondern auch Maruška reist am Ende nach Brasilien. Sie beschließt sogar, dort ihren Lebensabend zu verbringen und tauscht gewissermaßen den Platz mit Luiza, die in Prag bleibt, wo sie einen neuen Partner gefunden hat. Dieser symbolische Ortswechsel signalisiert eine neue Raumordnung, in der Austausch möglich ist und die Distanzen zusammenschrumpfen. Martas und Lenas Erkundungsreisen nach Prag sind ebenfalls als Versuche zu betrachten, wichtige Fragen in ihrem Leben zu klä-
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ren: Sie wollen die Vergangenheit ihrer tschechischen Vorfahren erforschen und ihr identitäres Erbe verstehen. Auch dies führt am Ende zu einem Ortswechsel: Marta bleibt schließlich in Prag und ihre als streng antikommunistisch gezeichnete Mutter entschließt sich ebenfalls dazu, nach Prag zurückzukehren – „,ihre Seele muss zurück, sonst kann sie sich ihre Flucht nie verzeihen‘“, sagt eine Nachbarin über sie. (196) Die zuvor gespaltene Raumordnung ist nun überwunden. Die Begegnungen der vier Frauen in Prag und ihre sich daraus ergebenden neuen Lebensperspektiven führen zu einer harmonischen Auflösung einer komplizierten Dreier-Liebesbeziehung sowie zu einer gelingenden Identitätssuche der jüngeren Generation. Doch eigentlich ist es nicht nur Jaromirs Tod, sondern das Jahr 1989 als historisches Schlüsselereignis, das die komplette Handlung in Gang setzt, denn ohne die Öffnung der Grenzen und die Neujustierung der politischen Weltlage wären die Besuche von Luiza, Marta und Lena bei Maruška in Prag sowie Maruškas Reise nach Brasilien und damit auch die Beschäftigung der Protagonistinnen mit ihrer Vergangenheit wohl nur schwer möglich gewesen. Damit bildet der Fall des Eisernen Vorhangs einen auf der Handlungsebene unsichtbaren Fixpunkt in dem panoramaartigen historischen Abriss des 20. Jahrhunderts, den der Roman vordergründig bietet. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass die Protagonistinnen aus der Rückschau erzählen, von einem Punkt aus, der zeitlich nach einem Einschnitt liegt, der die Dinge verändert und die klärenden Reisebewegungen erst ermöglicht hat. Dass es sich bei diesem Einschnitt nicht nur um Jaromirs Tod handelt, zeigen zudem die eigenständigen Identitätsforschungen von Marta und Lena sowie ihrer Mütter, die mit der Geschichte um Jaromir nichts zu tun haben, bevor sie in Prag auf Maruška und Luiza treffen. Das postsozialistische Prag der 1990er Jahre ist der Ort der erzählten Gegenwart, an dem Vergangenheit dann ,aufgearbeitet‘, verstanden und verziehen wird, hier findet die Aussöhnung mit dem Schicksal und eine Art Heilung der zwischen Brasilien und Tschechien hin und hergerissenen Identitäten statt. Insgesamt entsteht daher der Eindruck einer Versöhnung von Widersprüchen, die erst durch 1989 und den Fall des Eisernen Vorhangs ermöglicht wurde. Die zuvor unüberwindbaren Distanzen zwischen Brasilien und Tschechien, an denen Jaromir verzweifelt ist, existieren nicht mehr. Es gibt kein binäres Verhältnis mehr zwischen den Systemblöcken. Die räumlichen sowie politischen Distanzen als jahrelanges Hindernis für die persönlichen Lebenslagen der Figuren verschwinden mit der Möglichkeit des Reisens und des Aufarbeitens und mit ihnen auch die biografischen Verwerfungen und Konflikte der Figuren, die in ein harmonisches, tschechisch-brasilianisches Miteinander münden. Martas neuer Prager Freund Vladimír drückt dies in einer Phantasie über Marta aus, die er hat, als sie für kurze Zeit zu ihrer Familie nach Brasilien zurückgekehrt ist. In einem Brief an sie stellt er sich vor, „wie ihr zusammen Knödel kocht und sie dann mit lila gestreiften Blüten garniert (...)“. (189) Die exotisch garnierte
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böhmische Küche steht für eine harmonische Verbindung des zuvor Getrennten und damit für den glücklichen Ausgang der Geschichte, für eine erfolgreiche Aufarbeitung des Vergangenen und letztlich auch für die Unbefangenheit der Nachgeborenen bezüglich ihrer tschechisch-brasilianischen Familiengeschichte. Ein Rezensent hingegen hat die Handlung pejorativ als „tschechisch-brasilianisches Gulasch“16 bezeichnet, und tatsächlich wird die Intention der breit angelegten tschechisch-brasilianischen Emigrationsgeschichte nicht klar jenseits ihrer Funktion, den Rahmen abzugeben für ein Narrativ über 1989 als glückliches Ende des Systemkonflikts. Distanz der Geschlechter Auch auf der Ebene der Geschlechterbeziehungen wird im Roman ein politisches Distanzverhältnis artikuliert, das mit 1989 eine einschneidende Veränderung erfährt. Es fällt ins Auge, dass sich die Rollenvorstellungen der weiblichen und männlichen Figuren stark unterscheiden und einen Gegensatz bilden, der sich als unfrei vs. frei fassen lässt. Gleichzeitig wird Unfreiheit zu einem östlichen, Freiheit hingegen zu einem westlichen Attribut stilisiert, so dass auch auf dieser Ebene eine Aussage über die gesellschaftliche Ordnung des Kalten Kriegs bzw. dessen Ende getroffen wird. Sichtbar wird dies anhand der Lebensverläufe der älteren Frauengeneration. Luiza und Maruška, also Jaromirs Ehefrau und seine ,Brieffreundin‘, sind sich hinsichtlich ihres Selbstbildes und ihrer Rollenvorstellungen sehr ähnlich. Beide werden als etwas naiv charakterisiert. Als Luiza ihren Mann eines Tages fragt, warum er mit einem Revolver unter dem Kopfkissen schlafen würde, antwortet dieser lässig: „Ich bin Doppelagent, Mädel.“ Er geht davon aus, dass Luiza nicht weiß, was das ist, und erklärt ihr sogleich: „Ein Spion, der für beide Seiten arbeitet.“ Sie weiß es tatsächlich nicht: „Ich setzte mich auf die Couch und schämte mich zuzugeben, dass ich nicht wusste, was das bedeutete. Spion, okay, seltsamer Beruf, aber Doppelagent, darunter konnte ich mir irgendwie nichts vorstellen.“ (38, 39) Luiza wird als Person gezeichnet, die nur ein beschränktes Verständnis von der Mission ihres Mannes hat. Die Geschlechterrollen werden klar konturiert – die Frau ist unwissend, kindlich, während der Mann sie unterweist und in der Rolle des geheimnisvollen Agenten auftritt. Auch für die Figur der Maruška wird eine gewisse Kindlichkeit in ihrer Art beschrieben – sie sei „wie ein zu großes Kind“. (92) Und auch sie gerät immer wieder in Situationen, in denen sie von Männern bevormundet wird. Neben Jaromir gibt es noch zwei weitere männliche Figuren, die in der Ge16 „česko-brazilský guláš“, P. Sladký, A2 3, Nr. 44, 2007, S. 7.
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schlechterkonstellation von Bedeutung sind – ein späterer Liebhaber Maruškas mit Namen Jan Zábojny und der ehemalige Geografielehrer von Jaromir und Maruška in Mähren mit dem Namen Jandl. Auffällig ist, dass auch diese drei männlichen Figuren sehr ähnliche Charaktereigenschaften und Rollenvorstellungen aufweisen. Sie werden als Abenteurer charakterisiert, die Angst vor Durchschnittlichkeit haben. Für Jaromir heißt es, er hätte schon als Kind von einem abenteuerlichen Leben geträumt, sei ein Außenseiter und neugieriger Geheimniskrämer gewesen, der gerne Menschen aushorche. Als Erwachsener entspricht er dem Schema des klassisch-charismatischen Geheimagenten James Bond, der seine ihn bewundernden Frauen als Informantinnen benutzt und sich geheimnisvoll und stark gibt. Die Beschreibungen Jaromirs werden teilweise auf ein überzogenes Bond-Bild zugespitzt, das die Naivität Luizas unterstreicht – so sagt z. B. Luiza über ihren Ehemann, als sie ihn nach seinem Selbstmord tot auf dem Bett liegend vorfindet: „Diskret wie immer. Stark wie immer.“, jedoch ohne Textsignale, dass dies ein ironischer Kommentar sein könnte. (141) Die zweite wichtige männliche Figur – Jan Zábojny – ist Jaromir ausgesprochen ähnlich. Zábojny wird Maruškas Liebhaber, nachdem Jaromir emigriert ist. Auch er wird als Spielernatur charakterisiert, liebt Geheimnisse und ist kompromisslos. Er arbeitet nach dem Krieg ebenso wie Maruška im tschechischen Außenministerium. Die Beziehung der beiden beschränkt sich auf eine heimliche Affäre, bis Zábojny nach Stalins Tod schließlich überraschend eine amerikanische Botschaftsangehörige heiratet und – wie zuvor Jaromir – die Tschechoslowakei verlässt. Beide Männer behandeln Maruška in der Situation ihres Weggangs fast gleich – weder Jaromir noch Zábojny haben ernsthaft in Erwägung gezogen, Maruška zu bitten mitzukommen. Jaromir versucht nur sehr halbherzig sie zu überreden und Zábojny versucht es gar nicht erst. Auf ihre Nachfrage bevormundet er sie: „,Na, ich kann doch nicht von dir verlangen, dass du hier einfach alles zurücklässt.‘ (…) ,Nein, das ist nichts für dich. (…) Du würdest mit der Zeit unglücklich darüber sein, dass du gegangen bist.‘“ (167/168) Er besorgt ihr vor seiner Abreise mit paternalistischer Geste eine neue Arbeitsstelle in einer Bibliothek in Prag, die sie nach seinem Weggang auch antritt. Sowohl Jaromir als auch Zábojny verlassen das Land aus Angst, ihre eigenen Lebenspläne nicht verwirklichen zu können, und beide sehen in Maruška eine Person, die in der kommunistischen Tschechoslowakei und in geregelten, kleinbürgerlichen Verhältnissen besser aufgehoben ist. Die dritte Figur, die diesem Männlichkeitsschema entspricht, ist Jaromirs und Maruškas ehemaliger Geografielehrer Jandl, mit dem Maruška noch lange befreundet ist. Jandl hat eine Vorliebe für Lateinamerika. Ebenso spielt er eine Rolle in der Beziehung zwischen Jaromir und Maruška, denn nach dem Krieg unternimmt er eine Reise nach Brasilien und besucht dort Jaromir – durch diese Kontaktaufnahme wird der langjährige Briefwechsel zwischen Maruška und Jaromir
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erst initiiert, denn Jandl hilft beim Schmuggeln der Briefe. Auch Jandl ist ein Abenteurer. Seiner Meinung nach ist der „Mensch geradezu moralisch verpflichtet (…), ein interessantes Leben zu führen“. (93) In einem Gespräch mit Maruška gesteht er, dass ihm der Nervenkitzel, wie er ihn z. B. im Widerstand während des Krieges oder auch beim Reisen fühlte, immer mehr wert war als die Liebe zu seiner Frau und seinen Kindern. (93/94) Die offenkundige Ähnlichkeit zwischen Jaromir und Zábojny setzt sich also bei Jandl fort. Ihre Gemeinsamkeiten lassen sich auf die Formel „Abenteuer, Geheimnisse und Reisen“ (93) bringen. Sie repräsentieren ein Männlichkeitsbild, das sich vor allem über heroische Leistungen definiert. Sie gestalten ihr Leben aktiv und reflektieren die politischen Verhältnisse, die ausschlaggebend sind für ihre Lebensentscheidungen. Ihre Beziehungen zu Frauen sind eigennützig. Die bürgerliche Ehe ist für alle eher ein Mittel zum Zweck und wird nicht als erfüllend beschrieben – Jandl thematisiert dies ganz offen, Zábojny heiratet um zu emigrieren und sein Verhältnis zu Maruška ist keine ,legitime‘ Beziehung, Jaromir ist zwischen Luiza und Maruška zerrissen und konzentriert sich auf seine Agententätigkeit; Kinder hat er keine. Im Roman werden also für die männlichen Figuren Abweichungen vom bürgerlichen Beziehungsleben geschildert, das sich dadurch als implizite Normvorstellung erweist. Alle drei Männer brechen aus der gesellschaftlichen Ordnung der Tschechoslowakei der Kriegs- oder Nachkriegsjahre aus, wohingegen die Frauen innerhalb der Ordnung bleiben bzw. diese repräsentieren. Der Gegensatz zwischen männlich konnotierter Selbstbestimmung und weiblicher Fremdbestimmung könnte nicht offensichtlicher sein. Während für alle drei Männer der Heldentopos ausgereizt wird, werden die Frauen zu bloßen Bewunderinnen des männlich-abenteuerlichen Lebens.17 Sie existieren nur in Relation zu den Männern bzw. zu Jaromir. Luiza redet von ihrem Sekretärinnendasein als einer „nichtigen Existenz“18, aus der Jaromir sie durch sein Interesse an ihr gerettet hat; Maruška bezeichnet ihr Leben als „die vollendete Langeweile“. (159) Maruška führt ein ausgesprochen unauffälliges Leben ohne Familie und hat nach dem Weggang Zábojnys nur noch oberflächliche Kontakte zu Männern. Sie betrachtet Jaromirs Briefe als ihr eigentliches Leben. Mit dem Briefkontakt zu Jaromir assoziiert sie Freiheit und Lebendigkeit. Als Jandl ihr nach seiner Brasilienreise von Jaromir und seinen Kontaktwünschen sowie den konkreten Schmuggelplänen berichtet, sagt 17 Es herrscht die klassische Rollenverteilung – Mann aktiv/Frau passiv. Jaromir beispielsweise „... strahlte (er) eine Fähigkeit aus, andere zu dirigieren.“, Zábojny hatte „... unwiderstehliche Selbstachtung“, über Jandl heißt es: „majestetisch und allwissend“ (36, 169, 94) 18 Luiza: „Er hat mich aus meiner nichtigen Existenz als gut bezahlte graue Büromaus herausgeholt und ihr einen neuen, wenngleich zweifelhaften Sinn gegeben.“ (141)
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Maruška: „... und ich hatte zum ersten Mal seit dem Krieg das Gefühl, dass ich tatsächlich lebe.“ (92) Nach Jaromirs Tod und dem Ausbleiben der Briefe fehlt ihr der Lebenssinn und sie wird depressiv. Ähnlich ergeht es Luiza in Brasilien. Als Jaromir stirbt, wird ihr klar, dass ihr Leben nur durch Jaromirs undurchschaubare Agententätigkeit in Osteuropa „den Beigeschmack von etwas Außerordentlichem“ hatte. (141) Das angepasste Leben der Frauen wird zugleich mit Unfreiheit und gesellschaftlicher Repression assoziiert – ihr Leben ist gewissermaßen grau wie Osteuropa. Sowohl Maruška als auch Luiza bezeichnen sich wörtlich selbst als ,graue Büromäuse‘.19 Beiden kommt es nicht in den Sinn, ihre Situation zu verändern. Maruška findet sich mit dem kommunistischen Alltag ab, mit „der grauen, zähen Misere des Kommunismus“ und dem „Grau der sich endlos wiederholenden kommunistischen Morgen“. (53, 158) Das männliche Stereotyp hingegen verweigert sich der Anpassung und Unterordnung – so verlässt Jan Zábojny die Tschechoslowakei ausdrücklich aus Angst, dort „zu einer grauen Null“ zu werden. (167) Es ist also letztlich das „Trugbild des trostlosen, unterwürfigen, osteuropäischen Anderen“20, das in der Darstellung der Frauenrollen festgeschrieben wird. Die Frauen bleiben in ihren Rollen gefangen und richten den Blick auf die Männer, die die Freiheit verkörpern. Die Männer sind diejenigen, die sich frei im Raum bewegen (durch Emigration oder Reisen), während Luiza und Maruška an ihren Orten bleiben. Die Situation ändert sich für die Frauen erst mit Jaromirs Tod und mit 1989 – beide Ereignisse stehen miteinander in Verbindung und sind für sie ein entscheidender Einschnitt: „der Kommunismus ist vorbei und Jaromir ist tot.“ (Luiza, 55) Nun beginnen auch die Frauen zu reisen. Maruškas finale Reise nach Brasilien ist daher sowohl das Ende männlicher Bevormundung – schließlich verlässt sie die vertraute Ordnung und begibt sich auf ein Abenteuer – als auch ein symbolischer Wechsel der Gesellschaftsordnungen, denn all dies wird erst mit dem Ende des Kommunismus möglich. Ihre Abreise bedeutet also ebenso das Ende ihres Daseins als graue Büromaus wie auch das Ende des Kommunismus selbst. Der neue Ort signalisiert einen neuen Zeitabschnitt: Hier ist nichts mehr grau, sondern alles ist exotisch bunt, pulsierend und aufregend fremd – was durchaus an 19 Maruška: „Nach Chruschtschows enthüllenden Reden und zwischen den Anflügen von Kaltem Krieg bekamen auch wir grauen Büromäuse eine Einladung zu einem Treffen in der russischen Botschaft, wo auch, wie mir mein Liebster (=Zábojny) mit begeisterter Miene zuflüsterte, irgendwelche Amerikaner zugegen wären.“ (163) 20 David Williams: „Kinda-hegemonic, kinda-subversive“. Ulrich Seidls Import/Export und die Geoästhetik (ost-)europäischer Tristesse. In: Christine Gölz/Alfrun Kliems (Hrsg.): Spielplätze der Verweigerung. Gegenkulturen im östlichen Europa nach 1956, Köln 2014, S. 384.
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verbreitete Assoziationsmuster des ,ersten Besuchs im Westen‘ anknüpft. Dennoch lässt sich die Entwicklung der beiden älteren Frauen nicht als Emanzipationsgeschichte begreifen, auch wenn der Text dies nahelegt, indem Jaromirs Tod die entscheidende Erkenntnis für beide Frauen bringt, ihr Leben selber zu leben und sie am Ende zufrieden sind. Luiza geht nach Prag, lernt Tschechisch und geht eine neue Beziehung ein. Maruška überwindet dank Luiza ihre Sinnkrise, geht nach Brasilien und fängt ebenfalls ein neues Leben an. Doch letztlich bleiben beide auf der von Jaromir vorgezeichneten Spur. Sie tauschen lediglich die Plätze in einer von Jaromirs Einfluss bestimmten Welt. Eigentlich erfüllt Maruška mit ihrer Reise ,nur‘ einen Wunsch aus Jaromirs Abschiedsbrief, in dem er die Hoffnung geäußert hatte, sie würde vielleicht eines Tages nach Brasilien – in ,sein Land‘ – reisen. (198) Eine ähnliche Instruktion gab es bereits zuvor von Jan Zábojny, der ihr vor seiner Flucht erklärte, sie sei zu abhängig von anderen Menschen und müsse „endlich erwachsen werden“. (168) Nach seiner Emigration interpretiert sie ihre Einsamkeit dann mit bitterem Unterton: „Ich war zwar von niemandem mehr abhängig – genau wie Jan sich das gewünscht hatte –, aber vor allem, weil es keinen Kandidaten mehr dafür gab.“ (171) Beide Frauen sind in ihren Lebensentwürfen auf Männer fixiert. Auch ihre Emanzipation nach Jaromirs Tod ist ,nur‘ eine partielle, noch immer stark an der Person Jaromirs orientierte und mit wenig eigenen Lebensentwürfen ausgestattete. Durch die Assoziation der grauen Frauen mit dem grauen Osteuropa wird somit auch das Bild beeinflusst, das vom Ende der Diktatur in der Tschechoslowakei entsteht – auch dieses erscheint dadurch indirekt an westlichen Freiheitsvorstellungen orientiert. Es gibt zwar eine Ausnahme vom Schema der angepassten Frau, doch auch diese Figur steht letztlich im Dienste einer vereinfachenden Darstellung über die Befreiung vom Kommunismus: die ebenfalls wichtige Figur der Zigeunerin Johana, die im Gegensatz zu Luiza und Maruška ganz und gar nicht angepasst ist und die Freiheit an sich verkörpert – allerdings als Produkt einer männlichen Vorstellung von der Freiheit als wilder Frau. Johana stellt eine männliche Imagination dar, denn sie hat keine eigene Stimme, sondern taucht nur in den Erinnerungen der Erzählstimme Jaromirs auf. Jaromir kennt Johana aus seiner Zeit im KZ, wo sie jedoch nie eine reale Beziehung eingehen konnten. In der KZ-Situation war sie für ihn eine Projektionsfigur für die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit. Sein ganzes Leben verfolgt ihn der Gedanke an Johana, der er sich stärker verbunden fühlt als Luiza und Maruška – eigentlich ist Johana die weibliche Schlüsselfigur in Jaromirs Leben: „Ich denke ständig an Johana. Wenn ich Maruškas Brief aus Prag öffne, wenn ich diese stechende Angst spüre, ob ich auch nicht die falschen Verbindungsleute kontaktiert habe, wenn ich mich im morgendlichen Halbschlaf mit Luiza liebe. Manchmal kann ich die Welt nur durch Johanas riesige gelblichbraune Augen betrachten. Diese ernsten Augen verström-
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ten immer ein beruhigendes Licht. Wenn wir halbnackt auf dem eisigen Appellplatz standen, stellte ich mir vor, dass ich mich an ihrem glühenden Strahlen aufwärme, dass es zwei Laternen sind, die mir zu guter Letzt den Weg nach Hause weisen. Niemand war mir je so nah wie sie.“ (75)
Das „Zuhause“, um das es hier geht, ist die Freiheit, die die Figur der Johana verkörpert, denn sie ist in gewisser Weise trotz der Erniedrigungen im KZ unantastbar und bewahrt sich ihre Würde. Johanas Unantastbarkeit in der KZ-Situation wird unter Rückgriff auf einen romantisierenden Zigeunermythos dargestellt, in welchem die Zigeuner-Figur für das kulturell Fremde steht. Selbst in der sozialen Struktur des KZ erfüllen die Roma diese Rolle, sie stehen außerhalb der Sozialordnung und repräsentieren das nicht integrierbare Andere: „Das Zigeunerlager war eine Insel von einem anderen Planeten.“, erinnert sich Jaromir. (98) Johana entspricht der klassischen Imago der literarischen Zigeunerin, wie sie besonders seit dem 19. Jahrhundert als Romanfigur anzutreffen ist.21 Die ,schöne Zigeunerin‘ ist mit bestimmten Attributen belegt, die auch auf Johana zutreffen: Sie ist die verführerische Tänzerin, unnahbar und undurchschaubar, wild und fremd. Johana wird im KZ zu Orgien gezwungen und prophezeit den SS-Leuten ihre Zukunft. Sie nutzt ihre erotischen und magischen Fähigkeiten jedoch auch, um sich einen Sonderstatus zu sichern, der Privilegien wie z. B. zusätzliche Essensrationen bietet. Am Ende wehrt sie sich dennoch offen gegen ihre Peiniger: als das Zigeunerlager liquidiert werden soll, stiftet sie trotz aller Aussichtslosigkeit die anderen an, die Wachleute mit Spitzhacken anzugreifen. In der Darstellung von Johanas Schicksal im KZ wird ein Assoziationsgefüge aufgerufen, das sehr deutlich an eine lange literarische Tradition anknüpft: „Bis heute werden Zigeunerinnen als das gleichermaßen anziehende wie bedrohliche Fremde inszeniert und in ihrer Andersartigkeit festgeschrieben: sei es als temperamentvolle Tänzerinnen, als Wahrsagerinnen oder als nomadisierende Künstler und Diebe.“22 In ihrer Fremdheit verkörpern sie „das Exterritoriale, den Un-Frieden, die Un-Ordnung, die Leidenschaft, die Begierde, die Unbeständigkeit – das Chaos“.23 Auch in Pilátovás Roman ist dieser von Anziehung und Abstoßung geprägte Blick auf die Roma vorherrschend. Bereits als Kind nimmt Jaromir die Romafrauen in der gesellschaftlichen Außenseiterrolle wahr: „Ihre Frauen funkelten im Dämmerlicht der Scheunen mit Münzen und Versprechungen. Wie alle hatte ich Angst vor ihnen, und zugleich zogen sie mich an.“ (98) Johana ist für Jaromir der Inbegriff dieser bedrohlich-verlockenden 21 Kirsten von Hagen: Inszenierte Alterität. Zigeunerfiguren in Literatur, Oper und Film, München 2009, S. 16. 22 Ebd., S. 216. 23 Almut Hille: Identitätskonstruktionen. Die „Zigeunerin“ in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Würzburg 2005, S. 50.
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Fremdheit, die eine Gegenwelt zur bekannten Ordnung schafft. In der Extremsituation des KZs erscheint ihm ihr zigeunerisches Dasein als Inbegriff eines kompromisslosen Freiheitsstrebens und wird später zu seinem Ideal eines außerordentlichen, nomadischen Lebens außerhalb der Sozialordnungen, denn als Emigrant und Doppelagent ist auch er nirgendwo ganz zugehörig. Auch Jaromirs Entschluss, nach Brasilien zu gehen, steht mit Johana in Zusammenhang, denn die Vorstellung von Freiheit und einem unabhängigen Leben wird nicht nur auf Johana, sondern auch auf Lateinamerika projiziert: Er geht dort hin, weil Lateinamerika „die Wildheit Johanas“ in sich trägt. (76) Letztlich untermauert die Figur der Johana die westlich-männliche Konnotation von Freiheit im Text, denn sie ist eine mit Klischees aufgeladene Phantasie Jaromirs von der Freiheit als wilder Nomadin. In einem Gespräch zwischen Jaromir und seinem Geografielehrer Jandl erklärt Jandl, nomadische Menschen seien das Grundproblem jeder Diktatur, seien es nun Zigeuner, Juden oder Wüstenindianer. (97/98) In dieser vereinfachenden Sicht wird den nomadischen Menschen die Freiheit zugeschrieben und den sesshaften – zumindest wenn es um Diktaturen geht – die Unfreiheit. Da sich in diesem Text allerdings nur die Männer frei bewegen ( Jaromir, Zábojny, Jandl) und Johana schließlich im KZ stirbt, wird die weibliche Konnotation der Abhängigkeit (Maruška und Luiza) umso deutlicher. Darüber hinaus dockt Johanas vermeintliche Freiheit an eine nicht nur literarisch problematische Tradition an. Idealisierung und Dämonisierung des kulturell Fremden gehen dabei Hand in Hand. Durch die Figur der Johana wird ein wohlmeinendes, aber gefährlich romantisierendes Zigeunerbild instrumentalisiert, um einen totalitären Staat zu kritisieren – gewissermaßen die ,gute Absicht‘ des Romans. Besonders deutlich wird dies, als besagtes Gespräch zwischen Jaromir und Jandl auf die Machtübernahme der Kommunisten in der ČSSR und Johanas Schicksal darin zu sprechen kommt: „Er (Jandl) sagte, dass sie vielleicht jetzt besser dran sei, wenn sie tot war, denn jetzt dürfte sie nicht mit dem Fuhrwerk herumfahren, keine Pferde besitzen und den Leuten nicht mehr aus der Hand lesen. (…) Damit hatte ich nicht gerechnet, ich hatte ja keine Ahnung, dass die Dummheit der Kommunisten jenseits aller Verstaatlichungen und politischen Morde solche Formen annehmen könnte.“ (97)
Die romantisierende Überhöhung der nomadischen Freiheit von Sinti und Roma erscheint zudem gerade im tschechischen Kontext problematisch. Betrachtet man also das Geschlechterverhältnis im Roman, zeigt sich eine Opposition zwischen weiblicher Unfreiheit und männlicher Freiheit, die zugleich mit räumlichen Vorstellungen vom grauen Osten und vom exotischen, wilden Westen verbunden ist. Dieses starre Geschlechterverhältnis löst sich mit 1989 und der Reisebewegungen der beiden älteren Frauen jedoch nur scheinbar auf, denn Luiza und Maruška bleiben auf Jaromir fixiert. Eine andere Entwicklung wird hingegen
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für die beiden jüngeren Frauen angedeutet, die grundsätzlich eigenständiger sind und deren Lebensentscheidungen nicht um einen Mann kreisen. Ihr Verhalten wird auf eine generationelle Distanz zurückgeführt, die sie zur Generation ihrer nach Brasilien emigrierten Vorfahren haben, weshalb nun das Verhältnis zwischen den Generationen genauer betrachtet werden soll. Generationelle Distanz Im Roman werden hauptsächlich zwei Generationen dargestellt – die Kriegsgeneration und deren Enkelgeneration. Erzählt wird eine Begegnung zwischen diesen Generationen – die beiden älteren Frauen freunden sich mit den jüngeren an. Ihr Aufeinandertreffen stellt auch einen Austausch von Sichtweisen auf die tschechoslowakische Geschichte dar, denn schließlich reisen Marta und Lena nach Prag, um etwas über die Geschichte des Landes zu lernen. Dabei wird deutlich, dass die ältere Generation eine ganz bestimmte Sicht vertritt, deren Hauptmerkmal eine Distanz zur kommunistischen Geschichte ist. Die distanzierte Haltung bildet sich im Roman zuerst einmal als eine räumliche Distanz zur kommunistischen Tschechoslowakei ab, die fast alle Romanfiguren teilen, denn bis auf Maruška und den Lehrer Jandl geht es fast nur um Emigranten bzw. deren Nachfahren. Zusätzlich ist für die jüngere, in Brasilien aufgewachsene Generation der Kommunismus nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich weit entfernt, denn sie sind zu jung für eigene Erfahrungen. Für alle Romanfiguren in Brasilien gilt, dass ihnen ihr Wissen über den Alltag und politische Entwicklungen in der Heimat durch Medien oder andere Personen vermittelt wird. Sie befinden sich in einer Beobachterposition und betrachten das Geschehen aus großer Distanz. Dies trifft besonders auf Jaromir zu, dessen Bild der Tschechoslowakei sich hauptsächlich aus seinem lebenslangen Briefwechsel mit Maruška speist. Das Bild des Kommunismus, das sich auf diese Weise zusammensetzt, ist ein ausschließlich negatives und sehr vereinfachendes. Alle Romanfiguren der älteren Generation teilen in dieser Hinsicht eine ähnliche Einstellung. Dies betrifft nicht nur die Protagonisten Maruška und Luiza, Jaromir, Zábojny und Jandl, sondern auch die Mütter von Lena und Marta in Brasilien. Lena und Marta bekommen von ihren Müttern bzw. Großeltern das Bild einer Fremdherrschaft vermittelt, wegen der ihre Vorfahren ihre Heimat verlassen mussten. Sie sehen sich daher allesamt als Opfer des Kommunismus – bzw. diktatorischer Systeme, wenn es um diejenigen Personen geht, die bereits während des Zweiten Weltkriegs emigriert sind. Der Kommunismus wird als eine düstere Phase der tschechischen Geschichte betrachtet. Es ist von der „Finsternis einer Diktatur“ die Rede, in die das Land abzurutschen drohe, oder an anderer Stelle von „vierzig Jahre(n) Dunkelheit“. (78, 118) Die Metaphorik der Dunkelheit erinnert an den historischen Mythos
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und das Trauma des Temno (Finsternis), d. h. einer im tschechischen Geschichtsbewusstsein seit Mitte des 19. Jahrhunderts verankerten Vorstellung des Niedergangs der tschechischen Nationalkultur, die ursprünglich mit dem Verlust von Eigenständigkeit nach der Schlacht am Weißen Berg in Zusammenhang steht und hauptsächlich durch die Romane Alois Jiráseks (1851–1930) verbreitet wurde. Der Kommunismus im Roman ist eine die Entwicklung des Landes gefährdende Katastrophe. Nähere Spezifizierungen gibt es kaum und ,die Kommunisten‘ werden an vielen Stellen einfach nur als dumm und aggressiv dargestellt. Sie bilden eine Gefahr, vor der man sich schützen muss (z. B. durch Flucht oder Anpassung), es wird jedoch nicht deutlich, wer sie sind und warum sie tun, was sie tun. Die Protagonisten bewerten die kommunistische Erfahrung im Deutungsschema der sowjetischen Fremdbestimmung und reduzieren den Kommunismus auf ein abstraktes Feindbild. Marta und Lena als Vertreterinnen der jüngeren Generation wachsen mit diesem Feindbild auf. Kommunismus-Urteile ihrer Mütter fließen immer wieder beiläufig in Alltagsbeschreibungen ein – von Marta lesen wir z. B. über ihre Mutter: „... Mama flucht auf die Kommunisten, deretwegen sie Libussas Heimat verlassen musste.“ (12) Es wird aber auch thematisiert, dass Marta ihre Mutter eigentlich nicht versteht bzw. unter ihrer Verbitterung leidet und damit einen Generationenkonflikt angedeutet, der auf einem Migrationstrauma der Mutter beruht. Die Jüngeren befinden sich also gegenüber den Konflikten der Älteren zeitlich und räumlich auf Distanz. So auch im Fall von Lena und ihrer Mutter. Auch wenn Tschechisch die gemeinsame Sprache der beiden ist, hat Lena keinen eigenen Bezug zur tschechischen Realität. Ihr Blick auf das Land und seine Geschichte ist immer ein vermittelter. In den Briefen ihrer Verwandten taucht das Bild des Kommunismus auf „wie das rote Antlitz einer alles verschlingenden Bestie, und an diesem Bild änderte sich auch nichts mehr.“ (24) Darüber hinaus verkehren Marta und Lena beide gelegentlich im Klub der tschechischen Emigranten in São Paulo, der als „Insel des Tschechentums“ oder „Perpetuum mobile“ (186) beschrieben wird, als Ort also, der sich ohne äußere Einflüsse von selbst am Leben zu erhalten vermag. In ihrem jugendlichen Blick auf die Emigranten-Szene zeigt sich daher eine Distanz der jüngeren Generation, die die Bilder und Einstellungen der Älteren nicht vorbehaltlos übernimmt. Beide reisen schließlich aus Neugier und Interesse an ihrer jeweiligen Familiengeschichte nach Prag und machen hier eigenständige Erfahrungen. In Prag setzen sie sich persönlich mit der jüngsten Geschichte auseinander. Sie sind Fremde im tschechischen postkommunistischen Alltag, es wird hier ein forschender und neutraler Blick von außen inszeniert, aber auch die Suche nach persönlichen Anknüpfungspunkten, um die eigene Identität besser zu verstehen. Ihr Bild des Lebens im Kommunismus beziehen sie nun hauptsächlich aus Büchern und Gesprächen – wieder ist es ein vermitteltes Bild. Ihre wichtigsten Gesprächs-
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partner sind Maruška und der Vater von Martas neuem Prager Freund Vladimír. Doch auch diese vermitteln ein einseitig negatives Bild. Vladimírs Vater positioniert sich in einer Rechtfertigungshaltung, indem er sich selbst und die im Lande Gebliebenen als „schreckliche Feiglinge“ (117) bezeichnet. Den Emigranten schreibt er hingegen besonderen Mut zu. Dies impliziert eine starke moralische Bewertung, da er sich in projektiver Identifikation mit einer vermuteten moralischen Verurteilung durch Marta regelrecht dafür entschuldigt, nicht emigriert zu sein. Er distanziert sich deutlich vom System, das wiederum als Fremdkörper erscheint. Auch sein Sohn Vladimír als Vertreter der jüngeren Generation bestätigt das Negativbild. Man erfährt jedoch nicht mehr, als dass er Probleme mit dem Binden des Pionierhalstuchs hatte und dass Plattenbauten ihn depressiv machen und man sie abreißen sollte. (120) Betrachtet man dieses Gespräch als Auseinandersetzung mit dem Erbe des Kommunismus, trifft hier die negative Selbstsicht der Involvierten (Vladimír und sein Vater) und auch deren Neigung, nicht darüber reden zu wollen (z. B. Lenas Prager Tante Ludmila24), auf eine eigentlich neutrale, interessierte Außensicht, denn Marta hat z. B. einen ganz anderen, durch Brasilien geprägten Blick auf Plattenbauten. Sie assoziiert damit Fortschrittlichkeit: die „in Beton gegossene Poesie verzauberte mich genauso wie alle Brasilianer“. (120) Im Gespräch über die Plattenbauten zeigen sich Ansätze einer im Text enthaltenen Perspektivenverschiebung, die eine komplexere und neutralere Betrachtung der jüngeren Geschichte einleiten könnte – eine Sichtweise, die den von außen kommenden Exilantenkindern zugeschrieben wird. Doch verliert sich diese dünne Spur, denn Marta und Lena übernehmen letztlich die moralisch bewertende Sichtweise der älteren Generation, bei der Diktaturen pauschalisierend verurteilt werden. Nachdem sie sich also durch Gespräche und Lektüre über den Kommunismus in der Tschechoslowakei informiert haben, setzen die jungen Frauen sich zusammen, um ihre Schlüsse zu ziehen. Lena sagt: „Später rede ich mit Marta über alles, was wir rausgefunden haben, auf Maruškas grünem Sofa, und wir vergleichen das mit der Militärdiktatur. Die Übereinstimmungen sind manchmal schockierend. Vor allem diese schleichende Angst, die heute noch allen in den Knochen steckt, auch wenn es ihnen nicht mehr bewusst ist, aber sie benehmen sich immer noch so, als würde sie hinter ihrem Rücken lauern. Die gleichen unterwürfigen Gesten bei Behörden, die Demut gegenüber jeder höheren Charge und das verzweifelte Bemühen, unter keinen Umständen bei etwas Unrechtem erwischt zu werden, denn das könnte eine Strafe nach sich ziehen. Die Strafe schlechthin.“ (123)
Damit wird ein stereotypes Bild des Kommunismus weiter festgeschrieben und 24 „Ludmila will nicht groß über die Zeit reden; sie beschränkt sich darauf, dass die Kommunisten widerliche Idioten waren und dass es nichts zu kaufen gab.“ (122)
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erscheint unhinterfragbar. Auch entsteht der Eindruck, als würden hier keine Aussagen über den brasilianischen Diktaturalltag getroffen, sondern Vorstellungen aus dem heimischen Bildervorrat auf Brasilien übertragen, denn Informationen über den brasilianischen Diktaturalltag gibt es ansonsten gar nicht, hier überwiegen Beschreibungen der Exotik des Lebens. Die beiden jüngeren Frauen übernehmen und bestätigen also letztlich das Kommunismusbild, das ihnen vermittelt wurde. Die zeitliche und räumliche Distanz, die der Blick von außen impliziert, führt nicht zu mehr Abstand, einer anders fragenden Perspektive oder kontroversen Auseinandersetzungen, sondern am Ende wird die brasilianische mit der tschechischen Diktatur gleichgesetzt – sie ,müssen sich irgendwie ähnlich sein‘, ließe sich da der deutsche Romantitel zitieren – um sich dann verallgemeinernd von diktatorischen Staaten zu distanzieren und die Freiheit hochzuhalten. Die generationelle Distanz, die im Roman konstruiert wird, bezieht sich daher nicht auf die Perspektive der jüngeren Generation auf die kommunistische Geschichte, denn bezüglich der Vergangenheit werden von den Älteren vermittelte Sichtweisen übernommen und ein Konsens gebildet. Ein Unterschied zwischen den Generationen zeigt sich jedoch bezüglich der Lebensentwürfe der beiden jüngeren Frauen, die sichtbar anders sind als die Abhängigkeitsverhältnisse von Luiza und Maruška. Lena und Marta sind frei davon und gestalten ihr Leben selbst, was wiederum auf ihre zeitliche und räumliche Distanz zur Geschichte des Kommunismus zurückgeführt wird, denn als Nachgeborene sind sie in anderen politischen und kulturellen Zusammenhängen aufgewachsen. „Ich kenne nicht viele glückliche Emigranten ...“ (118) – Dieses Zitat Martas besagt, dass der Heimatverlust die tschechischen Emigranten offenbar nicht glücklich gemacht hat. Im Grunde wird im Roman eine Geschichte erzählt, die von einer Rückkehr handelt, die mit 1989 möglich wird. Dabei geht es um die physischräumliche Rückkehr der Figuren nach Tschechien, aber auch um eine Rückkehr zur Nationalgeschichte und -kultur, die durch die kommunistische Fremdherrschaft unterdrückt wurde. Denn das von Marta beobachtete ,Unglück‘ der Emigranten, das nach 1989 zu einem guten Ende kommt, verweist ebenso auf eine nationalgeschichtliche Zentrierung in Bezug auf das Erzählen über den Kommunismus: Der Freiheitsbegriff ist nämlich nicht nur mit der westlichen Welt oder der ,wilden‘ Johana verknüpft, sondern auch mit der Heimat, wie der tschechische Originaltitel des Romans erkennen lässt: Žluté oči vedou domů – Die gelben Augen führen nach Hause – Johanas gelbe Augen, ein Leitmotiv im Text, sind ein Inbegriff für Freiheit und weisen schließlich nach Hause, in ein ehemals demokratisches Land. 1989 ist daher im Text als Startpunkt einer positiven geschichtlichen Entwicklung konzipiert; die Zeit davor als nationale Fehlentwicklung. Dieses Narrativ steht im Einklang mit den offiziellen tschechischen Diskursen zur jüngeren Ge-
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schichte in den Jahren nach 2000, es spiegelt eine Dominanz antikommunistischer Erinnerungspolitik.25 Der Text entwickelt eine ausgeprägte antitotalitäre Metaerzählung, bei der die tschechoslowakische Nachkriegsgeschichte auf eine dichotome Vorstellung von den ,bösen Kommunisten‘ und der Freiheit der westlichen Welt vereinfacht wird. Die Erzählformen der Distanz im Text erweisen sich in mehrfacher Hinsicht als Formen der Distanzierung von der kommunistischen Vergangenheit bzw. verallgemeinernd von Diktatur und Fremdherrschaft: Die Figuren nehmen gewissermaßen Abstand vom Kommunismus, der als historische Phase der Finsternis erscheint, nun jedoch überwunden ist. Darin zeigt sich ein Befreiungsnarrativ, das die Bedeutung des Jahres 1989 betont und den Systemzusammenbruch als impliziten teleologischen Fixpunkt hervortreten lässt, ohne dass dieser auf der Handlungsebene eine bedeutsame Rolle spielen würde.
4.3 Marek Janota: Všechno, co vidím (2009) (dt. Alles, was ich sehe) Marek Janotas Roman Alles, was ich sehe aus dem Jahr 2009 lässt sich ganz ähnlich wie Pilátovás Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein als Nachwende-Narrativ verstehen.26 Die politischen Ereignisse von 1989 werden in keiner Weise erzählerisch exponiert. Einen Diskurs über den Systemumbruch gibt es auf der Handlungsebene also nicht und dennoch lässt sich der Text als eine Erzählung über die Samtene Revolution lesen, denn er beschreibt den Bruch von 1989 und seine gesellschaftlichen Folgen. Auch in diesem Roman spannt sich die Handlung zwischen zwei Schauplätzen auf. Es geht um London und Prag in einem nicht genau definierten Zeitraum nach der Jahrtausendwende; der Protagonist ist ein junger tschechischer Architekt aus Prag, der erst in London, dann wieder in Prag arbeitet. Die beiden Welten, die hier einander gegenübergestellt werden, beschreiben ähnlich wie bei Pilátová einen Gegensatz zwischen West und Ost und sind mit bestimmten Konnotationen belegt. Der Westen erscheint, zugespitzt gesagt, als Ort der Fortschrittlichkeit und Multikulturalität, in den Beschreibungen des Ostens taucht der Ruinentopos im Sinne David Williams auf, d. h. Bilder des Verfalls sowie der Rück25 Christiane Brenner: Vergangenheitspolitik und Vergangenheitsdiskurs in Tschechien 1989–1998. In: Helmut König u. a. (Hrsg.): Vergangenheitsbewältigung am Ende des 20. Jahrhunderts. Leviathan Sonderheft 18, Opladen/Wiesbaden 1998, Michal Kopeček: Von der Geschichtspolitk zur Erinnerung als politischer Sprache. Der tschechische Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit nach 1989. In: Etienne François (Hrsg.): Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich, Göttingen 2013. 26 Marek Janota: Všechno, co vidím, Praha 2009.
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ständigkeit und Provinzialität.27 Hier ist es der Ich-Erzähler allein, der sich zwischen zwei Welten bewegt. Das Motiv der Distanz ist ebenfalls zentral und auf verschiedenen Erzählebenen präsent, doch läuft es weniger auf eine Affirmation der neuen Freiheit und Abgrenzung von der kommunistischen Vergangenheit hinaus, sondern der Erzähler etabliert eine möglichst objektive Beobachterperspektive. Gibt es bei Pilátová am Ende eine harmonische Auflösung des Systemkonflikts (,Knödel mit gestreiften Blüten‘) und damit auch eine Bestätigung des offiziellen Geschichtsnarrativs vom Ende der sowjetischen Fremdherrschaft in Tschechien, bleibt bei Janota, dessen Buch ein Gegenwartsbericht ist und keinen Rückblick auf die Geschichte des Landes bietet, der Ausgang offen – der Protagonist entzieht sich dem Geschehen mehr und mehr und beschreibt am Ende eine grundlegende Distanziertheit zu allem als Form persönlicher Unabhängigkeit. Warum gibt es diese ausgeprägte Distanz und was bedeutet sie? Tatsächlich ist die Distanz zum Erzählten bzw. dem eigenen Agieren in der erzählten Welt das auffälligste Merkmal der homodiegetischen Erzählerfigur David. David ist handelnde Hauptfigur, doch gleichzeitig erscheint das erzählende Ich vom erlebenden Ich stark getrennt. Die Erzählweise ist nüchtern und lakonisch, es werden kaum Affekte beschrieben oder innere Beweggründe offengelegt, was den Eindruck des inneren Unbeteiligtseins des Erzählers verstärkt. Zusätzlich kommt seine Distanziertheit durch bestimmte Motive zum Tragen, die David als Beobachterfigur mit voyeuristischen Tendenzen ausweisen. So ist die Motivik des Sehens und Beobachtens an sich sehr ausgeprägt, und zwar häufig in Form technisierter Blicke, die zusätzliche Distanz erzeugen, wie z. B. die Beschreibung von Kameraperspektiven (Überwachungskameras, Foto-Kameras, TV-Kameras, TV-Bildschirme). Distanz entsteht jedoch nicht nur durch die technisch verstärkte Beobachtungshaltung des Erzählers, sondern ist auch seine vorherrschende emotionale Einstellung, wenn es um seine persönliche Vergangenheit geht. Er behauptet gegenüber seiner Vergangenheit in Tschechien ausdrücklich einen Bruch und distanziert sich von ihr, wodurch jedoch das Interesse des Lesers auf diese Zeit gelenkt wird. Dennoch bleiben die Ereignisse größtenteils im Dunkeln und man erfährt über das Vorleben des Erzählers kaum etwas. Untersucht werden soll daher, was diesen Bruch ausmacht und warum er nicht erzählt wird. Auch hier scheint es, als würde der Bruch mit dem Jahr 1989 in Verbindung stehen und einen Wendepunkt in Davids Lebensgeschichte bilden, ohne dass er auf der Handlungsebene expliziert wird. Denn auch wenn es vordergründig nicht um 1989 geht, wird dennoch eine Differenzerfahrung des Erzählers zwischen der erzählten Gegenwart (London/Prag nach 2000) und einem davor gelegenen Zeitraum thematisiert, der offenbar anders war, jedoch 27 Vgl. Williams, 2013.
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nicht beschrieben wird. In der Differenz zeigt sich die gesellschaftliche Veränderung, die dargestellt wird, und in der Distanz des Erzählers seine Einstellung dazu. Das Motiv der Distanz soll daher näher aufgeschlüsselt werden. Der distanzierte Blick Die Hauptfigur David Melich beschreibt in der Ich-Form und in drei Hauptkapiteln zunächst sein Leben als Architekt in London (Kapitel 1) und später die Rückkehr in seine Prager Heimat (Kapitel 2 und 3). Ein grundlegendes Thema des Romans sind die Folgen neoliberaler Wirtschaftspolitik in den Jahren nach der Jahrtausendwende in Prag. Der Ich-Erzähler verlässt sein Londoner Architekturbüro, um in Prag an einem großen Bauprojekt mitzuwirken, bei dem mehrere heruntergekommene Straßenzüge in der Prager Vorstadt abgerissen werden sollen, um ein luxuriöses Shoppingzentrum („Neue Oase“/„Nová Oaza“) von futuristisch anmutender Dimension zu errichten. Dies entwickelt sich für David zu einem großen beruflichen Fortschritt, denn vom unauffälligen Angestellten in London wird er in Prag zu einem bekannten Architekten und Stadtplaner. Im ersten Kapitel beschreibt David seinen Londoner Arbeitsalltag als Angestellter in einem Architekturbüro, das den Bau von Einkaufszentren in verschiedenen englischen Städten koordiniert. Er arbeitet in einer Unterabteilung, die die projektierten Einkaufszentren mit kleinen Shops ausstattet. David ist dort einer von vielen, die meisten stammen wie er selbst aus dem Ausland. Die Arbeit ist der Mittelpunkt seines Lebens und seiner Erzählung über den Alltag in London. Es wird nicht unbedingt deutlich, warum er nach London gegangen ist, offenbar hauptsächlich um besser zu verdienen und um fachlich dazuzulernen – seine Aussage „ihr seid hier weiter“28 zeigt den westlichen Entwicklungsvorsprung an. Im zweiten Teil kehrt er zurück nach Prag. Er arbeitet wieder für das Büro, für welches er bereits als Student gearbeitet hatte. Er selbst ist derjenige, der den Anstoß für das Neue Oase-Projekt gibt. Er wird einer der Drahtzieher bei der Planung des Bauvorhabens und erarbeitet sich im Prager Büro eine führende Position, was nicht zuletzt auch mit seinen guten Kontakten nach London und seinen dort gemachten Erfahrungen in Zusammenhang steht. Beschrieben wird also auch die Expansion eines englischen Unternehmens nach Osteuropa. Für die Erzählung wesentlich ist das Verhältnis, das er zu dem Viertel hat, in dem die Neue Oase gebaut werden soll. Es wird als ein sozialer Brennpunkt mit hohem Ausländeranteil und hoher Kriminalitätsrate dargestellt und soll durch die Neue Oase modernisiert und aufgewertet werden. Gleichzeitig wird deutlich, dass der Erzähler eine beson28 „jste tu dál“ (40)
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dere Beziehung zu dem Viertel hat. Nach seiner Rückkehr zieht er selbst dorthin, knüpft soziale Kontakte. Die Gegend um die „Untere Straße“ („Spodní“), so der Name der zentralen Straße, repräsentiert Davids persönliche Vergangenheit, denn im Erzählverlauf wird langsam deutlich, dass er dort aufgewachsen ist. (61, 140) Der Leser erfährt Stück für Stück, dass Davids Eltern offenbar Alkoholiker waren, sein Vater bereits verstorben ist und er selbst einen Teil seiner Kindheit im Heim verbracht hat. David ist in diesem Sinne repräsentativ für die Bewohnerschaft des Viertels, jedoch hält er sich darüber bedeckt. Nur seine engsten Freunde wissen um seine Herkunft und seinen Familienhintergrund. Es wird die Geschichte eines Aufsteigers erzählt, der im Zuge des Bauprojekts lokale Berühmtheit erlangt, jedoch zu seiner Vergangenheit und Herkunft ein gespaltenes Verhältnis hat. Im dritten Teil wird David als erfolgreicher Architekt und Stadtplaner mehr und mehr zu einem lokalen Medienstar – es häufen sich z. B. Darstellungen, die ihn in Interviewsituationen zeigen. Geschildert werden die Auseinandersetzungen um den Erhalt des Viertels (es gibt eine Bürgerinitiative, die sich dafür einsetzt) sowie Davids ambivalente Rolle dabei. Er agiert zwischen der Bürgerinitiative auf der einen – er hat beispielsweise eine Affäre mit Sara, der Initiatorin des Vereins – und den Architekten, Stadtplanern sowie Investoren auf der anderen Seite. Doch die Beweggründe für sein Handeln bleiben undurchsichtig und seine Position unklar. Der Text endet mit der gewaltsamen Räumung des Viertels. Dadurch wird angedeutet, dass das Bauvorhaben letztlich erfolgreich durchgesetzt wurde, doch die weiteren Schicksale der Bewohner sowie auch des Erzählers bleiben offen: Am Ende offenbart David in einem inneren Monolog, dass er sich mit nichts verbunden fühlt sowie jederzeit bereit ist, alles hinter sich zu lassen und woanders neu zu beginnen. Doch David ist nicht erst am Ende ein innerlich Unbeteiligter, sondern seine Distanz zum Geschehen ist durchgehend und kommt besonders durch das Motiv des Beobachtens zum Ausdruck. Dass das Sehen eine besondere Bedeutung im Text hat, zeigt bereits der Titel: Alles, was ich sehe – David versteht sich als Zuschauer, obwohl er aktiv handelt und für das Schicksal der Unteren Straße mitverantwortlich ist. Es gibt zahlreiche Situationen, in denen er als Flaneursfigur seine visuellen Stadteindrücke beschreibt. Seine Perspektive auf das Gesehene ist dabei häufig eine technisch vermittelte, d. h. seine Wahrnehmung ist keine unmittelbare, sondern eine abstrakte. Durch diesen technisierten Blick erscheint er besonders stark vom Beobachteten getrennt bzw. seine Beobachtungshaltung aus der Distanz verstärkt. Gleich im ersten Kapitel beschreibt David beispielsweise seine alltägliche Busfahrt zur Arbeit durch die Londoner Innenstadt. Die Fahrt ist durch eine Aneinanderreihung von Beobachtungssequenzen strukturiert: er beschreibt neben Blicken aus dem fahrenden Bus immer wieder die Überwachungskameras im Fahrzeug bzw. die Dinge, die er auf dem Bildschirm sieht. Videoclip-artig bekommt er
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verschiedene Perspektiven auf verschiedene Personengruppen im Bus geboten und beschreibt, was diese tun. Auch sich selbst sieht er dort und thematisiert diese ins Unendliche verlängerte Beobachterpose als Distanz zur eigenen Person: „ich, wie ich mich beobachte, wie ich mich beobachte ...“ („já pozorující sebe, pozorující sebe ...“, 11) Einen ähnlichen technisch vermittelten und distanzierten Blick beschreibt er kurz darauf im Büro. Auf Wunsch seines südafrikanischen Kollegen Ian zeigen sie sich beide auf dem Computerbildschirm bei Googlemaps die Häuser ihrer Kindheit, wobei Ian auf eine großflächige Farm mit Swimmingpool zoomt und dabei Details aus seinem Leben dort berichtet. Davids Kindheitshaus ist eine Prager Mietskaserne mit Pawlatsche, er zeigt auf ihr rotes Dach. (23) David verrät seinem Kollegen über seine Eltern nur, dass sie nicht mehr dort leben und er selbst sechs Jahre im „Wohnheim“ („kolej“) gelebt hat. Davids Vergangenheit wird im Text mystifiziert und nur Stück für Stück erfährt der Leser Details. David wird immer wieder als Figur charakterisiert, die gewissermaßen aus der Vogelperspektive auf die Welt schaut. In einer Szene im Büro beauftragt David einen Kurierfahrer, ein Paket in ein anderes Londoner Büro zu bringen. Über zwei Seiten beschreibt der Erzähler, wie er die Fahrt des Kuriers quer durch die Stadt auf dem Computerbildschirm als kleine animierte Figur beobachtet, als ein abstraktes System aus blinkenden Symbolen. (26) Abgesehen davon, dass im Text die allgegenwärtige Präsenz britischer Überwachungstechnik thematisiert wird, erscheint David hauptsächlich als ein unbeteiligter Beobachter von Arbeitsabläufen, als jemand, der mit dem Geschehen nichts zu tun hat. Auch erhält die technisierte Form des Beobachtens einen voyeuristischen Anstrich, denn Davids Anwesenheit als Beobachter bleibt für das Beobachtungsobjekt verborgen. Zurück in Prag wird Distanz zum Geschehen ebenfalls immer wieder über das technisch-abstrakte Sehen inszeniert – ein sehr häufiges Motiv ist das Fotografieren. Davids bester Freund Igor ist Fotograf und wird von ihm im Rahmen des Neue Oase-Projekts als Fotograf beauftragt. Gemeinsam fotografieren sie das Kinderheim, in dem David aufgewachsen ist (65) und später auch die Gegend um die Untere Straße, die als Hauptstraße für das schlechte Image des Viertels steht. David will den Verfall der Gegend festhalten, aber es wird nicht klar, aus welchen Gründen: will er seine Vergangenheit festhalten oder die Bilder nutzen, um die Sanierungsnotwendigkeit zu dokumentieren? Oder beides? Ist das eine der Vorwand für das andere? Er sagt zu Igor: „Ich erklärte ihm, dass wir genau solche Fotografien brauchen: „mit umgeschmissenen Mülltonnen, mit Junkies und Besoffenen, bespuckten Bürgersteigen, Ecken wo gefixt wird, mit Durchgängen, wo die Nutten stehen.“29 29 „Vysvĕtlil jsem mu, že právě takové fotografie potřebuji: 's povalenýma popelnicema, s feťáka a ožralama, s poplivanýma chodníkama, koutama, kde je nablito, s průjezdama, kde postávají
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Das Fotografieren der Gegend, die seine Vergangenheit repräsentiert, sorgt für eine Festschreibung des Bildes, das jedoch offenbar kein gutes ist. Die Distanz des Erzählers gegenüber den Entwicklungen auf der Handlungsebene wird auch durch das Fernsehen bzw. den Blick durch die TV-Kamera erzeugt. Mediale Vermittlung und Verbreitung von Ereignissen spielen generell eine Rolle, denn ein beträchtlicher Teil der Handlung wird dem Leser durch die Medienperspektive nahegebracht, indem z. B. der Ich-Erzähler berichtet, wie er in der Zeitung etwas über die Entwicklungen in der Unteren Straße liest, einen Radiobeitrag hört oder Fernsehen schaut. Davids Vermieterin wird von Kamerateams aufgesucht und befragt, seine Prager Vorgesetzten und später auch er selbst treten in Fernsehinterviews auf, ein Modell der Neuen Oase wird im Fernsehen gezeigt usw. Es gibt eine Szene, in der David in einem Elektro-Laden zufällig auf zehn FernsehBildschirmen gleichzeitig einen Beitrag über die Untere Straße sieht. Dies zeigt seine Haltung am deutlichsten: David bleibt unsichtbarer Beobachter dessen, was er ausgelöst hat und was sich in seiner Dramatik zuspitzt, wie die Vervielfältigung des Bilds ausdrückt. Auch am Ende des Texts sind die Bildmedien präsent. David schaut sich – wieder aus der Distanz – die Räumung des Viertels im Fernsehen an. Dabei klingelt es an der Tür und es steht ein weiteres Fernsehteam davor, das versucht, ihm Fragen zu stellen über den Verbleib der ehemaligen Bewohner. David redet sich heraus. Der Roman endet mit einem inneren Monolog Davids: „Auf der Welt gibt es nichts, woran ich hängen würde. Ich verkaufe meine Wohnung, wechsele den Beruf, tauche an einem anderen Ort auf. Ich schneide mich ab, trenne mich ab.“30 Seine Distanziertheit spitzt sich zum Ende hin zu, er ist jederzeit bereit, gänzlich zu verschwinden. Diese Zuspitzung kommt auch in den Titelüberschriften der drei Kapitel des Buches zum Ausdruck. Nach dem ersten Teil Erster Teil – C104 (Díl první – C104), der die Darstellung des Londoner Arbeitslebens unterstreicht (C104 ist die Nummer seines Büros), heißt der zweite Teil Theater (Divadlo) und der dritte Unsichtbar (Neviditelní). Das Theaterspielen ist sowohl auf der Handlungs- wie auch auf metaphorischer Ebene im zweiten Teil von Bedeutung. Eine Aufführung von Saras (seine Geliebte aus dem Viertel) Laientheatergruppe steht dort im Mittelpunkt. Davids Besuch bei der Veranstaltung wird ausführlich beschrieben und auch Davids Gefühl dabei, ihr durch sein Interesse an den Aktivitäten des Vereins etwas vorzumachen. Dabei wird er mehr und mehr selbst zu einem Schauspieler, der sich den verschiedenen sozialen Kontexten und Interessengruppen anpasst, in šlapky.' Chci Spodní pravdivou.“ (140) 30 „Neexistuje na svĕtĕ vĕc, na které bych lpĕl. Prodám byt, zmĕním zamĕstnání, zjevím se na jiném místĕ. Odstřihnu se, odřežu se.“ (175)
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denen er agiert. Der Titel drückt somit auch ein (Schau)Spiel mit verschiedenen Identitäten aus. Tatsächlich verhält sich David wie ein Chamäleon. So erzählt er beispielsweise im Textverlauf in verschiedenen Situationen verschiedene Versionen seiner Kindheit, so wie er auch in anderer Hinsicht lügt, z. B. als er einen kleinen Fahrradunfall hat, zu dessen Hergang er in unterschiedlichen sozialen Kontexten (mit dem Chef, mit Freunden) die Versionen anpasst. Der dritte Teil Unsichtbar bildet den Höhepunkt dieser Entwicklung – David wird unsichtbar, denn er ist bereit, sich dem Geschehen völlig zu entziehen und zu verschwinden. Seine Fähigkeit zum Unsichtbarwerden ist im Text als Motivik des – latent voyeuristischen – Sehens und Beobachtens angelegt, denn der Erzähler beschreibt sich selbst als unsichtbar und beobachtet aus der Distanz. Die unsichtbare Vergangenheit Davids distanziertes Verhalten hat offenbar etwas mit dem Bruch in seiner Vergangenheit zu tun, die mit etwas belastet zu sein scheint. Er reflektiert das Verhältnis zu seiner Prager Vergangenheit ganz explizit im Zusammenhang mit der erwähnten Googlemaps-Episode, in der er seinem Kollegen über seine Herkunft nicht viel preisgeben möchte: „... warum sollte ich auf ein Dach zeigen, unter dem sich eine Geschichte abgespielt hat, die nun schon so zerbröselt ist, dass ich sie kaum zusammensetzen könnte? Die Vergangenheit ist für mich nur eine Spur in verschwommenem Halbschlaf, nicht so wichtig, als dass ich darauf Rücksicht nehmen und sie immerzu vergleichen würde mit dem, wie ich jetzt lebe. Zu dem bordeauxroten Dach habe ich keine Beziehung. Die Erinnerungen unterdrücke ich, von der Vergangenheit schneide ich mich ab – vom Rückkehren schmerzt einem der Kopf. Schon längst habe ich gelernt, mein Leben in streng getrennte Sequenzen zu teilen, die rücklaufend nicht zugänglich sind.“31
Es gibt eine deutliche Bruchmetapher und einen klaren Schlussstrich unter die Vergangenheit bzw. die für den Erzähler typische, beziehungslose Vogelperspektive auf das ,rote Dach‘. Seine Beobachtungshaltung und seine Beziehungslosigkeit zur Vergangenheit stehen im Roman in einer spannungserzeugenden Verbindung. Davids Rückkehr nach Prag kann daher auch als Rückkehr in diese Vergangenheit 31 „... proč bych však měl ukazovat na střechu, pod níž se odehrával příběh, který je nyní již tak rozdrobený, že bych jej stěží svedl poskládat? Minulost je pro mě jen sled rozmazaných polosnů, ne natolik důležitých, abych na ně bral ohledy a neustále je porovnával s tím, jak žiji nyní. K bordové střeše nemám žádný vztah. Vzpomínky vytlačuji, od minulosti se odstřihávám – z neustálého vracení se bolí hlava. Již dávno jsem se naučil členit svůj život sekvencí nazpátek nepřekočitelných tlustých čar.“ (24/25)
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verstanden werden, um diese zu erhellen. Wie wird diese Rückkehr beschrieben? Die Gegend um die Untere Straße, in der David aufgewachsen ist, repräsentiert seine Vergangenheit und der Abriss des Viertels lässt sich als ein symbolischer Schlussstrich betrachten, der – sowohl privat als auch gesellschaftlich – den Beginn einer neuen Zeit und auch eines bestimmten Umgangs mit der Vergangenheit einleitet. Die Beschreibungen der Unteren Straße und des geplanten Abrisses lassen somit Rückschlüsse darauf zu, wie der Erzähler aus der Perspektive des Rückkehrers seine Vergangenheit betrachtet. Die Art, wie die Beschreibung des Viertels beginnt, drückt bereits den Bruch aus, denn auf formaler Ebene gibt es in der Erzählstruktur einen deutlichen Cut zwischen den ersten beiden Kapiteln bzw. zwischen den Orten, an denen sich David befindet: der Beginn des zweiten Kapitels versetzt den Handlungsschauplatz aus London abrupt nach Prag – genauer gesagt von einer geselligen Feier mit Londoner Kollegen in jene Prager Vorstadt-Gegend, in der später die Neue Oase gebaut werden soll. David ist allein dort und macht einen Spaziergang. Als Beobachter registriert er, was er sieht. Dominierten in den visuellen Beschreibungen Londons die multikulturelle Vielfalt des Lebens – der Erzähler beschreibt immer wieder Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, die er in seinem Alltag beobachtet – so erweckt die erste Beschreibung Prags nach seiner Rückkehr den Eindruck einer heruntergekommenen Vorstadtszenerie und bildet einen starken Kontrast dazu. Wir befinden uns plötzlich in einer offenbar menschenleeren Gegend der Stadt, charakterisiert durch verwitternde Wahlplakate, die Neonbeleuchtung einschlägiger Massagesalons und Autowracks auf dem Hof einer Autowerkstatt. (43) Die Beschreibungen der Gegend, die vom Erzähler immer wieder in den Text eingestreut werden, erinnern an die Beschreibungen der Leipziger Vorstadt in Clemens Meyers Als wir träumten. Das Milieu bei Janota ist ähnlich, denn auch hier gibt es ruinösen Verfall, also den Topos der Ruine, wie ihn David Williams als symptomatisch für die Post-1989-Literatur beschreibt. Die Straßen sind geprägt von Leerstand, Zerstörung und Kriminalität, sie wirken sich selbst überlassen und sind wie bei Meyer oft dunkel (z. B. durch Häuser, in denen das Licht nicht geht). „Die Untere Straße ist eine merkwürdige Straße und wenn es dunkel wird, erscheint alles noch bizarrer.“32 Der Erzähler bezieht in dieser Gegend eine Wohnung in einer Straße, in der nur noch zwei Häuser bewohnt sind. Diese Wohnung gehörte zuvor seinem besten Freund Igor, der die Gegend jedoch verlassen hat, um in die Prager Südstadt zu ziehen, denn wer es sich leisten kann, zieht weg. Die Zimmer sind ebenfalls in einem schlechten Zustand, das ganze Haus ist muffig und feucht, alles wirkt stark vernachlässigt. (44) Auch das Bild des schwarzen Lochs taucht auf, das 32 „Spodní je podivná ulice a po setmĕní se její bizarnosti ještĕ násobí.“ (55)
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bei Clemens Meyer die Bezeichnung für einen ganzen Stadtteil darstellte – in Alles, was ich sehe beschreibt der Erzähler ein Haus mit zerschlagenen Fenstern und ohne Eingangstür, die ihn als ,schwarzes Loch‘ angrinst und den Blick auf eine Treppe mit kaputtem Geländer freigibt. Neben Zerstörung und Verfall wird – ganz ähnlich wie zuvor in London – das multiethnische Leben im Viertel thematisiert, jedoch mit ganz anderen Konnotationen als dort. Beschreibt David für London Multikulturalität und ein international besetztes Arbeitsumfeld als Alltagsnormalität, so steht in der Unteren Straße das Thema latenter Fremdenfeindlichkeit in der tschechischen Gesellschaft bzw. Ratlosigkeit und Erfahrungsmangel im Umgang mit dem Fremden im Vordergrund. Die zahlreichen Ausländer, die es im Viertel gibt, sind ausschließlich Russen und Ukrainer und haben keinen guten Stand. Der Erzähler beschreibt die Bemühungen der Bürgerinitiative um Sara, das soziale Problemviertel Untere Straße als einen Ort darzustellen, an dem verschiedene Kulturen aufeinandertreffen oder das Zusammenleben als Brücke zwischen den Kulturen zu präsentieren. (78) Dabei werden Unbeholfenheit und auch Exotisierung spürbar, was dem Erzähler offenbar unangenehm ist. Bei einer Aufführung des erwähnten Stücks von Saras Laientheatergruppe gibt es einen sogenannten ,afrikanischen Teil‘ mit TrommelShow, bei dem David beschließt, dass es ,Zeit für einen Schnaps‘ ist. (77) Einen ähnlichen Moment gibt es in einem Gespräch zwischen David und Igors Freundin Dominika. Diese erinnert sich dabei an einen London-Besuch bei David, bei dem sie das erste Mal in ihrem Leben mit einem Schwarzen gesprochen und ihn gefragt hat, wo er geboren sei – seine Antwort ,Birmingham‘ war ihr peinlich. Der Ich-Erzähler hat durch seine Auslandserfahrung einen anderen Blick entwickelt und beschreibt seine Herkunftskultur mit kritischer Distanz. Die Diskrepanz zwischen seinem beruflichen Status und seiner Herkunftskultur thematisiert er immer wieder. So wird z. B. ein Camping-Ausflug von David, Igor und Dominika geschildert, der damit beginnt, dass sie beim Verlassen der Stadt an Plakatwänden vorbeifahren, auf denen Davids lächelndes Konterfei als erfolgreicher Architekt abgebildet ist, d. h. der Protagonist tritt auch hier in der Pose der doppelten Selbstbeobachtung auf, die gleichzeitig sein Changieren zwischen verschiedenen kulturellen Sphären verdeutlicht. Dominika kommentiert die Bilder: „Da drauf bist du David von einem anderen Planeten, nicht mein David.“33 Das gemeinsame Campen ist eine Reminiszenz an ihre gemeinsame Vergangenheit. Doch auch hier wird Distanz spürbar. Den Aufenthalt auf dem Campingplatz brechen sie am Ende früher ab als geplant – das Essen (am Imbiss gibt es nur Würste und Bier) ist schlecht, ein Kinderferienlager macht zu viel Lärm, einige ebenfalls angereiste 33 „Támhle jsi David z jiny planety, ne ty mojí.“ (132)
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Freunde von Igor bewundern Davids Dienstwagen auf eine Art und Weise, die ihm peinlich ist, und mit dem Imbissbesitzer gerät er in Streit über den schlechten Service, wobei gegenseitige Ressentiments zutage treten (der Imbissbesitzer hält David für einen Schauspieler aus Prag). Auch Dominika freut sich am Ende darauf, zuhause endlich wieder ,grünen Salat‘ essen zu können. Sie fühlen sich kulturell fehl am Platz, der Blick auf die eigene Kultur ist von einem Zwiespalt zwischen Identifikation und Distanzierung geprägt. Die Beschreibungen von Davids Prager Alltag zeigen ebenfalls diesen Zwiespalt. Davids beruflicher Erfolg wird mit dem Lebensumfeld kontrastiert, aus dem er stammt und in das er zurückgekehrt ist, doch zu dem sein Verhältnis ambivalent bleibt. Der von ihm mitinitiierte Abriss des kaputten und desolaten Viertels markiert also ein Ende und einen Neuanfang, und zwar auf persönlicher sowie auf gesellschaftlicher Ebene, denn die Errichtung der Neuen Oase ist der Beginn einer neuen, konsumfixierten Zeit. Hier wird ebenso der Wechsel von Gesellschaftsordnungen erzählt, wobei die alte Ordnung (symbolisch: die ehemaligen sozialschwachen Bewohner und die marode Bausubstanz) verschwindet und ebenso unsichtbar wird wie der Erzähler, denn über den Verbleib der Bewohner erfahren wir nichts, und etwas Neues entsteht. Das Thema des Romans, also der radikale Wandel bzw. Umbau eines Stadtviertels und seine sozialen Folgen, wird zwar durch den Erzähler nicht direkt mit dem Systemwechsel in Zusammenhang gebracht, da die Ereignisse um 1989 im Plot ausgespart werden. Doch wird durch die kontrastierenden Beschreibungen von Davids Vergangenheit und seiner Gegenwart sowie die unterschiedlichen kulturellen Sphären, in denen er sich bewegt, deutlich, dass es eine einschneidende Veränderung gegeben hat, auch wenn der Zeitpunkt dieser Veränderung nicht benannt wird und man Details aus Davids Vorleben im Viertel nicht erfährt. Es wird nur an einer einzigen Textstelle ausdrücklich auf den Zusammenbruch des Systems angespielt, wobei lediglich zum Ausdruck kommt, dass es mal ein anderes System gegeben haben muss: Davids Prager Chef, ein erfahrener Architekt, war am Ende der 1980er Jahre – „ganz am Ende des Regimes“ („na úplném konci režimu“, 93), wie es heißt – an einem großen Projekt zum Bau einer Plattenbausiedlung beteiligt, das wegen des plötzlichen Endes des Regimes nicht realisiert werden konnte. Das Systemende wird hier lediglich als ein Ereignis beschrieben, das berufliche Pläne durchkreuzt. 1989 bildet daher im Text eine kaum fassbare, narrative Leerstelle. Wird in Jáchym Topols Kultroman Die Schwester (Sestra), dem wohl erfolgreichsten tschechischen Text über die unmittelbaren Jahre nach 1989, der Zusammenbruch des Systems als eine Explosion der Zeit dargestellt, die eine „Atomisierung“34 des zuvor gekannten mit sich brachte und den Ausgangspunkt des Romans 34 Anna Förster: Schwejk töten. Distanz und Kanonisierung in Jáchym Topols Sestra. In: Nora
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darstellt, schlägt die Zeit in Janotas Roman wortwörtlich und ohne großes Aufsehen einfach um: „Nur ist die Zeit umgeschlagen, die Umstände, da ließ sich nichts machen, aber es war schade.“35 Davids Chef zeigt sich unberührt und bedauert hauptsächlich den Abbruch des Bauprojekts. Die 1990er Jahre erinnert er dann als Umfärben („přebarvovani“), was seine neue und durchaus einträgliche Bautätigkeit beschreibt (Neuanstriche von Plattenbauten), aber in diesem Kontext auch eine metaphorische Dimension hat, d. h. für ihn ändern sich nur die Fassaden. Für die Figur Davids hingegen wird in keiner Weise klar, was in der Zeit zwischen seinem Aufwachsen im Heim und seiner Zeit in London eigentlich passiert ist und wie er sie erlebt hat. Sie bildet eine biografische Leerstelle und bleibt größtenteils im Dunkeln. Die Unsichtbarkeit der Vergangenheit wird damit zum Hauptthema. Unsichtbar ist, was sich in der Vergangenheit ereignet hat und was dazu geführt hat, dass David nach London gegangen ist. Es wird gezeigt, wie die Vergangenheit verschwindet, abgerissen wird und auch der Streit darum, denn es gibt in der Bewohnerschaft ebenso Befürworter des Projekts. Der Erzähler scheint jedoch desinteressiert, denn er hat sich distanziert. Dabei strebt er an, sich von der Vergangenheit gänzlich zu lösen, welche er hauptsächlich mit Negativem assoziiert. Den neuen gesellschaftlichen Bedingungen gegenüber bleibt er aber ebenso auf Distanz, wie sein Verschwinden am Ende suggeriert, obwohl er die neuen Spielregeln durchaus zu seinem Vorteil zu nutzen weiß. In Marek Janotas Alles, was ich sehe wird der Umbruch von 1989 auf der Handlungsebene so gut wie gar nicht evident und dennoch stellt 1989 auch für diese Erzählung ein „unsichtbares Scharnier“36 dar, wie Jana Hensel es für Clemens Meyers Als wir träumten behauptete. Beschrieben wird eine gravierende gesellschaftliche Veränderung und zwar durch die kontrastierende Darstellung eines hemmungslosen Kapitalismus in Form eines überdimensionierten Bauvorhabens und dem symbolischen Abriss der Vergangenheit. Was jedoch zum Bruch geführt hat und wie dieser verlaufen ist, bildet eine narrative Leerstelle sowohl auf der gesellschaftlichen Ebene als auch auf der persönlichen Ebene des Erzählers, denn gesellschaftliche wie biografische Entwicklungen werden nicht plausibel gemacht, sondern Bestandsaufnahmen der Gegenwart mit gelegentlichen Rückblenden in die Schmidt/Anna Förster (Hrsg.): Distanz. Schreibweisen, Entfernungen, Subjektkonstitutionen in der tschechischen und mitteleuropäischen Literatur, Weimar 2014, S. 66 ff. 35 „Jenže doba se zvrtla, okolnosti, to se nedalo nic dělat, ale byla to škoda.“ (93) 36 Jana Hensel: Von einem, der übrig geblieben ist. Laudatio auf Clemens Meyer, Heidelberg 2007. (https://www.fischerverlage.de/sixcms/media.php/308/Hensel.pdf).
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Vergangenheit gezeigt, bei denen das Motiv der Distanz die ausgeprägte Beobachtungshaltung des Erzählers verdeutlicht. Der distanzierte Blick ist zur Grundhaltung des Erzählers geworden und ermöglicht trotz seiner aktiven Beteiligung am Geschehen eine durchaus kritische Betrachtung gegenwärtiger Entwicklungen. Die Lebensumstände der Vergangenheit des Erzählers, die im Roman angedeutet werden, sind scheinbar schambesetzt, da mit materiellem Verfall und sozialen Problemen assoziiert, und er distanziert sich davon. Das beschriebene soziale Umfeld ist ähnlich wie in Clemens Meyers Roman Als wir träumten – es geht um die gesellschaftliche Unterschicht in einer Vorstadt-Gegend und um ihre soziale Entwicklung im Zuge des Systemwechsels. Während es bei Meyer jedoch eine Innenperspektive gibt, der Ich-Erzähler also berichtet, wie die Wende-Zeit im Viertel von ihm und seinen Freunden erlebt wurde, gibt es bei Janota eine Außenperspektive von jemandem, der seinen sozialen Kontext verlassen hat und zurückgekehrt ist. Janotas Erzähler behauptet eine Losgelöstheit von seiner Vergangenheit, jedoch auch von der Gegenwart. Dieses Lebensgefühl der Losgelöstheit ist in gewissem Sinne vergleichbar mit jenem, was Clemens Meyers Protagonist beschreibt, denn auch für ihn und seine Freunde ist ein Gefühl der Freiheit, der Losgelöstheit von Zeit und Raum markant, wird hier jedoch unmittelbar mit dem Aufwachsen in der anarchischen Wende-Zeit in einem desolaten Leipziger Vorstadt-Viertel in Zusammenhang gebracht. Im Gegensatz zu Janotas Erzähler David verlassen sie den Ort allerdings nicht. Indem sich David jedoch in räumliche Entfernung zum Ort seiner Herkunft begibt, löst er sich von allem und entwickelt eine sehr distanzierte Perspektive auf Vergangenheit und Gegenwart, wodurch der Text eine Ebene des Gesellschafts- bzw. Systemvergleichs enthält, die es bei Meyer so nicht gibt. Denn die Vergangenheit, hier symbolisiert als heruntergekommenes Vorstadtviertel, wird abgerissen und damit unsichtbar gemacht, doch das Neue Oase-Projekt zerstört die soziale Struktur des Viertels und vertreibt seine Bewohner. Die Darstellung des heruntergekommenen Viertels um die Untere Straße lässt sich daher im Sinne David Williams als doppeldeutig aufschlüsseln bzw. der Ruinen-Topos als doppelte Gesellschaftskritik: „As the exemplary dialectical and polysemic figure, ruins in the postcommunist context offer a critique of both the (communistsocialist) past and (democratic-capitalist) present.“37
37 Williams, 2013, S. 14.
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4.4 Petra Hůlová: Strážci občanského dobra (2010) (dt. Die Hüter des Gemeinwohls) Petra Hůlovás Groteske Die Hüter des Gemeinwohls aus dem Jahr 2010 ist ein weiterer Roman, bei dem Distanz als Motiv in der Auseinandersetzung mit 1989 eine vordergründige Rolle spielt. Es handelt sich dabei im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Werken um einen Roman, der sich dezidiert mit den Folgen des Systemwechsels von 1989/90 befasst. Obwohl gerade Hůlová als eine bekannte Vertreterin der „generace útĕkářů“ gilt und als Schauplatz für ihre Romane häufiger weit entfernte Orte wählt, wendet sie sich hier der eigenen Gesellschaft zu. Der Text lässt sich viel offensichtlicher als Roman über die Wende verstehen als die beiden vorangegangenen, denn die Intention, die Folgen des Systemumbruchs für den Lebensalltag zu beschreiben, ist offensichtlich. Die Hüter des Gemeinwohls erzählt die Geschichte zweier jugendlicher Schwestern, die in den Jahren nach 1989 in einer nordböhmischen Kleinstadt erwachsen werden und die Veränderungen in ihrem Lebensumfeld beobachten. Der Roman weist gewisse inhaltliche Parallelen zu Julia Schochs Mit der Geschwindigkeit des Sommers auf: Auch Hůlovás Roman spielt in einem abgelegenen Musterort des Sozialismus – Krakov, der Handlungsschauplatz, ist eine fiktive Plattenbausiedlung am Rande eines Tagebaugebiets, errichtet gegen Ende der 1970er Jahre und bis 1989 nie wirklich fertiggestellt. Die Familie der beiden Schwestern zieht aus einem kleinen Dorf dorthin, da sie sich einen besseren Lebensstandard verspricht. Auch in diesem Text, der eine Erinnerungserzählung ist und mit dem Abstand von circa 20 Jahren über den Systemwechsel berichtet, erzählt – wie bei Schoch – eine Ich-Erzählerin über ihre eigene Entwicklung sowie über die der Schwester. Gemeinsam ist den Texten ebenfalls, dass die Schwestern jeweils sehr konträre Lebenswege gehen und dass der Ursprung dieser Auseinanderentwicklung mit dem politischen Umbruch bzw. dem Erbe des Kommunismus zusammenhängt. Gezeigt werden also Entwicklungswege der jüngeren Generation seit dem Systemwechsel 1989. Distanz ist im Roman ein sehr wichtiges Motiv sowohl was die Beziehungen zwischen den Figuren betrifft als auch auf der Ebene der symbolischen Raumbeschreibungen. So lässt sich die Auseinanderentwicklung der beiden Schwestern als ein Prozess radikaler, politischer Distanzierung voneinander betrachten, denn beide Schwestern vertreten konträre Ansichten über das Ende des Sozialismus und geraten in einen offenen Konflikt darüber. Dieser wird ebenso anhand der Räumlichkeit im Text anschaulich, denn Krakov erweist sich als ein geteilter Ort, dessen Raumkonfiguration ebenso geteilte Meinungen über 1989 zum Ausdruck bringt. Im Roman ist politische Meinungsbildung mit Stadtteilen verknüpft, die einander am Ende ebenso feindlich gegenüberstehen wie die Schwestern. Daher ist auch in diesem Text die Topographie kulturell und politisch konnotiert, auch wenn es
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nicht – wie bei Pilátová und Janota – um fremde Länder bzw. die Fremde als Kontrastfolie für die Herkunftskultur geht, sondern um ,befremdliche‘ Orte und Kulturen innerhalb der eigenen Gesellschaft. Die Distanznahme der einzelnen Meinungsparteien im Ort bildet einen gesellschaftlichen Spaltungsprozess ab, der auf unterschiedliche und in der grotesken Überhöhung teilweise extreme Positionen in Bezug auf die kommunistische Vergangenheit anspielt. Die Wende von 1989 ist in diesem Text auf der Handlungsebene also zentral und das Narrativ, das hier entfaltet wird, macht auf Konflikte im Umgang mit dieser Vergangenheit aufmerksam. Distanzierung der Schwestern Die Beziehungsgeschichte der Schwestern im Roman lässt sich als Prozess der zunehmenden Distanzierung voneinander beschreiben. Sie wenden sich im Verlaufe der Geschichte nicht nur voneinander ab, sondern befeinden und bekämpfen einander schließlich. Die Erzählerin als ältere der beiden Schwestern schildert ihre gemeinsame Kindheit in Krakov sowie ihr Erleben der anarchischen Umbruchphase der frühen 1990er Jahre. Die konträre Entwicklung, die beide Schwestern in dieser Zeit nehmen, deutet sich schon in der Kindheit an, da sie bereits hier unterschiedliche Einstellungen gegenüber dem politischen System entwickeln. Die Erzählerin stellt sich als vorbildlicher Pionier dar. Sie ist eine Figur, die die sozialistischen Werte in überzogenem Maße verinnerlicht hat (sie liest Marx und rügt ihre eigene Familie gelegentlich für nicht-sozialistisches Verhalten) und gerät dementsprechend als junges Mädchen im Zuge der Samtenen Revolution in eine Sinnkrise. Sie erlebt diese Zeit als bedrohliches Chaos und beschreibt die Begleiterscheinungen des gesellschaftlichen Umbruchs im Ort als soziale Katastrophe. In ihrer Betrachtungsweise stehen die negativen Auswirkungen im Vordergrund. Sie vertritt eine Auffassung, nach welcher sich mit 1989 nur die gesellschaftlichen Spielregeln geändert hätten, unter denen der einfache Bürger zu leiden hat. Zentral sind in ihrer Sicht Themen wie Arbeitslosigkeit oder der Verlust des Verantwortungsgefühls für die Gemeinschaft, was sich in zunehmender Korruption und Konsumorientierung, gewissermaßen in einer Demoralisierung der Menschen äußert. Die Erzählerin beschreibt damit das Milieu der Unzufriedenen, in dem Rufe nach den alten Verhältnissen laut werden, und spricht von der Samtenen Revolution ausschließlich als „Konterrevolution“. Sie verteidigt die sozialistischen Werte und charakterisiert auch ihre Eltern als rechtschaffene, arbeitsame Bürger des sozialistischen Staates, die nun nachträglich verunglimpft werden: „Heute nennt man sie die schweigende Mehrheit. Die Mehrheit der Bürger der Tschechoslowakischen Sozialisti-
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schen Republik, die den Laden hier am Laufen hielt.“38 Im Verlauf der Geschichte gründet die Erzählerin eine Mini-Pionierorganisation mit den Kindern vietnamesischer Einwanderer, um diese in die Gesellschaft zu integrieren und um ihnen ihre sozialistisch geprägten Vorstellungen von Zugehörigkeit und Verantwortung zu vermitteln. In einer grotesken Zuspitzung entwickelt sich die Pioniergruppe der Erzählerin zu einem stadtbekannten Phänomen: sie treffen sich in der ehemaligen Altpapiersammelstelle, tragen Halstücher, laufen Pionierlieder singend durch die Straßen und sammeln Müll von Kinderspielplätzen. Ganz im Gegensatz hierzu steht das Leben ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Milada. Diese wird durch die Augen der Erzählerin als ideologisch fehlgeleitet beschrieben. Sie ist schon als Teenager eine Individualistin und zudem mit dem Sohn eines Oppositionellen liiert, wodurch sie in subversiven Kreisen der Jugendkultur der späten 1980er Jahre verkehrt. Sie wird als Person beschrieben, die keine Ideale hat, egoistisch ist und sich nicht um die Gemeinschaft sorgt. Die Darstellung Miladas steht stellvertretend für das gesamte Milieu von Regimekritikern oder Aussteigern. Für die Erzählerin, die die offizielle Sicht internalisiert hat, sind diese Leute Schmarotzer: „Sich an der sozialistischen Heizung wärmen, in sozialistischen Jogginghosen rumlaufen und sozialistisches Bier trinken, so hat sich’s gelebt. Und dabei konterrevolutionäre Pläne gegen seine armen Mitbürger schmieden.“39 Im Erzählverlauf wird Milada zur Anarchistin: in den Jahren des Umbruchs nach 1989 entsteht im Stadtteil Krakov II eine alternative Hausbesetzerszene, da durch den Wegzug vieler Bewohner die Plattenbauten leer stehen. Auch Milada und ihr Freund Standa besetzen eine Wohnung und versuchen einen alternativen, multikulturellen Lebensstil zu etablieren, der extrem von den Vorstellungen der Erzählerin abweicht. Dabei wird auch das Thema der Fremdenfeindlichkeit gegenüber den Roma in Nordböhmen aufgegriffen. Die Roma in Krakov leben bereits seit den 1980er Jahren segregiert im sogenannten ‚Schwarzen Viertel‘ („das schwarze Krakov II voller Zigeuner“ / „černej Krakov II plnej cikánů“, 36). Als nach 1989 die Hausbesetzer in dieses Viertel ziehen und auch mit den Roma Kontakt aufnehmen, wird dies von der Erzählerin als für die Gemeinschaft bedrohliche Entwicklung betrachtet. Krakov II wird als ein Ghetto beschrieben, das sich ausbreitet und die ‚ordentliche‘ Stadt bedroht – es gibt keinen Strom, nachts brennen dort Lagerfeuer, seine Bewohner werden nur ‚Existenzen‘ genannt. Milada selbst stellt ihre Lebensweise jedoch als progressives Integrationsprojekt dar, das sich gegen den 38 „Dneska se jim říká mlčící většina. Většině obyvatel Československý socialistický republiky, díky kterejm to tu šlapalo.“ (65) 39 „Hřát se u socialistickýho topení, chodit v socialistickejch teplácích a pít komunistický pivo, na to je užilo. A přitom spřádat kontrarevoluční plány proti svejm nebohejm spoluobčanům.“ (65)
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tschechischen Kleingeist wendet: „Das schwarze Viertel ist eine weltweit einmalige Kommune des Zusammenlebens von Tschechen und Roma, die beide auf ihre Weise Konventionen und kleinbürgerliche Scheinheiligkeit ablehnen, und ihr respektvolles Zusammenleben ist ein Vorbild für eine neue und wirklich funktionierende europäische Kultur.“40
Beide Schwestern thematisieren also das Zusammenleben verschiedener gesellschaftlicher Gruppen nach dem Systemumbruch, was nach Auffassung der Erzählerin jedoch nur durch die Orientierung an überindividuellen, sozialistischen Werten gelingen kann. Ihr Engagement für die vietnamesischen Kinder begründet sie zudem mit den ähnlichen, und zwar ,östlich‘ geprägten Wertvorstellungen, die sie den in den 1990er Jahren in die Stadt ziehenden Vietnamesen zuschreibt. Sie identifiziert sich mit deren sozialer Randposition, denn auch die Vietnamesen ,schuften, pflegen Traditionen und sind dennoch unbeliebt‘. (147) Sie sieht sie für ihr Pionierprojekt geeignet. Gemeinsam mit den Kindern ersinnt sie z. B. neue Pionierlieder wie „Auf die Freundschaft zwischen den östlichen Völkern“ („Na přátelství mezi východními národy“, 150) Auf absurde Weise werden so rassistische Vorstellungen von ,guten‘ und ,schlechten‘ Ausländern vorgeführt bzw. ein genereller Erfahrungsmangel im Umgang mit dem Fremden, wie er auch in Marek Janotas Roman thematisiert wird, denn gänzlich anders betrachtet die Erzählerin die Bewohner des Schwarzen Viertels, die Roma. Diese sind für sie ,suspekte Elemente‘ ähnlich wie die Regimekritiker vor 1989 und sie ist entsetzt über das Verhalten ihrer Schwester. Doch Miladas Engagement für die Roma ist zugleich das Zerrbild der Aktivitäten der Erzählerin, nur identifiziert sie sich eben mit anderen Außenseitern. Die Roma in Krakov II stehen gänzlich außerhalb der sozialen Ordnung, so wie auch Milada die geltende Gesellschaftsordnung ablehnt und durch ihr Hausbesetzerdasein dagegen rebelliert. Die Erzählerin distanziert sich also von einer Gesellschaft, in der sie das Feindbild des Kapitalismus Wirklichkeit geworden sieht und strebt eine Art Wiederherstellung der alten Gesellschaftsordnung an. Milada distanziert sich wiederum von einer Gesellschaft, die für sie von den Folgen des kommunistischen Systems geprägt ist und fordert mehr Offenheit und Diversität. Beide Positionen, die nachträgliche Affirmation sozialistischer Werte und die rigorose Abgrenzung davon, werden sehr zugespitzt dargestellt und erweisen sich als fruchtlose, grotesk überhöhte Grabenkämpfe. Sie stellen einen gesellschaftlichen Spaltungsprozess ohne Zwischentöne dar und sind dennoch Ausformungen desselben Grundthemas man40 „Černá čtvrť že je světovej unikát soužití český a romský komunity, který každá po svým odmítaj konvence a maločeskou přetvářku a jeich soužití ve vzájemný úctě je vzorem nový a opravdu funkční evropský kultury.“ (188)
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gelnder gesellschaftlicher Diversität und eines Mangels an Toleranz. Die Extrempositionen verbildlichen nicht nur den streng antikommunistischen tschechischen Aufarbeitungsdiskurs (Opfer-Täter-Schema) besonders der 1990er Jahre, in dem sich Ressentiments verfestigt haben und differenziertere Sichtweisen marginal sind41, sondern auch ein generelles Problem mit Diversität, die es in Krakov nicht wirklich zu geben scheint, was auf die sozialistische Gesellschaftsstruktur zurückgeführt wird. Der Text endet radikal – die Erzählerin bleibt bei ihrer neo-sozialistischen Position und beharrt darauf, diese Werte in die Zukunft tragen zu wollen. Was aus ihrer Schwester Milada wird, bleibt unklar. Deutlich wird hingegen, dass sich die beiden Schwestern gänzlich voneinander abgewendet haben und ihren eigentlich gemeinsamen Ausgangspunkt, der im Text die gemeinsame Kindheit im Kommunismus ist, gar nicht mehr erkennen können: „Obwohl wir aus derselben Familie stammen, erkannte ich mich nicht wieder in ihr und sie sich auch nicht in mir.“42 Die Trennung ist absolut, wie an der Rhetorik der Erzählerin deutlich wird, die den Ursprung dieser Polarität bereits in ihrer Kindheit verortet als ein Ergebnis der sozialistischen Erziehung, die die Welt in das sozialistische und das kapitalistische Lager aufteilte – wobei sich die Erzählerin auf der richtigen Seite verortet und Milada und ihren Freund Standa auf der anderen, falschen Seite: „Standa Vidlička stand schon in diesem zarten Alter auf der anderen Seite der Barrikade“.43 (30) Auch die sozialistische Kampfrhetorik (Barrikaden) schlägt sich hier nieder. Gleichzeitig stellt der Roman eine Provokation der hier beschriebenen, auf beiden Seiten festgefahrenen Vorstellungen vom Kommunismus dar. Die negative Sicht der Erzählerin auf die Oppositionellen der 1980er Jahre, ja ihre klare Ansage, hier als Zeitzeugin die Dinge endlich geraderücken zu wollen (55), kratzt an einem Diskurs, der die Regimekritiker nachträglich glorifiziert und ihnen die Rolle der Wegbereiter des Umbruchs zuschreibt. Der Kreis der ehemaligen Oppositionellen um Milada wird als opportun dargestellt. Sie nutzen beispielsweise das Interesse der Medien zu Gunsten der eigenen Selbstdarstellung aus und verkaufen sich als Kommunismusopfer – so antwortet Standa auf die Frage der deutschen Medien, was er niemals im Leben aufgeben würde: „in der Wahrheit zu leben“44 – und nimmt damit Bezug auf Václav Havels bekannten Essay Versuch, in der Wahrheit zu
41 Vgl. Brenner 1998; Christoph Reinprecht: Nostalgie und Amnesie: Bewertungen von Vergangenheit in der Tschechischen Republik und in Ungarn, Wien 1996. 42 „Přestože pocházíme z tĕch samejch rodičů, já sebe v ní a ona ve mnĕ pozdĕjc vůbec nepoznávala.“ (45) 43 „Standa Vidlička stál už v tomhle útlým vĕku na opačny stranĕ barikády.“ (30) 44 „života v pravdě“ (198)
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leben45, obwohl Standa und Milada nur ihre Kindheit im System verbracht haben. Ebenso provoziert die Erzählerin aber mit ihrer verdrehten Überhöhung des Realsozialismus. Die Erzählerin, zwar selbst eine groteske Figur und in den Augen ihrer Schwester eine „frigide Genossin Lehrerin“46, die zwar Verantwortung für das Kollektiv übernimmt, aber zu Spontanität und intimen persönlichen Beziehungen nicht fähig ist, ist dennoch gleichzeitig eine Romanfigur, die ungeniert von den Vorteilen und Errungenschaften dieser Gesellschaftsordnung überzeugt ist und behauptet, sich für diese um jeden Preis einsetzen zu wollen. Mittels dieser grotesken Figur werden also ungefiltert pro-sozialistische Positionen aussprechbar. Aus der Doppelperspektive lässt sich jedoch schließen, dass die Erzählinstanz mit keiner der Positionen identifiziert ist, sondern eine Diskussion anbietet über Vor- und Nachteile beider Gesellschaftsordnungen sowie das Gelingen oder Nicht-Gelingen des Übergangs von der einen zur anderen. Die extremen Distanzierungen der Romanfiguren voneinander dienen dazu, verhärtete, einseitige Positionen vorzuführen. Räumliche Distanzierung Der Prozess einer Polarisierung oder Spaltung der Gesellschaft im Zuge des Systemumbruchs wird nicht nur auf der Beziehungsebene ausgetragen, sondern auch anhand der Raumordnung ausgedrückt. Der Ort Krakov symbolisiert den Zustand der Gesellschaft in der Spätphase des Sozialismus, denn in dieser Zeit, am Ende der 1970er und Beginn der 1980er Jahre, setzt die Erzählung ein. Die Beschreibung der fiktiven Siedlung richtet den Blick auf bestimmte Aspekte des Lebens und kennzeichnet damit den Alltag der sozialistischen Gesellschaft in dieser Zeit. Häufig werden beispielsweise die ungünstige Lage Krakovs und der Zustand der Stadt beschrieben, anhand derer bereits die Widersprüche der Gesellschaft zum Ausdruck kommen: Krakov liegt an der Peripherie des Landes und ist eine rein funktional konzipierte Plattenbausiedlung am Rande eines Tagebaus. Der Modernitätsanspruch des Ortes und seine Weltvergessenheit in der Einöde stehen jedoch in krassem Kontrast. Der Widerspruch kommt bereits in der Ortsgründung zum Ausdruck, die ein Paradoxon aus unerschütterlichem Fortschrittsglauben und mythisch-archaischer Zeitlosigkeit darstellt. Krakov wird von der Erzählerin vorgestellt als eine von insgesamt fünf sozialistischen Stadtgründungen, die allesamt Namen von Städten aus den Bruderländern des Warschauer Paktes tragen. Diese Fünfer-Konfiguration aus neu errichteten Städten, die offenbar die 45 Václav Havel: Versuch in der Wahrheit zu leben, Hamburg 1980 (Moc bezmocných, 1978). 46 Wörtlich: „Mit (…) der frigiden Genossin Lehrerin?“/„S (…) frigidní soudružkou učitelkou?“ (139)
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Symbolik des fünfzackigen Roten Sterns des Kommunismus aufgreift, wird einerseits mit den neusten technischen Entwicklungen assoziiert, doch ebenso mit einer Welt der Mythen und Märchen: „Si-licon-Val-ley bedeutet in der Sprache der Hohokam-Indianer mehr Köpfe wissen mehr, und unser Krakau und das neue tschechische Dresden, Minsk, Charkiw und Debrecen sollten ihre fünf Köpfe zusammenstecken, und schon haben wir einen richtigen Drachen wie aus den tschechischen Märchen.“47
Das Fortschrittsprojekt des Sozialismus in Gestalt eines Fabelwesens wird mit dem globalen Symbol der westlichen High-Tech-Industrie Silicon Valley verglichen – wobei Silicon Valley, im Gegensatz zum gescheiterten System des Sozialismus, die reale ‚Erfolgsgeschichte‘ des westlichen Kapitalismus repräsentiert. Das Projekt des Sozialismus erscheint dadurch als phantastisches Märchen; der Vergleich des Märchendrachens mit Silicon Valley konterkariert jede Form technischen Fortschritts und lässt eher an ein Ungetüm oder gar eine Hydra denken. Auch enthält die Bezugnahme auf eine ahistorische Märchenwelt ein Element der Zeitlosigkeit. Dies wiederum verweist auf den gesellschaftlichen Stillstand und die Stagnation des öffentlichen Lebens, die für die Zeit der tschechoslowakischen Normalisierung kennzeichnend sind. Dieser angedeutete Stillstand bzw. das Leben in der „zyklischen Zeitlosigkeit des Nicht-Geschehens“48 lässt sich auch als die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm lesen, der die Gesellschaft im Jahr 1989 ergreift. Die Anzeichen für den Zusammenbruch werden von den Stadtbewohnern zwar wahrgenommen, aber in ihrem Ausmaß nicht erkannt. Krakov ist eine ewig unfertige und nur notdürftig funktionierende Stadt. Das Aufrechterhalten der sozialistischen Utopie nimmt absurde Ausmaße an, denn Krakov ist auf Sümpfen erbaut und muss mit übermäßig hohem Aufwand vor dem ‚Versinken‘ gerettet werden. So erklärt der Vater der Erzählerin: „Er sagte, (…) dass unsere ganze Stadt darauf gebaut ist. Auf Sümpfen, die die Genossen permanent trockenlegen, doch ganz trocken kriegt man sie nicht. Deswegen diese Mückenschwärme abends in den Straßen im Sommer oder bei ganz klarem Wetter, wenn jedes Ge-
47 „Si-licon-Val-ley znamená v indiánským jazyce kmene Hokama víc hlav víc ví, a náš Krakov a sním nový český Drážďany, Minsk, Charkov a Debrecín měly dát hlav dohromady pět, a to už je jako pořádnej drak z českejch pohádek.“ (14) 48 „v cyklickém bezčasí neudálostí“, Kamil Činátl beschreibt in seiner kulturwissenschaftlichen Untersuchung der Zeitwahrnehmungen der tschechoslowakischen Normalisierungsphase die öffentliche Zeit als eine „über die Maßen semantisch entleerte und unbewohnbare Struktur“. („mimořádně sémanticky vyprázdněnou a neobyvatelnou strukturu“) Kamil Činátl: Časy normalizace. In: Petr A. Bílek: Tesilová kavalérie: popkulturní obrazy normalizace, Příbram 2010, S.169.
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räusch weit zu hören ist, ein Summen wie ein langer Zug in der Ferne, der nicht abfahren will. Dieses Summen, sagte mein Vater, sind Drainage-Anlagen, die unsere Stadt über Wasser halten, riesige Trockenmaschinen, an denen mindestens ein Drittel der Einwohnerschaft Krakaus arbeitet. Ich fragte dann meine Mitschüler in der Schule, wessen Eltern da arbeiten, aber niemand schien zu wissen, wovon die Rede ist. Als ich das meinem Vater sagte, blockte er ab, dafür sei ich noch zu klein.“49
Das Summen der Trockenanlagen bildet wie ein Menetekel das Hintergrundgeräusch des städtischen Alltags und wird geflissentlich überhört. Die Bewohner haben sich in diesem Leben eingerichtet und wissen zu improvisieren. Der Modernitätsanspruch der neu gebauten Siedlung wird ebenso durch Darstellungen der Rückständigkeit und des materiellen Mangels gebrochen, wie z. B. Warten auf Möbellieferungen, Reparaturen an frisch fertiggestellten Häusern etc. Der Ort ist bereits baufällig, bevor er fertiggestellt wurde. Rückständigkeit, Unwirtlichkeit und weltvergessene Provinzialität – das nahe gelegene Abbaugebiet wird z. B. als „Sahara“ bezeichnet, von dort wehen Sandstürme durch den Ort „wie in Usbekistan“50 – sind die Hauptcharakteristika der Siedlung Krakov, die von der Erzählerin zwar gesehen und benannt werden, aber ihre Überzeugung von den sozialistischen Werten nicht in Frage stellen. Der Ort und die Gesellschaft werden in ihrer Ambivalenz gezeigt, der Musterort ist nicht wirklich einer, es gibt Mängel und Widersprüche, doch die Bevölkerung hat sich eingerichtet. An dem provisorischen Zustand ändert sich auch nach 1989 kaum etwas und somit erscheint 1989 nicht unbedingt als Endpunkt oder Beginn einer Entwicklung, sondern eher als Moment, in dem gesellschaftliche Diskrepanzen aufbrechen. Die Zeit der Samtenen Revolution wird von der Erzählerin als Phase des plötzlichen Aktionismus geschildert, die die gesellschaftliche Stratifikation in der Stadt zwar durcheinanderbringt, aber die Lebensqualität im Ort nicht wesentlich verbessert. Die unwirtliche Szenerie bleibt dieselbe: es dominieren nun Verfallsbeschreibungen wie z. B. der Leerstand der Plattenbauten in den 1990er Jahren51 oder Darstellungen des schlechten Zustands der Zufahrtsstra-
49 „Na močálištích, který soudruzi permanentně vysušujou, ale nikdy je nevysušej úplně. Proto ty hejna komárů v ulicích v létě navečer a při úplně jasným počasí, kdy zvuky se nesou nejlíp, to hučení, jako by někde v dálce ne a ne odjet pořádně dlouhej vlak. To hučení, řekl táta, jsou drenážní stroje, který naše město drží nad vodou, obří sušičky, ktrý obsluhuje nejmíň třetina lidí, co v Krakově žijou. Ptala jsem se pak spolužáků ve škole, kterýho rodič tam pracuje, ale ani jedinej nevypadal, že ví, o čem je řeč. Když jsem to říkala tátovi, odseknul, že na takový věci jsem ještě malá.“ (36) 50 „jako v Uzbekistánu“ (20, auch 94) 51 Ebd., S. 132 u. S. 171.
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ßen zur Stadt.52 Schon vor 1989/90 hieß es, die Krakover ,wüßten nicht viel über das Leben in der tschechoslowakischen Welt‘53, und erneut erscheint der Ort durch seine Unzugänglichkeit von der Welt abgeschnitten. Krakov wird als ein hermetischer Raum beschrieben, der jenseits der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung existiert wie der Märchendrachen jenseits von Silicon Valley. Mit dem Systemumsturz von 1989 verliert der Ort zudem seine Identitätsgrundlage. Als ein Symbol des untergegangenen Staates wird er nun stigmatisiert – die politische Elite distanziert sich. Aus der vorher als pragmatisch geschilderten Beziehung der Einwohner zu ihrem Ort wird eine problematische. Diese Stigmatisierung und die damit einhergehenden Schamgefühle der Bewohner sind wiederkehrende Themen im Text. Die Scham ist dabei eine doppelte: einerseits gegenüber der neuen politischen Elite im eigenen Land, in deren Augen Krakov und seine Bewohner das Resultat einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung repräsentieren, von der man bestrebt ist, sich abzugrenzen, andererseits gegenüber dem westlichen Ausland, das hier Vorurteile und Klischees über das Leben in Osteuropa bestätigt sieht und sich seiner superioren Stellung vergewissern kann. In einem sozialpsychologischen Sinne entspringen derartige Schamgefühle, wie Sighard Neckel festhält, einer negativen Bewertung durch Personen oder Gruppen, die die geltende Norm repräsentieren. Die Beschämten nehmen sich dieser Norm gegenüber als defizitär und mangelhaft wahr, Schamgefühle können also Auskunft geben über soziale Normen und gesellschaftliche Machtverhältnisse. Sie beruhen immer auf wechselseitigen Wahrnehmungen und Aushandlungsprozessen: „Alle Scham ist sozial, weil auf Normen bezogen, die nur im sozialen Leben erzeugt werden können; alle Scham ist sozial, weil in ihr sich mein Verhältnis zu anderen reflektiert, sie in der Wahrnehmung durch andere entsteht (…).“54 Dementsprechend wird die negative Selbstwahrnehmung der Krakover im Text häufig über das Einbeziehen von Außenperspektiven thematisiert. Der Blick wird auf Krakov gerichtet und seine Bewohner sind ihm ausgesetzt. So wird z. B. eine in der Stadt grassierende, nicht näher spezifizierte Krankheit erwähnt, aufgrund derer Krakov Ende der 1990er Jahre ins Interesse der tschechischen Medien gerät. Die Krankheit bleibt zwar mysteriös, wird aber in den Berichten deutlich mit den Lebensbedingungen im Ort in Zusammenhang gebracht: sie ist nicht wirklich heilbar, „denn sie hat sich in die Stadt an sich eingefressen“55 und ist damit eine Metapher für ein tief52 Ebd., S. 82 u. S. 203. 53 Wörtlich: „Wir wussten damals vieles aus der tschechoslowakischen Welt nicht.“/„My žily v nevědomosti o mnohým s československýho světa.“ (15) 54 Sighard Neckel: Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit. Frankfurt/Main 1991. 55 „protože je to zažraný v městě jako takovým“ (165)
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greifendes Problem auf der gesellschaftsstrukturellen Ebene. Die Stadt und mit ihr die Menschen erscheinen als unheilbar vom Kommunismus ,befallen‘. Einen ebenfalls beschämenden Blick aus dem westlichen Ausland liefert schließlich ein BBCBericht. Dieser ruft den Topos des rückständigen Ostens als „the dark other of the progressive West“56 auf und verstärkt die Negativ-Zuschreibungen: „dem BBC zufolge stehen die tschechoslowakischen Neustädte an der Grenze zur humanitären Katastrophe und sind die geheim gehaltenen Orte des noch immer gegenwärtigen kommunistischen Marasmus.“57 Weiter wird behauptet: „Es heißt, unsere Neustädte wären voll asbestverseuchter Häuser und wir hätten Null Ahnung vom Rest der Welt.“58 Das Stigma der Abgehängten und Ahnungslosen schafft aber auch Zusammenhalt und verstärkt die hermetische Abgeschlossenheit: „Aus Krakov zu sein heißt aus Hinterdummersdorf zu sein, was auch noch irgendwo hinter Tschukotka liegt. Stigma. In der ersten Hälfte der neunziger Jahre hielt gerade dieses Stigma die Krakover zusammen.“59 Schamgefühle aufgrund der Rückständigkeit sind ein Kennzeichen dieser Gemeinschaft: „und dann dieser Mantel aus Scham“60 heißt es an einer Stelle über die veralteten Autos, mit denen die Krakover Bewohner fahren. Eine der Romanfiguren, ein ehemaliger Dissident, der nach 1989 eine Politikerkarriere in Prag beginnt, verleugnet sogar seine Herkunft und behauptet in der Presse, er wäre aus Třebíč, worüber sich die Erzählerin echauffiert: „Im Interview für die überregionale Presse hat Šrámek sogar einmal gesagt, er wäre aus Třebíč. Aus Třebíč!“61 Der Plattenbaustadt Krakov wird mit Třebíč ein geschichtsträchtiger tschechischer Ort mit einem reichen kulturellen Erbe gegenübergestellt, wodurch das sozialistische Stadt-Projekt Krakov gleichzeitig abgewertet bzw. dieser Teil der Geschichte ausgeblendet wird. Die Stadt Krakov wird zum symbolischen Aushandlungsort eines Identitätsproblems, das mit der kommunistischen Vergangenheit verbunden ist. Die neuen politischen Eliten distanzieren sich von diesem Teil der Vergangenheit, indem sie sich von dem Ort distanzieren. Die Negativbeschreibung Krakovs steht darüber hinaus in der Tradition einer – abgesehen von der Kinder- und Jugendliteratur – generell größtenteils kritischen Betrachtung der
56 David Williams in Bezugnahme auf Larry Wolf u. a. Vgl. Williams, 2013, S. 23. 57 „(…) podle BBC jsou československý novoměsta na pokraji humanitární katastrofy a jedním z nejutajenějších míst přežívajícího komunistickýho marasmus.“ (121) 58 „Kromě toho prej máme v novoměstech plno jedovatejch baráků z azbestu a nulový ponětí o okolním světě.“ (121) 59 „Bejt z Krakova znamenalo bejt z Horní Dolní, co se navíc rozkládá někde za Čukotkou, asi. Stigma. V první půli devadesátejch právě tohle stigma drželo Krakovský pospolu.“ (99) 60 „a pak ten kabát z ostudy“ (165) 61 „V rozhovoru pro celostátní tisk dokonce Šrámek jednou řekl, ze je z Třebíče. Z Třebíče!“ (111)
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Wohnsiedlungen des Sozialismus in der tschechischen Literatur.62 Der Ort, der hier beschrieben wird, ist schambesetzt und symbolisiert das Erbe des Kommunismus. Er liegt zwar innerhalb der post-sozialistischen tschechischen Gesellschaft, jedoch unzugänglich am Rande. Es geht eine gewisse Gefahr von ihm aus – die rätselhafte Krankheit – doch hat er auch Anziehungskraft, denn Krakov wird zunehmend von Touristen aufgesucht, die die Rückstände des Kommunismus besichtigen wollen und sich wie auf „Safari“ benehmen. (164) Dabei wird der Ort von der Erzählerin in selbstexotisierender Weise nicht nur als Wildnis, sondern auch als ein unbekannter Planet beschrieben, womit das Maß an Fremdheit zum Ausdruck kommt, das der Rest der Gesellschaft gegenüber der kommunistischen Vergangenheit und ihren Überbleibseln empfindet. Über die Touristen heißt es: „Jeder brauste auf eigene Faust mit seinem eigenen Schlitten heran und schaute sich um, als wär er auf einem fremden Planten aus dem Mondmobil gestiegen.“63 Der Ort wird zum Abenteuerspielplatz und die Vergangenheit damit musealisiert, obwohl dort Menschen leben. Die Widersprüche und gesellschaftlichen Risse nach dem Zusammenbruch des Staates 1989, die durch die Konfliktbeziehung der Schwestern zum Ausdruck kommen, spitzen sich – so wie deren Konflikt – auch auf der Ebene der Raumdarstellung zum Ende des Textes zu. Der Ort teilt sich gewissermaßen in ein antikommunistisches und ein neokommunistisches Krakov, denn die Aktivitäten der Schwestern (Hausbesetzung versus Pionierorganisation) sind räumlich mit bestimmten Stadtteilen verknüpft. Das schwarze Viertel Krakov II, in dem Milada und ihre Roma-Freunde wohnen, steht wie ein Negativbild dem Rest der Stadt gegenüber, in dem die Erzählerin mit ihrer Pionierorganisation fanatisch versucht, Ordnung zu halten. Es gibt sogar eine Barrikaden-Grenze zwischen beiden Vierteln, die von einer Streife bewacht wird. Das schwarze Viertel ist ein Raum außerhalb des Gesetzes und ohne funktionierende Infrastruktur; Touristen werfen Lebensmittel und Kleidung über die Barrikaden. Es repräsentiert einen Versuch, alternative Lebensformen zu probieren und wird von Milada und Standa im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt als vorbildhaft für das Zusammenleben von Roma und Tschechen dargestellt. Die Erzählerin und ihre Pioniergruppe hingegen beanspruchen symbolisch den verbleibenden Teil der Stadt, ihr Treffpunkt ist die ehemalige Altpapiersammelstelle. In Pionierkleidung bieten sie Führungen durch 62 Als eine der wenigen Ausnahmen kann Jan Balabán gelten, in dessen gegenwärtigen Texten sich deutlich positive Zuschreibungen finden. Vgl. Jan Lukavec: Sídliště (a Jižní Město) v literatuře, 30.01.2012, (http://www.iliteratura.cz/clanek/29433/sidliste-a-jizni-mestovliterature). 63 „Každej po svý ose přikvačil vlastním bourakem a rozhlížel se, jako by vysednul z lunárního vozítka na neznámý planetce.“ (165)
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die Stadt für Touristen an und engagieren sich sozial. Am Ende kommt es im Rahmen der Feierlichkeiten zum neuen Millenium zu einem offenen Konflikt zwischen den Bewohnern beider Stadtteile und zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen mit Waffengewalt. Dennoch wird die Sympathie des Lesers in diesem Konflikt nicht auf eine der beiden Seiten gelenkt, denn die groteske Überspitzung der Auseinandersetzung an sich steht im Vordergrund. Es gibt am Schluss auch keine Lösung für den Konflikt, es bleibt offen. Doch gibt es eine räumliche Bewegung, die eine topographische Verschiebung des Konflikts von der Peripherie ins Zentrum darstellt: am Ende fahren die beiden Schwestern mit einer Reisedelegation nach Prag, denn Milada hat dort als Künstlerin eine Ausstellung. Dass sie letztlich zusammen dorthin reisen, zeigt, dass beide um das Image des Ortes kämpfen, nur mit jeweils anderen Mitteln und Vorstellungen. Der zuvor als hermetisch beschriebene Raum öffnet sich. Aus Sicht der Erzählerin wird während der Reise das Land beschrieben, als sähe sie es zum ersten Mal und sie ist beeindruckt vom Lebensstandard in anderen Landesteilen, die als hell, freundlich und sauber beschrieben werden. Die Ausstellung findet in der Galerie Mánes statt, einer geschichtsträchtigen und zentralen Prager Institution mit Symbolkraft. Während in der Eröffnungsrede die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit betont wird, spitzen sich die kriegerischen Entwicklungen in Krakov zu, wie die Erzählerin per Handy erfährt, bis die Verbindung abreißt. Das offene Ende spart die Lösung des Konflikts geschickt aus. Es wird jedoch angedeutet, dass sich eine maßgebliche und landesweite gesellschaftliche Debatte daraus entwickelt hat: „Wie das mit Krakov alles ausgegangen ist, weiß jeder. Krakov, um das sich die stiefmütterliche Republik lange Jahre nicht geschert hat, wurde zum Begriff und Symbol einer ganzen tschechischen Ära. All das wiederholen, was dann über Krakov geschrieben und im Fernsehen gesagt wurde, werde ich also nicht, das hätte kein Ende und in den Medien wurde sowieso schon genug darüber geredet.“64
Auf der Ebene der Raumbeschreibungen wird im Roman also ein Prozess beschrieben, bei dem der Konflikt um den Umgang mit der Vergangenheit, der als Kampf zweier konträrer und radikaler Positionen dargestellt wird, sich von der Peripherie ins Zentrum verlagert und somit eine Bedeutungsaufwertung erfährt. Das ausgesparte, spekulative Ende setzt ein Zeichen: Dem Thema wird Sprengkraft zugeschrieben, doch wohin die Debatte letztlich führt, wird nicht klar, auch scheint sie ermüdend zu sein. 64 „Jak to celý s Krakovem dopadlo, každej ví. Krakov, co po něm dlouhý léta macešská republika ani nevzdechla, se stal pojmem a symbolem celý jedný český éry. Opakovat to všechno, co se o Krakově pak psalo a říkalo v televizi, proto nebudu, nemĕlo by to konce a namluvilo se o tom v médiích už beztak dost a dost.“ (206)
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Der Roman beschreibt die Endphase des Sozialismus und sein plötzliches Ende, aus dem heraus gesellschaftliche Spaltungsprozesse entstehen, deren Ursprünge bereits in den 1980er Jahren liegen, doch mit 1989 bzw. dem Zusammenbruch des Sozialismus offen zutage treten und sich zuspitzen. Das Motiv der Distanz verdeutlicht dies. Die Beziehung der beiden Schwestern zeigt einen Distanzierungsprozess an, bei dem sich Meinungen bezüglich der Vergangenheit radikalisieren und sinnvolle Vermittlung nicht möglich erscheint. Das konflikthafte Verhältnis zwischen affirmativen und sich abgrenzenden Positionen wird ebenso topografisch dargestellt – Krakov als Symbol für das alte System ist nicht nur ein peripherer Ort, der als hermetisch und schwer zugänglich beschrieben wird und damit außerhalb der sich nach 1989 neu konstituierenden Gesellschaft liegt. Er ist ebenso exotisch wie gefährlich – und damit gewissermaßen fremd – womit ein westlicher Blick auf den Kommunismus persifliert, aber auch die Internalisierung dieses Blicks durch die Bewohner beschrieben wird, denn diese reagieren mit Scham. Bildet die Fremde in den Texten von Pilátová und Janota eine Kontrastfolie zur Post-1989-Gesellschaft, ist die Fremde hier die kommunistische Vergangenheit selbst, denn sie wird exotisiert und an der Peripherie des eigenen Landes verortet. Die Aktivitäten der Erzählerin und ihrer Schwester sind Extremformen des Umgangs mit der Vergangenheit. Während die Erzählerin sich hinter einer Überhöhung sozialistischer Werte verschanzt und diese auch weiterhin vertritt, stilisiert sich ihre Schwester Milada als Opfer des Systems und unangepasste Oppositionelle, die für Freiheit und Demokratie kämpft. In der grotesken Überhöhung kommt die Fruchtlosigkeit der Auseinandersetzung zum Ausdruck, die auf radikaler Distanzierung beruht. Gleichzeitig wird das offizielle Narrativ von der Befreiung und des Siegs der Demokratie unterlaufen, denn positive Seiten des Sozialismus werden durch eine scheinbar naive Figur ausgesprochen und auch Zerrformen des Kapitalismus vorgeführt. Am Ende gibt es kein Ergebnis, sondern der Konflikt der Schwestern bleibt ungelöst. Der Radikalisierungsprozess bzw. die aggressiven Abwehr- oder Verteidigungshaltungen sowie die symbolisch aufgeladenen Ortsbeschreibungen sind Indikatoren für eine Sicht auf die kommunistische Geschichte als schwer in die eigene Vergangenheit und das gegenwärtige offizielle gesellschaftliche Selbstverständnis integrierbarer Teil. Die Bewegung der Figuren Richtung Zentrum am Schluss lässt sich interpretieren als gesellschaftliches Bedürfnis, die Debatte mehr in den Mittelpunkt zu rücken, wobei nicht klar wird, welche konkreten Folgen dies haben könnte, und bei der zudem die Gefahr der Fruchtlosigkeit besteht (,es wurde schon genug darüber geredet‘). Damit entwirft Hůlová eine Erzählung über den Umgang mit der Vergangenheit, die sich viel stärker auf diesbezügliche Kontroversen und ihr Konfliktpotenzial konzentriert, als dies in den beiden vorangegangenen Texten der Fall war.
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4.5 Zusammenfassung Im Vergleich der drei Romane von Markéta Pilátová, Marek Janota und Petra Hůlová zeigt sich, dass im Reisen der Protagonisten und in den symbolischen Ortsbeschreibungen, die sich zunächst nicht unbedingt mit innergesellschaftlichen Themen in Zusammenhang bringen lassen, Deutungsmuster des Systemwechsels von 1989 enthalten sind, die sich über das Motiv der Distanz entschlüsseln lassen. Dabei werden ganz unterschiedliche Narrative über 1989 entworfen. Während Pilátovás Roman, der mit Abstand am bekanntesten ist, stark an offiziellen Geschichtsdiskursen orientiert ist und 1989 als Befreiung von der Fremdherrschaft konzipiert, versucht Janotas Text eine andere Perspektive, in der die Folgen des Umbruchs kritisch betrachtet werden, aber auch der innergesellschaftliche Umgang mit der Vergangenheit problematisiert wird. Das Motiv der zeitlichen und räumlichen Distanz bei Pilátová impliziert das glückliche Ende sowie auch die konsensuelle Aufarbeitung dieser historischen Epoche, die durch diese Bildlichkeit gleichsam in die ,sichere‘ Ferne gerückt scheint, wohingegen die Distanz des Protagonisten bei Janota eher eine generelle Grundhaltung und einen Versuch der Objektivierung darstellt. Auch bei Hůlová werden ähnlich wie bei Janota gesellschaftliche Entwicklungen mittels des Motivs der Distanz kritisiert, nur mit drastischeren Mitteln, denn die einzelnen Meinungsparteien setzen sich schließlich kriegerisch auseinander, was den Dogmatismus der Sichtweisen anprangert. Gleichzeitig wird auf ein Bedürfnis angespielt, dem Thema mehr öffentliche Aufmerksamkeit zu schenken, wie sich die raumsymbolische Bewegung der Protagonisten von der Peripherie ins Zentrum am Ende des Romans deuten lässt. Gemeinsam ist den Texten zudem ein Rückgriff auf den Topos der Ruine im Zusammenhang mit dem Ende des sozialistischen Systems als ein Mittel der Kritik sowohl am vergangenen System als auch an der Gegenwart: Bei Janota geht es um ein verfallenes Stadtviertel, das beseitigt, unsichtbar gemacht werden soll und offenbar auch wird. Die Metaphorik der Dunkelheit und Zerstörung unterstreicht das Ruinöse dieser Vergangenheit; Abhilfe schafft offenbar nur eine grundlegende, wenn auch wiederum moralisch fragwürdige Erneuerung des Viertels. Eine ähnliche Metaphorik gibt es bei Hůlová, wo es das ,Schwarze Viertel‘ Krakov II ist, in dem die Plattenbauten verfallen und das außerhalb des Gesetzes steht, wobei sich ,schwarz‘ allerdings auf die Roma-Bevölkerung bezieht. Der Verfall erfährt hier eine positive Umdeutung, denn die Bewohner des Viertels deklarieren ihre Lebensweise als sozial fortschrittliches Experiment. In Pilátovás Roman gibt es diese Verfalls-Metaphorik zwar nicht, doch werden hier wiederum Bilder vom grauen Osteuropa festgeschrieben, was sich ebenso mit einem moralischen wie materiellen Zerrüttungsprozess assoziieren lässt, der jedoch 1989 gestoppt wird. Alle drei Romane reflektieren als Nachwende-Narrative Perspektiven auf die
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Wendezeit und ihre Folgen, ohne dass 1989 zumindest in den ersten beiden Fällen (Pilátová und Janota) auf der Handlungsebene eine Rolle spielt. Die weitreichende Bedeutung von 1989 kommt vielmehr indirekt zum Ausdruck, wie gezeigt wurde. Bei Pilátová ist der Zusammenbruch des Systems ausschlaggebend und ermöglichend für die Handlungsmotivation der Figuren und auch für Janotas Protagonisten stellt der Systemwechsel einen entscheidenden Einschnitt dar, denn obwohl gesellschaftspolitische Hintergründe erzählerisch nicht weiter konkretisiert werden, gibt es einen impliziten Vergleich zweier Gesellschaftsordnungen und einen damit verbundenen Identitätskonflikt für den Protagonisten. Anders verhält es sich in Hůlovás Roman. Hier steht der Zusammenbruch des sozialistischen Systems auf der Handlungsebene offensichtlich im Mittelpunkt, dennoch werden ebenso längerfristige Entwicklungen in den Blick genommen, die Krakov und seine Einwohner zu dem gemacht haben, was sie in der Gegenwart sind.
V. Schluss: Die Wende – das „unsichtbare Scharnier“?1
In einem Interview zum Erscheinen des neuen Romans von Julia Schoch Schöne Seelen und Komplizen – ebenfalls ein Text über die Wendezeit, der die Lebenswege einer Gruppe von Schülern in den Jahren nach 1989 beschreibt – erzählt die Autorin, wie sie nach Spuren der Wende von 1989/90 in ihren eigenen Tagebüchern sucht und feststellen muss, dass sie kaum Hinweise auf einen historischen Einschnitt finden kann: „,Ich hatte mit meinen Freundinnen vor ein paar Jahren schon mal in die Tagebücher geguckt – und da fiel uns auf: Wo ist denn dieses Großereignis? Das war nämlich gar nicht da.‘ Dieser Befund sei interessant, denn er beantworte die Frage, was für die Menschen wichtiger sei – ,die Kontinuität, das, was immer weiterläuft, die vielen einzelnen Tropfen der Zeit oder ist es dieser entscheidende große Bruch, dieser eine Tag.‘ Man tue immer so, ,als gebe es diese eine ganz klare Trennlinie und danach wäre man ein komplett anderer Mensch mit komplett anderen Erfahrungen geworden. Das ist nicht der Fall.‘“2 Nicht nur, dass dieses Zitat eine kollektive Dimension beinhaltet – die ebenso interessierten Freundinnen – der historische Einschnitt der Wende ist als Ereignis verschwunden und nicht mehr greifbar, der alles verändernde Bruch in den Aufzeichnungen nicht auffindbar. Die in dieser Arbeit untersuchten Erzählungen und Romane werfen ähnliche Fragen auf: Was war die Wende? Worin bestanden die Veränderungen, die sie brachte? Wann und wo fanden sie statt? Was hat sie mit ,uns‘ gemacht, gibt es kollektive Erfahrungen der jüngeren Generation oder wie lässt sich überhaupt über kollektive Erfahrungen sprechen? Die Texte thematisieren den politischen Einschnitt sowie dessen gesellschaftliche Folgen, wobei die Ereignisse um den Zusammenbruch des politischen Systems des Sozialismus auf der inhaltlichen Ebene oftmals kaum oder gar nicht präsent sind – sie sind auch hier scheinbar nicht auffindbar. Die Texte wurden daher in Anlehnung an die Terminologie von Lüdeker und Orth als Nachwende-Narrative aufgefasst, in denen der Gegenwartsbezug stark hervortritt, also die Frage nach längerfristigen Auswirkungen der 1
2
Jana Hensel, Laudatio anlässlich der Verleihung des Heidelberger Clemens-Brentano-Preises an Clemens Meyer (https://www.fischerverlage.de/sixcms/media.php/308/Hensel.pdf ) S. 7. Julia Schoch über die Nacht des Mauerfalls im Interview mit Stephan Karkowsky, „Viele haben geschlafen“, Deutschlandfunk, 05.02.2018, (http://www.deutschlandfunkkultur.de /julia-schoch-ueber-die-nacht-des-mauerfalls-viele haben.1008.de.html? dram: article_id= 409989); Julia Schoch: Schöne Seelen und Komplizen, München 2018.
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V. Die Wende – das „unsichtbare Scharnier“?
Wende in der Gegenwart und die Bewertung aus der Rückschau die eigentlich zentralen Themen sind. Die tatsächlichen Ereignisse der Revolution spielen inhaltlich explizit nur in Hůlovás Text eine Rolle, teilweise auch bei Jana Simon, Julia Schoch und Daniel Wiechmann. In den anderen Texten taucht die Wende entweder nur in Nebensätzen auf oder es wird ihre Alltäglichkeit und die im Moment des Ereignisses nicht wirklich fühlbare Tragweite thematisiert, wie z. B. bei Clemens Meyer, dessen Protagonisten aus rein kindlicher Abenteuerlust an den nur knapp erwähnten Montagsdemonstrationen in Leipzig teilnehmen und keine Ahnung haben, worum es dort geht. Durch die beiläufige Darstellung tritt die Wende in den Hintergrund und dennoch wird ihr ,Scharnier-Charakter‘ deutlich, denn der implizite Leser weiß schließlich um die Bedeutsamkeit der Ereignisse. Der Bruch wird im Text fühlbar ohne explizite Darstellung eines Bruches. Er wird nicht als zeitlich bestimmbarer Moment erzählt, sondern als „die vielen einzelnen Tropfen der Zeit“, die einen Veränderungsprozess ergeben. Diese Art der Darstellung lässt sich zumindest teilweise in Zusammenhang bringen mit der erzählerischen Korrelation von Jugend und Wende, die ein Kriterium für die Auswahl der Texte bildete. Alle hier behandelten Romane und Erzählungen thematisieren in irgendeiner Weise die Sicht von Jugendlichen oder Kindern auf den Umbruch. Sei es in den Erinnerungsgeschichten über Kindheiten im Sozialismus, über die adoleszenten Entgrenzungen in der Wendezeit oder in den Texten über die nordostdeutsche Provinz, in denen die Romanfiguren meist Jugendliche sind, wie Zanders Abiturientinnen in Bresekow oder Schochs Schwesternpaar in der Kasernenstadt. Auch in den tschechischen Texten wird die Sicht jüngerer Menschen dargestellt. In Pilátovás Roman stehen die Stimmen der Enkelinnen der Emigranten im Vordergrund; ihre Reisen nach Europa sind der Anlass für die Aufarbeitung der Familiengeschichten; bei Janota erzählt wiederum ein Mittzwanziger. In Hůlovás Roman erleben zwei jugendliche Schwestern in der Zeit des Systemumbruchs eine heftige Identitätskrise. Die narrative Verknüpfung von Jugend und Wende, aufgrund des Alters der AutorInnen zu einem großen Teil offenkundig autobiografisch grundiert, greift durchaus Diskurse auf, die auch in der Dritten Generation Ost diskutiert werden. Es geht um Kindheitserfahrungen im Sozialismus oder strukturelle Probleme in ländlichen Regionen in Folge des Systemumbruchs – auffällig ist zum Beispiel, dass in allen drei Romanen über die ländliche Ödnis jüngere Frauenfiguren (wie im Übrigen auch die Roman-Autorinnen selbst) den provinziellen Ort verlassen, was nicht zuletzt einen demographischen Fakt abbildet. Auch der Kernpunkt der Dritten Generation Ost, die Behauptung besonderer Wendeerfahrungen dieser Altersgruppe, lässt sich als Motiv in einigen Erzählungen wiederfinden. In den Texten von Simon und Meyer wird dies zumindest deutlich, spezifische kollektive
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Wendeerfahrungen sind hier explizites Thema, wie gezeigt werden konnte. Diese bestehen in beiden Texten in den durch ihre doppelt liminale Lebenssituation potenzierten Entgrenzungserlebnissen der Protagonisten (Gewalt, Rausch, Anarchie etc.) und ihr Scheitern an den neuen Verhältnissen, aber auch in der daraus resultierenden Communitas-Erfahrung als besondere Form der Gemeinschaft, die in beiden Erinnerungstexten erzählerisch überhöht wird. Bei Simon ist dies mit einer Kritik an den Bedingungen der Wende verknüpft, die Integration von Teilen der Gesellschaft offenbar nicht ermöglicht hat. Die Wende wird bei ihr als ein die Gesellschaft spaltender Bruch erzählt, Gewaltexzesse als Form der Entgrenzung führen gleichzeitig zu Distinktion und Abgrenzung, die Gruppe der Jugendlichen hält gegenüber der Außenwelt zusammen. Meyer hingegen erzählt diese Entwicklung nicht eindeutig als Wendeeffekt, denn es lässt sich aus dem Text heraus nicht begründen, ob es die doppelte Herausforderung dieser Zeit ist, die zum Scheitern und der geschilderten ,Verlorenheit‘ der Protagonisten führt, oder nicht ebenso die von der Elterngeneration übernommenen Lebensvorstellungen und Verhaltensmuster, die es bei Simon zwar auch gibt, jedoch in ihrer Narration weniger präsent sind. Er wirft mit seiner Darstellung der Eltern-Figuren eher Fragen nach der Beschaffenheit der späten DDR-Gesellschaft und nach Kontinuitäten sowie der Stabilität von sozialen Milieus auf. So gesehen verweist der generationelle Diskurs in Meyers Roman nicht nur auf die Besonderheit von Erfahrungen (die Intensität oder Anarchie dieser Zeit), sondern ebenso auf das Thema eines fehlenden Bruches auf der sozialstrukturellen Ebene, also auf weiter gefasste Fragen danach, was sich durch die Wende verändert hat und was nicht. Eine ausgeprägte Motivik der Gleichzeitigkeit unterstützt eine solche Sicht auf die Wendezeit als Phase nur teilweiser Veränderung ohne sichtbaren Bruchcharakter. Die erzählerische Parallelführung von Adoleszenz und Wende als liminaler Passage trägt dazu bei: Adoleszenz ist ebenfalls kein punktuelles Ereignis, sondern eine Phase komplexer Veränderungen, obwohl das Ende der Kindheit mit zeitlichem Abstand betrachtet als unumkehrbarer Bruch erscheint. Die Darstellung der Erfahrung doppelter Liminalität ist hier daher kein Mittel der bewussten generationellen Distinktion und Gesellschaftskritik wie bei Simon oder auch in den Debatten der Dritten Generation Ost, sondern eine Erzählstrategie, mittels derer auch über das Wesen das Wandels an sich erzählt wird und über schleichende, unwiederbringliche Veränderungen, die erst aus der Rückschau wie ein Bruch erscheinen. Trotz der Unsichtbarkeit der Wende auf der Handlungsebene werden in den analysierten Nachwende-Narrativen dennoch gesellschaftliche Veränderungsprozesse seit 1989 thematisiert und damit Deutungsmuster über die Wende und ihre Folgen entwickelt. Die Körper- und Raumpoetiken der Texte erwiesen sich dabei als die wesentlichen Bereiche, in denen diese Prozesse sichtbar werden. Der Körper
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stellt einen bevorzugten Topos in der Darstellung sozialistischer Kindheiten dar, körperliche Wahrnehmungen und Metamorphosen sind Schlüsselmotive in den Texten über sozialistische Kindheiten. Wie unter Bezugnahme auf MerleauPontys Leibphänomenologie gezeigt werden konnte, wird mittels der Poetisierung körpersensorischer Wahrnehmungen präkognititv-somatisches Erleben und damit auch kindliches Weltverständnis inszeniert. Dies funktioniert oftmals über die Durchlässigkeit des Körpers als zentrales Motiv: Besonders in Schochs Erzählung, aber auch bei Mora, sind die Protagonistinnen permanent dem Wasser oder der Feuchtigkeit ausgesetzt, Wasser stellt ein Element der Durchdringung dar. Ihre Körpergrenzen werden als durchlässig dargestellt oder sie reagieren auf die Umweltbedingungen mit Metamorphosen, also mit Veränderungen ihrer Gestalt. Es geht somit einerseits um (kindliche) Schutzlosigkeit sowie andererseits um grundsätzliche soziale Anpassungsvorgänge wie z. B. an gesellschaftliche Machtmechanismen, die körperbildlich dargestellt werden. Der Körper wird in diesen Erzählungen zum zentralen Umschlagplatz sozialer Wirkkräfte, wie es besonders in Schochs Rudersport-Szenerie als unablässiges Einfließen der Umweltbedingungen metaphorisch zum Ausdruck kommt. Der Körper als Organ der Wahrnehmung stellt hier einen Ort höchster sozialer Aktivität dar, an dem gesellschaftliche Dynamiken für das Individuum spürbar werden. Bei Schoch zeigen sich Anpassungsvorgänge im subtilen Wirken von Gruppendynamiken, wobei die beschriebenen „Körperpraktiken“ der Rudersportlerinnen, also das ,blinde Rudern‘ mit Bourdieu als „Symbolisierung des Sozialen“3 verstanden werden können und eine gesellschaftliche Atmosphäre der Abstumpfung zum Ausdruck bringen. Verbildlicht wird die wortlose und unsichtbare Übertragung einer Verhaltensnorm des Funktionierens über das Wasser als metaphorisches Mittel der Übertragung und Durchdringung. Um Anpassung an die Umwelt geht es auch bei Vaněk-Úvalský, dessen Protagonist Piolin sich physisch der ,schizophrenen‘ tschechischen Normalisierungsgesellschaft anpasst und als Figur mit zwei sprechenden Köpfen die Paradoxien der spätsozialistischen Gesellschaft verkörpert. Private und offizielle Verhaltensnormen sind in einem Körper verinnerlicht und symbolisieren seine Diktaturerfahrung als groteske körperliche Spaltung. Der Körper wird jedoch auch als ein Ort dargestellt, der Erkenntnis über diese Verhältnisse ermöglicht. So nehmen die kindlichen Erzähler in Schmidts und Wiechmanns ironischen Erzählungen mittels ihrer physischen Empfindungen die Existenz verschiedener gesellschaftlicher Sphären, also parallel existierender Normsysteme wahr, die mit jeweils unterschiedlichen physischen Empfindungen verknüpft sind. Dem Wahrgenommenen werden aus der Erzählergegenwart unter3
Bourdieu, 1992, S. 207.
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schiedliche Grade an Erkenntnis über das System zugeschrieben. Bei Wiechmann oder auch Schmidt sind es gelegentliche Störgefühle, Unwohlsein, Übelkeit, Ekel etc., die in der Darstellung öffentlicher Situationen darauf verweisen, dass die kindlichen Protagonisten gewisse Ungereimtheiten unterhalb der Bewusstseinsschwelle wahrgenommen haben, diese aber nicht, oder eben erst nachträglich, verstehen konnten. Mora hingegen beschreibt ein Erweckungserlebnis, das ihre Protagonistin im Alter von zwölf Jahren aufgrund ihrer Erlebnisse im polnischen Kinderferienlager hatte: Die akute physische Mangelsituation lässt sie die Beschaffenheit des Systems erkennen. Die Bewertung der Erzählinstanz aus der Rückschau wird hier sehr deutlich. In Schochs Erzählung geht es auch um Erkenntnis, doch wird diese nur der Erzählerin zuteil, da sie es im Gegensatz zu den ,blinden‘ Ruderinnen vermag, ihre Augen bewusst zu öffnen. Darin zeigt sich am stärksten die Doppelfunktion des Körpers als Umschlagplatz für das Soziale: Passives Aufnehmen von Einflüssen und aktives Wahrnehmen der Einflüsse verlaufen parallel. Das Maß an Bewusstheit und Erkenntnis darüber ist bei den Figuren wiederum unterschiedlich. Die Ambivalenz von Schochs Erzählerin besteht in ihrem Vermögen, die Verhaltensmodi zu wechseln zwischen (vermeintlicher) Anpassung und dem erkennenden Öffnen der Augen. Was damit thematisiert wird, ist nicht zuletzt ein bestimmtes, durch die sozialen Umstände geprägtes Verhaltensmuster der Ambivalenz und Flucht als Überlebensstrategie, das sich als Motiv auch in Mit der Geschwindigkeit des Sommers entdecken lässt: im geheimen Doppelleben der Hauptfigur, in ihrem Selbstmord sowie auch im Verlassen des Ortes durch die Erzählerin selbst. Bei Vaněk-Úvalský wird der Körper insofern als Ort der Erkenntnis dargestellt, als dass hier ein Kind mit einer abstrusen körperlichen Anomalie lebt, die die spätsozialistische ,Doppelgesichtigkeit‘ für jedermann sichtbar macht, was jedoch allgemein akzeptiert wird. Die Darstellung körperlicher Spaltung dient allerdings nicht der kritischen Betrachtung dieser Zeit, vielmehr kommt darin der von Kamil Činatl angesprochene, in den frühen 1990ern verbreitete kulturelle Konsens bezüglich der kommunistischen Vergangenheit zum Ausdruck: eine ablehnende Haltung gegenüber dem ,anomalen‘ System wird zwar deutlich, doch die starke ironische Brechung und das Schwejksche ad absurdum-Führen der Machtverhältnisse dient letztlich eher der nostalgischen Rückschau an die Zeit des Kommunismus, wie besonders anhand der Figur des Onkel Jeros zu sehen ist, der stark dem Typus des ,harmlosen Antikommunisten, der nur meckert‘ (Kamil Činatl), entspricht. Die Kindheitsdarstellungen reflektieren einen Diskurs über die Frage, inwieweit Kinder vom System beeinflusst waren oder nicht und was sie nicht oder nur in begrenztem Maße wahrnehmen konnten. Die hier beschriebenen Erfahrungen beziehen sich hauptsächlich auf den Alltag im sozialistischen Bildungs- und Erziehungssystem. Dabei tauchen bestimmte Themen wiederholt auf, wie Katrin Löff-
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ler für Texte von AutorInnen der Wendegeneration ebenso festgestellt hat: „(…) ideologischer Dogmatismus und Widersprüche zwischen Theorie und Praxis, Konformitätsdruck und Geringschätzung des Individuums, ideologische Selektionsprinzipien bei der Zulassung zur höheren Bildung und reglementierte Lebensplanung, beschränkte Reisefreiheit und eine der westlichen Warenwelt hoffnungslos unterlegene sozialistische Produktion.“4 Die Bewertung dieser Erfahrungen erfolgt aus der Erzählergegenwart, wobei zumeist eine Distanz zwischen erzählendem und erlebenden Ich spürbar wird, besonders bei Wiechmann und Mora. Die Haltungen reichen von drastischer Verurteilung des Systems (Mora) bis hin zu ironischer Distanzierung, z. B. mittels der Betonung der Pubertätsproblematik (Schmidt). Die Poetisierung der Körperwahrnehmungen der Protagonisten stellt in diesem Zusammenhang also ein ästhetisches Mittel dar, um kindliche Erfahrungen mit dem System darzustellen und diese zu bewerten, wobei es jedoch nicht um das Gedächtnis des Körpers an traumatische Erfahrungen geht, wie im Zusammenhang mit literarischen Körpergedächtnissen häufig der Fall, sondern um die Darstellung sozialer Mechanismen im Alltag aus einer kindlichen Perspektive. In der impliziten Bewertung aus der Rückschau wird der Bezug zu Diskursen der Gegenwart deutlich und kennzeichnet diese Texte als Nachwende-Narrative. Die Körpermetaphoriken thematisieren zudem eine grundsätzliche soziale Responsivität und Verbundenheit. In der bildlichen Auflösung von Körpergrenzen und der Darstellung ihrer Fluidität und Durchlässigkeit, wie es besonders eindrücklich bei Schoch der Fall ist, wird die grundsätzliche Unabgrenzbarkeit sozialer Prozesse erkennbar. Dies lässt sich im Zusammenhang mit der DDR-Thematik als Ausdruck gesellschaftlicher Entwicklungen der späten 1980er Jahre lesen, da besonders im jugendkulturellen Bereich die Einflüsse aus dem Westen zunahmen, wie es bei Schmidt und Wiechmann auch inhaltlich thematisiert wird. Das Motiv der physischen Durchlässigkeit deutet globale Veränderungen an: eine allmähliche und eher unbemerkte Auflösung von Grenzen, die im Alltag dieser Zeit bereits spürbar wurde. In der Auflösung der Innen/Außen-Dichotomie auf der körperbildlichen Ebene wird das nahende Ende der Ost/West-Dichotomie oder ein Infragestellen einer solchen Dichotomie sichtbar. Auch die physische Grenze der Mauer wird als ein künstliches Konstrukt dargestellt – bei Schoch verläuft sie durch Wasser und ist somit ein Widerspruch in sich, erkennbar wird sie für die Ruderinnen nur anhand der Grenzsoldaten auf der Brücke. Wiechmanns Protagonist wiederum nimmt die Berliner Mauer als einen etwas unheimlichen und auch paradoxen physischen Störfaktor neben seinem Tennisplatz wahr: Die Tennisbegeisterung der 1980er Jahre machte als westlicher Einfluss auf seinen Alltag keinen 4
Löffler, 2005, S. 239.
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Halt vor der Grenze, doch als sein Tennisball einmal auf der anderen Seite der Mauer landet, befremdet ihn die physische Realität der Grenze. Die Problematik der Grenze, ihre mitunter absurde Realität im Alltag und auch unmerkliche Erosionsprozesse sind somit in den Körpermetaphoriken enthalten, denn der erzählerische Fokus liegt auf dem Verhältnis zwischen Körper und Welt und auf Veränderungen der Raumwahrnehmung, die als Fluidität, Auflösung, Metamorphose, Irritation oder Störgefühl dargestellt werden. Auch die Texte über die adoleszenten Entgrenzungen in der Wendezeit (Meyer, Simon) enthalten dieses körperbildliche Element, denn das Motiv der doppelten Liminalität beschreibt ebenso einen Moment, bei dem die Grenzen zwischen Innen und Außen durchlässig werden: Es ist ein wesentliches Merkmal der Adoleszenz als liminaler Phase des Übergangs, dass individuell-körperliche sowie soziale Veränderungen auf komplexe Weise ineinandergreifen. Das Individuelle und das Soziale durchdringen einander, das Verhältnis zwischen Individuum und Welt justiert sich neu. Es lässt sich gewissermaßen von einer Ästhetik der Auflösung und Durchdringung auf der Ebene des Individuums sprechen, die subkutane soziale und kulturelle Prozesse beschreibt, die dem Moment des Mauerfalls vorausgingen. Die räumliche Entgrenzung durch den Mauerfall hat Räume und Raumwahrnehmungen grundlegend verändert: Der Eiserne Vorhang als unüberwindbare Grenze existierte plötzlich nicht mehr. In den Texten über die Ödnis der Peripherie und in den tschechischen Reisetexten fällt eine ausgeprägte Metaphorik des Raums auf – Entwicklungen der Gegenwart werden hier in Raumsymboliken lesbar. Diese Tendenz lässt sich im Rahmen eines weiter gefassten Raum-Diskurses verstehen, also einer verstärkten Aufmerksamkeit für den Raum im Zuge des Spatial Turns, der gerade auch durch die geopolitischen Veränderungen seit 1989 starken Auftrieb bekam.5 Die Veränderung der Reichweite der Lebenswelt durch die Globalisierung hat in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen ein gesteigertes Bewusstsein für die Veränderung von Räumen, von Raumwahrnehmungen und Raumverhältnissen mit sich gebracht. In den hier vorliegenden literarischen Darstellungen lässt sich zeigen, dass Räumen Bedeutung zugeschrieben wird: Sie sind mit bestimmten Merkmalen konnotiert, die sich verändernde gesellschaftliche Verhältnisse sichtbar machen. Dabei weisen die Raumdarstellungen in deutschen wie tschechischen Texten wiederkehrende Motive und ästhetische Merkmale auf. Auffällig ist, dass die Räume der Transformationszeit, aber auch die Räume der erinnerten DDR und teilweise auch der ČSSR, als Räume mit den Eigenschaften der Provinz dargestellt werden. Es geht um abgelegene, periphere, rückständige Räume, in denen die Zeit scheinbar konserviert wurde oder in denen sich schier 5
Vgl. Stephan Günzel: Raum: Eine kulturwissenschaftliche Einführung, Bielefeld, 2017.
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gar nichts zu bewegen scheint, was verbreitete mediale Diskurse über Teile des Ostens als vom gesellschaftlichen Geschehen abgeschnitten aufgreift. Besonders augenfällig ist dies bei Zander: Bresekow, wie auch Julian Reidy gezeigt hat, weist typische Eigenschaften des provinziellen Ortes auf, vor allem zyklische Zeitdarstellung und Ereignisarmut. Ähnlich Schochs und Schalanskys Handlungsorte – beide kennzeichnet zumindest äußere Ereignislosigkeit. Auch Hůlovás Krakov liegt weit abgeschlagen vom Zentrum. Sowohl vor als auch nach 1989 ist der Ort von den Entwicklungen der Hauptstadt abgeschnitten. Janota wiederum beschreibt die desolaten Stadtränder Prags und nicht das Zentrum, die er zudem mit dem pulsierenden London in Kontrast setzt. Gegenüber London erscheint Prag als vergessene, etwas morbide Provinz. Die im heruntergekommenen Stadtviertel neu erbaute Shopping Mall Neue Oase wirkt fast wie eine Parodie der Provinz, ist doch eine Oase ein fruchtbarer, aber vom Rest der Welt abgeschnittener Ort, der sich zudem durch eine ihn umgebende Wüste definiert, durch die Lage in einer unwirtlichen Landschaft also. Darin lässt sich der locus desertus erblicken, wie er auch in den Texten über die vorpommersche Nachwende-Ödnis als ,Nichts‘ präsent ist. Als Raum wird der Stadtlandschaft um die Oase damit eine unwirtliche oder gar lebensfeindliche Qualität zugeschrieben, die sich in den Beschreibungen des Viertels auch tatsächlich zeigt; die Shopping Mall als Symbol des Kapitalismus erscheint hingegen als Insel der Verheißung. Ähnliche raumsymbolische Gegenüberstellungen finden sich auch bei Pilátová als stereotyper Gegensatz zwischen Ost und West: Mürrische Menschen im grauen Prag werden durch bunte Exotik und Lebensfreude in Brasilien kontrastiert. Betrachtet man als ein Merkmal der Provinz ihre Entlegenheit von einem Zentrum, gerät auch das Motiv der Reise in den Blick. Nicht zufällig findet man Beschreibungen der Provinz häufig mit einem Reisemotiv verknüpft, wie der langen Zugreise vom Zentrum ins ,Nichts‘ der Peripherie sowohl in Romanen wie in medialen Darstellungen strukturschwacher Orte Mecklenburg-Vorpommerns. In Hůlovás Roman gibt es Reisegruppen, die als Ostalgie-Touristen nach Krakov reisen. Am Romanende wird die Richtung der Reisebewegung jedoch demonstrativ umgedreht – die Protagonistinnen fahren nun selbst aus der Provinz in die Hauptstadt Prag, womit eine raumsymbolische Umkehr der Perspektive zum Ausdruck kommt, die sich in Hůlovás Text auf den Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit bezieht: Diese wird als Debatte nun räumlich ins Zentrum getragen, auch wenn nicht ganz deutlich wird, inwieweit es sich dabei um eine konstruktive Entwicklung handelt. Die Reisebewegungen der tschechischen ProtagonistInnen lassen sich daher auch in diesem Licht betrachten – als raumsymbolischer Ausdruck unterschiedlicher Perspektiven auf Vergangenheit: Bewegungen der Distanzierung sowie Annäherung an die Geschichte unter der Prämisse eines 1989-Befreiungsnarrativs sind die Themen bei Pilátová; bei Janota läuft die Pendelbewegung zwischen London und Prag auf
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einen Ost-West-Vergleich hinaus. Die spezifische Art und Weise der Darstellung der Provinz erwies sich in den in dieser Arbeit untersuchten Texten als eine Chiffre für das sozialistische System. Besonders zeigte sich dies in den narrativen und ästhetischen Formen der Poetisierung der provinziellen Ödnis. Literarische Schauplätze an der nordostdeutschen oder tschechischen Peripherie bildeten dafür die topographischen Koordinaten. Die Provinz bei Schoch, Zander, Schalansky oder Hůlová hat jedoch weniger die ästhetische Funktion einer Auseinandersetzung mit Verlust, Orientierungslosigkeit und neuen Grenzziehungen, wie es beispielsweise in der Provinzdarstellung Marons oder Strittmatters der Fall war. Die beschriebenen Provinzräume sind voller Widersprüche und sich überlagernder Zeitschichten der Erinnerung und Gegenwart. Sie bilden gegenläufige Entwicklungen ab: Sie sind ebenso entlegen, zeitlos und ,abgehängt‘ wie eingebettet in globale Entwicklungen. Es geht um Prozesse der Öffnung, des Wandels, der (unmerklichen) Veränderung. Doch werden ebenso Kontinuitäten thematisiert bzw. die Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Veränderung. Was kennzeichnet diese beschriebenen Provinzräume? Den Texten gemeinsam ist der Rückgriff auf den literarischen Topos der Ruine als Mittel der Auseinandersetzung mit dem sozialistischen Regime, den auch David Williams in seiner Abhandlung über die ,Literatur der osteuropäischen Ruinen‘ untersucht.6 Im Mittelpunkt stehen bei ihm Texte von Dubravka Ugrešić und die post-jugoslawische Situation, aber er etabliert eine breitere Perspektive auf das Phänomen und bezieht z. B. auch Clemens Meyer, Ingo Schulze oder Jáchym Topol mit ein: „Ruins are constantly evoked in post-1989 east European Prose.“7 Einer seiner grundlegenden Punkte ist die Dialektik der Ruine als literarische Figur, die in einer komplexen literarischen Tradition steht und schwer ein eindeutiges Urteil erlaubt. Ihre Ästhetik ermöglicht sowohl Nostalgie, Melancholie aber auch Kritik oder Ablehnung.8 Diese Vielschichtigkeit mag gerade im post-sozialistischen Kontext ihr häufiges Auftauchen als Ausdruck komplizierter Gefühlslagen erklären. In den hier untersuchten Texten taucht das Ruinenmotiv in verschiedener Form sehr häufig auf und ist mit anderen Motiven verflochten. Im Wesentlichen lassen sich drei Motivketten zusammenfassen, in denen eine Ruinenbildlichkeit zum Tragen kommt und die sich mit dem Erbe des Sozialismus in Zusammenhang bringen lassen. Es geht 1) um eine Ästhetik des Kaputten und Verlassenen, bei der 6 7 8
Williams, 2013. Ebd., S. 4. Ebd., S. 14.
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die Ruine hauptsächlich als Allegorie der Vergänglichkeit funktioniert. Sie deutet hier auf die Überlagerung verschiedener Zeitschichten hin, auf die Anwesenheit der Vergangenheit in der Gegenwart – und lässt sich somit auch als ein Motiv der Gleichzeitigkeit verstehen. 2) Ruinen können ebenso Orte der Scham darstellen, denn der Verfall lässt sich auch als eine Form der Vernachlässigung betrachten. 3) Ruinen sind atmosphärische Bestandteile unwirtlicher Räume, deren Unwirtlichkeit als eine speziell östliche Unwirtlichkeit codiert ist. In den Landschaftsbeschreibungen der nordostdeutschen Provinz finden sich immer wieder materielle Überbleibsel des sozialistischen Systems. Der bauliche Leerstand in einer leeren, flachen, öden Landschaft verstärkt den Eindruck der Verlassenheit: Die abgebrannte LPG in der Dorfmitte bei Zander, die im Abriss befindlichen NVA-Kasernen bei Schoch, die überwucherte Stadt bei Schalansky oder Hůlovás marodes, lichtloses ,Schwarzes Viertel‘ von Krakov. Verfall gibt es darüber hinaus auch bei Janota und seinen Beschreibungen desolater Prager Stadtrandszenerien. Ähnliche Raumkonnotationen findet man in den Großstadttexten von Meyer und Simon: Meyers Schauplatz ist die kaputte Leipziger Vorstadt (das Viertel das ,Schwarze Loch‘) und auch Simons Erzählerin beschreibt die kaputten Häuser von Ost-Berlin. Die Texte stehen damit in einem breiteren Kontext einer Post-1989-Literatur, die sich mittels der Ästhetisierung des Verfalls mit dem Ende des Sozialismus auseinandersetzt. Die Ruine als Motiv bezieht sich dabei nicht nur auf Gebäude und Objekte, sondern bezeichnet auch die Ruinen eines sprachlichen und kulturellen Raums. Sie ist Ausdruck des Untergangs (eines Imperiums, eines Regimes) und der Vergänglichkeit und somit ein starkes Symbol für Veränderung und Wandel. In ihr materialisiert sich eine Verbindung, eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft,9 sie ist ein Objekt des Übergangs und regt an, darüber nachzudenken, was Vergangenheit und Zukunft verbindet. Damit schafft sie Raum für utopischen Eskapismus sowohl in Richtung der Vergangenheit als auch der Zukunft, wie Williams unter Bezugnahme auf Svetlana Boym festhält: „Boym suggests that ,ruins make us think of the past that could have been and the future that never took place, tantalizing us with utopian dreams of escaping the irreversibility of time‘“.10 In Schochs Geschichte über die zwei Schwestern in der Kasernenstadt findet sich dieser Eskapismus fast wörtlich wieder: Die Affäre der Hauptfigur mit dem ehemaligen NVA-Soldaten symbolisiert das Ende von etwas, das für sie niemals Zukunft geworden ist, er ist ihre „Zukunft, die sie niemals kennenlernen 9 „(...) the often lonely figure of the ruin can be understood as a perhaps uncomfortable entreaty for us to reflect on the once was, the what is now, and the relationship between the two.“, Ebd., S. 175. 10 Ebd., S. 13.
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würde“. (63) Durch die Wende fühlt sie sich nicht nur ihrer Vergangenheit, sondern vielmehr auch der darin angelegten Zukunft beraubt. Die Wende bewirkt hier also keinen Bruch mit bzw. Verlust der Vergangenheit mit anschließendem Neubeginn, sondern eher eine Irritation der Zeitwahrnehmung. Die gemeinsamen Ausflüge in die ,Ruinen‘ der leerstehenden Plattenbauviertel stellen eine Form der Realitätsflucht dar, bei der sich Vergangenheit und Zukunft utopisch überlagern. Im Mittelpunkt von Schochs Darstellung stehen also die Untrennbarkeit von Vergangenheit und Zukunft, die Vergangenheit als Teil der Gegenwart, die Ruine als Phantasmagorie, eine Projektionsfläche, die Vergangenheit und Zukunft vereint. Eine ähnliche Funktion übernimmt bei Zander die leerstehende LPG in der Dorfmitte, denn sie irritiert den Bezug zu Vergangenheit und Zukunft und stellt gewissermaßen das symbolisch materialisierte ,ewige Präsenz‘ (Julian Reidy) dar, in dem sich das provinzielle Leben abzuspielen scheint. Sie steht wie ein Mahnmal der DDR-Vergangenheit im Zentrum des Dorfes und symbolisiert damit das Ende des ewigen Zukunftsversprechens des Sozialismus und gleichzeitig eine Zukunft, die die Jugendlichen, die sich dort regelmäßig treffen, niemals kennenlernen werden – doch die sie, wie auch die Vergangenheit, in diesem Fall gar nicht interessiert. Die Ruine scheint für sie losgelöst aus jeglichen zeitlichen Kontexten und kann daher nicht als Symbol eines Einschnitts oder Verlusts gewertet werden, sondern als ein Topos der Vergänglichkeit. Bei Schalansky erobert die Natur die zunehmend verlassene Stadt zurück, sie wird in den ewigen Kreislauf der Natur aufgenommen. Das Motiv ewigen Wandels ist hier besonders stark und hat den Effekt der Relativierung des dort stattgefundenen Lebens. Die DDR-Geschichte des Ortes wird zu einer Fußnote in einem erdgeschichtlichen Prozess des Werdens und Vergehens. Die Relativierung durch diese extreme Zeitrafferperspektive lässt auch die Wende nicht als gravierenden Einschnitt erscheinen, sondern als Teil eines quasi-natürlichen Prozesses des als global begriffenen Wandels. Provinz wird ebenso als ein schambesetzter Raum dargestellt. Denn die Ruine ist nicht nur als Allegorie der Vergänglichkeit deutbar: „Is the ruin a marker of nostalgia for a vanished past – or perhaps shame? “11 Die Ruinenmotivik in den Texten ist immer wieder mit dem Thema Scham verknüpft. In ihrer Abweichung von der ,Norm‘ eines intakten Gebäudes verweist die Ruine auf gefühlte Minderwertigkeit gegenüber – zumeist westlichen – Ordnungsvorstellungen. Dies konnte besonders anhand von Hůlovás Roman gezeigt werden: Krakov ist eine kaputte Stadt, das Trinkwasser ist verschmutzt, das Schwarze Viertel ist dem Verfall überlassen, die BBC berichtet über den rückständigen Ort im Osten usw. Die Scham der Krakover gegenüber dem Blick des westlichen Auslands (aber auch gegenüber 11 Ebd., S. 9.
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dem Zentrum Prag) wird explizit thematisiert. Schochs Schwestern verlieren aus Scham kein Wort über ihre Herkunft aus der Kasernenstadt. Und Zanders Anklam ist ebenfalls ein Ort, für den sich Protagonistin Romy schämt; er hat nur wenige „Ecken, bei denen man zumindest nicht sofort vor Scham im Boden versinken möchte“. (171) Bei Hůlová lässt sich die gesamte Konzeption der Stadtanlage als grotesker Versuch der Schamabwehr lesen: Die sozialistische Musterstadt Krakov ist schließlich auf Sümpfen erbaut – und damit permanent in Gefahr, im Boden zu versinken. Ein großer Teil der Bevölkerung ist täglich damit beschäftigt, den Boden trocken zu legen und das Versinken zu verhindern. Scham drückt sich in raummetaphorischer Hinsicht auch durch das Motiv des Bedeckens der Vergangenheit aus, wenn z. B. Orte mit Gras überwuchern und somit verschwinden. Williams nennt diese „grassed-over spaces“12, die er auch in Meyers Als wir träumten nachweist, das Zeichen einer symbolischen Tilgung („symbolic erasure“) und sieht sie als Bestandteil der Ruinenmotivik – „ruins, erasure and absence (of buildings, people and time)“ seien Leitmotive in Meyers Roman.13 Die Tilgung, das Verschwinden unter einem Grasteppich, steht nicht nur für das Auslöschen der Vergangenheit, das Verschwinden lässt sich auch als Scham-Reaktion verstehen – es ist eine typische Geste der Scham, sich bedecken zu wollen. Die „grassed-over spaces“ sind Teil eines Diskurses der Scham über die kommunistische Vergangenheit bzw. das Erbe einer solchen Vergangenheit. Bei Hůlová umwuchert „dicker saftiger Rasen“14 die Autowracks der Trabants und Ladas, die einfach am Straßenrand stehen gelassen wurden und an anderer Stelle als ,Mantel aus Scham‘ bezeichnet wurden. In Schalanskys Beschreibungen der aussterbenden Kreisstadt in Vorpommern sind die „grassed-over spaces“ ein ganz zentrales Motiv. Doch mehr als um Scham geht es in Inge Lohmarks Überwucherungsphantasien um die Bedeutungslosigkeit des Ortes und seiner Geschichte. Die Natur wird zu einem übermächtigen Akteur, der die DDR-Geschichte tilgt, das Pflanzendickicht bildet einen „Mantel des Schweigens.“ (70) Das über die DDRGeschichte gewachsene Gras bedeckt nicht zuletzt Fragen nach Lohmarks – vermutlich beschämenden – eigenen Verstrickungen in das System. Auch in Zanders Roman gibt es die Phantasie vom Überwuchern des Ortes nach dem Wegzug der Menschen und damit von der Tilgung Bresekows: „(...) denn is keiner mehr da, kein Schwein, denn wird dat hier wieder Urwald oder so, wuchert die ganze Scheiße wieder zu (…).“ (456) Das Überwachsen, Verschwinden, Bedecken und Beschweigen als Ausdruck von Scham ist als Motivkette in diesen Texten auf verschiedenen 12 Ebd., S. 139. 13 Ebd., S. 136. 14 „hustej šťavnatej trávník“ (165)
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Ebenen wirksam. Auch die kommunikative Pathologie im Dorf bei Zander kommt über eine ähnliche Bildlichkeit zum Tragen: Die Familiengeheimnisse bleiben hinter zugezogenen Gardinen unsichtbar, Einblicke werden hier ebenso wenig gewährt wie in Schochs abweisende Landschaften am Oderhaff. Mit Bildern des Überwucherns in Zusammenhang steht das Motiv der Unwirtlichkeit. Unwirtlichkeit wurde herausgearbeitet als Motiv, das sich in der Darstellung unbehaglicher Atmosphären zeigt, und zwar nicht nur in den Texten über ländlich-periphere Orte, sondern auch in den Erinnerungstexten an Kindheit. Bei Schoch, Mora und auch bei Schmidt geht es um verschmutzte oder gar kontaminierte Räume, nasse Räume, in denen die Feuchtigkeit alles durchdringt. Zerstörung oder Mangel lassen sich ebenfalls finden. Darin wiedererkennbar sind Stereotypen über das graue, runtergewirtschaftete Land DDR, das in kaum einer dieser Darstellungen ohne Regenwetter auskommt. Des weiteren werden für die Nachwende-Zeit in ländlichen Regionen abweisende, statische und menschenleere Landschaften beschrieben, oder zugewucherte Pflanzendickichte, die dem Menschen keinen Zugang ermöglichen. (Schoch) Auch die ruinösen Stadtlandschaften bei Janota oder Meyer lassen sich als unwirtlich betrachten, Zerstörung, Leerstand und ,schwarze Löcher‘ lassen die Gegenden nicht gerade einladend erscheinen. Diese Unwirtlichkeit erwies sich als eine speziell östlich codierte Unwirtlichkeit, die nach Erhard Schütz assoziativ mit Rückständigkeit und dem Scheitern des gesellschaftlichen Experiments des Sozialismus verknüpft ist. Denn die Unwirtlichkeit dieser Landschaften, die durchsetzt sind mit den Ruinen einer anderen Zeit, speist sich nicht aus der Wildheit peripherer Naturräume sondern aus einem zivilisatorischen Scheitern, das darin sichtbar wird. Zugespitzt könnte man sagen, es wird ein Akt der Zerstörung durch den Menschen, d. h. durch das sozialistische System dargestellt, was eine Bewertung der Vergangenheit als desaströs enthält. Diese Bildlichkeit ist atmosphärischer Hintergrund vieler der Geschichten und auch in ironischen Texten (Schmidt) zu finden. Sie steht also für eine bestimmte Perspektive auf die Vergangenheit, aber auch für eine Qualität der Gegenwart, denn gerade in den Texten über die ländliche Ödnis ist bisweilen kaum auszumachen, ob wir uns vor oder nach 1989 befinden, ob es sich um DDR-Tristesse oder Nachwende-Tristesse handelt. Auch dadurch wird der einschneidende Umbruch der Wende relativiert und der Blick ebenso auf (atmosphärische) Kontinuitäten gelenkt. Der Provinzraum ist in den Texten Brennglas der gesellschaftlichen Veränderungen seit 1989, doch geht es nicht um Verluste und Brüche, sondern um den unmerklichen Wandel und um Kontinuitäten. Auch die Leere der dargestellten Räume ist dafür ein wichtiges Motiv, wie Zanders ,Nichts‘ in flacher Landschaft oder die „störrische Weite“ bei Schalansky. (73) Damit wird jedoch nur scheinbar provinzielle Ereignislosigkeit thematisiert, wie besonders an Zanders Beispiel
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gezeigt werden konnte, deren Dorfgemeinschaft kein non-place ist, sondern ein komplexes soziales und historisch verankertes Geflecht mit eigenen kulturellen Codes darstellt. Und auch eine Weite, die störrisch ist, impliziert Eigensinn – den Eigen-Sinn (Thomas Lindenberger) des vermeintlichen Nichts. In der Bildlichkeit der Leere und Unsichtbarkeit verbirgt sich also nicht zuletzt auch ein Appell zur genaueren Betrachtung und Beachtung von Entwicklungen des lokalen Raums, indem Stereotypen über die ostdeutsche Provinz poetisiert werden. Ebenso verweisen Leere und Unsichtbarkeit wiederum auf die Unsichtbarkeit des Umbruches von 1989 in den Texten. Elemente dieser Motivik gibt es auch in den tschechischen Romanen. Bei Janota wurde dies zumindest deutlich, die ,Unsichtbarkeit‘ des Protagonisten am Ende, seine ausgeprägte Distanziertheit lässt ihn als unabhängigen Globetrotter erscheinen, doch bei genauerer Betrachtung zeigen sich die Verstrickungen und Konflikte mit dem Ort seiner Herkunft. Andererseits gibt es Distanz, die ein motivisches Hauptmerkmal der tschechischen Texte bildete, auch als Motiv in den deutschen Texten: als räumliche wie auch kulturelle Entfernung zwischen Zentrum und Peripherie in den Texten über die Ödnis, bezugnehmend auf Diskurse zunehmender gesellschaftlicher Segregation seit der Wende und Stereotype über den Osten. Der Aspekt der kulturellen Distanz wird besonders stark sichtbar in Simons Reportage, in der sich die Erzählerin durch die gesellschaftlichen Entwicklungen seit 1989 von ihrem Jugendfreund Felix so stark kulturell entfremdet sieht, dass die Distanz nicht mehr zu überbrücken ist und sie sein Abgleiten in die Neonazi-Szene und schließlich seinen Selbstmord nicht begreifen kann. Eine auffällige Distanzierung zeigt sich auch in der Erzählhaltung bei Schoch: die Erzählerin rekonstruiert zwar das Leben ihrer verstorbenen Schwester aus räumlicher und auch kultureller Distanz, aber ihre emotionale Bindung an den gemeinsamen Ort ihrer Herkunft wird trotzdem deutlich. Gezeigt werden konnte also auch, dass es mehr inhaltliche und ästhetische Parallelen zwischen den deutschen und tschechischen Nachwende-Narrativen gibt, als zunächst vermutet. Die Tatsache, dass in der tschechischen Gegenwartsliteratur andere Themen im Vordergrund stehen und es auch keine breitere öffentliche Debatte zu den Wendeerfahrungen der jüngeren Generation gibt, heißt nicht, dass über 1989 nicht literarisch reflektiert wird. Der Terminus der Nachwende-Narrative berücksichtigt schließlich genau diese Art von Texten, die implizite Deutungsmuster der Wende und der gesellschaftlichen Entwicklungen seit 1989 enthalten. Dies wurde besonders an Pilátovás Roman deutlich, der in keiner Weise als Wenderoman wahrgenommen wird und dennoch ein offensichtliches und an offiziellen Geschichtsbildern orientiertes Narrativ über 1989 als Befreiung von der russischen Fremdherrschaft und Rückkehr zu demokratischen Wurzeln enthält. Das Scharnier der Wende ist also auch in diesen Texten als Motiv zu
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finden. Im Gegensatz zu den untersuchten deutschen Nachwende-Narrativen, in denen sich ästhetische und narrative Strategien nachweisen ließen, die den Blick vielfach auf die Unsichtbarkeit des Moments des Wandels sowie auch auf Kontinuitäten lenkten, wird hier stärker die Erfahrung eines klaren gesellschaftlichen Bruches thematisiert. Dies lässt sich möglicherweise mit einer anderen öffentlichen Wahrnehmung von 1989 und der Bewertung der Zeit des Sozialismus in Zusammenhang bringen, in der entsprechende Narrative dominieren. Offensichtlich ist jedoch allemal, dass 1989 und die Folgen der Wende noch immer literarische Bewandtnis hat und die sich verändernden Perspektiven auf den Umbruch sichtbar werden.
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Danksagung
Die Entstehung einer Doktorarbeit durchläuft verschiedene Phasen mit Höhen und Tiefen. Ohne ein unterstützendes Umfeld ist das nicht zu schaffen. Ich danke dem Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) Potsdam für die Möglichkeit, die Arbeit am Institut zu realisieren, dabei insbesondere den Projektgruppen Sozialistische Diktatur als Sinnwelt und Die Lange Geschichte der „Wende“ sowie der Abteilung Kommunismus und Gesellschaft. Die Idee zu meinem Thema ist in diesem Arbeitskontext entstanden und der regelmäßige Austausch war dafür substantiell. Ich danke meinem Doktorvater Prof. Dr. Helmut Peitsch für die gründliche Lektüre meiner Texte, für die wohlwollende Kritik und verlässliche Ansprechbarkeit in inhaltlichen wie auch pragmatischen Fragen. Ebenso danke ich meiner Zweitbetreuerin Prof. Dr. Alfrun Kliems für viele erhellende Gespräche und den beständigen Ansporn zur Fortentwicklung meiner Arbeit. Mein Dank gebührt darüber hinaus allen Beteiligten in den Doktorandenkolloquien von Helmut Peitsch an der Universität Potsdam, von Alfrun Kliems an der HumboldtUniversität zu Berlin sowie im Doktorandenkolloquium des ZZF Potsdam für ihr Interesse und das konstruktive Feedback. Ich danke der Berliner Staatsbibliothek dafür, dass es sie gibt. Große Teile dieser Dissertation sind in der StaBi West und nicht ohne die Menschen entstanden, die ich hier kennenlernen durfte. Ich danke den verschiedenen Mittags- und Kaffeerunden für die angenehme und inspirierende Gesellschaft sowie Ahmet Korubay, ohne dessen Imbissstand der Platz am Kulturforum nicht das ist, was er ist. Ruth Sahner danke ich für einen entscheidenden Anruf. Ich danke Janna Düringer für das Korrekturlesen in letzter Minute und Robert Lorenz für das Titelbild. Einen herzlichen Dank auch an Katja Stopka und Waltraud Peters vom ZZF für die Geduld und Hilfe bei der Finalisierung dieses Bandes. Mein persönlicher Dank gilt meinen Eltern für ihre ideelle und materielle Unterstützung. Ebenso danke ich den Bewohnern und Stammgästen der Grüntaler Str. 9 für Zuspruch, Halt und viele lange Abende am irgendwie immer gedeckten Tisch. Ein besonderer Dank gilt zudem der Berliner Swing-Szene bzw. den Tanzschulen Swingstep und Swing Base für die phantastische Möglichkeit, mir immer wieder neuen Schwung zu holen! Rainette Lange
Berlin, im Februar 2020