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German Pages [292] Year 2012
Urlaub vom Staat
Zeithistorische Studien Herausgegeben von Frank Bösch und Martin Sabrow für das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam Band 50
Christopher Görlich
Urlaub vom Staat Tourismus in der DDR
2012 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Christopher Görlich war von 2004–2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums für Zeithistorische Forschung, Potsdam. Seitdem ist er Geschäftsführer der Geschichtsagentur »make! history«.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Sellin 1987, Urlaubsfreude. Foto: Siegfried Wittenburg
© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-20863-9
Inhalt
Einleitung: Tourismus und Utopieverlust................................................................ 7 I.
1. 2. 3. 4. 5. II.
1. 2. 3. 4. 5. III.
1. 2. IV.
1. 2. 3. 4.
Die Geschichte des FDGB-Feriendienstes..................................................... 25
Von der Gründung bis zum Mauerbau (1947–1961).................................. 25 Die Reformen der 1960er-Jahre........................................................................ 72 Sozialpolitik und Utopieverlust. Die Ära Honecker.................................... 100 Tourismus jenseits des Feriendienstes.............................................................. 118 Das Ende 1989/90............................................................................................... 141
Die Urlauber.......................................................................................................... 153
Verteilung der Urlaubsplätze.............................................................................. 153 Arbeiter auf Reisen. Ideologie und Wirklichkeit.......................................... 162 Der lange Weg zum Familienurlaub................................................................. 169 Kinder und Jugendliche...................................................................................... 180 Rentner – eine abgeschriebene Generation.................................................... 203
Heimleiter und Mitarbeiter.............................................................................. 207
Der Heimleiter: Funktionär – Wirtschaftsleiter – Hotelier....................... 207 Mitarbeiter und Gäste......................................................................................... 212
Die DDR als Urlaubsland.................................................................................... 221
Der Urlaubsort – eine gesellschaftliche Konstruktion................................. 221 Tourismus – geographische Grundlagen......................................................... 226 »... dass uns Warna näher liegt als Sylt« – kognitive Landkarten............. 235 »Goethe und Eckermann wussten schon, wo es schön ist ...« – imaginäre Geographie......................................................................................... 245
Schlussbemerkungen.................................................................................................... 263 Abkürzungsverzeichnis................................................................................................. 267 Literaturverzeichnis....................................................................................................... 269 Danksagung.................................................................................................................... 289
Einleitung: Tourismus und Utopieverlust Ihre Arbeitsleistungen wurden in allen Abteilungen lobend hervorgehoben. Deshalb war es richtig, dass diese junge Kollegin in der Hauptsaison eine kostenlose Reise nach Göhren/Rügen erhielt. […] Die Kleidung der Kollegin, die sie besass, war mangelhaft. Die Kollegin M. setzte sich dafür ein, dass für diese Kollegin ein Kleid gekauft wurde. In der Nähstube wurde eine Umhängetasche gearbeitet, eine Geldbörse wurde gekauft und zusätzlich zur kostenlosen Reise DM 50,- Taschengeld gegeben.1 Da die besagte Kollegin noch nie mit der Eisenbahn fuhr und man die Gewähr haben wollte, dass diese junge Kollegin gut in Göhren ankommt, beauftragte man eine ältere Kollegin, sich besonders um diese junge Kollegin zu kümmern. Dies geschah in der Weise, dass die ältere Kollegin eine Woche vorher, fast jeden Abend, die junge Kollegin aufsuchte, wo man über die Reise sprach und wie man die 14 Tage Urlaub am Strand verbringt. Nach Rückkehr dieser Kollegin war eine deutliche Begeisterung zu verspüren. Ihr Einsatz in der Arbeit war noch deutlicher zu verspüren. Eine grossartige Selbstverpflichtung innerhalb ihrer FDJ-Betriebsgruppe war der Erfolg der umsichtigen Arbeit unserer Kollegin Gerda M. aus dem Betrieb »Jenapharm« […]. So gibt es noch eine Reihe Beispiele aus diesem Betrieb. Die Beispiele zeigen uns[,] wie wirkliche Ferienpolitik im Betrieb am Arbeitsplatz gemacht wird, wie die Frage »Sorge um den werktätigen Menschen« im Betrieb wirklich aussehen muss.2
Dieser Bericht der Industriegewerkschaft Chemie (IG Chemie) der Deutschen Demokratischen Republik aus dem Jahre 1952 über ein namenlos bleibendes, verwaistes Mädchen im Alter von 16 Jahren dokumentiert exemplarisch, welche Bedeutung schon in den ersten Jahren der DDR der Urlaubsreise beigemessen wurde. Daran änderte sich auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten nicht viel: Urlaub blieb ein wichtiger Bestandteil sozialistischer Politik – nicht zuletzt, weil durch das staatliche Engagement in diesem Bereich die Überlegenheit des Sozialismus bewiesen werden sollte. Während in den ersten Jahren nach der Staatsgründung noch recht wenige Bürger der DDR verreisten, stieg die Zahl in den nächsten Jahrzehnten deutlich an. In den 1980er-Jahren nutzten schließlich jedes Jahr fünf Millionen Menschen das 1
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Die Schreibung von Währungsangaben folgt in den Zitaten den dort verwendeten Abkürzungen. Im Fließtext wird ausschließlich die Bezeichnung »Mark« für die Währung der DDR verwendet. Die in den Quellen verwendete Schreibung der S-Laute »ss« und »ß« wurde beibehalten, andere offensichtliche Rechtschreibfehler wurden stillschweigend korrigiert. Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMOBArch), DY 34/29/480/3663, Industriegewerkschaft Chemie, Feriendienst, Sekretariatsvorlage, Betr.: Analyse der Abtlg. Feriendienst aus der Sommersaison 1952, Berlin, den 9. Oktober 1952, S. 1.
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Angebot des Feriendienstes des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) oder verbrachten ihren Urlaub in den betrieblichen Erholungsheimen. Weitere fünf Millionen Menschen verreisten mit dem »Reisebüro der DDR« sowie dem Jugendreisebüro »Jugendtourist«. Statistisch schwer zu erfassen sind schließlich die privat durchgeführten Reisen; in attraktiven Regionen wie z.B. der Ostsee machten diese sogenannten Privatreisenden einschließlich der Campingurlauber in den 1980er-Jahren rund 50 Prozent der gesamten Urlauberschaft aus.3 Insgesamt lag die Urlaubsreiseintensität der Ostdeutschen – also die Zahl der Urlaubsreisen in Bezug auf die Bevölkerung – knapp über der Reiseintensität der Bundesdeutschen. Trotz Beschränkung der Reisefreiheit und der Unmöglichkeit einer Urlaubsreise in den Westen kommt der Titel »Reiseweltmeister«, den die Westdeutschen gerne für sich in Anspruch nehmen, also den Ostdeutschen zu.4 Doch die Geschichte des Tourismus in der DDR beschränkt sich nicht auf statistisch erfassbare Daten. Der Urlaub in der DDR wurde wesentlich von den politischen und ideologischen Ordnungsvorstellungen von Partei-, Staats- und Gewerkschaftsführung auf der einen Seite und dem »Eigen-Sinn« der Bürger auf der anderen Seite geprägt. Aus diesem Grunde ist der Titel des vorliegenden Buches bewusst mehrdeutig gemeint. Einerseits verweist »Urlaub vom Staat« darauf, dass der Urlaub eben vom Staat, vertreten durch die Gewerkschaft, nach politischen Vorstellungen organisiert wurde und auf staatliche Ziele ausgerichtet war. Andererseits kann »Urlaub vom Staat« aber auch in dem Sinne gelesen werden, dass die DDRBürger diese politischen Vorstellungen und staatlichen Ziele bewusst oder auch unbewusst unterliefen. Sie versuchten, Staat und Politik in den Urlaubswochen zu entkommen – auch wenn sie kaum eine andere Möglichkeit hatten, als auf dem Territorium ihres Staates oder in den »sozialistischen Bruderländern« Urlaub zu machen. 1974 wurde eine Fotografie veröffentlicht, die diese Spannung in der scheinbaren Alltäglichkeit des Urlaubs anschaulich visualisiert (Abbildung 1). Das Bild zeigt einen jungen Mann in Badehose vor der Ernst-ThälmannGedenkstätte in Ziegenhals/Königs Wusterhausen südöstlich von Berlin. Dort hatte am 7. Februar 1933 im Hinterzimmer einer Gastwirtschaft eine illegale Funktionärskonferenz der KPD unter dem Vorsitz von Ernst Thälmann stattgefunden. Zwanzig Jahre später, 1953, wurde eine Gedenkstätte eingerichtet, um die Identifikation des neuen sozialistischen Staates mit »Deutschlands unsterblichem Sohn«, dem Helden des kommunistischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus, zu vollziehen. Denn in ihrem Selbstverständnis hatte die SED das Erbe Thälmanns
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Rüdiger Hachtmann, Tourismus-Geschichte, Göttingen 2007, S. 147. Hasso Spode, Wie die Deutschen »Reiseweltmeister« wurden. Eine Einführung in die Tourismusgeschichte, Erfurt 2003, S. 138f.
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angetreten, um einen besseren Staat zu errichten.5 In den 1970er-Jahren wiederum bot sich den Touristen am Zeuthener See vor allem eine herrliche Badestelle. Die Urlauber kümmerten sich nicht um die ideologischen Konnotationen: Es ging ihnen um das Erlebnis in der Gegenwart. Die Utopie des Sozialismus blieb allenfalls im Hintergrund bestehen.
1 Urlaubsidylle am Zeuthener See. Im Hintergrund verweist eine große Tafel auf die Ernst-Thälmann-Gedenkstätte, im Vordergrund gehen Urlauber ihrem Vergnügen nach. (Das Ferien- und Bäderbuch 1974, S. 185)
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Vgl. zur Geschichte der Gedenkstätte: Christoph Henseler, Thälmanns Gethsemane. Die Gedenkstätte Ziegenhals und ihr Ende, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 58 (2010), H. 6, S. 527–552; Annette Leo, »Deutschlands unsterblicher Sohn ...« Der Held des Widerstands Ernst Thälmann, in: Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR, hg. v. Silke Satjukow/Rainer Gries, Berlin 2002, S. 101–114 und S. 276, hier S. 101.
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Anfang der 1980er-Jahre manifestierte sich dieser Utopieverlust auf dem 10. FDGBKongress. Harry Tisch, Vorsitzender des FDGB, erklärte: Eine Bemerkung zur Urlaubsgestaltung. Dafür gibt es ein weitgefächertes Angebot in den Ferienheimen. Doch sollten wir bei all den Aktivitäten nicht außer acht lassen, daß der Urlauber sich ganz so erholen soll, wie er es selbst gerne möchte: Wenn er laufen will, mag er laufen; aber möchte er schlafen, dann soll man ihn nicht stören.6
Tisch setzte damit einen Endpunkt in der Auseinandersetzung zwischen dem ideologischen Anspruch des Staates, auch den Urlaub politisch zu steuern, und dem von individuellen Wünschen geprägten Verhalten der Bürger. Die Geschichte des Urlaubs in der DDR ist folglich die Geschichte dieser Auseinandersetzungen, die Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist. Forschungen zum DDR-Urlaub Die erste Untersuchung zur Geschichte des Tourismus in der DDR war die 1977 von Anton Filler an der Verkehrshochschule in Dresden vorgelegte Dissertation mit dem Titel »Die Entwicklung des Feriendienstes der Gewerkschaften als Erholungsträger der Arbeiterklasse von seinen Anfängen bis 1975«.7 Der Autor war selbst langjähriger Mitarbeiter der Abteilung Feriendienst und 1989 ihr letzter Leiter. Unübersehbar ist in dieser Schrift der legitimatorische Impetus. Einer der Gutachter der Dissertation, Fritz Rösel, zugleich Mitglied des FDGB-Präsidiums sowie Sekretär für Sozialpolitik im FDGB-Bundesvorstand und damit direkter Vorgesetzter Fillers, bemerkt in seinem Kommentar zur Arbeit treffend: »Klassiker richtig angewendet. – marx.-len. Reproduktionslehre; – Leninsche Dekrete über Urlaubs- und Erholungswesen.«8 So ist Fillers Arbeit ein gutes Beispiel dafür, wie Geschichtswissenschaft in der DDR betrieben wurde. Von den frühen sowjetischen Entscheidungen Anfang der 1920er-Jahre ausgehend, konstruiert Filler eine Kontinuität, sogar eine Zwangsläufigkeit, die die Entwicklung des Feriendienstes in der DDR bestimmt habe. Ein Jahr nach der DDR-Dissertation von Filler erschien in der Bundesrepublik in der Reihe »DDR. Realitäten – Argumente«, die die Friedrich-Ebert-Stiftung herausgab, das schmale Heft »Urlaub und Tourismus in beiden deutschen Staa6 7 8
So Harry Tisch im Bericht des Bundesvorstandes des FDGB an den 10. FDGB-Kongress: Protokoll des 10. FDGB-Kongresses vom 21. bis 24. April 1982 in Berlin, hg. v. Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Berlin 1982, S. 35. Anton Filler, Die Entwicklung des Feriendienstes der Gewerkschaften als Erholungsträger der Arbeiterklasse von seinen Anfängen bis 1975, Diss. (A), Dresden 1977. Zit. nach: Patrick Benoit, »Gewerkschaftlich erkämpfter Urlaubsplatz ...« Das Urlaubswesen in der DDR – Ein Teil der staatlichen Sozialpolitik, unveröffentlichte Lizentiatsarbeit Bern 1997, S. 59, Anm. 19.
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ten«; eine zweite Auflage folgte 1985. Im Vergleich mit dem westlichen Tourismus wurde der Rahmen des Urlaubs in der DDR abgesteckt, ohne jedoch im Wesentlichen über die Darstellung der unterschiedlichen Reiseformen (FDGB-Feriendienst, betriebliche Erholungsheime, Camping, Jugendurlaub, Reisebüro der DDR und Individualreisen) und ihre quantitative Abschätzung hinauszugehen. Die wenig überraschende Schlussfolgerung lautet, dass die Bürger der DDR in großem Umfang am Massentourismus teilnähmen, der Urlaub jedoch unter der starken Politisierung durch den Staat leide.9 Angesichts der Dominanz der Totalitarismustheorie in der Geschichtswissenschaft nach 1989, die vor allem nach herrschaftlichen Intentionen fragte, wurde diese Spannung zwischen Massentourismus und Politisierung von der historischen Forschung als kaum befruchtend für weitere Arbeiten wahrgenommen. Erst Mitte der 1990er-Jahre lieferten der Katalog zur Ausstellung »Endlich Urlaub!« des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik10 und der von Hasso Spode herausgegebene Sammelband »Goldstrand und Teutonengrill«11 ambitionierte historische Ansätze zur Erforschung des Urlaubs in der DDR. Wichtige Arbeiten zu dem Thema folgten Ende der neunziger Jahre. 1997 legte der Schweizer Patrick Benoit seine Lizentiatsarbeit vor.12 2003 thematisierte Heike Bähre in ihrer soziologischen Untersuchung die letzten zehn Jahre des Tourismus in der DDR. Sie konzentrierte sich aber vor allem auf die Transformation nach 1989.13
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Urlaub und Tourismus in beiden deutschen Staaten, hg. v. der Friedrich-Ebert-Stiftung (Die DDR. Realitäten – Argumente), 2. Auflage, Bonn 1985, S. 33f. 10 Endlich Urlaub! Die Deutschen reisen, hg. v. der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1996; darin befassen sich folgende Aufsätze mit der DDR: Claus-Ulrich Selbach, Reise nach Plan. Der Feriendienst des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, S. 65–76; Margita Großmann, »Boten der Völkerfreundschaft«? DDRBürger im sozialistischen Ausland, S. 77–82; Sabine Diemer, Reisen zwischen politischem Anspruch und Vergnügen. DDR-Bürgerinnen und -Bürger unterwegs, S. 83–92; Gerd Peters, Vom Urlauberschiff zum Traumschiff. Die Passagierschiffahrt der DDR, S. 93–100; Martin Bütow, Abenteuerurlaub, Marke DDR: Camping, S. 101–105; Judith Kruse, Nische im Sozialismus, S. 106–111. 11 Goldstrand und Teutonengrill. Kultur- und Sozialgeschichte des Tourismus in Deutschland 1945 bis 1989, hg. v. Hasso Spode (Institut für Tourismus. Berichte und Materialien, Nr. 15), Berlin 1996; darin: Hasso Spode, Tourismus in der Gesellschaft der DDR. Eine vergleichende Einführung, S. 11–34; Gundel Fuhrmann, Der Urlaub der DDR-Bürger in den späten 60er Jahren, S. 35–50; Gerlinde Irmscher, Alltägliche Fremde. Auslandsreisen in der DDR, S. 51–68. 12 Patrick Benoit, »Gewerkschaftlich erkämpfter Urlaubsplatz ...« Das Urlaubswesen in der DDR – Ein Teil der staatlichen Sozialpolitik, unveröffentlichte Lizentiatsarbeit Bern 1997. 13 Heike Bähre, Tourismuspolitik in der Systemtransformation. Eine Untersuchung zum Reisen in der DDR und zum ostdeutschen Tourismus im Zeitraum 1980 bis 2000, Berlin 2003.
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Ende 2009 erschien schließlich Heike Wolters Doktorarbeit »Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd«.14 Bis heute stellt diese Arbeit die umfassendste Untersuchung zum Thema dar. Es bleibt daher Wolters nicht gering zu schätzender Verdienst, eine Reihe von Fakten zusammengetragen zu haben und vor allem über die rechtlichen Rahmenbedingungen des Reisens in der DDR zuverlässig zu informieren. Gleichwohl sind einige Kritikpunkte bezüglich dieser Arbeit angebracht. Anders als es der Untertitel verspricht, schreibt Wolter nicht »Die Geschichte des Tourismus in der DDR«. Vielmehr beschränkt sie sich auf die 1970er- und 1980erJahre. Im Folgenden ist jedoch zu zeigen, dass bereits in den ersten Jahren nach der Gründung des Feriendienstes 1947 die strukturellen und ideologischen Grundlagen des Tourismus in der DDR gelegt wurden. Bedenklich erscheint zudem, dass Wolter die Spannungen des Staates im Verhältnis zum Bürger – trotz gegenteiliger Beteuerung in der Einleitung – weitestgehend ausblendet. Mit der »verbleibende[n] private[n] Seite«15 befasst sich Wolter nur sehr knapp. 2010 legte schließlich Andreas Stirn die umfangreiche Veröffentlichung seiner Doktorarbeit über die Urlauberschiffe der DDR vor. Das über 800 Seiten starke Buch ist die kulturgeschichtlich ambitionierte, manchmal detailversessene Studie, die auf absehbare Zeit das Standardwerk bezüglich der Schiffsreisen in der DDR bleiben wird.16 Gleichwohl behandelt dieses Buch nur einen Teilaspekt und mag dazu verleiten, die gewiss spektakulären Schiffsreisen in ihrer Bedeutung für den ganz normalen Urlaub der DDR-Bürger zu überschätzen. In der Summe bleibt festzustellen, dass sich in der historischen Tourismusforschung zur DDR ein annähernd kohärentes Bild, wie es dank der viel breiteren Forschung beispielsweise hinsichtlich der NS-Freizeitorganisation Kraft durch Freude (KdF) besteht, bislang noch nicht herausgebildet hat. Das vorliegende Buch will einen Beitrag hierzu leisten, umso mehr eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Urlaub in der DDR dringend notwendig scheint, weil sich zugleich ein wachsendes »[n]ostalgisches« Interesse der Öffentlichkeit zu diesem Thema abzeichnet. Als Beispiel sollen hier nur zwei Werke des Eulenspiegel-Verlages erwähnt werden. Eine bunte Mischung aus literarisch-satirischen Texten, Kochrezepten und Fotos erschien unter dem Titel »Urlaub, Klappfix, Ferienscheck«.17 Während dieses Buch durchaus amüsant zu lesen ist, leistet das später erschienene, reich bebilderte Buch zum FKK-Baden keinen ersichtlichen Beitrag zum Verständnis des 14
Heike Wolter, »Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd«. Die Geschichte des Tourismus in der DDR (Deutsches Museum, Beiträge zur Historischen Verkehrsforschung, Bd. 10), Frankfurt a.M./New York 2009. 15 Ebd., S. 46. 16 Andreas Stirn, Traumschiffe des Sozialismus. Die Geschichte der DDR-Urlauberschiffe 1953–1990, Berlin 2010. 17 Urlaub, Klappfix, Ferienscheck. Reisen in der DDR, hg. v. Ralf Pierau, Berlin 2003.
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DDR-Urlaubs.18 Schließlich hat sich auch das Fernsehen des Themas »Urlaub in der DDR« angenommen.19 Es fallen dabei frappierende Vereinfachungen und Pauschalisierungen auf, wenn beispielsweise zentrale politische Entscheidungen von Zeitzeugen als »schwachsinnig« bezeichnet werden, ohne dass die Redakteure des Filmes diese Aussagen in historische Kontexte einordnen.20 Tourismus in der DDR im Spannungsfeld von Herrschaft und Eigen-Sinn Wie es Orvar Löfgren für die Untersuchung des Urlaubs im Allgemeinen vorschlägt, soll in der vorliegenden Arbeit der Urlaub in der DDR als ein kulturelles Laboratorium verstanden werden, »where people have been able to experiment with new aspects of their identities, their social relations, or their interaction with nature and also to use the important cultural skills of daydreaming and mindtraveling. Here is an arena in which fantasy has become an important social practice.«21 Ich frage daher nicht in erster Linie nach der materiellen Zimmerausstattung, den Transportmöglichkeiten und dem Speiseangebot. Vielmehr verstehe ich den Urlaub als Politikum, als Arena des Aushandelns zwischen Bürgern und Staat. Der Versuch, Urlaub als Politikum zu verstehen, wird vor allem dadurch erschwert, dass die bestehenden theoretischen Zugriffe auf den Tourismus sich meist auf westliche Gesellschaften beziehen. Dabei wird das Politische oftmals ausgeblendet, um den westlichen Tourismus in der Summe als eine in ihren wesentlichen Zügen autonome, vom Staat unabhängige Erscheinung zu begreifen, in der lediglich Touristen und Touristenindustrie als Akteure auftreten.22 Die wenigen theoretischen Reflexionen über Urlaub und Tourismus in Diktaturen verfallen ins Gegenteil, indem sie einen sehr starken, totalitär konnotierten Politikbegriff verwenden. Beispielgebend für spätere Arbeiten konstatierte der Tourismusforscher Claude Kaspar im Jahr 1975, dass im »totalitären Staat […] der Fremdenverkehr den Charakter einer staatlichen und staatspolitischen Angelegenheit annehmen [kann]. Es besteht die Tendenz, den Fremdenverkehr den politischen Zielen unterzuordnen und entsprechend planmässig zu lenken.«23 Der 18 Sommer – Sonne – Nackedeis. FKK in der DDR, zusammengestellt von Thomas Kupfermann, 2., korr. Auflage, Berlin 2008. 19 Vgl. die mehrteilige Dokumentation des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) »Wo der Osten Urlaub machte«, die seit 2004 in unregelmäßigen Abständen produziert wird. 20 So in: Wo der Osten Urlaub machte, 3. Folge: Warnemünde: Fünf Sterne fürs Volk, ein Film von Steffen Schneider, 2004. 21 Orvar Löfgren, On Holiday. A History of Vacationing, Berkeley 1999, S. 7. 22 Vgl. nur Christoph Hennig, Reiselust. Touristen, Tourismus und Urlaubskultur, Frankfurt a.M./Leipzig 1999. 23 Claude Kaspar, Die Fremdenverkehrslehre im Grundriss (St. Galler Beiträge zum Fremdenverkehr und zur Verkehrswissenschaft, Bd. 1), Bern/Stuttgart 1975, S. 47.
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diktatorische Staat wird als alleiniger Akteur ausgemacht. Im paradoxen Gegensatz zum westlichen, scheinbar autonomen Tourismus wird dem Tourismus in den Diktaturen jegliche Eigendynamik abgesprochen und seine Entwicklung gänzlich politischen Entscheidungen zugeschrieben. Die Gründe, warum sich der diktatorische Staat des Tourismus bediene und ihn zum Herrschaftsinstrument forme, gelten schnell als ausgemacht: Jede Herrschaftsordnung, so heißt es im klassischen Referenztext von Max Weber, sei darauf angewiesen, ihre Legitimität zu beweisen, sich stets auf das Neue zu bewähren und damit zu veralltäglichen, wenn sie dauerhaft Aussicht auf Erfolg haben wolle.24 Folglich wird auch dem Tourismus die Funktion zugeschrieben, zur Gewinnung von Legitimation für das jeweilige System beizutragen.25 Explizit schreibt der Tourismuswissenschaftler Jörn W. Mundt, dass sich »die Legitimität politischer Systeme nicht zuletzt auch danach [bemisst], in welchem Ausmaß die in ihnen lebenden Menschen objektiv und subjektiv in die Lage versetzt werden, am Tourismus teilzuhaben«.26 Bestätigt sieht sich Mundt im Falle der DDR: Dass die Reisemöglichkeiten mit der Legitimität eines gesellschaftlichen und politischen Systems in einem engen Zusammenhang stehen, hat die DDR in doppelter Weise erfahren. Zunächst waren sie ein Mittel, Systemakzeptanz und -zufriedenheit zu erhöhen, später war die seit dem Mauerbau im August 1961 sehr stark eingeschränkte Reisefreiheit ein weiterer Sargnagel für ihre Existenz.27
Über diesen legitimatorischen Aspekt hinausgehend, liegt dieser Arbeit die Annahme zugrunde, dass der Urlaub in der DDR nicht a priori politisch war, weil der Staat als Akteur im Sinne eines Urlaubsveranstalters auftrat. Der Urlaub wurde vielmehr politisch »gemacht«. Denn das Handeln des Staates war mit Erwartungen und Ordnungsvorstellungen verbunden, um die facettenreiche Gestalt des Tourismus und seine bisweilen chaotische Struktur in die sozialistische Gesamtkonzeption einzubinden und zu beherrschen. So wurde stets das Primat der Politik und der marxistisch-leninistischen Ideologie für die Gestaltung des Urlaubs hervorgehoben. Staat und Gewerkschaft, die an die Stelle der westlichen Tourismusindustrie traten, organisierten nicht nur die Urlaubsreise, sondern versuchten auch, die Reise im marxistisch-leninistischen Sinne zu normieren.
24 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5., revidierte Auflage, Studienausgabe, Tübingen 1972, S. 122ff. 25 Alon Confino, Tourismusgeschichte Ost- und Westdeutschlands. Ein Forschungsbericht, in: Voyage 2 (1998), S. 145–152, hier S. 148. 26 Jörn W. Mundt, Einführung in den Tourismus, 2. Auflage, München 2001, S. 419. 27 Ebd., S. 93.
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Zugleich aber formulierten die Bürger ihre eigenen Vorstellungen, sodass der Urlaub zu einem problem- und konfliktbeladenen Raum wurde, in dem um unterschiedliche Ordnungsvorstellungen, Symbole und Sinngebungen gerungen werden musste. Denn tatsächlich waren die Vorstellungen der Urlauber nicht identisch mit den Vorstellungen des Staates, der Partei und der Gewerkschaft. Die DDR-Bürger suchten »Urlaub vom Staat« in dem Sinne, dass sie sich dem staatlichen Einfluss wenigstens in den »schönsten« Wochen des Jahres entziehen wollten. Erst so wurde der Urlaub zum Politikum, zur Arena des Aushandelns. Vor diesem Hintergrund wurde in der bisherigen Forschung zum Urlaub in der DDR allzu leichtfertig eine »Nischengesellschaft« unterstellt, in der der Urlaub als Rückzug aus der politischen Sphäre ins Private erscheint.28 Dieser Rückzug ins Private war aber keinesfalls apolitisch, sondern vielmehr integraler Bestandteil des politischen Herrschaftsverhältnisses. Es entstanden interaktive Beziehungen zwischen Herrschenden und Beherrschten, zwischen Prozessen des Gebens und Nehmens, der Aushandlung, der Kompromissfindung und des Lernens – freilich bei asymmetrischer Machtverteilung und mit oftmals nicht intendierten, durchaus überraschenden Folgen.29 Die Geschichte des Urlaubs in der DDR kann folglich nicht die totalitaristische Erzählung von der Allmächtigkeit der Staatsmacht fortschreiben in der Annahme, dass die Intentionen der Mächtigen eins zu eins umgesetzt worden wären und sich die Bürger allenfalls Nischen hätten schaffen können. Was Alf Lüdtke 1998 im Allgemeinen für die weitere historische Rekonstruktion der DDR postulierte, gilt im Besonderen für den Tourismus: Herrschaft und Gesellschaft können »weder als Gegensätze noch als Momente einer Rangordnung« gedacht und analysiert werden.30 Es gilt – wie Christoph Kleßmann und Konrad H. Jarausch betonen –, »zahlreiche Brechungen, Wechselwirkungen, Grauzonen und verschiedene Intensitätsgrade von Herrschaft mit unterschiedlich gefärbten Erfahrungen und Erinnerungen, die das Leben unter der zweiten deutschen Diktatur ausmachten«,31 aufzuzeigen. Daher wird in dieser Arbeit von dem Konzept der »Herrschaft als sozialer Praxis« ausgegangen, das von Alf Lüdtke entworfen, vor allem aber von Thomas Lindenberger profiliert wurde, um die differenziert ausgestalteten Herrschaftsver-
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Zur Nischengesellschaft: Günter Gaus, Wo Deutschland liegt. Eine Ortsbestimmung, Hamburg 1983; vgl. am Beispiel des Campingurlaubs: Judith Kruse, Nische im Sozialismus. 29 Vgl. Lindenberger, Die Diktatur der Grenzen, S. 13–44. 30 Vgl. Alf Lüdtke, Die DDR als Geschichte. Zur Geschichtsschreibung über die DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B36/1998, S. 3–16. 31 Christoph Kleßmann/Konrad H. Jarausch, Herrschaftsstrukturen und Erfahrungsdimensionen der DDR-Geschichte, in: Lindenberger (Hg.), Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur, S. 11–12, hier S. 11.
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hältnisse zu beschreiben.32 Den Ausgangspunkt dieses Konzeptes stellen die Ausführungen von Max Weber dar, der Herrschaft idealtypisch als ein asymmetrisches Machtverhältnis beschreibt, das institutionell gefasst, durch Zwangsmittel gesichert und in modernen Gesellschaften ideologisch legitimiert ist.33 Als Machtverhältnis ist Herrschaft von der wechselseitigen Abhängigkeit von »Herrschenden« und »Beherrschten« geprägt. Herrschaft ist »immer auch Interaktion« und kann »dauerhaft nur als solche existieren«.34 Auch in einem diktatorischen Herrschaftsverhältnis, wie es sich in der DDR ausprägte, sind die »Beherrschten« nicht nur Objekte der Herrschaft, die in ihrer Passivität gefangen sind. Denn alle Beteiligten, so betont Lindenberger in Anlehnung an Foucault, sind »in der einen oder anderen Weise mit Macht ausgestattet, und wenn es ›nur‹ die von Zustimmen und Gehorchen oder von Schweigen, Sich-Verweigern oder Widersprechen ist«.35 Diese Verhaltensweisen erfordern eine eigene Aktivität, eine »Beteiligung der Herrschaftsunterworfenen als Subjekte«.36 Jenseits der Kontroll- und Repressionsmechanismen sind in der DDR durch eine solche Akzentuierung des Blickes auf Herrschaft als soziale Praxis auch im Urlaub eine Vielfalt informeller und indirekter Formen der Herrschaft auszumachen, mit unterschiedlicher Ausgestaltung an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten.37 Zur Beschreibung eines solchen Herrschaftsverhältnisses ist es zudem notwendig, auch die deutenden und sinnproduzierenden Aspekte individuellen und kollektiven Handelns in sozialen Beziehungen zu erfassen, wofür Thomas Lindenberger den wiederum ursprünglich von Alf Lüdtke geprägten Begriff des »Eigen-Sinns« verwendet.38 Der Begriff »Eigen-Sinn« zielt auf »Aneignungen und Deutun32 Alf Lüdtke, Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis, in: ders. (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 2001, S. 9–63; Lindenberger, Die Diktatur der Grenzen, S. 21ff. 33 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28ff. und S. 122ff.; vgl. auch Petra Neuenhaus, Max Weber. Amorphe Macht und Herrschaftsgehäuse, in: Peter Imbusch (Hg.), Macht und Herrschaft. Sozialwissenschaftliche Konzeptionen und Theorien, Opladen 1998, S. 77–93. 34 Lindenberger, Die Diktatur der Grenzen, S. 22. 35 Ebd.; vgl. Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Erster Band: Der Wille zum Wissen, übers. v. Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt a.M. 1983, S. 113ff.; Ulrich Brieler, Foucaults Geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), H. 2, S. 248–282, bes. S. 271. 36 Lindenberger, Die Diktatur der Grenzen, S. 22. 37 Vgl. hierzu die Fallstudien im Sammelband der Projektgruppe um Thomas Lindenberger am ZZF im bereits zitierten Sammelband: Lindenberger (Hg.), Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. 38 Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitserfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993; ders., Geschichte und Eigensinn, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 139–153.
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gen von Herrschaftsstrukturen«.39 Eigen-Sinn als Kategorie zur Beschreibung der DDR-Gesellschaft zu nutzen, bedeutet also, danach zu fragen, wie die DDR-Bürger die Herrschaftsordnung deuteten und welchen Sinn sie ihr zuschrieben. Der Blick richtet sich auf die Aushandlungsprozesse zwischen Bürgern und Staat, in denen sich schließlich die ursprünglich überaus ideologischen Formungen des Urlaubs verloren. Sie machten auch in der DDR einem modernen Massentourismus Platz. Tourismus in der DDR zwischen Eskapismus, Sozialismus und Erlebnis Die Auseinandersetzungen um den Urlaub in der DDR entwickelten sich zu einem guten Teil daraus, dass grundsätzlich unterschiedliche Deutungen darüber bestanden, was den Urlaub ausmache und welche Zwecke mit ihm verbunden seien. Der bis heute wichtigste und einflussreichste Entwurf einer Theorie, die nach Sinn und Zweck des Tourismus fragt, stammt von einem Außenseiter. 1958 legte Hans Magnus Enzensberger einen vieldiskutierten Essay zur Theorie des Tourismus vor. Enzensberger appellierte an die Historiker, eine neue Geschichtsschreibung zu schaffen, und nahm damit zugleich am Beispiel des Tourismus alltagsgeschichtliche Konzeptionen vorweg, die sich erst in den folgenden Jahrzehnten entwickeln sollten: In den eineinhalb Jahrhunderten seines Daseins hat der Tourismus die Aufmerksamkeit der Historiker nicht auf sich ziehen können. Seine Geschichte ist immer noch nicht geschrieben. Zwar hat sich die Einsicht durchgesetzt, daß Historie sich nicht allein zu Hofe, auf dem Schlachtfeld, in Kabinetten und Generalstäben abspielt, doch hat sich der Schematismus der Hofhistoriographie weithin auf die Kultur- und Geistesgeschichte, die seine Durchbrechung im Sinne hatte, übertragen. Voltaire ist neben Friedrich den Großen getreten, aber er fungiert wie dieser als historisches Versatzstück, das vor die Wirklichkeit gestellt wird. Wir haben eine Geschichte von Völkern. Die der Leute ist noch immer nicht geschrieben; deshalb fehlt es dem Tourismus, der eine Sache der Leute ist, an historischer Verständigung über sich selbst.40
Bald fünfzig Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen der »Theorie des Tourismus« von Hans Magnus Enzensberger ist dieser zwanzigseitige Essay, mit dem der »zornige junge Mann«41 die Grundlage für eine theoretische Diskussion des Tourismus legte, noch immer die »prägnanteste Leitlinie einer historischen
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Lindenberger, Die Diktatur der Grenzen, S. 23ff. Hans Magnus Enzensberger, Vergebliche Brandung der Ferne. Eine Theorie des Tourismus, in: Merkur 12 (1958), H. 8, S. 701–720; wiederabgedruckt unter dem verkürzten Titel: Eine Theorie des Tourismus, in: ders., Einzelheiten I, Frankfurt a.M. 1962, S. 147–168. 41 Alfred Andersch, Dort ist ein Feuer. Hans Magnus Enzensberger, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 10, hg. v. Dieter Lamping, Zürich, 2004, S. 170.
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Urlaub vom Staat
Tourismusforschung in Deutschland«.42 Der Tourismus speise sich – so schreibt Enzensberger in seiner »Theorie des Tourismus« – aus dem Verlangen nach dem Glück der Freiheit. Dieses Verlangen gehe aus der industriellen Gesellschaft hervor, ohne Befriedigung in dieser Gesellschaft zu finden.43 Der Tourismus sei »ersonnen« worden, »um seine Anhänger von der Gesellschaft zu erlösen«.44 Angetrieben werde er vom »Fernweh nach der Freiheit«, worin sich letztlich die Kritik an der Zivilisation ausdrücke, da sich die Menschen die Natur als Ziel suchten: »Die Flut des Tourismus ist eine einzige Fluchtbewegung aus der Wirklichkeit, mit der unsere Gesellschaftsverfassung uns umstellt. Jede Flucht aber, wie töricht, wie ohnmächtig sie sein mag, kritisiert das, wovon sie sich abwendet.«45 Sogar vom »neuen Menschenrecht, sich von der eigenen Zivilisation in der Ferne zu befreien«, ist bei Enzensberger zu lesen.46 Zugleich aber weist Enzensberger mehrfach darauf hin, dass der Fluchtversuch stets scheitern müsse, und begründet dies mit der Industrialisierung des Reisens, die sich seit dem 19. Jahrhundert vollziehe und ihren prägnantesten Ausdruck in der Pauschalreise finde: »Die Befreiung von der industriellen Welt hat sich selbst als Industrie etabliert, die Reise aus der Warenwelt ist ihrerseits zur Ware geworden.«47 Die industrielle Gesellschaft habe damit die Flucht aus dieser Gesellschaft internalisiert. Das »Fernweh nach der Freiheit« sei »von der Gesellschaft, vor der es floh, in ihre Zucht genommen worden«.48 Auch im Urlaub könne der Tourist seiner Gesellschaft nicht entfliehen: Er wisse »im Grunde von der Vergeblichkeit seiner Flucht« und durchschaue »das betrügerische Wesen einer Freiheit, die ihm von der Stange verkauft wird«.49 Die Tourismusindustrie habe die Reisenden daran gewöhnt, »Freiheit als Massenbetrug hinzunehmen, dem wir uns anvertrauen, obschon wir ihn insgeheim durchschauen«. Und so schließt Enzensberger mit der Feststellung: »Indem wir auf die Rückfahrkarte in unserer Tasche pochen, gestehen wir ein, daß Freiheit nicht unser Ziel ist, daß wir schon vergessen haben, was sie ist.«50 Konse-
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Cord Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus. Ansätze zu einer Visual History: Urlaubsprospekte, Reiseführer, Fotoalben 1950–1990, Hamburg 2003, S. 16; ders., Neue Ansätze für die Tourismusgeschichte. Ein Literaturbericht, in: Archiv für Sozialgeschichte 38 (1998), S. 591–619, hier S. 591. 43 Enzensberger, Vergebliche Brandung in der Ferne. Eine Theorie des Tourismus, S. 720. 44 Ebd., S. 715. 45 Ebd., S. 719. 46 Ebd., S. 711. 47 Ebd., S. 713. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 719. 50 Ebd., S. 720.
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quent zu Ende gedacht bedeutet dies, dass in einer wirklich freien Gesellschaft kein Grund zur Flucht und keine Notwendigkeit für den Tourismus mehr bestehen. Im umfangreichsten tourismustheoretischen Ansatz der 1990er-Jahre schlägt Christoph Hennig eine andere, weit weniger normative Akzentuierung bei der Betrachtung des Tourismus vor. Im Anschluss an die Überlegungen des Soziologen Erwin K. Scheuch, der den Urlaub als eine Suche nach »Distanz zur gewohnten Umgebung« beschreibt,51 konstatiert Hennig, der Tourismus stelle »eines der wirksamsten Mittel dar, der eingespielten sozialen Ordnung vorübergehend zu entkommen – nicht in blinder Flucht, sondern als produktive menschliche Leistung, die neue Erfahrungen ermöglicht«.52 Die Abgrenzung zu Enzensberger wirkt freilich etwas gekünstelt. Und so weist Cord Pagenstecher zu Recht darauf hin, dass hier weniger eine Widerlegung als eine Präzisierung der Flucht-These zum Ausdruck komme, wenn man den Fluchtbegriff »seines negativen Odiums« entkleide.53 Dennoch ermöglicht das Postulat, Urlaub als produktive Leistung zu begreifen, andere Aspekte des Urlaubs in den Blick zu nehmen, die bei Enzensberger nicht deutlich werden. So hebt Hennig hervor, dass während der Urlaubsreise die sozialen Beziehungen der Alltagswelt durch andere soziale Beziehungen ersetzt werden, die sich im Urlaub ergeben. Neue Gesetzmäßigkeiten im sozialen Verhalten treten hervor.54 Die Vorstellung vom Urlaub als Ausnahmesituation mit einer neuen sozialen Ordnung führt Hennig schließlich zum Kernpunkt seines tourismustheoretischen Ansatzes, nämlich den Urlaub als Fest, Spiel und Ritual zu betrachten.55 Mit Nachdruck verweist Hennig dabei auf die strukturellen Ähnlichkeiten und Parallelen zwischen Tourismus und Religion. Dem Tourismus gelinge es, wie dem religiösen Ritual, dem Fest, dem Spiel und den religiösen Veranstaltungen nicht unähnlich gestalteten Sportereignissen, das Ausgeschlossene, das Verbotene und Unterdrückte zugänglich zu machen: Das Nicht-Alltägliche taucht immer wieder auf. Und es wird immer wieder auch physisch gelebt. In den traditionellen Gesellschaften war das vor allem in Festen und religiösen Ritualen der Fall. Die römischen Saturnalien, die mittelalterlichen Narrenfeste, 51
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Erwin K. Scheuch/Gerhard Scherhorn, Freizeit – Konsum (Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 11), 2. Auflage, Stuttgart 1977, S. 145; vgl. auch Erwin K. Scheuch, Ferien und Tourismus als neue Form der Freizeit, in: ders./Rolf Meyersohn (Hg.), Soziologie der Freizeit, Köln 1972, S. 304-317, hier S. 309. Hennig, Reiselust, S. 73. Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus, S. 22; vgl. auch Dieter Kramer, Aspekte der Kulturgeschichte des Tourismus, in: Zeitschrift für Volkskunde 78 (1982), S. 1–12, hier S. 4ff. Hennig, Reiselust, S. 43ff. Ebd., S. 74ff. u. S. 91ff.; vgl. Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M. 1989.
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Urlaub vom Staat
der Karneval brachten eine vorübergehende »Umwertung der Werte«, eine Aufhebung elementarer Normen mit sich. Heute hat das Reisen wesentliche Funktionen solcher Feste übernommen.56
Es entbehrt nicht eines gewissen Reizes, diese beiden für westliche Gesellschaften entwickelten Theorien in Bezug zu den Überlegungen zu setzen, die in der DDR entstanden.57 Schon sprachlich wird eine bemerkenswerte Differenz zwischen den ost- und westdeutschen Bezeichnungen deutlich. Grundsätzlich sprach man in der DDR vom »Erholungsaufenthalt«, womit der bei Enzensberger völlig vernachlässigte rekreative Charakter des Tourismus betont wird. »Erholungsaufenthalt« hebt schließlich das Stationäre, das Sichere hervor, während der westliche Begriff der »Urlaubsreise« die Bewegung weg vom Alltag beschreibt. So ist der Urlaub als Erholungsaufenthalt auch begrifflich in die harmonistische Grundüberzeugung der DDR eingebunden, die in der propagierten freien, besseren sozialistischen Gesellschaft den bloßen Gedanken an die Notwendigkeit einer Flucht aus dem Alltag stets verneinte. Man rezipierte Enzensbergers Ausführungen in der DDR daher nur hinsichtlich seiner Kapitalismuskritik.58 Im Gegensatz zur westlichen »Realität« wurde in der DDR die Dichotomie von Arbeit und Reproduktion der Arbeitskraft verneint. In Anlehnung an Karl Marx und Friedrich Engels wurde behauptet, dass im Sozialismus Arbeit und Reproduktion der Arbeitskraft zu einer harmonischen Einheit
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Christoph Hennig, Der Wunsch nach Verwandlung. Über den Zusammenhang von Religion und Reisen, in: ders., Der Wunsch nach Verwandlung. Mythen des Tourismus (Beiträge zur Verleihung des Bad Herrenalber Akademiepreises 2000), hg. v. der Evangelischen Akademie Baden und dem Freundeskreis der Evangelischen Akademie Baden e.V., Karlsruhe 2001, S. 9–25. Vgl. zum Zusammenhang von Religion und Sport: Paul Jakobi/HeinzEgon Rösch (Hg.), Sport und Religion (Christliche Perspektiven im Sport, Bd. 8), Mainz 1986; Fabien Grœninger, Sport, religion et nation: la fédération gymnastique et sportive des patronages de France; de l‘apogée à la remise en question (1914–1950), Montpellier, Univ., Diss., 2003. Dabei muss betont werden, dass der Begriff »Flucht« von Enzensberger nur im übertragenen Sinne gemeint ist und nur so in Bezug zur DDR gesetzt werden kann, will man nicht die tatsächlichen und oftmals tödlichen Fluchtversuche an der deutsch-deutschen Grenze verharmlosen. Vgl. Edith Kresta, Die Flucht ins Andere, in: Hans-Peter Burmeister (Hg.), Auf dem Weg zu einer Theorie des Tourismus (Loccumer Protokolle, 5/98), Loccum 1998, S. 11–20, hier S. 12. Wolfgang Bagger, Einleitung, in: Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung, Nr. 24: Tourismus, Berlin 1988, S. 5–45, vor allem S. 6ff.
Einleitung: Tourismus und Utopieverlust
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zusammenfänden.59 »Wir flüchten nicht aus den Städten in die Natur«, schreibt Hermann Kähler 1959 wohl nicht zufällig, ein Jahr nachdem die Skizze von Enzensberger in Westdeutschland erschienen war. Im Gegensatz zur kapitalistischen Welt, in welcher der Tourismus die Flucht aus der Gesellschaftsordnung vorgaukle, werde im Sozialismus »die Einheit des Menschen mit seinem Leben, mit seiner Gesellschaft, seiner Arbeit und auch der Natur, der Landschaft« hergestellt.60 Ganz in diesem Sinne beantwortet Kähler die von ihm aufgeworfene Frage »Kennen wir Sehnsucht?« mit der Feststellung: Und auch wir kennen die Sehnsucht! Die Sehnsucht nach einer immer engeren Harmonie unseres Lebens in Gesundheit, Schönheit, Freiheit und Vernunft, die Sehnsucht nach einer Welt ewigen Friedens und schöpferischer Arbeit, die unseren Planeten Erde so gestaltet, daß sich der Mensch wahrhaft wohl auf ihm fühlt und ihm das Leben ein Genuß ist.61
Das Recht der Arbeiter auf Urlaub sei schließlich erst im »Staate der Arbeiter und Bauern« verwirklicht worden.62 Auch die materiellen Voraussetzungen für den Arbeiterurlaub seien erst im Sozialismus geschaffen worden, sodass der Feriendienst zum »sichtbare[n] Ausdruck unseres Arbeiter- und Bauernstaates« werde.63 Pikanterweise bezog man sich dabei auf einen Artikel Lenins aus dem Jahre 1913, in dem sich der russische Revolutionär mit frühen Urlaubsregelungen in Deutschland befasst hatte.64 Die Tatsache, dass sich die Zeiten geändert hatten und sich auch in der Bundesrepublik der Massentourismus etablierte, wurde ausgeblendet. Derart ideologisiert blieb der Erholungsaufenthalt eingebunden in die sozialistische Gesellschaftsordnung. Der »reisende Arbeiter« wird zum stets wiederkehrenden Topos – nicht als soziologisches Faktum, sondern als symbolische Figur. Mit Ritualen, beispielsweise den »Roten Ecken« in den Ferienheimen oder der Benennung der Heime nach Arbeiterführern, wurden diese Mythen des »Arbeiter- und Bauernstaates« bekräftigt. Von der Auswahl der Urlauber, dem Begrüßungsabend 59
Karl Marx, Das Kapital, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, hg. v. Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED, Bd. 1, Berlin 1959, S. 240; Friedrich Engels, Einleitung [zu Karl Marx, »Lohnarbeit und Kapital, Ausgabe 1891], in: ebd., Bd. 6, Berlin 1961, S. 599. 60 Hermann Kähler, Sehnsucht?, in: Unterwegs 3 (1959), H. 5, S. 1. 61 Ebd. 62 Zit. nach: Lektion: Der Feriendienst der Gewerkschaften – eine Errungenschaft der Arbeiterund Bauernmacht, 1955, S. 14, SAPMO-BArch DY 34/15838. 63 SAPMO-BArch, DY 34/29/480/3663, Feriendienst der Gewerkschaften [handschriftlich: »Analys. Energie!«], Berlin, den 9. 11. 1954, S. 1. 64 Der 1913 in der »Prawda« erschienene Artikel wurde 1955 in deutscher Übersetzung in der »Einheit« wiederabgedruckt: Wladimir Lenin, Über den Urlaub der Arbeiter, in: Einheit 10 (1955), H. 6, S. 555–556.
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Urlaub vom Staat
bis hin zum gemeinsamen Essen als eine Art Hochamt wurde in den Ritualen des Urlaubs auf die Vergemeinschaftung der Urlauber abgezielt. Durch diese Rituale wurde versucht, im Urlaub eine sozialistische Ordnung zu etablieren. Der Utopie des Sozialismus sollte damit nicht weniger als ein Ort in der Gegenwart gegeben werden. Das eingangs zitierte Beispiel der jungen Waise legt von der utopischen Auffassung eines harmonischen Urlaubserlebnisses ein beredtes Zeugnis ab. Die einleitend erwähnte Fahrt der Waise trägt nicht die Züge einer Flucht. Das 16-jährige Mädchen scheint vielmehr nach ihrem Urlaub angekommen zu sein – im Sozialismus. Die Wirkung der »propagandistisch-strategischen Instrumentalisierung« von Mythen und Ritualen ist jedoch begrenzt.65 Die Nichterfüllung der Versprechen, die oftmals unzulängliche Ausstattung und der permanente Mangel an Ferienplätzen ließen die Mythen und ihre Rituale verblassen. 1989 wurde unmissverständlich deutlich, dass sie keine Revitalisierungskraft mehr besaßen. Gleichwohl war etwas Neues entstanden. Denn auch in der DDR hatten sich längst frühe Formen dessen herausgebildet, was Gerhard Schulze Anfang der 1990erJahre als »Erlebnisgesellschaft« bezeichnet hat.66 In der Tourismuswissenschaft wurde der Gedanke der Erlebnisgesellschaft zwar aufgegriffen, er konnte sich jedoch bisher nicht in der historischen Arbeit durchsetzen.67 Die Erlebnisgesellschaft erscheint als ein Phänomen der Gegenwart. Und doch hat auch die Erlebnisgesellschaft ihre Geschichte, wenn man – mit Gerhard Schulze – diesen Begriff nicht als »Wesensbestimmung der Gegenwartsgesellschaft«, sondern als »ein graduelles Prädikat« versteht, »das die im historischen und interkulturellen Vergleich relativ große Bedeutung von Erlebnissen für den Aufbau der Sozialwelt« herausstellt.68 Die so definierte Erlebnisgesellschaft ist geprägt durch ihre »Erlebnisorientierung«, die Schulze als »unmittelbarste Form der Suche nach Glück« bezeichnet. Wie zu zeigen ist, führte diese Erlebnisorientierung der Urlauber in der DDR zu einem Widerspruch mit der Ideologisierung und Politisierung des Feriendienstes. Denn die von Schulze getroffene, soziologische Unterscheidung zwischen Außenund Innenorientierung des menschlichen Handelns69 spiegelte sich in der DDR gerade an der oben beschriebenen Konfliktlinie zwischen der Ideologisierung des 65 Christoph Classen, Faschismus und Antifaschismus. Die nationalsozialistische Vergangenheit im ostdeutschen Hörfunk (1945–1953) (Zeithistorische Studien, Bd. 27), Köln/Weimar/ Wien 2004, S. 43. 66 Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M./ New York 1992. 67 Vgl. Horst W. Opaschowski, Kathedralen des 21. Jahrhunderts. Erlebniswelten im Zeitalter der Eventkultur, Hamburg 2000. 68 Schulze, Erlebnisgesellschaft, S. 15. 69 Ebd., S. 36ff.
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Urlaubs durch Partei, Staat sowie Gewerkschaft einerseits und den Wünschen und Vorstellungen der Bürger andererseits wider. Das Erlebnis, das die Bürger suchten, musste in der Gegenwart zu finden sein, es konnte sich nicht in einem auf die Zukunft ausgerichteten Versprechen vollziehen, das der sozialistische Staat ihnen gab. So entstand zwischen Zukunftsversprechen des Sozialismus und Gegenwartsorientierung der DDR-Bürger eine spezifische Form des Urlaubs, deren Genese und Ausprägung Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist. Untersuchungsgegenstand und Gliederung Da der Urlaub in der DDR eine eigene Dynamik entwickelte, erstreckt sich der Untersuchungszeitraum von den ersten Urlaubsreisen auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), die schon unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder aufgenommen wurden, bis zum Zeitpunkt des Untergangs der DDR, als mit dem Staat auch die spezifischen Urlaubsformen verschwanden, die sich während des vierzigjährigen Bestehens der DDR herausgebildet hatten. Im Laufe dieser Zeitspanne sind Kontinuitäten und Veränderungen zu verzeichnen, deren Wahrnehmung nicht möglich wäre, würde sich die Untersuchung, wie oftmals in der Geschichtsschreibung zur DDR üblich, ausschließlich auf die Zeit Walter Ulbrichts oder die Ära Honecker beschränken. Gerade durch die Bearbeitung eines langen Untersuchungszeitraums werden die unterschiedlichen Ausprägungen des Urlaubs und seine Veränderungen erfasst – von den Ferien in der »stalinistischen« Ära, die nur einer kleinen Zahl von DDR-Bürgern möglich waren und doch den Aufbruch zum Sozialismus zu verkünden schienen, bis zum sozialistischen Massentourismus, der sich nur noch wenig von den im Westen zu beobachtenden Erscheinungsformen des Tourismus unterschied. Da die Geschichte des Tourismus in der DDR eng mit der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung verbunden ist, folgt das erste Kapitel dieser Untersuchung der Periodisierung, die sich in der DDR-Geschichtsschreibung durchgesetzt hat. Beginnend mit den ersten Tagen nach dem Kriegsende werden die Jahre bis zum Mauerbau 1961, die sechziger Jahre bis zum Machtantritt Erich Honeckers im Jahre 1971 und schließlich die 1970er- und 1980er-Jahre beleuchtet. Der letzte Abschnitt beschreibt schließlich die Zeit vom Mauerfall bis zur Auflösung des Feriendienstes. Gleichwohl macht der lange Untersuchungszeitraum und das beschriebene Erkenntnisinteresse eine Beschränkung des Untersuchungsgegenstandes notwendig. Im Mittelpunkt des ersten Kapitels steht das staatlich organisierte Erholungswesen, namentlich der FDGB-Feriendienst, bei dem sich die genannten Spannungen anhand der umfangreichen FDGB-Überlieferung bei der »Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO)« nachvollziehen lassen. Aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Arbeit erfolgt keine
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Urlaub vom Staat
detaillierte Untersuchung anderer Reiseformen – namentlich der Individualreisen, da dies zwangsläufig bedeutet hätte, andere Fragestellungen zu verfolgen, andere Quellen zu nutzen und ein anderes Forschungsdesign zu wählen. Alternativen zum FDGB-Feriendienst werden daher nur insoweit skizzenhaft berücksichtigt, als dass die Tatsache ihrer Existenz eine Möglichkeit von vielen für die DDR-Bürger darstellte, sich im genannten Spannungsfeld zu positionieren. Diese Reisen stellten durchaus eigen-sinnige Antworten auf die ideologischen Ordnungsvorstellungen dar. Die Kapitel II und III verfolgen einen akteursbezogenen Ansatz. Denn es sind immer Menschen, die in den Institutionen wirken und handeln. Weiterhin stehen die politisch-ideologischen Konnotationen und Implikationen des staatlichen Urlaubs und der Eigen-Sinn der Bürger im Mittelpunkt der Betrachtungen. Zunächst gehe ich daher der Frage nach, wer gereist ist und wie die Reisen verteilt wurden. Im Anschluss wird die zentrale Denkfigur des »reisenden Arbeiters« im Sozialismus diskutiert. Hieran schließen sich die Untersuchungen des Familien- sowie des Kinderund Jugendurlaubs an. Danach stehen die Mitarbeiter des Feriendienstes im Mittelpunkt: Welche Rollen waren den Heimleitern und Mitarbeitern zugedacht und welche spielten sie dann tatsächlich im politisch durchdrungenen Erholungswesen der DDR? Im abschließenden Kapitel untersuche ich den Raum des Urlaubs und gehe der Frage nach, wie die DDR als Urlaubsland erfunden wurde bzw. wie sie sich in einem Prozess der »gesellschaftlichen Konstruktion« zum Urlaubsland entwickelte. Diese Frage stellt sich für die DDR besonders eindringlich. Denn die Wege in den Westen waren verstellt und die Reisen in das östliche Ausland teuer und umständlich. So musste die DDR für die Mehrheit ihrer Bürger zum Reiseland werden. Sie hatten keine Wahl und wollten gerade deshalb nicht enttäuscht werden.
I. Die Geschichte des FDGB-Feriendienstes 1. Von der Gründung bis zum Mauerbau (1947–1961) Überkommene Traditionen und erste Urlaubsregelungen nach 1945 Die Zahl der Berichte und Untersuchungen über die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ist Legion. Nach zwölf Jahren Nationalsozialismus und sechs Jahren Krieg blickte die »Zusammenbruchgesellschaft« (Christoph Kleßmann) auf Millionen Tote, auf Flucht, Vertreibung und Aussiedlung, auf Zerstörungen durch Kampfhandlungen, durch Selbstzerstörung in den letzten Kriegsmonaten und durch Demontagen der Siegermächte. Die Ernährungslage war katastrophal, Hunger und Krankheiten grassierten. Der Schwarzmarkt blühte. Es mangelte an Wohnungen und Arbeitsplätzen. Die Infrastruktur war stark beschädigt.1 Die Arbeitsproduktivität war weit unter das Vorkriegsniveau gesunken. Bei einer breiten Masse der Bevölkerung lag der Lebensstandard unter dem physiologischen Existenzminimum.2 Die Abmilderung akuter Notlagen und die Lösung von Alltagsproblemen waren daher die dringendsten Aufgaben in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die politische Agenda war gänzlich von der »Bewältigung der unmittelbaren Diktatur- und Kriegsfolgen«
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Vgl. die umfangreiche Literatur zur Situation nach dem Zweiten Weltkrieg: Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955 (Bundeszentrale für politische Bildung. Studien zur Geschichte und Politik, Bd. 298), 5., überarb. u. erw. Auflage, Bonn 1991, S. 37ff.; Alexander von Plato/Almut Leh, »Ein unglaublicher Frühling«. Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland 1945–1948, hg. v. der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1997; Marcel Boldorf, Sozialfürsorge in der SBZ/DDR 1945–1953. Ursachen, Ausmaß und Bewältigung der Nachkriegsarmut (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte Nr. 138), Stuttgart 1998, S. 19ff.; Udo Wengst, Sozialpolitische Denk- und Handlungsfelder, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. II/1: Die Zeit der Besatzungszonen 1945–1949. Sozialpolitik zwischen Kriegsende und Gründung zweier deutscher Staaten, hg. v. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Baden-Baden 2001, S. 77–149, hier S. 81ff.; Friederike Sattler, Wirtschaftsordnung im Übergang. Politik, Organisation und Funktion der KPD/ SED im Land Brandenburg bei der Etablierung der zentralen Planwirtschaft in der SBZ/ DDR 1945–52 (Diktatur und Widerstand, Bd. 5), Teilband 1, Münster 2001, S. 106ff.; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Vierter Band: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München 2003, S. 939ff.; André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, München 2004, S. 19ff.; Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004, S. 60ff. Boldorf, Sozialfürsorge, S. 19.
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Die Geschichte des FDGB-Feriendienstes
bestimmt.3 Nichts schien ferner zu liegen als der Gedanke an Urlaub. In den Materialien zum Geschäftsbericht 1947 des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) lässt sich nachlesen: Der Zusammenbruch zwang die Arbeiter und Angestellten zum völligen Verzicht auf den bescheidensten Urlaubsanspruch. Unbeirrt und unverdrossen setzten sie ihre Arbeitskraft ein, um das Leben in geordnete Bahnen zu lenken. Sie taten das, ohne zunächst nach Bezahlung oder Urlaub zu fragen. Dieser stillschweigende Verzicht war die Voraussetzung für die Ingangsetzung der lebensnotwendigen Produktion, die Durchführung der Enttrümmerung, den Aufbau des lebenswichtigen Transport- und Verkehrswesens und die Sicherung der Ernährung.4
Dass der »stillschweigende Verzicht auf den bescheidensten Urlaubsanspruch« aber überhaupt betont wurde, legt nahe, wie wenig selbstverständlich dieser Verzicht auch angesichts der Nachkriegskatastrophe war. Tatsächlich konnten die neuen Machthaber in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) die Entwicklung nicht ignorieren, welche die Erholungsreise schon vor dem Zweiten Weltkrieg zum Bestandteil des Lebensstils immer breiterer Bevölkerungsschichten gemacht hatte.5 Traditionsstiftend waren die bürgerlichen Reisen und der Aufenthalt in der Sommerfrische im 19. Jahrhundert, die Wanderungen und Ausflüge der »Naturfreunde« und der »Wandervögel« sowie die Jugendherbergsbewegung.6 Auch Arbeitervereine und Gewerkschaften hatten bereits am Ende des 19. Jahrhunderts 3
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Beatrix Bouvier, Die DDR – ein Sozialstaat? Sozialpolitik in der Ära Honecker (Veröffentlichungen des Instituts für Sozialgeschichte), Bonn 2002, S. 45; Udo Wengst, Sozialpolitische Denk- und Handlungsfelder, S. 81f. Vgl. auch Johannes Frerich/Martin Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Bd. 2: Sozialpolitik in der Deutschen Demokratischen Republik, München 1993, S. 12ff. SAPMO-BArch, DY 34/27779, Einheitliche Regelung der Urlaubsfrage [Material für den Geschäftsbericht 1947], S. 1. Vgl. hierzu die Gesamtdarstellungen zur Tourismusgeschichte: Hans-Joachim Knebel, Soziologische Strukturwandlungen im modernen Tourismus, Stuttgart 1960; Hasso Spode, Wie die Deutschen »Reiseweltmeister« wurden. Eine Einführung in die Tourismusgeschichte, Erfurt 2003; Rüdiger Hachtmann, Tourismus-Geschichte, Göttingen 2007; Peter J. Brenner (Hg.), Reisekultur in Deutschland. Von der Weimarer Republik zum »Dritten Reich«, Tübingen 1997; Hermann Bausinger/Klaus Beyrer/Gottfried Korff (Hg.), Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München 1991. Vgl. auch den Forschungsüberblick: Christoph Kopper, Neuerscheinungen zur Geschichte des Reisens und des Tourismus, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 665–677. Vgl. zur Geschichte dieser Bewegungen, die sich zum Ende des 19. Jahrhunderts im Rahmen der Jugend- bzw. Arbeiterbewegung herausbildeten: Wolfgang Bagger, Arbeiterkultur und Arbeitertourismus im Kaiserreich, in: Hasso Spode (Hg.), Zur Sonne, zur Freiheit! Beiträge zur Tourismusgeschichte, Berlin 1991, S. 33–46; Hachtmann, TourismusGeschichte, S. 101ff.
Von der Gründung bis zum Mauerbau (1947–1961)
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begonnen, Ausflüge und kürzere Reisen für Arbeiter zu veranstalten. Schon 1909 hatte der Bund der technischen Angestellten in Sondershausen ein Ferienhaus für seine Mitglieder errichtet, das zum Modell zahlreicher gewerkschaftseigener Heime wurde, die nach dem Ersten Weltkrieg entstanden.7 Nachdem die Gewerkschaften in der Weimarer Republik erste Urlaubsansprüche in den Tarifverträgen durchgesetzt hatten, konnten längere Fahrten unternommen werden.8 Indem Gewerkschafts- und Volkshäuser zu Fremdenheimen und Hotels wurden, entwickelte sich in den folgenden Jahren eine »proletarische« touristische Infrastruktur. 1932 existierten nach der Zählung von Christine Keitz 82 Ferienheime für Arbeiter in Deutschland.9 Trotz ihres quantitativ eher geringen Anteils stellten die propagandistisch sehr erfolgreichen, oft zitierten Fahrten und Reisen mit der sogenannten NS-Gemeinschaft »Kraft durch Freude« (KdF) im nationalsozialistischen Deutschland eine weitere Traditionslinie dar.10 In der DDR wurde diese Tradition natürlich nicht diskutiert, gleichwohl blieb die KdF durchaus im Gedächtnis der Menschen präsent.11 7
Hans Krumbholz, Zur Geschichte des Sozialtourismus. Die Anfänge der gewerkschaftlichen Ferieneinrichtungen, in: Zur Sonne, zur Freiheit!, S. 61–70, hier S. 63. 8 Jürgen Reulecke, Vom blauen Montag zum Arbeiterurlaub. Vorgeschichte und Entstehung des Erholungsurlaubs für Arbeiter vor dem Ersten Weltkrieg, in: Archiv für Sozialgeschichte 16 (1976), S. 205–249, hier S. 238. 9 Christine Keitz, Organisierte Arbeiterreisen und Tourismus in der Weimarer Republik. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung über Voraussetzung und Praxis des Reisens in der Arbeiterschicht, Diss. Berlin 1992 (maschinenschriftliches Exemplar in der Bibliothek des Friedrich-Meinecke-Instituts der Freien Universität Berlin). Die Dissertation ist stark gekürzt erschienen: Christine Keitz, Reisen als Leitbild. Die Entstehung des modernen Massentourismus in Deutschland, München 1997. Vgl. auch: dies., Grundzüge einer Sozialgeschichte des Tourismus in der Zwischenkriegszeit, in: Brenner (Hg.), Reisekultur in Deutschland, S. 49–71. 10 Vgl. zur KdF: Wolfhard Buchholz, Die nationalsozialistische Gemeinschaft »Kraft durch Freude« – Freizeitgestaltung und Arbeiterschaft im Dritten Reich, Diss., München 1976; Hasso Spode/Albrecht Steinecke, Die NS-Gemeinschaft »Kraft durch Freude« – Ein Volk auf Reisen?, in: Spode (Hg.), Zur Sonne, zur Freiheit!, S. 79–93; Hasso Spode, »Der deutsche Arbeiter reist«. Massentourismus im Dritten Reich, in: Gerhard Huck (Hg.), Sozialgeschichte der Freizeit. Untersuchungen zum Wandel der Alltagskultur in Deutschland, Wuppertal 1982, S. 281–306; ders., Arbeiterurlaub im Dritten Reich, in: Carola Sachse u.a. (Hg.), Angst, Belohnung, Zucht und Ordnung. Herrschaftsmechanismen im Nationalsozialismus, Opladen 1982, S. 275–328; Bruno Frommann, Reisen im Dienste politischer Zielsetzungen. Arbeiter-Reisen und »Kraft-durch-Freude«-Fahrten, Stuttgart 1992; Shelley Baranowski, Strength through Joy. Consumerism and Mass Tourism in the Third Reich, Cambridge 2004. 11 In der historischen Wissenschaft der DDR wurde die KdF nicht diskutiert. Eine Ausnahme stellt ein knapper Aufsatz in der »Zeitschrift für Geschichtswissenschaft« dar: János Tihnayi,
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Die Geschichte des FDGB-Feriendienstes
Auch wenn die KdF im Zweiten Weltkrieg ihre Tätigkeit als Reiseveranstalter einstellte, kam der Tourismus auch während des Krieges nicht zum Erliegen. Bedingt durch die Kriegswirtschaft, in der viele Produkte knapp und nur gegen Bezugsscheine erhältlich waren, war »die Erholungsreise fast die einzige Möglichkeit […], überhaupt noch wesentliche Geldbeträge auszugeben«.12 Tatsächlich kam es in den Kurorten während des Krieges zu einem starken Andrang von Gästen.13 Regelmäßig erregte sich Propagandaminister Joseph Goebbels in seinen Tagebüchern über die sogenannten Bombenfrischler, die an die Stelle der traditionellen Sommerfrischler getreten waren.14 »Erst Siegen – dann reisen«, heißt es auf einschlägigen Propagandaplakaten (Abbildung 2). Nicht zuletzt erwies sich die durch den Krieg erzwungene Mobilität als Katalysator für die Entwicklung des Tourismus in der Nachkriegszeit. Zwar lassen sich Truppenbewegungen, Deportationen, Flucht und Vertreibung nur mit Unbehagen mit Urlaubsreisen in Verbindung bringen, doch der Zweite Weltkrieg brachte ohne Zweifel einen Mobilitätsschub mit sich, der nach dem Krieg nicht verschwand, sondern sich gerade auch auf touristischen Wegen weiterentwickelte – nicht zuletzt glaubten viele, wie Alon Confino gezeigt hat, mit der »touristischen« Reise zur »Normalität« der Vorkriegszeit zurückkehren zu können.15 Kurzum: Schon lange vor 1945 waren touristische Infrastrukturen entstanden, und auch personelle Kontinuitäten existierten fort. So wirkte Walter Maschke, der sich schon als Jugendsekretär des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) in der Weimarer Republik mit dem gewerkschaftlichen Tourismus befasst hatte, nach dem Zweiten Weltkrieg im Geschäftsführenden Vorstand des FDGB am Vorhaben eines Feriendienstes mit.16
Zur faschistischen Fremdenverkehrspolitik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 20 (1972), H. 8, S. 967–973. 12 Archiv des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe LWL 307/220, Landesfremdenverkehrsverband Westfalen an den Reichsfremdenverkehrsverband, Bericht über Erfahrungen und Beobachtungen in der Fremdenverkehrslenkung im Sommer 1942, September 1942. 13 Christopher Görlich, Hermann Esser und die nationalsozialistische Fremdenverkehrspolitik, unveröff. Magisterarbeit, FU Berlin 2003, S. 107. 14 Vgl. nur: Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente, hg. v. Elke Fröhlich im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte in Verbindung mit dem Bundesarchiv, Bd. I/9, München 1998, 6. Juli 1941, S. 428. 15 Alon Confino, Dissonance, Normality and the Historical Method: Why did some Germans Think of Tourism after May 8, 1945?, in: Richard Bessel/Dirk Schumann (Hg.), Life after Death. Approaches to a Cultural and Social History of Europe during the 1940s and 1950s, Cambridge 2003, S. 323–347. 16 Vgl. Karlheinz Kuba, Der Feriendienst als soziales Dienstleistungsunternehmen des FDGB, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 2005, H. 3, S. 64–79, hier S. 65.
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2 Propaganda-Plakat aus dem Zweiten Weltkrieg (Landesarchiv NRW, Abteilung Ostwestfalen-Lippe, D81 Nr. 2124)
Angesichts dieser Traditionen des Tourismus, die den Krieg überdauert hatten, sprach die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD)17 bereits im Frühjahr 1946 von den »strittigen Fragen, ob und in welchem Umfang für das Jahr 1946 Urlaub zu gewähren ist«.18 Noch im Mai traf die Besatzungsmacht mit dem Befehl Nr. 147 eine erste Regelung: Die Höhe des zu gewährenden Erholungsurlaubs richtete sich fortan nach den vor 1945 abgeschlossenen Tarifverträgen. Nur wenn zuvor keine tariflichen Urlaubsregelungen bestanden hatten, wurde die Urlaubsdauer in Abhängigkeit von der Länge der Betriebszugehörigkeit und dem Status im Betrieb festgelegt: Arbeiter erhielten 6–12 Tage Urlaub, Angestellte 12 17
Jan Foitzik, Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945–1949. Struktur und Funktion (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 44), Berlin 1999; Norman M. Naimark, Die Russen in Deutschland. Die Sowjetische Besatzungszone 1945–1949, übers. v. Hans-Ulrich Seebohm u. Hans-Joachim Maass, Berlin 1999. 18 [ohne Vorname] Schaum, Der Urlaub im Jahre 1946, in: Arbeit und Sozialfürsorge Nr. 6, 1946, S. 127–128, hier S. 127.
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und leitende Angestellte 18–24, Behörden- und Betriebsleiter grundsätzlich 24 Tage Urlaub.19 Somit lag die Bedeutung des SMAD-Befehls Nr. 147 weniger darin, dass er erstmals »allen Werktätigen das Recht auf Urlaub zugestand«, wie in der DDR stets hervorgehoben wurde.20 Vielmehr stellte der Befehl den Urlaubsanspruch in die bürgerlichen Traditionen der Vorkriegszeit.21 Daran änderte sich auch wenig, als die SMAD ein Jahr später mit Befehl Nr. 122 vom 13. Mai 1947 den Forderungen des FDGB entgegenkam und die Urlaubsdauer zusätzlich nach Alter differenzierte.22 Parallel zu den Urlaubsregelungen wurden zumindest im kleinen Rahmen die materiellen Möglichkeiten für den Tourismus ausgebaut. Ein klares Bild ist aufgrund der knappen und zudem verstreuten Überlieferungen nicht zu gewinnen, dennoch lassen sich einige Grundlinien aufzeigen.23 So gab die im Juli 1945 gegründete Deutsche Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen in der SBZ bereits im Herbst 1945 bekannt, dass die Absicht bestehe, »sowie die Umstände es gestatten, den Betrieb in den Kurorten wieder aufzunehmen«.24 Schon 1945 organisierten 19
Befehl Nr. 147 des Obersten Chefs der Sowjetischen Militär-Administration – Oberbefehlshaber der Sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland über Gewährung von Urlaub für Arbeiter und Angestellte der deutschen Unternehmen und Behörden, abgedruckt in: Arbeit und Sozialfürsorge Nr 6, 1946, S. 128–129, hier S. 128. Vgl. auch Ulrich Gill, Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB). Theorie – Geschichte – Organisation – Funktionen – Kritik, Opladen 1989, S. 121f. 20 Beispielsweise: SAPMO-BArch, DY 34/15838, Referat über die Bedeutung und die Aufgaben des Feriendienstes der Gewerkschaften 1952, S. 2. 21 Vgl. hierzu Jürgen Reulecke, Vom blauen Montag zum Arbeiterurlaub, S. 205–249; ders., Die Entstehung des Erholungsurlaubs für Arbeiter in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, in: Dieter Langewiesche/Klaus Schönhoven (Hg.), Arbeiter in Deutschland. Studien zur Lebensweise der Arbeiterschaft im Zeitalter der Industrialisierung, Paderborn 1981, S. 240–268. 22 Verordnung über die Regelung eines bezahlten Urlaubs für deutsche Arbeiter und Angestellte in Betrieben und bei den Behörden in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands für 1947/1948, Anlage zum Befehl Nr. 122 der SMAD am 13. Mai 1947, in: Jahrbuch Arbeit und Sozialfürsorge 1947/1948, hg. von der Hauptverwaltung Arbeit und Sozialfürsorge, Berlin 1948, S. 356–357. Vgl. zu den frühen Forderungen des FDGB: Geschäftsbericht des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes 1946, hg. v. Vorstand des FDGB (sowjetisch besetzte Zone), Berlin 1947, S. 114f. 23 Vgl. zum Tourismus in der unmittelbaren Nachkriegszeit – allerdings mit dem Fokus auf die westlichen Besatzungszonen: Axel Schildt, »Die kostbarsten Wochen des Jahres«. Urlaubstourismus der Westdeutschen (1945–1970), in: Spode (Hg.), Goldstrand und Teutonengrill, S. 69–85; Alexander Wilde, Zwischen Zusammenbruch und Währungsreform. Fremdenverkehr in den westlichen Besatzungszonen, in: ebd., S. 87–103. 24 Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt (LHASA), MD, Rep. K 9 [Gesundheitsministerium], Nr. 2340, Deutsche Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen im russischen Okkupationsgebiet an die Landesverwaltungen Sachsen-Dresden, Thüringen-Weimar, Provinzialverwaltungen Mecklenburg-Schwerin, Sachsen-Halle, Brandenburg-Potsdam, 25. Okto-
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und finanzierten die Sozialversicherungen immerhin 7.000 Kuraufenthalte.25 Im Juni 1946 konnte auf Anfrage gegenüber dem Rundfunk mitgeteilt werden, dass eine Reihe von Kur- und Erholungsorten wieder Gäste beherberge – wenngleich nur »in einem verhältnismässig beschränkten Umfange«, weil diese Orte »durch Umsiedler [Flüchtlinge und Vertriebene, CG] oder für Besatzungszwecke [Stationierung sowjetischer Soldaten, CG], zumindest teilweise, in Anspruch genommen« wurden.26 Im Frühjahr 1946 sondierte die Deutsche Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen, welche Hotels und Gaststätten für die Erholungsaufenthalte der Mitarbeiter aller deutschen Zentralverwaltungen geeignet seien.27 Bereits im Sommer 1946 fanden in diesem Rahmen die ersten Urlaubsreisen von Verwaltungsangestellten statt.28 Betriebe, die schon vor 1945 Betriebserholungsheime hatten, nutzten diese bald wieder.29 Reisebüros nahmen ihre Arbeit bereits ein halbes Jahr nach Kriegsende wieder auf.30 Auch die Einzelverbände der neuen Gewerkschaft wurden aktiv und organisierten bereits 1946 erste Erholungsaufenthalte. In der Provinz SachsenAnhalt fanden über 5.000 gewerkschaftliche Reisen statt, die IG Chemie setzte sich für die Schaffung von Erholungsheimen ein, und die IG Eisenbahn nahm die »Heilund Kurfürsorge« in ihr Sozialwerk auf.31 Im »Aktionsprogramm der Arbeiter der
ber 1945. Vgl. auch Helga A. Welsh, Deutsche Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen (DZVG), in: Martin Broszat/Hermann Weber (Hg.), SBZ-Handbuch. Staatliche Verwaltungen, Parteien, gesellschaftliche Organisationen und ihre Führungskräfte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945–1949, 2. Aufl., München 1993, S. 244–252. 25 Kurt Schalbach, Entwicklung der Heilfürsorge, in: Arbeit und Sozialfürsorge, H. 8, 1949, S. 190–192, hier S. 190; vgl. auch Dierk Hoffmann, Sozialpolitische Neuordnung in der SBZ/DDR. Der Umbau der Sozialversicherungen 1945–1956 (Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 47), München 1996, S. 166ff. 26 BArch, DQ 1/121, [Deutsche Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen], Protokoll über die Besprechung mit Frau Müller vom Rundfunk [!] am 6. 6. 1946. 27 BArch, DQ 1/121, [Deutsche Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen in der sowjetischen Besatzungszone] an die Kurverwaltung Blankenburg/Thür., Betrifft: Erholungsheim für die Deutschen Zentralverwaltungen, 22. März 1946. Vgl. ebd. die gleichlautenden Schreiben vom selben Datum an die Kurverwaltungen Bad Berke, Oberhof/Thür., Schierke/Harz u.a. 28 BArch, DQ 1/121, Bericht über den Stand der Erholungsmaßnahmen für die Angestellten der Deutschen Zentralverwaltungen, 29. Mai 1946. 29 Vgl. den zeitgleich mit der Entscheidung zur Gründung des FDGB gefassten Entschluss, in dem von »Werkserholungsheimen« gesprochen wird, »die bereits wieder durch Firmen in Betrieb genommen worden sind«. SAPMO-BArch, DY 34/24002, Beschlußprotokoll der Sitzung des Geschäftsführenden Vorstandes [des FDGB] am 20. 3. 47, S. 9, Bl. 14. 30 Vgl. die Ausführungen zum Reisebüro in Kapitel I.4. 31 Geschäftsbericht des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes 1946, S. 268, 299 und 323.
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Leuna-Werke« vom 25. Januar 1946 wurde schließlich die Forderung nach einem eigenen Erholungsheim erhoben.32 Diesem zaghaften Beginn des Nachkriegstourismus in der SBZ konnte sich auch die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) nicht verschließen. Früh zur bestimmenden Kraft in der SBZ geworden, übernahm die SED die Urlaubsfrage in ihre Programmatik. Um auch auf diesem Gebiet die »führende Rolle« der SED zu unterstreichen, stellte sich die Partei an die Spitze der vielfältigen Aktivitäten. Dabei versuchte die SED von Beginn an, Urlaub und Erholung als legitimierende Faktoren in die neu entstehende Gesellschaftsordnung einzubinden. Bereits in ihren »Kommunalpolitischen Richtlinien« vom 17. Juli 1946 forderte die SED die Schaffung von »ortsnahen Urlaubs- und Erholungsstätten für die Werktätigen«.33 Im Herbst 1946 wurde im »Neuen Deutschland« berichtet, die SED verfolge das Ziel, »dass das kommende Jahr wieder ein halbwegs normales Ferienleben mit sich bringt«.34 Das Recht auf Urlaub wurde von der Partei in den »Grundrechten des deutschen Volkes« vom 22. September 194635 und im »Entwurf einer Verfassung für die Deutsche Demokratische Republik« vom 14. November 1946 festgeschrieben.36 In ihren »Sozialpolitischen Richtlinien« vom 30. Dezember 1946, welche
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Aktionsprogramm der Arbeiter der Leuna-Werke vom 25. Januar 1946, in: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. III/1: Mai 1945– April 1946, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1959, Dok. Nr. 171, S. 456–457, hier S. 457. 33 Kommunalpolitische Richtlinien (Beschluss des Parteivorstandes vom 17. Juli 1946), in: Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Beschlüsse und Erklärungen des Zentralsekretariats und des Parteivorstandes, Bd. 1, 3. Aufl., Berlin 1952, S. 66–77, hier S. 72. 34 Erholung, in: Neues Deutschland. Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 16. Oktober 1946, S. 1. 35 Die Grundrechte des deutschen Volkes vom 19. September 1946, in: Dokumente der sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bd. 1, S. 91–97, bes. Nr. 10, S. 95. Vgl. zur Einordnung dieser Grundrechte und des im Folgenden zitierten Verfassungsentwurfes der SED: Jochen Laufer, Die Verfassungsgebung in der SBZ 1946–1949, in: APuZ B 32– 33/1998, S. 29–41, hier S. 29f.; Heike Amos, Die Entstehung der Verfassung in der Sowjetischen Besatzungszone/DDR 1946–1949. Darstellung und Dokumentation (Diktatur und Widerstand, Bd. 12), Münster 2006, S. 58ff. 36 Vgl. hierzu Art. 16 im Entwurf einer Verfassung für die Deutsche Demokratische Republik. Beschluß der außerordentlichen Tagung des Parteivorstandes der SED, 14. November 1946 (Auszug), abgedruckt in: Zur Gewerkschaftspolitik der SED. Dokumente, hg. v. der Gewerkschaftshochschule »Fritz Heckert« beim Bundesvorstand des FDGB in Zusammenarbeit mit dem Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1986, Dok. Nr. 42, S. 140–141.
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die Programmatik der SED bis in die 1960er-Jahre hinein bestimmen sollten,37 forderte die SED schließlich nicht nur einen bezahlten Mindesturlaub. Sie schlug auch die »Einrichtung von Erholungsheimen durch die Gewerkschaften, die Sozialversicherungen, die Gemeinden und [durch] andere öffentlich-rechtliche Körperschaften« vor.38 Diese Festlegungen in der SED-Programmatik blieben in vielen Aspekten aber äußerst vage. Über die tatsächliche Ausgestaltung und Organisation des Urlaubs war noch nicht entschieden worden. Doch von vornherein zeichnete sich die Konzentration auf eine staatliche bzw. halbstaatliche Organisation von Ferienreisen ab. Im Kontext der sich herausbildenden Planwirtschaft39 entwarf die SED damit ein Gegenmodell zu den privatwirtschaftlichen Bestrebungen, die zeitgleich im Westen zu beobachten waren.40 Die Gründung des FDGB-Feriendienstes Innerhalb nur weniger Monate kristallisierte sich im Winter 1946/47 heraus, dass der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund, die Einheitsgewerkschaft in der SBZ, die leitende Funktion im Bereich des Tourismus übernehmen und zum »Hauptträger« der Erholung werden sollte.41 Anton Filler, der 1977 seine Promotion zur Geschichte des Feriendienstes an der Hochschule für Verkehrswesen »Friedrich List« in Dresden vorlegte, bleibt jeglichen Hinweis auf einen Beleg für seine pflichtbewusst aufgestellte Behauptung schuldig, dass der FDGB »die von den Sowjetgewerkschaften gesammelten Erfahrungen beim Aufbau der Gewerkschaftserholung in jeder Phase der Entwicklung des FDGB-Feriendienstes«42 genutzt habe. Zwar war das entstehende ostdeutsche Erholungswesen dem sowjetischen nicht unähnlich,43 indes findet sich in den zeit37 38 39 40 41 42 43
Dierk Hoffmann, Sozialpolitik, in: Andreas Herbst/Gerd-Rüdiger Stephan/Jürgen Winkler (Hg.), Die SED. Geschichte – Organisation – Politik. Ein Handbuch, Berlin 1997, S. 345– 363, hier S. 345. Sozialpolitische Richtlinien. Beschluß des Zentralsekretariats der SED, 30. Dezember 1946, abgedruckt in: Zur Gewerkschaftspolitik der SED, Dok. Nr. 43, S. 141–149, S. 143f.; Karlheinz Kuba, Der Feriendienst als soziales Dienstleistungsunternehmen des FDGB, S. 65. Vgl. zur Herausbildung der Planwirtschaft und zu ihren ideologischen Grundlagen: Sattler, Wirtschaftsordnung im Übergang, S. 11ff., bes. S. 80ff. Vgl. Spode, Wie die Deutschen »Reiseweltmeister« wurden; Schildt, »Die kostbarsten Wochen des Jahres«. So Bernhard Göring im Bericht des Vorstandes auf dem 2. FDGB-Kongress im April 1947: Protokoll des 2ten Kongresses des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, hg. v. Bundesvorstand des FDGB (Sowjetisch besetzte Zone), Berlin 1947, S. 108. Vgl. Filler, Die Entwicklung des Feriendienstes der Gewerkschaften, S. 16. Vgl. zum sowjetischen Tourismus: Christian Noack, Von »wilden« und anderen Touristen. Zur Geschichte des Massentourismus in der UdSSR, in: Werkstatt Geschichte 36 (2004),
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genössischen internen Unterlagen kein Hinweis, dass man sich am sowjetischen Beispiel orientiert hatte. Selbst die öffentlichen Darstellungen beschrieben das Erholungswesen nur insofern, als dass die Sowjetunion auch hinsichtlich dessen als vorbildliches Land dargestellt wurde – ohne aber zum unmittelbaren Modell zu werden.44 Ebenso wenig war es »beinahe beliebig«, dass der Gewerkschaftsbund mit dieser Funktion betraut wurde, wie Sebastian Simsch am Rande in seiner 2002 erschienenen Dissertation über die ersten Jahre des FDGB, ebenfalls ohne Beleg, konstatiert.45 Vielmehr legen die aufgezeigten Traditionslinien das Engagement der Gewerkschaft im Tourismus nahe. Zudem lässt sich die Ansiedlung des Erholungswesens bei der Gewerkschaft aus der Entwicklung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes seit seiner Gründung 1945 erklären. Mit dem Befehl Nr. 2 der SMAD vom 10. Juni 1945 wurde die Gründung von Parteien und Gewerkschaften erlaubt. Letzteren wurde das Recht zugestanden, Tarifverträge mit den Arbeitgebern abzuschließen sowie Sozialversicherungskassen und andere Institutionen zur Kulturförderung, Bildung und zur gegenseitigen Unterstützung zu gründen.46 Der fünf Tage später veröffentlichte »Aufruf des Vorbereitenden Gewerkschaftsausschusses für Groß-Berlin vom 15. Juni 1945 zur Schaffung freier Gewerkschaften«, der gemeinhin als Gründungsdokument des FDGB gilt, verpflichtete die nun entstehende Einheitsgewerkschaft zunächst auf den Aufbau des weitgehend zerstörten Nachkriegsdeutschlands: Die neuen, freien Gewerkschaften sollen unter Zusammenfassung aller früheren Richtungen in ihrer Arbeit eine Kampfeinheit zur völligen Vernichtung des Faschismus und zur Schaffung eines neuen, demokratischen Rechtes der Arbeiter und Angestellten werden. Ihre Aufgabe ist vor allem, mitzuhelfen bei der Neugeburt unseres Volkes und bei der Heilung der Wunden, die der unselige Hitlerkrieg der Welt geschlagen hat.47 S. 24–41; ders., Tourismus in Russland und der UdSSR als Gegenstand historischer Forschung. Ein Werkstattbericht, in: Archiv für Sozialgeschichte 45 (2005), S. 477–498. 44 Beispielsweise: Die Kurorte der Sowjetunion und der Volksdemokratien sind unser Vorbild, in: Urlaubsfreuden durch den Feriendienst der Gewerkschaften, S. 9–13; Die Erholungsheime der sowjetischen Gewerkschaften, in: Erholungsaufenthalte zu allen Jahreszeiten durch den Feriendienst der Gewerkschaften, S. 19–29. 45 Sebastian Simsch, Blinde Ohnmacht: der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund zwischen Diktatur und Gesellschaft in der DDR 1945 bis 1963, Aachen 2002, S. 232. 46 Befehl Nr. 2 des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland vom 10. Juni 1945 über die Zulassung antifaschistischer Parteien und Organisationen, in: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. III/1, Dok. Nr. 4, S. 12–13, hier S. 12. 47 Aufruf des Vorbereitenden Gewerkschaftsausschusses für Groß-Berlin vom 15. Juni 1945 zur Schaffung freier Gewerkschaften, abgedruckt in: ebd., Dok. Nr. 9, S. 32–34, hier S. 33. Vgl. Gill, Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB), S. 67ff.
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Wenige Monate später konkretisierte der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), Wilhelm Pieck, im Grußwort des Zentralkomitees der KPD zur Herausgabe der Zeitung »Die Freie Gewerkschaft« am 9. Oktober 1945 die Aufgaben der Gewerkschaften: Angesichts der schwierigen Nachkriegssituation sollten sie dafür eintreten, »in den Betrieben und Kontoren die höchste Arbeitsdisziplin und Arbeitsleistung zu entfalten«.48 Zugleich hatten sie dafür zu sorgen, »daß die berechtigten Ansprüche der Arbeiter und Angestellten auf Gestaltung der Arbeitsbedingungen und des Arbeitslohnes erfüllt werden«.49 Steigerung der Arbeitsleistung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen – diese anfänglich noch vagen Eckpunkte gewerkschaftlicher Aufgaben ließen in den folgenden Jahren genügend Raum für eine weitreichende gewerkschaftliche Sozialpolitik. Sie umfasste u.a. die Versorgung mit Lebensmitteln, Brillengläsern und Schuhen, den Arbeitsschutz und die Betreuung von »Umsiedlern« und Heimkehrern sowie die Einrichtung von Kinderdörfern für Kriegswaisen.50 Beinahe nahtlos fügte sich in dieses Aufgabenfeld die Organisation von Erholungsaufenthalten ein. Denn Erholung war dringend notwendig, weil die Bevölkerung von Krieg und Nachkriegszeit erschöpft war. Nachdem auf der Ebene der Einzelgewerkschaften Maßnahmen zur Erholung der Mitglieder ergriffen worden waren, war die Gründung des FDGB-Feriendienstes nur folgerichtig, sollten doch die vielfältigen Aktivitäten zentralisiert und in das neu entstehende Gesellschaftssystem eingebunden werden. Am 20. März 1947 stimmte der Geschäftsführende Vorstand des FDGB dem Vorschlag der Sozialpolitischen Abteilung zu, »ab 18. 5. einen Feriendienst unter der Bezeichnung ›Ferienheime des FDGB‹ unter der zentralen Leitung des FDGB einzurichten«.51 Fortan sollten die Werktätigen der SBZ zu hoch subventionierten Preisen in gewerkschaftseigenen Ferienheimen einen Erholungsurlaub verbringen können.52 48
Wilhelm Pieck, Grußschreiben des Zentralkomitees der KPD zur Herausgabe der Zeitung »Die Freie Gewerkschaft«, 9. Oktober 1945, abgedruckt in: Zur Gewerkschaftspolitik der SED, Dok. Nr. 33, S. 125. 49 Ebd. 50 Vgl. nur die äußerst vielfältigen Dokumente in: SAPMO-BArch, DY 34/20124, passim. Vgl. Gill, Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB), S. 116–122. Zum Verhältnis von Tradition und Neubeginn vgl. auch: Gunnar Winkler, Ziele und Inhalte der Sozialpolitik, in: Günter Manz/Ekkehard Sachse/Gunnar Winkler (Hg.), Sozialpolitik in der DDR. Ziele und Wirklichkeit, Berlin 2001, S. 13–33; Horst Barthel, Anfänge einer neuen Sozialpolitik, in: ebd., S. 35–44. 51 SAPMO-BArch, DY 34/24002, Beschlußprotokoll der Sitzung des Geschäftsführenden Vorstandes [des FDGB] am 20. 3. 47. Zu Punkt 20 der Tagesordnung: Ferienheime des FDGB., S. 8, Bl. 13; Geschichte des FDGB. Chronik 1945–1982, hg. v. d. Gewerkschaftshochschule »Fritz Heckert« beim Bundesvorstand des FDGB, Berlin 1985, S. 27. 52 Vgl. auch Geschäftsbericht des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes 1946, S. 102.
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In der »Hauptabteilung III (Sozialpolitik)« des FDGB wurde die »Abteilung Ferienheime« eingerichtet, für die sich wenig später die Bezeichnung »Abteilung Feriendienst« durchsetzte.53 Unter hohem Zeitdruck nahm diese Abteilung im Frühjahr 1947 die Arbeit auf und bereitete die Durchführung der ersten Erholungsaufenthalte vor. Von den Schwierigkeiten, die sich aus der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ergaben, wollte man sich nicht aufhalten lassen. Bereits auf dem 2. FDGB-Kongress hatte Walter Ulbricht, de facto stellvertretender Parteivorsitzender der SED, erklärt: »Das wäre sonderbar, wenn man mit einer antifaschistischen Mehrheit diese Maßnahmen nicht durchführen kann.«54 Dennoch begannen die ersten Urlaubsreisen nicht wie geplant am 18. Mai 1947, weil die Versorgung der Urlauber zu diesem Zeitpunkt noch nicht sichergestellt werden konnte. Erst Ende Mai bewilligte die SMAD die Lebensmittelrationen für die Urlauber in den Ferienunterkünften. Die ersten Urlauber brachen schließlich am 10. Juni 1947 zu ihrer Reise auf.55 Noch war aber nicht klar, welche politische Bedeutung dem Urlaub in der SBZ/DDR zukommen sollte. Politisierung und Ideologisierung des FDGB-Feriendienstes Nicht nur die Tatsache, dass der Plan für den Feriendienst von der Hauptabteilung für Sozialpolitik entwickelt worden war, sondern auch die explizite Bezeichnung der »Ferienheime des FDGB« als »sozialpolitische Massnahme«56 verweisen auf die anfänglich rein sozialpolitische Ausrichtung des Feriendienstes. Im ersten Bericht, den die zuständige Abteilung beim Bundesvorstand ein halbes Jahr nach der ersten Urlaubssaison verfasste, heißt es noch weitgehend frei von den oftmals überbordenden politisch-ideologischen Konnotationen späterer Jahre: »Der Zweck unserer Arbeit ist es, den Werktätigen Erholung zu bieten und seine Arbeitskraft durch den Urlaub wieder herzustellen.«57 Allein diesem Ziel waren Ausgestaltung und Durchführung der Reisen verpflichtet. So sollten die Preise für den Ferienaufenthalt »einheitlich«, vor allem aber »so niedrig als möglich« bemessen werden. 53
SAPMO-BArch, DY 34/24002, Zu Punkt 20 der Tagesordnung [der Sitzung des Geschäftsführenden Vorstandes am 20. 3. 1947]. Feriendienst des F.D.G.B., S. 1, Bl. 96. 54 Protokoll des 2ten Kongresses des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, S. 82. 55 SAPMO-BArch, DY 34/20124, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Hauptabteilung 3 – Sozialpolitik, Abt. Feriendienst, Bericht über den Feriendienst des FDGB für die Zeit vom 18. Mai bis 15. Oktober 1947, Berlin, den 16. 10. 47, S. 3. 56 SAPMO-BArch, DY 34/24002, Zu Punkt 20 der Tagesordnung [der Sitzung des Geschäftsführenden Vorstandes am 20. 3. 1947]. Feriendienst des F.D.G.B., S. 2, Bl. 96. 57 SAPMO-BArch, DY 34/20124, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Hauptabteilung 3 – Sozialpolitik, Abt. Feriendienst, Bericht über den Feriendienst des FDGB für die Zeit vom 18. Mai bis 15. Oktober 1947, Berlin, den 16. 10. 47, S. 1.
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Der Preis sei »nicht von der Wirtschaftlichkeit des einzelnen Heimes abhängig zu machen«.58 Ganz im Sinne einer Sozialpolitik, die sich auf den »Bürger« und nicht wie in späteren Jahren auf Klassen- und Schichtstrukturen bezog,59 wurde im Gründungsbeschluss festgeschrieben, dass die Ferienheime »allen Mitgliedern und deren Familienangehörigen« zur Verfügung stehen sollten.60 Da die Kosten für die Reisen dennoch anfangs recht hoch waren, wurden einkommensabhängige Zuschüsse gewährt.61 Vor allem aber wurden die Reisen nicht verkauft, sondern durch den Bundesvorstand des FDGB auf die im Gewerkschaftsbund erfassten Einzelgewerkschaften verteilt. Deren Zentralvorstände leiteten die ihnen zugeteilten Plätze an ihre Landesvorstände weiter. Anfangs erfolgte die Verteilung auf die Einzelgewerkschaften und die Betriebe entsprechend den Mitgliederzahlen der jeweiligen Gliederungen des FDGB; erst mit der Politisierung, d. h. der Einbindung des Urlaubs in das politische System der DDR, wurde die Vergabe der Ferienplätze an die Leistungen der Werktätigen und die Bedeutung der einzelnen Betriebe und Industriezweige in den Wirtschaftsplänen gekoppelt. Letztlich sah die ursprüngliche Konzeption noch nicht die später heiß begehrten Reiseschecks vor, mit denen die FDGB-Mitglieder das Anrecht auf einen Ferienplatz erwarben. Es waren vielmehr »Anträge der Mitglieder auf Aufnahme in ein Ferienheim des FGDB« einzureichen.62 In der Summe waren die frühen Reisen noch staatliche bzw. von der Gewerkschaft vermittelte Leistungen mit der sozialpolitischen Funktion, den Mitgliedern die Möglichkeit zur Erholung zu schaffen. Die vorherrschende Nüchternheit drückte sich auch in einer anfänglichen Zurückhaltung gegenüber der Berichterstattung in der Presse aus. Eine propagandistische Ausnutzung der Urlaubsreisen erfolgte nicht. So wurde in der »Tribüne«, der Tageszeitung des FDGB, der Gründungsbeschluss des Geschäftsführenden Vorstandes vom 20. März 1947 erst zwanzig Tage später in einer auffallend kurzen Meldung unter dem Titel »Der FDGB organisiert Ferienaufenthalte« bekanntgegeben.63 Weitere acht Tage vergingen, ehe unter gleicher Überschrift knappe Einzelheiten
58 Ebd. 59 Winkler, Ziele und Inhalte der Sozialpolitik, S. 14. 60 SAPMO-BArch, DY 34/24002, Zu Punkt 20 der Tagesordnung [der Sitzung des Geschäftsführenden Vorstandes am 20. 3. 1947]. Feriendienst des F.D.G.B., S. 2, Bl. 97. 61 SAPMO-BArch, DY 34/20124, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Hauptabteilung 3 – Sozialpolitik, Abt. Feriendienst, Bericht über den Feriendienst des FDGB für die Zeit vom 18. Mai bis 15. Oktober 1947, Berlin, den 16. 10. 47, S. 8. 62 SAPMO-BArch, DY 34/20897, Arbeitsrichtlinien für den Feriendienst der Gewerkschaften, o.D., S. 4f. 63 FDGB organisiert Ferienaufenthalt, in: Tribüne vom 10. 4. 1947, S. 2.
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über die Organisation der Urlaubsreisen veröffentlicht wurden.64 Jeder weitergehenden Berichterstattung in der Presse, wie beispielsweise in der »Täglichen Rundschau«, die bereits am 29. März die Gründung des Feriendienstes als »vorbildliche Aktion« lobte,65 stand der FDGB skeptisch gegenüber. Roman Chwalek, Vorsitzender des FDGB-Landesvorstandes Groß-Berlin, kritisierte selbst diese wenigen Berichte, weil er befürchtete, dass die Berichterstattung über den Feriendienst »bei den Arbeitern zu grosse Illusionen hervorrufen« könne.66 Auch Bernhard Göring, dem 2. Vorsitzenden des FDGB-Bundesvorstandes, den Chwalek mit seiner Kritik konfrontierte, waren die positiven Besprechungen des Feriendienstes in der nicht gewerkschaftseigenen Presse nicht geheuer. Er antwortete ausweichend: »Es gibt einige Gründe, die uns gezwungen haben, Veröffentlichungen vorzunehmen.«67 Die von Göring angesprochenen »Gründe« standen in engem Zusammenhang mit den Tendenzen zur »Stalinisierung« der SBZ, die sich nahezu zeitgleich mit der Gründung des Feriendienstes abzeichneten.68 Im Prozess der »schleichenden Stalinisierung« der SED, die sich seit 1947 anschickte, eine »Partei neuen Typs« mit allumfassendem Machtanspruch zu werden,69 wurde auch der FDGB auf den Weg gebracht, »seinen Platz in einem System stalinistischer Fasson einzunehmen«.70 64 65
FDGB organisiert Ferienaufenthalt, in: Tribüne vom 18. 4. 1947, S. 5. H. S., Um die Sommererholung der Werktätigen, in: Tägliche Rundschau. Zeitung für Politik, Wirtschaft und Kultur, 29. 3. 1947, S. 1–2, hier S. 1. 66 SAPMO-BArch, DY 34/20124, Roman Chwalek an Bernhard Göring, 11. 5. 1947. 67 SAPMO-BArch, DY 34/20124, Bernhard Göring an Roman Chwalek, 17. 5. 1947. 68 Einen Überblick gibt Michael Lemke, der allerdings den Begriff der »Stalinisierung« vermeidet und von der »Sowjetisierung« spricht: Michael Lemke, Einleitung, in: ders. (Hg.), Sowjetisierung und Eigenständigkeit in der SBZ/DDR (1945–1953) (Zeithistorische Studien, Bd. 13), Köln/Weimar/Wien 1999, S. 11–30, bes. S. 20ff.; aus Perspektive einer politischen Kulturgeschichte: Martin Sabrow, Gab es eine stalinistische DDR?, in: ders. (Hg.), ZeitRäume. Potsdamer Almanach des Zeitrums für Zeithistorische Forschung 2005, Berlin 2006, S. 131–141, bes. S. 135ff. 69 Andreas Malycha, Die SED. Geschichte ihrer Stalinisierung 1946–1953, Paderborn/ München/Wien/Zürich 2000, S. 136ff.; vgl. auch Harold Hurwitz, Die Stalinisierung der SED. Zum Verlust von Freiräumen und sozialdemokratischer Identität in den Vorständen 1946–1949 (Schriften des Zentralinstituts für Sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, Bd. 79), Opladen 1997. 70 Ulrich Gill, Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB), S. 151; Stefan Paul Werum, Gewerkschaftlicher Niedergang im sozialistischen Aufbau: der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) 1945 bis 1953, Göttingen 2005; ders., »Wir sind die Illegalen!« Zum Wandel der Funktionen und Organisationsstrukturen des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes 1948–1952/53, in: Archiv für Sozialgeschichte 39 (1999), S. 73–121. Ausführlich mit dem Wandel bzw. der »Stalinisierung« des FDGB befassen sich: Klaus Helf, Von der Interessenvertretung zur Transmission. Die Wandlung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) (1945–1950), in: Hermann Weber (Hg.), Parteiensystem zwischen Demokratie und Volksdemokratie. Dokumente und Materialien zum Funktionswandel der
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Die Einheitsgewerkschaft wurde zum »Erfüllungsgehilfen der SED«, wie eine vom westdeutschen Gewerkschaftsbund (DGB) herausgegebene Broschüre zu Beginn der 1960er-Jahre – nicht ganz zu Unrecht – titelte.71 Der FDGB sollte sich nach dem Willen der SED im Sinne der marxistisch-leninistischen Gewerkschaftstheorie entwickeln. Diese Theorie schrieb den Gewerkschaften vor allem die Aufgabe zu, als »Transmissionsriemen« zwischen der avantgardistischen Partei und den Massen zu wirken. Das Bild des Transmissionsriemens geht dabei auf einen Beschluss des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki), KPR (B), aus dem Jahre 1922 zurück, der Wladimir I. Lenin zugeschrieben wird. Dort heißt es: Wie die beste Fabrik mit einem ausgezeichneten Triebwerk und erstklassigen Maschinen stillstehen wird, wenn der Transmissionsmechanismus zwischen dem Triebwerk und den Maschinen nicht funktioniert, so ist eine Katastrophe unseres sozialistischen Aufbaus unvermeidlich, wenn der Transmissionsriemen zwischen der Kommunistischen Partei und den Massen – die Gewerkschaften – falsch aufgebaut ist oder nicht richtig funktioniert.72
In diesem Sinne kam dem FDGB die Aufgabe zu, das Herrschaftssystem der SED abzusichern und ihre Politik in den Betrieben durchzusetzen.73 Da in der marxistischParteien und Massenorganisation in der SBZ/DDR 1945–1950, Köln 1982, S. 339–386; Detlev Brunner, Einleitung, in: ders. (Hg.), Der Wandel des FDGB zur Massenorganisation. Das Protokoll der Bitterfelder Konferenz des FDGB am 25./26. November 1948 (Veröffentlichungen des Instituts zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung, B/4), Essen 1996, S. 7–33. 71 Der FDGB. Erfüllungsgehilfe der SED, hg. v. Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1962. 72 Wladimir I. Lenin, Über die Rolle und die Aufgaben der Gewerkschaften unter den Verhältnissen der Neuen Ökonomischen Politik. Beschluß des ZK der KPR (B) vom 12. Januar 1922, in: ders., Über die Gewerkschaftsbewegung, Bd. 2, Berlin 1976, S. 433-444, hier S. 442. Ausführlich wird die marxistisch-leninistische Gewerkschaftstheorie dargestellt von: Gill, Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB), S. 23ff. 73 Hans-Hermann Hertle, Funktion und Bedeutung der Massenorganisationen in der DDR am Beispiel des FDGB. Vortrag vor der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« des Deutschen Bundestages, Bonn, 11. 12. 1992. Überarbeitete Fassung, Berlin 1992, S. 3. Vgl. auch die in den Materialien der Enquete-Kommission abgedruckten Expertisen weiterer Historiker zum FDGB: Rainer Eckert, Zur Rolle der Massenorganisationen im Alltag der DDR-Bevölkerung, in: Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«, Teil 2,2: Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung, Baden-Baden 1995, S. 1243–1300; Peter Hübner, Zur Rolle der »Massenorganisationen« im Alltag des DDR-Bürgers, in: ebd., Bd. II/3, S. 1723–1769; Friederike Sattler, Die Funktionen der Massenorganisationen, in: ebd., Bd. II/4, S. 2639–2691 sowie andere Darstellungen: Ulrich Mählert, Die Massen-
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leninistischen Theorie die Arbeitsproduktivität als »das Allerwichtigste, das Ausschlaggebende für den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung« galt,74 hatte sich auch der FDGB in erster Linie auf die Steigerung der Arbeitsproduktivität zu konzentrieren, Produktionspropaganda zu betreiben und die Produktionsdisziplin zu erhöhen. In der Praxis zeigte sich aber bald, dass die Steigerung der Produktivität im Gegensatz zur gewerkschaftlichen Interessenvertretung stand.75 Denn gleichwohl musste auch weiterhin Rücksicht auf die Arbeiter genommen werden.76 Der FDGB war in eine Zwickmühle geraten. Um diesem Dilemma zu entgehen, wurde unter Bezug auf das in den 1950er-Jahren oft zitierte Diktum Stalins, dass der Mensch von »allen wertvollen Kapitalien, die es in der Welt gibt […], das wertvollste und entscheidendste Kapital« sei,77 die Losung »Mehr Sorge um den werktätigen Menschen« in den Mittelpunkt gerückt (Abbildung 3).78 Dabei wurde Sozialpolitik fortan nicht mehr als ein Politikfeld betrachtet, das die Aufgabe übernahm, soziale Härten zu mindern. Eine solch traditionelle Anwendung schien nicht mehr nötig. Sozialpolitik wurde jetzt in den Dienst einer sozialistisch ausgerichteten Wirtschaft gestellt; sozialpolitische Maßnahmen sollten wechselseitig mit der Wirtschaftspolitik verbunden sein und mit ihr ein »organisches Ganzes«79 bilden. In den folgenden Jahren ging diese Entwicklung so weit, dass der Begriff der »Sozialpolitik« – wenn auch nicht aus der Sprache der Praktiker –, so doch aus dem offiziellen Sprachgebrauch verschwand.80
74 75
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organisationen im politischen System der DDR, in: Die Parteien und Organisationen der DDR, S. 103–115; Stefan Paul Werum, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB), in: ebd., S. 449–482. Vgl. nur: Wladimir I. Lenin, Die große Initiative (Auszüge), in: ders., Über die Gewerkschaftsbewegung, Bd. 2, S. 165–181, hier S. 173. Bereits in den 1960er-Jahren hat Hartmut Zimmermann auf diesen Zusammenhang verwiesen: Hartmut Zimmermann, Der FDGB als Massenorganisation und seine Aufgaben bei der Erfüllung der betrieblichen Wirtschaftspläne, in: Peter Christian Ludz (Hg.), Studien und Materialien zur Soziologie der DDR (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 8), Köln/Opladen 1964, S. 115–144, bes. S. 124ff. Heike Stadtland, Herrschaft nach Plan und Macht der Gewohnheit. Sozialgeschichte der Gewerkschaften in der SBZ/DDR 1945–1953, Essen 2001, S. 529ff. Zit. nach: SAPMO-BArch, DY 34/15838, Lektion: Der Feriendienst der Gewerkschaften – eine Errungenschaft der Arbeiter- und Bauernmacht, 1955, S. 4. SAPMO-BArch, DY 34/20897, Arbeitsrichtlinien für den Feriendienst der Gewerkschaften [1952], S. 2. Gunnar Winkler (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik der DDR 1945–1985, Berlin 1989, S. 10. Wengst, Sozialpolitische Denk- und Handlungsfelder, S. 147. Vgl. zur frühen Sozialpolitik der DDR im Allgemeinen: Manfred G. Schmidt, Grundlagen der Sozialpolitik in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland
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3 FDGB-Heim »Völkerfreundschaft« in Bad Schandau. Auf dem Spruchband ist zu lesen: »Die Sorge um den Menschen findet in der Errichtung von FDGB-Ferienheimen ihren Ausdruck.« (Fotograf: Heinz Junge, Bundesarchiv-Bild Nr. 183-14333-0025)
Einen wichtigen Schritt in der Entwicklung einer sozialistischen Wirtschaftspolitik, die die Sozialpolitik überflüssig machen sollte, markiert der SMAD-Befehl Nr. 234 vom 9. Oktober 1947. Darin wurde die »Steigerung der Arbeitsproduktivität« und die »Entfaltung der bewußten eigenen Initiative der Werktätigen« gefordert, was als »Hauptbindeglied in dem System der Volkswirtschaft und […] Schlüssel zur Lösung aller anderen wirtschaftlichen Probleme« galt.81 Der Befehl seit 1945, Bd. 1, S. 685–798; Horst Barthel, Anfänge einer neuen Sozialpolitik, in: Manz/ Sachse/Winkler (Hg.), Sozialpolitik in der DDR, S. 35–44; ders., Grundzüge der Sozialpolitik, in: Eberhard Kuhrt, Die Endzeit der DDR-Wirtschaft – Analysen zur Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik (Am Ende des realen Sozialismus, Bd. 4), Opladen 1999, S. 273– 322; Hans Günter Hockerts, Soziale Errungenschaften? Zum sozialpolitischen Legitimitätsanspruch der zweiten deutschen Diktatur, in: Jürgen Kocka u.a. (Hg.), Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag, München 1994, S. 790–804; Gunnar Winkler, Sozialpolitik in der DDR, in: Heiner Timmermann (Hg.), Sozialstruktur und sozialer Wandel in der DDR (Forum: Politik, Bd. 4), 2. Aufl., Saarbrücken 1989, S. 135–154. 81 Befehl Nr. 234: Maßnahmen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und zur weiteren Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiter und Angestellten in der Industrie und im Verkehrswesen, Berlin, 9. Oktober1947, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Bd. 2/2: 1945–1949. Die Zeit der Besatzungszonen. Dokumente, hg. v. Bundesministerium
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verwirklichte »nahezu klassisch« das Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche,82 indem er nicht nur die Zuteilung größerer Lebensmittelrationen, sondern auch den Urlaubsanspruch an die Schwere und die Gesundheitsgefährdung der ausgeübten Tätigkeit band.83 Während die Gewerkschaft anfangs noch an der sozialpolitischen Ausrichtung des Feriendienstes festhielt, war es wiederum Walter Ulbricht, der die neue Aufgabenzuschreibung vorwegnahm. Ulbricht erklärte bereits 1947 auf dem 2. FDGBKongress: Wenn wir wollen und wenn gefordert wird, daß die Arbeitskollegen die Wirtschaftspläne mit aller Kraft erfüllen, so muß auch alles getan werden, um den Gesundheitsschutz der Arbeiter zu sichern und dafür zu sorgen, daß in den Erholungsorten auch für die sonstige kulturelle Betätigung gesorgt wird, indem die Gewerkschaftsorganisation bestimmte Funktionäre mit der Aufgabe betraut.84
Kaum zufällig wurde wenige Tage später in der »Tribüne« eine Mitteilung platziert, in der auf den Zusammenhang zwischen der »Arbeitskraft der Arbeiter und Angestellten«, ihrer »Leistungsfähigkeit im Interesse des wirtschaftlichen Aufbaus« und einer »zweckvolle[n] Urlaubsgestaltung« verwiesen wurde.85 Erholung war kein Selbstzweck mehr, sondern eingebunden in eine auf Produktivitätssteigerung zielende Wirtschaftspolitik. Der ursprünglich als sozialpolitische Maßnahme der Gewerkschaft gedachte Feriendienst wandelte sich zu einem Instrument der Produktivitätssteigerung im Dienste des SED-Regimes. Erholung und Planerfüllung wurden in einen gegenseitigen Begründungszusammenhang gesetzt. Diese Verbindung wurde nicht nur argumentativ in Texten dargelegt, sondern auch visuell dargestellt (Abbildung 4 und 5). für Arbeit und Sozialordnung, verantwortlich Udo Wengst, Baden-Baden 2001, Nr. 175a, S. 386–390, hier S. 387. 82 Gill, Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB), S. 140; Wera Thiel, Arbeitsrecht in der DDR. Ein Überblick über die Rechtsentwicklung und der Versuch einer Wertung, Opladen 1997, S. 26f.; Reinhard Richardi/Wera Thiel, Arbeitsverfassung und Arbeitsrecht, in: Geschichte der Sozialpolitik, Bd. 2/1, S. 153–210, bes. S. 199ff. 83 Befehl Nr. 234: Maßnahmen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und zur weiteren Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiter und Angestellten in der Industrie und im Verkehrswesen, Berlin, 9. Oktober, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Bd. 2/2, S. 388. 84 Protokoll des 2ten Kongresses des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, S. 81. 85 Mitteilung über den Beschluß des Bundesvorstandes des FDGB zur Einrichtung eines Feriendienstes »Ferienaufenthalt durch den FDGB«, 20. März 1947, in: Zur Sozialpolitik in der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung 1945 bis 1949. Dokumente und Materialien, Red. Helene Fiedler/Marita Beier/Helga Reichelt, Berlin 1984, S. 163–165, hier S. 163. Diese Mitteilung erschien am 20. 4. 1947 in der »Tribüne«.
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Infolge dieser Instrumentalisierung kam es zu wichtigen Veränderungen in der Organisation und Gestaltung des Feriendienstes. Zum einen wurde die Abteilung Feriendienst schon rein organisatorisch deutlich aufgewertet, indem sie am 7. Oktober 1948 aus der Hauptabteilung Sozialpolitik herausgelöst und als selbstständige Abteilung etabliert wurde.86 Zum anderen – und dies hatte weit größere Bedeutung – sollte sich die Verteilung der Urlaubsreisen daran orientieren, welche Rolle die einzelnen Wirtschaftsbereiche, Betriebe und die Arbeiter selbst in der Produktion einnahmen. Die Verteilung der Ferienplätze erfolgte nun explizit unter »politische[n] Gesichtspunkte[n]«. Die Landesvorstände der Einzelgewerkschaften sollten besonderes Augenmerk darauf legen, »die große Masse der [Ferien-] Plätze in die Schwerpunktbetriebe sowie volkseigene und ihnen gleichgestellten Betriebe zu steuern«.87
4 Feriendienst-Plakat aus den frühen 1950er-Jahren (Urlaub, Klappfix, Ferienschecks, S. 40)
86 87
Anton Filler, Die Entwicklung des Feriendienstes der Gewerkschaften, S. 18. SAPMO-BArch, DY 34/20897, Arbeitsrichtlinien für den Feriendienst der Gewerkschaften, o.D., S. 5f.
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5 Vor- und Rückseite einer Broschüre des FDGB aus dem Jahre 1951. Unter dem Emblem des Fünfjahrplanes zeigt der Wegweiser die Richtungen Arbeit und Erholung an. (Wochenend- und Ferienfahrten, Berlin 1951)
Die Ferienplätze standen damit nicht mehr allen Mitgliedern des FDGB per se zur Verfügung, vielmehr sei »jegliche Gleichmacherei« bei der Auswahl der Urlauber zu vermeiden. In erster Linie sollten solche Gewerkschaftsmitglieder für einen Urlaubsplatz ausgewählt werden, die sich durch ihre Leistungen in der Produktion besonders ausgezeichnet und verdient gemacht haben oder durch eine sehr gute Mitarbeit in der Verwaltung, Schule usw. ein hohes Staatsbewußtsein bewiesen haben, eine besonders schwere und gesundheitsschädigende Arbeit verrichten, aus sozialen Gründen besonders zu berücksichtigen sind, als Funktionäre in den demokratischen Organisationen durch ihre Leistungen und ihren Arbeitselan ein Vorbild für die übrigen darstellen.88
Gelegentlich schlich sich in den folgenden Jahren sogar die Formulierung ein, dass Gewerkschaftsmitglieder nicht einen Urlaubsplatz »erhalten«, sondern zu einem Erholungsaufenthalt »delegiert« würden. Das stellte nicht nur ein sprachliches 88 SAPMO-BArch, DY 34/29/351/3633, Bundesvorstand des FDGB, Abteilung Feriendienst, Material für gewerkschaftliche Bildungsabende (Gewerkschaftsgruppenorganisation), Berlin, den 21. 12. 1954, S. 1f.; vgl. Die Arbeit des Feriendienstes der Gewerkschaften, S. 545.
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Abgleiten in den Parteijargon dar, sondern unterstrich zugleich, dass die Reisen mit dem Feriendienst eine hochgradig politische Angelegenheit geworden waren.89 In diesem politisch aufgeladenen Sinne wurden schließlich die gesetzlichen Urlaubsregelungen nach der Staatsgründung der DDR festgelegt. In der Verfassung der DDR von 1949 war nicht nur das Recht auf Arbeit (Art. 15, Abs. 2), sondern auch das Recht auf Erholung verankert, das durch den festgeschriebenen Anspruch auf jährlichen Urlaub gegen Entgelt konkretisiert wurde (Art. 16, Abs. 1).90 Der Urlaub war damit eindeutig als Mittel zur Reproduktion von Arbeitskraft in das Wirtschaftssystem der DDR eingegliedert. Folgerichtig zielte die zeitgleich einsetzende Ideologisierung des Urlaubs auf die Steigerung der Arbeitsdisziplin, indem sie die eigentlich recht prosaischen Anfänge des Feriendienstes in einer Weise interpretierte, welche die Legitimation des neuen politischen Systems herausstreichen sollte. Der Feriendienst, hieß es nun, sei der »sichtbare Ausdruck unseres Arbeiter- und Bauernstaates«.91 Er trage folglich dazu bei, »unseren Werktätigen die gesellschaftliche Veränderung, die sich im damaligen Gebiet der sowjetischen Besatzungszonen vollzogen hatte, zum Bewußtsein zu bringen«92 und den Arbeitern in der SBZ/DDR das Gefühl zu vermitteln, »Herr in seinem Lande zu sein«.93 So wurde der Feriendienst zum Bestandteil der »Meistererzählung« der DDR, die den Neuanfang auf dem Gebiet der SBZ betonte:94 Bei uns waren die Junker, Nazi- und Kriegsverbrecher enteignet worden. Es kam jetzt darauf an, auch die Kur- und Erholungsorte, die in der Vergangenheit diesen Kreisen und ihrem parasitären Anhang zur Verfügung standen, unseren Werktätigen aus den Betrieben zugänglich zu machen.95
89 SAPMO-BArch, DY 34/15838, Der Aufbau des Sozialismus erfordert gesunde und frohe Menschen, o.D., S. 1. 90 Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, in: GBl. Nr. 1 (1949) vom 8. Oktober 1949, S. 5–16. Vgl. Siegfried Mampel/Karl Hauck, Sozialpolitik in Mitteldeutschland (Sozialpolitik in Deutschland, Nr. 48), Stuttgart 1964, S. 41. 91 SAPMO-BArch, DY 34/29/480/3663, Feriendienst der Gewerkschaften. [handschriftlich: »Analys. Energie!«], Berlin, den 9. 11. 1954, S. 1. 92 SAPMO-BArch, DY 34/15838, Schulungsmaterial über die Aufgaben des Feriendienstes der Gewerkschaften, Berlin, den 22. Nov. 1951, S. 2. 93 SAPMO-BArch, DY 3/15838, Lektion: Der Feriendienst der Gewerkschaften – eine Errungenschaft der Arbeiter- und Bauernmacht, 1955, S. 20. 94 Vgl. zum Konzept der »Meistererzählung«: Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen 2002. 95 SAPMO-BArch, DY 34/20896, Informations-Material über den Feriendienst des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, 3. Januar 1951, S. 3.
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Und so hieß es in einer »Lektion für den Kurzlehrgang der Abteilungsleiter des Feriendienstes bei den Zentralvorständen der Industriegewerkschaften und Gewerkschaften«, die nicht zufällig mit starkem legitimatorischen Impetus ein Jahr nach dem 17. Juni 1953 entstand: In einigen vom Feriendienst übernommenen ehemaligen Kurhotels wurden Geschäftsunterlagen gefunden, die uns einen aufschlussreichen Einblick in den Kreis derer verschafften, die einst in diesen Häusern Erholung von ihrer schweren »Arbeit« suchten und fanden. Die Namen mehr oder weniger bekannter Kommerzienräte, Großindustrieller, Finanzhyänen sowie Kraut- und Schlotbarone, die einst die Luft der Kurorte mit dem Gestank ihrer sterbenden und verfaulenden Gesellschaft verpesteten, ziehen an unseren Augen vorüber. Hier sammelten sie neue Kraft für die Betätigung der Kuponschere, sammelten neue Kraft, ihre Arbeiter und Bauern noch schärfer ausbeuten zu können […]. Diese Zeiten gehören in der DDR endgültig der Vergangenheit an. Dank des Sieges der Söhne der sowjetischen Arbeiterklasse und Bauernschaft über den Hitlerfaschismus erholen sich heute in den Kur- und Erholungsorten der DDR unsere Werktätigen.96
Über ein Ferienheim, »ehemals Herrensitz der einstigen Grafen und Fürsten zu Stolberg«, war zu lesen, dass dort »heute keine ›glänzenden Feste‹ mehr für einige ›Herren‹ und deren Gefolgschaft gefeiert [werden], sondern rund 3 600 Urlauber erholen sich jährlich in diesen Räumen. Echte Heiterkeit lebensfroher, friedlich gesinnter Menschen erfüllt das Haus und vom Turme weht die Fahne der Arbeiterklasse allen Finanzhyänen, allen Rautenbachs, allen Fürsten zu Stolberg und ihrem Geschmeiss zum Trotz.«97 Bezeichnenderweise trug dieses Ferienheim den Namen des Gründervaters der Pädagogik, des Theologen Johann Amos Comenius. Er formulierte in seinem Werk »Didactica magna« den pädagogischen Grundsatz »omnes omnia omnino« – »allen alles allumfassend«. Es war ein Motto so ganz im Sinne der DDR-Funktionäre – konnte es doch sowohl auf ihren Anspruch bezogen werden, eine sozialistische Wirtschaft mit Volkseigentum aufzubauen, als auch auf das Projekt, den »neuen Menschen« zu schaffen. Dieses Projekt wurde in allen Bereichen der DDR verfolgt – auch im Urlaub sollte sich der Mensch zum sozialistischen Menschen ausbilden. Mit Karikaturen wurden die ehemaligen, enteigneten Besitzer der Ferienhäuser verspottet (Abbildung 6). Ein anderes Bild zeigt einen Arbeiter im marmorverzierten Badezimmer eines Herrenhauses (Abbildung 7).
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SAPMO-BArch, DY 34/29/351/3633, Lektion für den Kurzlehrgang der Abteilungsleiter des Feriendienstes bei den Zentralvorständen der Industriegewerkschaften und Gewerkschaften. Thema: Die wirtschaftlichen und finanziellen Grundlagen des Feriendienstes der Gewerkschaften [1954], S. 7. Ebd., S. 7f.
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6 Karikatur aus dem Jahre 1957 mit folgender Unterschrift: »Die Proleten denken scheinbar nicht daran, mein Jagdschloss wieder zu geben.« (Wort und Bild. 10 Jahre FDGB, hg. v. FDGB, Berlin 1957, S. 14)
Auf diese Weise konnte sich die DDR als Staat des Neuanfanges darstellen. Der ideologisch notwendige Bruch mit der Vergangenheit98 implizierte aber zugleich, dass die Urformen gewerkschaftlicher Touristik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts beinahe gänzlich und die Urlaubsreisen der nationalsozialistischen Organisation »Kraft durch Freude« vollständig verschwiegen werden mussten, um das Neue umso stärker hervorheben zu können. Auch die Tatsache, dass einige Mitarbeiter, wie der bereits erwähnte Walter Maschke, schon in der Weimarer Republik in der gewerkschaftlichen Touristik engagiert waren, wurde verschwiegen, um den Eindruck zu erwecken, erst in der SBZ sei der Urlaub »erfunden« worden. Selbst in Bezug auf die Urlaubsregelungen wurden die gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik und die Regelungen im nationalsozialistischen Deutschland nicht thematisiert. Für das Selbstverständnis des neuen Staates war es vielmehr wichtig zu betonen, dass der
98 SAPMO-BArch, DY 34/20896, Informations-Material über den Feriendienst des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, 3. Januar 1951, S. 3.
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Urlaub nicht erkämpft, sondern vom Arbeiter- und Bauernstaat gewährt werde. Der Urlaub sei »ein neuer, der Arbeiterklasse gegebener Wert«.99 Zugleich wurde dem Urlaub eine andere Qualität zugewiesen, die sich von der Ausgestaltung des Urlaubs in der kapitalistischen Vergangenheit und im kapitalistischen Westen unterscheiden sollte. In Reaktion auf den 1958 in der Bundesrepublik erschienenen, einleitend diskutierten Aufsatz von Hans Magnus Enzensberger zur Theorie des Tourismus wurde 1959 in der DDR deutlich herausgearbeitet, dass der Urlaub im Sozialismus keine Gegenwelt zum Alltag – schon gar keine »Flucht« – sein sollte, sondern eine Ergänzung zu Alltag und Arbeitswelt. So, wie die sozialistische Gesellschaftsordnung eine neue Beziehung zur Arbeit schaffe, so werde auch eine neue Beziehung zum Urlaub herausgebildet, die nichts mit westlichem Eskapismus zu tun habe, hieß es von Seiten des FDGB. Denn die kapitalistische Dichotomie zwischen Arbeit und Urlaub werde aufgehoben, beides finde in der sozialistischen Gesellschaftsordnung zur unumstößlichen Einheit zusammen und beides bedinge sich gegenseitig. Erholung ermögliche eine höhere Arbeitsproduktivität, eine höhere Arbeitsproduktivität hebe die Qualität der Erholungsreisen.100 Darüber hinaus sollte der Feriendienst dazu beitragen, die Bürger davon zu überzeugen, in der DDR zu bleiben. Gerade angesichts der tausendfachen Flucht von DDR-Bürgern in den Westen in den 1950er-Jahren sollte mit dem Feriendienst ein sichtbares Beispiel für die Leistungen und Errungenschaften der DDR geschaffen werden. Diese Ideologisierung hatte freilich unmittelbaren Einfluss auf die Gestaltung des Urlaubs. Gerade weil man davon ausging, dass der Sozialismus die Bedingungen für den Urlaub erst schaffe, konnte man die politisch-erzieherische Arbeit im Urlaub nicht aussetzen.101 Es gelte, heißt es in den Schulungsmaterialien für die Mitarbeiter des Feriendienstes, einen Urlaub zu schaffen, »der unseren Werktätigen Erholung, Entspannung und zugleich neue Anregungen gibt im Kampf um den Frieden, die Einheit und den Aufbau, der ihre Gesundheit stärkt und ihnen Mut und Kraft für ihre weitere Arbeit am Schraubstock, in der Grube, hinter dem Ackerpflug oder im Labor verleiht«.102
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SAPMO-BArch, DY 34/15838, Lektion: Der Feriendienst der Gewerkschaften – eine Errungenschaft der Arbeiter- und Bauernmacht, 1955, S. 20. 100 Das Recht auf Urlaub und Erholung in der Deutschen Demokratischen Republik, Urlaub – Erholung – Genesung durch den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, hg. v. Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, Berlin 1959, S. 11–14, bes. S. 14, 12. 101 Hildegard Beck, Politik im Urlaub?, in: Gesundheit und Lebensfreude 1962, H. 5, S. 2. 102 SAPMO-BArch, DY 34/15838, Schulungsmaterial über die Aufgaben des Feriendienstes der Gewerkschaften, Berlin, den 22. Nov. 1951, S. 10f.
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7 Ein Foto aus dem Jahre 1957 mit der Bildunterschrift: »Eine Million kostet das Bad der Frau Rautenbach, in dem sich jetzt der Bergarbeiter aus Zwickau wohlfühlt.« (Wort und Bild. 10 Jahre FDGB, hg. v. FDGB, Berlin 1957, S. 7)
Denn im Urlaub stehe der Mensch »allem Schönen und Neuen aufgeschlossener als zu anderen Zeiten« gegenüber. »Aus diesem Grunde bestehen hier gute Möglichkeiten, mit beizutragen, allseitig gebildete und interessierte Menschen zu formen«, stellte die Zeitschrift »Gesundheit und Lebensfreude« 1961 fest.103 Dabei wurde hier Bildung nicht als Selbstzweck verfolgt. Immerhin sah man in der »Sozialistischen Allgemeinbildung« die »unerläßliche Grundlage für die allseitige Entwicklung sozialistischer Persönlichkeiten«.104 Nicht zufällig zeigt ein Bild in einer Informationsschrift des Feriendienstes die Urlauber beim Lesen der »Tribüne« (Abbildung 8). Die Lektüre der Gewerkschaftszeitung stellte dabei nur ein 103 Magda Schütze, Die Rolle der Heimleiter in unseren FDGB-Erholungsheimen, in: Gesundheit und Lebensfreude 2 (1961), H. 6, S. 2–3, hier S. 2. 104 Allgemeinbildung, Lehrplanwerk, Unterricht. Ausgearbeitet von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Gerhart Neuner, hg. von der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1972, S. 27.
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Element in einer Reihe unterschiedlicher, ritualisierter Praktiken dar, mit denen das Gemeinschaftsgefühl der Urlauber gefördert und gestärkt sowie politischerzieherischer Einfluss genommen werden sollte.
8 Urlauber am Steg beim Lesen der Gewerkschaftszeitung »Tribüne« (Erholungsaufenthalte zu allen Jahreszeiten, 1954, S. 136)
Auch das Bild der jungen Arbeiter der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft (SDAG) Wismut mit dem Schriftsteller Jan Kolpowitz, Literaturpreisträger des FDGB,105 weist in dieselbe Richtung: Urlaub wurde als Instrument der politischen Erziehung verstanden (Abbildung 9).
105 Der heute fast vergessene Schriftsteller Jan Kolpowitz, seit 1929 Mitglied der KPD und Mitarbeiter bei kommunistischen Zeitungen, hat in den 1950er-Jahren vor allem Reportagen, Erzählungen, Hör- und Fernsehspiele verfasst. Vgl. Horst Haase/Hans Jürgen Geerdts/ Erich Kühne/Walter Pallus (Hg.), Geschichte der Deutschen Literatur, Bd. 11: Literatur der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1977, S. 551f.
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9 Der Urlaub in der DDR war immer auch ein Instrument zur politischen Erziehung: Das Bild zeigt den Schriftsteller Jan Kolpowitz, Literaturpreisträger des FDGB, im Gespräch mit jungen Arbeitern der SDAG Wismut. (Manfred Schindler, Freude, Frohsinn, glückliche Menschen, hg. zum zehnjährigen Bestehen des Feriendienstes der Gewerkschaften v. Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, Berlin 1957, S. 33)
Solch erzieherische Absichten verfolgten weiterhin die Heimabende in den Ferienheimen. Regelmäßig referierte der Heimleiter bei diesen Versammlungen der Urlauber über die gesellschaftliche Entwicklung in der DDR und im Urlaubsort, bevor der Abend mit Tanzmusik, die freilich nicht in »amerikanische Unkultur« abgleiten sollte, ausklang.106 Ergänzt wurden diese Heimabende durch sogenannte Ausspracheabende, auf denen Probleme bei der Urlaubsgestaltung thematisiert werden konnten. Durch diese Aussprachen wurde zugleich die ritualisierte Form der politischen Kommunikation in der DDR in die Urlaubsorte hinein verlängert. Zu verschiedenen politischen Anlässen wie Volkskammerwahlen, Parteitagen u.a. wurde dabei stets »der Kampf um die Erhaltung des Friedens und die Einheit Deutschlands im Zusammenhang mit dem Feriendienst« behandelt.107 In »roten Ecken« und »Friedensecken« wurde der Geschichte der Arbeiterbewegung gedacht, vorzugsweise der Arbeiterführer, deren Namen die Heime trugen.108 Denn 106 SAPMO-BArch, DY 34/15865, Heimleiterbrief, Nr. 3 vom 6. 12. 1951, S. 5f. 107 SAPMO-BArch, DY 34/15865, Heimleiterbrief, Nr. 4 vom 23. 1. 1952, S. 2. 108 SAPMO-BArch, DY 34/15865, Heimleiterbrief, Nr. 1 vom 27. 6. 1951, S. 3.
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auch durch die Namensgebung der Ferienheime sollte politischer Einfluss ausgeübt werden – oft waren sie nach Arbeiterführern benannt. Die Namensgebung nach politischen Kriterien war in der DDR nicht ungewöhnlich, aber auch tourismusgeschichtlich hatte dieses Vorgehen durchaus Vorläufer. So waren »Hotel Central«, »Metropol«, »Royal«, »Continental« im 19. und frühen 20. Jahrhundert verbreitete Hotelnamen, die für einen »imperialen Kosmopolitismus« standen.109 Nicht weniger politisch war die Umbenennung zahlreicher Hotels im Ersten Weltkrieg: Der »Französische Hof« in Baden-Baden wurde zum »Frankfurter Hof«, das »Café Piccadilly« in Berlin zum »Haus Vaterland« und das »Savoy« in Köln zum »Hotel Großer Kurfürst«.110 Die Umbenennungen in der DDR folgten daher der deutschen Tradition, auch die Namen von Hotels und Restaurants dem politischen Zeitgeist anzupassen.
10 Urlauber am Strand (Manfred Schindler, Freude, Frohsinn, glückliche Menschen, 1957, S. 2)
109 Ebd. 110 Ebd.
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11 Urlauber bei der Segelpartie in den 1950er-Jahren (Erholungsaufenthalte zu allen Jahreszeiten, 1954, S. 122)
Eine Fülle von Materialien entstand in den frühen Jahren im Auftrag des FDGB, um den Eindruck vom glücklichen Urlaub als Verheißung des Sozialismus schließlich auch in die Wohn- und Arbeitsstätten zu tragen. So zeigt das 1954 erschienene Buch »Erholungsaufenthalte zu allen Jahreszeiten durch den Feriendienst der Gewerkschaften« Fotografien glücklicher Urlauber beim Wandern, bei einer munteren Schneeballschlacht, beim Sonnenbaden und bei der Bootspartie. Selten sind die abgebildeten Menschen allein, meist befinden sie sich in entspannter, fröhlicher Gesellschaft (Abbildung 10 und 11). Der Sozialismus – so sollte es scheinen – war hier am Urlaubsort in der DDR bereits verwirklicht. Der Utopie des Sozialismus wurde damit ein Ort in der Gegenwart gegeben – die Urlaubsorte wurden zu »tatsächlich realisierte[n] Utopien«, zu »anderen Orten«, zu Heterotopien (Michel Foucault). Dort schaffte man einen »anderen Raum, einen anderen wirklichen Raum, der so vollkommen, so sorgfältig, so wohlgeordnet ist, wie der unsrige ungeordnet, mißraten und wirr ist«.111 Diese Bilder und ihre Verbreitung können als Teil der Propaganda betrachtet werden, die einer Politik Ausdruck verlieh, die auf die sozialistische Vergemeinschaftung im Urlaubsort abzielte. Es bleibt jedoch fraglich, inwieweit die Urlauber den ideologischen Vorstellungen entsprachen. Und so schimmert auch in diesen 111 Michel Foucault, Andere Räume, in: Jan Engelmann (Hg.), Der Foucault-Reader. Diskurs und Medien, Stuttgart 1999, S. 145–157, hier S. 149, 155.
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frühen, propagandistischen Bildern schon durch, was eigentlich verneint werden sollte und sich doch im Laufe der nächsten Jahrzehnte vollständig entfaltete: Es entstand auch in der DDR eine Gesellschaft, die großen Wert auf das individuelle Erlebnis legte und dabei ideologische Vorgaben ignorieren und unterlaufen konnte – das Vergnügen und die Freude, die auf diesen Bildern zu sehen ist, war nicht dem Sozialismus, sondern dem Urlaub selbst geschuldet. Das erste Jahrzehnt des Feriendienstes Mit der Ideologisierung des Feriendienstes und seinem Wandel von einer sozialpolitischen Maßnahme zum Instrument der Produktionssteigerung vollzog sich der erstaunlich schnelle Ausbau der Ferienplatzkapazitäten. Anfangs standen dem FDGB-Feriendienst für die Unterbringung von Urlaubern lediglich vier Heime zur Verfügung, die sich im Besitz der Gewerkschaft befanden. Der Bedarf an Urlaubsplätzen konnte mit diesen sogenannten Eigenheimen (EH) nicht gedeckt werden. Von Beginn an musste der Feriendienst daher auf die bereits im Gründungsbeschluss geschaffene Möglichkeit zurückgreifen, durch Verträge mit Pensionen und Hotels im Privatbesitz zusätzliche Urlaubsplätze anzumieten.112 Diese »Vertragsheime« (VH) wurden bald zu einer wesentlichen Säule des Feriendienstes.113 Zum Ende der ersten Urlaubssaison im Sommer 1947 hatte sich die Zahl der FDGB-eigenen Ferienheime auf zehn erhöht. In diesen Häusern standen 498 Ferienplätze zur Verfügung, die mehrfach im Jahr belegt werden konnten. Weitere 1.100 Plätze befanden sich in einer nicht genannten Zahl von »Vertragshäusern« oder »Vertragsheimen«.114 1948 zählte der FDGB bereits 36, 1949 schon 92 und 1950 schließlich 100 eigene Ferienheime. Machten 1947 lediglich 17.500 Mitglieder des FDGB mit dem Feriendienst Urlaub, so erhöhte sich ihre Zahl im Jahre 1948 bereits auf 100.000; 1949 gab es 210.000 Urlauber, und 1950 waren es sogar 305.000.115 1950 boten die Eigenheime 4.947 Plätze, während in den Vertragshäusern 23.000 Plätze zur Verfügung standen.116 Diese schnelle Erweiterung der Feriendienstkapazitäten wurde vor allem durch Befehle der SMAD ermöglicht, die eine grundlegende Umgestaltung der Wirt-
112 SAPMO-BArch, DY 34/24002, Zu Punkt 20 der Tagesordnung [der Sitzung des Geschäftsführenden Vorstandes am 20. 3. 1947]. Feriendienst des F.D.G.B., S. 1, Bl. 96. Vgl. auch Geschäftsbericht des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes 1946, S. 102. 113 Geschäftsbericht des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, S. 102. 114 SAPMO-BArch, DY 34/15838, Lektion: Der Feriendienst der Gewerkschaften – eine Errungenschaft der Arbeiter- und Bauernmacht, 1955, S. 16. 115 Ebd. 116 Ebd.
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schaftsordnung auf dem Gebiet der SBZ einleiteten.117 Schon Ende Oktober 1945 hatten die SMAD-Befehle Nr. 124118 und Nr. 126119 die Beschlagnahmung des gesamten Eigentums des deutschen Staates, der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) und ihrer aktiven Amtsleiter sowie der Wehrmacht verfügt.120 Der Befehl Nr. 44 vom 18. März 1948 ordnete an, »Schlösser und Paläste der früheren Gutsbesitzer, Junker, Finanzmagnaten und anderer Monopole« an die Sozialversicherungen und den FDGB zur Nutzung als Erholungsheime und Sanatorien zu übergeben.121 Diese Maßnahmen führten dazu, dass die Eigenheime des Feriendienstes anfangs beinahe ausschließlich aus enteigneten Schlössern, Herrensitzen sowie Hotels und Pensionen bestanden.122 Während man in der Öffentlichkeit die antifaschistische Symbolik dieser Enteignungsmaßnahmen hervorhob, wurde intern bereits früh darüber diskutiert, wie man sich dieser Häuser entledigen konnte.123 Denn die Schlösser und Herrensitze belasteten den Feriendienst stark: Diese Häuser waren oftmals klein und als luxuriöse Wohnstätte für wenige Bewohner und ihre Gäste konzipiert worden. Für die Zwecke des Feriendienstes, der früh auf große Urlau117 SAPMO-BArch, DY 34/15838, Lektion: Der Feriendienst der Gewerkschaften – eine Errungenschaft der Arbeiter- und Bauernmacht, 1955, S. 14; SAPMO-BArch, DY 34/29/351/ 3633, Lektion für den Kurzlehrgang der Abteilungsleiter des Feriendienstes bei den Zentralvorständen der Industriegewerkschaften und Gewerkschaften. Thema: Die wirtschaftlichen und finanziellen Grundlagen des Feriendienstes der Gewerkschaften [1954], S. 2. 118 Befehl Nr. 124 des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland über die Beschlagnahme und provisorische Übernahme einiger Eigentumskategorien in Deutschland vom 30. Oktober 1945, in: Um ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland. Dokumente aus den Jahren 1945–1949, hg. v. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR und dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, Berlin 1968, Dok. Nr. 70, S. 189–192. 119 Befehl Nr. 126 des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland zur Konfiskation des Eigentums der nationalsozialistischen Partei, ihrer Organe und der ihr angeschlossenen Organisationen vom 31. Oktober 1945, in: ebd., Dok. Nr. 72, S. 194–196. 120 Torsten Hartisch, Die Enteignung von »Nazi- und Kriegsverbrechern« im Land Brandenburg, Eine verwaltungsgeschichtliche Studie zu den SMAD-Befehlen Nr. 124 vom 30. Oktober 1945 bzw. Nr. 64 vom 17. April 1948 (Quellen, Findbücher und Inventare des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, Bd. 17), Frankfurt a.M. 1998, S. 19ff.; Rosemarie Will, Die Eigentumsordnung der DDR, in: Gerd Bender/Ulrich Falk (Hg.), Recht im Sozialismus. Analysen zur Normdurchsetzung in osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften (1944/45–1989 (Ius Commune, Bd. 113). Bd. 1: Enteignungen, Frankfurt a.M. 1999, S. 116-152, hier S. 123ff. 121 Befehl Nr. 44 vom 18. März 1948 über die Erhöhung der Sozialrenten und Vermehrung von Erholungsheimen und Sanatorien, in: Zentralverordnungsblatt 1948, Nr. 3, S. 131. 122 Wie gefällt euch dieses Ferienheim?, in: Urlaubsfreuden durch den Feriendienst der Gewerkschaften, S. 29–30, hier S. 29. 123 Ebd.
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berzahlen fokussierte, erwiesen sich die enteigneten Häuser baulich als höchst ungeeignet und finanziell unrentabel.124 Der Feriendienst müsse »Kurs auf die Errichtung von Neubauten (Zweckbauten)« nehmen, um den »sozialistischen« Urlaub zu ermöglichen, hieß es bereits 1950.125 Allerdings waren für Neubauten nur selten Mittel verfügbar. Bis in die 1960er-Jahre hinein war deshalb die Bausubstanz der Feriendienst-Häuser völlig veraltet. Ca. 60 Prozent aller Gebäude waren um die Jahrhundertwende errichtet worden und bedurften eigentlich kostspieliger Renovierungsarbeiten, für die jedoch keine Ressourcen zur Verfügung standen.126 Trotz dieser erheblichen Belastung durch übernommene Ferienheime setzte sich die beachtliche Entwicklung des Feriendienstes bis in die Mitte der 1950er-Jahre fort. 1955 wurden erstmals über eine Million Reisen durchgeführt. Die Zahl der FDGB-Eigenheime und der Urlaubsreisen hatte sich gegenüber dem Jahr 1950 verdreifacht.127 Mit dem Ausbau des Feriendienstes bewahrheitete sich allerdings, was der Berliner FDGB-Vorsitzende Roman Chwalek schon 1947 befürchtet hatte: Es wurden große Illusionen bei den Arbeitern geweckt, die nicht erfüllt werden konnten.128 Denn nach den teils erheblichen Schwierigkeiten, die Arbeiter überhaupt für die Reisen zu gewinnen – die nachfolgend im Abschnitt über die Arbeiter als Zielgruppe des Feriendienstes beschrieben werden129 –, stellte sich sehr bald eine große Reisebegeisterung der DDR-Bürger ein. Die Geister, die man rief, wurde man bis zum Ende der DDR nicht wieder los. Weder quantitativ noch qualitativ konnte der FDGB-Feriendienst die zum großen Teil selbst stimulierte Nachfrage und Erwartungshaltung befriedigen. Ein wesentlicher Grund für die Schwierigkeiten des Feriendienstes lag in einer personell äußerst knapp besetzten und ineffizient arbeitenden Verwaltung, die auf bürokratische Verfahrensweisen festgelegt war. Bald war offensichtlich, dass aufgrund des geringen Personalbestandes häufig nur die »dringendsten laufenden Arbeiten« erledigt werden konnten, »so daß die grundsätzlichen Arbeiten ins
124 SAPMO-BArch, DY 34/20896, Protokoll über die Sitzung der Reorganisationskommission der Abt. Feriendienst am Donnerstag, dem 29. 9. [,] und Freitag, dem 30. 9. 1949, S. 6. 125 SAPMO-BArch, DY 34/20896, Der Feriendienst des FDGB. Seine Entwicklung, sein Zustand und die zur Verbesserung der Leistungen notwendigen Massnahmen [1950], S. 3 u. 8f. 126 SAPMO-BArch, DY 34/5957, FDGB-Bundesvorstand. Abteilung Feriendienst, Entwicklung des Erholungswesens bis 1980 für die Werktätigen der DDR, Berlin, den 6. 1. 1967, [S. 1.] 127 Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik, 6. Jg. 1960/61, S. 157. 128 Vgl. die Ausführungen zu Anfang dieses Kapitels: Politisierung und Ideologisierung des FDGB-Feriendienstes. 129 Vgl. auch das Kapitel II.2.: »Arbeiter auf Reisen. Ideologie und Wirklichkeit«.
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Hintertreffen geraten mussten«.130 Zusätzlich wurde die Arbeit durch unzulängliche Räumlichkeiten erschwert, die den Funktionären der Zentrale des FDGBFeriendienstes im Berliner Haus des Bundesvorstandes zur Verfügung standen, sodass »bei Anlauf der Saison die Kollegen der Abteilung in einem Zimmer zu 8 Personen gesessen haben[,] und die Reiseschecks paketweise lose auf der Erde herumlagen, weil kein Platz vorhanden war«.131 Sogar die Auslieferungstermine für die Ferienschecks, die immerhin das Herzstück des planwirtschaftlich veranstalteten Urlaubs waren, konnten »niemals genau eingehalten werden«, da nur der FDGB Groß-Berlin über eine sogenannte Adrema-Abteilung mit einer Adressiermaschine verfügte, mit der die vorgedruckten Ferienschecks mit den konkreten Angaben zur Reise versehen werden konnten.132 Letztlich fehlte auch ein gutes Kontrollsystem auf allen Ebenen, so »dass auftretende Schwierigkeiten von den zentralen Stellen immer erst in dem Augenblick bemerkt wurden, als es meistens nicht mehr möglich war, wirklich durchgreifende Abhilfe zu schaffen«.133 So musste Anfang der 1950erJahre konstatiert werden, dass »der vorhandene Apparat den Anforderungen nicht gewachsen [war]«:134 Bereits wenige Jahre nach der Gründung entsprach »die bestehende Organisationsform nicht mehr den Bedürfnissen unserer gewerkschaftspolitischen und wirtschaftlichen Entwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik«.135 Hinsichtlich der Quantität der Ferienplätze bestand das Problem zunächst nicht in unzureichenden Kapazitäten des Feriendienstes. Besonders nachteilig wirkte sich hier vielmehr die ineffiziente planwirtschaftliche Verteilung der Ferienplätze aus.136 Dies führte dazu, dass zahlreiche Reisewünsche nicht erfüllt werden konnten, weil »dem Kollegen keine genügende Auswahl an Ferienplätzen zur Verfügung stand […], obwohl an anderer Stelle die gewünschten Plätze ungenutzt herumlagen«.137 Überbelegungen bei gleichzeitigen Leerständen an anderen Orten prägten die Rea-
130 SAPMO-BArch, DY 34/20896, Vorlage für die 33. Sekretariatssitzung [von der] Abteilung Feriendienst beim Bundesvorstand des FDGB, Berlin, den 5. August 1949: ReorganisationsPlan der Abt. Feriendienst beim Bundesvorstand, S. 3. 131 Ebd. 132 Ebd., S. 9. 133 Ebd. 134 Ebd., S. 3. 135 SAPMO-BArch, DY 34/20897, Arbeitsrichtlinien für den Feriendienst der Gewerkschaften, o.D., S. 1. 136 Vgl. die Ausführungen zur »Verteilung der Urlaubsplätze« in Kapitel II.1. 137 SAPMO-BArch, DY 34/20896, Vorlage für die 33. Sekretariatssitzung [von der] Abteilung Feriendienst beim Bundesvorstand des FDGB, Berlin, den 5. August 1949: ReorganisationsPlan der Abt. Feriendienst beim Bundesvorstand, S. 7.
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lität des Feriendienstes in den frühen 1950er-Jahren.138 Das Bezirks-OrganisationsKomitee Dresden sah sich 1952 veranlasst, in seinem Rechenschaftsbericht sehr deutlich zu werden: Es spottet jeder Beschreibung, was sich bei der Belegung dieser Plätze abgespielt hat. Unwillkürlich fragte man sich, ist hier Sabotage am Werk oder gibt es tatsächlich so viel Dummheit? […] Die indifferenten, unserer Bewegung noch Fernstehenden werden diese Fehler zum Anlaß nehmen, uns alle für unfähige Dummköpfe zu erklären.139
Auch die Versorgung war nicht immer in dem Maße gewährleistet, wie es sich die Urlauber wünschten. Die Verpflegungssätze rationalisierter Lebensmittel konnten nur langsam angehoben werden.140 Gelegentlich wurde schlicht vergessen, die Zahl der Urlauber in den Versorgungsplan der Zielregionen aufzunehmen, was zu erheblichen Engpässen bei der Lebensmittelversorgung führte.141 Schließlich wurde hinsichtlich der »kulturellen Betreuung« festgestellt: »Eine eigentliche Kulturarbeit war in den vergangenen Jahren nicht zu verzeichnen.«142 Die Veranstaltungen in den Erholungsheimen blieben meist der Initiative der Heimleiter überlassen, die jedoch oftmals »noch nicht die Voraussetzungen hatten, die wir heute an unsere Mitarbeiter stellen müssen«, sodass das »Niveau der bisher durchgeführten Veranstaltungen sehr oft zu wünschen übrig [ließ]«.143 Die Programme genügten weder den Urlaubern, die oft über fehlende, schlechte oder langweilige Veranstaltungen klagten, noch entsprachen sie den politisch-ideologischen Erwartungen der leitenden Gewerkschaftsfunktionäre. Die unzulänglichen Zustände im Feriendienst führten zu einer erheblichen Unruhe in der Bevölkerung. Immer häufiger musste festgestellt werden, dass sich in den 138 Vgl. nur SAPMO-BArch, DY 46/464, Horst Matschke an den FDGB-Feriendienst, Bln.O‘weide 22. 2. 53. Abschrift. 139 SAPMO-BArch, DY 34/29/480/3663, Bezirks-Org.-Komitee Dresden, Feriendienst der Gewerkschaften, Rechenschaftsbericht des Feriendienstes der Gewerkschaften im Lande Sachsen, o.D. [1952], S. 21f. 140 SAPMO-BArch, DY 34/29/351/3633, Lektion für den Kurzlehrgang der Abteilungsleiter des Feriendienstes bei den Zentralvorständen der Industriegewerkschaften und Gewerkschaften. Thema: Die wirtschaftlichen und finanziellen Grundlagen des Feriendienstes der Gewerkschaften [1954], S. 6. 141 »Verplante Ferien« (Demokratischer Aufbruch August 1953, Nr. 8. SBZ-Archiv 4/1953, S. 256), abgedruckt in: Christoph Kleßmann/Georg Wagner (Hg.), Das gespaltene Land. Leben in Deutschland 1945–1990. Texte und Dokumente zur Sozialgeschichte, München 1993, S. 513–515, hier S. 514. 142 SAPMO-BArch, DY 34/20987, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Feriendienst der Gewerkschaften, Der Feriendienst der Gewerkschaften und seine Aufgaben, 30. Oktober 1951, S. 5. 143 Ebd., S. 5f. Vgl. auch meine Ausführungen zu den Heimleitern.
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Betrieben »alle Diskussionen auf den Feriendienst zu konzentrieren [begannen], d. h. in den Betriebsabendschulen, in den Produktionsbesprechungen und in den Belegschaftsversammlungen wichen die Diskussionen vom Thema ab und rutschten immer wieder auf das Gleis der mangelhaften Arbeit des Feriendienstes«.144 Solche Diskussionen rührten an den Grundfesten des Feriendienstes und stellten die Legitimität der Gewerkschaft, sogar des gesamten Staates in Frage, weil öffentlich beste Erholungsmöglichkeiten versprochen wurden, die es de facto nicht gab. Gelegentlich wurde sogar die Auflösung des Feriendienstes gefordert: »Das beste ist, wir lassen den Feriendienst einschlafen!«145 Auch die verantwortlichen Funktionäre erkannten in den 1950er-Jahren, dass die Erwartungen an den Feriendienst, die man zu einem guten Teil mit enormem propagandistischen Aufwand selbst generiert hatte, zum damaligen Zeitpunkt nicht erfüllbar waren. Man müsse daher, hieß es nun, umso mehr mit »große[r] Beharrlichkeit« allen Mitgliedern des FDGB »immer und immer wieder […] sagen, dass auch der Feriendienst einmal überzeugend arbeiten kann und dass unsere Werktätigen es einsehen, dass die von ihnen gestellten Forderungen verfrüht sind«.146 Das große Ziel des Feriendienstes, eine gut funktionierende Organisation zur Durchführung des Massentourismus für die Werktätigen zu schaffen und damit zur Legitimation der Gewerkschaft und vor allem der DDR beizutragen, gab man indes nicht auf. Im Gegenteil: Auf der ersten Arbeitstagung des Feriendienstes im thüringischen Oberhof am 8. und 9. November 1951 verdammte Herbert Warnke, der Vorsitzende des FDGB, den Feriendienst zum Erfolg, indem er apodiktisch forderte, dass er »die größte soziale und kulturelle Leistung der Gewerkschaften werden muß«.147 Anstatt jedoch konkrete Hilfestellungen für die Funktionäre in den Ferienheimen zu geben, wurde in erster Linie zur politischen Arbeit aufgerufen. Man unterlag dabei vor allem dem »Organisationsfetischismus«, der die DDR in vielen
144 SAPMO-BArch, DY 34/29/480/3663 [ohne nähere Bezeichnung, Ortsangabe und Datum, offensichtlich ein Redemanuskript, handschriftlich überschrieben: ZV. (Zentralvorstand Metall), vermutl. Dez. 1952], S. 1. Beim Autor muss es sich um ein Mitglied des Zentralvorstandes oder zumindest der Abteilung Feriendienst handeln. Aus dem Kontext der Akte kann geschlossen werden, dass der Text der Entwurf eines Referats war, das auf der 1. Zentralen Arbeitstagung des Feriendienstes der IG Metall am 10. Dezember 1952 gehalten wurde. 145 Zit. nach: SAPMO-BArch, DY 34/15838, Referat über die Bedeutung und die Aufgaben des Feriendienstes der Gewerkschaften 1952, S. 15. 146 Ebd., S. 4. 147 Zit. nach: SAPMO-BArch, DY 34/29/480/3663, Zentralvorstand der IG Metall, Feriendienst, Entwurf. Entschließung der 1. Zentralen Arbeitstagung des Feriendienstes der IG Metall am 10. Dezember 1952 in Leipzig [o.D.], S. 3.
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Bereichen prägte,148 und vertraute auf das Allheilmittel einer guten Organisation. Denn auch hier, hieß es nun, bewahrheite sich im »höchsten Grade« der »vom Genossen Stalin geprägte Satz von der Wichtigkeit der Organisationsfrage«.149 Dabei erschien weniger die administrative Effizienz als vielmehr die klare politische Ausrichtung der Arbeit als Garant für die »Durchführung der Linie« und den Erfolg des Feriendienstes. »Manche Leiter unserer Ferienheime fühlen sich mehr als Hotelwirte oder Beamte und nicht als Gewerkschaftsfunktionäre«,150 hatte Warnke bereits auf dem 3. FDGB-Kongress gesagt und sodann unterstrichen: »Wir sind der Auffassung, daß der Feriendienst politischer werden muß.«151 Alle Mitarbeiter müssten »von der Richtigkeit unserer Politik« durchdrungen sein sowie »den Charakter und damit auch die Rolle unserer DDR richtig einschätzen«,152 hieß es an anderer Stelle. Die Mitarbeiter müssten erkennen, dass der Feriendienst »einen Faktor von grosser politischer Bedeutung im gesamten Aufbau unserer Deutschen Demokratischen Republik dar[stellt]«.153 Jeder müsse sich daher in erster Linie als Gewerkschaftsfunktionär verstehen.154 Die oben beschriebenen Mängel sah man vor allem darin begründet, dass die politische Arbeit des Feriendienstes »stark vernachlässigt« worden sei und die beauftragten Kollegen »ihre Tätigkeit neben anderen Aufgaben nur am Rande« erledigen würden, weil sie die politische Bedeutung unterschätzten.155 Auch wenn 148 Vgl. Christoph Kleßmann, Die stilisierte Klasse – Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Entstehungsphase der DDR (1945–1948), in: Archiv für Sozialgeschichte 39 (1999), S. 19–71, hier S. 71. 149 SAPMO-BArch, DY 34/29/480/3663, Bezirks-Org.-Komitee Dresden, Feriendienst der Gewerkschaften, Rechenschaftsbericht des Feriendienstes der Gewerkschaften im Lande Sachsen, o.D. [1952], S. 22. Stalin hatte geschrieben: »Ist eine richtige politische Linie gegeben worden, so entscheidet die Organisationsarbeit alles, auch das Schicksal der Linie selbst, ihre Durchführung oder ihr Scheitern.« (Zit. nach: ebd., S. 6.) 150 Protokoll des 3. Kongresses des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes vom 30. August bis zum 3. September 1950, hg. v. Bundesvorstand des FDGB, Berlin 1950, S. 97. Vgl. auch das Kapitel III.2 über die Mitarbeiter in diesem Buch. 151 Ebd. 152 SAPMO-BArch, DY 34/20900, Protokoll über die Sitzung der Abteilung Feriendienst mit den Landesvorständen, Abt. Feriendienst, am 7. 2. 1951, 9.30 im Hause des Bundesvorstand, Engeldamm 70, Zimmer 315, Berlin, den 14. Februar 1951, gez. Gienger, S. 1. 153 SAPMO-BArch, DY 34/29/480/3663, Bezirks-Org.-Komitee Dresden, Feriendienst der Gewerkschaften, Rechenschaftsbericht des Feriendienstes der Gewerkschaften im Lande Sachsen, o.D. [1952], S. 14f. 154 SAPMO-BArch DY 34/20896, Der Feriendienst des FDGB. Seine Entwicklung, sein Zustand, seine Mängel und die zur Verbesserung der Leistungen notwendigen Massnahmen [1950], S. 6f. 155 SAPMO-BArch, DY 34/15838, Referat über die Bedeutung und die Aufgaben des Feriendienstes der Gewerkschaften 1952, S. 14 u. 22.
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sich der Begriff nicht durchsetzte, ist es doch bezeichnend, dass die IG Chemie eine »wirkliche Ferienpolitik« einforderte.156 Damit wurde einmal mehr der Grundsatz betont, die Arbeit des Feriendienstes als Politik zu verstehen, die nur dann Erfolg haben könne, wenn die politischen Vorgaben umgesetzt würden. Mit dieser eher schlichten, aber doch eingängigen Politisierung der Arbeit des Feriendienstes war zugleich eine eingängige Vorgabe für die weitere Entwicklung gegeben: Durch beständige politische Arbeit sollte das Angebot des Feriendienstes quantitativ und qualitativ stets und kontinuierlich verbessert werden. Diese simple Vorgabe war in den politischen Auseinandersetzungen der frühen 1950er-Jahre allseitig anwendbar und überdauerte die politischen Einschnitte unverändert. Denn gleichgültig, ob es sich um den Beschluss der II. Parteikonferenz der SED aus dem Jahre 1952 handelte, den Sozialismus planmäßig aufzubauen, um den »Neuen Kurs« 1953 oder um den Aufstand vom 17. Juni 1953 – immer konnte in gleicher Weise reagiert werden. Als Walter Ulbricht am 9. Juli 1952 auf der II. Parteikonferenz der SED bekanntgab, dass das Zentralkomitee beschlossen habe, »der II. Parteikonferenz vorzuschlagen, daß in der Deutschen Demokratischen Republik der Sozialismus planmäßig aufgebaut wird«,157 erklärte die SED – so der Historiker Falco Werkentin – »der gesamten Gesellschaft den sozialen Krieg, soweit sie nicht bereit war, enthusiastisch den Aufbau des Sozialismus mitzutragen«.158 Die repressiven Folgen dieses weitreichenden Beschlusses sind von der Geschichtswissenschaft ausführlich dargestellt worden.159 Der Feriendienst aber bildete gleichsam das Gegenstück zur Repression, indem er seine Arbeit recht unverändert fortsetzte. »Der Aufbau des Sozialismus erfordert gesunde und frohe Menschen«, 156 Vgl. SAPMO-BArch, DY 34/29/480/3663, Industriegewerkschaft Chemie, Feriendienst, Sekretariatsvorlage, Betr.: Analyse der Abtlg. Feriendienst aus der Sommersaison 1952, Berlin, den 9. Oktober 1952, S. 1. 157 Protokoll der Verhandlungen der II. Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 9. bis 12. Juli in der Werner-Seelenbinder-Halle zu Berlin, Berlin 1952, S. 58. 158 Falco Werkentin, Der totale soziale Krieg – Auswirkungen der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2002, S. 23–54, hier S. 24. 159 Vgl. Falco Werkentin, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht. Vom bekennenden Terror zur verdeckten Repression, 2. Aufl., Berlin 1997; ders. (Hg.), Der Aufbau der »Grundlagen des Sozialismus« in der DDR 1952/53 (Schriftenreihe des Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Bd. 15), Berlin 2002; Armin Mitter/Stefan Wolle, Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, München 1993, S. 27ff.; siehe auch: Schroeder, Der SED-Staat, S. 119ff.; Dietrich Staritz, Geschichte der DDR, erw. Neuausgabe, Frankfurt a.M. 1996, S. 94ff.; Hermann Weber, Die DDR 1945–1990 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 20), 3., überarb. u. erw. Aufl., München 2000, S. 36.
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lautete 1952 die Überschrift zum Entwurf eines Zeitungsartikels. Der Feriendienst des FDGB wurde damit für den »Aufbau des Sozialismus« instrumentalisiert und sollte dazu beitragen, dass »unsere Werktätigen diese Arbeit nicht als Fron empfinden«.160 So wurde in den Planungen für die kommenden Jahre festgestellt: »Wenn der Aufbau des Sozialismus in den Betrieben erkämpft werden muß, dann haben unsere Werktätigen, insbesondere unsere Arbeiter und die techn. Intelligenz, das Recht, bessere Erholungsmöglichkeiten zu fordern.«161 Mit der Kampfansage an die »alte Gesellschaft«, die von der II. Parteikonferenz und ihrem Programm ausging, gerieten vor allem die privaten Besitzer von Pensionen und Hotels in das Visier der SED. Zwar hatte auch der FDGB diese Privatunternehmen, »deren Kostenberechnung […] den Unternehmergewinn miteinkalkuliert«,162 stets kritisiert, weil man zwischen der Gewinnorientierung und der angemessenen Betreuung der Gäste einen Widerspruch ausmachen wollte. Doch hinter den markigen Worten, die auch den politischen Erwartungen geschuldet waren, denen sich der jeweilige Verfasser seitens höherer Stellen ausgesetzt sah, verbarg sich nicht selten Kompromissbereitschaft. Denn auf die beachtliche Zahl der Ferienplätze, die der Feriendienst in privaten Unterkünften anmietete, konnte nicht verzichtet werden. Dennoch entwickelte die im September 1952 vom FDGB-Bundesvorstand an das Zentralkomitee (ZK) der SED gesandte »Konzeption zur planmäßigen Entwicklung des Feriendienstes der Gewerkschaften beim Aufbau des Sozialismus« ihre eigene Dynamik. Im üblichen Tonfall wurden darin die Schwierigkeiten des Feriendienstes auf den hohen Anteil der Privatpensionen zurückgeführt. Es wurde vorgeschlagen, dass diese Häuser ihre Kapazitäten der Kurverwaltung bzw. dem Feriendienst zur Verfügung stellen sollten. Dabei war keinesfalls an Enteignungen gedacht, vielmehr sollten die privaten Vermieter vertraglich verpflichtet werden, ausschließlich FDGB-Gäste aufzunehmen. Der ZK-Apparat nahm diesen Bericht zum Anlass, weitaus radikaler als je zuvor gegen die privaten Vermieter im Fremdenverkehrsgewerbe vorzugehen.163 Ab Januar 1953 wurden diese auf Erholungsgebiete an der Ostsee konzentrierten Maßnahmen im Rahmen der »Aktion Rose« generalstabsmäßig von der Volkspolizei vorbereitet. Schon vor Beginn der Aktion waren die Justizfunktionäre im Bezirk Rostock 160 SAPMO-BArch, DY 34/15838, Der Aufbau des Sozialismus erfordert gesunde und frohe Menschen, o. Verf. [1952], S. 1. 161 SAPMO-BArch, DY 34/15838, Planmäßige Entwicklung des Feriendienstes der Gewerkschaften beim Aufbau des Sozialismus, o. Verf., o.D. 162 SAPMO-BArch, DY 34/20897, Material für die Schaffung eines Handbuches der Gewerkschaften von der Abtlg. Feriendienst der Gewerkschaften beim Buvo [d. i. Bundesvorstand, CG], o.D. [1950/51], S. 6. 163 Vgl. hierzu Werkentin, Politische Strafjustiz, S. 56ff.
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auf ihre Zuverlässigkeit bei den zu erwartenden Strafverfahren überprüft und gegebenenfalls umbesetzt worden. Auch ein Sondergericht wurde geschaffen.164 Vom 10. Februar bis zum 11. März 1953 untersuchten schließlich 400 Volkspolizisten in fünf Einsatzgruppen 711 Betriebe nach Beweismaterial, das eine Enteignung in strafrechtlicher Hinsicht rechtfertigen konnte. Bereits kleine Delikte, wie der Verkauf von Kaffee und Zigaretten aus Westberlin, das Sammeln von Lebensmitteln, das Hören des West-Berliner Radiosenders RIAS, fehlerhafte Angaben über Lebensmittelbestände, der illegale Ankauf von Lebensmitteln zur Bewirtung der Gäste u.a., führten zu Haftstrafen für die Besitzer privater Pensionen und Hotels sowie zur Beschlagnahme ihres Eigentums.165 447 Menschen wurden in Untersuchungshaft genommen, 400 Verurteilungen zu einer Haft von einem bis zu zehn Jahren erfolgten. Insgesamt wurden 440 Hotels und Pensionen sowie 181 Wirtschaftsbetriebe, Gaststätten, Wohnhäuser und Grundstücke in einem Gesamtwert von 30 Millionen Mark beschlagnahmt. Weitere 2 Millionen Mark kamen durch die Einziehung von Bargeld, Konten und Schmuck hinzu. Josef Streit, Staatsanwalt beim Generalstaatsanwalt der DDR und Mitglied der Einsatzleitung der »Aktion Rose«, stellte abschließend fest: »Hinsichtlich der Vermögenseinziehung ist zu sagen, daß die gesetzlichen Möglichkeiten konsequent ausgeschöpft wurden.«166 Der FDGB und sein Feriendienst selbst hielten sich während der »Aktion Rose« weitestgehend zurück, weil die Verantwortlichen genau wussten, dass sie auf unabsehbare Zeit auf die privaten Vermieter angewiesen sein würden.167 Auch kurzfristig konnte kaum ein Vorteil aus dem Vorgehen gezogen werden. Obschon dem Feriendienst zahlreiche enteignete Heime übertragen wurden, erhöhten sich seine Kapazitäten dadurch nicht. Vielmehr trat das Gegenteil ein, denn die meisten beschlagnahmten Häuser waren schon zuvor vertraglich an den FDGB gebunden gewesen. Da die Volkspolizei gewissermaßen als Gegenleistung zu der von ihr durchgeführten Aktion nun manche der beschlagnahmten Häuser für sich selbst in Anspruch nahm und nicht bereit war, die Verträge mit dem FDGB fortzuführen, nahm die Zahl der Unterkünfte, die dem FDGB-Feriendienst zur Verfügung standen, aufgrund der Aktion tatsächlich ab.168 So löste die »Aktion Rose« die Probleme des Feriendienstes nicht – im Gegenteil, die Aktion verschlechterte seine Lage. Auch wenn im kleineren Maßstab ähnliche Enteignungswellen in Oberhof und anderen Orten im Thüringer Wald erfolgten, verzichtete man schließlich auf ein republikweites Vorgehen dieser Art. 164 165 166 167 168
Ebd., S. 57f. Ebd., S. 59f. Zit. nach: ebd., S. 59. Selbach, Reisen nach Plan, S. 68. Werkentin, Politische Strafjustiz, S. 57.
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Auch nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 hielt die SED an der Überzeugung fest, »daß unsere Partei Deutschland auf den Weg zum Sozialismus führte und auch in der Deutschen Demokratischen Republik mit der Errichtung der Grundlagen des Sozialismus begann«.169 Der entscheidende Fehler, den man zuvor begangen habe, erklärte Walter Ulbricht nach dem 17. Juni 1953, sei gewesen, »daß die Parteiführung nicht erkannte, daß unter den in der Deutschen Demokratischen Republik vorhandenen Bedingungen der Aufbau des Sozialismus nur allmählich erfolgen kann und mit einer ständigen Verbesserung der wirtschaftlichen und kulturellen Lage der Werktätigen verbunden sein muß«.170 Der Feriendienst aber, der schon zuvor stets die qualitative und quantitative Verbesserung gefordert und angestrebt hatte, konnte der neuen Situation nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 entspannt entgegensehen. Allenfalls zurückhaltende Selbstkritik war zu vernehmen: Auch beim Feriendienst werde die Kritik der Arbeiter helfen, hieß es in der üblichen Formulierung jener Jahre, »Lehren zu ziehen und gegen jedes bürokratische Verhalten aufzutreten«.171 Man müsse »unsere bisherige Arbeit auf dem Gebiete des Feriendienstes kritisch untersuchen, um noch vorhandene Mängel und Schwächen zu beseitigen«.172 Im Wesentlichen bedeutete das: weiter wie bisher in der Arbeit des Feriendienstes. Es gab lediglich zwei Änderungen gegenüber dem bisherigen Kurs. Zum einen wurden die Preise für die Ferienreisen durch die Erhöhung der Zuschüsse durch den FDGB, die das Sekretariat des FDGB-Bundesvorstandes beschlossen hatte, deutlich gesenkt. Ab dem 1. April 1954 kostete eine 13-tägige Urlaubsreise für FDGBMitglieder nur noch 30,- Mark. Die Differenz zu den tatsächlichen Kosten von gut 100,- Mark wurde aus der Gewerkschaftskasse bezahlt.173 Zum anderen stärkte man die Betriebe, indem man den zeitgleich mit der Gründung des Feriendienstes ge169 Der neue Kurs und die Aufgaben der Partei. Entschließung des Zentralkomitees vom 26. Juli 1953 (15. Tagung), in: Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bd. IV, S. 449–478, hier S. 467. 170 Walter Ulbricht, Die gegenwärtige Lage und der neue Kurs der Partei. Referat auf der 15. Tagung des ZK der SED vom 24. bis 26. Juli 1953, in: Der neue Kurs und die Aufgaben der Partei. 15. Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands vom 24. bis 26. Juli 1953. Entschließung, Referate der Genossen Otto Grotewohl und Walter Ulbricht, Berlin 1953, S. 50–102, hier S. 60. 171 SAPMO-BArch, DY 34/29/480/3663, Industriegewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten, Zentralvorstand an den FDGB-Bundesvorstand, Abt. Feriendienst, Betr.: Analyse über die Arbeit des Feriendienstes Sommerreisezeit 1953, Berlin, den 27. 7. 53; vgl. auch: Oskar Spalke, Die Feriendienstkommissionen müssen die Urlaubsvereinbarungen gründlich vorbereiten, in: Das Gewerkschaftsaktiv 3 (1954), H. 4, S. 25–27. 172 Ebd. 173 Vgl. SAPMO-BArch, DY 34/24247, Bundesvorstand. Beschluß des Sekretariats vom 17. 2. 1954, Nr. S 154/54, S. 2, Bl. 41.
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fassten Beschluss aufhob, keine betriebseigenen Erholungsheime zuzulassen.174 Die Schaffung von sogenannten Betriebsferienheimen wurde legalisiert. Sie sollten bald zur zweiten wichtigen Säule des Urlaubswesens in der DDR werden.175 Mit diesen Maßnahmen überstand der Feriendienst das Jahr 1953. Umso härter traf es ihn ein Jahr später. Denn plötzlich wurde festgestellt, dass die Pläne für 1954, das als Antwort auf den Aufstand vom 17. Juni 1953 zum »Jahr der grossen Initiative« ausgerufen worden war, weniger Plätze als im Vorjahr vorsahen: Für die Sommersaison 1954 waren rund 100.000 Reisen weniger geplant, als im Sommer 1953 stattgefunden hatten.176 Der FDGB-Bundesvorstand wollte und konnte diese Entwicklung nicht hinnehmen – zu präsent war noch immer der letzte Sommer, von dem nicht die Urlaubsreisen in Erinnerung blieben, sondern der Aufstand. Adolf Deter, zuständiger Sekretär im Bundesvorstand des FDGB, musste seinen eigenen Urlaub zur sofortigen Berichterstattung abbrechen.177 In seinem Bericht an das Sekretariat stellte er fest, »der grobe Fehler, der von den Abteilungsleitern begangen wurde«, habe darin bestanden, nicht beachtet zu haben, »dass man im Jahr der grossen Initiative nicht weniger Reisen zuteilen kann als im Vorjahr«. Zugleich habe man nicht berücksichtigt, dass die Preissenkung auf 30,- Mark pro Reise »ohne Zweifel – das ist jedem klar – zu einem stärkeren Andrang der FDGBMitglieder zu den Ferienreisen führen [wird]«.178 Der Bundesvorstand wollte sich mit dieser Erklärung nicht zufriedengeben und setzte eine Kommission ein, um die Missstände zu überprüfen. In ihrem Abschlussbericht fragte die Kommission, »ob die Fehler auf politische Dummheit, Sorglosigkeit, Bürokratismus oder Sabotage zurückzuführen seien«, und stellte zumindest »Tarnung und Irreführung gegenüber dem Sekretariat [des FDGB-Bundesvorstandes]« fest. Darüber hinaus wurde die Abteilung Feriendienst beschuldigt, sie habe eine »völlig falsche politische Konzeption« verfolgt. Von einer »wirklichen poli-
174 Vgl. SAPMO-BArch, DY 34/24002, Beschlußprotokoll der Sitzung des Geschäftsführenden Vorstandes [des FDGB] am 20. 3. 47, S. 9, Bl. 14. 175 Vgl. die Ausführungen zu den Betriebserholungsheimen in Kapitel I.4. 176 SAPMO-BArch, DY 34/24250, [Adolf Deter], Information [für das Sekretariat des FDGBBundesvorstandes], Berlin, den 6. März 1954, S. 1, Bl. 14f. 177 SAPMO-BArch, DY 34/24249, Beschlußprotokoll der Sekretariatssitzung des Bundesvorstandes am 3. März 1954, S. 8, Bl. 8; vgl. auch: Stellungnahme des Sekretariats des FDGB-Bundesvorstandes zur Kritik der Arbeiter am Feriendienst, in: Tribüne, Nr. 71 vom 24. 3. 1954, S. 3; Alfred Weise, Eine gut arbeitende Feriendienstkommission hilft die Sorge um den Menschen zu verwirklichen, in: Das Gewerkschaftsaktiv 3 (1954), H. 6, S. 41–46, bes. S. 44f. 178 SAPMO-BArch, DY 34/24250, [Adolf Deter], Information [für das Sekretariat des FDGBBundesvorstandes], Berlin, den 6. März 1954, S. 2, Bl. 15.
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tischen Führung« der Abteilung Feriendienst könne nicht gesprochen werden, sie habe nur »technisch/organisatorisch« gearbeitet.179 Adolf Deter, der selbst der Kommission angehörte, musste sich schwere Vorwürfe machen lassen. Er habe die Abteilung Feriendienst »nur sehr oberflächlich angeleitet« und sei »von den Vorkommnissen im Feriendienst völlig überrascht« worden. Schließlich stehe er »wenig selbstkritisch zu den Fehlern«.180 Der FDGBBundesvorstand fand in seinem abschließend in der »Tribüne« veröffentlichten Kommuniqué noch deutlichere Worte und stellte fest, dass die Beschwerden der Gewerkschaftsleitungen und Arbeiter über die geringere Zahl der Ferienplätze zu Recht geäußert worden seien. Denn die Feriendienst-Abteilung des FDGB habe »im völligen Gegensatz zur Politik des Bundesvorstandes [gehandelt]. Das kommt einer direkten Sabotage an den Aufgaben gleich, die Erholungsmöglichkeiten ständig zu erweitern und zu verbessern.«181 Während Deter mit einem Rüffel davonkam, wurden die Abteilungsleiter der Abteilung Feriendienst, Frieda Peter und Heinz Behrend, die sich angesichts der massiven Vorwürfe recht unbeholfen auf einen Rechenfehler beriefen,182 »wegen gröbster Schädigung der Interessen der Gewerkschaftsarbeit mit sofortiger Wirkung von ihrer Funktion abgelöst«.183 Die Mitarbeiter Richard Hübner, Frieda Günther und Werner Bernd flohen in den Westen.184 In den folgenden Wochen des Jahres 1954 bedurfte es erheblicher Kraftanstrengungen, um die Planungsfehler zu beheben und zusätzliche Kapazitäten zu erschließen. Dabei war man recht einfallsreich. Zum einen wurde die Saison um vier Wochen verlängert, um weitere Urlauber im Zwei-Wochen-Turnus unterzubringen. Zum anderen kam man den Besitzern von Privatpensionen und -hotels erneut entgegen, weil nur vermehrte Vertragsabschlüsse mit ihnen zur kurzfristigen Steigerung der Kapazitäten im erforderlichen Ausmaße führen konnten. Die FeriendienstMitarbeiter dachten – nur zwei Jahre nach der »Aktion Rose« – nicht an Enteignungen, sondern boten den Privatbesitzern weitreichende Garantien für die Nut179 SAPMO-BArch, DY 34/24252, Bericht der vom Sekretariat eingesetzten Kommission zur Überprüfung der Ursachen der Vorkommnisse im Feriendienst, Berlin, den 22. 3. 1954, S. 2, Bl. 134. 180 Ebd., S. 4f., Bl. 135f. 181 Stellungnahme des Sekretariats des FDGB-Bundesvorstandes zur Kritik der Arbeiter am Feriendienst, in: Tribüne, 24. 3. 1954, S. 3. 182 SAPMO-BArch, DY 34/24252, Bericht der vom Sekretariat eingesetzten Kommission zur Überprüfung der Ursachen der Vorkommnisse im Feriendienst, Berlin, den 22. 3. 1954, S. 3, Bl. 134. 183 Stellungnahme des Sekretariats des FDGB-Bundesvorstandes zur Kritik der Arbeiter am Feriendienst, in: Tribüne, 24. 3. 1954, S. 3. 184 SAPMO-BArch, DY 34/24250, [Adolf Deter], Information [für das Sekretariat des FDGBBundesvorstandes], Berlin, den 6. März 1954, S. 3, Bl. 16.
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zung der vertraglich gebundenen Betten und sicherten ihnen bei Nichtausnutzung den vereinbarten Betrag zu, womit die Vertragsheime weitgehend gegen Schwankungen in der Auslastung abgesichert waren.185 Diese Maßnahmen zeigten Erfolg. Im Herbst 1954 konnte schließlich die »Übererfüllung« der Vorgaben gemeldet werden.186 Das »Statistische Jahrbuch« verzeichnet 820.256 Reisen im Jahre 1954.187 Im Ergebnis wurden im »Jahr der großen Initiative« 226.229 Reisen mehr durchgeführt als 1953. Man konnte durchaus zufrieden sein.188 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das harte Durchgreifen und die schnelle Reaktion auf die Planungslücken im Jahre 1954 nur vor dem Hintergrund des 17. Juni 1953 verständlich werden. Auch der Feriendienst sollte dazu beitragen, dass sich die Ereignisse des Sommers 1953 nicht wiederholten. Hier wird deutlich, welch großer politischer Stellenwert dem Feriendienst des FDGB mittlerweile zukam. Seine Existenz wurde nie wieder in Frage gestellt. Nach schwierigen Anfängen, großen Problemen, gravierenden Veränderungen in Struktur und Aufgaben in der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte sich der Feriendienst in der Mitte der 1950er-Jahre endgültig etabliert. Organisatorisch drückte sich die Konsolidierung durch den Beschluss des Bundesvorstandes vom 6. Oktober 1954 zur »Arbeit des Feriendienstes der Gewerkschaften«189 und durch das Statut der Abteilung Feriendienst von 1957 aus.190 Für die folgenden Jahrzehnte schrieben sie die Arbeitsweisen des Feriendienstes fest, die sich im ersten Jahrzehnt seines Bestehens herausgebildet hatten, ohne ihm aber neue Impulse zu verleihen.191 Eine 185 Ebd., S. 4, Bl. 17. 186 SAPMO-BArch, DY 34/24281, Beschluss des Sekretariats vom 6. 10. 1954, Nr. S 816/54. Bericht über die Arbeit des Feriendienstes und Vorbereitung einer Beschlussvorlage über den Feriendienst 1955, S. 1, Bl. 30. 187 SAPMO-BArch, DY 34/24249, Beschlußprotokoll der Sekretariatssitzung des Bundesvorstandes am 3. März 1954, S. 7, Bl. 7. 188 Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 6 (1960/61), S. 157. 189 Die Arbeit des Feriendienstes der Gewerkschaften. Beschluß des Sekretariats des Bundesvorstandes des FDGB vom 6. Oktober 1954, in: Handbuch für Gewerkschaftsfunktionäre im Betrieb, hg. v. Bundesvorstand des FDGB, Berlin 1955, S. 544–549. 190 SAPMO-BArch, DY 34/5957, Abt. Feriendienst und Kuren. Statut der Abteilung Feriendienst und Kuren des FDGB, Berlin, 20. 2. 1957. 191 Hinzu kam jedoch, dass der Feriendienst für wenige Jahre auch die Zuständigkeit über das Kurwesen erhielt. Dies blieb aber eine Episode, die bereits am 1. Januar 1962 endete, als das Gesundheitsministerium die Zuständigkeit für Kuren übernahm. Vgl. nur zur den Kuren beim FDGB: Christoph Cordes, Das Kur- und Bäderwesen in der Deutschen Demokratischen Republik und die Aufgaben der Gewerkschaften, hg. v. Bundesvorstand des FDGB, Abteilung Feriendienst und Kuren, Berlin 1959; zur Zuständigkeit des Gesundheitsministeriums: E. Engler, Das Kur- und Bäderwesen – eine staatliche Aufgabe, in: Gesundheit und Lebensfreude 1961, H. 12, S. 2.
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handschriftliche Glosse zum Bericht, den der Feriendienst 1959 dem Präsidium des FDGB vorlegte, drückt die Zuversicht deutlich aus: »Eindruck: Es geht alles glatt!«, steht dort geschrieben.192 Auf dem 4. FDGB-Kongress im Jahre 1955 erklärte Herbert Warnke im Rechenschaftsbericht des FDGB-Vorstandes den Feriendienst auch in quantitativer Hinsicht für saturiert. Immerhin war 1955 die Millionengrenze bei der Zahl der Ferienaufenthalte überschritten worden.193 Bisher habe das Schwergewicht in der quantitativen Erweiterung der Ferienplätze gelegen, erklärte Warnke. Jetzt komme es darauf an, »schnell und umfassend die Qualität auf allen Gebieten des Feriendienstes weiter zu erhöhen«.194 Im Beschluss wurde vorgeschlagen, sich vorerst auf die volle Ausnutzung der vorhandenen Kapazitäten in den Erholungsheimen und die qualitative Verbesserung der Urlaubsaufenthalte hinsichtlich Ausstattung und kultureller Betreuung zu konzentrieren.195 Auch Werner Peper, der Leiter der Abteilung Feriendienst, erklärte zu den Perspektiven ab dem 1. Januar 1957: »Eine Erhöhung der Kapazität des Feriendienstes ist im 2. Fünfjahrplan nicht vorgesehen. Das Schwergewicht der Arbeit muß auf der Verbesserung der Qualität liegen.«196 Lange hielt diese Selbstbeschränkung jedoch nicht vor. Denn allerorts wurde die DDR von einer »Einhol- und Überholeuphorie« ergriffen,197 die in der Entschließung des V. Parteitages der SED 1958 besonders deutlich zum Ausdruck kam: »Die ökonomische Hauptaufgabe besteht darin, die Volkswirtschaft innerhalb weniger Jahre so zu entwickeln, daß die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung gegenüber der kapitalistischen Herrschaft umfassend bewiesen wird.«198 In diesem Sinne erklärte Walter Ulbricht in einem Interview: 192 SAPMO-BArch, DY 34/5297, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund – Bundesvorstand – Abt. Feriendienst und Kuren, Präsidiumsvorlage [Entwurf !], Berlin, den 11. 8. 1959, Anlage 1, S. 8. 193 SAPMO-BArch, DY 34/15838, Lektion: Der Feriendienst der Gewerkschaften – eine Errungenschaft der Arbeiter- und Bauernmacht, 1955, S. 16. 194 Protokoll der Verhandlungen des 4. FDGB-Kongresses von 15. bis 20. Juni 1955 in der Werner-Seelenbinder-Halle zu Berlin, hg. v. Bundesvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, Berlin 1995, S. 71. 195 Beschluß des 4. FDGB-Kongresses. Die Aufgaben des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes bei der Stärkung der Deutschen Demokratischen Republik und im Kampf um das einheitliche, demokratische und friedliebende Deutschland, in: Protokoll der Verhandlungen des 4. FDGB-Kongresses, S. 537–561, hier S. 554. 196 SAPMO-BArch, DY 41/75, Bericht über die Arbeitstagung des Feriendienstes beim Bundesvorstand am 22. Mai 1956, Berlin den 28. Mai 1956, S. 1. 197 Mitter/Wolle, Untergang auf Raten, S. 302. 198 Beschluß des V. Parteitages der SED über den Kampf für den Frieden, für den Sieg des Sozialismus, für die nationale Wiedergeburt des Sozialismus als friedliebender, demokratischer Staat, in: Protokoll der Verhandlungen des V. Parteitages der Sozialistischen Einheits-
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Die Wahrheit ist doch die: Die DDR wird bis 1961 auf allen wichtigen Gebieten der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Konsumgütern Westdeutschland einholen und zum Teil übertreffen. Obwohl grundsätzlich die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung der DDR über das kapitalistische System in Westdeutschland bewiesen ist, wird diese Überlegenheit in den nächsten Jahren auf allen Gebieten bewiesen und der Sozialismus durch die Vollendung des Siebenjahrplanes [bis 1965] zum Siege geführt.199
Ergriffen von dieser euphorischen Stimmung gab der Feriendienst seine Zurückhaltung auf, und bald waren beachtliche Steigerungsraten im Wirtschaftsplan vorgesehen. 1959 legte man fest, dass die Zahl der Ferienreisen bis ins Jahr 1965 auf 1,4 Millionen Reisen steigen sollte.200 Besonders augenfällig wurde die optimistische Zukunftsperspektive, als die Arbeiter der VEB Mathias-Thesen-Werft Wismar über den Plan hinausgehend den Bau eines Urlauberschiffes, der »GTMS Fritz Heckert«, ankündigten (Abbildung 12).201 Hans Kiefert, Vertreter der Werft, erklärte auf dem V. Parteitag 1958 voller Euphorie: Warum brauchen wir ein solches Schiff ? Wir sind der Auffassung, der Sozialismus soll schön sein, und er muß schön sein. Früher sind die Kapitalisten, die reichen Geldsäcke, auf solchen Schiffen gefahren. Heute sollen die Arbeiter auf solchen Schiffen fahren. Diese Schiffe sollen keine Prunkschiffe sein, aber moderne Schiffe, auf die die Werktätigen stolz sein können. Und welchen Hafen diese Schiffe auch immer anlaufen – sie sollen von der Qualitätsarbeit der sozialistischen Menschen der Deutschen Demokratischen Republik Zeugnis ablegen. […] Im Sommer kann dieses Schiff mit Urlaubern in die Ostsee fahren und im Winter ins Mittelmeer und nach südlichen Ländern. Denn dieses Schiff kann auf allen Meeren der Welt fahren. Dieses Schiff soll das Neue in die Welt tragen, es soll zeigen, daß zu einem souveränen Staat auch große, moderne Urlauberschiffe gehören.202
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partei Deutschlands. 10. bis 16. Juli 1958 in der Werner-Seelenbinder-Halle zu Berlin, Bd. 2, Berlin 1959, S. 1329–1416, hier S. 1357. Walter Ulbricht (Interview), DDR wird Überlegenheit auf allen Gebieten beweisen, in: Neues Deutschland, Nr. 229, 21. 8. 1959, S. 4. SAPMO-BArch, DY 34/26086, Bundesvorstand des FDGB, Abt. Feriendienst und Kuren, Programm für die Entwicklung des Kur- und Erholungswesens der Gewerkschaften im Siebenjahrplan der DDR von 1959–1965, Berlin, den 22. August 1959, S. 9, Bl. 112. Ausführlich zu den Urlauberschiffen der DDR und ihrer Geschichte: Stirn, Traumschiffe des Sozialismus. So Hans Kiefert auf dem V. Parteitag: Protokoll der Verhandlungen des V. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bd. 1, S. 745.
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12 Stapellauf der »GTMS Fritz Heckert« 1961 (Karlheinz Krull, Urlauberschiffe – Boten der Völkerfreundschaft, 1961, S. 183)
In den folgenden Jahren wurde eine breit angelegte Kampagne – die »SteckenpferdBewegung« – organisiert, um die »solidarische Hilfe der Werktätigen der ganzen Republik« für den Bau der »GTMS Fritz Heckert« zu gewinnen.203 Die Euphorie trug so weit, dass kurzerhand der Kauf eines weiteren Urlauberschiffes beschlossen wurde, als sich die Fertigstellung der »GTMS Fritz Heckert« verzögerte. Bei dem gekauften Schiff handelte es sich um die schwedische »MS Stockholm«.204 203 SAPMO-BArch, DY 34/26086, Bundesvorstand des FDGB, Abt. Feriendienst und Kuren, Programm für die Entwicklung des Kur- und Erholungswesens der Gewerkschaften im Siebenjahrplan der DDR von 1959–1965, Berlin, den 22. August 1959, S. 8, Bl. 111; vgl. zur GTMS »Fritz Heckert«: Siegfried Wasserfurth/Günther Schlede/Günter Haase, Unser FDGB-Urlauberschiff Fritz Heckert. Eine populärtechnische Schiffsbeschreibung, Berlin 1962. 204 Gerd Peters, Vom Urlauberschiff zum Luxusliner. Die Seetouristik des VEB Deutsche Seereederei Rostock, Hamburg 2005, S. 7. Wenige Jahre zuvor hatte das Schiff internationale Aufmerksamkeit erregt, weil es mit dem italienischen Luxusliner »Andrea Doria« kollidiert war, worauf die »Andrea Doria« unterging. Nicht ohne Ironie sollte der Deutschrocker Udo Lindenberg später seinem Titel »Andrea Doria« den Durchbruch verdanken, in dem er westliche Dekadenz auf der sinkenden »Andrea Doria« besang.
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Unter dem Namen »MS Völkerfreundschaft« wurde das Schiff am 3. Januar 1960, dem 84. Geburtstag des DDR-Staatspräsidenten Wilhelm Pieck, in den Dienst gestellt – noch vor dem Stapellauf der »GTMS Fritz Heckert«, der am 14. April 1961 erfolgte.205 Neben den Urlauberschiffen verdeutlichte ein weiteres Projekt die Euphorie der ausgehenden 1950er-Jahre: die Urlaubersiedlung in Waren/Klink an der Müritz (Abbildung 13). Zwar handelte es sich hierbei um ein recht überschaubares Projekt mit einer eher geringen Kapazität von nur 300 Betten und einem veranschlagten Kostenvolumen von nur 200.000 Mark. Doch mit seiner neuen, erstmals auf der Wassersportausstellung 1959 in Berlin vorgestellten Konzeption wurde das Projekt zum Markenstein für die Entwicklung neuer, »sozialistischer« Formen des Urlaubs. Folgerichtig bekam die Siedlung, wie auch das Kreuzfahrtschiff, den Namen »Völkerfreundschaft«.206 Im touristisch noch kaum erschlossenen Gebiet bei Waren an der Müritz erfolgte die Unterbringung der Urlauber in Einzel- und Reihenbungalows aus Baufertigteilen in Leichtbauweise, die zusammen ein Urlauberdorf bildeten. Kurzum: Ende der 1950er-Jahre sah man sich auf dem Weg, tatsächlich den sozialistischen Urlaub zu verwirklichen. Nachdem die UdSSR den ersten Satelliten in den Weltraum geschossen hatte, war – zumindest im populären Schlager – sogar die Idee eines »Urlaubssputniks« präsent, der künftig auch Urlaub im Weltraum möglich machen würde.207 Die großen Hoffnungen aber währten nicht lange, die hohen Erwartungen konnten nicht erfüllt werden. Denn die Wirtschaftskrise der Jahre 1960/61 versetzte den Zukunftshoffnungen einen deutlichen Dämpfer. Trotz der Steigerungsraten, die der Siebenjahresplan 1959–1965 vorsah, stagnierten die Zahlen der Ferienreisen des FDGB in den 1960er-Jahren. Sie oszillierten allenfalls knapp oberhalb der Millionengrenze. Bis in die 1970er-Jahre kamen die Kapazitäten damit faktisch nicht über den Stand hinaus, der Mitte der 1950er-Jahre erreicht worden war.208
205 Ebd., S. 16f. 206 SAPMO-BArch, DY 34/24532, Bundesvorstand. Beschluß des Sekretariats vom 27. 4. 59, Nr. S 259/59. Bau des ersten Urlauberdorfes; vgl. auch: Waren-Klink – ein Urlauberparadies, in: Gesundheit und Lebensfreude, 1962, H. 4, S. 5. 207 »Kinder ist das Leben schön!« (Text: Heinz Götz/Fritz Schwerdtner, Musik: Georg Möckel), Noten und Text sind abgedruckt in: Gesundheit und Lebensfreude 1962, H. 7, S. 4–5. 208 Statistisches Jahrbuch der DDR 1972, S. 418.
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13 Urlaubersiedlung Völkerfreundschaft in Waren/Klink an der Müritz (Das Ferien- und Bäderbuch 1963, S. 139)
2. Die Reformen der 1960er-Jahre Anlässlich des zwanzigjährigen Jubiläums des Feriendienstes im Jahre 1967 wurde Rückschau gehalten: Mit der Gründung des Feriendienstes 1947 habe sich die Urlaubsreise als »feste[r] Bestandteil des Lebens der Werktätigen« in der DDR etabliert.209 Durch die Feierlichkeiten 1967, deren Höhepunkt die Verleihung der Fritz-Heckert-Medaillen und die Übergabe von Urkunden an verdiente Mitarbeiter war,210 vergewisserte sich der Feriendienst nicht nur seiner Geschichte, sondern
209 SAPMO-BArch, DY 34/5954, Entwurf. 20 Jahre Feriendienst – eine Bilanz der Erfolge der Gewerkschaften in unserem Arbeiter-und-Bauern-Staat bei der Gestaltung des Urlaubs und der Erholung der Werktätigen [1967] S. 1; vgl. auch: SAPMO-BArch, DY 34/5957, Themen für die Presseveröffentlichungen zum 20jährigen Bestehen des Feriendienstes der Gewerkschaften, o.D. 210 SAPMO-BArch, DY 34/24804, Abteilung Feriendienst. Sekretariatsvorlage. Betrifft: Maßnahmen des Sekretariats zur Vorbereitung und Durchführung des 20. Jahrestages der Gründung des Feriendienstes der Gewerkschaften, Berlin, den 9. 12. 1966, S. 1f.
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auch seiner Bedeutung in einer veränderten Gegenwart.211 Die Euphorie der späten 1950er-Jahre war einer breiten Ernüchterung gewichen, als sich zu Beginn des neuen Jahrzehnts die wirtschaftliche Lage deutlich verschlechterte.212 Der Feriendienst nach dem Mauerbau Mit dem Mauerbau am 13. August 1961, als Antwort auf die wirtschaftliche Situation und vor allem auf die wachsende Fluchtbewegung,213 gestand die SEDFührung faktisch ein, dass die DDR mit einer Planwirtschaft bei offener Grenze und in direkter Konkurrenz zu der kapitalistischen Wirtschaftsordnung nicht bestehen konnte.214 Tatsächlich wurden erst durch die Schließung der Grenze die Voraussetzungen für die Konsolidierung der DDR geschaffen, weil sie der SED eine gewisse Handlungsfreiheit ermöglichte. Die DDR wurde auf den Weg hin zum »sozialistischen Ghetto« gebracht,215 in der sich fortan der Sozialismus auf eigener Grundlage entwickeln sollte.216 Für den Feriendienst spielte der Mauerbau kaum eine Rolle: Reisen in den westlichen Teil Deutschlands oder nach Westeuropa waren sowieso nicht vorgesehen. In der geographischen Ausrichtung seiner Reisen musste folglich keine Veränderung vorgenommen werden. Eine Ausnahme stellten die Fahrten der FDGB-Urlauber-
211 Zu dieser wesentlichen Funktion von Jubiläen: Winfried Müller, Vom »papistischen Jubeljahr« zum historischen Jubiläum, in: Paul Münch (Hg.). Jubiläum, Jubiläum ... Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung, Essen 2005, S. 29–44. 212 Zu den Ursachen und Folgen der Krise: Jörg Roesler, Zwischen Plan und Markt. Die Wirtschaftsreform 1963–1970 in der DDR, Berlin 1990, S. 15ff.; André Steiner, Die DDRWirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz- und Machtkalkül, Berlin 1999, S. 38ff.; Christoph Kleßmann, Politische Rahmenbedingungen, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 9, S. 1–76, hier S. 3. 213 André Steiner, Politische Vorstellungen und ökonomische Probleme im Vorfeld der Errichtung der Berliner Mauer. Briefe Walter Ulbrichts an Nikita Chruschtschow, in: Hartmut Mehringer (Hg.), Von der SBZ zur DDR. Studien zum Herrschaftssystem in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Deutschen Demokratischen Republik (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 1995, S. 233–268, hier S. 234ff.; André Steiner, Vom Überholen eingeholt. Zur Wirtschaftskrise 1960/61 in der DDR, in: Burghard Ciesla/Michael Lemke/Thomas Lindenberger (Hg.), Sterben für Berlin? Die Berliner Krisen 1948–1958, Berlin 2000, S. 245–262. 214 André Steiner, »Kein freies Spiel der Kräfte!?« Das Neue ökonomische System als Einheit von Plan und Markt, in: Heinz-Gerhard Haupt/Jörg Requate (Hg.), Aufbruch in die Zukunft. Die 1960er Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel. DDR, ČSSR und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Weilerswist 2004, S. 43–64, hier S. 46. 215 Mitter/Wolle, Untergang auf Raten, S. 297ff. 216 Steiner, Von Plan zu Plan, S. 123.
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schiffe dar. Um die Flucht von Urlaubern zu vermeiden, wurden ihre Routen verändert und »kapitalistische Hoheitsgewässer« fortan gemieden.217 Als viel bedeutender aber erwies sich eine Entscheidung, die im Schatten des Mauerbaus getroffen wurde und nicht nur die wenigen Schiffsreisenden, sondern jeden FDGB-Urlauber betraf: Zum 1. Januar 1963 wurden die staatlichen Zuschüsse für den Feriendienst gestrichen, die im vorhergehenden Jahr immerhin rund 60 Millionen Mark betragen hatten.218 Der Beschluss blieb der Öffentlichkeit verborgen, und auch in den internen Unterlagen des FDGB ist über seine Gründe kaum etwas zu erfahren. Sicherlich wurde die Entscheidung maßgeblich durch den Zwang zur Sparsamkeit beeinflusst, der aus der angespannten wirtschaftlichen Situation in den Jahren um den Mauerbau resultierte. Vor allem aber ist anzunehmen, dass der Feriendienst den Verantwortlichen in der SED nach dem Mauerbau weniger wichtig erschien als in den Jahren zuvor. Die politische Führung musste nicht mehr die Abwanderung in den Westen einkalkulieren und konnte sich daher erlauben, weniger Rücksicht auf die Bevölkerung zu nehmen.219 Denn der Weg nach Westen war endgültig abgeschnitten, die legitimatorische Funktion des Feriendienstes, die Bürger durch angenehme Ferien davon zu überzeugen, im besseren deutschen Staat zu leben, verlor an Bedeutung. Die faktische Macht der Mauer schien die kostspielige Überzeugungsarbeit des Feriendienstes überflüssig zu machen. Folgerichtig nahm die Zahlungsbereitschaft des Staates für Urlaub und Tourismus ab. Gleichwohl ging man nicht so weit, die Arbeit des Feriendienstes gänzlich einzustellen. Vielmehr wurde in Kauf genommen, die Urlauber doppelt zu belasten, indem man die Preise für die Urlaubsreisen erhöhte und die stärkere Verwendung der Mitgliedsbeiträge für die Finanzierung des Feriendienstes einplante.220 Fortan galt nicht mehr der 1954 festgelegte, einheitliche Preis von 30,- Mark für eine 13-tägige Reise. Vielmehr wurden die Preise in Bezug auf die Reisezeit und die Art der Unterkunft gestaffelt und die Gewährung von Zuschüssen zudem an das Einkommen gekoppelt.
217 Peters, Vom Urlauberschiff zum Luxusliner, S. 37. 218 SAPMO-BArch, DY 34/24688, Beschluß des Präsidiums vom 31. 8. 1962 Nr. P 120/62. Grundlagen für die Arbeit des Feriendienstes der Gewerkschaften und Finanzierung der Kulturarbeit in den Wohngebieten, S. 5. 219 Steiner, Von Plan zu Plan, S. 123, 127. 220 Zum Folgenden: SAPMO-BArch, DY 34/24688, Bundesvorstand des FDGB, Abt. Feriendienst. Präsidiumsvorlage. Betrifft: Neuregelungen der Preise des FDGB, Berlin, am 1. 2. 1963, S. 2f.
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14 Preisgestaltung für Feriendienstreisen nach dem Mauerbau (Kurt Oeser/Erich Rothhaar/Fritz Matke, Urlaub mit dem Feriendienst des FDGB, Berlin 1968, S. 71.)
Spitzenverdiener mit einem Bruttomonatsverdienst über 1250,- Mark zahlten nunmehr 80 Prozent des »Selbstkostenpreises« für die 13-tägige Reise; bei einem Bruttomonatsverdienst unter 500,- Mark waren 40 Prozent der tatsächlichen Kosten vom Urlauber zu zahlen. Somit blieb nur bei der niedrigsten Einkommensstufe (unter 500,- Mark) und der einfachsten Kategorie (Vertragshäuser mit Außenbetten221 in der Vor- und Nachsaison) der Preis von 30,- Mark bestehen. Alle anderen Angebote lagen deutlich über den bisher gültigen Preisen. Für den Aufenthalt in einem FDGB-Erholungsheim während der Saison mussten bei einem Einkommen unter 500,- Mark bereits 50,- Mark bezahlt werden, Spitzenverdiener zahlten für einen Urlaub dieser Kategorie 100,- Mark. Durch die Preiserhöhung hatten die Urlauber zwölf Millionen Mark mehr im Jahr zu zahlen. Zudem mussten die Betriebs-, Orts- und Dorfgewerkschaftsleitungen den Differenzbetrag zu den tatsächlichen Kosten übernehmen, der zuvor zentral vom Bundesvorstand der Gewerkschaft eingestellt worden war. Weil die staatlichen Zu221 Der Begriff Außenbetten bedeutet, dass sich die Zimmer nicht im Gebäude des Ferienheimes selbst befanden, sondern in anderen, mehr oder weniger weit entfernten Häusern angemietet waren.
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schüsse nicht mehr flossen, erhöhten sich die beitragsfinanzierten Ausgaben der Gewerkschaftsorganisationen für den Feriendienst von 14,5 Mio. Mark auf fast 61 Mio. Mark jährlich. Die beachtliche Summe fehlte der Gewerkschaft für andere Ausgaben. Da die Streichung der staatlichen Zuschüsse öffentlich nicht bekannt werden sollte, begründete man die umfangreichen Veränderungen der Preisgestaltung mit grundsätzlichen Überlegungen zur Finanzierbarkeit des Feriendienstes. Mit der steigenden Zahl der Reisen, so erklärte man in den Argumentationshilfen für die Gewerkschaftsfunktionäre, hätten sich die notwendigen Subventionen in einem nun nicht mehr tragbaren Ausmaß erhöht: Während 1950 staatliche Zuschüsse in Höhe von 12 Millionen Mark geleistet worden seien, habe sich diese Summe im Jahre 1962 auf 60 Millionen erhöht. Zugleich, hieß es weiter, seien auch die Ansprüche der Urlauber gewachsen. Dies hätte größere finanzielle Aufwendungen für die Ausstattung und Gestaltung der Ferienheime notwendig gemacht. Der FDGB stehe daher vor der Frage, »sich für die weitere Entwicklung des Feriendienstes auf dem Wege über die Neuregelung der Preise oder für die Stagnation des Feriendienstes zu entscheiden. Den letzteren Wege konnte kein verantwortlicher Gewerkschafter einschlagen. Es war einfach notwendig, die Urlauber in etwas höherem Maße an den Kosten der Reisen zu beteiligen.«222 Bei der Veränderung der Preispolitik gehe man »von der sachlichen Überlegung aus, in welchem Maße wir unsere Wünsche nach billigen, schöne[n] Ferienreisen heute erfüllen können, was wir uns heute schon leisten können. So wurde eine für das Heute gerechte Lösung gefunden, aber zugleich eine Lösung, bei der an das Morgen gedacht wurde.«223 In den Begründungen der neuen Preisregelungen zeigte sich weit mehr als bloße Rhetorik, welche die Preiserhöhungen zu legitimieren und die nach dem Mauerbau gesunkene Zahlungsbereitschaft des Staates verdecken wollte. Vielmehr treten in den angeführten Zitaten jene ideologischen Vorstellungen zutage, die nach dem Mauerbau weiterhin Bestand hatten: Auch in der neuen politischen Situation wurde die Untrennbarkeit von ideologisch-politischen und ökonomischen Aspekten betont. Nach wie vor blieb der Feriendienst als »unübersehbare […] Errungenschaft der Arbeiterklasse in der DDR« eingebunden in das sozialistische Gesellschaftssystem.224 Einen Widerspruch zwischen den neuen Regelungen und den Interessen
222 SAPMO-BArch, DY 34/15895, FDGB-Bundesvorstand, Abteilung Feriendienst, Information für die Präsidiumsmitglieder. Betrifft: Argumentation zum Beschluß zur Neuregelung der Preise für Ferienreisen des FDGB, Berlin, am 22. 3. 1963, S. 1ff. 223 Ebd. 224 SAPMO-BArch, DY 34/5957, Inge Krause, der SED gehört unser Dank und unser Vertrauen [1966 zum 20. Jahrestag der SED-Gründung], S. 2.
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der Urlauber vermochte man nicht zu erkennen. Die Funktionäre glaubten, ganz im Interesse der Urlauber zu handeln. Umso mehr erstaunte es sie, dass sich überaus heftige Kritik an der neuen Preisgestaltung entzündete.225 Die Zahl der Eingaben von DDR-Bürgern verdoppelte sich schlagartig.226 Die Analysen verzeichneten von nun an regelmäßig den Unmut der Bevölkerung. So wird in einer Sekretariatsinformation des FDGB-Bundesvorstandes aus dem Jahr 1963 die in der Bevölkerung verbreitete Meinung wiedergegeben: »Wir reden immer nur von Westdeutschland, daß dort alles teurer wird, und machten mit unseren Ferienplätzen grosse Reklame von DM 30,-. Das Fernsehen wurde teurer und das Programm schlechter. Uns überrascht nicht, wenn morgen z.B. das Gas teurer wird.«227 Vordergründig bezogen sich die Bürger auf die Preiserhöhungen. Doch jenseits der verbalen Ebene gingen die Beschwerden weiter. So wurde immer wieder der Austritt aus dem FDGB angedroht. Der Vorsitzende einer Betriebsgewerkschaftsleitung aus Liebenwerda forderte nicht weniger als 88 Formulare zum Austritt aus dem FDGB bei seinem Kreisvorstand an. »Nach seiner Meinung«, hieß es in einer Information an das Sekretariat des FDGB, »bliebe er als einziges Mitglied.«228 Solche Aussagen waren fatal für den FDGB, der stets die Interessenidentität zwischen seinen Mitgliedern und der politischen Führung der DDR behauptet hatte und sich selbst als Verkörperung dieser Interessenübereinstimmung verstand. Die massiven Austrittsdrohungen zeigten schlagartig, dass es durchaus Interessen der FDGB-Mitglieder gab, die nicht mit denen der politischen Führung übereinstimmten. Die Bürger legten mit ihren Eingaben nicht nur das delegitimatorische Potenzial der Preiserhöhungen frei, sondern stellten mit ihren Austrittsandrohungen das ganze politische System der DDR in Frage. Mehr noch: Der Urlaub wurde nun zu einem Feld, auf dem sich die Akteure neu gruppierten. Es kam nämlich ein Konflikt zwischen Zentrale und Peripherie innerhalb des FDGB hinzu. So war es weder ein Zufall noch ein Einzelfall, dass gerade der Vorsitzende einer Betriebsgewerkschaftsleitung aus einem kleinen Ort wie Liebenwerda die Empörung seiner Kollegen an die Zentrale in Berlin weiterleitete. Die gewerkschaftlichen Funktionäre in den Betrieben und vor Ort begriffen den 225 SAPMO-BArch, DY 34/24688, Bundesvorstand des FDGB, Abteilung Feriendienst. Präsidiumsvorlage. Betr.: Grundlagen für die Arbeit des Feriendienstes der Gewerkschaften und Finanzierung der Kulturarbeit in den Wohngebieten, Berlin, den 29. 8. 62, S. 7. 226 SAPMO-BArch, DY 34/6336, FDGB-Bundesvorstand – Abteilung Feriendienst –, Analyse über die Eingaben der Mitglieder des FDGB an die Abteilung Feriendienst beim Bundesvorstand des FDGB im Jahre 1963, Berlin, den 24. 2. 1964, S. 1. 227 SAPMO-BArch, DY 34/24688, FDGB-Bundesvorstand, Abt. Feriendienst. Sekretariatsinformation, Berlin, am 25. 2. 1963, S. 2. 228 Ebd.
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Feriendienst als Chance, an alte gewerkschaftliche Traditionen anzuschließen. Sie stellten sich in der Auseinandersetzung um den Urlaub auf die Seite ihrer Mitglieder, deren Interessen sie gegen die SED- und FDGB-Führung in Berlin verteidigten. Während sie in der Sache freilich keine Handhabe hatten, kritisierten sie durchaus geschickt in ungewöhnlich deutlichen Worten die Art und Weise, wie der Beschluss zur Preiserhöhung zustande gekommen war: Wir sind der Meinung, dass diese Massnahme alle Gewerkschafter der DDR angeht und die Tragweite dieses Beschlusses nicht etwa unter 20 Bundesvorstandsmitgliedern am grünen Tisch [gefasst werden kann], sondern erst einmal als Entwurf der Masse der Werktätigen hätte vorgelegt werden müssen. Wir haben doch einen demokratischen Zentralismus. Wo bleibt das Mitbestimmungsrecht der Werktätigen: Empfehlung, Vorschläge, Entscheidungen von unten nach oben.229
Man wurde sogar noch deutlicher, wenn man sich dabei hinter vermeintlichen Äußerungen von FDGB-Mitgliedern verstecken konnte: »Ein Kumpel sagt sogar: Gehört die Entscheidung des Bundesvorstandes auch zur Diktatur des Proletariats?«230 Selten zuvor hatten die Betriebsgewerkschaftsleitungen so eindringlich auf ihr Mitspracherecht und die »Interessenvertretung der Werktätigen« durch den FDGB gepocht. Trotzdem fuhren die Funktionäre in der Berliner Zentrale fort, den Feriendienst »als Bestandteil der weiteren Verbesserung der Arbeits- und Lohnbedingungen der Werktätigen« zu betrachten.231 Aber sie erkannten, dass dieses Ziel nur erreicht werden könne, wenn der Feriendienst »bestimmte Mindestvoraussetzungen« hinsichtlich der Ausstattung gewährleiste und den vielfältigen Bedürfnissen der Urlauber entgegenkomme.232 Die Preiserhöhung sollte somit durch quantitativ ausreichende und qualitativ hochwertige Urlaubsplätze im Nachhinein gerechtfertigt werden. In diesem Zusammenhang markieren die Veränderungen in der Preisgestaltung und die Diskussionen um diese Maßnahmen einen gravierenden Wandel im Feriendienst. Denn fortan galt die Festlegung im Gründungsbeschluss des Feriendienstes nicht mehr, nach dem die Preise nicht von der Wirtschaftlichkeit abhängig zu 229 SAPMO-BArch, DY 34/6336, Bundesvorstand des FDGB – Abt. Feriendienst –, Analyse der bei der Abteilung Feriendienst des Bundesvorstandes eingegangenen Zuschriften zum Beschluss des Bundesvorstandes über die Neuregelung der Preise im Feriendienst, Berlin, den 19. 6. 1963, S. 2. 230 Ebd. 231 SAPMO-BArch, DY 34/5957, Perspektivplan des Feriendienstes der Gewerkschaften für die Jahre 1964–1970. Entwurf, S. 14. 232 SAPMO-BArch, DY 34/4928, FDGB-Bundesvorstand, Abteilung Feriendienst, Konzeption zur Durchsetzung der sozialistischen Rationalisierung im Bereich des Feriendienstes d. Gewerkschaften, Berlin, den 1. 9. 66, S. 2.
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machen seien.233 Auch wenn der Feriendienst sich mit dieser veränderten Preisgestaltung keine Gewinnkalkulation verordnete, so gab er doch schleichend seinen egalitären Grundsatz auf. Die neue Preisgestaltung legte den Grundstein für den Wandel des Feriendienstes zum »sozialistischen Neckermann«, der in den folgenden Jahren vollzogen wurde. Neben diesen Veränderungen in der Preisgestaltung zeigte sich in den 1960erJahren, dass die DDR-Bürger dem Feriendienst mit einer anderen Erwartungshaltung gegenübertraten als in den Jahren zuvor. Denn auch im Bereich des Urlaubs wurde sichtbar, dass die Alltags- und Arbeitswelt einem gravierenden Wandel unterlag. Am 2. September 1966 fand in Tabarz am Inselsberg im Thüringer Wald eine »internationale Konferenz der Feriendienst- und touristischen Organisationen der Gewerkschaften sozialistischer Länder« statt. Dort führten die Vertreter der DDR die Veränderungen im Reiseverhalten ihrer Bürger auf drei wesentliche strukturelle Merkmale der letzten Jahre zurück: Erstens habe die »Technische Revolution« die Mechanisierung und Automatisierung der Betriebe bewirkt. An die Stelle körperlicher Arbeit seien Kontroll- und Überwachungsfunktionen getreten – mit deutlichen Konsequenzen für den Urlaub, denn die »stärkere geistige Tätigkeit« führe »zu einem höheren Reproduktionsbedürfnis der Arbeitskraft« und stelle »demnach neue höhere Anforderungen an das Erholungswesen und an die Gestaltung der Freizeit«. Die zunehmende Technisierung und der Rückgang rein körperlicher Arbeit im Arbeitsprozess fordere nicht mehr allein körperliche, sondern verstärkt geistige Erholung, hieß es.234 Zweitens bringe auch der ständig steigende Lebensstandard »als ein sozialistisches Prinzip unserer Länder« und die 5-Tage-Arbeitswoche neue Bedingungen und Bedürfnisse nach Erholung am Feierabend und vor allem am Wochenende mit sich. Die vermehrte Freizeit wirke als »Hebel zur Entwicklung der Touristik, des Wanderns, des Wasser-, Motor- und Wintersports«.235 Doch es wurde nicht nur konstatiert, dass die »Vielfalt der Erholungsbedürfnisse« immer mehr wuchs. Bei allen Formen, so wurde drittens festgehalten, ergäben sich »ständig höhere Anforderungen an die Qualität der Erholungseinrichtungen«, an das »Niveau der Unterbringung, an die gastronomische Versorgung und vor allem an die gesunde Ernährung«.236 In der Sprache der Zeit brachte man damit durchaus die Veränderungen auf den Punkt, die sich aus der Modernisierung der Gesellschaft in den 1960er-Jahren er233 SAPMO-BArch, DY 34/24002, Zu Punkt 20 der Tagesordnung [der Sitzung des Geschäftsführenden Vorstandes am 20. 3. 1947]. Feriendienst des F.D.G.B., S. 2, Bl. 97. 234 SAPMO-BArch, DY 34/4928, Referat zur internationalen Konferenz der Feriendienstund touristischen Organisationen der Gewerkschaften sozialistischer Länder in Tabarz am 2. September 1966, S. 11ff. 235 Ebd., S. 12. 236 Ebd.
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gaben und in ähnlicher Weise auch im Westen zu beobachten waren: Wirtschaftlicher Aufschwung, Verkürzung der Arbeitszeit, Technisierung im Arbeitsprozess und eine sich entwickelnde Konsumgesellschaft konnten nicht ohne Einfluss auf den Urlaub bleiben. Tatsächlich machte das »rote Wirtschaftswunder«237 nach dem Mauerbau es immer mehr DDR-Bürgern möglich, sich eine Urlaubsreise zu leisten; die Arbeitszeitverkürzung führte zu mehr Freizeit; steigende Löhne und eine größere Mobilität erlaubten es den Bürgern, mehr Freizeit außerhalb des Wohnortes zu verbringen.238 Folglich durchlief die Reisebegeisterung der DDR-Bürger in dieser Zeit eine geradezu »stürmische […] Entwicklung«.239 Der Urlaub wurde zum realen Bestandteil des Lebensstils und der Lebenserwartung immer breiterer Bevölkerungsschichten, wie eine Repräsentativerhebung über das Reiseverhalten der Bevölkerung verdeutlicht, die in Ermangelung anderer statistischer Untersuchungen durchgeführt wurde: Im Jahr 1966 waren 49,8 Prozent der erwachsenen, erwerbstätigen Bevölkerung durchschnittlich 13,8 Tage verreist. Zugleich stellte man fest, dass immerhin 20 Prozent des ermittelten Bedarfs an Urlaubsreisen nicht abgedeckt werden konnten.240 Auch die Verhaltensweisen, Wünsche und Ansprüche der Menschen hinsichtlich der Qualität und Quantität der Urlaubsplätze veränderten sich. Die DDR-Bürger hatten in den vergangenen Jahren eine gewisse Reiseerfahrung gesammelt, sodass für viele mit der Urlaubsreise nicht mehr der Reiz der Einmaligkeit, früher oftmals auch der Erstmaligkeit verbunden war. Die Tatsache allein, dass man in den Urlaub fahren konnte, vermochte nicht mehr zu befriedigen. Angesichts der allgemeinen wirtschaftlichen Verbesserungen wurden im Urlaub gewisse Standards erwartet. Das Versprechen, der Sozialismus allein schaffe die Möglichkeiten zum Urlaub, wurde nicht nur durch den Blick nach Westen, wo sich zeitgleich zu den Entwicklungen in der DDR ein Massentourismus etablierte, fragwürdig. Vor allem kehrten die DDR-Bürger dieses Versprechen um und forderten in erster Linie gut ausgestattete und ausreichende Ferienkapazitäten ein. Entsprachen die tatsächlichen Zustän237 Fritz Schenk, Das rote Wirtschaftswunder. Die zentrale Planwirtschaft als Machtmittel der SED-Politik, Stuttgart-Degerloh 1969. 238 SAPMO-BArch, DY 34/24776, Ministerrat der DDR, Staatliche Plankommission, Programm zur Entwicklung des Lebensstandards bis 1970, Teilkonzeption Nr. 20: Konzeption für die Entwicklung des Erholungswesens im Zeitraum des Perspektivplanes. Ausgearbeitet von der Arbeitsgruppe Erholungswesen, Leitung: Gen. Engler, Mitarbeiter der Abteilung Volksbildung, Kultur und Gesundheitswesen der SPK, Berlin, den 27. 2. 1965, S. 1. 239 SAPMO-BArch, DY 34/4928, Vorschläge für Lösung wichtiger Probleme des Erholungswesens, Berlin, den 18. 1. 1966, S. 7. 240 SAPMO-BArch, DY 34/5959, Vorschläge zur Entwicklung des Erholungsverkehrs für die Bürger der DDR (Prognose). Ausgearbeitet von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von E. Kolberg, politischer Mitarbeiter beim Bundesvorstand des FDGB, Abteilung Feriendienst, Berlin, den 8. Januar 1968, S. 1.
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de nicht diesen Erwartungen, folgten immer häufiger Kostenrückerstattungsforderungen gegenüber dem FDGB. Zum Teil waren diese Forderungen wiederum mit der Drohung verbunden, bei Nichtanerkennung aus dem FDGB auszutreten.241 Die Funktionäre des Feriendienstes konnten zwar behaupten, dass einige Urlauber »von falschen Voraussetzungen über die zur z. Zt. möglichen Leistungen des Feriendienstes ausgingen«, sie kamen aber nicht umhin, die Forderungen der Urlauber im Grunde anzuerkennen. Daher waren sie auch durchaus bereit, im Sinne gewerkschaftlicher Interessenvertretung dafür einzutreten, dass eine gute materielle und kulturelle Betreuung sowie eine »behagliche Unterkunft« wesentliche Bestandteile eines erholsamen Urlaubsaufenthaltes darstellten. Entscheidend war, dass die Arbeit des Feriendienstes von den Urlaubern – anders als von den Funktionären selbst – bald nicht mehr als gewerkschaftliche Tätigkeit interpretiert wurde. Der Feriendienst wurde immer mehr als »Dienstleister« für preiswerte Ferien begriffen, der hochwertige Erholungsaufenthalte zu günstigen Preisen anbieten sollte. Reformen und Rationalisierung im Feriendienst Für die 1960er-Jahre lässt sich folglich ein spannungsreiches Konglomerat aus politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen konstatieren: Obwohl sich der Staat nach dem Mauerbau am 13. August 1961 aus der Finanzierung des Feriendienstes zurückzog, beharrten die Zentralen von SED und FDGB in Berlin weiterhin auf der Einbindung des Urlaubs in das sozialistische System. Die regionalen Funktionäre auf den unteren Ebenen des FDGB verfolgten dagegen das Ziel der gewerkschaftlichen Interessenvertretung im traditionellen Sinne, wie es in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens der DDR kaum mehr denkbar war. Die Bürger schließlich nahmen den Feriendienst zunehmend als Dienstleister wahr und konfrontierten ihn mit gehobenen Ansprüchen, die er zu erfüllen hatte, wenn seine Legitimation nicht gefährdet werden sollte. Als weitere Herausforderung kam eine zunehmende, nachfolgend zu beschreibende Ausdifferenzierung der Urlaubsformen hinzu. Bereits Anfang der 1950erJahre begannen das »Komitee für Touristik und Wandern« und das Reisebüro der DDR Reisen und Urlaub in Konkurrenz zum Feriendienst zu organisieren. In den 1960er-Jahren entwickelte sich diese Differenzierung der Reiseformen vor allem in den Individual- und Campingreisen fort.242 Seinem Selbstverständnis als »Haupterholungsträger« entsprechend, musste sich der Feriendienst gegenüber dieser immer stärker werdenden Konkurrenz behaupten. 241 SAPMO-BArch, DY 34/4928, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Abt. Feriendienst, Querengässer [Abteilungsleiter], Analyse über die Arbeit mit den Eingaben der Mitglieder im Jahre 1965, o.D. 242 Vgl. hierzu Kap. I.4 in diesem Buch.
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Angesichts dieser Ausgangssituation wurde auch der Feriendienst von der Reformbegeisterung erfasst, welche die DDR in jenen Jahren ergriffen hatte. Für ihn galt, wie für die DDR als Ganzes, dass die 1960er-Jahre zum »Jahrzehnt konzentrierter, reformstimulierter und -begleiteter, meßbarer Leistungssteigerung in wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Hinsicht« wurden, wie Arnold Sywottek es beschrieb.243 Den Anfang der Reformen markierte der VI. Parteitag der SED im Januar 1963, auf dem ein neues Parteiprogramm verabschiedet wurde, in dem nun davon gesprochen wurde, dass auch in der DDR das »Zeitalter des Sozialismus« begonnen habe.244 Vier Jahre später – auf dem VII. Parteitag der SED 1967 – wurden die sechziger Jahre als Zeit des »umfassenden Aufbau[s] des Sozialismus« mit dem Ziel einer »entwickelten sozialistischen Gesellschaft« bezeichnet.245 Einen zentralen Stellenwert bei den umfassenden Veränderungen nahmen die ebenfalls auf dem VI. Parteitag 1963 beschlossenen Wirtschaftsreformen ein.246 Sie fußten auf den Überlegungen zur »Wissenschaftlich-Technischen Revolution« (WTR), die für die politische Führung in der DDR zum »Schlüsselkonzept« für die politisch-wirtschaftliche und technologische Entwicklung der 1960er-Jahre wurde. Unter dem Begriff der WTR wurden »die Ausprägungen und ökonomischen Folgen des weltweiten Wandels der technologischen Basis des gesellschaftlichen Lebens subsumiert«, denen mit dem »neuen ökonomischen System der Planung und Leitung« (NÖSPL, 1964–1967) und dem »ökonomischen System des Sozialismus« (ÖSS, 1967/68–1970/71) begegnet werden sollte.247 243 Arnold Sywottek, Gewalt – Reform – Arrangement. Die DDR in den 60er Jahren, in: Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte. Darstellungen, Bd. 37), 2. Aufl., Hamburg 2003, S. 54–76, hier S. 54f. 244 Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands vom 18. Januar 1963, in: Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bd. IX, Berlin 1965, S. 171–274, hier S. 171; vgl. auch die Ausführungen von Walter Ulbricht zum neuen Parteiprogramm auf dem VI. Parteitag 1963: Walter Ulbricht, Das Programm des Sozialismus und die Aufgabe der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in: Protokoll der Verhandlungen des VI. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. 15. bis 21. Januar 1963 in der Werner-Seelenbinder-Halle zu Berlin, Bd. 1, Berlin 1963, S. 28–288, vor allem S. 28ff. 245 Bericht des Zentralkomitees an den VII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in: Protokoll der Verhandlungen des VII. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bd. IV: Beschlüsse und Dokumente, Berlin 1967, S. 5–266, hier S. 5 und S. 133ff. 246 Auf die Einzelheiten der Wirtschaftsreformen kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. vor allem die wirtschaftshistorischen Darstellungen von Steiner und Roesler: Steiner, DDRWirtschaftsreform; Roesler, Zwischen Plan und Markt. 247 Tobias Schulz, Die »wissenschaftlich-technische Revolution« in der DDR. Zur Entwicklung eines Schlüsselkonzeptes, 1959–1968, unveröffentlichte Magisterarbeit, Universität
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Auch der Tourismus wurde von dieser Entwicklung erfasst. Denn zur »volle[n] Entfaltung der sozialistischen Ordnung in der DDR« sei die »rationelle Organisation des gewerkschaftlichen Erholungswesens notwendig«, führte der FDGBBundesvorstand, Abteilung Feriendienst, 1966 aus.248 Die Aufgabe des »sozialistischen Erholungswesens in der Periode des umfassenden Aufbaus des Sozialismus« bestünde vor allem darin, »durch Schaffung vorbildlicher Erholungsmöglichkeiten zur allseitigen Reproduktion der Arbeitskraft beizutragen«.249 Neben diese Allgemeinplätze trat bald eine Fülle unterschiedlicher Vorschläge und konkreter Maßnahmen. Bezeichnenderweise wurde aber der Begriff der Reform für die weiter unten darzustellenden Entwicklungen im Feriendienst nur selten verwendet. Meist ist von »Rationalisierung« die Rede. Und tatsächlich trifft dieser Begriff das Gemeinte besser, denn der Begriff der »Reform« im Sinne eines Gesamtkonzeptes zur Verbesserung des Status quo wäre verfehlt gewesen. Es entstand ein Tableau unterschiedlicher Vorschläge; polyphon, beinahe chaotisch wurden immer wieder neue Ideen entwickelt. Ein Gesamtkonzept oder gar eine Reform, die diesen Namen verdient hätte, gab es nicht. Wie zu zeigen ist, blieben die Maßnahmen Stückwerk und stießen immer wieder an ihre Grenzen. Verwissenschaftlichung des Feriendienstes Auch im Feriendienst wurde zunächst der Begriff der »Wissenschaftlichkeit« zum Zauberwort.250 »Die Wissenschaft«, hieß es nun, »ist für den Sozialismus, der selber wissenschaftlicher Arbeit entstammt, das Hauptinstrument für den Aufbau der neuen Gesellschaft.«251 Mit Hilfe exakter Analyse glaubten die Verantwortlichen, auch die vielen Probleme des Feriendienstes lösen zu können. Allseits wurden deshalb eine wissenschaftliche Leitungstätigkeit, die Ausarbeitung wissenschaftlich begründeter Pläne und die stetige Qualifizierung der Mitarbeiter auf Potsdam, Berlin 2003, S. 3. 248 SAPMO-BArch, DY 34/4928, FDGB-Bundesvorstand, Abteilung Feriendienst, Konzeption zur Durchsetzung der sozialistischen Rationalisierung im Bereich des Feriendienstes d. Gewerkschaften, Berlin, den 1. 9. 66, S. 1. 249 SAPMO-BArch, DY 34/5966, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Vorschläge zur Entwicklung des Erholungswesens für die Werktätigen der DDR bis 1980 (Prognose), Berlin, den 18. 1. 1967, S. 1. 250 Vgl. Staritz, Geschichte der DDR, S. 219; Schulz, Die »wissenschaftlich-technische Revolution« in der DDR, S. 14ff.; vgl. Hubert Laitko, Das Reformpaket der sechziger Jahre – wissenschaftspolitisches Finale der Ulbricht-Ära, in: Dieter Hoffmann/Kristie Macrakis (Hg.), Naturwissenschaft und Technik in der DDR, Berlin 1997, S. 35–57. 251 So beginnt ein Autorenkollektiv eine 1968 erschienene, wissenschaftstheoretische Abhandlung: Die Wissenschaft von der Wissenschaft. Philosophische Probleme der Wissenschaftstheorie. Gemeinschaftsarbeit eines Kollektives am Institut für Philosophie der Karl-MarxUniversität Leipzig, Leiter: Alfred Kosing, Berlin 1968, S. 5.
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allen Ebenen gefordert.252 Im Feriendienst sollten die »neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse« durch die »zweckmässige Zusammenarbeit mit den Hoch- und Fachhochschulen sowie den spezifischen Instituten« durchgesetzt werden. In den 1960er-Jahren entstanden deshalb eine Reihe von Forschungseinrichtungen und Lehrstühlen auf dem Gebiet der Fremdenverkehrswissenschaft. Mit Hilfe von Diplomarbeiten, Dissertationen und Habilitationen sollte die Forschungsarbeit an den Hochschulen nutzbar gemacht werden, um »die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse im Bereich des Feriendienstes durchzusetzen«. Umgekehrt sollten auch die Hochschulen durch die Zusammenarbeit mit dem Feriendienst die Möglichkeit erhalten, praxisnäher zu arbeiten.253 In der Folge dieser Verwissenschaftlichung wurde der Feriendienst durchaus professionalisiert. Zwar konnte die Wissenschaft die ideologischen Handlungsvorgaben nicht gänzlich verdrängen, wohl aber schuf sich wissenschaftlich fundierter Pragmatismus Raum, wodurch die ideologischen Ziele zumindest teilweise verloren gingen. Rekonstruktion und Neubauten Angesichts der knappen Ressourcen war die Forderung einleuchtend, dass mit den zur Verfügung stehenden Mitteln äußerst sparsam und zugleich möglichst effektiv umgegangen werden müsse. So wurde vor allem die »Rekonstruktion der Erholungsorte«, also die Renovierung vorhandener Ferienheime, zur zentralen Aufgabe.254 Darüber hinaus verwendete man viel Energie auf die »Erschließung noch vorhandener Reserven an Fremdenverkehrsraum«. So gab es Vorschläge, die Dachgeschosse bestehender Heime auszubauen, die Plätze für den Feriendienst auf Kosten des privaten, unorganisierten Reiseverkehrs zu erweitern, neue Orte für die Erholung zu erschließen, Internate, Hoch- und Fachschulen in den Schul- und Semesterferien für den Feriendienst zu nutzen, Betriebsferienheime stärker als bisher einzubeziehen, Bungalows in Leichtbauweise zu errichten oder schlicht Zelte bei den FDGB-Erholungsheimen aufzustellen, um die Kapazitäten zu steigern.255 Zudem 252 SAPMO-BArch, DY 34/5957, FDGB-Bundesvorstand. Abteilung Feriendienst. Arbeitsgruppe Neues ökonomisches System, Leitungsdokument des Feriendienstes der Gewerkschaften (Entwurf ), Berlin, den 16. August 1964, S. 14. 253 SAPMO-BArch, DY 34/4928, FDGB-Bundesvorstand, Abteilung Feriendienst, Konzeption zur Durchsetzung der sozialistischen Rationalisierung im Bereich des Feriendienstes d. Gewerkschaften, Berlin, den 1. 9. 66, S. 17. Vgl. hierzu die einleitenden Bemerkungen bei Wolter, »Ich harre aus«. 254 SAPMO-BArch, DY 34/5957, Perspektivplan des Feriendienstes der Gewerkschaften für die Jahre 1964–1970. Entwurf, S. 8. 255 SAPMO-BArch, DY 34/4928, FDGB-Bundesvorstand, Abteilung Feriendienst, Entwurf, Diskussionsgrundlage, Betr.: Probleme der Kapazitätsentwicklung im Perspektivplanzeit-
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sollten die Unterkünfte für die Arbeiter auf Baustellen im Gebiet von Talsperren nach Beendigung der Bauarbeiten als Erholungsheime in attraktiven Lagen genutzt werden.256 Zusammengenommen zeigten die Maßnahmen trotz ihrer phantasievollen Breite nur begrenzten Erfolg. Es war notwendig, einen erheblichen Teil der zur Verfügung stehenden Mittel für Neubauten aufzuwenden.257 Der Feriendienst beschränkte sich jedoch aus Kostengründen auf den Bau neuer Bettenhäuser bei bestehenden Einrichtungen mit einer Kapazität von 1.090 Betten und den Neubau einiger weniger Erholungskomplexe mit einer Kapazität von 1.900 Betten.258 Um auch bei diesen Neubauten Kosten zu sparen, forderte Walter Ulbricht in seiner Rede zum 15-jährigen Bestehen der DDR, »für die Erholung der Werktätigen mehrgeschossige Typenobjekte in rationeller Bauweise und zweckmäßiger Innengestaltung zu errichten«.259 Normierte Bauten mit vorgefertigten Bauelementen sollten fortan die Kosten der Bauvorhaben senken. Beispielsweise wurde 1966 das »Typenobjekt Autobahnhotel«, das ursprünglich für den Bau an Autobahnraststätten entwickelt worden war, in Feldberg (Mecklenburg-Strelitz), Arendsee (Altmark) und Gernrode (Harz) als Ferienheim montiert.260 Auch für die Innenausstattung waren »Typenhotelmöbel« vorgesehen (vgl. Abbildung 15, 16 und 17).
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raum, Berlin, den 10. 3. 1066. (Nur für den innerorganisatorischen Gebrauch, nicht zur Veröffentlichung bestimmt!), S. 1ff. SAPMO-BArch, DY 34/5957, Perspektivplan des Feriendienstes der Gewerkschaften für die Jahre 1964–1970. Entwurf, S. 9. SAPMO-BArch, DY 34/5957, FDGB-Bundesvorstand. Abteilung Feriendienst, Entwicklung des Erholungswesens bis 1980 für die Werktätigen der DDR, Berlin, den 6. 1. 1967, [S. 2]. SAPMO-BArch, DY 34/5957, Perspektivplan des Feriendienstes der Gewerkschaften für die Jahre 1964–1970. Entwurf, S. 9. Zit. nach: SAPMO-BArch, DY 34/5943, FDGB-Bezirksvorstand Neubrandenburg, Betr.: Feierliche Grundsteinlegung in Feldberg, 16. 12. 1966. [Abschrift der Urkunde über die Grundsteinlegung des 1. FDGB Urlauberheimes in Montagebauweise in Feldberg (Mecklenburg) Bezirk Neubrandenburg am 22. 12. 1966]. SAPMO-BArch, DY 34/5957, Perspektivplan des Feriendienstes der Gewerkschaften für die Jahre 1964–1970. Entwurf, S. 10f. Vgl. (o. Vorname) Kuhl, Neubau des ersten FDGBUrlauberheimes in Montagebauweise, in: Gesundheit und Lebensfreude 1967, H. 2, S. 6–7. Vgl. auch Peter Senf, Die zukünftige Entwicklung von Hotels, Motels und der baulichen Einrichtung auf Campingplätzen, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Mathematisch-naturwissenschaftliche Reihe 13 (1964), H. 5, S. 807–810; Kuhl, Unsere Erfahrungen beim Einbau von Hoteltypenmöbeln, in: Gesundheit und Lebensfreude 1967, H. 4, S. 6ff. Zur Industrialisierung und Entdifferenzierung im Wohnungsbau: Christine Hannemann, Die Platte. Industrialisierter Wohnungsbau in der DDR, Braunschweig/Wiesbaden 1996; Thomas Topfstedt, Wohnen und Städtebau in der DDR, in: Ingeborg Flagge (Hg.), Geschichte des Wohnens. Bd. 5: 1945 bis heute. Aufbau, Neubau, Umbau, Stuttgart 1999, S. 419–562, bes. S. 520ff.; Andreas Ludwig, »Hunderte von Vari-
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15 Zimmer mit Typenmöbeln in den 1960er-Jahren (Gesundheit und Lebensfreude 1967, H. 3, S. 8)
Im Ergebnis der Modernisierung stieg die Zahl der Eigenheime des FDGB zwar deutlich an: Verfügte der Feriendienst im Jahre 1961 über 420 Eigenheime, so gab es 1970 bereits 631 FDGB-Heime. Gleichwohl blieben die Kapazitäten des Feriendienstes unzureichend. Denn zu einem wesentlichen Teil hatte der Feriendienst die Urlauber in Quartieren untergebracht, die bei Privatpersonen angemietet worden waren. Die Zahl eben dieser, für den Feriendienst sehr wichtigen Quartiere, ging aber in den 1960er-Jahren deutlich zurück. Viele Pensionsbesitzer schreckte die ideologisch begründete Abneigung des Feriendienstes gegenüber vertraglich gebundenen Privatunterkünften ab. Denn die privaten Besitzer von Hotels und Pensionen waren jahrelang als Überbleibsel aus den Zeiten des Kapitalismus charakterisiert worden, auch wenn von Seiten des FDGB im Wissen um die Notwendigkeit der Privatunterkünfte in den 1960er-Jahren sanftere Töne angeschlagen wurden. Zudem nutzten zahlreiche Vermieter ihre früher an Urlauber vermieteten Zimmer selbst als Wohnraum, da der Wohnungsbau gerade in den Erholungsorten mehr noch als in anderen Teilen der DDR hinter den Erfordernissen zurückblieb. Und schließlich bestand im Zuge der besseren wirtschaftlichen Lage oftmals nicht mehr die »ökonomische Notwendigkeit (Interesse) zur Vermietung« seitens der Pensionsbesitzer,
anten«. Das Möbelprogramm Deutsche Werkstätten (MDW) in der DDR, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006), H. 3, S. 449–459.
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hieß es im »Perspektivplan« des Feriendienstes.261 Nicht erwähnt wurde darin, dass es für die Pensionsbesitzer äußerst lukrativ war, nicht an den Feriendienst, sondern direkt an Privatpersonen zu vermieten. Der Rückgang von Unterkünften bei Privatvermietern, die Verträge mit dem FDGB abgeschlossen hatten, kompensierte die Anzahl der neu geschaffenen Plätze durch den Ausbau der Eigenheime des FDGB nahezu vollständig.
16 Grundriss eines Zimmers in einem Ferienheim der 1960er-Jahre (Gesundheit und Lebensfreude 1967, H. 3, S. 8)
Vor dem Hintergrund dieser Kapazitätenentwicklung pendelte sich die Zahl der durchgeführten Reisen in den 1960er-Jahren bei etwa 1,1 Millionen im Jahr ein. Diese Stagnation bedeutete aber zugleich, dass ein empfindlicher relativer Rückgang der Ferienplatzzahlen im Verhältnis zu den wachsenden Mitgliederzahlen des FDGB hingenommen werden musste. Denn die Zahl der im FDGB organisierten Werktätigen hatte sich in den 1960er-Jahren deutlich erhöht: Während 1956 noch ein Ferienscheck auf 5,0 FDGB-Mitglieder kam, stand 1966 nur noch ein Ferienscheck für 6,2 Mitglieder zur Verfügung.262 Für das einzelne FDGB-Mitglied, das aufgrund der ungünstigeren Relation länger auf seine Reise warten musste, war dieser relative Rückgang folglich unmittelbar zu spüren.
261 SAPMO-BArch, DY 34/5957, Perspektivplan des Feriendienstes der Gewerkschaften für die Jahre 1964–1970. Entwurf, S. 2. 262 SAPMO-BArch, DY 34/5966, Konzeption für die in sich geschlossene Entwicklung des Feriendienstes der Gewerkschaften, S. 2.
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17 FDGB-Ferienheim »Freundschaft« in Feldberg Das Ferienheim wurde 1966 in Montagebauweise errichtet. (Gesundheit und Lebensfreude 1974, H. 4, S. 4)
Verteilung von Ferienschecks In dieser Notlage wollte der Feriendienst immerhin die Verteilung der Ferienschecks fortan effektiver gestalten, um Überbelegungen, vor allem aber Leerstände in den Ferienheimen zu verhindern. Denn die durch organisatorische Mängel nicht belegten Urlaubsplätze verschärften die ohnehin angespannte Situation. Als völlig illusorisch erwiesen sich die von dem Machbarkeitsglauben und der Technikbegeisterung getragenen Hoffnungen, mit Hilfe eines »elektronischen Rechenapparates«263 das gesamte Verfahren der Scheckverteilung zu vereinfachen und zugleich auch die Erfassung der Reisen so umzustellen, dass Friktionen von vornherein vermieden würden.264 Die Technik alleine konnte die Probleme, die in der Grundstruktur der Planwirtschaft wurzelten, jedoch nicht beheben. 263 Vgl. SAPMO-BArch, DY 34/5954, FDGB-Bezirksvorstand Groß-Berlin, Abteilung Feriendienst, Aufschlüsselung der Ferienreisen für 1968 mit Hilfe des elektronischen Rechenautomaten ZRA I, 16. Mai 1967. 264 SAPMO-BArch, DY 34/4928, FDGB-Bundesvorstand, Abteilung Feriendienst, Konzeption zur Durchsetzung der sozialistischen Rationalisierung im Bereich des Feriendienstes
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Zumindest partiell erfolgreicher war man bei der Einrichtung von sogenannten Zentralen Vermittlungsstellen, die Mitte der 1960er-Jahre in den Bezirksstädten gegründet wurden. Sie übernahmen Ferienschecks, die im komplizierten Prozess der Verteilung keinen Abnehmer gefunden hatten. Denn immer noch kam es vor, dass Ferienschecks aufgrund der in erster Linie politisch begründeten, zentralistischen Distribution auf dem Wege vom Bundesvorstand über die Bezirksvorstände und von dort zu den Betrieben nicht immer dort ankamen, wo sie benötigt wurden.265 Mit anderen Worten: Obwohl die Ferienplätze heiß begehrt waren, blieben einige ungenutzt, weil sich die bürokratische Verteilung als ineffizient erwies. Diese nicht verteilten Ferienplätze wurden nun von den Zentralen Vermittlungsstellen an Gewerkschaftsleitungen, Gewerkschaftsmitglieder und ihre Familienangehörigen verkauft. So konnten auch Bürger eine Urlaubsreise erhalten, die bei der Verteilung bisher nicht berücksichtigt worden waren. Um schließlich eine möglichst große Ausnutzung dieser vom Verfall bedrohten Ferienschecks zu erreichen, wendeten die Zentralen Vermittlungsstellen »vielfältige Methoden der Werbung, Propaganda und Agitation für alle Erholungsmöglichkeiten des Feriendienstes der Gewerkschaften« an. Dabei konnte es sich um Presseveröffentlichungen, Angebotslisten und Aushänge, aber auch um Schaufenster- und Schaukastenwerbung handeln. Darüber hinaus gab es einen Fernsprechkundendienst und zusammengestelltes Informationsmaterial zu einzelnen Urlaubsorten und Heimen.266 Die Vertriebswege der Vermittlungsstellen waren denen eines westlichen Reisebüros sehr ähnlich. Wenngleich die Effizienz der westlichen, marktwirtschaftlich orientierten Reisebüros nicht erreicht wurde, führten die Vermittlungsstellen doch dazu, dass der Feriendienst von den DDR-Bürgern zunehmend als Reisebüro wahrgenommen wurde – nicht zuletzt dürften die Werbemaßnahmen der Vermittlungsstellen zu dieser veränderten Wahrnehmung beigetragen haben. Dienstleistungen am Urlaubsort Auch der Ausbau der Dienstleistungen am Urlaubsort begünstigte die veränderte Wahrnehmung des Feriendienstes. Zu diesen Dienstleistungen zählten Postannahme und -ausgabe, Wecken, Verkauf von Postkarten, hygienischen und kosmetischen Artikeln, Koffertransport, das Angebot von Wasch- und Plättarbeiten, Schuh- und Strumpfreparaturen, Anfertigung von Fotoarbeiten, Autoreparaturen, Auskünfte über Verkehrsanbindungen und Ausflugsziele, Hilfe beim Erwerb von Eintrittsd. Gewerkschaften, Berlin, den 1. 9. 66, S. 12. 265 Näheres zur Verteilung der Ferienschecks im zweiten Kapitel dieses Buches. 266 SAPMO-BArch, DY 34/5954, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund. Bundesvorstand – Abteilung Feriendienst –, Richtlinie für die Arbeit der Zentralen Vermittlungsstellen, Berlin, den 20. 2. 67, S. 1 und 5f.
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karten für kulturelle Veranstaltungen und vieles andere mehr.267 Auch der Zimmerservice verbesserte sich durch das Angebot von Postkarten, Getränken, Obst und zusätzlichen Speisen zu allen Tageszeiten deutlich.268 Die leitenden Funktionäre interpretierten dieses Angebot freilich in ihren auf den Sozialismus orientierten Denkhorizonten. Immer müsse »Klarheit im Kopf« darüber bestehen, appellierte man an die Mitarbeiter, dass es sich bei den Dienstleistungen in erster Linie um eine politische Aufgabe handele. So wurde auch im Service die »Parteilichkeit« eingefordert, »indem wir konsequent die Politik unseres Arbeiter- und Bauernstaates vertreten, uns bewußt sind, daß wir Repräsentanten des FDGB sind«.269 Nur so könnten sich »gute Mitarbeiter und Kollektive« auszeichnen und »zur Schaffung eines niveauvollen Betriebsklimas, zur Behaglichkeit und zum Wohlbefinden der Urlauber sowie des gesamten Kollektivs« beitragen.270 »Sauberkeit, Ordnungsliebe, Ehrlichkeit, Schönheitssinn, Höflichkeit, Zuvorkommenheit, gutes Reaktionsvermögen« waren nach dieser Vorstellung nicht etwa notwendig, um den Gästen zu dienen.271 Vielmehr sollten diese Eigenschaften der sozialistischen Gemeinschaft dienen, die sich im Urlaubsort manifestieren sollte. Im Rückblick aber ist auch hier der Wandel des Feriendienstes zum Dienstleistungsunternehmen zu erkennen. Gestaltung des Urlaubs und »kulturelle Betreuung« Ähnlich verhielt es sich bei der Gestaltung der Urlaubstage. Zwar klagten die Urlauber noch immer, dass es nur wenige Veranstaltungen gebe und oftmals Kultur- und Klubräume fehlten.272 Insgesamt aber hatte sich das Kulturprogramm erheblich ausgeweitet. Die seit den frühen 1950er-Jahren etablierten Standard-Tanzabende wurden zunehmend durch sogenannte Gesellschaftsabende abgelöst. Es gab »empfehlenswerte Versuche«, den Urlaubern »sinnvolle Freizeitgestaltungen« auf der Bühne in sogenannten Hobby-Estraden273 vorzuführen.274 Auch gab es Koch- und 267 Ebd., S. 20. 268 SAPMO-BArch, DY 34/5959, FDGB-Bundesvorstand, Abteilung Feriendienst, Jahresbericht 1968, o.D., S. 6. 269 [o. Vorname] Bonkefs, Die Bedeutung des Service bei der Urlauberbetreuung, in: Gesundheit und Lebensfreude, März 1969, H. 3, S. 6–7, hier S. 6f. 270 Ebd. 271 Ebd. 272 SAPMO-BArch, DY 34/6336, Bundesvorstand des FDGB. Abteilung Feriendienst, Analyse über die Arbeit mit den Eingaben und Beschwerden im Jahre 1964, S. 4. 273 Estrade – franz. für Podium, Bühne. 274 SAPMO-BArch, DY 34/5959, FDGB-Bundesvorstand, Abteilung Feriendienst, Jahresbericht 1968, o.D., S. 2; Ruth Dost, Hobby-Estraden, in: Gesundheit und Lebensfreude 1969, H. 4, S. 8.
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Tanzkurse sowie Kurse für Batik-, Stroh- und Keramikarbeiten.275 Ergänzt wurde das Veranstaltungsprogramm in den Urlaubsorten durch Ausflüge mit dem Motorboot auf den Binnengewässern, Kutschenfahrten, Fahrradtouren, Busausflüge, Besichtigungen von Gedenkstätten und vieles mehr.276 Sportanlagen wurden gebaut. Sogenannte Ausleihstationen in den Erholungsheimen zielten darauf ab, die aktive Erholung zu fördern, und stellten gegen eine Nutzungsgebühr das Accessoire für den modernen Urlaub zur Verfügung: Sportgeräte (Skier, Schlitten, Fahrräder, Boote etc.), Liegestühle, Strandkörbe und Luftmatratzen, Fernrohre, Fotoapparate, Kofferradios, Anoraks, Angelgeräte, Wolldecken, selbst Luftgewehre.277 Hinter diesem vielfältigen Angebot wurde die Abkehr von einer Vereinheitlichung und Verregelung deutlich, die noch in den 1950er-Jahren den Urlaub dominierten. Jetzt hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es besser sei, wenn »jedes Mitglied der sozialistischen Gemeinschaft die Formen der Nutzung seiner Freizeit selbst« bestimmen könne.278 Wohl war die Überwindung kleinbürgerlicher Lebensgewohnheiten in Freizeit und Urlaub weiterhin ein Ziel, um den Rückzug ins Private zu verhindern und sich gegen Müßiggang und Egoismus zu wenden. Doch zugleich ließ man dem Urlauber zunehmend seine Freiheiten, im Glauben daran, er würde sich ohnehin richtig entscheiden: »Entsprechend seiner individuellen Veranlagung, seiner wissenschaftlichen und künstlerischen Neigung werden von ihm die Formen der Freizeitgestaltung gewählt, die geeignet sind, ihm die günstigste Bedingung zur Befriedigung seiner Bedürfnisse zu gewähren.«279 Hinter dieser fast liberal anmutenden Auffassung verbarg sich die Hoffnung, dass gerade in der Vielfältigkeit der Freizeitbeschäftigungen die »gesellschaftlichen Erfordernisse zur Weiterentwicklung der sozialistischen Produktions- und Lebensweise zum Ausdruck« kämen.280 Tatsächlich trat aber auch hier die ideologische Aufladung in den Hintergrund. Es ging fortan immer weniger darum, am Urlaubsort den Sozialismus zu erleben. Das Erlebnis des Urlaubs selbst erhielt seinen eigenen Wert, der weitgehend unabhängig von der Ideologie bestimmt wurde.
275 Kurt Oeser/Erich Rothaar/Fritz Matke, Urlaub mit dem Feriendienst des FDGB, Berlin 1968, S. 30f. 276 SAPMO-BArch, DY 34/5943, Bericht über die Arbeitsergebnisse im Jahre 1965 im Bereich des Feriendienstes der Gewerkschaften im Bezirk Potsdam, S. 15. 277 SAPMO-BArch, DY 34/5957, Perspektivplan des Feriendienstes der Gewerkschaften für die Jahre 1964–1970. Entwurf, S. 21 und S. 27ff. Vgl. Erwin Noack, Der Freizeit und Erholungssport und die Torgauer Initiative, in: Gesundheit und Lebensfreude 1969, H. 6, S. 4. 278 Merker, Zu wichtigen Entwicklungstendenzen, S. 775. 279 Ebd. 280 Ebd.
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Gastronomie Bei der gastronomischen Versorgung der Urlauber sah sich der FDGB der »dringende[n] Erfordernis« gegenüber, nunmehr »höheren Anforderungen« durch die »Anwendung moderner Technik und Arbeitsorganisation«, »arbeitserleichternde Methoden« und »weitestgehende Rationalisierungsmaßnahmen« zu begegnen.281 Weil das »Verlangen der Werktätigen nach auserlesenen, nicht alltäglichen Speisen und Getränken gerade während ihres Urlaubs immer größer« werde, forderte man eine Erweiterung des Speise- und Getränkeangebots in einer hohen Qualität282 unter Beachtung der ernährungsphysiologischen Grundsätze.283 Für die Gaststätten gelte, »von der Gemeinschaftsverpflegung ab[zu]gehen und zu guten gastronomischen Betrieben [zu] werden«.284 So strebte man in den größeren Erholungsorten mit mehreren Ferienheimen mit jeweils eigenen Küchen, in denen die gleichen Vorarbeiten »wie Kartoffel schälen, Gemüse putzen und zerkleinern, Fleisch portionieren, Wurst und Käse schneiden, Salat zubereiten« zu erledigen waren, die Zentralisierung der Vorbereitungen in speziellen Vorbereitungsküchen mit verstärktem Maschineneinsatz (z.B. Kartoffelwaschund -schälmaschinen sowie Uniküchenmaschinen) an.285 Die Umsetzung dieses Vorhabens scheiterte jedoch vielerorts schon daran, dass die benötigten Maschinen in ausreichender Anzahl weder in der DDR produziert noch im Ausland eingekauft werden konnten. Improvisation war gefragt, und regelmäßig wurden Vorschläge veröffentlicht, beispielsweise die Erfindung der Kartoffelschälbank (Abbildung 18), die den Angestellten in der Küche das Schälen der beliebten Beilage erleichtern sollte, solange eine vollautomatische Kartoffelschälmaschine nicht verfügbar war.
281 SAPMO-BArch, DY 34/5957, Sasse, Über die Einführung der Selbstbedienung im Feriendienst, o.D., S. 2. 282 SAPMO-BArch, DY 34/4928, FDGB-Bundesvorstand, Abteilung Feriendienst, Konzeption zur Durchsetzung der sozialistischen Rationalisierung im Bereich des Feriendienstes d. Gewerkschaften, Berlin, den 1. 9. 66, S. 6. 283 SAPMO-BArch, DY 34/5957, Perspektivplan des Feriendienstes der Gewerkschaften für die Jahre 1964–1970. Entwurf, S. 21ff. 284 SAPMO-BArch, DY 34/5957, SAPMO-BArch, DY 34/5957, Perspektivplan des Feriendienstes der Gewerkschaften für die Jahre 1964–1970. Entwurf, S. 21. 285 SAPMO-BArch, DY 34/4928, FDGB-Bundesvorstand, Abteilung Feriendienst, Konzeption zur Durchsetzung der sozialistischen Rationalisierung im Bereich des Feriendienstes d. Gewerkschaften, Berlin, den 1. 9. 66, S. 7.
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18 Eine »Erfindung«, die das Schälen großer Mengen von Kartoffeln erleichtern soll: die Kartoffelschälbank (Gesundheit und Lebensfreude, 1963, H. 9, S. 5)
In ähnlicher Weise der Effizienz verpflichtet, begann eine Kampagne zugunsten der Selbstbedienung »als Durchlaufsystem nach dem Entnahmeprinzip«.286 Die Wartezeiten könnten mit dieser »modernsten und rationellsten Angebotsform« verringert oder sogar beseitigt werden, hieß es in einem Papier der Arbeitsgemeinschaft »Selbstbedienung« innerhalb des Feriendienstes. Für den Urlauber bestehe zugleich die Möglichkeit, »selbst nach eigenem Geschmack« aus dem vorhandenen Angebot auszuwählen. Den FDGB-Einrichtungen schließlich gewähre die Selbstbedienung durch die Senkung der benötigten Arbeitszeit und die Steigerung der Arbeitsproduktivität sowie durch die Beschleunigung der Essensdurchgänge höhere Auslastungsraten und Umsatzsteigerungen.287 Weil sich aber die Selbstbedienung auch international durchgesetzt habe,288 müsse auch hier der Grundsatz gelten, »dass der Wettbewerbspartner das Weltniveau ist«.289 Die Selbstbedie-
286 Ebd. 287 SAPMO-BArch, DY 34/5963, Diskussionsgrundlage zum Grundsatzmaterial der AG »Selbstbedienung«, o.D., S. 1f. 288 SAPMO-BArch, DY 34/5957, Sasse, Über die Einführung der Selbstbedienung, S. 3. 289 SAPMO-BArch, DY 34/5963, Diskussionsgrundlage zum Grundsatzmaterial der AG »Selbstbedienung«, o.D., S. 1.
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nung solle sowohl zeitsparend als auch kulturvoll sein. Sie bedürfe »der höchsten Vollkommenheit beim Anrichten der Speisen und Getränke«.290 Auch hier ergab sich das Problem, dass weder die heimische Produktion noch Importe genügend Einrichtungen bereitstellen konnten, um die Selbstbedienung flächendeckend einzuführen.291 Es fehlte an Theken und Vitrinen, an denen der Gast die Speise entnehmen konnte. Lange Zeit musste daher improvisiert werden, wenngleich den Verantwortlichen durchaus bewusst war, dass damit zwar der Arbeitseinsatz reduziert und die Kosten gesenkt werden konnten, nicht aber unbedingt die Qualität gesteigert würde. Äußerst kritisch wurde notiert: Die Praxis zeigt, daß es sich bei unserer Selbstbedienung um ein »Abholsystem« handelt, bei dem der Urlauber die Arbeit des Kellners übernommen hat. Die Urlauber schieben sich an der Essensausgabe vorbei, um dann im Schweiße ihres Angesichts die Suppen und Speisen an ihren Tisch zu balancieren. Anschliessend sind die Tische mit leerem Geschirr vollgebaut und der zweite Durchgang hat kaum die Voraussetzungen zum appetitanregenden Speisen. Abräumer stehen nicht zur Verfügung.292
In diesem Sinne beanstandete Armin K. aus Cunewalde, der den Urlaub mit seiner fünfköpfigen Familie im Ostseebad Prerow verbrachte, in einer durchaus typischen Eingabe die Zustände bei der Verpflegung: Was wir bei der Verpflegung erleben mußten, ist einfach unzumutbar. Für die Beschaffung der Speisen, Servierung und Abräumen sowie Abwischen des Tisches war jeder selbst verantwortlich. Die weißen Tischdecken konnten wir durch eine dreckige, verbrannte Folie sehen, für deren Reinigung am Büfett eine Schüssel Abwaschwasser bereit stand, in die man sich graute, hineinzugreifen. Das Geschirr war schmutzig und abgeschlagen und an den Tellern konnte man früh noch sehen, was am Abend gegessen wurde. Ca. 150 Personen waren in einem Essensdurchgang. Es bildeten sich vor jeder Mahlzeit Schlangen, die Wartezeit betrug 15–20 Minuten. Falls man beim Büfett nicht unter den ersten 20 Urlaubern stand, konnte man die Hoffnung auf eine Scheibe Schinken, Käse oder die schmackhaft angerichteten Salate aufgeben. Fragte man dann freundlich das Küchenpersonal, ob es möglich ist, für 5 Personen wenigstens noch 2 Scheiben Käse oder etwas Salat zu bekommen, bekam man zu hören: »Für den 1. Durchgang ist alles raus!«293 290 SAPMO-BArch, DY 34/5957, Sasse, Über die Einführung der Selbstbedienung im Feriendienst, o.D., S. 3f. 291 SAPMO-BArch, DY 34/5957, Perspektivplan des Feriendienstes der Gewerkschaften für die Jahre 1964–1970. Entwurf, S. 25. 292 SAPMO-BArch, DY 34/5957, Sasse, Über die Einführung der Selbstbedienung im Feriendienst, o.D., S. 1. 293 SAPMO-BArch, DY 34/15851, Sektor Urlauberbetreuung, Eingaben-Analyse 1976 zu Fragen des Feriendienstes der Gewerkschaften, Berlin, den 28. 02. 77, gez. Kirschner, Sektorenleiter, S. 7f.
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In Reaktion auf solche Zustände wurde von Seiten des FDGB gefordert: »Die Entwicklung darf also nicht unter dem Motto laufen: ›Selbstbedienung um jeden Preis‹, sondern ›Selbstbedienung mit Niveau‹.«294 Auch was die Speisen selbst anbelangte, hatte man weitreichende Pläne. Die Mitarbeiter des Feriendienstes dachten nicht in erster Linie an erlesene Delikatessen, auch wenn die Aufstellung eines »Delikatessbüfetts« mit Wurst, Käse, Fischkonserven und verschiedenen Salaten angeregt wurde.295 Eingedenk der begrenzten Leistungsfähigkeit der eigenen Wirtschaft gab man sich genügsam und forderte lediglich, dass »kein Fleisch-, Fisch- oder Eigericht ohne die angemessene Gemüse-, Salat- oder Obstbeilage verabfolgt werden« dürfe. Zudem sollte der Urlauber zwischen verschiedenen Gedecken, Suppen, Vorund Nachspeisen sowie bis zu sieben Hauptgerichten wählen können.296 Doch trotz all der Bemühungen um eine angemessene Versorgung der Urlauber machte die Beschaffung der Lebensmittel oft Schwierigkeiten. Die Versorgung mit Lebensmitteln, hieß es, könne »noch nirgends als stabil bezeichnet werden«.297 Die Sortimente an Fleisch- und Wurstwaren waren oftmals unzureichend. Gemüse und Obst fehlten, hochwertige Nahrungs- und Genussmittel waren Mangelware. In den beliebtesten und stark frequentierten Regionen wie an der Ostsee traten diese Schwierigkeiten besonders deutlich zu Tage, weil man der Massen der Urlauber kaum Herr wurde.298 So lässt sich feststellen, dass die Mängel der Planwirtschaft das ambitionierte Vorhaben konterkarierten und die Bemühungen um Rationalisierung in der Küche und zur Selbstbedienung im Speisesaal vielfach zur Farce werden ließen. Das schließt jedoch nicht aus, dass sich auch in der Gastronomie ein Wandel vollzog. Auch hier zeigt sich die Tendenz zur Individualisierung, die im angestrebten Selbstbedienungsbüfett erkennbar wird und im Wettkampf um die begehrten Speisen am Büfett ihren prägnanten Ausdruck findet. Mit der Gemeinschaftsverpflegung, die in den 1950er-Jahren den Feriendiensturlaub kennzeichnete, hatte dies nur noch wenig zu tun.
294 SAPMO-BArch, DY 34/5963, Diskussionsgrundlage zum Grundsatzmaterial der AG »Selbstbedienung«, o.D., S. 1. 295 Helga Barnieske, Das Delikateßbüfett erhöht das Niveau der Betreuung, in: Gesundheit und Lebensfreude 1966, H. 3, S. 5. 296 SAPMO-BArch, DY 34/5957, Perspektivplan des Feriendienstes der Gewerkschaften für die Jahre 1964–1970. Entwurf, S. 22ff. 297 SAPMO-BArch, DY 34/5959, FDGB-Bundesvorstand, Abteilung Feriendienst, Jahresbericht 1968, o.D., S. 6. 298 SAPMO-BArch, DY 34/6336, Abteilung Feriendienst. Sektor mat. und kult. Betreuung, Analyse über die bei der Abteilung Feriendienst im 2. und 3. Ouart. 1964 eingegangenen Beschwerden, Eingaben, Anfragen der Mitglieder, den 4. 11. 1964, S. 4.
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Neue Urlaubsformen des FDGB-Feriendienstes Neben der Verbesserung seines Angebotes bei den Reisen in die Ferienheime des FDGB erschloss der Feriendienst in den 1960er-Jahren auch gänzlich neue Urlaubsformen, um die »spezifische[n] Interessen« der Urlauber zu befriedigen. Zunächst ergänzte der Feriendienst sein Angebot für besondere Zielgruppen. Er bot speziell zugeschnittene Hochzeitsreisen,299 besonders gestaltete Reisen für werdende Mütter, für Diabetiker, für die Landjugend, für Blinde und Gehörlose sowie für Partei- und Gewerkschaftsveteranen an.300 Darüber hinaus bot der Feriendienst zunehmend Möglichkeiten, individuelle Formen des Urlaubs mit dem Ferienheim-Urlaub zu verbinden. So konnten die Urlauber bei den FDGB-Heimen in Köthen und Zechlinerhütte auch in Zelten übernachten, wobei die vor allem bei jüngeren Mitgliedern sehr beliebte Form des Campingurlaubs mit der Nutzung der Sanitäranlagen und Küchenkapazitäten der Heime verbunden wurde.301 Für die wachsende Zahl der Urlauber mit eigenem Auto wurde unter dem modernen, wohlklingenden Namen die »Motortouristik« bzw. die »Motor-WanderTouristik« entwickelt.302 Dahinter verbarg sich in erster Linie eine pragmatische Methode, um die Kapazitäten des Feriendienstes zu erhöhen. Denn unter »Motortouristik« wurde nichts weiter als die Anmietung von Privatquartieren verstanden, die in größerer Entfernung zum Strand oder zu den FDGB-Heimen lagen, in denen die Versorgung erfolgen sollte, sodass ihre Vermittlung nur an motorisierte Urlauber möglich war. Vergleichbar motiviert war eine weitere, »neue« Urlaubsform, mit der der Feriendienst explizit an die im 19. Jahrhundert sehr beliebte »Sommerfrische« anschloss, indem er lediglich Unterkünfte bereitstellte, die Versorgung aber den Urlaubern selbst überließ.303 Differenziert wurde das Angebot des Feriendienstes zudem durch Auslandsreisen. Sie stellten das einzige Gebiet dar, auf dem der Feriendienst in den 1960erJahren positive Wachstumsraten ausweisen konnte. In Zusammenarbeit mit den 299 SAPMO-BArch, DY 34/4928, Einschätzung des Charakters der Popularisierung des Urlaubs für Hochzeitsreisende in Oybin, 25. 5. 1966. 300 SAPMO-BArch, DY 34/5954, Untersuchung der Entwicklung und des Standes des Tourismus der DDR ab 1956, Berlin, den 23. November 1967, S. 3 und S. 5. Vgl. auch Kurt Oeser/Erich Rothhaar/Fritz Matke, Urlaub mit dem Feriendienst des FDGB, S. 47ff. 301 SAPMO-BArch, DY 34/9751, Einige Argumentationen zum Beschluß des Sekretariats des FDGB-Bundesvorstandes zur Verteilung der FDGB-Erholungsaufenthalte für das Jahr 1970, S. 8. 302 SAPMO-BArch, DY 34/5957, Perspektivplan des Feriendienstes der Gewerkschaften für die Jahre 1964–1970. Entwurf, S. 15. 303 SAPMO-BArch, DY 34/9751, Einige Argumentationen zum Beschluß des Sekretariats des FDGB-Bundesvorstandes zur Verteilung der FDGB-Erholungsaufenthalte für das Jahr 1970, o.D. [1969], S. 8.
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Gewerkschaften anderer sozialistischer Länder, die dem Feriendienst vergleichbare Einrichtungen geschaffen hatten, wurden gewerkschaftliche Auslandsreisen durchgeführt. Doch die dabei auftretenden Schwierigkeiten brachten nicht selten die beständige Rede von der Völkerfreundschaft in Misskredit. Besonders bedenklich war es, dass gerade die Reisen in die Sowjetunion zur Zielscheibe heftiger Kritik werden konnten. Das Programm sei zu anstrengend, der Preis zu hoch. Man beschwerte sich über die sanitären Einrichtungen, mangelnde Sauberkeit und einige Diebstähle »besonders in den südlichen Gebieten der UdSSR«.304 Kurzum: Der Ruf, der den Reisen ins Mutterland der Revolution vorauseilte, führte dazu, dass die zur Verfügung stehenden Kapazitäten nicht ausgenutzt werden konnten – was insofern bemerkenswert ist, als in allen anderen Bereichen des Feriendienstes stets ein Nachfrageüberschuss bestand. Erfolgreicher war der »Scheckaustausch«. In Zusammenarbeit mit der tschechoslowakischen Gewerkschaft ROH (Revoluční odborové hnutí, dt.: einheitliche revolutionäre Gewerkschaftsbewegung) wurde der Tausch von Ferienplätzen organisiert. Ebenso einfallsreich und begehrt war der Aufenthalt in den Erholungsheimen des FDGB in Karlsfeld und Grünbach sowie in den Heimen der tschechoslowakischen Gewerkschaft ROH in Mariánské Láznĕ, wobei die Urlaubergruppen nach sechstägigem Aufenthalt ausgetauscht wurden.305 Urlauberschiffe Vorzeigeobjekte der FDGB-Auslandstouristik blieben die Urlauberschiffe. Dennoch wich die Euphorie der späten 1950er-Jahre beim Bau der »GTMS Fritz Heckert« und dem Kauf der »MS Völkerfreundschaft« nach dem Mauerbau der Ernüchterung.306 Da die Schiffe bei ihren Fahrten ins Mittelmeer oder nach Norwegen »kapitalistische Hoheitsgewässer« durchqueren mussten, war die Angst vor »Republikflucht« nicht unbegründet. Immer wieder flohen Passagiere von Bord der Urlauberschiffe, indem sie beim Passieren von Fehmarn, in der Nähe der norwegischen Küste oder bei der Fahrt durch den Bosporus von Bord sprangen.307 Einschneidende Maßnahmen wie die Räumung des Decks, Räumung bestimmter Kabinen, obligatorischer Aufenthalt im Gesellschaftsraum etc. waren die Folge.308
304 SAPMO-BArch, DY 34/4928, Abteilung Feriendienst, Sekretariatsinformation über die gewerkschaftliche Auslandstouristik im Jahre 1965, o.D., S. 4f. 305 Ebd., S. 8. 306 Vgl. hier und im Folgenden: Stirn, Traumschiffe des Sozialismus, S. 155ff. 307 Peters, Vom Urlauberschiff zum Traumschiff, S. 93–100, hier S. 98; vgl. auch die Hinweise auf Fluchtversuche in: ders., Vom Urlauberschiff zum Luxusliner, S. 37. 308 SAPMO-BArch, DY 34/4928, Abteilung Feriendienst, Sekretariatsinformation über die gewerkschaftliche Auslandstouristik im Jahre 1965, o.D., S. 8.
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Bald durften die Schiffe keine kapitalistischen Häfen mehr anlaufen und mussten westliche Hoheitsgewässer meiden.309 Doch nicht nur die neue politische Geographie nach dem Mauerbau erschwerte den Betrieb der Urlauberschiffe durch den FDGB. Längst hatte sich gezeigt, dass der Feriendienst auch organisatorisch mit dem Betrieb der Urlauberschiffe überfordert war. Bereits im Herbst 1963 entschied der Bundesvorstand des FDGB deshalb, sich von der unmittelbaren Verantwortung für die Schiffe zu trennen. Zum 1. Januar 1964 wurden sie dem VEB Deutsche Seereederei Rostock unterstellt. Auch wenn nun das FDGB-Emblem von den Schornsteinen der Schiffe und von den Schulterklappen der Uniformjacken der Besatzung verschwand, wurden weiterhin FDGBReisen mit den Schiffen durchgeführt. Allerdings verfügte die Gewerkschaft fortan nur noch über 60 Prozent der Reisen. Den Rest vermittelte nun das Reisebüro der DDR. In zunehmendem Maße wurden die Schiffe auch an ausländische Reiseveranstalter vermietet, um Devisen zu erhalten.310 Sie wandelten sich von einem utopischen Projekt, das den Aufbau des Sozialismus verkünden sollte, zu einem Unternehmen, das schließlich einer strengen, wirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Analyse unterlag und die politischen Belange auf diese Weise in den Hintergrund stellte. Die Diskussion um »kostendeckende Preise« Die von Technizismus, Verwissenschaftlichung und Pragmatismus geprägten Maßnahmen zur Verbesserung des Feriendienstes in den 1960er-Jahren blieben unzulänglich, weil man an der zentralen Schraube, der Finanzierung, nicht drehen wollte. Trotz der beschriebenen Veränderungen in der Preisgestaltung scheute man vor einer Veränderung auf der Basis einer Gewinnkalkulation zurück – wenngleich es durchaus Überlegungen in diese Richtung gab. Im Gegensatz zum Gründungsbeschluss, in dem 1947 explizit festgeschrieben worden war, dass die Preise nicht von den tatsächlichen Kosten abhängig sein sollten,311 wurde Mitte der 1960er-Jahre in einem vertraulichen Papier des Feriendienstes vorgeschlagen: »Es sind Preise für die Übernachtung und Verpflegung von Gästen der Erholungsheime festzulegen, die die gesellschaftlich notwendigen Selbstkosten decken und nach der Qualität der
309 Peters, Vom Urlauberschiff zum Luxusliner, S. 38f. 310 Ebd., S. 54ff., 83. 311 SAPMO-BArch, DY 34/24002, Zu Punkt 20 der Tagesordnung [der Sitzung des Geschäftsführenden Vorstandes am 20. 3. 1947]. Feriendienst des F.D.G.B., S. 1, Bl. 96.
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Leistungen gestaffelt sind.«312 An anderer Stelle wurde verlangt, im Erholungswesen »kostendeckende Preise einzuführen«.313 Schließlich wurde im Perspektivplan für die Jahre 1964 bis 1970 im Einklang mit den Konzeptionen der Wirtschaftsreform in der DDR vorgeschlagen, dem »Gewinn« als »Maßstab für den ökonomischen Nutzeffekt der geleisteten Arbeit« fortan auch beim Feriendienst eine zentrale Rolle einzuräumen,314 wenngleich pflichtbewusst betont wurde, dass »entsprechend den Prinzipien der Gewerkschaftspolitik die bisherigen Prinzipien des Feriendienstes der Gewerkschaften weiter anzuwenden« seien.315 Das waren mutige Vorschläge, die eine Ausrichtung des Erholungswesens nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten bedeutet hätten. Zu einer Umsetzung kam es jedoch nicht. Im Ergebnis war Ende der 1960er-Jahre nicht mehr zu leugnen, dass der Erfolg der Rationalisierungsmaßnahmen begrenzt blieb. Jeder Vorschlag zur Rationalisierung des Feriendienstes war vom Machbarkeitsglauben der zuständigen Funktionäre geprägt und ganz in der Ideologie der planwirtschaftlichen Ordnung verwurzelt. Ob es sich um die Einführung der Computertechnologie zur effizienteren Scheckverteilung handelte oder um die Zentralisierung der Speisenzubereitung – immer schimmerte die feste Überzeugung durch, diese Probleme in politischadministrativer Art und Weise bewältigen zu können. Bezeichnenderweise bezogen sich dabei alle Vorschläge und Maßnahmen auf kleine Problemkreise. Es war offensichtlich, »daß es sich bei unseren Rationalisierungsmaßnahmen noch um überwiegend Einzelmaßnahmen handelt«.316 Gleichsam als Bilanz der Reformperiode stellte die Zeitschrift »Gesundheit und Lebensfreude für den Sieg des Sozialismus. Forum für die Mitarbeiter des Erholungswesens« 1969 fest: »Der komplexe Charakter der sozialistischen Rationalisierung wird von vielen immer noch nicht richtig erkannt.«317 Tatsächlich hatte der Tourismus in diesem Jahrzehnt eine so komplexe Gestalt angenommen, dass die politische Steuerung kaum mehr möglich war. 312 SAPMO-BArch, DY 34/5954, Innerorganisatorisches vertrauliches Material, nicht für die Veröffentlichung bestimmt: Betr. Durchsetzung des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung im Feriendienst der Gewerkschaften, o.D., S. 7. 313 SAPMO-BArch, DY 34/5957, FDGB-Bundesvorstand. Abteilung Feriendienst, Entwicklung des Erholungswesens bis 1980 für die Werktätigen der DDR, Berlin, den 6. 1. 1967, [S. 8]. 314 SAPMO-BArch, DY 34/5957, Perspektivplan des Feriendienstes der Gewerkschaften für die Jahre 1964–1970. Entwurf, S. 41. 315 SAPMO-BArch, DY 34/5957, FDGB-Bundesvorstand. Abteilung Feriendienst, Entwicklung des Erholungswesens bis 1980 für die Werktätigen der DDR, Berlin, den 6. 1. 1967, [S. 8]. 316 Wolfgang Gerstenberger, Komplexe Rationalisierung und Weltstand, in: Gesundheit und Lebensfreude, Nr 1, Januar 1969, S. 7. 317 Ebd.
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Und so markieren die 1960er-Jahre einen gravierenden Wandel im Erholungswesen der DDR. Überall waren deutliche Tendenzen der Ausdifferenzierung des Urlaubs zu verzeichnen, auf die der Feriendienst reagieren musste. Die vom Feriendienst eingeführten Reformen aber führten dazu, dass die Ferienheime schließlich ihren Charakter als Ort der sozialistischen Gemeinsamkeit einbüßten. Der Feriendienst wandelte sich zu einem Dienstleistungsunternehmen, das den Urlaubern weit entgegenkam. Darin ähnelte der Feriendienst durchaus den westlichen Touristikunternehmen. Entscheidend für die DDR war, dass der Feriendienst und mit ihm die politischen Funktionäre von Partei, Staat und Gewerkschaft in diesem Prozess ihre eigenen Gestaltungsmöglichkeiten immer weiter verloren. 3. Sozialpolitik und Utopieverlust. Die Ära Honecker Der VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 und der im Frühjahr 1972 gefasste »Gemeinsame Beschluß des Politbüros des ZK der SED, des Präsidiums des Bundesvorstandes des FDGB und des Ministerrates der DDR zur Entwicklung des Feriendienstes der Gewerkschaften sowie zu Fragen der Kuren«318, mit dem der Feriendienst in das neue, auf dem VIII. Parteitag beschlossene sozialpolitische Programm der SED integriert werden sollte, legten Anfang der 1970er-Jahre die Grundlagen für einen Ausbau des Feriendienstes in bisher nicht gekanntem Ausmaß. Nach der Stagnation der Kapazitäten in den 1960er-Jahren knapp über der Millionenmarke stieg die Zahl der jährlichen Reisen mit dem Feriendienst bis 1980 auf 1,68 Millionen und bis 1989 sogar auf 1,85 Millionen an. Die Aufwertung des Feriendienstes als Bestandteil der Sozialpolitik und die finanziellen Mittel, die seit dem VIII. Parteitag in den Tourismus flossen und so die Wachstumsraten im Feriendienst überhaupt erst ermöglichten, waren Versuche, den politisch-ideologischen Einfluss von Staat und Gewerkschaft auf den Tourismus gewissermaßen zurückzukaufen. Gleichwohl mussten diese Versuche scheitern, weil man lediglich die finanziellen und materiellen Mittel aufstockte, aber keine grundsätzliche Veränderung bei ihrer Verwendung vornahm. So konnte zwar der quantitative Ausbau des Feriendienstes in zuvor nie gekanntem Ausmaß erfolgen, doch qualitativ blieb die Politik weitgehend wirkungslos.
318 SAPMO-BArch, DY 30/JIV 2/2 A/1.580 Bd. 1, Gemeinsamer Beschluß des Politbüros des ZK der SED, des Präsidiums des Bundesvorstandes des FDGB und des Ministerrates der DDR zur Entwicklung des Feriendienstes der Gewerkschaften sowie zu Fragen der Kuren, Arbeitsprotokoll, 7. März 1972. Der Beschluss wurde abgedruckt in: Neues Deutschland 27 (1972), Nr. 68, 8. 3. 1972, S. 1.
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Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung des Erholungswesens in den 1970erJahren war der VIII. Parteitag der SED vom 15. bis 19. Juni 1971, der von Zeitgenossen und Historikern als tiefer Einschnitt in der Geschichte der DDR nach dem Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker an der Spitze der Partei wahrgenommen wurde.319 Die wichtigsten Beschlüsse des VIII. Parteitages zielten darauf, fortan eine intensive Sozialpolitik zu betreiben.320 »Die Bedürfnisse des Menschen«, so lautete die grundlegende Forderung von Erich Honecker, »sind nicht Punkt zwei, drei oder vier, sondern Punkt eins der Planung. Sie sind für die Planung entscheidender Ausgangspunkt.«321 Den Grund für diese neue Beachtung, welche die »Bedürfnisse« des Menschen seitens der SED nun erfuhren, hatte Honecker schon vor dem VIII. Parteitag prägnant formuliert: »Man kann nie gegen die Arbeiter regieren!«322 Um die Arbeiter zufrieden zu stellen und der DDR damit erneut Legitimation zu verschaffen, galt fortan die Maxime, »daß sich angestrengte Arbeit tatsächlich auf das Lebensniveau nicht erst in ferner Zukunft, sondern bereits unmittelbar auswirkt«.323 Nicht mehr utopische Entwürfe und Versprechen, ein Vertrösten auf die Zukunft, das die vorhergehenden Jahre der DDR geprägt hatte, sondern ein besseres Leben im Hier und Jetzt wurde angekündigt. Gegenwartsforderungen traten an die Stelle früherer Zukunftshoffnungen.324 Der »real-existierende Sozialismus« sollte unmittelbar für jeden durch steigende Lebensqualität spürbar werden. Diese »aktive« Sozialpolitik wurde in den 1970er-Jahren zur leitenden Kategorie der Politik. Unübersehbar traten die legitimatorischen Aspekte dieser neuen Sozialpolitik hervor. Um Massenloyalität zu steigern, wurde bei der Auswahl und Durchführung konkreter Maßnahmen vor allem auf den erhofften »größte[n] 319 Vgl. Monika Kaiser, Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962 bis 1972 (Zeithistorische Studien, Bd. 10), Berlin 1997, S. 11ff. 320 Vgl. nur Hermann Weber, Geschichte der DDR, erw. u. akt. Auflage, München 1999, S. 275. Kritisch hierzu: Beate Ihme-Tuchel, Die DDR, Darmstadt 2002, S. 71ff. 321 Erich Honecker, Zu aktuellen Fragen bei der Verwirklichung der Beschlüsse des VIII. Parteitages. Aus dem Schlußwort auf der 4. Tagung des Zentralkomitees der SED, 17. Dezember 1971, in: ders., Reden und Aufsätze, Bd. 1, Berlin (O) 1975, S. 393–430, hier S. 410. 322 Erich Honecker in der Beratung der Grundlagen für die Ausarbeitung des Fünfjahrplanes 1971–1975 am 24. März 1971, zit. nach: Bouvier, Die DDR – ein Sozialstaat?, S. 79; vgl. Christoph Boyer/Peter Skyba, Sozial- und Konsumpolitik als Stabilisierungsstrategie. Zur Genese der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« in der DDR, in: Deutschland Archiv (DA) 32 (1999), S. 577–590, hier S. 583f. Zur zunehmend schlechteren Stimmungslage in den späten 1960er-Jahren: Bouvier, Die DDR – ein Sozialstaat?, S. 64. 323 Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Abriss, Berlin (O) 1978, S. 584. 324 Peter Hübner, Konsens, Konflikt und Kompromiß. Soziale Arbeiterinteressen und Sozialpolitik in der SBZ/DDR 1945–1970 (Zeithistorische Studien, Bd. 3), Berlin 1995, S. 176f.
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politische[n] Effekt« abgestellt.325 Da Millionen von Menschen verreisten, kam dem Tourismus eine zentrale Bedeutung zu. In bislang nicht gekannter Ausführlichkeit befasste sich daher der VIII. Parteitag der SED mit dem Erholungswesen: »Das Erholungswesen ist entsprechend der Sozialpolitik des sozialistischen Staates weiterzuentwickeln«,326 hieß es in der Direktive, die zudem festlegte: »Den vielfältiger werdenden Freizeitinteressen der Werktätigen ist durch die Erhöhung des Niveaus der Ferien- und Naherholung besser zu entsprechen.«327 Zwar hatte es ähnliche Formulierungen schon in den vergangenen Jahren immer wieder gegeben, nun aber wurden die Absichtserklärungen mit einer deutlichen Erhöhung der finanziellen Mittel verbunden. Mehr als je zuvor wurde das Erholungswesen als gesamtstaatliche Aufgabe betrachtet und nicht mehr der alleinigen Verantwortung der Gewerkschaft überlassen. Die Räte der Kreise, Städte und Gemeinden, die Betriebe und andere Einrichtungen, an deren Verantwortung man zuvor lediglich im Sinne einer besseren Zusammenarbeit appelliert hatte, wurden nun durch den VIII. Parteitag der SED aufgefordert, auch ihre materiellen und finanziellen Fonds »für den Bau von Erholungseinrichtungen und den Ausbau des Naherholungswesens in Übereinstimmung mit dem FDGB so einzusetzen, daß die vorhandenen Erholungseinrichtungen durch die Werktätigen voll genutzt und der Bau neuer Einrichtungen mit hoher Effektivität gesichert werden«.328 Beinahe gleichlautende Formulierungen gingen in die Maßnahmenkataloge des FDGB ein, die zur Umsetzung der Direktive des VIII. Parteitages der SED aufgestellt wurden. Eine Vorlage des FDGB zählte im Februar 1972 unter der Überschrift »Anforderungen an andere Bereiche der Volkswirtschaft« eine beachtliche Reihe von Ministerien und Institutionen auf, die sich neben den Gewerkschaften und den Betrieben fortan verstärkt um die Belange des Erholungswesens kümmern sollten. Die eindrucksvolle Liste umfasst das Ministerium für Bauwesen, das Ministerium für Handel und Versorgung, das Ministerium für bezirksgeleitete Industrie und Lebensmittelindustrie, den Rat für landwirtschaftliche Produktion und Nahrungsgüterwirtschaft, das Ministerium für Materialwirtschaft, das Ministerium für Verkehrswesen, das Ministerium für Gesundheitswesen und schließlich das Ministerium für Kultur sowie den Deutschen Turn- und Sportbund (DTSB).329 325 Vgl. Boyer/Skyba, Sozial- und Konsumpolitik, S. 585f. 326 Direktive des VIII. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zum Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR 1971–1975, in: Protokoll der Verhandlungen des VIII. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, S. 316–415, hier S. 391. 327 Ebd. 328 Ebd. 329 SAPMO-BArch, DY 34/24945, Maßnahmen zur Entwicklung des Feriendienstes der Gewerkschaften, S. 9ff.
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Zur Umsetzung der Vorgaben des VIII. Parteitages wurde schließlich rechtzeitig zum 25-jährigen Jubiläum des Feriendienstes im März 1972 der bereits erwähnte »Gemeinsame Beschluß« gefasst, an dem sich im Sinne dieser breiten Verantwortung für das Erholungswesen die wichtigsten politischen Entscheidungsträger der DDR beteiligten – das Politbüro des ZK der SED, das Präsidium des Bundesvorstandes des FDGB und der Ministerrat der DDR. Mit diesem Beschluss wurde die auf dem VIII. Parteitag der SED vorgegebene Orientierung auf die Sozialpolitik umgesetzt. Ein massiver Ausbau des Erholungswesens war die Folge.330 Neben dem Ausbau war die Verbesserung der Qualität der bestehenden Unterkünfte ein weiteres Ziel, das durch Baureparaturen und Rekonstruktionsmaßnahmen erreicht werden sollte. Denn stärker als zuvor wurde im Zusammenhang mit der in der Ära Honecker betriebenen Wohnungsbau- und Konsumpolitik offensichtlich, dass die Urlauber ihre Ferienunterkünfte »im wachsenden Umfang ihren besser ausgestatteten Wohnungen gegenüber[stellten]«.331 Alle Zimmer sollten mindestens auf die mittlere Qualitätsstufe gehoben werden, fließend warmes und kaltes Wasser endlich Standard sein.332 Ferner forderte der »Gemeinsame Beschluss« auch »die weitere Verbesserung der Qualität der Urlauberbetreuung«. Die »kulturelle Betreuung« sollte »eine den vielfältiger werdenden Freizeitinteressen der Werktätigen entsprechende Entwicklung« erfahren. Auch die Versorgung mit Speisen und Getränken sollte »weiter vervollkommnet« werden. Hierzu wurde der Verpflegungskostensatz pro Tag von 3,05 Mark auf 4,- Mark angehoben, was sich jährlich zu einem beachtlichen Mehraufwand von 17 Millionen Mark summierte. Um Preiserhöhungen zu vermeiden, sollten die Gelder für den erhöhten Verpflegungskostensatz aus dem Staatshaushalt zur Verfügung gestellt werden.333
330 SAPMO-BArch, DY 30/JIV 2/2 A/1.580 Bd. 1, Gemeinsamer Beschluß des Politbüros des ZK der SED, des Präsidiums des Bundesvorstandes des FDGB und des Ministerrates der DDR zur Entwicklung des Feriendienstes der Gewerkschaften sowie zu Fragen der Kuren, Arbeitsprotokoll, 7. März 1972. Der Beschluss wurde abgedruckt in: Neues Deutschland 27 (1972), Nr. 68, 8. 3. 1972, S. 1. 331 SAPMO-BArch, DY 34/24945, Bundesvorstand. Beschluß des Präsidiums vom 11. 10. 72, Nr. P 159/72. Einschätzung der Hauptreisezeit 1972 im Feriendienst der Gewerkschaften, S. 10. 332 SAPMO-BArch, DY 34/24945, Maßnahmen zur Entwicklung des Feriendienstes der Gewerkschaften, S. 3. 333 SAPMO-BArch, DY 34/24945, Maßnahmen zur Entwicklung des Feriendienstes der Gewerkschaften [Vorlage für das Politbüro des ZK der SED, ihr wurde auf der Präsidiumssitzung vom 18. 2. 1972 zugestimmt. Vgl. SAPMO-BArch, DY 34/24945, Bundesvorstand. Beschluß des Präsidiums vom 18. 2. 72, Nr. P 23/72.], S. 1f.
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19 Ferienheim »Schöne Aussicht« in Schmiedefeld, 1985. Dieses Ferienheim verfügte über 480 Plätze und bot im Jahr 10.000 Menschen Platz. (Fotograf: Helmut Schaar, Bundesarchiv-Bild Nr. 183-1985-0530-032)
Tatsächlich wurde der Ausbau des Feriendienstes in den folgenden Jahren auf breiterer Ebene als jemals zuvor vorangetrieben. Bis 1976 entstanden zehn neue Erholungskomplexe bzw. Erholungsheime, etwa 20 Urlauberwohnheime und drei Urlaubersiedlungen in industrieller Montagebauweise (vgl. Abbildung 19).334 1976 meldete man, dass der »Gemeinsame Beschluss« bei der Schaffung neuer Ferienplätze sogar mit drei Prozent übererfüllt worden sei (8.745 statt 8.500 neue Plätze).335 Die Zahl der Urlaubsreisen stieg sogar um über 20 Prozent von 1.179.636 Reisen im Jahre 1971 auf 1.446.853 Reisen 1975.336 334 SAPMO-BArch, DY 34/15809, Presseinformation aus Anlaß der Eröffnung neuer Erholungsheime [handschriftlich datiert auf den 15. 12. 75], S. 1. 335 SAPMO-BArch, DY 34/15864, Sektor Grundsatzfragen, Leitungsinformation. Betrifft: Abrechnung über die Entwicklung der Investitionen, Kapazitäten und Reisen im Jahre 1971–1975 und Hauptkennziffern des »Gemeinsamen Beschlusses« (1972–1975), Berlin, den 20. 5. 1976, S. 2. Vgl. auch: Der gemeinsame Beschluß wurde erfüllt, in: Gesundheit und Lebensfreude 1976, H. 2, S. 1–2. 336 Statistisches Jahrbuch 1976 der Deutschen Demokratischen Republik, Jg. 21, hg. v. d. Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik, Berlin 1976, S. 369; vgl. auch: Neue Heime – neue Initiativen, in: Gesundheit und Lebensfreude, 1976, H. 2, S. 2–4.
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Diese Wachstumsraten des Feriendienstes stehen in einem Zusammenhang mit der ideologischen Aufwertung des FDGB im Rahmen der neuen Sozialpolitik. Nicht zuletzt, weil im FDGB ein Großteil der Bevölkerung organisiert war, wurde Erich Honecker nicht müde, die Bedeutung der Gewerkschaften hervorzuheben. Er appellierte schon auf dem VIII. Parteitag der SED an die Gewerkschaftsfunktionäre, »sorgfältig darauf zu achten, daß die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen nirgendwo an den Rand der Leitungstätigkeit gerät«.337 Nahezu gleichlautend wiederholte Honecker diese Forderung auf dem 8. FDGB-Kongress im folgenden Jahr.338 Die Rolle der Gewerkschaften wurde in der Verfassung von 1974339 sowie im SED-Parteiprogramm von 1976 stärker als zuvor verankert.340 Durchaus folgerichtig – wenn auch für westliche Beobachter überraschend – kam 1975 nach dem Tod des langjährigen Vorsitzenden Herbert Warnke mit Harry Tisch ein Mann an die Spitze des FDGB, der die Bindung der Gewerkschaft an die Partei einmal mehr zum Ausdruck brachte. Die eigentlichen gewerkschaftlichen Tätigkeiten Tischs lagen lange zurück und mussten mühsam herausgearbeitet werden. Er gehörte zu dem Zeitpunkt, als er zum FDGB-Vorsitzenden bestimmt wurde, weder dem Präsidium noch dem Bundesvorstand des FDGB an, aber er hatte eine Parteikarriere hinter sich, die ihn zuletzt in die Funktion des 1. Sekretärs der SEDBezirksleitung Rostock gebracht hatte.341 So signalisierte die Wahl Tischs die Absicht Honeckers, »Einfluß und Kontrolle der Partei innerhalb der Gewerkschaften auszubauen«, wie ein zeitgenössischer Beobachter zutreffend bemerkte.342 Verstärkt sollte fortan auch die Gestaltung des Urlaubs unter ideologischen Gesichtspunkten entwickelt werden; wie bereits in den 1950er-Jahren sprach man 337 Erich Honecker im Bericht des Zentralkomitees an den VIII. Parteitag der SED: Protokoll der Verhandlungen des VIII. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, S. 80. 338 Erich Honecker, Der Sozialismus kann nur mit starken und aktiven Gewerkschaften erbaut werden, in: Protokoll des 8. FDGB-Kongresses vom 26. bis 30. Juni 1972 in Berlin, hg. v. Bundesvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, Berlin 1972, S. 71. 339 Art. 44 und 45 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968 in der Fassung des Gesetzes zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974, abgedruckt in: Die neue Verfassung der DDR, mit einem einleitenden Kommentar von Dietrich Müller-Römer, 3. Aufl., Köln 1974, S. 77–112, hier S. 94f. 340 Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (1976), abgedruckt in: Eberhard Schneider (Hg.), SED. Programm und Statut von 1976. Text, Kommentar, Didaktische Hilfen, Opladen 1977, S. 80–119, hier S. 104. 341 Vgl. zur Biographie von Harry Tisch die kurzen Ausführungen bei Gill, Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB), S. 271f. 342 Karl Wilhelm Fricke, Aufsteiger Harry Tisch, in: DA 8 (1975), H. 6, S. 567–569, vor allem S. 568.
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nun wieder davon, die Probleme des Erholungswesens vor allem durch politischideologische Arbeit bewältigen zu müssen. Es war der verbreitete und doch seltsam naive Glaube der Parteifunktionäre, dass nur die politische Arbeit der Gewerkschaftsfunktionäre verbessert werden und zugleich die Autorität dieser Funktionäre deutlicher betont werden müsse, um aller Probleme Herr zu werden.343 Letztendlich stellte diese Entwicklung einen Rückgriff auf die 1950er-Jahre dar, mit der die oftmals technizistische Reformpolitik der Ulbricht-Ära diskreditiert werden sollte.344 Diese alten, wiederbelebten Konzepte aber waren in der veränderten Gesellschaft der DDR längst unbrauchbar geworden. Daher dürfen der Ausbau des Erholungswesens und seine erneute Ideologisierung, die im Kern die alten Konzeptionen verlängerte, nicht zu der Annahme verleiten, dass sich der Feriendienst seiner Sorgen entledigt hätte. Noch immer blieb die absolute Steigerung der Kapazitäten zu gering, um die relative Zahl der Ferienplätze pro FDGB-Mitglied zu erhöhen. Denn in den Jahren 1971 bis 1975 hatte der FDGB einen deutlichen Zuwachs von 800.000 Mitgliedern zu verzeichnen, die nunmehr Anspruch auf einen Ferienplatz erheben konnten. Trotz Ausbaus der Kapazitäten des Feriendienstes um 8.745 Ferienplätze kam noch immer nur ein Ferienplatz auf sechs FDGB-Mitglieder – das Verhältnis hatte sich nicht verändert.345 Zugleich flossen die Mittel aus dem Staatshaushalt größtenteils in Neubauvorhaben. Für die dringend benötigten Reparaturen sahen die Wirtschaftspläne oftmals nur einen Bruchteil des gemeldeten Bedarfs vor. So hieß es in einem »Bericht der ›Investitionstätigkeit im Feriendienst der Gewerkschaften des Bezirksvorstandes Magdeburg‹« vom 10. Oktober 1972: »1972 wurde unsererseits ein Bedarf an Reparaturkapazitäten in Höhe von TM 1.180,0 angemeldet, jedoch nur in Höhe von TM 396,0 bestätigt. Für das Planjahr 1973 meldeten wir einen Bedarf von TM 1.953,0 für den Kreis Wernigerode an. Bestätigt werden uns voraussichtlich TM 940,0.«346 Auch aus den Bezirken Rostock, Halle, Potsdam, Frankfurt/Oder, Neubrandenburg und Suhl wurden große Schwierigkeiten bei der Werterhaltung 343 Ebd. 344 Kaiser, Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker, S. 447; Hans-Hermann Hertle, Die Diskussion der ökonomischen Krisen in der Führungsspitze der SED, in: Theo Pirker/M. Rainer Lepsius/Rainer Weinert/Hans-Hermann Hertle (Hg.), Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analysen, Opladen 1995, S. 309– 345, hier S. 309; Bouvier, Die DDR – ein Sozialstaat?, S. 70f. 345 SAPMO-BArch, DY 34/15809, Presseinformation aus Anlaß der Eröffnung neuer Erholungsheime [handschriftlich datiert auf den 15. 12. 75], S. 2. 346 LHASA, MD, Rep. P 15 Wgd, Nr. IV/C-4/18/184, Bericht über die »Einschätzung zur Investitionstätigkeit im Feriendienst der Gewerkschaften des Bezirksvorstandes Magdeburg«, Bearbeiter: Dannhauer, Sektorenleiter Investitionen – Rationalisierung, Wernigerode, den 10. 10. 1972, S. 2, Bl. 12.
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der Heime gemeldet.347 Beispielsweise befand sich ein großer Teil der Ferienheime im Bezirk Magdeburg »seit mehreren Jahren in einem bedenklichen baulichen Zustand«,348 weil bereits in den 1960er-Jahren kaum in die Erhaltung investiert worden war. Diese Defizite gaben den bezirklichen FDGB-Funktionären »Anlaß zu ernster Besorgnis«.349 Oft musste man die Arbeiten zurückstellen, die auf eine Niveauverbesserung der Heime abzielten, um wenigstens die dringendsten Reparaturen durchführen und somit den Substanzverfall in Grenzen halten zu können.350 Durch die Nichtdurchführung der Reparaturen stieg der Nachholbedarf zudem beständig an. Die Funktionäre im Bezirk lösten die »höchste Alarmstufe aus, da wir einfach nicht mehr in der Lage sind, die Substanz unserer über 100 Gebäude zu erhalten«.351 Es sei daher kaum möglich, stellte der FDGB-Bezirksvorstand Magdeburg fest, »die uns gestellten Aufgaben zur Befriedigung der Erholungsbedürfnisse der Arbeiterklasse zu erfüllen«.352 Die Einschnitte waren so dramatisch, dass sogar Befürchtungen laut wurden, beispielsweise könne der Harz als eines der »landschaftlich reizvollsten Erholungsgebiete« verloren gehen.353 Sechs Eigenheime und 24 Vertragsheime mussten allein im Harz wegen baulicher Mängel aufgegeben werden. Ob347 SAPMO-BArch, DY 34/15826, Abteilung Feriendienst, Information über die Ergebnisse der Woche der Bereitschaft in den Einrichtungen des Feriendienstes der Gewerkschaften und Erholungsorten des FDGB zur Vorbereitung der Sommersaison 1978, Berlin, Juli 1978, S. 6. 348 LHASA, MD, Rep. P 15 Wgd, Nr. IV/C-4/18/184, Analyse der 1971–1975 notwendigen Investitionen und Reparaturen, S. 1, Bl. 29, d. i.: »Anlage 3« zu: ebd., Bericht über die »Einschätzung zur Investitionstätigkeit im Feriendienst der Gewerkschaften des Bezirksvorstandes Magdeburg«, Bearbeiter: Dannhauer, Sektorenleiter Investitionen – Rationalisierung, Wernigerode, den 10. 10. 1972. 349 LHASA, MD, Rep. P 15 Wgd, Nr. IV/C-4/18/184, Bericht über die »Einschätzung zur Investitionstätigkeit im Feriendienst der Gewerkschaften des Bezirksvorstandes Magdeburg«, Bearbeiter: Dannhauer, Sektorenleiter Investitionenm – Rationalisierung, Wernigerode, den 10. 10. 1972, S. 1, Bl. 11. 350 Ebd., S. 8, Bl. 18. 351 LHASA, MD, Rep. P 15 Wgd, Nr. IV/C-4/18/184, Carstens, Vorsitzender des FDGBBezirksvorstandes Magdeburg, an Hans Seidl, Rat des Bezirkes – Bezirksbauamt –, 15. 8. 1972, S. 1f., Bl. 36f. 352 LHASA, MD, Rep. P 15 Wgd, Nr. IV/C-4/18/184, Bericht über die »Einschätzung zur Investitionstätigkeit im Feriendienst der Gewerkschaften des Bezirksvorstandes Magdeburg«, Bearbeiter: Dannhauer, Sektorenleiter Investitionen – Rationalisierung, Wernigerode, den 10. 10. 1972, S. 3, Bl. 13. 353 LHASA, MD, Rep. P 15 Wgd, Nr. IV/C-4/18/184, Bericht zur Situation im Baugeschehen im Bereich des Feriendienstes, S. 4, Bl. 55, d.i. »Anlage 10« zu: ebd., Bericht über die »Einschätzung zur Investitionstätigkeit im Feriendienst der Gewerkschaften des Bezirksvorstandes Magdeburg«, Bearbeiter: Dannhauer, Sektorenleiter Investitionen – Rationalisierung, Wernigerode, den 10. 10. 1972.
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schon die Zahl der Ferienplätze durch Neubauten mit großen Kapazitäten erhöht werden konnte, hatte der Feriendienst bis zum Jahr 1975 wegen baulicher Mängel insgesamt 30 Eigenheime seit dem VIII. Parteitag verloren.354 Noch deutlicher als in den Jahren zuvor zeigte sich in der Ära Honecker das Dilemma zwischen Qualität und Quantität. Denn der Feriendienst hatte es mit FDGBMitgliedern zu tun, die das Reisen nun durchaus gewohnt waren. Zugleich stellten die DDR-Bürger nun höhere Ansprüche an den Urlaubsplatz, weil sie auch in ihrem alltäglichen Lebensstil ein höheres Niveau erreicht hatten.355 Schließlich verfolgten die Bürger auch die Berichterstattung über den Feriendienst sehr genau. Da immer wieder behauptet wurde, dass dieser eine »große Errungenschaft der Arbeiterklasse« sei, leiteten sie daraus recht eigen-sinnig die Forderung nach guten und im ausreichenden Maße verfügbaren Ferienplätzen ab.356 Die Funktionäre stellten fest: Es zeichnet sich ab, daß die Forderung und der Wunsch der Mitglieder nicht mehr nur nach »einem Ferienplatz«, sondern vielmehr um »seinen Ferienplatz« geht. Das wird im Anliegen vieler Mitglieder deutlich, den Erholungsort, die Qualität und die Reisezeit mehr als in der Vergangenheit zum Maßstab der Interessenvertretung durch seine Klassenorganisation auf dem Gebiet des Feriendienstes zu machen.357
In einer typischen Eingabe heißt es beispielsweise: Für die Statistik werden [von] Ihnen Zahlen angegeben, wieviele Urlauber aus der DDR sich wieder erholt haben. Aber wieviel Prozent der Urlauber haben sich denn wirklich erholt? Ich glaube kaum, daß Sie von allen FDGB-Urlaubsorten wirklich wissen, wie es dort zugeht und wie die Urlauber dort behandelt werden.358 354 Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 20 (1976), hg. v. der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik, Berlin 1976, S. 369. 355 Vgl. Wolfgang Ruppert, Zur Konsumwelt der 60er Jahre, in: Schildt/Siegfried/Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten, S. 752–767; Ina Merkel, Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR (Alltag & Kultur, Bd. 6), Köln/Weimar/Wien 1999, S. 312; Annette Kaminsky, Wohlstand, Schönheit, Glück. Kleine Konsumgeschichte der DDR, München 2001; dies., Konsumpolitik in der DDR. Von den Versorgungsutopien der fünfziger Jahre zu den Versorgungskrisen der achtziger Jahre, in: Lothar Mertens (Hg.), Machtokkupation und Systemimplosion. Anfang und Ende der DDR – zehn Jahre danach. Dieter Voigt zum 65. Geburtstag (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Bd. 80), Berlin 2001, S. 67–98. 356 Vgl. SAPMO-BArch, DY 34/15852, Abt. Feriendienst, Sektor Urlauberbetreuung, Leitungsinformation, Eingabenanalyse 1977, Berlin, d. 10. 3. 1978, gez. H. Kirschner, Sektorenleiter, S. 4. 357 SAPMO-BArch, DY 34/15852, Abt. Feriendienst, Sektor Urlauberbetreuung, Leitungsinformation, Eingabenanalyse 1977, Berlin, d. 10. 3. 1978, gez. H. Kirschner, Sektorenleiter, S. 4. 358 SAPMO-BArch, DY 34/10612, Hannelore Overhof, Magdeburg an den FDGB-Bundesvorstand. Betr.: FDGB-Ferienplatz in Altenberg/Erzgeb., Magdeburg, den 5. 8. 1974, S. 4.
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In anderen Eingaben wurden nicht funktionstüchtige sanitäre Anlagen, nicht oder nur ungenügend beheizbare Zimmer, Lärmbelästigungen durch Baustellen und unmittelbar in der Nähe der Unterkünfte befindliche Gaststätten sowie schließlich die schlechte Ausstattung und die ungemütliche Atmosphäre verwohnter Zimmer thematisiert.359 Immer wieder mussten auch Versorgungsengpässe bei Frischfleisch und Konserven, Obst und Gemüse gemeldet werden.360 Der FDGB-Feriendienst zeigte sich auch in den 1970er-Jahren oftmals unfähig, diesen Mängeln abzuhelfen. Trotz der gesamtgesellschaftlichen Relevanz, die stets formuliert wurde, blieben die Funktionäre weitestgehend auf sich allein gestellt. So klagte ein Heimleiterehepaar, »sie hätten laufende Beschwerden[,] die sie weiterreichen[,] und es kommen und gehen Gutachterkommissionen[,] die große Versprechungen machen, ohne daß sich bisher etwas geändert hat«.361 Nach wie vor wurden Urlaube wegen unerträglicher Zustände abgebrochen und Schadensersatzforderungen an den FDGB gestellt.362 Trotz dieser dramatischen Entwicklung nahmen die Mitglieder des FDGBBundesvorstandes die Zustände am Urlaubsort kaum mehr zur Kenntnis. Die tatsächlichen Gründe ignorierend, schrieben sie die Schuld an der Missstimmung in der Bevölkerung allein den Veröffentlichungen über den Feriendienst in den Medien zu. Jeder Bericht wecke »Wünsche nach Urlaubsplätzen des Feriendienstes der Gewerkschaften – besonders in der Haupturlaubszeit – […], die nicht befriedigt werden können«.363 Fortan sollte darauf geachtet werden, die Probleme nicht mehr öffentlich zu thematisieren. In einer Aktennotiz heißt es: Aufgrund der gegenwärtigen Situation bezüglich der Reisewünsche in der DDR und der Möglichkeiten des Feriendienstes der Gewerkschaften sowie der in letzter Zeit erzielten Reaktionen auf entsprechende Presseberichte ist die Behandlung von Problemen des Feriendienstes der Gewerkschaften in der Presse seitens des Bundesvorstandes des FDGB nicht beabsichtigt und nicht erwünscht.364 359 SAPMO-BArch, DY 34/15851, Sektor Urlauberbetreuung, Eingabenanalyse 1. Halbjahr 1977 zu Fragen des Feriendienstes der Gewerkschaften, Berlin, den 22. 8. 1977, S. 3. 360 SAPMO-BArch, DY 34/15864, Zur persönlichen Information, Einschätzung der Sommerreisezeit 1978 im Bezirk Rostock. S. 5. 361 SAPMO-BArch, DY 34/10612, Erhard Thieme, Potsdam, an den Bundesvorstand des FDGB, Feriendienst. Eingabe und Schadensersatzforderung, Potsdam, 7. 2. 1975, S. 2. 362 SAPMO-BArch, DY34/15851, Sektor Urlauberbetreuung, Eingaben-Analyse 1976 zu Fragen des Feriendienstes der Gewerkschaften, Berlin, den 28. 02. 77, gez. Kirschner, Sektorenleiter, S. 6. 363 SAPMO-BArch, DY 34/15898, Abt. Agit./Prop. z. Hd. Kollege Lehmann, Abt. Feriendienst, Zwischenbilanz über die Zusammenarbeit mit Rundfunk und Fernsehen, 9. 4. 1974. 364 SAPMO-BArch, DY 34/15898, Abteilung Feriendienst, Sektor Erfassung/Verteilung, Aktenvermerk über Gespräch der Kollegen Folmert und Rothhaar mit [einer] Vertreterin der Redaktion »Wochenpost« am 17. 5. 1974, Berlin, den 22. Mai 1974, S. 2.
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Veröffentlichungen sollten fortan nur mit Zustimmung des zuständigen Sekretärs für Sozialpolitik, Fritz Rösel, und der Pressestelle des Bundesvorstandes erfolgen.365 Tatsächlich wurde in der folgenden Zeit weitgehend auf eine Berichterstattung verzichtet, um nicht den Unmut der Bevölkerung heraufzubeschwören. Dadurch wurde es zugleich sehr schwierig, den Legitimitätsanspruch, den das politische System der DDR aus dem Urlaub zog, weiterhin in breiter Öffentlichkeit darzustellen. Der Feriendienst geriet mehr denn je in eine regelrechte Legitimationsfalle und drohte zwischen seinen vollmundigen Versprechen und den wirklichen Zuständen am Urlaubsort aufgerieben zu werden. Gebetsmühlenartig musste daher der Ausbau und die weitere Verbesserung des Erholungswesens angemahnt werden, auch als auf dem IX. SED-Parteitag im Mai 1976 Sparmaßnahmen in der Sozialpolitik beschlossen wurden. Mit der erst jetzt geprägten Losung der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik«, die zum Signum der Ära Honecker wurde, sollte herausgestrichen werden, dass die Ausweitung der Sozialpolitik in der DDR nur im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung erfolgen könne.366 Der Parteitag betonte das »eherne Gesetz […], daß nur verbraucht werden kann, was vorher erarbeitet wurde«. Deutliche Einschnitte bei der Sozialpolitik wurden verkündet.367 Die Bevölkerung aber reagierte enttäuscht auf den IX. Parteitag. Eilig schob die SED-Spitze deshalb bereits wenige Tage später ein sozialpolitisches Programm nach.368 In den folgenden Jahren wurde das »eherne Gesetz«, nur verbrauchen zu können, was erarbeitet worden ist, kaum mehr beachtet. Man fürchtete den Machtverlust und setzte die Sozialpolitik fort, ohne danach zu fragen, woher die finanziellen Mittel für diese Politik kommen sollten.369 In besonderer Weise zeigte sich diese geradezu verschwenderische Sozialpolitik beim Urlaub in der DDR – ungeachtet der Kosten mussten Partei, Staat und Gewerkschaft an dem staatlich organisierten Urlaub festhalten. Den Urlaub aufzugeben hätte die Aufgabe eines doch beachtlichen Elements des Sozialismus bedeutet, den man in der DDR zu verwirklichen meinte. Insgesamt stiegen die Ausgaben von Staat und Gewerkschaft für die Ferien der DDR-Bürger deutlich an. Während der FDGB 1970 116,3 Millionen Mark in den Feriendienst investierte, waren es 1988 bereits 180,4 Millionen Mark. Im gleichen 365 Ebd. 366 Bouvier, Die DDR – ein Sozialstaat?, S. 78. 367 So Honecker im Bericht des ZK der SED an den IX. Parteitag: Protokoll der Verhandlungen des IX. Parteitages der Sozialistischen Deutschen Einheitspartei Deutschlands im Palast der Republik in Berlin 18. bis 22. Mai 1976, Bd. 1, Berlin 1976, S. 64. 368 Bouvier, Die DDR – ein Sozialstaat?, S. 73. 369 Günter Mittag, Um jeden Preis. Im Spannungsfeld zweier Systeme, Berlin/Weimar 1991, S. 60; vgl. Steiner, Von Plan zu Plan, S. 174.
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Zeitraum stiegen die Staatsausgaben für das Erholungswesen von 208,9 Millionen Mark auf 552,1 Millionen Mark. Leichte Rückgänge bei den jährlichen Aufwendungen gab es nur 1977, 1980 und 1985. Von den durchschnittlichen Kosten von 222,- Mark für einen 13-tägigen Urlaub wurden 1975 34,- Mark aus dem Staatshaushalt und 93,- Mark aus den Kassen der Gewerkschaften bezahlt. Das Gewerkschaftsmitglied trug zu seiner Reise nur 43 Prozent der tatsächlichen Kosten selbst bei.370 So sehr die Berichte der 1980er-Jahre über den Feriendienst darum bemüht waren, die positiven Entwicklungen herauszustreichen, so zeigen sie doch zugleich die Wirkungslosigkeit der Investitionen und verdeutlichen, dass der Feriendienst ein marodes Bild abgab. Knapp vierzig Jahre nach seiner Gründung war in der Summe die Situation des Feriendienstes desolat. Schlimmer noch: Es bestand kaum mehr Aussicht, dass sich die Lage vor Ort in den Ferienheimen in absehbarer Zeit verbessern könnte.371 Die Sozialpolitik der Ära Honecker brachte zwar eine Ausweitung der Kapazitäten, doch konnte sie die oben dargestellten Probleme nicht lösen. Trotz der hohen Aufwendungen reichten die zur Verfügung stehenden Mittel nicht aus, um die hochgesteckten Erwartungen zu erfüllen. Strukturelle Veränderungen aber wurden nicht vorgenommen. Die Organisation blieb unangetastet. Zwar waren nie zuvor mehr Reisen organisiert worden, doch hinsichtlich der Arbeitsweise des Feriendienstes war lähmender Stillstand zu verzeichnen. Auch bei der Gestaltung des Urlaubs war längst Ernüchterung eingetreten. Zwar wurde 1975 mit Blick auf das Jahr 1980 formuliert: »Die Urlauber werden nicht ›Gäste‹ der FDGB-Ferieneinrichtungen sein, sondern sozialistische Persönlichkeiten mit dem Recht auf Freude und Entspannung, das sich in einer kulturvollen Gestaltung der Erholungsaufenthalte widerspiegeln muß.«372 Doch diese Formulierungen wurden immer mehr zu inhaltsleeren Floskeln. An vielen Stellen setzte sich längst die Überzeugung durch, »daß die geistig-kulturelle Aktivität der Urlauber nicht erzwungen werden kann, da sie von der Freiwilligkeit, dem Grad der unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse u.a. motiviert wird«.373 Bereits 1972 war gefordert worden: 370 SAPMO-BArch, DY 34/15809, Presseinformation aus Anlaß der Eröffnung neuer Erholungsheime [handschriftlich datiert auf den 15.12.75], S. 3. 371 SAPMO-BArch, DY 34/27604, Abteilung Feriendienst, Sektor Urlauberbetreuung. Vorlage für das Leitungskollektiv. Betr.: Information und Auswertungshinweise zum Verlauf der Woche der Bereitschaft 1986, Berlin, den 02. 05. 1985, S. 2. 372 Ebd., S. 14. 373 SAPMO-BArch, DY 34/15819, H. Kirschner, Sektor Urlauberbetreuung, Leitungsvorlage. Betr.: Hinweise zur kulturellen Betreuung der Urlauber in den FDGB-Erholungseinrichtungen zu Ehren des 30. Jahrestages der DDR, Bln., d. 6. 3. 1978, S. 2.
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Alle Mitarbeiter sollen es als ein wichtiges Anliegen der Urlauberbetreuung betrachten, den Erholungssuchenden einen nach eigenem Ermessen gestalteten, aber sinnvoll verlebten Aufenthalt zu gewährleisten. Unsere Bemühungen sind deshalb überall darauf zu richten, die Interessen der Urlauber zu befriedigen. Den Urlaubsaufenthalt für die Werktätigen zu einem schönen Erlebnis werden zu lassen, verlangt zugleich, jedes Reglementieren oder Absolvieren von Pflichtveranstaltungen zu vermeiden.374
Bis in die 1980er-Jahre hinein suchten die Funktionäre nach einem Ausweg aus dem Dilemma zwischen dem ideologischen Anspruch der Partei- und Gewerkschaftsführung auf der einen und den individualistischen Ansprüchen der Urlauber auf der anderen Seite. Zuflucht nahm man in Formulierungen, in denen die Ideologie noch durchschimmerte und der Anspruch auf eine neue Gesellschaft durchaus aufrecht erhalten, zugleich aber der Realität Tribut gezollt wurde: »Für den Erholungsaufenthalt wird es charakteristisch sein, daß der Urlauber individuell (aber nicht als Individualist) betreut werden möchte.«375 Mit der Abgrenzung gegenüber Individualisten wollte man erneut an die sozialistische Gemeinschaft anschließen, die in den Urlaubsorten entstehen sollte; mit der Betonung der Individualität entsprach man jedoch einmal mehr der Ausdifferenzierung im Tourismus, wie sie sich in den vergangenen Jahren herausgebildet hatte. Auf dem 10. FDGB-Kongress im April 1982 beendete Harry Tisch die Auseinandersetzung zwischen dem ideologischen Anspruch, den Urlaub zu durchdringen, und dem von individuellen Wünschen geprägten Verhalten der Bürger. Tisch erklärte: Eine Bemerkung zur Urlaubsgestaltung. Dafür gibt es ein weitgefächertes Angebot in den Ferienheimen. Doch sollten wir bei all den Aktivitäten nicht außer acht lassen, daß der Urlauber sich ganz so erholen soll, wie er es selbst gerne möchte: Wenn er laufen will, mag er laufen; aber möchte er schlafen, dann soll man ihn nicht stören.376
Mit dieser prominenten Äußerung setzte sich die Überzeugung endgültig durch, dass die Urlauber ihren Urlaub weitestgehend frei und individuell gestalten sollten. Die Funktionäre des FDGB resignierten gegenüber ihren Urlaubern. Sie stellten fortan kaum mehr als die Infrastruktur für die Urlaubsreisen ihrer Bürger bereit. Hilflos wurde 1986 beklagt, dass die Einrichtungen des Feriendienstes »mehr und
374 SAPMO-BArch, DY 34/15873, Rede des Kollegen Wolfgang Beyreuther, Stellvertreter des Vorsitzenden des Bundesvorstandes des FDGB auf der Veranstaltung anläßlich des 25jährigen Bestehens des Feriendienstes der Gewerkschaften am 16. 3. 1972 in Kühlungsborn, S. 6. 375 SAPMO-BArch, DY34/15826, Sektor Urlaubsbetreuung. 2. Entwurf, Tendenzen für die Entwicklung in der Urlauberbetreuung in den Erholungseinrichtungen und Erholungsorten der Gewerkschaften bis zum Jahre 1980 [ Juli 1975], S. 5. 376 Harry Tisch im Bericht des Bundesvorstandes des FDGB an den 10. FDGB-Kongress: Protokoll des 10. FDGB-Kongresses, S. 35.
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mehr zu einem kommerziellen Unternehmen mit Hotelcharakter« werden.377 Die Utopie des Sozialismus am Urlaubsort, die das Hotel durch das Ferienheim und die Beziehung zwischen Gast und Bediensteten durch die »sozialistische Gemeinschaft« ersetzen wollte, hatte sich verloren. FDGB-Feriendienst, Partei und Staat kamen dem Wunsch der Urlauber sehr weit entgegen, diese Wochen frei nach ihrem Gusto zu verleben, was nicht etwa mit dem Wunsch verwechselt werden darf, der Staat solle sich gänzlich aus dem Urlaub zurückziehen – im Gegenteil: Die Urlauber erwarteten, dass Staat und Gewerkschaft den Rahmen schufen, in dem sie ihre individuellen Vorstellungen verwirklichen konnten.378 Denn die Urlauber hatten weiterhin den Anspruch, dass der Staat ihnen preiswerte Urlaubsreisen garantiere und für die Möglichkeit zur Unterhaltung und Beschäftigung im Urlaub sorge. Doch die Bürger wollten dabei Wahlmöglichkeiten und keine Bevormundung, schon gar keinen Zwang. Das bedeutete, dass der Staat lediglich als Garant für einen qualitativ hochwertigen und in ausreichender Menge verfügbaren und paradoxerweise staatsfernen Urlaub in Anspruch genommen wurde. Der DDR-Führung trat damit ein völlig neues, beinahe liberales Staatsverständnis der Bürger entgegen, das nur noch wenig zu tun hatte mit den Idealvorstellungen des sozialistischen Staates. Prestigeobjekte der Ära Honecker: Urlauberschiffe und Interhotels Selbst bei den Vorzeigeprojekten, mit denen in den 1970er-Jahren versucht wurde, wenigstens in Teilbereichen den nunmehr »entwickelten Sozialismus« in Szene zu setzen, konnte eine Entwicklung nicht verhindert werden, in der einmal mehr der oben beschriebene Utopieverlust deutlich wurde. Bereits 1964 hatte der FDGB die Schiffe an die Deutsche Seereederei übergeben. Sie wurden fortan an das Ausland verchartert und nur noch zum Teil für DDR-Urlauber genutzt.379 Zudem wurde 1970 das Urlauberschiff »GTMS Fritz Heckert«, dessen Bau zehn Jahre zuvor einer großen Aufbruchseuphorie Ausdruck verliehen hatte, außer Dienst gestellt – anders als in der öffentlichen Darstellung bedingten weniger technische Probleme als die Unwirtschaftlichkeit des Schiffes diesen Schritt.380 Die »MS Völkerfreundschaft« aber sollte als einzig verbleibendes Urlauberschiff der DDR mehr denn je zum Symbol des Sozialismus werden. Gesteigerter 377 SAPMO-BArch, DY 34/27604, Sektor Urlauberbetreuung, Standpunkt zur Entwicklungskonzeption »Freie Zeit- und Ortswahl zur Einnahme der Hauptmahlzeiten« des Objektes Zeulenroda, Febr. 1986, S. 2. 378 SAPMO-BArch, DY 34/15851, Sektor Urlauberbetreuung, Eingabenanalyse 1. Halbjahr 1977 zu Fragen des Feriendienstes der Gewerkschaften, Berlin, den 22. 8. 1977, S. 5. 379 Stirn, Traumschiffe des Sozialismus, S. 442ff. 380 Peters, Vom Urlauberschiff zum Luxusliner, S. 193ff.
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Wert wurde nun darauf gelegt, dass bei diesen Reisen eine strikte Auswahl der Teilnehmer erfolgte, um den besonderen Wert herauszustreichen. Anlässlich politischer Festtage wurden verdiente Funktionäre und Arbeiter ausgezeichnet, indem sie eine Reise mit der »MS Völkerfreundschaft« erhielten.381 Viel Pathos war noch einmal 1985 zu vernehmen, als man sich – trotz der äußerst angespannten wirtschaftlichen Lage der DDR – zum Kauf der »MS Arkona« entschlossen hatte, die auch dem ostdeutschen Fernsehpublikum zuvor als »ZDF-Traumschiff« bekannt geworden war. Der Kauf sollte die Siegesgewissheit des Sozialismus ausdrücken – und doch konnte trotz der Umbenennung nicht verhindert werden, dass das Schiff in erster Linie als westliches Traumschiff betrachtet wurde.382 Interhotels Eine ähnliche Entwicklung zeigte sich bei den Interhotels.383 Die 1965 gegründete »Vereinigung Interhotel« fasste Luxushotels zusammen, die mit ihrer gehobenen Ausstattung, ihrer Spitzengastronomie und nicht zuletzt ihrer auffälligen Architektur als städtebauliche Dominanten zum Besten gehörten, was die DDR auf dem Gebiet der Hotellerie zu bieten hatte. In den 1960er-Jahren sollten die Interhotels die DDR gegenüber ausländischen Gästen als fortschrittliches Land präsentieren. Am 28. September 1971 beschloss das Politbüro des ZK der SED: In den Interhotels »Panorama« Oberhof, »Bastei« Dresden und dem bezirklich geleiteten HO-Hotel »Neptun« Warnemünde sind ab 1. Januar 1972 80 % der Jahreskapazitäten durch vertragliche Regelungen für den FDGB-Feriendienst bereitzustellen. Die Einweisung in diese Hotels hat an Arbeiter durch den Feriendienst des FDGB zu erfolgen.384
Mit einem weiteren ZK-Beschluss vom 14. März 1972 kamen schließlich 50 Prozent der Kapazitäten im Interhotel »Potsdam« und jeweils 60 Prozent der Betten des bezirksgeleiteten HO-Hotels »Stadt Schwerin« und des Mitropa-Hotels
381 SAPMO-BArch, DY 34/15860, E. Sonntag, Abteilung Feriendienst, Information über den gewerkschaftlichen Auslandstourismus 1979, Berlin, den 18. 2. 1980, S. 1f. 382 Peters, Vom Urlauberschiff zum Luxusliner, S. 272ff. 383 Christopher Görlich, Vom Ferienheim zum Interhotel. Formen sozialistischen Urlaubs in der DDR, in: Wiebke Kolbe/Christian Noack/Hasso Spode (Hrsg.), Tourismusgeschichte(n). Voyage. Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung Bd. 8 (2009), München/Wien 2009, S. 129–136. 384 SAPMO-BArch, DY 30/4765, Beschluß des Politbüros 7./198 15/71 vom 28. 9. 1971. Betrifft: Nutzung von Interhotels zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse, P. 170 und SAPMO-BArch, DY 30/4765, Anlage Nr. 4 zum Protokoll Nr. 15/71 vom 28. 9. 1971, P. 171.
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»Rügen-Hotel« in Sassnitz hinzu.385 Sowohl in ideologischer Hinsicht als auch bezüglich der praktischen Folgen waren diese frühen Entscheidungen im Kontext der neuen Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Ära Honecker gleichsam bedeutend. Allein die Tatsache, dass dieser Beschluss vom Politbüro des ZK der SED gefasst wurde, weist darauf hin, dass man nicht nur auf die schnelle Erweiterung der Feriendienstkapazitäten um 50.000 bis 70.000 Urlaubsreisen abzielte, sondern Größeres realisieren wollte. Denn die Hotels für die »Arbeiterklasse« zu öffnen, bedeutete nicht weniger als die Neuauflage der bereits in den 1950er-Jahren verfolgten Strategie, »Heterotopien« zu schaffen, also Orte, an denen der Sozialismus bzw. die »entwickelte sozialistische Gesellschaft« schon erlebt werden konnte, während sie im Alltag noch auf sich warten ließ. Analog zur Entwicklung in den 1950er-Jahren wurde auch jetzt wiederholt gefordert, »den gegenwärtigen Anteil der Arbeiterklasse, ihrer überragenden Verantwortung in unserer Gesellschaft entsprechend, als Nutzer der Interhotels zu erhöhen«.386 Daher sei schon bei der Verteilung der Reisen sicherzustellen, »daß sie an unmittelbar in der Produktion tätige Arbeiter bzw. Arbeiterinnen und ihre Familienangehörigen vergeben werden, wobei möglichst beide Ehepartner Arbeiter sein sollen«.387 Wieder sollten vorrangig jene Werktätigen besonders berücksichtigt werden, die zur Erfüllung des Planes hohe Leistungen im »sozialistischen Wettbewerb« und hervorragende Ergebnisse bei der »sozialistischen Rationalisierung« und im »Neuererwesen« vollbracht hatten.388 Ausdrücklich wurde betont, dass die Belegung der Hotels mit Urlaubern des Feriendienstes unter »Beibehaltung des hohen Komforts in der Beherbergung, Gastronomie sowie im Service« zu erfolgen habe.389 In der Presseinformation 385 SAPMO-BArch, DY 34/9752, FDGB-Bundesvorstand, Abteilung Feriendienst, Sekretariatsinformation. Betr.: Durchführung des Beschlusses des Politbüros des ZK der SED von 14. 3. 1972 über die Nutzung weiterer Hotels zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse, Berlin, den 2. 6. 1972. 386 SAPMO-BArch, DY 34/24944, Entwurf. Nutzung von Interhotels zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen. [Vgl. ebd., Beschluß des Sekretariats des FDGB-Bundesvorstandes vom 22. 9. 1971, Nr. S 574/71], S. 1. 387 SAPMO-BArch, DY 34715844, [Bezirksvorstand Schwerin], Abteilung Feriendienst, Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeit der Gewerkschaftsleitungen mit den FDGBHotelreisen. [Vom Sekretariat des Bezirksvorstandes auf der Sitzung vom 17. 1. 72 bestätigt, Beschluß Nr. S 4/72], S. 1. 388 SAPMO-BArch, DY 34/24944, II. Maßnahmen zur Verteilung der FDGB-Erholungsaufenthalte in den Interhotels für 1972. [Zu: ebd., FDGB-Bundesvorstand, Beschluß des Sekretariats vom 29. 10. 1971, Nr. S 681/71. Nutzung von Interhotels für die Erholung der Arbeiterklasse], S. 1. 389 SAPMO-BArch, DY 34/24944, IV. Argumentation zur Bereitstellung und Verteilung der FDGB-Erholungsaufenthalte in den Interhotels »Panorama« und »Bastei« und dem
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»5 Jahre Hotelurlaub für Arbeiter« aus dem Jahr 1976 wird das Wort »Luxus« zwar nicht benutzt, aber die Schilderung der luxuriösen Annehmlichkeiten passt nicht so recht zu den egalitären Vorstellungen des Sozialismus: Die Urlauber werden in den Interhotels und Hotels vorbildlich betreut. Die wohnlichen Gästezimmer und die ausgezeichnete Qualität der gastronomischen Leistungen finden die ungeteilte Anerkennung und das Lob der Urlauber. Das in diesen Hotels bekannte hohe Niveau der Betreuung wird während jeder Urlauberbelegung gewährleistet. Außerdem wird durch eine vielseitige, interessante Urlaubsgestaltung eine Atmosphäre der sozialistischen Geselligkeit und des Wohlbefindens für unsere Werktätigen geschaffen. Die Aufenthaltsprogramme sind entsprechend den örtlichen Besonderheiten und den verschiedenen Jahreszeiten in jedem Hotel gut gestaltet. [...] Der Hotelservice bietet umfangreiche Leistungen, Busausflüge, Dampferfahrten, Museums- und Theaterbesuche, die besonders beliebt sind. Fast alle Hotels verfügen über eigene Schwimmbecken.390
Zugleich zeigte sich jedoch, dass die Konzentration auf den Arbeiter nicht mehr zeitgemäß war. Deutlicher als je zuvor wurde Unmut über die Bevorzugung der Arbeiter von jenen DDR-Bürgern geäußert, die nicht zu den Produktionsarbeitern zählten und daher nicht für Reisen in die Interhotels vorgesehen waren. So verfasste eine Gewerkschaftsgruppe des Reparaturwerkes Neubrandenburg eine Eingabe, in der es hieß, man sei mit der Konzentration auf den Produktionsarbeiter nicht einverstanden, »da wir der Meinung sind, daß innerhalb der Gewerkschaftsorganisation alle Mitglieder nicht nur die gleichen Pflichten, sondern auch die gleichen Rechte haben sollten«.391 Anderen Berichten zufolge hätten auch die Angestellten und die Angehörigen der sogenannten Intelligenz angeführt, »daß sie sich auch in dieser Hinsicht benachteiligt fühlen, ihre Arbeit ebenfalls wichtig und notwendig sei und sie den Aufrufen zu Qualifizierung von Arbeitern und Angestellten auch im Sinne unserer sozialistischen Gesellschaftsordnung gefolgt wären«.392 Wer sich qualifiziert habe, werde bestraft.393 Zudem wurde darauf verwiesen, dass Angestellte, Angehörige der Intelligenz und Produktionsarbeiter »im Betrieb im Rahmen Hotel »Neptun«. [Zu: ebd., FDGB-Bundesvorstand, Beschluß des Sekretariats vom 29. 10. 1971, Nr. S 681/71. Nutzung von Interhotels für die Erholung der Arbeiterklasse], S. 1. 390 SAPMO-BArch, DY 34/15809, FDGB-Bundesvorstand, Abteilung Feriendienst, Presseinformation. 5 Jahre Hotelurlaub für Arbeiter, Berlin, den 30. 11. 1976, S. 2. 391 SAPMO-BArch, DY 34/15844, Abschrift, Hinke, Vertrauensmann der Gewerkschaftsgruppe 411.20 an die BGL des Reparaturwerk Neubrandenburg, Betr.: Vergabe der FDGBFerienplätze und Interhotels, Brandenburg, den 4. 1. 72. 392 SAPMO-BArch, DY 34/15844, Abschrift, Hinke, Vertrauensmann der Gewerkschaftsgruppe 411.20 an die BGL des Reparaturwerk Neubrandenburg, Betr.: Vergabe der FDGBFerienplätze und Interhotels, Brandenburg, den 4. 1. 72. 393 SAPMO-BArch, DY 34/15844, FDGB-Bezirksvorstand [Frankfurt/Oder], Abteilung Sozialpolitik, Vorlage für das Sekretariat des FDBG-Bezirksvorstandes, Betr.: Informa-
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der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit eng zusammenarbeiten«.394 Es waren leicht durchschaubare Rechtfertigungsversuche, wenn dieser Kritik entgegengehalten wurde, »daß die Verteilung der Erholungsaufenthalte an Produktionsarbeiter den Forderungen des VIII. Parteitags und der ständig wachsenden Rolle der Arbeiterklasse entspricht«.395 Zwar entsprang diese Argumentation den ideologischen Grundlagen der Ära Honecker, doch es konnte kaum mehr verborgen bleiben, dass in der DDR zwischen Ideologie und Wirklichkeit längst ein Riss klaffte. Das Klassendenken der DDR-Führung stand nicht mehr im Einklang mit der Gesellschaft, die sich in der DDR jenseits der Grenze »Arbeiter« – »Nicht-Arbeiter« etabliert hatte. Im Gegensatz zur ideologisch durchdrungenen Auswahl der Urlauber orientierte sich die Gestaltung des Urlaubs selbst nicht mehr an früheren, harmonistischen Gemeinschafts- und Gesellschaftsvorstellungen des sozialistischen Urlaubs. Während in den 1950er-Jahren betont wurde, dass der Feriendienst keinen Hotelurlaub organisiere, sondern neue, sozialistische Formen des Urlaubs schaffe, wurde nun umgekehrt gefordert, »daß das Hotel – Hotel bleibt – und nicht den Charakter eines Ferienheims annimmt«.396 Der luxuriöse Charakter der Hotels hingegen fand ausdrücklich das Lob und die Anerkennung der Urlauber. Karl-Heinz N. beispielsweise bekundete: »Um es vorweg zu nehmen, dieser Urlaub war ein unvergessenes Erlebnis mit einer Einschränkung. Er war so schön, daß er zu kurz war. Die Organisation und der Service waren hervorragend. Die Verpflegung war reichlich und gut, so, daß wir zu Hause erstmals wieder Hunger verspürten.«397 Fritz M. sagte: »Es war mein schönster Urlaub, den ich je verlebt habe. Alle, die das glauben, da können keine Arbeiter hinfahren, die werden eines besseren belehrt. Hier hat die Partei gezeigt,
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tion über den Stand der Nutzung der Erholungsreisen in Interhotels, Frankfurt/Oder, den 21. 02. 1972, S. 5. SAPMO-BArch, DY 34/15843, FDGB-Bezirksvorstand Erfurt, Abteilung Feriendienst, Information über die Durchführung und Auslastung der Erholungsreisen in die Interhotels, Erfurt, den 24. 2. 72, S. 3. SAPMO-BArch, DY 34/15844, Steller, amt. Abteilungsleiter, Einschätzung des Standes der Durchführung der Erholungsreisen in die Interhotels, vorgelegt und zur Kenntnis genommen auf der Sekretariatssitzung des Bezirksvorstandes Halle am 24. 2. 1972, S. 3. SAPMO-BArch, DY 34/15849, Lätzsch, Objektleiter, Feriendienst der Gewerkschaften – Objekt Warnemünde –, Informationsbericht zur Urlauberbetreuung im Hotel »Neptun«, Warnemünde, 3. 01. 1972, S. 1. Zit. nach: SAPMO-BArch, DY 34/15844, FDGB Bezirksvorstand [Potsdam], Abteilung Feriendienst, Sekretariats-Information. Betr: Einschätzung der Stimmungen und Meinungen von Arbeitern, die bereits einen Urlaub im Interhotel verlebt haben, Potsdam, den 11. 2. 1972, S. 1.
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daß solche schönen Hotels auch den Arbeitern zugängig sind, das ehrt uns.«398 Und schließlich wurde noch Kollege B. zitiert: »Mit hat es sehr gut gefallen. Man konnte hier die Sorge um den Menschen in der allerbesten Form erleben.«399 Obwohl die zitierten Sätze durchaus mit den Versatzstücken der sozialistischen Ideologie operieren, wird doch deutlich, dass die Entwicklung der 1960er-Jahre und ihre Tendenz zur Individualisierung bei der Gestaltung gewerkschaftlicher Erholungsaufenthalte sowie die gestiegenen Ansprüche der Urlauber in den Interhotelreisen ihren krönenden Abschluss fanden. Der durch und durch individualistisch angelegte Hotelurlaub der Luxusklasse wurde gänzlich als Konsumgut verstanden und hatte kaum noch etwas mit den wiederbelebten Konzepten eines sozialistischen Urlaubs zu tun. Die Urlauber sahen in den Interhotels nicht den Ausdruck des »entwickelten Sozialismus«, sondern urteilten in überwunden geglaubten, beinahe feudalistisch anmutenden Denkfiguren: »Alles sehr komfortabel, wir leben hier wie die ›Fürsten‹, wie man so sagt.«400 4. Tourismus jenseits des Feriendienstes Im Laufe der vierzigjährigen Geschichte der DDR ist eine Ausdifferenzierung des Tourismus zu beobachten. Neben dem betrieblichen Engagement gehörten die Urlaubsreisen mit dem »Reisebüro der DDR« ebenso dazu wie der Campingtourismus und die Individualreisen von Bürgern, die gänzlich auf staatliche Vermittlung verzichteten. Obwohl der Feriendienst des FDGB sich als »Haupterholungsträger« begriff und anstrebte, eine Monopolstellung auf dem Gebiet des Tourismus einzunehmen, entwickelten sich in der DDR von Beginn an auch andere Formen des Reisens, weil der Feriendienst nicht in der Lage war, alle Wünsche und Bedürfnisse zu erfüllen. Angesichts dieser Ausdifferenzierung verlor der Feriendienst seine zentrale Stellung. Diese Entwicklung wurde in den 1970er-Jahren auch sprachlich erfasst, indem nun zunehmend vom »Erholungswesen« die Rede war, womit man nicht nur den Feriendienst, sondern alle Formen des Reisens und der Erholung sprachlich auf den Begriff zu bringen suchte. Diese Veränderung im Sprachgebrauch konnte aber nur unzulänglich verdecken, dass sich der Tourismus in der DDR nicht nur einer sprachlichen Beschreibung, sondern auch der politischen Planung immer mehr entzog. 398 Zit. nach: ebd. 399 Zit. nach: ebd., S. 2. 400 Zit. nach: SAPMO-BArch, DY 34/24945, Einschätzung des Standes der Durchführung der Erholungsreisen in die Interhotels [zum Beschluß des Sekretariats des FDGB am 26. 2. 72, S. 70/72], S. 1.
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Vor diesem Hintergrund werden die verschiedenen Formen des Tourismus in der DDR im Folgenden nur insofern diskutiert, als dass sie eine Antwort auf die historische Situation gaben, in der der Staat die Wünsche seiner Bürger nicht mehr erfüllen konnte. Eine detaillierte Untersuchung bleibt weiterer Forschungsarbeit vorbehalten. Betriebserholungsheime Die wichtigste Form des Tourismus war neben dem Feriendienst der Urlaub in betrieblichen Ferienheimen, die von Betrieben eigens für ihre Mitarbeiter geschaffen und unterhalten wurden. Bereits Mitte der 1960er-Jahre stellte Herbert Warnke, Vorsitzender des FDGB, in einem Schreiben an Walter Ulbricht fest, »daß sich in der DDR zwei Erholungsträger mit gleichen Aufgaben, nämlich der FDGB-Feriendienst und die Erholungsheime der Betriebe, nebeneinander entwickeln«.401 Längst war absehbar, dass die betrieblichen Erholungseinrichtungen zur »zweiten Säule« des Erholungswesens in der DDR geworden waren.402 Tatsächlich verfügten fast alle Großbetriebe über betriebseigene Ferienheime – »betriebliche Erholungseinrichtungen« oder auch »Betriebserholungsheime« (BEH) genannt –, die der Betriebsleitung und der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) unterstanden, nicht aber der Abteilung Feriendienst des FDGB.403 Die Zahl der betrieblichen Erholungseinrichtungen überstieg bald die Zahl der FDGBeigenen Ferienheime bei weitem: Bereits Ende April 1962 zählte man 620 Erholungsheime in betrieblicher Trägerschaft, während es zu diesem Zeitpunkt nur 420 Eigenheime des FDGB gab. Allerdings verfügten die betrieblichen Erholungseinrichtungen Anfang der 1960er-Jahre nur über geringe Kapazitäten. Die Betriebserholungsheime bestanden oftmals nur aus einzelnen Bungalows, Wohnungen, Wochenendhäusern, Zelten oder durch Vertrag angemieteten, privaten Unterkünften und Verpflegungsstätten.404 Ein Viertel der betrieblichen Heime konnte nur zwei bis zehn Gäste auf-
401 SAPMO-BArch, DY 34/24804, Entwurf. Brief des Genossen Herbert Warnke an den Genossen Walter Ulbricht, o.D. [Mitte der 1960er-Jahre], S. 1. 402 Vgl. auch Gunnar Winkler/Gerhard Tietze/Günter Schmunk (Leiter des Autorenkollektivs), Sozialpolitik, Betrieb, Gewerkschaften, hg. im Auftrag der Gewerkschaftshochschule »Fritz Heckert« beim Bundesvorstand des FDGB, Berlin 1972, S. 112. 403 SAPMO-BArch, DY 34/24803, Abt. Feriendienst, Einschätzung über den Stand der Arbeit mit dem Feriendienst bei den Betriebsgewerkschaftsleitungen und Kreisvorständen des FDGB, Berlin, den 5. 2. 1964. [Vom Sekretariat des Bundesvorstandes am 11. 2. 64 zur Kenntnis genommen], S. 1. 404 Ebd.
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nehmen.405 Dementsprechend standen den 49.103 Plätzen in den FDGB-Eigenheimen nur 15.044 Urlaubsplätze in Verantwortung der Betriebe gegenüber.406 Innerhalb nur weniger Jahre »explodierte« dann aber das Ausmaß des betrieblichen Erholungswesens: 1968 gab es 2.000 Betriebsferienheime mit 70.000 Betten. Etwa 500.000 zweiwöchige Reisen fanden in diesem Rahmen statt (gegenüber 1.096.000 Reisen durch den FDGB-Feriendienst).407 In den 1980er-Jahren konnte das betriebliche Erholungswesen den Feriendienst dann sogar überflügeln. Während der Feriendienst knapp 2 Millionen Reisen organisierte, verbrachten rund 3 Millionen DDR-Bürger ihren Urlaub in den betrieblichen Heimen.408 Die Erfolgsgeschichte der betrieblichen Erholungseinrichtungen beruhte auf drei Faktoren. Erstens gab es Traditionen betrieblicher Erholungseinrichtungen, die in die Jahre vor 1945 zurückverwiesen. Zweitens kam den Betrieben spätestens seit den 1960er-Jahren eine zentrale Stellung in der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der DDR zu. Drittens gab es einen starken betrieblichen »Eigen-Sinn«, indem die Interessen des Betriebes in den Vordergrund gestellt wurden, auch wenn dieses den staatlichen und planwirtschaftlichen Vorgaben widersprach. Schon im Kaiserreich waren erste Betriebserholungsheime geschaffen worden. Nicht selten wurden die vor 1945 entstandenen Heime nach dem Zweiten Weltkrieg weitergeführt.409 Auch die frühen Forderungen der regionalen und lokalen 405 SAPMO-BArch, DY 34/24806, Fakten aus Untersuchungsergebnissen zur effektiveren Nutzung der Betriebserholungsheime [Anlage 1 zur Begründung des Beschlusses des Präsidiums vom 19. 1. 68 Nr. P 13/68: Vorschläge für die Einbeziehung der betrieblichen Erholungseinrichtungen in die einheitliche Planung und Leitung des Erholungswesens entsprechend den beschlossenen Grundsätzen über die Anordnung des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung im Erholungswesen.], S. 2. 406 SAPMO-BArch, DY 34/24688, Anlage 1: Aufstellung der Ferienheime der DDR, Stand: 30. 4. 1962. Bundesvorstand des FDGB, Abteilung Feriendienst. Präsidiumsvorlage. Betr.: Grundlagen für die Arbeit des Feriendienstes der Gewerkschaften und Finanzierung der Kulturarbeit in den Wohngebieten, Berlin, den 29. 8. 62. [Bestätigt auf der Sekretariatssitzung am 31. 8. 1962]. 407 SAPMO-BArch, DY 34/24806, Fakten aus Untersuchungsergebnissen zur effektiveren Nutzung der Betriebserholungsheime [Anlage 1 zur Begründung des Beschlusses des Präsidiums vom 19. 1. 68 Nr. P 13/68: Vorschläge für die Einbeziehung der betrieblichen Erholungseinrichtungen in die einheitliche Planung und Leitung des Erholungswesens entsprechend den beschlossenen Grundsätzen über die Anordnung des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung im Erholungswesen.], S. 1. 408 Hachtmann, Tourismus-Geschichte, S. 144. 409 Vgl. den zeitgleich mit der Entscheidung zur Gründung des FDGB gefassten Entschluss bezüglich der Betriebserholungsheime, in dem von »Werkserholungsheimen« gesprochen wird, »die bereits wieder durch Firmen in Betrieb genommen worden sind«, SAPMOBArch, DY 34/24002, Beschlußprotokoll der Sitzung des Geschäftsführenden Vorstandes [des FDGB] am 20. 3. 47, S. 9, Bl. 14.
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Gewerkschaftsbasis, wie sie beispielsweise im »Aktionsprogramm der Arbeiter der Leuna-Werke vom 25. Januar 1946« erhoben wurden, schlossen ausdrücklich die Schaffung von Erholungseinrichtungen der Betriebe ein.410 Als der FDGB die Aktivitäten auf dem Gebiet der Erholung für Werktätige entfaltete, schienen die betrieblichen Einrichtungen jedoch nicht mehr notwendig zu sein. Parallel zur Gründung des Feriendienstes wurde beschlossen, keine neuen Betriebserholungsheime mehr zu schaffen und bereits bestehende Einrichtungen dieser Art in die gewerkschaftliche Trägerschaft zu überführen.411 Dieser Beschluss blieb jedoch von Beginn an folgenlos. Weder Staat noch Gewerkschaft konnten verhindern, dass die Betriebe eigene Erholungseinrichtungen fortführten oder neu aufbauten, weil die betrieblichen Ferienheime sehr früh große Bedeutung als Bestandteil einer betrieblichen Sozialpolitik erlangt hatten, die konstitutiv für die – wohlgemerkt »betriebszentrierte« – »Arbeitsgesellschaft« der DDR war.412 Gerade das Zusammenwirken von betrieblicher und staatlicher Sozialpolitik zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen gehörte, wie Peter Hübner betont, »zu den konstantesten Punkten in der Programmatik der SED«.413 Wie Christoph Kleßmann erneut herausgearbeitet hat, stellten die Betriebe mehr als Arbeitsstätten dar. Sie rückten ins Zentrum des Erfahrungshorizontes der Arbeiter und nahmen auch bei der Versorgung mit Waren des alltäglichen Bedarfs sowie bei der Freizeitgestaltung mit kulturellen Angeboten, Sport und eben der Feriengestaltung eine Schlüsselrolle ein.414 410 Aktionsprogramm der Arbeiter der Leuna-Werke vom 25. Januar 1946, in: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. III/1: Mai 1945– April 1946, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1959, Dok. Nr. 171, S. 456–457, hier S. 457. 411 SAPMO-BArch, DY 34/24002, Beschlußprotokoll der Sitzung des Geschäftsführenden Vorstandes [des FDGB] am 20. 3. 47. Zu Punkt 26 [...]: Werkserholungsheime, S. 9, Bl. 14. 412 Vgl. zum Topos der Arbeitsgesellschaft: Martin Kohli, Die DDR als Arbeitsgesellschaft? Arbeit, Lebenslauf und soziale Differenzierung, in: Kaelble/Kocka/Zwahr (Hg.), Sozialgeschichte der DDR, S. 31–61; sowie unter besonderem Verweis auf die Rolle der Betriebe: Sigrid Meuschel, Überlegungen zu einer Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993) H. 1, S. 5–14, hier S. 9. Vgl. auch den allgemeinen Überblick über neuere Forschungen, die den Betrieb als Untersuchungsgegenstand ins Zentrum rücken: Thomas Welskopp, Der Betrieb als soziales Handlungsfeld. Neuere Forschungsansätze in der Industrie- und Arbeitergeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), H. 1, S. 118–142. 413 Peter Hübner, Betriebe als Träger der Sozialpolitik, betriebliche Sozialpolitik, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 9, S. 723. 414 Christoph Kleßmann, Arbeiter im »Arbeiterstaat« DDR. Deutsche Traditionen, sowjetisches Modell, westdeutsches Magnetfeld (1945 bis 1971), Bonn 2007, vor allem S. 721ff.; vgl. auch für die 1970er- und 1980er-Jahre: Francesca Weil, Der Betrieb als sozialer Raum zwischen Anpassung und Verweigerung, in: Heiner Timmermann (Hg.), Die DDR –
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In dieser Gemengelage entwickelte sich das betriebliche Erholungswesen »schneller und schneller«415 und kompensierte letztendlich die Kapazitätsdefizite des FDGB-Feriendienstes. Indem die Betriebe die »Plandisziplin« unterliefen416 und in den Planverhandlungen sogenannte weiche Pläne durchsetzten, wurden Kapazitätsund Ressourcenreserven in den Betrieben geschaffen, die wiederum für den Bau und den Unterhalt von Ferienobjekten genutzt werden konnten.417 Das Ergebnis lohnte sich: Für die Arbeiter und Angestellten der Betriebe, die über ein Betriebserholungsheim verfügten, ergaben sich deutlich bessere Chancen auf einen Ferienplatz. Während im Durchschnitt nur auf 6 bis 10 Mitglieder des FDGB ein FDGB-Ferienplatz kam, konnte das VEB Stahl- und Walzwerk Riesa einen Ferienplatz für 3,6 Mitarbeiter bereitstellen. Bei der Farbenfabrik Wolfen stand sogar für 1,7 Mitarbeiter ein Ferienplatz zur Verfügung. Manche Betriebe konnten es sich leisten, ein umfangreiches Angebot für ihre Arbeiter und Angestellten zu schaffen, ohne überhaupt auf den Feriendienst zurückgreifen zu müssen.418 Dabei waren die Betriebserholungsheime besser ausgestattet als die Eigenheime des FDGB, weil die Betriebe bereit waren, deutlich mehr Geld dafür auszugeben.419 Anstatt des durchschnittlichen Selbstkostenpreises von 118,- Mark, den der Feriendienst für einen Ferienplatz aufbringen musste, entstanden beispielsweise für jeden Ferienplatz des VEB »Roter Stern« Kosten in Höhe von 215,80 Mark; beim
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Erinnerung an einen untergegangenen Staat, Berlin 1999, S. 307–339; dies., Betriebliches Sozialverhalten in der DDR der 70er und 80er Jahre am Beispiel zweier sächsischer Betriebe, in: Peter Hübner/Klaus Tenfelde (Hg.), Arbeiter in der SBZ – DDR, Essen 1999, S. 321–354. SAPMO-BArch, DY 34/24804, FDGB-Bundesvorstand, Abteilung Feriendienst. Sekretariatsvorlage. Betrifft: Bericht über den Feriendienst der Gewerkschaften, den Stand des betrieblichen Erholungswesens und der sich daraus ergebenden Probleme, Berlin, den 19. 9. 66 [Auf der Sekretariatssitzung vom 26. 9. 66 zur Kenntnis genommen. Vgl. ebd., Bundesvorstand. Beschluß des Sekretariats vom 26. 9. 66, Nr. S 537/66], S. 2f. Ebd., S. 3. Vgl. André Steiner, Betriebe im DDR-Wirtschaftssystem, in: Renate Hürtgen/Thomas Reichel (Hg.), Der Schein der Stabilität. DDR-Betriebsalltag in der Ära Honecker, Berlin 2001, S. 53–67, hier S. 66. SAPMO-BArch, DY 34/24804, FDGB-Bundesvorstand, Abteilung Feriendienst. Sekretariatsvorlage. Betrifft: Bericht über den Feriendienst der Gewerkschaften, den Stand des betrieblichen Erholungswesens und der sich daraus ergebenden Probleme, Berlin, den 19. 9. 66 [Auf der Sekretariatssitzung vom 26. 9. 66 zur Kenntnis genommen], S. 7. SAPMO-BArch, DY 34/24776, Stand des Erholungswesens in der DDR, Anlage 1 zu: DY 34/24776, Ministerrat der DDR, Staatliche Plankommission, Programm zur Entwicklung des Lebensstandards bis 1970, Teilkonzeption Nr. 20: Konzeption für die Entwicklung des Erholungswesens im Zeitraum des Perspektivplanes. Ausgearbeitet von der Arbeitsgruppe Erholungswesen, Leitung: Gen. Engler, Mitarbeiter der Abteilung Volksbildung, Kultur und Gesundheitswesen der SPK, Berlin, den 27. 2. 1965, S. 7.
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VEB Modedruck Gera beliefen sich die Kosten pro Ferienplatz immerhin noch auf 165,82 Mark.420 Das »eigen-sinnige« Handeln in den Betrieben entfaltete schließlich normative Kraft. Schon in den 1950er-Jahren wurden die anfänglichen Beschlüsse des FDGB, keine Betriebserholungsheime mehr zu schaffen, stillschweigend aufgegeben. Namentlich nach den Erfahrungen des 17. Juni 1953 gab es keine weiteren Versuche, gegen die betrieblichen Ferienheime vorzugehen. Ende der 1950er-Jahre setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Betriebserholungsheime die Arbeit des Feriendienstes nicht behinderten, sondern vielmehr einen wesentlichen Beitrag zu einem insgesamt wachsenden Ferienwesen in der DDR darstellten.421 Wesentlich begünstigt wurde die sehr umfangreiche Betätigung der Betriebe auf dem Gebiet des Tourismus durch die 1957 eingeführten Kultur- und Sozialfonds (KSF) für kulturelle, sportliche und soziale Aktivitäten der Betriebe422 – bis zu 50 Prozent des KSF wendeten die Betriebe für die Finanzierung ihrer Ferienheime und Kinderferienlager auf.423 Im Siebenjahrplan für die Jahre 1959 bis 1965 wurden die Betriebserholungsheime schließlich erstmals ausdrücklich anerkannt. Dass der Ausbau der Feriendienstkapazitäten nur mit Hilfe der Betriebserholungsheime möglich war, wurde nun zum Bestandteil der offiziellen Verlautbarungen.424 Damit war zugleich die Leitlinie für die 1960er-Jahre vorgegeben, die im Beschluss des Präsidiums des Ministerrates vom 14. Oktober 1960 mündete, der die Existenz und Berechtigung der betrieblichen Erholungseinrichtungen nicht mehr in Frage stellte, sondern vor allem auf eine größtmögliche Auslastung der Betriebserholungsheime abzielte.425 1964 wurde schließlich die bereits verbreitet praktizierte Verwendung des KSF für die betrieblichen Erholungsheime legalisiert.426 420 SAPMO-BArch, DY 34/24688, Bundesvorstand des FDGB, Abteilung Feriendienst. Präsidiumsvorlage. Betr.: Grundlagen für die Arbeit des Feriendienstes der Gewerkschaften und Finanzierung der Kulturarbeit in den Wohngebieten, Berlin, den 29. 8. 62. [Bestätigt auf der Präsidiumssitzung am 31. 8. 1962], S. 1. 421 Vgl. auch Hübner, Betriebe als Träger der Sozialpolitik, S. 747–752. 422 Ebd. 423 Vgl. hierzu die Zahlen bei Kleßmann, Arbeiter im »Arbeiterstaat« DDR, S. 727. 424 SAPMO-BArch, DY 34/6312, Programm für die Entwicklung des Kur- und Erholungswesens der Gewerkschaften im Siebenjahrplan der DDR von 1959 bis 1965. Aus dem Beschluß des Präsidiums des Bundesvorstandes vom 7. 9. 1959, hg. v. Bundesvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, Abteilung Feriendienst und Kuren, Berlin 1960, S. 12. 425 Vgl. Bekanntmachung des Beschlusses über die Nutzung von Betriebserholungsheimen vom 14. Oktober 1960, in: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Teil II, Nr. 36 vom 3. 11. 1960, S. 411–413. 426 Verordnung über die Bildung und Verwendung der Kultur- und Sozialfonds im Jahre 1965 – Kultur- und Sozialfondsverordnung – vom 10. Dezember 1964, in: Gesetzblatt der
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Der früher erhobene Vorwurf der Ressourcenverschwendung war der Forderung gewichen, die Ressourcen der betrieblichen Erholungsheime zu stärken. Nun hieß es: »Die betrieblichen Erholungseinrichtungen sind zu einem festen Bestandteil der sozialen Einrichtungen der Betriebe geworden.«427 Gleichwohl strebte die Einheitsgewerkschaft die Zusammenfassung der Betriebserholungsheime unter »einer ökonomischen Leitung auf einer Ebene« an.428 Wie selbstverständlich ging man davon aus, »daß der Feriendienst der Gewerkschaften als größter Erholungsträger für die Arbeiterklasse die Voraussetzungen besitzt, die Planung und Leitung des gesamten Bereiches der Erholungseinrichtungen der Gewerkschaften und der Betriebe und Institutionen unter Beachtung der Erfordernisse der Gestaltung des ökonomischen Systems des Sozialismus zu organisieren und die Erfahrung bei der Verbesserung der Qualität der Urlauberbetreuung zu verallgemeinern«.429 Hinter diesen Worten verbarg sich indes nichts anderes als der Versuch des FDGB-Feriendienstes, seine Kontrolle auf die Betriebserholungsheime auszudehnen, wenn er sie als Konkurrenz für den Feriendienst nicht gänzlich verhindern konnte. Unübersehbar ist indes die »ablehnende Haltung«, mit der die Betriebe diesem zentralistischen Ansinnen des FDGB begegneten.430 Oftmals musste der FDGB »ausgeprägte betriebsegoistische Tendenzen« erkennen. Das Interesse an der Zusammenarbeit mit dem FDGB war gering, weil die Vorteile überwogen, wenn die Betriebe eigenständig über ihre Heime verfügen konnten. Unter Berufung auf die Arbeitskräftesituation und die Versorgungsprobleme sowie mit Hinweisen auf die ohnehin ausreichende Nutzung und die Bedenken, »Betriebsfremde« auf-
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Deutschen Demokratischen Republik, Teil II, Nr. 128 vom 24. 12. 1964, S. 1047–1049, besonders S. 1048, § 10; sowie Anordnung über die vorläufige Regelung der Finanzierung der betrieblichen Einrichtungen und Maßnahmen für die Arbeiterversorgung und die Betreuung der Werktätigen in der volkseigenen Wirtschaft – Finanzierung der betrieblichen Betreuung – vom 23. Dezember 1964, in: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Teil II, Nr. 129 vom 29. 12. 1964, S. 1051–1055, besonders S. 1052, § 3 (6). SAPMO-BArch, DY 34/4928, FDGB-Bundesvorstand, Abteilung Feriendienst, Konzeption zur Durchsetzung der sozialistischen Rationalisierung im Bereich des Feriendienstes d. Gewerkschaften, Berlin, den 1. 9. 66, S. 15. SAPMO-BArch, DY 34/24804, Entwurf. Brief des Genossen Herbert Warnke an den Genossen Walter Ulbricht, o.D. [Mitte der 1960er-Jahre], S. 4f. SAPMO-BArch, DY 34/24944, Entwurf. Vorlage für den Ministerrat. Richtlinie des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik und des Bundesvorstandes des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes zur Einbeziehung der betrieblichen Erholungseinrichtungen in die Planung und Leitung des Feriendienstes der Gewerkschaften [1971], S. 2. SAPMO-BArch, DY 34/24944, Abteilung Feriendienst, E. Sonntag, Abteilungsleiter, Sekretariatsvorlage. Betr. Vorlage für den Ministerrat zur Einbeziehung der Betriebserholungsheime in die Planung und Leitung des Feriendienstes der Gewerkschaften, Berlin, den 8. 4. 71 [Bestätigt durch Beschluß des Sekretariats vom 19. 4. 71], S. 1.
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zunehmen, wurde die Kooperation mit dem Feriendienst verweigert.431 »Klein aber mein«, war das vorherrschende Motto.432 Der FDGB beklagte sich: »Es ist festzustellen, daß bisher ausschließlich nur vom FDGB Initiativen zur Durchsetzung der Beschlüsse über das betriebliche Erholungswesen entwickelt wurden.«433 Doch die Gewerkschaft war nicht mächtig genug, die zentrale Leitung und ihren Kontrollanspruch gegenüber den Betrieben durchzusetzen, sodass sich Herbert Warnke in dem bereits zitierten Schreiben beinahe verzweifelt an Walter Ulbricht wandte, mit der Bitte, »dass zur Lösung dieser Fragen von zentraler Stelle planmässig beigetragen wird«.434 Diese zentrale Stelle – namentlich die SED – beschränkte sich allerdings bis zum Ende der DDR darauf, immer wieder die Einbindung der betrieblichen Erholungsheime in die zentrale Leitung durch den FDGB anzumahnen. Man scheute den Konflikt mit den Betrieben, konkrete Schritte wurden nicht eingeleitet.435 Aussagekräftige Zahlen aus den späten 1970er-Jahren verdeutlichen dieses Dilemma. Nur 122 Betriebe ließen sich auf eine enge Zusammenarbeit mit dem FDGB ein. Mit 94 weiteren Betrieben wurden 1978 Verhandlungen geführt. Angesichts der Tatsache, dass es zu dieser Zeit mehrere Tausend betriebliche Erholungseinrichtungen gab, waren diese Zahlen verschwindend klein.436 Weitgehend dem Einfluss der Gewerkschaft entzogen, hatte sich das betriebliche Erholungswesen als wichtige Alternative zum Feriendienst und als fester Bestandteil im Tourismus der DDR etabliert. Für den FDGB-Feriendienst blieb es ein schwacher Trost, dass es seit 1985 immerhin gelang, in den veröffentlichten Statistiken Reisen in FDGB-Ferienheime und Betriebserholungseinrichtungen in einer Zahl zu erfassen. So konnte wenigstens ex post die Zahl der Urlaubsreisen, die nun in der Statistik als »gewerkschaftliche Reisen« ausgewiesen waren, erheblich gesteigert werden, indem man die betrieblichen Ferienreisen unbeachtet ihrer organisatorischen Verfasstheit dem Feriendienst der Gewerkschaften zuschlug. 431 Ebd., S. 4. 432 SAPMO-BArch, DY 34/24944, Entwurf. Vorlage für den Ministerrat. Richtlinie des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik und des Bundesvorstandes des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes zur Einbeziehung der betrieblichen Erholungseinrichtungen in die Planung und Leitung des Feriendienstes der Gewerkschaften [1971], S. 3. 433 SAPMO-BArch, DY 34/25480, Einschätzung des Standes der Verwirklichung des Beschlusses des Politbüros des ZK der SED über das betriebliche Erholungswesen vom November 1978. [Bestätigt vom Präsidium des FDGB-Bundesvorstandes am 8. 10. 1981], S. 5. 434 SAPMO-BArch, DY 34/24804, Entwurf. Brief des Genossen Herbert Warnke an den Genossen Walter Ulbricht, o.D. [Mitte der 1960er-Jahre], S. 4. 435 SAPMO-BArch, DY 34/24944, Entwurf. Vorlage für den Ministerrat. Richtlinie des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik und des Bundesvorstandes des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes zur Einbeziehung der betrieblichen Erholungseinrichtungen in die Planung und Leitung des Feriendienstes der Gewerkschaften [1971], S. 2. 436 Ebd., S. 2.
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Schlagartig erhöhte sich die Zahl der offiziell ausgewiesenen »gewerkschaftlichen Reisen« von 1,8 Millionen auf 5 Millionen.437 Das Reisebüro der DDR – In- und Auslandsreisen Ebenfalls große Bedeutung für die touristische Differenzierung in der DDR erlangte das Reisebüro der DDR, das bis 1964 als Deutsches Reisebüro firmierte und später in das »VEB Reisebüro der DDR« umgewandelt wurde. In der historischen (Selbst-)Darstellung scheint die Geschichte des »VEB Reisebüro der DDR« erst 1958 zu beginnen, als die »Deutsche Reisebüro GmbH« (DER) von einem Unternehmen im alleinigen Besitz der Deutschen Reichsbahn (DR) zum 1. Januar 1958 in ein eigenständiges, freilich weiterhin staatliches Unternehmen umgewandelt wurde. Nur in der Einleitung zu einer Sammlung von Erinnerungen, die zum 20. Jubiläum dieser (Neu-)Gründung im Jahre 1978 veröffentlicht wurden, schrieb HansRudolf Hinzpeter, Generaldirektor des Reisebüros, »daß der Grundstein unseres heutigen Betriebes bereits in den schweren Jahren des Anfanges, nach der Befreiung vom Faschismus durch die Sowjetarmee, gelegt wurde«.438 Tatsächlich reichen die Anfänge des Unternehmens sogar in die Zeit des Ersten Weltkrieges zurück. Denn bereits im Oktober 1917 wurde das »Deutsche Reisebüro«ins Leben gerufen, das im Kern ein alle deutschen Ländereisenbahnen umfassendes Fahrscheinsystem mit einem weiten Netz von Verkaufsstellen ermöglichte. Nach dem Ersten Weltkrieg beteiligten sich die Reichsbahn, zahlreiche Länderministerien, die österreichische und die ungarische Staatsbahn sowie die Reedereien »Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft« (HAPAG) und der »Norddeutsche Lloyd« an diesem Reisebüro. Fortan firmierte dieser Zusammenschluss unter dem Namen »Mitteleuropäisches Reisebüro« (MER).439 Dieses Unternehmen arbeitete bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Bereits im Winter 1945 wurde es wieder in das Berliner Handelsregister eingetragen.440 Im Zuge der sogenannten antifaschistisch-demokratischen Umwälzung in der SBZ wurde vor allem in den späten 1940er-Jahren die Verstrickung des Reisebüros in das nationalsozialistische Regime kritisiert. Alwin Krug, der im Berliner Magis437 Vgl. hierzu das Statistische Jahrbuch der DDR, Berlin 1985. 438 Hans-Rudolf Hinzpeter, Der Grundstein wurde in den schweren Jahren des Anfangs gelegt. Zum 20jährigen Betriebsjubiläum des Reisebüros der DDR, in: 20 Jahre Reisebüro der DDR, hg. v. Reisebüro der DDR, [Berlin] 1977 (Impulse. Betriebliche Mitteilungen), S. 3–5. 439 Karl Fuss, Geschichte der Reisebüros, Darmstadt 1960, S. 90ff. 440 So funktionierte die DDR. Teil: 2: Lexikon der Organisationen und Institutionen, Machmit!-Bewegung – Zollverwaltung der DDR, hg. v. Andreas Herbst/Winfried Ranke/Jürgen Winkler, Reinbek bei Hamburg 1994, sv. Reisebüro der Deutschen Demokratischen Republik 1957–1990, S. 842–850, hier S. 842.
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trat für Verkehrspolitik zuständig war und sich mit dem Gedanken trug, ein eigenes Reisebüro in Zuständigkeit des Magistrats zu gründen, erhob nicht ohne eigenes Interesse schwere Vorwürfe gegen die potenzielle Konkurrenz: Das MER wurde durch seine pronazistische Haltung seiner Leitungen zu einem grossen Nutznießer des Hitlersystems. Durch die Ausführung von Juden-Transporten und durch Massentransporte ausländischer Arbeiter sind ungeheure Verdienste erzielt worden und durch enge Zusammenarbeit mit der »Reichskanzlei« sind vom MER getarnte Gruppenreisen von SS-Leuten nach Spanien und Danzig durchgeführt worden. Nach der Besetzung von Polen wurden sofort eigene Büros in Warschau, Krakau, Lietzmannstadt [recte: Litzmannstadt] und Lemberg errichtet und auch in Frankreich entstanden neue eigene MER-Büros.441
Weder konnte Krug seine Pläne verwirklichen, noch behinderten diese Vorwürfe die Fortsetzung der Arbeit des Reisebüros. Lediglich der Name »Mitteleuropäisches Reisebüro« wurde nach der bereits 1917 verwendeten Bezeichnung in »Deutsches Reisebüro« geändert. Mit der Teilung Deutschlands wurde auch das Reisebüro geteilt. Der westdeutsche Ableger gehörte fortan zur Bundesbahn. Im Osten blieb das Reisebüro bis zu seiner Umwandlung in ein eigenständiges Unternehmen im Jahre 1958 in der Form einer GmbH organisiert, deren alleiniger Gesellschafter die Deutsche Reichsbahn war. Zum 1. Januar 1964 wurde das »Deutsche Reisebüro« in das »VEB Reisebüro der DDR« umgewandelt.442 Erste Zahlen für die Vermittlungstätigkeit des ostdeutschen Reisebüros liegen für das Jahr 1959 vor. Es vermittelte 200.000 7- bis 14-tägige Reisen innerhalb der DDR – etwa die Hälfte davon an die Ostseeküste. Der frühe Schwerpunkt des Reisebüros war jedoch die Organisation von Tagesausflügen und kürzeren Reisen, an denen 1959 etwa 4 Millionen DDR-Bürger teilnahmen.443 Weitere 80.000 DDRBürger verreisten bereits im Jahre 1959 mit dem DER ins Ausland.444 Schon vor dem Mauerbau führten die Reisen zum größten Teil zu osteuropäischen Zielen, sodass sich schon in den 1950er-Jahren die Teilung der Welt auch in den Reiseströmen überaus deutlich bemerkbar machte. Reiseziele im Osten ersetzten die traditionellen Reiseziele in Süd- und Westeuropa. Dennoch wurde das Reisebüro für viele DDR-Bürger das Tor zur Welt, soweit sie denn angesichts der politischen und seit 441 SAPMO-BArch, DY 34/20124, Alwin Krug, Anlage zum Schreiben vom 22. 8. 1947. Betrifft: Mitteleuropäisches Reisebüro G.m.B.H., Berlin, S. 1. 442 Hinzpeter, Der Grundsteine wurde in den schweren Jahren des Anfangs gelegt, S. 3–5. 443 Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1960, hg. v. Deutschen Institut für Zeitgeschichte in Verbindung mit dem Verlag Die Wirtschaft, Berlin 1960, S. 353f. 444 Ebd., S. 353.
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dem Mauerbau in Beton und Stacheldraht manifesten Begrenzungen bereist werden konnte (Abbildung 20). Die Preise für die In- und Auslandsreisen lagen allerdings deutlich über denen einer FDGB-Feriendienstreise. Erst im Zuge der verhalten positiven wirtschaftlichen Entwicklung in den 1960er-Jahren konnten sich mehr DDR-Bürger eine Auslandsreise mit dem Reisebüro leisten. Deren Organisation wurde in den folgenden Jahren zum Haupttätigkeitsfeld des Reisebüros.
20 Ausstellung des »Reisebüros der DDR« auf dem Alexanderplatz in Berlin, 1967 (20 Jahre Reisebüro der DDR, S. 17)
Trotz des vergleichsweise hohen Preises stellten diese Reisen eine beliebte Alternative zum gewerkschaftlichen Urlaub dar (Abbildung 21). Das Angebot unterschied sich deutlich vom Feriendienst, vor allem stellte es eine größere Leistungsbreite zur Auswahl, die sich auf die Aufenthaltsdauer, unterschiedliche Beförderungsarten und Verpflegungsformen bezog. Unterkunft fanden die Urlauber dabei nicht in Ferienheimen wie beim FDGB-Feriendienst, sondern bei privaten Vermietern, in Hotels und Pensionen, die vertraglich an das Reisebüro gebunden waren. Dabei war das Angebot von »Pauschalaufenthalten und Rundreisen für Gruppen- und Einzelreisende« durchaus mit den Formen westlicher Pauschalreisen vergleichbar.445 445 SAPMO-BArch, DY 34/5954, Untersuchung der Entwicklung und des Standes des Tourismus der DDR ab 1956, Berlin, den 23. November 1967, S. 3 und 10.
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21 Auf dem Titelbild einer Broschüre des Deutschen Reisebüros aus dem Jahre 1955 wurde der Traum vom Reisen durch einen fliegenden Teppich visualisiert. (Glückliche Reise durch Deutsches Reisebüro, hg. von der Werbeabteilung des Deutschen Reisebüros, Berlin 1955)
Camping Als eine weitaus einfachere Form des Urlaubs fand das Camping in der DDR eine sehr große Verbreitung. Nach anfänglicher Skepsis der politischen Funktionäre in Partei, Staat und Gewerkschaft, die den Campingurlaub in den 1950er-Jahren als »kleinbürgerlich« und »kapitalistisch« betrachteten, wurde die Zurückhaltung der politischen Instanzen bereits in den 1960er-Jahren aufgegeben. Man erkannte, dass mit der Anlage von Zeltplätzen ein schneller Ausbau der Ferienplatzkapazitäten insgesamt erreicht werden konnte. Zugleich waren die Bürger vom Campingurlaub weit mehr begeistert, als man es zunächst dem »neuen, sozialistischen« Menschen unterstellt hatte.446
446 SAPMO-BArch, DY 34/24776, Ministerrat der DDR, Staatliche Plankommission, Programm zur Entwicklung des Lebensstandards bis 1970, Teilkonzeption Nr. 20: Konzeption für die Entwicklung des Erholungswesens im Zeitraum des Perspektivplanes. Ausgearbeitet
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Der steigende Motorisierungsgrad der Bevölkerung (11 Prozent der Haushalte verfügten 1967 über einen PKW, 18 Prozent über ein Motorrad oder einen Motorroller) und eine deutlich verbesserte, wenn auch noch immer nicht befriedigende Ausstattung mit Campingartikeln (Zelte, Propangaskocher, Rucksäcke etc.) schufen die materiellen Möglichkeiten, um von der individuellen Urlaubsform des Campings ausgiebig Gebrauch zu machen.447 1966 zählte man 481 öffentliche Campingplätze mit einer Gesamtkapazität von 218.000 Plätzen, die in der Zeit von Mai bis September genutzt werden konnten.448 Auch die Betriebe wurden bei der Anlage von Campingplätzen eigenständig tätig. Sie schufen eigene Plätze oder stellten Zelte bei ihren betrieblichen Erholungseinrichtungen bereit. Ein Berichterstatter zählte im Jahr 1966 524 Campingplätze dieser Art. Schließlich kamen, ohne statistisch erfasst worden zu sein, Plätze in der Obhut von Sportgemeinschaften sowie »wilde Plätze« hinzu.449 Starke Verbreitung fand das Dauercampen besonders als neu entstehende Form der Wochenend- und Naherholung. Für viele Bürger der DDR wurde der Campingwagen zum Ferienhaus. Bis zu 80 Prozent der Besucher auf den Campingplätzen im Süden der DDR und in der Nähe des Ballungsraumes Berlin zählten zu den Dauercampern. Schließlich bildete sich als Gegensatz zum Dauercampen auch die sogenannte CaravaningTouristik heraus, bei der motorisierte Camper mit Campinganhängern, Wohn- und Zeltwagen durch die Lande zogen.450 Infolge des VIII. Parteitages setzte sich der in den 1960er-Jahren begonnene Aufschwung des Campings fort. Mit dem Ausbau des Campingwesens agierte man unter dem Banner des VIII. Parteitages explizit »entsprechend den Interessen und Wünschen der Werktätigen und der Jugend«.451 Nicht nur die Zahl der staatlichen Campingplätze wurde erhöht, sondern es wurden auch die Kapazitäten der einzelnen Plätze ausgeweitet. Während die Campingplätze in der DDR im Jahre 1973 noch über eine Tageskapazität von 329.500 Personen verfügten, boten sie 1987 immerhin 387.700 Menschen Platz. Auch die Zahl der Camper stieg deutlich an.
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von der Arbeitsgruppe Erholungswesen, Leitung: Gen. Engler, Mitarbeiter der Abteilung Volksbildung, Kultur und Gesundheitswesen der SPK, Berlin, den 27. 2. 1965, S. 9. Fuhrmann, Der Urlaub der DDR-Bürger in den späten 60er-Jahren, S. 38. Vgl. auch Kruse, Nische im Sozialismus, S. 106ff.; Bütow, Abenteuerurlaub Marke DDR: Camping, S. 101ff. SAPMO-BArch, DY 34/5954, Untersuchung der Entwicklung und des Standes des Tourismus der DDR ab 1956, Berlin, den 23. November 1967, S. 7f. SAPMO-BArch, DY 34/5957, Abteilung Feriendienst, Wochenend- und Naherholung, Berlin, den 22. 7. 1966, S. 4. SAPMO-BArch, DY 34/5954, Untersuchung der Entwicklung und des Standes des Tourismus der DDR ab 1956, Berlin, den 23. November 1967, S. 7f. Vgl. Vorwort, in: Campingwegweiser der Deutschen Demokratischen Republik, hg. v. Komitee für Touristik und Wandern, Berlin 1974, S. 2.
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Wurden 1973 1.573.000 Übernachtungen gezählt, wurde bereits 1980 die ZweiMillionen-Grenze überschritten. 1987 schließlich gab es 2.194.100 Übernachtungen auf Campingplätzen.452 Neben dem Ausbau der Campingplätze sollten »Typenobjekte für Campingplatzeinrichtungen in Leichtbauweise« entwickelt sowie die Produktion von »Campingausrüstungen, insbesondere von einachsigen Campinganhängern« verstärkt werden.453 Versorgungsengpässen bei Ausrüstungsgegenständen begegneten die Camper durch ideenreiche Basteleien.454 Sichtbares Symbol der CampingBegeisterung waren die Autodachzelte, bei denen nur der Stellplatz für das Auto notwendig war (Abbildung 22).
22 Autodachzelt (Peter Leue, 1000 Tips für Campingfreunde, mit 400 Illustrationen von Henryk Berg, Berlin 1988, S. 22)
452 Statistisches Jahrbuch der DDR 33 (1988), S. 336. 453 SAPMO-BArch, DY 34/24944, Maßnahmen zur weiteren Entwicklung des Erholungswesens der DDR durch planmäßige Erweiterung der Anzahl der Erholungsreisen und Schaffung von weiteren Möglichkeiten der Nah- und Wochenenderholung, o.D., S. 6f. 454 Vgl. Peter Leue, 1000 Tips für Campingfreunde, mit 400 Illustrationen von Henryk Berg, Berlin 1988.
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23 Auch der Campingplatz war keine Nische im Sozialismus. Wie hier an der Talsperre Poel führte der ABV regelmäßig Kontrollen durch. (Foto: k.a., Bundesarchiv, DO 1 Bild-0001)
Beliebt war das Campen vor allem, weil es größere Freiheiten zu bieten schien. Dennoch bedeutete es keinen völligen Rückzug in eine Nische des Sozialismus (Abbildung 23).455 Durchaus bereitwillig ließen sich die Bürger auch beim Camping auf die Regeln des Systems ein – und sei es nur, indem sie bereits im Dezember einen Zeltschein für die Sommermonate des nächsten Jahres beantragten. Denn nur wenige kleinere Plätze konnten ohne Anmeldung genutzt werden.456 War die Genehmigung, das Zelt aufzustellen oder den Trabant mit Dachzelt auf dem Campingplatz zu parken, aber erst einmal erteilt, so ermöglichte der Campingurlaub den Bürgern viel stärker als bei den organisierten Formen des Reisens sich der Illusion hinzugeben, dass der Staat für die nächsten Tage oder Wochen in weite Ferne gerückt sei.
455 Bütow und Kruse betonen allerdings den Nischencharakter: Martin Bütow, Abenteuerurlaub Marke DDR: Camping, S. 101–105; Judith Kruse, Nische im Sozialismus, S. 106–111. 456 Vgl. nur: Anmeldung und Vermittlungsbedingungen, in: Campingwegweiser der Deutschen Demokratischen Republik, S. 13–16.
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Wochenend- und Naherholung Jedes Wochenende brachen hunderttausende DDR-Bürger zu Ausflügen in die nähere Umgebung ihres Wohnortes auf.457 Nach der Arbeitszeitverkürzung durch die Einführung der 5-Tage-Arbeitswoche für jede zweite Woche im Jahre 1965458 bzw. durchgängig seit 1967459 wuchs die freie Zeit der Werktätigen auf nunmehr durchschnittlich 123 freie Tage im Jahr.460 Zugleich nahm mit der besseren Ausstattung mit Haushaltsgeräten auch der Aufwand für die Hausarbeit ab, sodass das Freizeitbudget noch einmal wuchs.461 Der steigende Mobilisierungsgrad verstärkte diese durchaus individualistische Tendenz. Die Autos, die nun zunehmend in der DDR zu finden waren, auch wenn ihre Zahl nicht an westliche Maßstäbe heranreichte, wurden vorwiegend für die Freizeit und für Ausflüge genutzt.462 Die Wochenend- und Naherholung stellte eine preiswerte Möglichkeit dar, die fehlenden Kapazitäten für längere Urlaubsreisen wenigstens durch kürzere Ausflüge auszugleichen und somit große Bevölkerungsgruppen in den Genuss von – wenn auch nur kurzen – Reisen kommen zu lassen. Die Intentionen der Naherholer waren dabei äußerst vielfältig: Man wollte wandern, baden, campen, kulturhistorische Stätten, sportliche und kulturelle Veranstaltungen besuchen; die jüngeren Ausflügler suchten Sport, Musik und Tanz, die älteren Ruhe und Entspannung.463 Wieder waren es – wie beim Camping – auch bei der Naherholung die Betriebe, die für ihre Arbeiter und Angestellten eigene Lösungen suchten. Größere Werke errichteten ganze Wochenendsiedlungen mit Bungalows, andere bauten für ihre Belegschaften Bootshäuser, Wochenendheime und Zeltplätze. Und wieder andere 457 Winkler, Geschichte der Sozialpolitik, S. 141f.; vgl. auch SAPMO-BArch, DY 34/4928, Querengässer [Abteilungsleiter Feriendienst beim FDGB-Bundesvorstand], Freizeit – kostbare Zeit, o.D., S. 1. 458 Verordnung über die »5-Tage-Arbeitswoche für jede zweite Woche« und die Verkürzung der Arbeitszeit. Vom 22. Dezember 1965, in: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik 1965, Teil II, Nr. 134 vom 23. 12. 1965, S. 897–902. 459 Verordnung über die durchgängige »5-Tage-Arbeitswoche« und die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit bei gleichzeitiger Neuregelung der Arbeitszeit in einigen Wochen mit Feiertagen. Vom 3. Mai 1967, in: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik 1967, Teil II, Nr. 38 vom 9. Mai 1967, S. 237–241. 460 Vgl. zu den Auseinandersetzungen um die Fünf-Tage-Woche vor allem: Hübner, Konsens, Konflikt und Kompromiß, S. 120ff.; Jörg Roesler, Wandlungen in Arbeit und Freizeit der DDR-Bevölkerung Mitte der sechziger Jahre, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 37 (1989), H. 12, S. 1059–1077, bes. S. 1060ff. 461 Merker, Zu wichtigen Entwicklungstendenzen, S. 777. 462 Merkel, Utopie und Bedürfnis, S. 313, bes. S. 321; Roesler, Wandlungen in Arbeit und Freizeit der DDR-Bevölkerung, S. 1065ff. 463 SAPMO-BArch, DY 34/5954, Untersuchung der Entwicklung und des Standes des Tourismus der DDR ab 1956, Berlin, den 23. November 1967, S. 24.
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vereinbarten mit den Verantwortlichen der Objekte des Feriendienstes, dass nicht belegte Urlauberbetten für Betriebsangehörige zur Verfügung gestellt würden.464 Individualtourismus und Auslandsreisen Schon in den 1960er-Jahren entwickelte sich der Individualtourismus zu einer Größe, die nicht mehr übersehen werden konnte. 1966 wurde sein Anteil am Gesamtaufkommen des Tourismus in der DDR auf 47,8 Prozent geschätzt. In diese Schätzung floss der individuelle Reiseverkehr jedoch nur ein, wenn die »Privatreisenden« statistisch erfassbar auf Zeltplätze, Jugendherbergen und andere öffentliche Einrichtungen zurückgriffen. Tatsächlich dürfte das Fremdenverkehrsaufkommen deutlich größer gewesen sein, denn die Besuche von Bekannten und Verwandten sind in der Statistik nicht erfasst – schon deshalb nicht, weil die Besucher selten erfassbare und quantifizierbare »Spuren« hinterließen.465 Im Jahre 1970 zählte man allein im Bezirk Rostock an der Ostsee neben 1.610.800 organisierten Urlaubern immerhin 300.000 Individualreisende.466 Das knappe Angebot, wachsender Wohlstand und die Integration der Urlaubsreise in den modernen Lebensstil der DDR-Bürger führten zur Zunahme von individuell organisierten Reisen, weil der Staat und die Gewerkschaft längst nicht mehr alle Reisewünsche erfüllen konnten. Zugleich drückt sich in den Individualreisen auch der Wunsch nach Freizügigkeit und selbstbestimmter Gestaltung der Reisen aus, mit dem die Bürger auf die ideologischen Vorgaben des Staates antworteten.467 In diesen Reisen ist eine innere Distanz zum Staat erkennbar, nur selten aber kommt in den individuell organisierten Reisen oppositionelles oder gar widerständiges Verhalten zum Tragen. Lediglich in wenigen Ausnahmefällen können individuelle Reisen tatsächlich als oppositionelles Verhalten gewertet werden, wie etwa bei den Urlaubsreisen, die im Sommer 1968 vor allem junge Menschen und Intellektuelle vor Aufhebung der Visafreiheit in die CSSR zum »Prager Frühling« unternahmen.468 464 Ebd. 465 SAPMO-BArch, DY 34/5954, Untersuchung der Entwicklung und des Standes des Tourismus der DDR ab 1956, Berlin, den 23. November 1967, S. 2. Vgl. zu den Schwierigkeiten, den Individualtourismus statistisch zu erfassen: Hachtmann, Tourismus-Geschichte, S. 14. 466 SAPMO-BArch, DY 34/24944, Maßnahmen zur weiteren Entwicklung des Erholungswesens der DDR durch planmäßige Erweiterung der Anzahl der Erholungsreisen und Schaffung von weiteren Möglichkeiten der Nah- und Wochenenderholung, o.D., Anlage 2, S. 6. 467 SAPMO-BArch, DY 34/5954, Untersuchung der Entwicklung und des Standes des Tourismus der DDR ab 1956, Berlin, den 23. November 1967, S. 14. 468 Vgl. Staritz, Geschichte der DDR, S. 263; vgl. Dominik Trutkowski, Der geteilte Ostblock. Die Grenzen der SBZ/DDR zu Polen und der Tschechoslowakei (Zeithistorische Studien, Bd. 49), Köln/Weimar/Wien 2011, S. 153ff.
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In der Regel gaben individuelle Reisen schlicht eine Antwort auf die gesellschaftliche Situation in der DDR: Die staatliche Organisation des Urlaubs befriedigte die Wünsche der Bürger nicht mehr, und die staatliche Anmaßung, man richte sich im Urlaubsangebot an diesen Bedürfnissen aus, fand kaum noch Glauben. Deshalb wurden auch die individuell organisierten Auslandsreisen im Wesentlichen von der Neugierde auf fremde Länder und dem Wunsch befördert, Abstand von der Heimat zu gewinnen. Der gestiegene Motorisierungsgrad der Bevölkerung und die 1972 eingeführte Visafreiheit für Reisen nach Polen und in die Tschechoslowakei indes erleichterten das Reisen auf eigene Faust. Ein größeres Problem stellten allein die rigiden Devisenbestimmungen dar, die aus der wirtschaftlichen Situation der DDR resultierten. Für die Reisen nach Ungarn durften pro Person und Jahr lediglich 400,- Mark getauscht werden; pro Kopf und Tag konnten bei Fahrten nach Bulgarien nur 40,- Mark bzw. nur 30,- Mark bei Fahrten in die ČSSR gewechselt werden. Da in den bereisten Ländern – vor allem in Ungarn und der ČSSR – ein von den DDR-Bürgern begehrtes, weil in der DDR selbst nicht verfügbares Angebot an westlicher Kleidung und Schallplatten bestand, das ebenfalls den Besitz von Devisen voraussetzte, wurde der sparsame Umgang mit den Landeswährungen für Unterkunft und Verpflegung zur großen Herausforderung. In der Regel wurde der Trabant schon in der DDR mit Lebensmitteln und Benzin für die kommenden Urlaubswochen bis an die Grenze der Belastbarkeit beladen.469 Aufgrund der knappen Devisen waren die DDR oftmals »Urlauber zweiter Klasse«, die die touristischen Leistungen im Urlaubsort kaum in Anspruch nehmen konnten.470 Die extremste Ausprägung des Individualtourismus, bei der die Grenzen zum Abenteuertum bisweilen überschritten wurden, waren die sogenannten Transitoder UdF-Reisen, die Kai Reinhart und Dominik Trutkowski beschreiben.471 Das Kürzel »UdF« verwies in ironischer Anlehnung auf »KdF«, die nationalsozialistische Urlaubsorganisation »Kraft durch Freude«, und stand für »Unerkannt durch Freundesland«. Es spielte mit der deutsch-sowjetischen Freundschaft, weil, aller Rhetorik zum Trotz, Individualreisen in die UdSSR nur illegal oder halblegal möglich waren: Visa für Individualreisende in die UdSSR galten immer nur für ein sehr begrenztes Territorium wie zum Beispiel für die Städte Moskau und Leningrad.472 Wer das »Freundesland« jenseits der Moskauer Zentrale und ohne staat469 Großmann, »Boten der Völkerfreundschaft«, S. 79. 470 Vgl. hierzu die Ausführungen von Wolter, »Ich harre aus«, S. 157. 471 Kai Reinhart, Herrschaft und Widerständigkeit im DDR-Sport. Eine Analyse des staatlichen und des informellen Sports vor dem Hintergrund der Theorie Michel Foucaults, Diss. Münster 2007 (Manuskript), S. 295ff.; Trutkowski, Der geteilte Ostblock, S. 157ff. 472 Theo Austermühle, Unerkannt durch Freundesland. Abenteuertourismus jenseits staatlicher Sanktionen, in: Jochen Hinsching (Hg.), Alltagssport in der DDR (Sportentwicklung
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liche Begleitung kennenlernen wollte, musste einfallsreich sein. Eine oft genutzte Möglichkeit bot die »Transitreise«: Während des Prager Frühlings 1968 war der Reiseverkehr in und durch die ČSSR verboten worden. Um dennoch nach Rumänien und Bulgarien gelangen zu können, wurde den DDR-Bürgern mit der »Reiseanlage für den visafreien Reiseverkehr« erlaubt, über das sowjetische Territorium in die beliebten Reiseländer zu gelangen. Die Regelung des »Transitvisums« blieb weiterhin bestehen, als die Einreise in die ČSSR 1972 sogar visafrei möglich wurde. Vorwiegend junge Menschen nutzten das »Transitvisum« nun für ihre eigenen Zwecke. Einmal in die UdSSR eingereist, wichen sie von der Durchreiseroute nach Rumänien und Bulgarien ab und wandten sich sowjetischen Zielen zu.473 Einfallsreich musste den eventuellen Kontrollen in der UdSSR, vor allem aber den Nachfragen bei der Ausreise begegnet werden. Die Umstände des Reisens selbst waren oft beschwerlich, weil ohne ordentliche Aufenthaltsgenehmigung die Buchung eines Fluges oder auch nur die Übernachtung im Hotel unmöglich waren. Doch die »Transit«-Reisenden und »UdFler« suchten gerade dieses Abenteuer. Sie fanden nicht nur direkten Kontakt zu der Bevölkerung der UdSSR, sondern konnten sich auch von den abgelegenen Regionen dieses Landes ein Bild machen, das in der Regel vom offiziell vermittelten Bild der UdSSR erheblich abwich. Vor allem aber erlebten die meist jungen DDR-Bürger während ihrer Reise eine Möglichkeit der Selbstverwirklichung, die sich den ideologischen Einflussnahmen gänzlich entzog.474 Natürlich waren die »Transit«-Reisenden und »UdFler« den politischen Funktionären ein Dorn im Auge. Bereitwillig aber nahmen die Reisenden die Konsequenzen in Kauf, die in der Heimat bei Aufdeckung des illegalen Aufenthaltes drohten. Berufliche Degradierung oder Zwangsexmatrikulation wogen weit weniger als die Erfahrungen fremder Welten und die Erkenntnis, dass es möglich war, »die Fesseln offiziell reglementierter touristischer Aktivitäten und Reiserestriktionen zu sprengen«.475 Freikörperkultur Gewissermaßen quer zu den erwähnten Differenzierungen im Urlaubsverhalten der DDR-Bürger liegt die Freikörperkultur (FKK) in der DDR.476 Spätestens seit den in Deutschland, Bd. 6), Aachen 1998, S. 272–281, hier S. 274. 473 Ruth Leisewitz, Unerkannt durch Freundesland. Subversiv reisen mit Transitvisa, in: Michael Rauhut/Thomas Kochan (Hg.), Bye bye Lübben City. Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR, Berlin 2004, S. 134–142. 474 Reinhart, Herrschaft und Widerständigkeit im DDR-Sport, S. 331f., 337f. und S. 339f. 475 Austermühle, Unerkannt durch Freundesland, S. 281. 476 Vgl. inbesondere dazu: Lutz Thormann, »Schont die Augen der Nation!« Zum Verhältnis von Nacktheit und Öffentlichkeit in der DDR, unveröffentl. Magisterarbeit, Jena 2007.
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1970er- und 1980er-Jahren war das Nacktbaden in der DDR weit verbreitet – bei organisierten und individuellen Reisen im In- und Ausland, bei der Wochenendund Naherholung sowie beim Camping. Es gab kaum einen Strand und kaum einen Badesee, an dem die Anhänger des Nacktbadens nicht zu finden waren. Wenngleich das Nacktbaden nach 1989 Anlass für heftige Auseinandersetzungen war, in denen sich ost- und westdeutsche Mentalitäten gegenüberstanden,477 so ist das FKK-Baden in der nüchternen historischen Betrachtung nicht so spektakulär, wie es im Rückblick erscheinen mag. Es war das »Normale« in zweifacher Hinsicht. Zum einen gehörte das Nacktbaden »zur gesellschaftlichen Normalität, zum Mainstream im Freizeitverhalten der DDR-Bürger«, es war »fester Bestandteil der sommerlichen Freizeitkultur«.478 Zum anderen unterscheidet sich die Auseinandersetzung um das FKK-Baden, die vor allem in den 1950er-Jahren zwischen Bürgern und Staat geführt wurde, nicht allzu sehr von anderen Konflikten, die in diesem Buch dargestellt werden – auch hier prallten Ordnungsanspruch des Staates und Eigen-Sinn der Bürger aufeinander, bevor sich schließlich in einem langwierigen Aushandlungsprozess das FKK-Baden als Normalität durchsetzte. Die Geschichte des FKK-Badens begann in der DDR mit einigen NacktbadeEnklaven an der Ostsee. Berühmtheit erlangte Ahrenshoop, das »Bad der Kulturschaffenden«, wo viele Intellektuelle und Künstler der DDR ihren Urlaub verbrachten und zugleich dem freizügigen Nacktbaden nachgingen. Diese Entwicklung wurde – vor allem in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre – von heftigen, teilweise sogar gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Verfechtern des Nacktbadens und Ordnungshütern begleitet.479 Mehrfach versuchten Partei und Staat, das FKKBaden zu verbieten. Teilweise bestand an der gesamten Ostseeküste ein Nacktbadeverbot.480 Mit bewaffneter Polizeigewalt konnte dieses Verbot jedoch nicht durchgesetzt werden; die Verfechter des Nacktbadens reagierten auf die staatliche Repression durchaus phantasievoll. Es bildeten sich »Frühwarnsysteme« heraus, um sich rechtzeitig vor der Volkspolizei ins Wasser zu flüchten oder sich schnell mit Handtüchern und Decken zu bekleiden. Zum Teil wurden die Anhänger der Freikörperkultur sogar handgreiflich. So wird aus Prerow berichtet, dass wütende Nacktbadende einen FDGB-Funktionär ins Wasser geworfen haben sollen.481
477 Vgl. Christopher Görlich, Die Ostsee, in: Martin Sabrow (Hg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 326–331. 478 Thormann, »Schont die Augen der Nation!«, S. 2 und 36. 479 Vgl. hierzu Thormann, »Schont die Augen der Nation!«, vor allem S. 5–38. 480 Thormann, »Schont die Augen der Nation!«, S. 12. 481 Ebd., S. 13.
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Nicht allein, dass sich die DDR-Bürger so ungewohnt aufmüpfig zeigten, sondern besonders die Tatsache, dass auch viele SED-Funktionäre Anhänger des Nacktbadens waren, machte ein rigoroses Vorgehen der Staatsgewalt auf Dauer unmöglich. Zwar konnte sich ein Potsdamer SED-Funktionär noch 1955 darüber erregen, dass das freizügig-nackte Baden seiner Funktionärskollegen die Leute »dem Klassenfeind in die Arme« treibe,482 doch wenig später blieb der Volkspolizei keine andere Wahl, als »alle polizeilichen Maßnahmen zur Einschränkung des Nacktbadens« einzustellen.483 Die rechtzeitig zur Badesaison 1956 erlassene »Anordnung zur Regelung des Freibadewesens«, die das Nacktbaden auf eigens gekennzeichneten Strandabschnitten legalisierte, war – wie Lutz Thormann in seiner Magisterarbeit überzeugend herausarbeitet – »nichts anderes als eine Ohnmachterklärung gegenüber der ›wilden‹ Freikörperkultur, die längst das Bild an den Nacktbadestränden der DDR dominierte«.484 Hier verweist Thormann auf das wesentliche Element für den durchschlagenden Erfolg der Freikörperkultur in der DDR: die Loslösung des Nacktbadens von den Traditionslinien, die bis in die Lebensreformbewegung der Weimarer Republik zurückreichen. Denn nicht zuletzt, weil die Freibadeverordnung jegliche Verbände und Vereine zum Zwecke des Nacktbadens verbot, war der Weg zu einer Individualisierung vorgezeichnet, der letztlich auch zur weitgehenden Entideologisierung der Freikörperkultur führte.485 Nur weil die Freikörperkultur in der DDR »relativ unreflektiert, spontan und unorganisiert« betrieben wurde, konnte sie sich – wie Thormann schreibt – »so massenhaft etablieren«.486 In den 1960er- und 1970er-Jahren setzte sich dieser Trend fort. Bald wurden Nacktbadestrände überhaupt nicht mehr ausgewiesen, sodass es an den Stränden oft bunt durcheinander zuging.487 Nacktbaden wurde zur akzeptierten Normalität in der DDR. Wie in anderen Bereichen des Urlaubs ist folglich auch hier zu konstatieren, dass die Funktionäre ihre Handlungsfähigkeit schon vor dem Untergang der DDR nahezu vollständig eingebüßt hatten – ob mit oder ohne Badehose, die DDR-Bürger hatten mit ihrem Eigen-Sinn die Herrschenden in der DDR in ihre Grenzen verwiesen.
482 483 484 485 486 487
Ebd., S. 16. So für Ahrenshoop: ebd., S. 43. Ebd., S. 24. Ebd., S. 32, 34. Ebd., S. 61. Bütow, Abenteuerurlaub Marke DDR: Camping, S. 105.
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Verlust der Definitionsmacht des FDGB-Feriendienstes Es ist deutlich geworden, dass der Feriendienst längst nicht die einzige Organisation war, die sich mit Tourismus befasste. Von Beginn an hatten sich andere Formen etabliert. In den 1970er-Jahren musste der Feriendienst sogar befürchten, seine zentrale Stellung zu verlieren. Der FDGB strebte daher an, »auf Basis des Überganges vom Stadium des formalen Nebeneinanderbestehens der einzelnen Leistungsträger zu einem Stadium der Kooperation bzw. einer einheitlichen Leitung eine optimale Proportion zwischen notwendig werdender absoluter Erweiterung und möglicher Ausnutzung der touristischen Leistungskapazitäten zu erreichen«.488 Technizistisch verklausuliert wird hier nichts anderes ausgedrückt, als dass der FDGB auf seinen Führungsanspruch im gesamten Erholungswesen pochte. Ohne die Eigentumsrechte der unterschiedlichen Erholungsträger zu berühren oder in die vielfältige Ausprägung einzugreifen, wollte der FDGB die zentralen Entscheidungen bei seiner Abteilung Feriendienst bündeln. Das gesamte Erholungswesen sollte unter seiner Regie zusammengefasst werden – von den betrieblichen Ferienheimen über die kommunalen Campingplätze bis hin zu den Einrichtungen der Naherholung.489 Unterstützt durch den Staatsrat490 und das Politbüro491 begründete der FDGB seinen Anspruch damit, dass ihm das »Gesetzbuch der Arbeit« von 1961 den »gesellschaftlichen Auftrag des planmäßigen Aufbaus der Erholungsmöglichkeiten« zugewiesen habe.492 Denn ausdrücklich war im »Gesetzbuch der Arbeit« festgelegt: 488 SAPMO-BArch, DY 34/5954, Untersuchung der Entwicklung und des Standes des Tourismus der DDR ab 1956, Berlin, den 23. November 1967, S. 31. 489 SAPMO-BArch, DY 34/5963, Einige Aspekte zur Effektivitätsberechnung und besseren Ausnutzung der Grundfonds im Zusammenhang mit der Bildung eines einheitlichen Versorgungsbetriebes aller Erholungsträger, o.D., S. 1, 3ff. 490 Vgl. nur: Erlass des Staatsrates über die Aufgaben und Arbeitsweisen der örtlichen Volksvertretungen vom 2. Juli 1965, abgedruckt in: Aufgaben und Arbeitsweisen der örtlichen Volksvertretungen und ihrer Organe unter den Bedingungen des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft. Dokumente und Materialien der 19. Sitzung des Staatsrates der DDR am 2. Juli 1965, hg. v. Staatsrat der DDR, Berlin 1965, S. 51–150. 491 SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2/1093, Schlußfolgerungen aus den Beratungen des Ersten Sekretärs des ZK der SED, Genossen Ulbricht, mit den Sekretariaten der Bezirksleitungen Erfurt und Suhl. 492 SAPMO-BArch, 34/5963, Abteilung Feriendienst, Sekretariatsvorlage. Betr.: Vorschläge des FDGB zur Mitarbeit des Bundesvorstandes der Arbeitsgruppe des ZK zur Entwicklung eines einheitlichen Wirtschaftsbetriebes der Erholungskapazitäten entsprechend dem Beschluß des Politbüros der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands vom 10. 1. 1967, S. 1f. Gesetzbuch der Arbeit der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. April 1961, in: GBl., Teil 1, 1961, Nr. 5 vom 17. 4. 1961, S. 27–49.
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Das Recht auf Erholung wird verwirklicht mit Hilfe des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, der einen bedeutenden Teil seiner Mittel für die gesellschaftliche Aufgabe des planmäßigen Aufbaus der Erholungsmöglichkeiten, insbesondere des Feriendienstes der Gewerkschaften, nutzt, damit die Werktätigen ihren Erholungsaufenthalt unter vorbildlichen gesundheitlichen, kulturellen und sozialen Bedingungen zur Erhaltung ihrer Gesundheit und Leistungsfähigkeit verbringen können.493
Über diese formale Zuschreibung hinaus berief sich der FDGB auf seine Kompetenzen auf dem Gebiet des Tourismus, die er sich in den letzten Jahren erarbeitet habe. Er verfüge über die »beste Erfahrung«, verkündete der FDGB selbstbewusst; er erfülle in vielen Orten auch schon jetzt wesentliche Voraussetzungen »wie wirtschaftliche Rechnungsführung, zentrale Kartoffelschälmaschine und einen einheitlichen Fuhrpark«, die verallgemeinert werden könnten.494 Seinen zahlreichen Vorschlägen zur Zusammenfassung des gesamten Erholungswesens fehlte aber weitestgehend eine klare Linie, sodass Günter Mittag, Mitglied des Politbüros, dem Feriendienst nicht ganz zu Unrecht vorwarf, überhaupt kein Konzept zu haben.495 Nur in Einzelfällen kam es tatsächlich zur Zusammenarbeit einiger Einrichtungen unterschiedlicher Träger wie beispielsweise 1967 in Oberhof. Doch die Zusammenarbeit beschränkte sich im Wesentlichen auf die Einrichtung eines Kooperationsrates.496 Der FDGB interpretierte die Entwicklungen in Oberhof dennoch als Erfolg, weil nun die »Periode der Kooperation« begonnen habe.497 Immerhin hatte der FDGB in der vertraglichen Grundlage für diesen Kooperationsrat den Passus durchgesetzt, dass sich die Gemeinschaft das Ziel setze, eine »einheitliche [...] Wirtschaftsorganisation« und eine »einheitliche[...] Wirtschafts- und Finanzverwaltung aller zur Gemeinschaft gehörigen Erholungsträger« zu schaffen.498 Diese vertragliche Regelung war indes nicht mehr als eine bloße Absichtserklärung, die zwar in den nächsten Jahren oft wiederholt, zu keinem Zeitpunkt aber verwirklicht worden ist. In seiner faktischen Wirkung blieb der Kooperationsrat 493 Gesetzbuch der Arbeit der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. April 1961, in: GBl., Teil 1, 1961, Nr. 5, 17. 4. 1961, S. 27–49. 494 SAPMO-BArch, DY 34/5963, Querengässer an Warnke, Information über die zentrale Beratung beim Stellv. Minister für die Anleitung der örtlichen Räte, Gen. Witteck, zur Durchführung der Aufgaben in Oberhof, 1. 3. 1967, S. 2. 495 Günter Mittag in einer Diskussion zwischen den SED-Parteispitzen und dem FDGB. Vgl. SAPMO-BArch, DY 34/5959, Fritz Rösel, an den Stellv. des Vorsitzenden [des FDGBBundesvorstandes] Koll. Rolf Berger, Information über Probleme des Erholungswesens, die während der Ostseewoche diskutiert wurden, 18. 7. 1968, S. 1. 496 SAPMO-BArch, DY 34/5963, Kooperationsvertrag der Leiter der Erholungseinrichtungen von Oberhof, Oberhof, den 27. 6. 1967. 497 SAPMO-BArch, DY 34/5963, Querengässer an Warnke, 6. 6. 1967, S. 1f. 498 SAPMO-BArch, DY 34/5963, Kooperationsvertrag der Leiter der Erholungseinrichtungen von Oberhof, Oberhof, den 27. 6. 1967, S. 2.
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deshalb weitgehend bedeutungslos. Auch in anderen Orten scheiterten die Versuche einer Zentralisierung unter der Führung des FDGB. 1967 wurde im Sekretariat des FDGB resignierend festgestellt: »Alle Vorschläge zur Koordinierung sind an der Haltung der Betriebe, Institutionen und Organisationen gescheitert. […] Sie beharren auf dem Standpunkt der individuellen Leitung und Bewirtschaftung ihrer Erholungseinrichtungen.«499 Der Feriendienst mochte sich zwar auch weiterhin in quantitativer Hinsicht als Haupterholungsträger sehen, doch eine Führungsrolle konnte er damit nicht mehr begründen. Zugleich verweisen diese Ereignisse und Entwicklungen der 1960erJahre darauf, dass der Fremdenverkehr eine solche Komplexität angenommen hatte, dass er sich politischen Steuerungsmechanismen immer stärker entzog. Man reagierte in einer Fülle von Einzelentscheidungen auf die Tendenzen der Ausdifferenzierung und musste zugleich beinahe hilflos zusehen, wie Kontroll- und Steuerungsmöglichkeiten sich auflösten. Sogar das spezifisch Sozialistische drohte unkenntlich zu werden. Bezeichnenderweise entwickelten sich keine neuen Vorstellungen vom dem, was »sozialistischer Urlaub« sein sollte. Der FDGB hatte angesichts der Differenzierungen im Tourismus seine Definitionsmacht verloren. 5. Das Ende 1989/90 In den über vierzig Jahren hatte der Feriendienst eine beachtliche Entwicklung genommen. Nach zögerlichen Anfängen wurde er zur wichtigsten Einrichtung der Gewerkschaft und organisierte Jahr für Jahr millionenfach Urlaubsreisen. Gleichwohl haben die vorhergehenden Kapitel nicht nur die »Erfolgsgeschichte« des Feriendienstes aufgezeigt. Immer wieder wurde deutlich, dass der Feriendienst an seine Grenzen stieß und schließlich auch die Definitionsmacht verlor, was eigentlich »sozialistischer« Urlaub sei. Als 1977 die Planungen für den Zeitraum 1981 bis 1990 begannen, schrieb die Rahmenaufgabenstellung für den Feriendienst noch fest:
499 SAPMO-BArch, DY 34/5963, Abteilung Feriendienst, Sekretariatsvorlage. Betr.: Vorschläge des FDGB zur Mitarbeit des Bundesvorstandes der Arbeitsgruppe des ZK zur Entwicklung eines einheitlichen Wirtschaftsbetriebes der Erholungskapazitäten entsprechend dem Beschluß des Politbüros der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands vom 10. 1. 1967 »Schlußfolgerungen aus Beratungen des Ersten Sekretärs des ZK der SED, Genossen Walter Ulbricht, mit den Sekretariaten der Bezirksleitung Erfurt und Suhl«, 16. Februar 1967, S. 2.
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Ausgangspunkt für die künftige inhaltliche Gestaltung der Erholungsaufenthalte muß das im Jahre 1990 erreichte Kultur- und Bildungsniveau der Werktätigen sein. Das auszuarbeitende Programm muß darauf Antwort geben, wie der Erholungsurlaub im Jahre 1990 zu gestalten ist, d. h. welche Anforderungen an die Unterbringung, gastronomische, kulturelle, sportliche und evtl. medizinische Betreuung der Urlauber, abgeleitet von den sich entwickelnden Bedürfnissen, zu stellen sind.500
Niemand hätte damals vorhersehen können, dass sich die Bedürfnisse der Werktätigen bereits im Sommer 1989 durch zahlreiche Reisen nach Budapest und Prag auf ganz besondere Art ausdrückten. Die Ziele waren nicht das Burgviertel Buda oder der Wenzelsplatz, sondern die westdeutschen Botschaften, über welche die dort versammelten DDR-Bürger ihre Ausreise in den Westen erreichen wollten. Sie suchten nicht mehr Erholung oder ein zeitweiliges touristisches Entkommen, vielmehr wollten sie die DDR für immer verlassen. Die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze im Sommer 1989 verschob das Machtverhältnis zwischen dem DDR-Regime und der Bevölkerung gravierend. Zwar konnte die DDR-Führung noch ihre Macht demonstrieren, als im Oktober die Züge mit den Botschaftsflüchtlingen aus Prag auf dem Weg in den Westen durch das Territorium der DDR geleitet wurden.501 Auf den Demonstrationen im Herbst 1989 aber wurde die Losung »Wir bleiben hier – Reformen wollen wir« zur Drohung des Volkes. Die Demonstranten forderten Veränderung im Inneren der DDR. Besonders schallte der Ruf nach Reisefreiheit durch die Straßen, nach dem Recht, die DDR verlassen zu können – und wiederzukommen.502 Die »Wende« hatte begonnen. Der FDGB-Vorsitzende Harry Tisch stellte durchaus treffend fest: »Hier geht es doch nicht um Versorgung, Reisen oder meine Äußerungen im Betrieb, sie wollen den Sozialismus beseitigen.«503 Die SED-Führung glaubte, die Lage entschärfen sowie ihr Grenzregime und damit letzten Endes die Existenz der DDR sichern zu können, indem sie am 9. November eine neue Reiseregelung beschloss, die das 500 SAPMO-BArch, DY 34/15860, Rahmenaufgabenstellung zur Ausarbeitung des Programms für die Entwicklung des Feriendienstes der Gewerkschaften im Zeitraum 1981 bis 1990 [1977], S. 1. 501 Vgl. Staritz, Geschichte der DDR, S. 360ff. 502 Hans-Hermann Hertle, Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SEDStaates, Opladen 1996, S. 109. Vgl. auch Wolfgang Zapf, Die DDR 1989/1990. Zusammenbruch einer Sozialstruktur?, in: Hans Joas/Martin Kohli (Hg.), Der Zusammenbruch der DDR, Opladen 1993, S. 13–89, hier S. 33; Norman Naimark, »Ich will hier raus«. Emigration and the Collapse of the German Democratic Republic, in: Ivo Banac (Hg.), Eastern Europe in Revolution, New York 1992, S. 72–95, hier S. 93. 503 Zit. nach: Wolfgang Eckelmann/Hans-Hermann Hertle/Rainer Weinert, FDGB-intern. Innenansichten einer Massenorganisation der SED, Berlin 1990, S. 142.
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Recht auf Besuchsreisen in den Westen umfasste. Niemand schien die Konsequenzen zu erahnen, als Günter Schabowski am späten Nachmittag in einer Pressekonferenz auf Nachfrage, wann diese Regelung in Kraft trete, die berühmte Antwort gab: »Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich.«504 Durch westliche Medien verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer in der DDR. Noch in der Nacht des 9. November öffnete sich der Schlagbaum am Grenzübergang Bornholmer Straße in Berlin.505 Das Ende der DDR war besiegelt. Innerhalb weniger Monate zerfiel dieser Staat. Mit dem Mauerfall hatte er die Stütze seiner Existenz verloren. Von diesen Entwicklungen blieben zwangsläufig der FDGB und sein Feriendienst nicht unberührt. Harry Tisch, der dem FDGB seit 1975 vorstand, war bereits am 2. November 1989, eine Woche vor dem Mauerfall, zurückgetreten. Einen Monat später wurde er wegen des Verdachts auf Korruption und Veruntreuung verhaftet und schließlich 1991 zu einer Haftstrafe von 18 Monaten verurteilt. Tischs Nachfolgerin als FDGB-Vorsitzende, Annelis Kimmel, blieb nur knapp einen Monat im Amt. Am 29. November 1989 trat auch sie zusammen mit dem Präsidium und dem Sekretariat des Bundesvorstandes zurück. Unter dem Vorsitz des Chefs der IG Druck und Papier, Werner Peplowski, wurden die Geschäfte vom 33-köpfigen »Komitee zur Vorbereitung des Außerordentlichen Kongresses des FDGB« übernommen, der zum 31. Januar/1. Februar 1990 einberufen wurde.506 Innerhalb von nur zwei Monaten war der FDGB, wie andere Organisationen der DDR auch, in seinen alten Strukturen zerfallen. Mit einer beinahe verzweifelt anmutenden Entscheidung, die der Bundesvorstand des FDGB in dieser Situation traf, kam man einer Forderung nach, die schon vor dem Mauerfall von den demonstrierenden DDR-Bürgern erhoben worden war. Am 15. November 1989 übereignete der Bundesvorstand des FDGB dem Feriendienst jene Ferienheime, die der Bundesvorstand zuvor selbst für den eigenen Urlaub sowie zur Bewirtung von Gästen genutzt hatte.507 Im Dezember 1989 verlangte der neue Leiter der Abteilung Feriendienst, Anton Filler, die Ferienheime des Zen504 Zit. nach: Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Berlin 1999, S. 145. 505 Vgl. Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 157ff. 506 Detailliert wurde diese stürmische Entwicklung im Winter 1989/90 bereits früh beschrieben: Theo Pirker/Hans-Hermann Hertle/Jürgen Kädtler/Rainer Weinert, FDGB – Wende zum Ende. Auf dem Weg zu unabhängigen Gewerkschaften?, Köln 1990; vgl. auch Walter Jäger (in Zusammenarbeit mit Michael Walter), Die Überwindung der Teilung. Der innerdeutsche Prozeß der Vereinigung 1989/90 (Geschichte der Deutschen Einheit, Bd. 3), Stuttgart 1998, S. 334–338. 507 Pirker/Hertle/Kädtler/Weinert, FDGB – Wende zum Ende, S. 24. Vgl. auch Heidrun Budde, Willkür! Die Schattenseite der DDR, Rostock 2002, S. 604.
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tralkomitees der SED und des Amtes für Nationale Sicherheit in den Feriendienst einzubeziehen. Den Bürgern sollten die Privilegien eingeräumt werden, die zuvor nur die Führungselite genossen hatte. Aber zur Legitimation der DDR konnten diese Beschlüsse nicht mehr beitragen. Im Gegenteil: Durch die Öffnung der Häuser, die vormals nur hochrangigen Funktionären zugänglich gewesen waren, wurde für jedermann offensichtlich, dass sich die politische Führung der DDR jahrelang Ferienhäuser geleistet hatte, die bei weitem besser ausgestattet waren als die Häuser für die Werktätigen.508 Zudem wurden die zusätzlichen Kapazitäten, die der Feriendienst durch Einbeziehung der genannten Ferienheime gewann, schon nicht mehr benötigt. Denn mit dem Umbruch in der DDR verringerten sich die Mitgliederzahlen des FDGB ebenso drastisch wie die Nachfrage nach Feriendienst-Reisen: Plötzlich gab es Alternativen.509 Die Rückgabe der Ferienschecks, auf die man teilweise jahrelang gewartet hatte, wurde 1989/1990 zu einem weitverbreiteten Phänomen, das wenige Monate zuvor noch undenkbar gewesen wäre.510 Die jahrzehntelang unzugänglichen Reiseziele in West- und Südeuropa lockten. Die Bürger wollten jetzt die neu gewonnene Reisefreiheit auskosten. Anders als erwartet zeigten auch die Westdeutschen wenig Interesse an den Ferienplätzen in der DDR. Zwar hatte der »Spiegel« noch im Frühjahr 1990 unter der Überschrift »Das halten wir nicht aus« vor dem »Ansturm der WestTouristen« gewarnt.511 Doch im Sommer 1990 blieben die westlichen Besucher weitgehend aus. Im August 1990 musste deshalb der »Spiegel« vermelden: »Und keener kommt«. Ein Architekt wurde mit folgenden Worten zitiert: »Zu uns kommen nur noch Abenteurer, das heruntergekommene Land noch mal anzugucken.«512 Ein wesentlicher Grund für das Ausbleiben der westlichen Touristen war die negative Berichterstattung über die DDR als Urlaubsland selbst, wobei sich der »Spiegel« besonders hervortat. In dem bereits zitierten Artikel, der vor dem Ansturm 508 Vgl. nur: Der Zorn wird täglich größer, in: Spiegel 43 (1989), H. 50, 11. 12. 1989, S. 30–37; Ständig neue Ideen. Die Spitzen der DDR konnten in einem eigenen Hotel auf Rügen Urlaub machen, in: Spiegel 43 (1989), H. 52, 25. 12. 1989, S. 70–71. 509 SAPMO-BArch, DY 34/25725, Protokoll der Sitzung des Komitees zur Vorbereitung des Außerordentlichen Kongresses am 16. 12. 1989, S. 7. 510 SAPMO-BArch, DY 34/26995, Bund der IG/Gew., Protokoll über die Beratung des Bundes der IG/Gew. mit Vertretern des Reisebüros der Gewerkschaften »Feriendienst« am 18. 5. 1990, 21. 5. 1990, S. 1. 511 »Das halten wir nicht aus«. Die DDR vor dem Ansturm der West-Touristen, in: Spiegel 44 (1990), H. 15, 9. 4. 1990, S. 92–117. 512 Und keener kommt. Die Tourismuspleite an der DDR-Ostseeküste treibt traditionelle Ferienorte in den Ruin, in: Spiegel 44 (1990), H. 32, 6. 8. 1990, S. 48–53, hier S. 51.
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westlicher Touristen warnte, stellte der »Spiegel« zugleich die Zustände in den ostdeutschen Urlaubsorten in wenig einladender Weise dar: Weder die Versorgung der Urlauber noch die hygienischen Bedienungen, weder der Transport und Verkehr noch die Dienstleistungen vor Ort würden westlichen Ansprüchen genügen.513 Einiges mag in der westlichen Berichterstattung übertrieben worden sein. Doch für viele, die im Fremdenverkehr der DDR arbeiteten, kam es einem Schock gleich, als sie, die sich stets um »Verbesserungen« bemüht hatten, feststellen mussten, dass die Erholungseinrichtungen dem westlichen Standard bei weitem nicht genügten. Mit dem von der Welt abgeschlossenen Staat verschwand auch der Traum vom »Weltniveau«. Das Erholungswesen in der DDR gab nur noch Anlass zu Spott, die Gäste blieben aus, die Urlaubsorte verwaisten (Abbildung 24).514
24 »Willkommen Wessi«-Karikatur aus der Wendezeit (Karikatur von Walter Hanel, Karikaturensammlung des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland)
513 »Das halten wir nicht aus«, S. 96. 514 Ebd.
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Für 146 Tage – das Ministerium für Tourismus Ein Treppenwitz der Geschichte, der so nur in der spezifischen Situation im Herbst 1989 möglich war, war die Errichtung eines Ministeriums für Tourismus. Als am 18. November die neue Regierung unter Hans Modrow ihre Arbeit aufnahm, gehörte ihr auch der Fremdenverkehrsgeograph Prof. Dr. Bruno Benthien als Tourismusminister an – bis in die Gegenwart hinein handelt es sich bei diesem Amt um eine »Singularität« in der Geschichte deutscher Regierungen.515 Nie zuvor und nie wieder gab es in Deutschland ein eigenständiges Ministerium für Tourismus. Alles ignorierend, was sich in den vergangenen vierzig Jahren in der DDR an touristischer Infrastruktur entwickelt hatte, erklärte Benthien die DDR zum »touristische[n] Entwicklungsland«.516 Doch auch der vermeintliche Neuanfang blieb alten Denkweisen verpflichtet. So legte das Statut fest: »Das Ministerium für Tourismus ist das Organ des Ministerrates zur zentralen Leitung und Planung des Inlandtourismus, Auslandtourismus und Erholungswesens der DDR.« Unmittelbar wurden dem Ministerium das Reisebüro der DDR, das Jugendreisebüro Jugendtourist und die Vereinigung Interhotels unterstellt. »Für das gewerkschaftliche und betriebliche Erholungswesen«, so hieß es im Statut, »werden koordinierende Aufgaben übernommen.«517 Tatsächlich blieb das Ministerium weitgehend wirkungslos, weil es von der weiteren Entwicklung überrollt wurde. Nach nur 146 Tagen erfolgte die Auflösung; am 12. April 1990, als die Volkskammer die letzte Regierung der DDR wählte, wurde kein Minister für Tourismus mehr eingesetzt. Bruno Benthien führte seine Arbeit als Staatssekretär im Ministerium für Handel und Tourismus fort. Umwandlungen und Auflösung des Feriendienstes nach dem Mauerfall Die gesamte politische Entwicklung der DDR nach dem Mauerfall wie auch die leerstehenden Ferienhäuser zwangen den Feriendienst des FDGB zum Umdenken, und zwar in einer Radikalität, die es in den vergangenen vierzig Jahren nicht gegeben hatte. Seit dem Außerordentlichen Kongress zum Monatswechsel Januar/Februar 1990 wurden die bisher nur als Verwaltung des FDGB fungierenden »Industriegewerkschaften und Gewerkschaften« in Einzelgewerkschaften umgewandelt, die weitgehend unabhängig vom FDGB waren. Der FDGB stellte fortan nur noch einen schwachen Dachverband dar, der vom Geschäftsführenden Vorstand geleitet wurde.518 515 Bruno Benthien, Minister für Tourismus der DDR 1989/1990 (Greifswalder Beiträge zur Regional-, Freizeit- und Tourismusforschung, Bd. 11), Greifswald 2000, S. 62. 516 So in der Erinnerung von Bruno Benthien: ebd., S. 53. 517 Zit. nach: Bruno Benthien, Minister für Tourismus der DDR 1989/1990, S. 69. 518 Pirker/Hertle/Kädtler/Weinert, FDGB – Wende zum Ende, S. 44f.
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In dieser Situation stand am 21. Februar 1990 auf der zweiten Sitzung des Geschäftsführenden Vorstandes des FDGB die Frage nach der Zukunft des Feriendienstes auf der Tagesordnung. Klaus Umlauf, im Geschäftsführenden Vorstand für Finanzen und Vermögensverwaltung zuständig, hatte eine Vorlage erarbeitet, die darauf abzielte, mit sofortiger Wirkung das »Reisebüro der Gewerkschaften ›Feriendienst‹« als »wirtschaftlich selbständige[n] organisationseigene[n] Betrieb des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes zur Organisierung, zum Verkauf und zur Vermittlung touristischer Leistungen im In- und Ausland« zu gründen.519 Unter dem Namen »Reisebüro der Gewerkschaften ›Feriendienst‹« sollte dieser neue, »organisationseigene Betrieb« (OEB) die ehemaligen Abteilungen Feriendienst der Bezirksvorstände des FDGB und vor allem die FDGB-Erholungsobjekte übernehmen und als »juristische Person und somit uneingeschränkt [!] rechtsfähig« die Rechtsnachfolge dieser Einrichtungen antreten.520 Die Beschlussvorlage wurde nicht bestätigt, stattdessen entbrannte auf der Sitzung vom 21. Februar eine »heftige Diskussion« über grundsätzliche Fragen der Finanzierbarkeit und der Struktur des Feriendienstes.521 Zu einem Ergebnis führte diese Diskussion nicht. Der »ganze Komplex Reisebüro der Gewerkschaften ›Feriendienst‹« wurde zurückgestellt.522 Ausschlaggebend für das zögerliche Vorgehen des Vorstandes waren Bedenken hinsichtlich der Frage, ob es sinnvoll bzw. überhaupt rechtlich zulässig sei, den Feriendienst in einen organisationseigenen Betrieb des FDGB zu überführen und ihm das Eigentum an den Erholungsheimen, die er bisher genutzt hatte, zu übertragen. Denn was früher wenig Beachtung gefunden hatte, wurde jetzt angesichts des Zerfalls des Staates wichtig: Vom gesamten Vermögen im beachtlichen Wert von 3 Milliarden Mark, über das der Feriendienst verfügte, gehörten nach ersten Schätzungen nur 350 Millionen Mark dem FDGB selbst. Spätere Berechnungen schrieben dem direkten Eigentum des FDGB mit rund 700 Millionen zwar das Doppelte zu, doch machte diese Summe nur ein knappes Drittel des Gesamtvermögens aus, über das der Feriendienst bisher faktisch frei verfügt hatte. Der Rest 519 SAPMO-BArch, DY 34/14246, Klaus Umlauf, Mitglied des Geschäftsführenden Vorstandes für Finanzen und Vermögensverwaltung, Vorlage für den Geschäftsführenden Vorstand. Beschluß zur Gründung des Reisebüros der Gewerkschaften »Feriendienst«, Berlin, den 15. 2. 1990, S. 1. 520 SAPMO-BArch, DY 34/14246, Gründungsanweisung, Anlage zu: Klaus Umlauf, Mitglied des Geschäftsführenden Vorstandes für Finanzen und Vermögensverwaltung, Vorlage für den Geschäftsführenden Vorstand. Beschluß zur Gründung des Reisebüros der Gewerkschaften »Feriendienst«, Berlin, den 15. 2. 1990. 521 SAPMO-BArch, DY 34/14246, Geschäftsführender Vorstand, Protokoll über die 2. Sitzung des Geschäftsführenden Vorstandes des FDGB am 21. 2. 1990, 22. 2. 1990, S. 1. 522 Ebd., S. 10.
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befand sich in Volks- bzw. Staatseigentum, das stillschweigend vom FDGB und seinem Feriendienst genutzt worden war. Solange Staat, SED und Gewerkschaft eng miteinander verbunden gewesen waren, hatte man diese Differenzierung der Eigentumsformen meist völlig unbeachtet gelassen. Nun befürchtete die Gewerkschaft, die ihre enge Bindung an den Staat verloren hatte, dass der Staat, vertreten durch die Regierung von Lothar de Maizière, sein Eigentum einfordern könnte. An die Forderungen der früheren Privatbesitzer, die man vor allem in den ersten Jahren der DDR enteignet hatte, dachte man noch gar nicht.523 Unmittelbar nach der ergebnislosen Sitzung des Geschäftsführenden Vorstandes des FDGB vom 21. Februar 1990 erschien jedoch eine Abordnung der Abteilung Feriendienst bei der FDGB-Vorsitzenden Helga Mausch und beharrte auf der Behandlung der Vorlage, weil der Feriendienst ohne eine grundsätzliche Entscheidung handlungsunfähig werde. Zwei Tage später, am 23. Februar 1990, wurde eine außerordentliche Sitzung des Geschäftsführenden Vorstandes einberufen, um die Belange des Feriendienstes noch einmal zu besprechen. Jetzt wurde einstimmig der Beschluss zur »Gründung eines zeitweiligen Geschäftsbereiches Reisebüro der Gewerkschaften ›Feriendienst‹« gefasst.524 Auf der ordentlichen Sitzung des Geschäftsführenden Vorstandes am 5. März 1990 wurde dieser Beschluss erneut bestätigt. Zwar konnten die Bedenken bezüglich der Eigentumsfragen noch immer nicht ausgeräumt werden,525 aber man umging den schwierigen Sachverhalt, indem ein Vertrag zwischen dem Ministerium für Finanzen und Preise und dem FDGB abgeschlossen wurde, der dem »Reisebüro der Gewerkschaften ›Feriendienst‹« die Rechtsträgerschaft für das Volkseigentum und unentgeltliche Nutzungsrechte übertrug.526 Es war allerdings absehbar, dass der Vertrag schon binnen weniger Monate gegenstandslos werden würde, weil sich jetzt die Auflösung des FDGB abzeichnete: Auf seiner Sitzung am 8. Juni 1990 beschloss der Geschäftsführende Vorstand den 1. Bundeskongress zum 14. September 1990 einzuberufen, um dort die Auflösung des FDGB zu vollziehen. 523 SAPMO-BArch, DY 34/26995, Beschluß des Geschäftsführenden Vorstandes vom 8. 6. 90, Nr. GV 108/90, Konzeption zur weiteren Entwicklung des Reisebüros der Gewerkschaften »Feriendienst« und zu seiner Umwandlung in eine Kapitalgesellschaft, S. 13. 524 SAPMO-BArch, DY 34/14246, Protokoll über die am 23. 2. durchgeführte außerordentliche Sitzung des Geschäftsführenden Vorstandes, Berlin den 26. 2. 90, S. 1f. 525 SAPMO-BArch, DY 34/14246, Klaus Umlauf, Mitglied des Geschäftsführenden Vorstandes für Finanzen und Vermögensverwaltung, Vorlage für den Geschäftsführenden Vorstand. Beschluß zur Gründung des Reisebüros der Gewerkschaften »Feriendienst«, Berlin, den 23. 2. 1990. 526 SAPMO-BArch, DY 34/26995, Beschluß des Geschäftsführenden Vorstandes vom 8. 6. 90, Nr. GV 108/90, Konzeption zur weiteren Entwicklung des Reisebüros der Gewerkschaften »Feriendienst« und zu seiner Umwandlung in eine Kapitalgesellschaft, S. 13. Vgl. auch SAPMO-BArch, DY 34/26994, Statut des Reisebüros der Gewerkschaften »Feriendienst«.
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Erneut entwickelte man Alternativen, um den Feriendienst in anderer Form weiterzuführen. Unter anderem wurde die Gründung einer Aktiengesellschaft erwogen. Damit hoffte man, »das gewerkschaftliche Eigentum und die weitere Nutzung des Staatseigentums durch den ›Feriendienst‹« bei »maximaler Verfügbarkeit« zu sichern.527 Tatsächlich wurde am 29. Juni 1990 als einer der letzten Akte des FDGB die Gründung einer »Gesellschaft mit beschränkter Haftung« (GmbH) beschlossen. In dieser Gesellschaft sollte das Vermögen des »Reisebüros der Gewerkschaften ›Feriendienst‹« mit den Erholungseinrichtungen aufgehen. Das Vorhaben des FDGB-Vorstandes, den Feriendienst auch ohne Staatsgewerkschaft in der Bundesrepublik fortzuführen und damit die Eigentumsfrage zu umgehen, bewerteten Hans-Hermann Hertle und Rainer Weinert bereits 1991 als skandalös, weil so der Eindruck erweckt würde, die »Feriendienst GmbH« sei rechtmäßiger Eigentümer der Immobilien.528 Auch wenn der FDGB-Vorstand den kardinalen Fehler beging, die Eigentumsfragen in der sich abzeichnenden kapitalistischen Neuordnung der DDR-Wirtschaft nicht ernst zu nehmen, kam in den organisatorischen Umstrukturierungen jedoch der Wille zum Ausdruck, den Feriendienst für die Marktwirtschaft vorzubereiten. Denn es war bald offensichtlich, dass das marktwirtschaftliche System nun auch auf das Gebiet der DDR übertragen werden würde. Eine leicht zu übersehende Entscheidung, die im Kontext dieser Pläne zur Schaffung der »Feriendienst GmbH« getroffen wurde, verdeutlicht, in welcher Radikalität sich die Betrachtung des Feriendienstes geändert hatte. Die nunmehr autonomen Einzelgewerkschaften sollten der GmbH zwar alle rechtlichen Freiheiten einräumen – im Gegenzug aber versprach man ihnen einen »Anspruch auf einen Teil des erwirtschafteten Gewinns«.529 Dies bedeutete nichts weniger, als dass sich der Feriendienst von einer hoch defizitären Einrichtung zu einem marktwirtschaftlich arbeitenden und auf Gewinnerzielung ausgerichteten Unternehmen wandeln sollte: Der Feriendienst wurde zu dem, was er nie hatte sein wollen – ein Reisebüro, das in einem durch harten Wettbewerb bestimmten Markt agieren musste.
527 SAPMO-BArch, DY 34/26995, Beschluß des Geschäftsführenden Vorstandes vom 8. 6. 90, Nr. GV 108/90, Konzeption zur weiteren Entwicklung des Reisebüros der Gewerkschaften »Feriendienst« und zu seiner Umwandlung in eine Kapitalgesellschaft, S. 15. 528 Hans-Hermann Hertle/Rainer Weinert, Die Auflösung des FDGB und die Auseinandersetzung um sein Vermögen (Berliner Arbeitshefte und Berichte zur sozialwissenschaftlichen Forschung, Nr. 45), Berlin 1991, S. 30. 529 SAPMO-BArch, DY 34/26995, FDGB, Beschluß des Geschäftsführenden Vorstandes vom 29. 6. 90, Nr. 133/90. Einbringung des gewerkschaftlichen Vermögens an Einrichtungen, die gegenwärtig vom Feriendienst genutzt werden, in eine »Feriendienst GmbH«, 29. 6. 1990, Anlage 2, S. 2.
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Dabei war längst offensichtlich, dass der Feriendienst spätestens seit der Ära Honecker zu einer defizitären Einrichtung geworden war, die nur noch durch hohe finanzielle Subventionen des Staates aufrecht erhalten werden konnte: Noch die Planungen für das Jahr 1990 sahen vor, beachtliche 286 Mark für jede Reise im normalen Programm zuzuschießen.530 Für die vom ZK, dem MfS und anderen Stellen übernommenen Einrichtungen veranschlagte man intern die für die Verhältnisse des Feriendienstes astronomische Summe von 850 Mark pro Erwachsenen und kalkulierte dementsprechend mit sehr hohen staatlichen Zuschüssen. »Für den Preis könnten unsere Kollegen nach Mallorca fahren«, erklärte Anton Filler und brachte damit das Dilemma, in dem sich der Feriendienst befand, auf den Punkt.531 Einen Preiskampf mit westlichen Tourismuskonzernen konnte sich der Feriendienst im wahrsten Sinne des Wortes nicht »leisten«. Welche Konsequenzen für den Feriendienst sich aus der im Frühsommer 1990 längst erwarteten Wirtschafts- und Währungsunion ergeben würden, war ebenso wenig abzusehen. Eine neue Angst machte sich breit, die man in der DDR bislang nicht gekannt hatte: Die Menschen bangten beim Feriendienst um ihre 17.000 Arbeitsplätze.532 Die wichtigste, über die Existenz des Feriendienstes entscheidende Frage war daher, ob in der neuen politischen Ordnung weiterhin Subventionen für das Projekt Feriendienst fließen würden. Denn niemand wusste, wie lange der Staat, der nicht mehr von der »führenden Partei« gelenkt wurde und keine direkte Verbindung zur Gewerkschaft mehr besaß, noch zur Unterstützung bereit war.533 Zwar konnte noch im Februar 1990 davon ausgegangen werden, dass die im Jahre 1989 unter »normalen« Zuständen festgelegten Zuschüsse seitens der neuen DDRRegierung in der vollen Höhe von 534 Millionen Mark fließen würden,534 und auch die Regierung Lothar de Maizière sagte dem Feriendienst Zuschüsse von 50 Millionen Mark pro Monat zu. Doch schon im Mai 1990 kamen diese Zahlungen ins Stocken. 530 SAPMO-BArch, DY 34/26995, Beschluß des Geschäftsführenden Vorstandes vom 8. 6. 90, Nr. GV 108/90, Konzeption zur weiteren Entwicklung des Reisebüros der Gewerkschaften »Feriendienst« und zu seiner Umwandlung in eine Kapitalgesellschaft, [Anlage:] Ausgangssituation, S. 2. 531 SAPMO-BArch, DY 34/25725, Protokoll der Sitzung des Komitees zur Vorbereitung des Außerordentlichen Kongresses am 16. 12. 1989, S. 6. 532 SAPMO-BArch, DY 34/26995, Bund der IG/Gew., Protokoll über die Beratung des Bundes der IG/Gew. mit Vertretern des Reisebüros der Gewerkschaften »Feriendienst« am 18. 5. 1990, 21. 5. 1990, S. 1. 533 SAPMO-BArch, DY 34/25725, Protokoll der Sitzung des Komitees zur Vorbereitung des Außerordentlichen Kongresses am 16. 12. 1989, S. 6. 534 SAPMO-BArch, DY 34/26994, Konzeption zur Finanzierung der Ferienreisen für das Jahr 1990 [Februar 1990].
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Nachdem es immer unwahrscheinlicher wurde, mit Hilfe von staatlichen Subventionen am sozialpolitischen Charakter festhalten zu können, entstanden erstaunlich schnell eine Fülle von Ideen, wie der Feriendienst der neuen, marktwirtschaftlichen Konkurrenz begegnen könne. Vorschläge wurden entwickelt, die früher außerhalb des Denkbaren gelegen hatten: Mit Schulungen im Marketing und Personalmanagement, in der Betriebswirtschaft sowie im Steuer- und Wirtschaftsrecht sollten die Führungskräfte und die Mitarbeiter auf die Marktwirtschaft vorbereitet werden. Daneben wurde angeregt, für die Ferienheime »Nutzungskonzeptionen« zu erstellen. Änderungen im Marktverhalten sollten mit gezielter Marktforschung beobachtet, vor allem aber prognostiziert werden.535 In den Planungen war sogar ein verhaltener Optimismus zu spüren. Denn dem Feriendienst böte sich durch den politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbruch auch »ein neuer touristischer Markt«.536 Man hoffte, die DDR international als Reiseland vermarkten zu können. Stets aber blieb die Orientierung sozialpolitisch, wenngleich sich ein neues Verständnis herausbildete, das mit der Sozialpolitik der Ära Honecker nur noch wenig gemein hatte. Innerhalb weniger Monate verwandelten die Funktionäre des Feriendienstes die ideologischen Versatzstücke früherer Jahre in ein neues Konzept. Im März 1990, als der Feriendienst in das »Reisebüro der Gewerkschaften ›Feriendienst‹« umgewandelt worden war, wurde in den Grundsätzen »für die zukünftige Entwicklung« vermerkt: Das Wichtigste des Reisebüros der Gewerkschaften ›Feriendienst‹ besteht darin, daß die Mitglieder ständig spüren müssen, daß sie durch ihre Gewerkschaft Reisen erhalten, die attraktiv und preisgünstig sind, wie bei keinem anderen Erholungsträger.537
Hier wurde noch das Vokabular der vergangenen Jahre verwendet; doch schon im Dezember 1989 hatte Anton Filler, der neue Abteilungsleiter des Feriendienstes, zu neuen Worten gegriffen und ausgeführt: »Es gibt keine Alternative zum Sozialtourismus.«538 Zuvor war der Begriff »Sozialtourismus« fast ausschließlich für die Aufnahme von Urlaubern aus den kapitalistischen Ländern in den Ferienheimen des FDGB verwendet worden, weil man trotz der tatsächlichen Entwicklung des westlichen Tourismus an der alten Propaganda festhielt, dass sich die 535 SAPMO-BArch, DY 34/26995, Beschluß des Geschäftsführenden Vorstandes vom 8. 6. 90, Nr. GV 108/90, Konzeption zur weiteren Entwicklung des Reisebüros der Gewerkschaften »Feriendienst« und zu seiner Umwandlung in eine Kapitalgesellschaft, S. 3ff. 536 SAPMO-BArch, DY 34/26994, Grundsätze für die künftige Entwicklung des Reisebüros der Gewerkschaften »Feriendienst«, [Feb./März 1990]. 537 Ebd. 538 SAPMO-BArch, DY 34/25725, Protokoll der Sitzung des Komitees zur Vorbereitung des Außerordentlichen Kongresses am 16. 12. 1989, S. 6.
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Bundesbürger eine Urlaubsreise nicht leisten könnten – und deshalb auf die Unterstützung der DDR angewiesen seien. Jährlich ergingen deshalb Einladungen an die Bundesbürger, ihren Urlaub in der DDR zu verbringen.539 Nicht der Urlaub der DDR-Bürger, sondern die Aufnahme westlicher Touristen firmierte dabei, dem alten Selbstverständnis der DDR entsprechend, als »Sozialtourismus«.540 1990 hatte sich der Feriendienst jedoch von dieser Bedeutung des »Sozialtourismus« abgewandt und den Begriff auch semantisch verwestlicht. Fortan sollte der Feriendienst – trotz der Transformation in ein gewinnbringendes Unternehmen – offensiv dazu beitragen, marktwirtschaftlich bedingten Härten zu begegnen. Er sah seine Aufgabe in erster Linie darin, preiswerte Reisen für diejenigen anzubieten, die durch den Marktmechanismus an der Teilnahme am Tourismus nach westlichem Format ausgeschlossen blieben. Dem Feriendienst blieb jedoch keine Zeit, diese ambitionierten Ideen eines marktwirtschaftlich orientierten, aber doch sozialpolitisch engagierten Unternehmens in ein ausgereiftes Konzept einfließen zu lassen und umzusetzen. Letztlich scheiterte die Gründung der Feriendienst GmbH an Formfehlern. Ein Gesamtvollstreckungsverfahren, ein Konkursverfahren nach DDR-Recht, das in seinen einschlägigen Teilen auch nach der Vereinigung bestehen blieb, wurde eingeleitet.541 Zum Jahresende 1990 stellte der Feriendienst seine Arbeit ein. Nach 43 Jahren war ein Sonderweg in der deutschen Tourismusgeschichte beendet.
539 SAPMO-BArch, DY 34/4928, Abteilung Feriendienst, Sekretariatsinformation über die gewerkschaftliche Auslandstouristik im Jahre 1965, o. D., S. 8. 540 Vgl. hierzu meine Ausführungen zur Aufnahme westdeutscher Touristen in Kapitel IV.4. 541 Unabhängige Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR, Bericht an den Deutschen Bundestag, Bd. 3: Vermögen des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), 1996, S. 54 und 170.
II. Die Urlauber 1. Verteilung der Urlaubsplätze Die Möglichkeit, einen gewerkschaftlichen Ferienplatz zu bekommen, war der Satzung des FDGB entsprechend an die Mitgliedschaft in der Einheitsgewerkschaft gebunden.1 Vor Zuteilung der Reise sollte die Mitgliedschaft mindestens ein Jahr lang bestanden haben, doch gab es Ausnahmen von dieser Regel: Im Zusammenhang mit dem Vorhaben, verstärkt Frauen in den Arbeitsprozess einzubinden, genügte bei ihnen eine sechsmonatige Mitgliedschaft, sofern erstmals eine Erwerbstätigkeit aufgenommen wurde; für Lehrlinge beiderlei Geschlechts im ersten Lehrjahr bestand keine Frist.2 Zudem gab es die Möglichkeit, dass die Gewerkschaftsmitglieder im Urlaub von ihren nichterwerbstätigen und/oder nicht im FDGB organisierten Ehepartnern sowie von den eigenen Kindern begleitet wurden. Wie im Folgenden jedoch noch auszuführen ist, war der Familienurlaub beim Feriendienst in den ersten Jahren aber nicht gerne gesehen.3 Unmissverständlich heißt es in einem Beschluss des Präsidiums des FDGB, »daß endlich Schluß zu machen ist mit dem Gerede vom Mitnehmen der Angehörigen in die Ferienheime. Die Ferienplätze sind für die Gewerkschaftsmitglieder da.«4 Folgerichtig wurde für Familienangehörige ein deutlich höherer Preis berechnet. Während das werktätige FDGB-Mitglied für den zweiwöchigen Urlaub seit 1954 lediglich 30,- Mark bezahlte, waren für nichtorganisierte Lebenspartner und Kinder jeweils 75,- Mark zu entrichten.5 Sowohl die Fristenregel als auch die höheren Kosten für Angehörige waren jedoch allenfalls in den ersten Jahren von Bedeutung. Denn zum einen nahm der Organisationsgrad des FDGB ständig zu. Bereits 1977 waren 96,7 Prozent der Werktätigen in der Gewerkschaft organisiert. Die Mitgliedschaft wurde also zu 1
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Satzung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (1977), in: Statuten und Satzungen von sieben Massenorganisationen der DDR, hg. v. Gesamtdeutschen Institut, Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben, Bonn 1981 (als Manuskript vervielfältigt), S. 1–30, vor allem S. 5. Vgl. auch: Die Arbeit des Feriendienstes der Gewerkschaften. Beschluß des Sekretariats des FDGB vom 6. Oktober 1954, in: Handbuch für den Gewerkschaftsfunktionär im Betrieb, hg. v. Bundesvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, 2., verbesserte Auflage, Berlin 1955, S. 544–549, hier S. 545. Die Arbeit des Feriendienstes der Gewerkschaften, S. 545. Vgl. auch die Ausführungen in Kapitel II.3. »Der lange Weg zum Familienurlaub«. SAPMO-BArch, DY 34/26017, Protokoll der Präsidiumssitzung des Bundesvorstandes am 4. 3. 1954, Beschluss Nr. P 16/54, Feriendienst, S. 2, Bl. 3. SAPMO-BArch, DY 34/24247, Bundesvorstand. Beschluß des Sekretariats vom 17. 2. 1954, Nr. S 154/54, S. 2, Bl. 41.
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Die Urlauber
einem Kriterium, das ohnehin beinahe jeder erfüllte.6 Mehr noch: Für viele stellte das Angebot des Feriendienstes überhaupt erst den Grund dar, der Gewerkschaft beizutreten. Zum anderen wurde auch die Voraussetzung der einjährigen Mitgliedschaft relativiert, weil die Nachfrage nach Ferienreisen das Angebot stets überstieg; bis zur tatsächlichen Zuteilung eines Ferienplatzes mussten die FDGB-Mitglieder ohnehin oftmals lange Wartezeiten von mehreren Jahren in Kauf nehmen. Steigende Einkommen und eine hohe Sparquote in der DDR relativierten schließlich die deutlich höheren Kosten für nichtorganisierte Angehörige. Der Ausbau der Kapazitäten des Feriendienstes machte die rigorose Ablehnung von Familienangehörigen überflüssig; und ein verändertes Familienbild seit den 1960er-Jahren öffnete den Feriendienst auch für Kinder, wie weiter unten noch gezeigt wird.7 Weit mehr Bedeutung als diese formalen Festlegungen hatte die Einbindung des Feriendienstes in die ideologischen Grundlagen und in das politische Selbstverständnis der DDR als Arbeiterstaat. Der Dreh- und Angelpunkt aller Überlegungen zur Auswahl der Urlauber war die Orientierung an der Leistung am Arbeitsplatz und in den gesellschaftlichen Organisationen sowie die persönliche Stellung des Einzelnen zum politischen System der DDR. Wer sich auf die Regeln dieses Systems nicht einließ, wurde von der Teilnahme am Tourismus ausgeschlossen. Nicht umsonst wurde in der Satzung des FDGB festgehalten, dass die Zuteilung einer Reise nicht nur an die Mitgliedschaft, sondern auch an die ordentliche Erfüllung der »aus der Mitgliedschaft erwachsenen Verpflichtungen« gebunden war.8 Für die gesamte Zeit der Existenz der DDR galt eine Vorgabe, die schon 1954 festschrieb, was seit der Umformung des FDGB zu einer leninistischen Gewerkschaft um 1950 zur geltenden Regel geworden war: Es sollten nur solche Gewerkschaftsmitglieder für einen Urlaubsplatz ausgewählt werden, die »sich durch ihre Leistungen in der Produktion besonders ausgezeichnet und verdient gemacht haben oder durch eine sehr gute Mitarbeit in der Verwaltung, Schule usw. ein hohes Staatsbewußtsein bewiesen haben, eine besonders schwere und gesundheitsschädigende Arbeit verrichten, aus sozialen Gründen besonders zu berücksichtigen sind, als Funktionäre in den demokratischen Organisationen durch ihre Leistungen und ihren Arbeitselan ein Vorbild für die übrigen darstellen«.9 6
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Vgl. zum Organisationsgrad des FDGB: Gill, Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB), S. 321f.; vgl. auch: Dieter Dowe/Karlheinz Kuba/Manfred Wilke (Hg.), bearb. von Michael Kubina, FDGB-Lexikon. Funktion, Struktur, Kader und Entwicklung einer Massenorganisation der SED (1945–1990), Berlin 2009, sv. Mitgliederentwicklung und -struktur. Vgl. hierzu auch das Kapitel II.3. »Der lange Weg zum Familienurlaub«. Satzung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (1977), S. 5. SAPMO-BArch, DY 34/29/351/3633, Bundesvorstand des FDGB, Abteilung Feriendienst, Material für gewerkschaftliche Bildungsabende (Gewerkschaftsgruppenorganisa-
Verteilung der Urlaubsplätze
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Noch schärfer wurde die Verbindung von Arbeitsalltag, Ideologie und Urlaub bei den Kriterien für die Auswahl bei Reisen ins Ausland formuliert. Die Urlauber sollten bewiesen haben – so der stellvertretende Vorsitzende des Bundesvorstandes des FDGB, Rolf Berger –, »daß sie bewußt zur Politik der Partei und der Regierung stehen und die Sicherungsmaßnahmen an unserer Staatsgrenze jederzeit unterstützen«.10 Da der »Internationale Urlauberaustausch […] ein[en] Beitrag zur Festigung der Freundschaft zwischen den Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik und den Werktätigen der Sowjetunion und den Volksdemokratien«11 leisten sollte, sei besonderes Augenmerk darauf zu legen, nur Kollegen auszuwählen, »die durch hervorragende Arbeitsleistungen bewiesen haben, dass sie aktiv an der Schaffung der Grundlagen für den Aufbau des Sozialismus mitarbeiten«.12 Auch sollte – in Hinblick auf eine positive Außendarstellung der DDR – darauf geachtet werden, dass die Reisenden einen »einwandfreien Lebenswandel führen und in moralischer Hinsicht keine Beanstandungen vorliegen«.13 Dies galt ebenso für die Gegenwart wie auch für die Vergangenheit der DDR-Bürger. Knapp wurde festgelegt: »Ehemalige Mitglieder der SS werden nicht delegiert.«14 Ähnlich strenge Bestimmungen galten auch bei der Auswahl der Urlauber für die Reisen mit den Urlauberschiffen. Hier argumentierte man, dass die Schiffe ein »Ergebnis des Kampfes für die ständige Erhöhung der Arbeitsproduktivität in der Lösung der ökonomischen Hauptaufgabe« seien und daher die »Besten […] in Anerkennung ihrer hohen Leistungen für die Durchführung des Siebenjahrplanes von ihren Gewerkschaftskollegen ausgewählt« werden sollten.15 Zugleich wurde mit diesen Festlegungen verhindert, dass Menschen, die dem Regime kritisch gegenüberstanden, im Urlaub eine Möglichkeit zur Flucht fanden. Indem die positive Bindung an die DDR zur Bedingung für die Urlaubsreise wurde, hoffte man, dass erst gar keine Fluchtversuche stattfänden, wenn die Urlauberschiffe tion), Berlin, den 21. 12. 1954, S. 1f.; vgl. Die Arbeit des Feriendienstes der Gewerkschaften, S. 545. 10 SAPMO-BArch, DY 34/5966, Berger an alle Kreisvorstände des FDGB z. H. des Vorsitzenden, Betr.: Einweisung von Urlaubern in die 5-km-Sperrzone an der Staatsgrenze West, Berlin, den 26. 4. 1962, S. 1. 11 SAPMO-BArch, DY 34/29/509/3670, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Abt. Feriendienst und Kuren, [An alle Zentralvorstände der Industriegewerkschaften und Gewerkschaften], Betr.: Internationaler Urlauberaustausch 1957, Berlin 31. 10. 56, S. 2. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 SAPMO-BArch, DY 34/6312, Abteilung Feriendienst und Kuren, Richtlinien für die Auswahl und Verteilung der Schiffsreisen mit dem FDGB-Urlauberschiff »Völkerfreundschaft«, o.D. [1961/62].
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Die Urlauber
in kapitalistischen Hoheitsgewässern kreuzten. Aus demselben Grund bestanden schließlich auch für Reisen an die »Staatsgrenze West« bzw. in die fünf Kilometer breite Grenzzone besonders strenge Auswahlkriterien. Um jeden Fluchtversuch auszuschließen, wurde festgelegt, dass bei Jugendlichen, bei denen oft eine sehr distanzierte Haltung zur DDR vorherrschte, ein besonders strenger Maßstab anzulegen sei.16 Um die Bedeutung der genannten politischen Kriterien bei der Auswahl herauszustreichen, wurden die Namen der ausgewählten Kollegen in der Betriebszeitung sowie im Betriebsfunk – »und zwar jeweils mit der Angabe der Gründe, die für die Auswahl maßgebend sind,« – bekannt gegeben. Offiziell wollte man damit den Gewerkschaftsmitgliedern eine »allseitige Kontrolle über die Richtigkeit der Auswahl der Teilnehmer« ermöglichen und die Verteilung der Reisen demokratisch absichern.17 Doch es ist unübersehbar, dass mit diesen Maßnahmen die am gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozess orientierten Vorgaben noch einmal mit Nachdruck verdeutlicht werden sollten: als Belobigung für diejenigen, die ausgewählt, und als Ansporn gegenüber denjenigen, die bei der Vergabe nicht berücksichtigt worden waren. Berichte der zurückgekehrten Urlauber vor Kollegen des Betriebes hatten dieselbe Funktion zu erfüllen. Das positive Urlaubserlebnis anderer sollte diejenigen, die in der Verteilung nicht berücksichtigt worden waren, zum größeren Einsatz in Betrieben und politischen Organisationen bewegen – in der Hoffnung, damit selbst einmal in den Genuss einer Urlaubsreise zu kommen.18 Organisiert wurde die Verteilung der Ferienplätze durch die Abteilung Feriendienst beim Bundesvorstand des FDGB, die den jeweils niedrigeren Organisationsebenen in den Bezirken und Kreisen der Gewerkschaft die Plätze zuwies. Von dort gelangten die Ferienschecks zu den Betrieben im jeweiligen Zuständigkeitsbereich.19 Dabei kam es im Laufe der Jahre zu mehreren Veränderungen, die einmal die Zuständigkeit und Verantwortlichkeit des FDGB und seiner unmittelbaren Organisationsbereiche in den Bezirken und Kreisen betonten, ein anderes Mal jedoch die
16 SAPMO-BArch, DY 34/5966, Berger an alle Kreisvorstände des FDGB z. H. des Vorsitzenden, Betr.: Einweisung von Urlaubern in die 5-km-Sperrzone an der Staatsgrenze West, Berlin, den 26. 4. 1962, S. 1. 17 Die Arbeit des Feriendienstes der Gewerkschaften, S. 546f. 18 SAPMO-BArch, DY 34/15895, Sektor Kultur, Auszug aus dem Beschluss P 105a/63 vom 20. 6. 1963 – Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeit des Feriendienstes der Gewerkschaften, S. 1. 19 Vgl. nur SAPMO-BArch, DY 34/9751, Einige Argumentationen zum Beschluß des Sekretariats des FDGB-Bundesvorstandes zur Verteilung der FDGB-Erholungsaufenthalte für das Jahr 1970, o.D. [1969], S. 8.
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Einzelgewerkschaften mit ihren Zentral-, Bezirks- und Kreisvorständen stärkten.20 Doch am Prinzip der zentral geleiteten Verteilung der Urlaubsplätze von oben nach unten änderte sich nichts. Mit diesem Prinzip war ein großer Arbeitsaufwand verbunden. Hunderttausende Ferienschecks mussten Jahr für Jahr zentralistisch ausgestellt, verteilt und verschickt werden. Seit den 1960er-Jahren experimentierte man deshalb mit der elektronischen Datenverarbeitung, um das Verfahren der Verteilung zu vereinfachen und die politischen Zielstellungen durch die neue Technik erfüllen zu können.21 Aber erst 1976 gelang es in Teilbereichen, die EDV erfolgreich anzuwenden, als im Kreis Hettstedt der bisherige Arbeitsaufwand bei der Verteilung von zwei Wochen auf wenige Stunden reduziert werden konnte.22 Aufgrund dieser Erfahrung wurde die EDV in den folgenden Jahren verstärkt eingesetzt. Weitergehende Hoffnungen, dass durch die neue Technologie eine »bedarfsgerechtere Bereitstellung (Planung) der Kapazitäten«, vor allem aber »Einfluß auf die Nutzung der verteilten Erholungsreisen« genommen werden könne, erfüllten sich indes nicht.23 Bis zum Ende der DDR blieb die Verteilung der Ferienschecks ein äußerst arbeitsintensives Unterfangen, das mit erheblichen Schwierigkeiten, unzulänglichen Planungen und vielen Fehlern verbunden war, die dem Feriendienst immer wieder vorgeworfen wurden.24 Analog zur Orientierung der Ferienplatzvergabe an der Arbeitsleistung der FDGB-Mitglieder richtete sich die dem Betrieb zur Verfügung gestellte Zahl der Ferienplätze in erster Linie nach seiner Bedeutung in den Jahresplänen. Die Ferienschecks, die in einem bestimmten Betrieb zur Verteilung kommen sollten, wurden in »Betriebsurlaubsvereinbarungen« (BUV) festgeschrieben.25 Diese Vereinbarungen wurden im Rahmen der »Betriebskollektivverträge« (BKV) zwischen dem Betrieb und der Betriebsgewerkschaftsleitung auf der einen und dem für diesen Betrieb 20
Vgl. nur SAPMO-BArch, DY 34/4928, Vorschläge für die Lösung wichtiger Probleme des Erholungswesens, Berlin, den 18. 1. 1966, S. 1f. 21 SAPMO-BArch, DY 34/4928, FDGB-Bundesvorstand, Abteilung Feriendienst, Konzeption zur Durchsetzung der sozialistischen Rationalisierung im Bereich des Feriendienstes d. Gewerkschaften, Berlin, den 1. 9. 66, S. 2. 22 SAPMO-BArch, DY 34/15818, Sektor Verteilung, Leitungsinformation. Möglichkeiten der Anwendung der EDV bei der Aufteilung der Erholungsaufenthalte vom Kreisvorstand des FDGB auf Leitbereiche bzw. Grundorganisationen, 29. 3. 1976. 23 SAPMO-BArch, DY 34/15818, Möglichkeiten der Anwendung des EDV-Projektes »Analyse der nicht in Anspruch genommenen Erholungsaufenthalte des FDGB« ab 1. 1. 1979 [Anlage zur Leitungsvorlage des Sektors Verteilung vom 9. 11. 1978]. 24 Vgl. nur SAPMO-BArch, DY 34/29/480/3663, Bezirks-Org.-Komitee Dresden, Feriendienst der Gewerkschaften, Rechenschaftsbericht des Feriendienstes der Gewerkschaften im Lande Sachsen, o.D. [1952], S. 21f. 25 Vgl. SAPMO-BArch, DY 34/15838, Referat über die Bedeutung und die Aufgaben des Feriendienstes der Gewerkschaften 1952, S. 17.
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zuständigen übergeordneten Organ der Gewerkschaft auf der anderen Seite abgeschlossen. Auch die Ausgestaltung dieser Verträge war nachhaltig geprägt von der Stellung der Gewerkschaft im System der DDR. Die Betriebsgewerkschaftsleitungen standen Seite an Seite mit der Betriebsleitung; die Verträge stellten im Prinzip Verträge der Gewerkschaft mit sich selbst dar, in denen die Bezirks- bzw. Kreisvorstände den Betrieben eine bestimmte Zahl von Ferienplätzen zusicherten, während die Betriebsgewerkschaftsleitungen die Verantwortung für die Verteilung der Reisen in den Betrieben übernahmen. Gestaltungsspielraum für die betrieblichen Gewerkschaftsorgane gab es kaum.26 Die Größe des Betriebes bzw. die Zahl der FDGB-Mitglieder war nur ein sekundärer Faktor bei der Festlegung der Anzahl der Ferienplätze, die ein Betrieb erhielt. Gerade hier konnten die politischen Kriterien unterlaufen werden. Denn häufig wurden die Mitgliederzahlen von den Betrieben selbst gemeldet, ohne dass die Angaben von der Gewerkschaftszentrale überprüft werden konnten. Um eine größere Anzahl von Ferienplätzen zu erhalten, wurde die Zahl der FDGB-Mitglieder im Betrieb oftmals fiktiv vergrößert. Wie verbreitet dieses Vorgehen war, zeigt ein Bericht der IG Metall aus dem Jahr 1952: Laut Meldung der Betriebe gebe es ca. 1,2 Millionen organisierte Metallarbeiter, in Wirklichkeit waren es aber nur 800.000.27 Im Betrieb hatte seit 1952 die »Kommission des Feriendienstes der BGL« die Verteilung der Ferienplätze gemäß den Vorgaben der Betriebsurlaubsvereinbarung vorzunehmen. Diese Kommission, die sich innerhalb der Betriebsgewerkschaftsleitung gebildet hatte, nannte sich kurz »Feriendienstkommission«. Ihr Vorsitzender wurde als »Funktionär für Feriendienstangelegenheiten«, später auch verkürzt als »Feriendienstbeauftragter« tituliert. In der Regel handelte es sich hierbei um ein Mitglied der Betriebsgewerkschaftsleitung.28 Nach politisch-ideologischen Prinzipien, die den Grundsätzen zur Verteilung der Ferienschecks entsprachen, verteilte die Betriebsferiendienstkommission auch Zuschüsse zu den Reisekosten aus Gewerkschaftsmitteln bzw. aus dem Direktorenfonds des Betriebes, dem Fonds für besondere Aufgaben. Den Feriendienstkommissionen oblagen ferner die finanzielle Abrechnung der Ferienschecks und die Werbung. Sie waren verpflichtet, sich laufend über die Unterbringung, Verpflegung und Betreuung der Urlauber zu informieren und Maßnahmen zu ergreifen, um auftretende Mängel zu beheben. Kurzum: 26 Ein Abdruck der Rahmen-Betriebsurlaubsvereinbarung aus dem Jahr 1951 findet sich in folgender Akte: SAPMO-BArch, DY 34/20897, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Feriendienst der Gewerkschaften, Der Feriendienst und die Industriegewerkschaften, o.D., S. 2ff. Vgl. zu den Betriebskollektivverträgen: Peter Hübner, Konsens, Konflikt, Kompromiss, S. 181ff. 27 SAPMO-BArch, DY 46/464, Florstädt an Wolfgang Pietruszka, 25. 5. 52, S. 1. 28 SAPMO-BArch, DY 34/4928, Standpunkt zum Problem der Betriebserholungsheime, 15. 3. 1966, S. 1.
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Die Feriendienstkommission hatte sich um alle Belange des Feriendienstes zu kümmern.29 Obwohl ihr hierbei wenig Spielraum blieb, wurde der Feriendienst zu einem wichtigen Bestandteil der Arbeit des FDGB in den Betrieben. Denn er stellte eine der wenigen verbliebenen Möglichkeiten für die Einheitsgewerkschaft dar, tatsächlich Positives für die Mitglieder zu erreichen: In kaum einem anderen Bereich kam die Arbeit des FDGB so sehr einer Interessenvertretung gleich.30 Zugleich stellten die politischen Vorgaben und die Kriterien bei der Ferienplatzverteilung den Versuch dar, marktwirtschaftliche Mechanismen durch planwirtschaftliche, genuin politische Verteilungsmechanismen zu ersetzen. Dem westlichen Markt, der den Zugang zum Tourismus bestimmte, wurde somit in der DDR ein vermeintlich gerechter Verteilungsprozess entgegengesetzt, der sich aus der ideologischen Überzeugung der Sozialisten herleitete.31 Immer wieder wurde betont, dass alle Mitarbeiter des Feriendienstes die oben dargestellten politischen Vorgaben bei ihrer Arbeit berücksichtigen müssten und nicht nach den »Prinzipien des Reisebüros« arbeiten dürften. Es galt, die Aufgaben »gewerkschafts-politisch«, nicht aber »technisch-organisatorisch« zu lösen.32 Mit Nachdruck wurde vom Zentralvorstand des FDGB ausdrücklich »auf den untragbare[n] Zustand« hingewiesen, dass keine politisch korrekte Auswahl der Urlauber erfolge, sondern die Ferienschecks durch die Kommissionen vielerorts unter den Werktätigen verlost oder an die ersten Interessenten verkauft würden. Ein Reisebüro wolle man auf keinen Fall sein, so wurde betont, weil dieses nicht in die Vorstellung einer sozialistischen Gesellschaft passe. Das Prinzip des »Reisebüros« stand für kapitalistische, an Gewinn orientierter Wirtschaft – auch das Reisebüro der DDR musste sich im-
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SAPMO-BArch, DY 34/29/351/3633, Instruktion über die Bildung, den Aufbau und die Aufgaben der Kommission für den Feriendienst der Gewerkschaften in volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben (Beschluß des Sekretariats des Bundesvorstandes vom 15. Januar 1952) [Drucksache], S. 2f.; vgl. auch für die späten Jahre der DDR: Richtlinie für die Verteilung und Abrechnung der Erholungsaufenthalte des FDGB in den gewerkschaftlichen Grundorganisationen (Zusammenfassung der Beschlüsse des Präsidiums und des Sekretariats des Bundesvorstandes des FDGB, hg. v. Bundesvorstand des FDGB, Abteilung Finanz- und Wirtschaftsverwaltung/Abteilung Feriendienst, [Berlin] 1982. 30 SAPMO-BArch, DY 34/15838, Referat über die Bedeutung und die Aufgaben des Feriendienstes der Gewerkschaften 1952, S. 23. 31 SAPMO-BArch, DY 34/29/480/3663, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand Abt. Feriendienst, Sekt. Instrkt. [d. i. Sektor Instruktion], Bericht über den Stand der Arbeiten des Feriendienstes bei den Ind.-Gewerkschaften u. Gewerkschaften einschließlich des Standes der BUV, Berlin 10. 5. 52, S. 1. 32 SAPMO-BArch, DY 34/29/1150/5297, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund – Bundesvorstand – Abt. Feriendienst und Kuren, Präsidiumsvorlage [Entwurf !], Berlin, den 11. 8. 1959, Anlage 1, S. 2f.
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mer wieder mit den Vorwürfen auseinandersetzen, in kapitalistischer Weise nur gewinnorientiert zu arbeiten.33 Gleichwohl konnte eine effiziente und »gerechte« Verteilung der Ferienreisen nach politischen Kriterien nicht erreicht werden. Mancherorts fehlte es an Ferienplätzen, während anderswo die Plätze nicht ausgenutzt werden konnten.34 Dies führte nicht nur zu Verärgerung bei den DDR-Bürgern, es trug auch zur Herausbildung einer Vielzahl unterschiedlicher Distributionsmechanismen bei, mit denen die Bürger versuchten, die Defizite der Verteilung auszugleichen. Ein regelrechter Schwarzmarkt für Ferienschecks entstand. In vielen Betrieben wurden die Ferienplätze pragmatisch am schwarzen Brett ausgehängt35 oder verlost.36 Die niedrigeren Organisationsebenen der Gewerkschaft ließen es zu oder beförderten es, dass die Betriebe die Reisen untereinander im Einvernehmen verteilten, ohne dabei ihre Bedeutung im Rahmen der Wirtschaftspläne zu beachten.37 Zudem entstand ein »schwunghafter Handel« mit Ferienreisen, so die »Analyse über die Vorbereitung, Durchführung und Ergebnisse des Feriendienstes der Sommerreisezeit 1953«, die die Gewerkschaft Verwaltung, Banken, Versicherungen erstellte. Dem Kollegen H., Mitarbeiter beim Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, sei es beispielsweise gelungen, 59 Urlaubsplätze für die begehrten Monate Juli und August von der IG Chemie und der Gewerkschaft Land und Forst zu erstehen, um sie – freilich gewinnbringend – weiterzuverkaufen oder gegen andere begehrte Waren einzutauschen.38 Andere Einzelgewerkschaften verkauften die ihnen zugeteilten Ferienschecks über das Städtische Verkehrsbüro oder boten sie wie die IG Eisenbahn an Schaltern auf Bahnhöfen an. Die Warnowwerft annoncierte ihre Ferien33
SAPMO-BArch, DY 34/29/480/3663, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Gewerkschaft Kunst, Zentralvorstand, Arbeit und Sozialpolitik, Feriendienst, Analyse über die Arbeit des Feriendienstes der Gewerkschaft Kunst für die Sommersaison 1953, [o.D.], S. 2. 34 SAPMO-BArch, DY 34/20896, Vorlage für die 33. Sekretariatssitzung [von der] Abteilung Feriendienst beim Bundesvorstand des FDGB, Berlin, den 5. August 1949: ReorganisationsPlan der Abt. Feriendienst beim Bundesvorstand, S. 7. 35 SAPMO-BArch, DY 34/26086, Bericht über den bisherigen Verlauf der Reisesaison [Anlage 1 zur Präsidiumsvorlage für die Sitzung am 7. 9. 1959], Berlin, 24. August 1959, S. 2, Bl. 76. 36 SAPMO-BArch, DY 34/29/419/3649, Herbert Warnke, Vorsitzender des FDGB, an Karl Richardt, Zentralvorstand der IG Post und Fernmeldewesen, 24. März 1955. 37 SAPMO-BArch, DY 34/29/1150/5297, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund – Bundesvorstand – Abt. Feriendienst und Kuren, Präsidiumsvorlage. Entwurf !, Berlin, den 11. 8. 1959, Anlage 1, S. 4. 38 SAPMO-BArch, DY 34/29/480/3663, Analyse über die Vorbereitung, Durchführung und Ergebnisse des Feriendienstes der Sommerreisezeit 1953 [Gewerkschaft Verwaltung, Banken, Versicherungen; o.D.; das Anschreiben, mit dem die Analyse an den Bundesvorstand des FDGB gesandt wurde, ist datiert auf den 15. 7. 1953], S. 12.
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plätze in der Zeitung. Die Betriebsgewerkschaftsleitung des Finanzministeriums in Berlin schließlich klagte darüber, dass dieser Ferienscheckschwarzmarkt nicht nur den geregelten Ablauf des Feriendienstes störe, sondern auch den Arbeitsalltag im Ministerium behindere, weil »die Kollegen unter allen möglichen Vorwänden fortlaufend das Haus verlassen, um bei anderen Zentralvorständen, IG und Gewerkschaften Urlauberschecks für die Monate Juli und August einzukaufen«.39 So sehr aber der FDGB versuchte, gegen diese Entwicklung des schwarzen Marktes vorzugehen, indem er den politischen Charakter des Feriendienstes betonte, so trug er doch selbst maßgeblich zum Wandel des Feriendienstes in ein Reisebüro bei. Dies fand deutlichen Ausdruck in den sogenannten Verkaufs- bzw. Vermittlungsstellen, die man bereits Anfang der 1950er-Jahre einrichtete. Sie sollten – Plänen aus den späten 1940er-Jahren entsprechend – aus »werbetechnischen Gründen« an »verkehrsgünstigen Punkten« in den Bezirks- und Kreisstädten liegen. Ihre Aufgabe bestand vor allem darin, Ferienschecks, die in den Betrieben nicht abzusetzen waren, an Interessierte aus anderen Betrieben zu verkaufen und somit den Friktionen entgegenzuwirken, die durch die direktive Verteilung der Ferienplätze entstanden.40 Schnell zeigte sich, dass in diesen Verkaufsstellen vor allem Angestellte und Angehörige der Intelligenz Ferienreisen erstanden, während die Arbeiter, die eigentliche Zielgruppe des FDGB, nur selten davon Gebrauch machten.41 Daher wurden die Verkaufsstellen bereits 1951 wieder aufgelöst,42 um erst in den 1960erJahren im Zuge der Reformen und der Rationalisierung unter dem Namen »Vermittlungsstellen« erneut belebt zu werden.43 Wie ihre Vorgänger fassten die Vermittlungsstellen die von den Grundorganisationen der Gewerkschaft nicht benötigten oder zurückgegebenen Ferienschecks zusammen. Sie sollten diese verfügbaren Ferienplätze jedoch nicht mehr an Einzelpersonen verkaufen, sondern an andere interessierte Gewerkschaftsorganisationen vermitteln. Dessen ungeachtet 39
SAPMO-BArch, DY 41/75, Unterlage für den Kollegen Molwitz zur Besprechung am 11. 4. 1956 mit dem Kollegen Herbert Warnke, Betr.: Feriendienst, Berlin, den 3. April 1956, S. 2 und 13. 40 SAPMO-BArch, DY 34/20896, Vorlage für die 33. Sekretariatssitzung [von der] Abteilung Feriendienst beim Bundesvorstand des FDGB, Berlin, den 5. August 1949: ReorganisationsPlan der Abt. Feriendienst beim Bundesvorstand, S. 7. 41 SAPMO-BArch, DY 34/29/480/3663, Bezirks-Org.-Komitee Dresden, Feriendienst der Gewerkschaften, Rechenschaftsbericht des Feriendienstes der Gewerkschaften im Lande Sachsen, o.D. [1952], S. 17. 42 SAPMO-BArch, DY 34/20896, Arbeitsprogramm des Feriendienstes der Gewerkschaften, 5. April 1951, S. 12. 43 SAPMO-BArch, DY 34/5966, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Abt. Feriendienst, Richtlinie über die Arbeit der Zentralen Vermittlungsstellen, Berlin, den 20. 2. 1967.
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konnten die Vermittlungsstellen jedoch weitgehend unbehelligt zu »Verkaufsbüros für Ferienschecks« werden.44 Wenngleich diese Stellen nur einen kleinen Bruchteil der zur Verfügung stehenden Ferienreisen vertrieben, stellten sie doch ein wichtiges Element in der Entwicklung des Feriendienstes zum »sozialistischen Neckermann« dar, die sich in den 1960er-Jahren deutlich abzeichnete. Für viele DDRBürger stellten der Feriendienst und die betrieblichen Feriendienstkommissionen seit den 1960er-Jahren nur noch ein »Reisebüro« dar. De facto traten die politischen Auswahlkriterien im Zeitverlauf mit den wachsenden Ferienplatzkapazitäten immer mehr in den Hintergrund. 2. Arbeiter auf Reisen. Ideologie und Wirklichkeit Wie bereits deutlich geworden ist, war in der DDR auch im Zusammenhang mit Urlaub und Erholung die »Arbeiterklasse« die zentrale Denkfigur. Die SED versuchte, als sozialistische Partei ihren Herrschaftsanspruch zu legitimieren, indem sie sich als Partei der »Arbeiterklasse« begriff und dem neuen System als »Arbeiterund Bauern-Staat« historischen Sinn verlieh. Folgerichtig wurden die Arbeiter auch für den Tourismus als eigentliche Zielgruppe auserkoren, weil sie im »ArbeiterStaat« das Kernstück sozialistischer Ideologie darstellten.45 So sehr sich die SED auf ihre Rolle als Führer der Arbeiterklasse berief, stand sie dabei aber doch von Beginn an vor dem Problem, dass sich die Nachkriegsgesellschaft kaum mehr mit den Kategorien der Klassengesellschaft beschreiben ließ, weil als Folge des Krieges »fast überall die alte konfessionelle, soziale und kulturelle Segregation beseitigt und schließlich eine stark nivellierte ›Notgesellschaft‹« entstanden war.46 Ein genauer Blick auf den Charakter der »Arbeiterklasse« hätte zweifelsohne »die als selbstverständlich postulierte Legitimation in Frage stellen können«.47 Die SED sah sich daher veranlasst, wie Peter Hübner hervorhebt, »den eigenen politischen Ansprüchen, die sie mit der These von einer historischen Mission der Arbeiterklasse zu legitimieren suchte, durch eine entsprechende In-
44 SAPMO-BArch, DY 34/15860, Abt. Feriendienst. Sektor Verteilung, Vorlage für die Leitungsberatung am 11. 2. 1980. Betr.: Herbeiführung eines Beschlusses des Sekretariats des Bundesvorstandes des FDGB für eine Richtlinie über »Maßnahmen zur besseren Nutzung der Erholungsaufenthalte«, Berlin, 7. 2. 1980, S. 2. 45 Vgl. zur Ideologisierung des Feriendienstes auch die Ausführungen im ersten Teil des Buches. 46 Martin Broszat/Klaus-Dietmar Henke/Hans Woller, Einleitung, in: dies. (Hg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1988, S. XXV. 47 Kleßmann, Die stilisierte Klasse, S. 28.
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szenierung dieser Arbeiterklasse Nachdruck zu verleihen«.48 In der DDR wurde der stets wiederkehrende Topos des »Arbeiters auf Reisen« zum Bestandteil der »selbstlegitimatorische[n] Inszenierung ihres Gesellschaftsmodells« (vgl. Abbildung 25).49 Hierbei handelte es sich freilich um eine hochgradig ideologisierte Besetzung des reisenden Arbeiters, in der sich die konkreten Menschen nicht wiederfanden. Denn angesichts der katastrophalen Lage in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg erschien der auserkorenen Zielgruppe der Urlaub auf recht »eigen-sinnige« Weise als unsinnig. Und so zeigte sich, »dass die Ferienorte weniger von den unmittelbar mit der Produktion in Verbindung stehenden Kollegen aufgesucht wurden, sondern dass überwiegend Angestellte von der Einrichtung des Feriendienstes Gebrauch machten«.50 Nicht einmal ein Drittel der Urlauber im Jahre 1949 stammte nach einem Bericht des FDGB-Feriendienstes für das Land Sachsen aus der Arbeiterschaft. Arbeiter waren nur mit 28,5 Prozent der Urlauberschaft vertreten, während die Angestellten mit 45,7 Prozent die weitaus stärkere Gruppe darstellten. Doch nicht allein diese Momentaufnahme beunruhigte die Funktionäre des FDGB, die sich dem »Arbeiter- und Bauernstaat« verpflichtet fühlten; auch die Tatsache, dass die Angestellten in weitaus größerem Maße als die Arbeiter von den Wachstumsraten des Feriendienstes profitierten und der prozentuale Arbeiteranteil dadurch noch weiter absank, ließ den Zustand in den frühen 1950er-Jahren für die Funktionäre des FDGB als »äusserst unbefriedigend« erscheinen.51 »Manche Ferienorte unserer Republik sehen zur Urlaubszeit noch so aus, als habe die demokratische Umwälzung diese Orte noch nicht erreicht«, erklärte Herbert Warnke auf dem 3. FDGB-Kongress 1950.52 Der geringe Arbeiteranteil stellte damit aus Sicht des FDGB das ganze Projekt des Feriendienstes in Frage.
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Peter Hübner, Arbeiterklasse als Inszenierung? Arbeiter und Gesellschaftspolitik in der SBZ/ DDR, in: Richard Bessel/Ralph Jessen (Hg.), Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996, S. 199–223, hier S. 204. Kleßmann nahm den Faden im bereits zitierten Aufsatz auf und sprach von der »Stilisierung der Arbeiterklasse« (Kleßmann, Die stilisierte Klasse). Vgl. Peter Hübner/Christoph Kleßmann/Klaus Tenfelde (Hg.), Arbeiter im Staatssozialismus. Ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit (Zeithistorische Studien, Bd. 31), Köln/Weimar/Wien 2005. So Hübner, Arbeiterklasse als Inszenierung, S. 219. SAPMO-BArch, DY 34/20897, Der Feriendienst der Gewerkschaften und seine Aufgaben, 30. Oktober 1951, S. 3. SAPMO-BArch, DY 34/20896, Der Feriendienst des FDGB. Seine Entwicklung, sein Zustand und die zur Verbesserung der Leistungen notwendigen Massnahmen [1950], S. 4. Protokoll des 3. Kongresses des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, S. 98.
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25 Plakat aus den 1950er-Jahren (Deutsches Historisches Museum, Inv.-Nr.: P 90/7861)
Es gab mehrere Gründe für den geringen Arbeiteranteil. Das begann bereits mit den »Schwierigkeiten, die Werktätigen dafür zu gewinnen, ihren Urlaub in einem Ferienheim zu verbringen«.53 Die Arbeiter waren angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Lage nach dem Zweiten Weltkrieg mit »Durchhalten« und »Durchkommen« beschäftigt;54 ihre Sorgen lagen gänzlich im alltäglichen Bereich.55 Die Urlaubstage mussten nicht selten dazu genutzt werden, um Nahrungsmittel, Brennstoff oder Kleidung zu erwerben.56 Die vom FDGB oft beklagte »örtliche Bindung« der Arbeiter, die sie vom Reisen abhalten würde, bezog sich dabei gerade auch auf Schrebergärten und Kleintierzucht, die infolge der schlechten Versorgungslage in 53 54 55 56
SAPMO-BArch, DY 34/20896, Der Feriendienst des FDGB. Seine Entwicklung, sein Zustand und die zur Verbesserung der Leistungen notwendigen Massnahmen [1950], S. 4. Peter Hübner, »Durchhalten« und »Durchkommen«. Niederlausitzer Industriearbeiter im Jahre 1945, in: Werner Stang (Hg.), Brandenburg im Jahre 1945, Potsdam 1995, S. 136–166. Kleßmann, Stilisierte Klasse, S. 59. Anton Filler, Die Entwicklung des Feriendienstes der Gewerkschaften, S. 28.
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der SBZ/DDR wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg eine wesentliche Quelle für Nahrungsmittel darstellten.57 Wer auf eigenständig angebautes Gemüse und Kleintierzucht für die Ernährung angewiesen war, ließ seinen Kleingarten ungern für eine zweiwöchige Reise allein; er verzichtete bereitwillig darauf, in den Urlaub zu fahren. Auch waren selbst für eine Urlaubsreise, die vom »Arbeiter- und Bauernstaat« bzw. der »Massenorganisation der Werktätigen«, dem FDGB, organisiert wurde, in finanzieller Hinsicht anfangs noch »verhältnismässig hohe Aufwendungen«58 notwendig, die ein Arbeiter selten aufbringen konnte. 1950 kostete die Reise mit dem Feriendienst 75,- Mark.59 »Ein Arbeiter, der mit einem Wochenlohn von DM 35,- bis DM 40,- nach Hause geht, ist nicht in der Lage, einen Urlaubsplatz durch den FDGB in Anspruch zu nehmen«,60 heißt es in einem Informationsmaterial des FDGB. Um die finanziellen Belastungen zu mildern, wurden zunächst umfangreiche, am Einkommen orientierte Zuschüsse zu den Reisen gewährt. Infolge der Instrumentalisierung des Urlaubs wurde im Jahr 1951 bei insgesamt 10.000 Reisen für »anerkannte Aktivisten« ein Zuschuss von 100,- Mark und bei 90.000 Reisen ein Zuschuss von 50,- Mark gewährt. Der Zuschuss wurde auf Vorschlag der Betriebsgewerkschaftsleitung vergeben und »in den Betriebs- bezw. Abteilungsversammlungen zur Diskussion gestellt«.61 In diesen Diskussionen sollte zum Ausdruck kommen, »daß die Inanspruchnahme von Urlaubsplätzen, Zuschüssen und Ermäßigungen eine Auszeichnung bedeutet«.62 Immer gelte: »Zerschlagung des Argumentes, dass die finanzielle Frage die Ursache für die Ablehnung von Ferienreisen ist. Beweisen, dass es darum geht, die Erhaltung der Arbeitskraft zur Erfüllung der Produktionsaufgaben zu sichern, und die Hauptfrage der Gewerkschaften, die Sorge um den Menschen, zu erkennen.«63 57
SAPMO-BArch, DY 34/20896, Der Feriendienst des FDGB. Seine Entwicklung, sein Zustand und die zur Verbesserung der Leistungen notwendigen Massnahmen, [1950], S. 4. Vgl. zur Bedeutung der Kleingärten für die Versorgungslage: Kleßmann, Doppelte Staatsgründung, S. 81f. 58 SAPMO-BArch, DY 34/20896, Der Feriendienst des FDGB. Seine Entwicklung, sein Zustand und die zur Verbesserung der Leistungen notwendigen Massnahmen [1950], S. 4. 59 SAPMO-BArch, DY 34/29/1150/5297, Abt. Feriendienst u. Kuren – Sektor Medizin –, Vorschlag für die Reduzierung der kostenlosen Erholungsaufenthalte, Berlin, am 1. März 1958. 60 SAPMO-BArch, DY 34/20896, Informationsmaterial über den FDGB-Feriendienst, 5. Juni 1950, S. 3. 61 SAPMO-BArch, DY 34/20896, Informations-Material über den Feriendienst des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, 3. Januar 1951, S. 6. 62 SAPMO-BArch, DY 34/20896, Arbeitsprogramm des Feriendienstes der Gewerkschaften, 5. April 1951, S. 4. 63 SAPMO-BArch, DY 34/20896, Entwurf. Betr.: Vorschläge zur Verbesserung der Arbeit im Jahre 1952, 17. September 1951, S. 1.
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Nach dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 wurden die Preise allerdings gesenkt: Seit 1954 waren für einen vierzehntägigen Erholungsaufenthalt für ein Gewerkschaftsmitglied pauschal 30,- Mark zu entrichten, nichtorganisierte Lebenspartner und Kinder zahlten 75,- Mark.64 Auch in dieser Preisgestaltung zeigt sich erneut die Schwerpunktsetzung des Feriendienstes auf den »Arbeiter«. Doch noch immer fehlte es an Traditionen des Reisens in der Arbeiterschaft. Zwar hatten die ersten gewerkschaftlich organisierten Reisen in den 1920er-Jahren und die sogenannte NS-Gemeinschaft »Kraft durch Freude« im nationalsozialistischen Deutschland erstmals Arbeitern im größeren Ausmaß das Reisen ermöglicht, doch konnten sie nicht die Tradition stiften, »sich eine Urlaubsreise als ein besonderes Ziel zu setzen«.65 Außerdem verspürten die gerade aus dem Krieg und der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten Männer zunächst wenig Verlangen nach Ortsveränderung.66 Die wirtschaftliche Lage, die verhältnismäßig hohen Preise und die fehlende Tradition begründeten die Zurückhaltung der auserkorenen Zielgruppe und relativierten die Behauptung, dass der Feriendienst die größte Errungenschaft des Arbeiter- und Bauernstaates sei. Auch die Legitimation der DDR als »Arbeiterstaat« war gefährdet. Seit 1950 wurde deshalb eine umfangreiche Werbekampagne zur »Popularisierung« des Feriendienstes durchgeführt, um die Arbeiter von der Notwendigkeit und Bezahlbarkeit einer Urlaubsreise zu überzeugen sowie die Tradition der Urlaubsreise zu stiften. Im Arbeitsprogramm des Jahres 1951 hieß es: Durch eine gute politische Propaganda, die in die Betriebe gelangt, durch Ausnutzung aller Möglichkeiten wie Film, Plakate, Fotos, Broschüren, insbesondere aber durch die guten Eindrücke, die der Arbeiter im Urlaub empfängt, müssen alle jene Einflüsse beseitigt werden, die sich aus der Tatsache ergeben, daß der Arbeiter keine Tradition auf diesem Gebiet hat, daß er oftmals noch zu sehr an seinem Schrebergarten hängt und die Bedeutung des Urlaubs als vorbeugenden Gesundheitsschutz noch nicht erkannt wird.67
Unter »Ausnutzung aller Werbemöglichkeiten in den Betrieben, Wandzeitung, Betriebsfunk, usw.«68 sollten die Werktätigen »individuell am Arbeitsplatz von der
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Vgl. die Ausführungen des Bundesvorstandes, SAPMO-BArch, DY 34/24247, Bundesvorstand. Beschluß des Sekretariats vom 17. 2. 1954, Nr. S 154/54, S. 2, Bl. 41. 65 SAPMO-BArch, DY 34/20896, Der Feriendienst des FDGB. Seine Entwicklung, sein Zustand und die zur Verbesserung der Leistungen notwendigen Massnahmen [1950], S. 5. 66 Anton Filler, Die Entwicklung des Feriendienstes der Gewerkschaften, S. 28. 67 SAPMO-BArch, DY 3420896, Arbeitsprogramm des Feriendienstes der Gewerkschaften, 5. April 1951, S. 12. 68 Ebd., S. 21f.
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Möglichkeit einer Erholungsreise« überzeugt werden.69 Auch mit Sonderaktionen und Urlaubertransporten sollte den Arbeitern das Reisen schmackhaft gemacht werden. So organisierte der Feriendienst des FDGB erstmals im September 1950 »einen geschlossenen Urlaubertransport aus Mittel-Deutschland (Raum Halle, Leipzig, Gera) an die Ostsee« und »einen geschlossenen Transport aus Mecklenburg in ein Urlaubsgebiet nach Thüringen«. Mit einem Pauschalpreis von 35,- Mark für den vierzehntägigen Ferienaufenthalt einschließlich Fahrt, Kurtaxe und Pension waren diese Reisen im Vergleich mit regulären FDGB-Erholungsaufenthalten sehr günstig.70 Weitere Aktionen folgten und wurden durch »besondere Propaganda- und Aufklärungs-Kampagnen über die Bedeutung solcher Urlaubsreisen« begleitet – nun unter den Losungen »Sächsische Arbeiter an die Ostsee« oder »Mecklenburger Arbeiter in den Thüringer Wald«.71 Die »Popularisierung« des Reisens, die den Arbeiter zur Urlaubsreise bewegen sollte, zeigte anfänglich jedoch nur zögerlich Erfolg. Trotz der breit angelegten Werbung gelang es auch weiterhin nicht immer, alle Ferienplätze, die ein Betrieb erhalten hatte, zu belegen. Man trug daher den Betriebsgewerkschaftsleitungen bzw. den 1952 eingesetzten Feriendienstkommissionen auf, sich besonders um den Arbeiter zu bemühen. Vielerorts kam die direkte Ansprache durch die betrieblichen Gewerkschaftsfunktionäre hinzu. Man ging von Maschine zu Maschine, heißt es in einem Bericht der Kammgarnspinnerei Schedewitz in Sachsen: »Oft recht eindringlich mussten wir mit den Kollegen diskutieren, bis sie unsere gutgemeinten Vorschläge aufnahmen.«72 Festzustellen ist, dass die Maßnahmen zur Popularisierung des Reisens weit über reine Werbekampagnen für den Feriendienst hinausgingen. Sie sollten einen Beitrag zur Herausbildung der Kulturtechnik des Reisens bei den kaum erfahrenen Arbeitern leisten. Der in der Einleitung zitierte Bericht der IG Chemie über das 16-jährige Mädchen, das erstmals eine Reise antritt, gibt dafür ein eindringliches Zeugnis. Das Mädchen war noch niemals mit der Bahn verreist, es hatte auch noch nie das Meer gesehen. Deshalb erhielt sie nicht nur Taschengeld und die notwendigen Utensilien für die Reise (Kleid, Umhängetasche und Geldbörse). In langen Gesprächen wurde dem Mädchen auch erklärt, »wie man die 14 Tage Urlaub am 69 70 71 72
SAPMO-BArch, DY 34/20897, Der Feriendienst und die Industriegewerkschaften [o.D.], S. 6. SAPMO-BArch, DY 34/20896, Informationsmaterial über den FDGB-Feriendienst, 5. Juni 1950, S. 4. SAPMO-BArch, DY 34/20896, Der Feriendienst des FDGB. Seine Entwicklung, sein Zustand und die zur Verbesserung der Leistungen notwendigen Massnahmen [1950], S. 6. Der Bericht findet sich in folgender Akte: SAPMO-BArch, DY 34/15838, Referat über die Bedeutung und die Aufgaben des Feriendienstes der Gewerkschaften 1952 [ohne Hinweis auf Autorenschaft oder den Anlass], S. 13.
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Strand verbringt«.73 In den Schriften, die für den Urlaub warben, wurden regelmäßig Tipps gegeben, wie man sich im Urlaub verhalten sollte und was beispielsweise beim Baden im Meer zu beachten sei (Abbildung 26).
26 Hinweise für das Verhalten am Meer (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund [Hg.], Erholungsaufenthalte zu allen Jahreszeiten, Berlin 1954, S. 88–89)
Die Kulturtechnik des Reisens – vom Bahnfahren bis zum Baden – wurde erst in späteren Jahren zur vertrauten Selbstverständlichkeit, als mit der verbesserten wirtschaftlichen Lage die Gesellschaft der DDR reisefreudiger wurde. Zugleich verlor der Arbeiter seine zentrale Stellung in der Arbeit des Feriendienstes. In den Quellen der 1960er-Jahre trat der Begriff des »Arbeiters« zurück und wurde im zunehmenden Maße durch den Begriff des »Werktätigen« substituiert. Letztendlich wurde mit dieser begrifflichen Verschiebung die Grundlage für den Massentourismus in der DDR gelegt. Denn der Begriff des Werktätigen umfasste nahezu jeden Bürger in der DDR. Als unter Erich Honecker die in den 1960er-Jahren in den Hintergrund gedrängte Klassentheorie erneut belebt wurde, 73
SAPMO-BArch, DY 34/29/480/3663, Industriegewerkschaft Chemie, Feriendienst. Sekretariatsvorlage. Betr. Analyse der Abtlg. Feriendienst aus der Sommersaison 1952, Berlin, den 9. Oktober 1952, S. 4; vgl. auch die Einleitung dieses Buches.
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kehrte auch der privilegierte »Arbeiter« in die Sprache der FDGB-FeriendienstFunktionäre zurück. Gleichwohl blieben diese Formulierungen inhaltsleer. Die Tendenz zum schichtübergreifenden Massentourismus, die sich in den 1960erJahren abzeichnete, konnte mit der Rede vom Arbeiter nicht mehr zurückgenommen werden. Gerade weil die DDR den Massentourismus seit den 1960er-Jahren förderte, wurde man die Geister, die gerufen worden waren, in den folgenden Jahren nicht mehr los. Je mehr sich die Menschen für das Reisen begeisterten, desto weniger entsprachen sie dem Topos des »sozialistischen Menschen«. Sie wurden zu Massentouristen, die sich als Ikonen des Arbeiter- und Bauernstaates recht wenig eigneten. 3. Der lange Weg zum Familienurlaub Die Konzentration auf die Arbeiter, die in den Genuss der Urlaubsreise kommen sollten, machte den Urlaub in den ersten Nachkriegsjahren zu einer exklusiven Veranstaltung, von der Menschen, die nicht zu den Arbeitern gezählt wurden, ausgeschlossen blieben. Die Vorstellungen der Feriendienstfunktionäre zielten gänzlich auf den im FDGB organisierten, männlichen Arbeiter. Besonders in puncto Familienurlaub führte diese Entwicklung zu teils kuriosen Effekten. Denn der Fokus auf die Arbeiter hatte sowohl eine geschlechtsspezifische Komponente, weil in den ersten Jahren der DDR vorwiegend der Mann werktätig war, als auch einen Generationsaspekt, da Kinder freilich nicht zu den Werktätigen zählten. Der gemeinsame Urlaub eines Ehepaares mit nur einem werktätigen Partner war formal zwar möglich, wurde aber ungern gesehen. Die IG Metall stellte 1952 fest, allein 40.000 Metallarbeiter könnten mehr verreisen, wenn die Urlauber »ihre Forderung an Reisen für Ehegatten, Kinder, Eltern und Verwandte« – gemeint sind nichtwerktätige Familienangehörige – »etwas abschwächen würden«.74 Für die Kinder war im wahrsten Sinne des Wortes kein Platz am Urlaubsort, auch wenn die Propaganda in den 1950er-Jahren gerne und oft Kinder in den Mittelpunkt rückte (Abbildung 27).
74
SAPMO-BArch, DY 46/464, Florstädt an Wolfgang Pietruszka, 25. 5. 1952.
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Die Urlauber
27 Familienglück am Ostseestrand (Manfred Schindler, Freude, Frohsinn, glückliche Menschen, S. 44)
Von Anfang an gab es nur sehr wenige reguläre Kinder- oder Familienferienplätze in den FDGB-Ferienheimen. Dabei waren es nicht nur ökonomische Gründe, die aus Sicht der Funktionäre gegen den Familienurlaub sprachen. Auch in politischer und ideologischer Hinsicht war er nicht erwünscht. Denn unverkennbar stand diese Ablehnung im diametralen Gegensatz zu den Vorstellungen vom »Familienglück«, die für den bürgerlichen Tourismus der vorhergehenden 150 Jahre eine zentrale Rolle gespielt hatten, wie Hasso Spode zeigt: »Die abgeschottete Intimität der bürgerlichen Familie, ihre Funktion als letzter Ort der Gefühle, als Gegenbild zum rationalen Getriebe der Außenwelt, konnte nur in der gemeinsam verbrachten Freizeit zum Tragen kommen.«75 Der Urlaub, schreibt Spode, sei zu jenem Lebensbereich geworden, »wo sich das Ideal der modernen Kleinfamilie am reinsten darstellen ließ«.76 Spode spekuliert sogar, dass sich die Lebensform der Familie ohne die Institution des Urlaubs nicht als »modellhaft« durchgesetzt hätte.77
75 Spode, Wie die Deutschen »Reiseweltmeister« wurden, S. 73f. 76 Ebd. 77 Ebd.
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Während sich in der Bundesrepublik diese Tradition mit den ausgeprägten Familienreisen der Bundesbürger fortsetzte, stand in der frühen DDR die Vernachlässigung des Familienurlaubs in bewusster Abgrenzung zu dieser Tradition und stellte so zugleich eine Negation des Bürgerlichen schlechthin dar. Die Begründung dafür, dass der Familienurlaub nicht in die Konzeption des sozialistischen Urlaubs einzufügen sei, lieferte der Leiter der Abteilung Feriendienst, Gienger, in einer für die 1950er-Jahre sehr charakteristischen Weise im Entwurf für einen Zeitschriftenaufsatz. Dort fragte Gienger: »Gehören Kinder mit zur Familie?« und antwortete selbst: »Selbstverständlich werden alle Väter und Mütter – und das mit Recht – diese Frage bejahen.«78 Die Deutlichkeit aber, mit der Gienger diese Selbstverständlichkeit unterstreicht, lässt bereits Einwände vermuten. Und tatsächlich fährt er mit der Frage fort: »Gehören unsere Kinder aber unbedingt zur grossen Gemeinschaft unserer Urlauber in den Ferienheimen, die sich bei jeder Belegung nach kürzerer oder längerer Zeit bildet?« Zunächst argumentiert Gienger ausweichend: »[D]iese Antwort sollen unsere Urlauber selbst geben.« Unter Berufung auf nicht näher genannte Berichte von Urlaubern aber entfaltet er im Folgenden einmal mehr die Vorstellung des Ferienheimes als Ort der sozialistischen Vergemeinschaftung der Werktätigen, in der Kinder lediglich als Störfaktor erscheinen. Die werktätigen Urlauber würden nämlich beklagen, so Gienger weiter, dass durch die Anwesenheit der vielen Kinder »eine wirkliche Erholung nicht gewährleistet« sei: Besonders, wenn das Wetter ungünstig ist und alle Urlauber sich im Heim selbst aufhalten müssen, werden die Kinder oftmals zur Plage. Unsere Kinder sind nicht so ruhebedürftig und wollen vor allem möglichst viel Neues sehen und erleben, wollen spielen und herumtollen und stören oftmals unsere erwachsenen Urlauber, wenn sie ein Buch lesen, Schachspielen, ein Tischtenniswettspiel austragen oder sich mit anderen Urlaubern über die mannigfachen Probleme unterhalten. Auch wenn Kulturveranstaltungen, Wanderungen, Omnibusfahrten usw. durchgeführt werden, machen sich Kinder oftmals störend bemerkbar.
Die gewiss vorhandene grundlegende Spannung zwischen dem Ruhebedürfnis der Erwachsenen und dem Spielbedürfnis der Kinder wurde also im Einklang mit der Konzentration auf die Werktätigen allein durch den Ausschluss der Kinder zu lösen versucht. Damit verband sich für die Planer zugleich ein weiterer Vorteil hinsichtlich der Kapazitäten, »denn«, so Gienger, »jeder Urlaubsscheck, der für ein Kind genutzt wird und nicht als Kinderurlaubsscheck gekennzeichnet ist, nimmt einem erwachsenen Urlauber den Platz weg«. 78
Hier und im Folgenden; Gienger, »Gehören Kinder mit zur Familie?«, o.D., S. 1, SAPMOBArch, DY 34/15838.
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Die Urlauber
Gienger betonte natürlich zugleich, dass »wir kein Feind der Kinder sind«. So wie man sich um den Erholungsaufenthalt der Erwachsenen bemühe, hätten Regierung, FDGB und Betriebe auch zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um mit Tagesstätten und Ferienlagern den Kindern »angenehme und frohe Urlaubstage zu ermöglichen«. Gienger empfahl allen Urlaubern, von diesen »fortschrittlichen« Einrichtungen Gebrauch zu machen und ihre Kinder dort hinzuschicken. Zur Bestätigung zitierte er aus der Betriebszeitung der Leuna-Werke: […] aber haben Sie sich schon einmal überlegt[,] was die Regierung für die Kinder getan hat, müssen dann nun auf Kosten der Arbeiter auch noch die anderen Ferienreisen in Anspruch genommen werden? Stellt einmal die Frage an Eure Kinder, sie werden mit wenigen Ausnahmen antworten, nein, das wollen wir nicht, wir wollen unter uns sein und den Arbeitern nicht die Ferienreisen wegnehmen!79
Der Vorstellung von der sozialistischen Gemeinschaft der Werktätigen folgend, die sich am Urlaubsort konstituierte, sollte die Familie zwar nicht aufgehoben, aber für die Zeit des Urlaubs ausgesetzt werden. Dies entsprach den Grundtendenzen der »Familienpolitik« der DDR in den 1950er-Jahren, die vor allem darauf abzielten, den Anteil der Frauenerwerbsarbeit zu steigern.80 Neben dieser wirtschaftlichen Notwendigkeit glaubte die SED – in der Tradition marxistisch-leninistischer Gleichberechtigungskonzeptionen stehend –, über die Erwerbstätigkeit auch die Emanzipation der Frau zu erreichen.81 79 80
81
Ebd., S. 2. Vgl. auch die Ausführungen zum Kinder- und Jugendurlaub in diesem Buch. Ein geschlossenes und einheitliches Politikkonzept hinsichtlich des Umgangs mit Familien bildete sich jedoch nicht. Vgl. Gesine Obertreis, Familienpolitik in der DDR 1945–1980 (Forschungstexte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Bd. 17), Opladen 1986, S. 31ff.; Gisela Helwig, Frauen im SED-Staat, in: Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hg. v. Deutschen Bundestag, Bd. III/2, Baden-Baden 1995, S. 1223–1274. Vgl. zur Familienpolitik in der DDR auch die politikwissenschaftliche, vergleichende Darstellung von Irene Gerlach, die sich allerdings in weiten Teilen auf Obertreis beruft: Irene Gerlach, Familie und staatliches Handeln. Ideologie und politische Praxis in Deutschland, Opladen 1996. Heike Trappe, Emanzipation oder Zwang? Frauen in der DDR zwischen Beruf, Familie und Sozialpolitik, Berlin 1995, S. 53. Die Einflüsse der sozialistischen bzw. marxistisch-leninistischen Gleichberechtigungskonzeptionen spielten in der SED-Politik aber nur eine untergeordnete Rolle. (Helwig, Frauen im SED-Staat, S. 1224, Anm. 3.) Vgl. zu diesen Theorien: August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, Berlin 1964 (erstmals 1879); Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. Im Anschluß an Lewis H. Morgans Forschungen, Berlin 1953 (erstmals 1884); W. I. Lenin, Über die Aufgaben der proletarischen Frauenbewegung in der Sowjetrepublik. Rede auf der IV. Konferenz parteiloser Arbeiterinnen der Stadt Moskau, 23. September 1919, in: Werke, Bd. 30, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin 1964, S. 23–29;
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Bekanntlich gelang es der DDR, beachtliche, freilich propagandistisch überzeichnete Fortschritte auf diesem Gebiet zu erzielen,82 die nicht zuletzt dadurch möglich wurden, weil wesentliche familiäre Funktionen wie Kinderbetreuung, Beköstigung, Erziehung und Freizeit aus der Familie ausgelagert und durch Kinderkrippen, Horte sowie Kinder- und Jugendorganisationen vergesellschaftet wurden.83 Diese Verlagerung der Kinderbetreuung von der Familie in gesellschaftliche Einrichtungen bot zudem »erheblich günstigere Voraussetzungen, diese [die Kinder, CG] im Sinne des von der SED definierten Gesellschafts- und Sozialismusbildes zu erziehen«.84 Der Familie als wesentlichem Sozialisationsträger und fast unkontrollierbarem Ideologievermittler stand die SED skeptisch und verunsichert gegenüber.85 Doch paradoxerweise legte die durch Vergesellschaftung familiärer Funktionen ermöglichte Erwerbstätigkeit der Frau, die in der DDR als Sieg über die bürgerlichen Verhältnisse gefeiert wurde, die Grundlage für den Familienurlaub, in dem Eltern und Kinder wieder zusammenfanden. Im Urlaub konnte sich auch in der DDR die Kleinfamilie im durchaus bürgerlichen Sinne erneut konstituieren. Denn die zunehmende Einbindung der Frau in den Arbeitsprozess bedeutete, dass Frauen nicht nur als Werktätige einen gesetzlich abgesicherten Anspruch auf bezahlten Urlaub erhielten, sondern auch als FDGB-Mitglieder in den Kreis derjenigen aufgenommen wurden, die die Zielgruppe des Feriendienstes darstellten. Da fortan beide Elternteile zur umworbenen Kerngruppe des Feriendienstes zählten, konnten die Funktionäre den Eltern den Wunsch, auch die Kinder mitzunehmen, nicht mehr ohne Weiteres absprechen. Als eine erste Lösung für die Familienfrage im Urlaub wurde 1961 die im »Programm für die Entwicklung des Kur- und Erholungswesens der Gewerkschaften im Siebenjahrplan der DDR von 1959 bis 1965« entwickelte Idee umgesetzt, Kinderheime und Schulen an der Ostsee während der Hauptreisezeit zur Unterbringung der Kinder von Urlaubern zu nutzen.86 Noch immer kam hier allerdings das soziaClara Zetkin, Die Arbeiterinnen- und Frauenfrage der Gegenwart, in: Florence Hervé (Hg.), Frauenbewegung und revolutionäre Arbeiterbewegung. Texte zur Frauenemanzipation in Deutschland und in der BRD von 1848 bis 1980, Frankfurt a.M. 1981, S. 22–26. 82 Steiner, Von Plan zu Plan, S. 127. 83 Obertreis, Familienpolitik, S. 136; Zahlenmaterial zu den Kinderkrippen, Kinderhorten und Kinderheimen findet sich bei Gerlach, Familie und staatliches Handeln, S. 247ff.; zum Erziehungsaspekt vgl. vor allem: Helwig, in: Geschichte der Sozialpolitik, Bd. 2/1, S. 665. 84 Frerich/Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Bd. 2, S. 403. 85 Obertreis, Familienpolitik, S. 134 und S. 321. 86 SAPMO-BArch, DY 34/6312, Programm für die Entwicklung des Kur- und Erholungswesens der Gewerkschaften im Siebenjahrplan der DDR von 1959 bis 1965. Aus dem Beschluß des Präsidiums des Bundesvorstandes vom 7. 9. 1959, hg. v. Bundesvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, Abteilung Feriendienst und Kuren, Berlin 1960, S. 13.
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listische Familienbild der 1950er-Jahre zum Ausdruck, das beinhaltete, wesentliche Teile der Erziehung aus der Familie herauszunehmen und zu sozialisieren. In diesem Sinne wurde festgelegt: Die Kinder wohnen im Kindererholungsheim und werden auch dort verpflegt. Sie nehmen nicht mit den Eltern gemeinsam die Mahlzeiten ein. Um 8 Uhr ist Frühstück, um 12 Uhr Mittagessen und um 18 Uhr Abendessen. Zwischen den Mahlzeiten können die Eltern voll über ihre Kinder verfügen. Sie sind nur verpflichtet, die Kinder zu den Mahlzeiten pünktlich ins Heim zurückzubringen. […] Durch die Leiterin des Kindererholungsheimes wird einen Tag nach der Anreise und einen Tag vor der Abreise mit den Eltern eine Aussprache durchgeführt. Wenn von den Eltern gewünscht wird, können weitere Elternaussprachen durchgeführt werden. Die Aussprachen finden grundsätzlich nicht im Beisein der Kinder statt.87
Sicherlich entsprachen diese Reglementierungen, die weiterhin von dem Versuch gekennzeichnet waren, durch den Staat Einfluss auf die Erziehung zu nehmen und die Bedeutung der Familie auch im gemeinsamen Urlaub zurückzudrängen, nicht den Vorstellungen eines idyllischen Familienglücks im Urlaub. Solche Formen des »sozialistischen Familienurlaubs« konnten sich folglich auch nicht durchsetzen. Stattdessen wurde es zur Regel, dass sich die Familien entweder um die seltenen Kinderferienplätze bemühten oder aber vor Antritt der Reise einen Antrag auf zusätzliche Aufnahme der Kinder stellten und um Aufbettung des Zimmers baten, um einen gemeinsamen Urlaub verbringen zu können. Diese Anträge konnten – wohlgemerkt – erst gestellt werden, nachdem die Eltern für sich einen Ferienscheck erhalten hatten. Im Falle eines negativen Bescheids standen die Eltern deshalb vor der Wahl, ihren Ferienscheck, auf den sie vielleicht Jahre gewartet hatten, verfallen zu lassen oder aber ohne Kinder zu verreisen.88 Die Zahl der Anträge, Kinder mit in den Urlaub nehmen zu dürfen, wuchs von Jahr zu Jahr. Bei den großen Objekten an der Ostsee gingen Mitte der 1960er-Jahre täglich bis zu 200 hierauf bezogene Anfragen ein.89 In Ahlbeck beispielsweise wurden im Jahre 1964 zu den 3.805 vorhandenen Kinderplätzen zusätzliche 1.013 Kinder und in Zingst bei 1.074 Kinderplätzen zusätzliche 833 Kinder aufgenommen; 87
88 89
SAPMO-BArch, DY 34/6312, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Abt. Feriendienst und Kuren, Merkblatt für die Einweisung von Kindern in Kindererholungsheime in Verbindung mit Ferienschecks für Erwachsene im Jahre 1962, Berlin, Sept. 1961, S. 2. SAPMO-BArch, DY 34/10612, Wolfgang Rossa, Hohenstein-Ernstthal an den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand – Abteilung Feriendienst, Hohenstein-Er., am 26. Mai 1975 [Eingabe], S. 1f. SAPMO-BArch, DY 34/6336, Entwurf. Analyse über die Arbeit mit den Eingaben im 1. Halbjahr 1965 (Stichtag 20. 6. 65), S. 5.
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in Kühlungsborn lag die Zahl der zusätzlich zum Plan aufgenommenen Kinder mit 440 sogar über der Zahl von 435 Plätzen, die ursprünglich vorgesehen waren.90 Wegen der Fülle der Anträge auf zusätzliche Unterbringung von Kindern mussten zahlreiche Ablehnungen ausgesprochen werden. Man verwies darauf, dass die zusätzliche Aufnahme von Kindern »auf natürliche Grenzen« stoße, wenn beispielsweise die Kapazitäten der Küche ausgeschöpft seien: »Hieran ändern auch ein umfangreicher Schriftwechsel und wiederholte Beschwerden bei den gewerkschaftlichen Vorständen und Leitungen nichts.«91 Die Zahl der abgelehnten Anträge auf Aufnahme der Kinder erreichte in den 1970er-Jahren sogar ein solches Ausmaß, dass eine individuelle Bearbeitung nicht mehr möglich war.92 In Darß an der Ostsee entwickelte man daher einen vorgedruckten Brief, der mit freundlichen Worten die Absage für die zusätzliche Aufnahme von Kindern begründete: Allein »mit dem Zimmer, dem Bett, der Liege, der Luftmatratze oder der Aufnahme in den elterlichen Betten ist es nicht getan«, hieß es.93 Vielmehr müssten auch die erforderlichen Küchenkapazitäten, der Platz im [Speise- und Aufenthalts-]Saal und nicht zuletzt auch »die erforderlichen Kapazitäten, die im Hinblick auf das eventuell schlechte Wetter an der Küste Bedeutung haben, vorhanden sein«. Es wurde um das Verständnis der Eltern gebeten, »dass gerade in dieser Hinsicht die Bestimmungen auf dem Gebiet der Hygiene, des Arbeitsund Gesundheitsschutzes und der Sicherheit uns zwingen, die Grenzen der Kapazitäten nicht zu überschreiten«. Dass diese Gründe die Eltern nicht überzeugen konnten, war den Funktionären selbst bewusst. Beinahe verzweifelt rangen sie um Verständnis für die Absagen. So konnte man zu Beginn des vorgedruckten Briefes aus Darß lesen: Glauben Sie uns, daß wir für Ihren Wunsch vollstes Verständnis haben, zumal der größte Teil unserer Mitarbeiter selbst Familie hat und deshalb die gleichen Erwartungen und Wünsche an den Urlaub hegt wie Sie, und trotzdem müssen wir Ihre Anfrage leider ablehnend beantworten. Wir versichern Ihnen, daß wir diese Entscheidung nicht oberflächlich und herzlos getroffen haben, sondern daß uns eindeutige objektive Gründe dazu zwingen. 90
SAPMO-BArch, DY 34/6336, Vorlage für die Sitzung des FDGB-Bezirksvorstandes Rostock. Betr.: Eingabenanalyse der Abt. Feriendienst für die Zeit von 1. 1. 64–31. 12. 64, 18. 2. 1965, Anlage 2. 91 SAPMO-BArch, DY 34/9751, Einige Argumentationen zum Beschluß des Sekretariats des FDGB-Bundesvorstandes zur Verteilung der FDGB-Erholungsaufenthalte für das Jahr 1970, o.D. [1969], S. 6. 92 SAPMO-BArch, DY 34/10612, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Bezirksvorstand Rostock, Abteilung Feriendienst, an Kollegen Wolfgang Rossa, 14. Mai 1975, S. 2. 93 Hier und im Folgenden: SAPMO-BArch, DY 34/10612, Liebe Eltern! [Vorgedruckter Brief zur Ablehnung der zusätzlichen Aufnahme von Kindern, DIN A5, unten wird Ort und Datum handschriftlich eingetragen und unterschrieben], S. 1.
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Die redundante Beteuerung, man verstehe die Bedürfnisse der Urlauber und bemühe sich um Abhilfe, und die beinahe flehentliche Bitte, der DDR-Bürger möge auch Verständnis für die knappen Kapazitäten haben, verdeutlichen, dass die verantwortlichen Funktionäre immer mehr in Rechtfertigungszwang gegenüber den Gewerkschaftsmitgliedern gerieten und sich regelrecht im Erklärungsnotstand befanden. Der Flut von Anträgen folgte eine nicht minder gewaltige Flut von Beschwerden bezüglich abgelehnter Bescheide. Die betroffenen Eltern waren empört und warfen den zuständigen Funktionären, die es ablehnten, die Kinder aufzunehmen, »herzloses und bürokratisches Verhalten« vor.94 Die Eingabe von Wolfgang R. aus Hohenstein-Ernsttahl verdeutlicht das delegitimierende Potenzial, das sich aus den wenigen vorhandenen Kinderplätzen in den Ferienheimen ergab: Mit tiefster Betrübnis habe ich […] Kenntnis erhalten, daß meiner Bitte um eine zusätzliche Unterbringung unserer 5-jährigen Tochter […] in Prerow nicht entsprochen wurde. Damit sind die jahrelangen Bemühungen, für meine Familie einen FDGB-Ferienaufenthalt an der Ostsee […] zu erhalten, ein weiteres Mal gescheitert, obwohl ich bereits eine Zuweisung für einen 2-Bettplatz hatte. […] [Ich] betrachte […] mich von der Ostseeferiengestaltung durch den FDGB objektiv ausgeschlossen. […] Langsam komme ich mir wie ein Bittsteller, um nicht zu sagen Bettler vor. […] Ich bitte jedoch andererseits auch ein klein wenig um Verständnis, wenn ich künftig keinerlei Aktivitäten zur Lösung gewerkschaftlicher Aufgaben mehr entwickeln werde.95
Mitte der 1960er-Jahre zeichnete sich indes eine neue familienpolitische Konzeption ab, die ihren Ausdruck in dem 1965 beschlossenen Familiengesetzbuch fand. Das Familiengesetzbuch markierte den Beginn einer eigenständigen, nunmehr »sozialistischen« Familienpolitik,96 indem der Familie rechtlich und ideologisch ihr Platz in der DDR-Gesellschaft bei Anerkennung einer gewissen Selbstständigkeit zugewiesen wurde.97 Der erste Satz der Präambel des Familiengesetzbuches lautete: »Die Familie ist die kleinste Zelle der Gesellschaft«.98 94
SAPMO-BArch, DY 34/10618, Sektor Operative Kontrolle, Entwurf. Analyse über die Arbeit mit den Eingaben der Mitglieder zu den Fragen des Feriendienstes im 1. Halbjahr 1969, Berlin, den 24. 7. 69, S. 4. 95 SAPMO-BArch, DY 34/10612, Wolfgang R., Hohenstein-Ernstthal an den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand – Abteilung Feriendienst, Hohenstein-Er., am 26. Mai 1975 [Eingabe], S. 1f. 96 Trappe, Emanzipation oder Zwang?, S. 62. 97 Obertreis, Familienpolitik, S. 325. 98 Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965, in: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik 1966, Teil I, S. 1–18, hier S. 1. Vgl. Ute Gerhard, Die staatlich institutionalisierte »Lösung« der Frauenfrage. Zur Geschichte der Geschlechterverhältnisse in der DDR, Kaelble/Kocka/Zwahr, Sozialgeschichte der DDR, S. 383–403, hier S. 389f.
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Infolge der veränderten Auffassungen von der Familie schrieben die Funktionäre dem Urlaub nicht mehr allein die Aufgabe zu, zur Erholung und Erziehung der Werktätigen beizutragen; vielmehr sollte er fortan auch »der Festigung der sozialistischen Familie« dienen.99 Nun wurde – ganz im Gegensatz zu früheren Verlautbarungen – nicht nur von den »verständlichen«, sondern auch von »berechtigten« Wünschen der Urlauber gesprochen, »den Urlaub gemeinsam mit den Kindern zu verleben«.100 Man erkannte fortan im Urlaub eine »direkte Möglichkeit, dass die ganze Familie einen längeren Zeitraum gemeinsam verlebt und diese Tage auch nach ihren Bedürfnissen gestalten kann«.101 Die jahrzehntelange Vernachlässigung des Familienurlaubs hatte jedoch dazu geführt, dass die Kapazitäten schlicht nicht ausreichten, um alle Wünsche nach einem Familienurlaub zu erfüllen. Deshalb wurde die zusätzliche Bereitstellung von Kinderbetten während der Hauptreisezeit und den Schulferien zu einer Schwerpunktaufgabe des FDGB-Feriendienstes erklärt.102 An kuriosen Vorschlägen mangelte es dabei nicht. So schlug der FDGB-Bezirksvorstand Dresden vor, »daß Kinder mit guten schulischen Leistungen [vom Schulunterricht, CG] freigestellt werden, damit sie mit ihren Eltern (außerhalb der Schulferien) den Urlaub verbringen können«.103 Es gelang aber noch nicht einmal eine zeitliche Staffelung der Schulferien in den einzelnen Bezirken der DDR – wie sie in der Bundesrepublik auf der Ebene der Bundesländer üblich war und ist – zu erreichen, was die Lage in den Urlaubsorten erheblich entspannt hätte.104 Angesichts der Enttäuschungen, die die Gewerkschaftsmitglieder und ihre Familien immer wieder erleben mussten, verwundert es nicht, dass sie zu einem großen Teil nicht mehr bereit waren, Anträge auf die zusätzliche Aufnahme zu stellen, auf 99 100 101 102 103 104
SAPMO-BArch, DY 34/15895, Abteilung Feriendienst – Sektor Kultur –, Betr.: Vorschläge des Sektors Kultur zur Abteilungskonzeption – Auswertung des VI. Parteitages –, Berlin, den 16. 3. 1963. SAPMO-BArch, DY 34/6336, Vorlage für die Sitzung des FDGB-Bezirksvorstandes Rostock. Betr.: Eingabenanalyse der Abt. Feriendienst für die Zeit von 1. 1. 64–31. 12. 64, 18. 2. 1965, S. 3. SAPMO-BArch, DY 34/4928, Referat zur internationalen Konferenz der Feriendienstund touristischen Organisationen der Gewerkschaften sozialistischer Länder in Tabarz am 2. September 1966, S. 14. SAPMO-BArch, DY 34/4928, FDGB-Bundesvorstand, Abteilung Feriendienst, Konzeption zur Durchsetzung der sozialistischen Rationalisierung im Bereich des Feriendienstes d. Gewerkschaften, Berlin, den 1. 9. 66, S. 4. SAPMO-BArch, DY 34/6336, FDGB-Bezirksvorstand Dresden, Abt. Feriendienst, Beschwerden – Analyse 1962, Dresden, 30. 1. 1963, unterzeichnet, FDGB-Bezirksvorstand Dresden, Abt. Feriendienst, Lang, Abt.-Leiterin, S. 6. SAPMO-BArch, DY 34/4928, Vorschläge für Lösung wichtiger Probleme des Erholungswesens, Berlin, den 18. 1. 1966, S. 2.
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die Genehmigung zu warten oder auf den Staat zu vertrauen. Oftmals gingen sie dazu über, ihre Kinder einfach in den Urlaub mitzunehmen. Man vertraute darauf, schon Wege zu finden, die Kinder unterzubringen, wenn man erst einmal vor Ort sei.105 Regelmäßig empörten sich Funktionäre darüber, dass sich die Eltern in dieser Weise »über die Weisungen unserer Organisation hinwegsetzen«, und verlangten: »Da solche Eigenmächtigkeiten der Urlauber Schule machen, müssen hier Maßnahmen eingeleitet werden, die Eigenmächtigkeiten einzelner auszuschließen.«106 Konkrete Maßnahmen wurden aber nicht mehr entwickelt, um gegen die »Eigenmächtigkeiten« vorzugehen. Der Wandel in den familienpolitischen Leitbildern führte vielmehr dazu, dass man diese Missstände nicht mehr den FDGBMitgliedern zum Vorwurf machte, die mit ihren Kindern verreisen wollten. Im »Interesse der Familienerholung«, hieß es nun, würden »diese kleinen Unbequemlichkeiten von jedem gern in Kauf genommen werden«.107 Die offiziellen Schriften des Feriendienstes druckten nun auffällig oft Karikaturen zu diesem Thema (Abbildung 28a, 28b). Die schwierige Lage wurde dadurch mit Humor genommen, der einem Galgenhumor glich, weil sich die Situation nicht spürbar verbesserte. Noch 1969 stellte der Feriendienst fest, dass das Problem der zusätzlichen Aufnahme von Kindern nicht zu lösen sei.108 Auch war man der Auffassung, »daß die zusätzliche Aufnahme von Kindern im Prognosezeitraum bis 1980 nur unwesentlich gesteigert werden kann«.109 Dennoch verbesserte sich die Situation schon wenig später, weil mit dem Übergang der politischen Führung von Walter Ulbricht auf Erich Honecker 1971 auch in puncto Familienurlaub umfangreiche Investitionen zur Erweiterung der Kapazitäten für Familien durchgeführt wurden.110 Der
105 SAPMO-BArch, DY 34/6336, Entwurf. Analyse über die Arbeit mit den Eingaben im 1. Halbjahr 1965 (Stichtag 20. 6. 65), S. 4. 106 SAPMO-BArch, DY 34/6337, Vorlage für die Sitzung des Sekretariats des FDGB-Bezirksvorstandes Rostock. Betr.: Eingabenanalyse des Feriendienstes der Gewerkschaften – Erholungszentrum Ostsee für das 1. Halbjahr 1969, 30. 7. 1969, S. 2. [Laut Deckblatt verfasst vom »Kollegen Becker, mit den Bereichsleitern anläßlich der Arbeitstagung am 18. 7. 1969 beraten, Kollege Jürß zur Beratung hinzugezogen«.] 107 SAPMO-BArch, DY 34/9751, Einige Argumentationen zum Beschluß des Sekretariats des FDGB-Bundesvorstandes zur Verteilung der FDGB-Erholungsaufenthalte für das Jahr 1970, o.D. [1969], S. 6. 108 SAPMO-BArch, DY 34/10618, Sektor Operative Kontrolle, Aktennotiz. Betr.: Auswertung der Beschwerdeanalyse zur Abteilungsleiterbesprechung am 1. 4. 1969 in Rauschenbach, Berlin, den 8. 4. 1969, unterzeichnet: Oeser. 109 SAPMO-BArch, DY 34/6337, Vorlage für die Sitzung des Sekretariats des FDGB-Bezirksvorstandes Rostock. Betr.: Eingabenanalyse des Feriendienstes der Gewerkschaften – Erholungszentrum Ostsee für das 1. Halbjahr 1969, 30. 7. 1969, S. 1. 110 Direktive des VIII. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, S. 391.
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Familienurlaub wurde nun endgültig anerkannt: »Die Ferienerholung erfolgt in der Regel im Familienverband.«111 Doch dies bedeutete keinesfalls, dass auch im Feriendienst die Familienreise zur Regel geworden wäre. 1973 konnte nur jeder zehnte Wunsch nach Familienurlaub befriedigt werden.112 Während Kinder in den 1970er- und 80er-Jahren rund 20 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten,113 waren sie in den Urlaubsorten noch immer in einem unterproportionalen Verhältnis vertreten. 1978 verzeichnete der Bezirk Rostock nur 17.748 Kinder unter insgesamt 549.234 Urlaubern; Kinder machten also hier nur 3 Prozent der Urlauberschaft aus.114 Obschon die unter Erich Honecker betriebene Sozialpolitik auch zu einer verstärkten Förderung des Familienurlaubs beitrug, verbesserte sich die Lage nur langsam. Im Jahr 1982 könne immerhin jede dritte Reise mit dem FDGB in der Schulferienzeit von einem Kind in Anspruch genommen werden, hieß es in einer offiziellen Stellungnahme.115 Und eine 1988 veröffentlichte Studie des Instituts für Soziologie und Sozialpolitik verzeichnete, dass 85,1 Prozent der Frauen und 81,1 Prozent der Männer in »sehr hohen oder hohem Maße« eine »enge Bindung an die Familie, den Partner« bei der Freizeit- und Feriengestaltung wünschten.116 Das Ergebnis einer Umfrage wiedergebend, stellte Familienforscherin Jutta Gysi schließlich fest: »Über 90 Prozent der befragten Familien haben ihren Urlaub in den vergangenen Jahren gemeinsam verbracht. Kaum praktiziert wird ein getrennter Urlaub der Partner sowie das Verreisen ohne Kinder.«117 111 SAPMO-BArch, DY 34/15826, Sektor Urlauberbetreuung. 2. Entwurf, Tendenzen für die Entwicklung der Urlauberbetreuung in den Erholungseinrichtungen und Erholungsorten der Gewerkschaften bis zum Jahre 1980. [Als Diskussionsvorlage für die Leitungsberatung am 14. 7. 75 vorgelegt], S. 20. 112 SAPMO-BArch, DY 34/9752, Bericht über die Verwirklichung des gemeinsamen Beschlusses des ZK der SED, des Präsidiums des Bundesvorstandes des FDGB und des Ministerrates der DDR zur Entwicklung des Feriendienstes der Gewerkschaften sowie zu Fragen der Kuren, o.D. [1973], S. 7. 113 André Steiner unter Mitarbeit von Matthias Judt und Thomas Reichel, Statistische Übersichten zur Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band SBZ/DDR, hg. v. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Bonn 2006, Tab. 0.1.1.9. Anteil der Bevölkerung im arbeitsfähigen und im nichtarbeitsfähigen Alter an der Wohnbevölkerung, S. 13. 114 SAPMO-BArch, DY 34/15864, Zur persönlichen Information, Einschätzung der Sommerreisezeit 1978 im Bezirk Rostock, S. 1. 115 SAPMO-BArch, DY 34/25480, Maßnahmen für die Verteilung der Erholungsreisen des FDGB für 1982 [bestätigt vom Sekretariat am 19. 8.], vgl. ebd.: Beschluß Nr. S 498/81 vom 19. 4. 1981, S. 1. 116 Gunnar Winkler, Frauenreport ´90 (im Auftrag der Beauftragten des Ministerrates für Gleichstellung von Frauen und Männern, Dr. Marina Beyer), Berlin 1990, S. 136. 117 Hier und im Folgenden: Jutta Gysi, Familienleben in der DDR: zum Alltag von Familien mit Kindern, Berlin 1989, S. 198ff.
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Bei diesen Zahlen muss in Rechnung gestellt werden, dass in der zitierten Untersuchung nur knapp die Hälfte angab, den Urlaub mit dem FDGB-Feriendienst bzw. in Betriebsheimen zu verbringen. Immerhin 26 Prozent der Befragten verlebten ihren Urlaub zu Hause. 23 Prozent bevorzugten private Unterkünfte bei Verwandten und Freunden, solange noch Kleinkinder zur Familie gehörten. 18 Prozent kamen in privaten Hotels und Pensionen unter. 13 Prozent fuhren ins Ausland, 9 Prozent machten Campingurlaub, weitere 9 Prozent verbrachten ihren Urlaub in der eigenen Datsche. In Bezug auf die Kinderzahl musste Gysi feststellen, dass die Teilnahme am Tourismus mit steigender Kinderzahl deutlich zurückging. Noch Ende der 1980er-Jahre war die DDR folglich weit davon entfernt, ein familienfreundliches Urlaubsland zu sein.
28a, 28b Karikaturen: Kinder in Ferienheimen (Sonntag/Leiberg/Filler, Urlaub mit dem Feriendienst des FDGB, Berlin 1981, S. 10, 24)
4. Kinder und Jugendliche Gewerkschaftsurlaub für werktätige Jugendliche Selbstverständlich schloss die Konzentration auf die Werktätigen auch werktätige Jugendliche ein, sofern sie in der Gewerkschaft organisiert waren. Wie jedes andere FDGB-Mitglied konnten sie das Angebot des Feriendienstes im gegebenen Rahmen nutzen. Entscheidend ist jedoch, dass die jungen FDGB-Mitglieder in erster
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Linie als Werktätige, nicht aber als Jugendliche betrachtet wurden, wie das in der Einleitung angeführte Beispiel der 16-jährigen Waisen zeigt, die im Betrieb »Jenapharm« arbeitete. Die spezifischen Belange der Jugendlichen wurden dabei kaum berücksichtigt; eine dezidierte »Jugenderholung« im Rahmen des Feriendienstes blieb marginalisiert. Wenn beispielsweise in den 1960er-Jahren angewiesen wurde, die bei den Ferienheimen aufgestellten Zelte vorwiegend mit Jugendlichen zu belegen, so wollte man hiermit weniger der Jugend als den älteren Mitgliedern entgegenkommen. Denn die Zelte dienten allein der schnellen Aufstockung der Kapazitäten. Für ältere Urlauber erwiesen sich die Zelte bald als ungeeignet; die Belegung mit Jugendlichen war nur eine Notlösung.118 Erst in den 1970er-Jahren orientierte man sich mit begrenztem Erfolg wenigstens ansatzweise an dem besonderen Bedarf jugendlicher Urlauber. So wurden in den Ferienheimen Klubräume eingerichtet und »fahrbare Diskotheken«, also transportable, technische Ausstattungen zur Durchführung von Tanzveranstaltungen angeschafft,119 da auch im Urlaub Tanzen die Liste der beliebtesten Tätigkeiten der Jugendlichen anführte.120 Am weitesten kam man den Interessen der jugendlichen Gewerkschaftsmitglieder mit der Einrichtung von speziellen Jugenderholungsheimen wie dem Wohnschiff »Kuhle Wampe« in Berlin entgegen, auf dem siebentägige Berlin-Aufenthalte möglich waren.121 Hier blieben die Jugendlichen weitgehend unter sich. Doch in den meisten Fällen verwies der FDGB auf die Zuständigkeit des Jugendverbandes, also die Freie Deutsche Jugend (FDJ). Besonders bei den gewerkschaftlichen Auslandsreisen wurde festgehalten, dass junge Gewerkschaftsmitglieder, die zugleich der FDJ angehörten, bei der Verteilung nicht zu berücksichtigen seien, weil sie über den Jugendverband mit Auslandsreisen versorgt würden.122 In der Summe bleibt festzustellen, dass jugendliche Werktätige zwar nicht vom Angebot des FDGB ausgeschlossen wurden, sie aber keine eigene Zielgruppe darstellten, der man große Aufmerksamkeit entgegenbringen wollte. 118 SAPMO-BArch, DY 34/25695, Beschluß des Sekretariats vom 1. 7. 1974, Nr. S 496/74. Maßnahmen zur Urlaubsgestaltung für junge Mitglieder des FDGB, S. 4. 119 SAPMO-BArch, DY 34/15826, Sektor Urlauberbetreuung. 2. Entwurf, Tendenzen für die Entwicklung der Urlauberbetreuung in den Erholungseinrichtungen und Erholungsorten der Gewerkschaften bis zum Jahre 1980, S. 22. [Als Diskussionsvorlage für die Leitungsberatung am 14. 7. 75 vorgelegt.] 120 Peter Voß (und Autorenkollektiv), Die Freizeit der Jugend, Berlin (Ost) 1981, S. 220. 121 SAPMO-BArch, DY 34/15864, H. Eberl, Sektorenleiter, Abteilung Feriendienst. Sektor Erfassung/Verteilung, Vorlage für die Leitungsberatung. Betr.: Durchführung von BerlinAufenthalten, Berlin, den 28. 11. 1973. 122 SAPMO-BArch, DY 34/29/1592/6003, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund – Bundesvorstand –, Richtlinie für den internationalen Touristenaustausch durch die Gewerkschaften, Berlin, den 26. 2. 1959, S. 2.
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Die FDJ und der Kinder- und Jugendtourismus Die dargestellte Konzentration auf den Werktätigen und das daraus resultierende, schwierige Verhältnis des FDGB-Feriendienstes zu Familie und Kindern führten jedoch keinesfalls dazu, dass Kinder und nichterwerbstätige Jugendliche zwangsläufig in den Ferien zu Hause bleiben mussten, wenn es den Eltern nicht gelungen war, eine Möglichkeit für ihre Unterbringung zu finden.123 Vielmehr bildeten sich im Kinder- und Jugendtourismus in der DDR vielfältige Angebote heraus, die im Folgenden umrissen werden.124 Die Freie Deutsche Jugend (FDJ) besaß für die Kinder- und Jugenderholung eine Schlüsselfunktion. Die FDJ wurde in der DDR zu einem »gigantischen Freizeitverein«.125 Schon das I. Parlament der FDJ im Juni 1946 wandte sich u.a. der Gestaltung von Freizeit und Urlaub für Kinder und Jugendliche zu, weil diese durch die wirtschaftlich und menschlich katastrophale Lage nach dem Zweiten Weltkrieg besonders stark betroffen seien und zugleich, wie es hieß, die Zukunft des neu entstehenden Staates darstellten. In den »Grundrechten der jungen Generation«, die im Juni 1946 verabschiedet wurden, forderte die FDJ neben der »Gewährung politischer Grundrechte« und dem Recht auf Bildung auch das »Recht auf Arbeit und Erholung« und das »Recht auf Freude und Frohsinn« ein,126 woraus das Recht auf Urlaub und die Forderung nach der Schaffung von Erholungsaufenthalten abgeleitet wurden.127 Der organisatorische und inhaltliche Einfluss der FDJ auf den Kinder- und Jugendtourismus schwankte im Verlauf des vierzigjährigen Bestehens des Jugendverbandes erheblich. Bereits mit dem Jugendgesetz aus dem Jahre 1950 verlor die FDJ ihren alleinigen Einfluss auf die Urlaubsgestaltung, da das Gesetz neben der FDJ »[a]lle Organe der staatlichen Verwaltung« verpflichtete, die Kinder- und Jugendreisen zu fördern. Anders als die Erholung für Erwachsene wurde der Kinder- und Jugendtourismus also sehr früh zu einer gesamtstaatlichen Aufgabe. Dabei entstand jedoch eine recht chaotische Struktur, in der lange Zeit unklar blieb, wem eigentlich die einzelnen Aufgaben und Verantwortlichkeiten zukamen. So wirkten neben dem 123 Brigitte Deja-Lölhöffel, Freizeit in der DDR, Berlin 1986, S. 34. 124 Nur knapp wird in einigen Studien zur Geschichte der FDJ und der Pionierorganisation auf Kinder- und Jugendreisen verwiesen: Vgl. Michael Walter, Die Freie Deutsche Jugend. Ihre Funktionen im politischen System der DDR (Freiburger Schriften zur Politikwissenschaft, Bd. 7), Freiburg 1997, S. 142ff.; Leonore Ansorg, Kinder im Klassenkampf. Die Geschichte der Pionierorganisation von 1948 bis Ende der fünfziger Jahre (Zeithistorische Studien, Bd. 8), Berlin 1997, S. 109ff. 125 Mählert, Jugendpolitik und Jugendleben 1945–1961, S. 1456. 126 Die Grundrechte der jungen Generation, in: Erstes Parlament der Freien Deutschen Jugend. Brandenburg an der Havel, Pfingsten 1946, Berlin 1946, S. 204–208, hier S. 205. 127 Ebd., S. 207.
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Jugendverband auch die »Abteilung Kulturelle Massenarbeit« des FDGB (nicht die Abteilung Feriendienst!) und zahlreiche andere Massenorganisationen wie die Gesellschaft für Sport und Technik (GST), der Kulturbund und der Deutsche Turn- und Sportbund (DTSB) sowie etliche staatliche Organe und Betriebe an der Gestaltung von Freizeit und Urlaub für Kinder und Jugendliche mit.128 Erst in den 1970er-Jahren pochte die FDJ auf die Erweiterung ihres Einflusses und erreichte die Einrichtung des Jugendreisebüros »Jugendtourist«. Doch bis zum Ende der DDR gelang es der FDJ nicht, sich als einzige zentrale Einrichtung im Jugendtourismus zu etablieren. Bereits im Juli und August 1946 fanden unter Regie der FDJ die ersten Ferienlager in Sachsen-Anhalt und Thüringen unter dem Motto »Der Sommer für die Kinder« statt. Das Angebot differenzierte sich sehr schnell aus. Von besonderer Bedeutung waren hierbei die Ferienlager, von denen es drei verschiedene Formen gab: die sogenannten Pionierferienlager, die Lager der örtlichen Feriengestaltung und die Betriebsferienlager. Unbestritten stellten die Pionierferienlager die Vorzeigeobjekte des Staates dar. Als Teilnehmer wurden die »besten Jungen Pioniere« ausgewählt, die sich durch besondere schulische Leistungen oder ihre Arbeit in der Pionierorganisation hervorgetan hatten.129 Bereits 1951 bestanden 39 solcher Lager. Nach strenger Auswahl wurden auch Pioniere und Schüler aus anderen sozialistischen Ländern und den kommunistischen Organisationen westlicher Länder eingeladen.130 Die Historikerin Leonore Ansorg stellt in ihrer Untersuchung der Pionierorganisation fest, dass mit diesen Lagern versucht wurde, »bereits in diesen jüngsten Altersgruppen eine politische Elite zu rekrutieren, die sich ihrer Ausgewähltheit bewußt und dem Staat für ihren Aufstieg zu Dank verpflichtet war«. Für wiederum besonders »verdienstvolle Pioniere« entstanden die »Pionierrepublik Wilhelm Pieck« am Werbellinsee und mehrere Zentrale Pionierlager. In der Ferienzeit wurden diese Pionierlager regelmäßig von der politischen Prominenz besucht, um die Bedeutung, die die politische Führung diesen Lagern beimaß, medienwirksam zu betonen (Abbildung 29).131 128 Gesetz über die Teilnahme der Jugend am Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik und die Förderung der Jugend in Schule und Beruf, bei Sport und Erholung, in: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik vom 21. Februar 1950, Nr. 15, S. 95–99, hier S. 95f.; vgl. auch die umfangreichen Sammlungen von Rechtsvorschriften und Beschlüssen zur Jugenderholung, die in regelmäßigen Abständen herausgegeben wurden, zuletzt: Ferien – Urlaub – Touristik der Jugend der DDR. Rechtsvorschriften und Beschlüsse, hg. v. Amt für Jugendfragen beim Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1988. 129 SAPMO-BArch, DY 24/2.394 Richtlinie für die Lager der örtlichen Feriengestaltung, Anlage 1. 130 Ansorg, Kinder im Klassenkampf, S. 110. 131 Ebd., S. 110.
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29 Ho Chi Minh besuchte am 28. 7. 1957 das Pionierlager »Helmuth Just« am Wukensee bei Biesenthal. (Fotograf: Horst Sturm, Bundesarchiv Bild 183-48550-0036)
Weniger auf die junge Elite ausgerichtet, dafür aber umso mehr mit der Zielsetzung verbunden, möglichst viele Kinder für das sozialistische System zu gewinnen, waren die Maßnahmen zur örtlichen Ferienerholung, die in Zusammenarbeit von FDJPionierorganisation und Jugendämtern durchgeführt wurden. In den ersten Jahren nach dem Krieg, als die Möglichkeiten zur Unterbringung der Kinder fern ihres Wohnortes begrenzt waren, beschränkte sich die »örtliche Ferienerholung« auf gemeinsame Wanderungen, Theaterspielen, Sport und anderes mehr. Später entstanden in diesem Rahmen auch Ferienlager, wenngleich die Lager am Wohnort errichtet wurden, um die Kosten gering zu halten. Ausdrücklich standen diese Formen der Feriengestaltung auch Kindern offen, die noch nicht dem Pionierverband angehörten, wobei jedoch Wert auf eine günstige »Durchmischung« gelegt und festgeschrieben wurde, dass der Anteil Junger Pioniere an den Lagern mindestens 50 Prozent betragen sollte. Somit konnten die Lager als Werbung für die Pionierorganisation genutzt werden. Man versprach sich davon eine Sogwirkung auf die nichtorganisierten Kinder.132 Die »Aufnahme der in der örtlichen Kindererholung geworbenen Kinder in den Verband der Jungen Pioniere« wurde zu einem Höhepunkt der Festlichkeiten, die die Ferien abschlossen.133 132 Ebd. 133 SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/905/103, Kindererholung 1949, Bl. 2.
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Schließlich entstanden betriebliche Kinderferienlager, deren Anfänge in der 1951 vom Politbüro des ZK der SED beschlossenen Aktion »Frohe Ferientage für unsere Kinder!« lagen (Abbildung 30).134 Ihren Ausgangspunkt nahm diese Aktion in der III. Durchführungsbestimmung zum Gesetz zur Förderung der Jugend aus dem Jahre 1951. In der Durchführungsverordnung war festgelegt worden, dass volkseigene und ihnen gleichgestellte Betriebe aus »eigener Initiative und mit eigenen Mitteln« für die Kinder ihrer Beschäftigten sogenannte Betriebsferienlager schaffen sollten.135 Diese Entscheidung ist insofern bemerkenswert, weil – wie bereits im ersten Kapitel ausgeführt – gerade in den frühen Jahren der DDR betriebliche Erholungseinrichtungen für Erwachsene abgelehnt wurden, während man die Schaffung betrieblicher Einrichtungen für Kinder ausdrücklich unterstützte. Die Betriebe erschlossen Gelände für die Ferienlager, bauten Sanitäranlagen und Kochgelegenheiten, beschafften Zelte, Schlafsäcke und -decken, Spiele, Sportgerät u.v.m. Die Reichsbahndirektion Halle veranlasste den Bau von zwei Ferienzügen.136 Andere Betriebe richteten enteignete Schlösser und Herrenhäuser für die Ferienlager her. Gleichwohl lag die Koordinierung in den Händen der Abteilung Kulturelle Massenarbeit des FDGB und der Betriebsgewerkschaftsleitungen. Auch die FDJ, der Demokratische Frauenbund Deutschlands (DFD) und zahlreiche staatliche Stellen wirkten mit (u.a. das Ministerium der Finanzen, das Ministerium für Gesundheit, das Ministerium für Handel und Versorgung, das Staatssekretariat für Materialversorgung sowie die örtlichen Organe). Die breite Einbeziehung unterschiedlicher Stellen bezeugt, dass nichts dem Zufall überlassen, »geschweige denn in die Hände der eigentlich Beteiligten gelegt werden« sollte, wie Leonore Ansorg konstatiert.137 Die Teilnehmerzahlen an all diesen Formen der Kinder- und Jugenderholung waren durchweg sehr hoch. Allein 1951 entstanden im Rahmen der Aktion »Frohe Ferientage für unsere Kinder« 2.017 Ferienlager mit einer Gesamtkapazität für 237.631 Kinder.138 Im Sommer 1989 verbrachten zwei Millionen Kinder und Jugendliche ihre Ferien in 49 Lagern der FDJ und ihrer Pionierorganisation sowie in rund 5.000 betrieblichen Ferienlagern.139
134 Frohe Ferientage für unsere Kinder!, hg. v. Bundesvorstand des FDGB, Abteilung Kulturelle Massenarbeit, Berlin 1951. 135 SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2/141, Erholung für alle Jungen und Mädchen. III. Durchführungsverordnungen zur Durchführung des Jugendgesetzes, Bl. 16. 136 Frohe Ferientage für unsere Kinder!, S. 3. 137 Ansorg, Kinder im Klassenkampf, S. 113. 138 SAPMO-BArch, DY 34/24125, Kulturelle Massenarbeit [des FDGB-Bundesvorstandes], Sekretariatsvorlage. 25. 10. 51, S. 1. 139 Walter, Die Freie Deutsche Jugend, S. 142.
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30 Einband der Broschüre »Frohe Ferientage für unsere Kinder«. Sie wurde 1951 vom Bundesvorstand des FDGB herausgegeben.
Die in der Nachkriegszeit ursprünglich zur Erholung konzipierten Ferienlager erhielten in den folgenden Jahren einen ausgeprägt erzieherischen Charakter.140 Fern von ihrer alltäglichen Umgebung, unabhängig davon, ob die Lager sich in weiter Entfernung zum Heimatort oder in der Nähe befanden, waren die Kinder und Jugendlichen unter staatliche Aufsicht gestellt.141 Die unterschiedlichen Ansätze für den Kinder- und Jugendurlaub unterlagen in ihrer Gesamtheit den Ziel- und Ordnungsvorstellungen der SED-Jugendpolitik. Wichtigstes Anliegen war die »sozialistische Erziehung der heranwachsenden Generation durch die Aneignung der marxistisch-leninistischen Weltanschauung und durch die unmittelbare Teilnahme der Jugend am Kampf um die Lösung der vor der Gesellschaft stehenden Aufgaben«, wie es im »Wörterbuch zur Sozialistischen Jugendpolitik« heißt.142 Besonderes Augenmerk lag auf der »Erziehung der Jugend zur Liebe zu ihrem sozialistischen Vaterland, der DDR, zum proletarischen Internationalismus, insbesondere zur unverbrüchlichen Freundschaft mit der Sowjetunion, zur sozialistischen Einstellung 140 Freiburg/Mahrad, FDJ. Der sozialistische Jugendverband der DDR, S. 224ff.; Brigitte Deja-Lölhöffel, Freizeit in der DDR, Berlin 1986, S. 34ff.; Ansorg, Kinder im Klassenkampf, S. 112. 141 Ansorg, Kinder im Klassenkampf, S. 109. 142 Wörterbuch zur Sozialistischen Jugendpolitik, Berlin (Ost) 1975, S. 125.
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zur Arbeit und zum gesellschaftlichen Eigentum, zur Verteidigungsbereitschaft«.143 Fahnenappelle leiteten den Tag ein, Sport, Exerzieren und Wachestehen begleiteten seinen Ablauf. Die Ansprachen zum Flaggenhissen orientierten sich an politischen Ereignissen und historischen Gedenktagen; auch die Lektüre aktueller Zeitungen stand auf dem Programm (Abbildung 31). Kaum einer Beschäftigung wurde in den Ferienlagern nachgegangen, die nicht an ideologische Ziele gebunden war: die Überlegenheit des Sozialismus zu zeigen, zu seiner Festigung beizutragen und den Sozialismus und seine »Errungenschaften« verteidigen.144 Schließlich sollte sich – wie auch beim Urlaub der Erwachsenen – der Sozialismus vor Ort verwirklichen. Visueller Ausdruck dieser Vorhaben waren die überall präsenten Spruchbänder, wie zum Beispiel »Spiel, Freude und Erholung ist nur möglich, wenn alle für den Frieden kämpfen!«, und Porträts der politischen Führung – teils fand sich in den frühen Jahren auch das Bild Stalins im Speisesaal.145
31 Tagesablauf im Kinderferienlager (Frohe Ferientage für unsere Kinder, S. 18/19)
143 Ebd. 144 Leonore Ansorg, »Für Frieden und Sozialismus – seid bereit!« Zur politischen Instrumentalisierung der Jungen Pioniere von Beginn ihrer Gründung bis Ende der 1950er Jahre, in: Historische DDR-Forschung, S. 169–189, hier S. 177. 145 Frohe Ferientage für unsere Kinder!, S. 21.
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Mit einem gewählten Lagerrat, Zelt-, Zimmer- oder Gruppenvertretern, »Bürgermeistern« und »Freundschaftsräten«, die aus den gewählten »Zeltältesten« bestanden, sollten Formen der Partizipation unter sozialistischen Vorzeichen eingeübt werden. Dabei ging es freilich nicht um Selbstverwaltung der Lager durch die Kinder oder auch nur um Mitbestimmung, auch ging es nicht um das Erleben und Erlernen demokratischer Regeln und Verfahrensweisen. Denn schon die Wahlen waren im westlichen Sinne nur scheinbar demokratisch, weil die »Besten« der Pioniere in die einzelnen Funktionen gewählt werden mussten. Die jungen Funktionäre hatten dementsprechend nur die Umsetzung und Einhaltung der Anweisungen der Lagerleitung zu kontrollieren, ohne dabei über eigene Handlungsspielräume zu verfügen. Insgesamt zielte die Gestaltung der Lager, wie Ansorg darstellt, auf die Nivellierung der Individualität und das Aufgehen des Einzelnen in der sozialistischen Gemeinschaft: »Nicht das Individuum, sondern seine Funktion innerhalb des ›Kollektivs‹ stand im Vordergrund. Nur durch das Kollektiv, die Betätigung in der Gemeinschaft, bekam das eigene Leben einen sinnvollen Inhalt.«146 Auf diese Weise waren die Lager Vorbereitung auf das Leben in der DDR und Schulen des »demokratischen Zentralismus«. Daraus darf man aber nicht ableiten, dass die Gestaltung der Ferienlager allein politisch überformt und an den Interessen der Kinder vorbei geplant wurde. Zwar kritisierten manche Eltern, dass es gewiss nicht der Erziehung zum Frieden diene, wenn im Geländespiel der Kampf der »Volksarmee« gegen die Kapitalisten simuliert werde.147 Die Geländespiele aber verbanden die sozialistische Ideologie mit Indianer- und Kriegsspielen, was Kinder wohl seit jeher begeistert. Nur die Namen der Parteien und der zuvor feststehende Sieger wurden unter politischen Vorzeichen gewählt. Die Kinder waren oftmals begeistert von den Ferienlagern, boten sie doch Abenteuer und Spiel. Sie knüpften an die Bedürfnisse der Kinder nach Romantik, Geselligkeit und Unabhängigkeit von den Eltern an und erlaubten es ihnen, aus der Alltagswelt auszubrechen. Die Ferienlager waren nicht selten eine abwechslungsreiche, vergnügliche Zeit mit zahlreichen positiven Erlebnissen für die Kinder – trotz der stets präsenten Politisierung.148 In der Regel nahmen daher selbst kritische Eltern die politische Instrumentalisierung in Kauf, weil die Kinder in den Ferien trotz allem »von der Straße geholt« wurden und sinnvoll beschäftigt waren.149 In der Summe gelang es – trotz der Ideologisierung –, ein fröhliches, interessantes und 146 147 148 149
Ansorg, Kinder im Klassenkampf, S. 115. Ansorg, »Für Frieden und Sozialismus – seid bereit!«, S. 178. Ansorg, Kinder im Klassenkampf, S. 109. Freiberg/Mahrad, FDJ, S. 227.
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altersgerechtes Ferienerlebnis für die Kinder und Jugendlichen zu schaffen, indem man direkt an ihre Freizeitinteressen anknüpfte (Abbildung 32). »Touristik und Wandern« Während die von der FDJ und/oder den Betrieben organisierten Ferienlager für Kinder bereits in den 1950er-Jahren relativ feste Strukturen annahmen, die bis 1989 beinahe unverändert blieben, gelang es nicht, für ältere Jugendliche Ähnliches zu schaffen. Denn die ideologische Durchdringung mochte den Kindern noch kaum bewusst gewesen sein, solange Spiel, Spaß und Abenteuer nicht zu kurz kamen. Je älter sie jedoch wurden, desto genauer nahmen die Heranwachsenden die politischen Beeinflussungen des Freizeiterlebnisses wahr. Einige ältere Jugendliche begannen schon in den 1950er-Jahren auf staatliche Vermittlung und Unterstützung zu verzichten und auf eigene Faust zu reisen. Trampen, wildes Campen und »Freipoofe«, also das Übernachten im Freien, wurden damit zu wichtigen, oft popkulturell durchdrungenen Bestandteilen eines individuellen Jugendtourismus, der versuchte, sich dem staatlichen Einfluss zu entziehen, der als trist empfundenen Alltagswelt der DDR zu entfliehen und das Abenteuer zu suchen. Weil es Abenteuer versprach und zudem nur mit geringen Kosten verbunden war, kam dem Wandern in diesem Kontext in den 1950er-Jahren bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen große Bedeutung zu. Zugleich versuchte natürlich auch der Staat, hier aktiv zu werden, um das Abenteuer gewissermaßen in den Sozialismus einzubinden und kontrollieren zu können. Das sehr häufig verwendete Begriffspaar »Touristik und Wandern« zielte in erster Linie auf einen aktiv verlebten Urlaub mit Wandern, Geländelauf, Bergsteigen, Skifahren, Wasserwandern, Fahrradtouren und vielem anderen mehr. In der Gesamtheit dieser Aktivitäten wurde »Touristik« zu einer eigenständigen, sportlichen Disziplin, in der auch regelmäßige Wettkämpfe ausgetragen wurden.150 Auch das dazugehörige Adjektiv »touristisch« rückte im Gegensatz zur westlichen Verwendung vor allem die sportliche Betätigung in den Vordergrund. Der »Tourist« war daher anders als im westlichen, oft negativ konnotierten Sprachgebrauch nicht schlicht ein Teilnehmer am Fremdenverkehr, sondern ein aktiver, sich sportlich betätigender und daher durchweg positiv bewerteter Reisender. In der Regel fand der »Tourist« seine Unterkunft nicht in Erholungsheimen oder Hotels, sondern eher bescheiden in Zelten, Jugendherbergen und Wanderunterkünften. Durch diese Betonung der sportlichen Aktivität und der einfachen Unterkunft erklärt sich zugleich, dass die Jugend eine wesentliche Zielgruppe der »Touristik« bildete.151 150 Vgl. auch zur Begriffsgeschichte »Touristik und Tourismus«: Rüdiger Hachtmann, TourismusGeschichte, S. 10f. 151 LAB C Rep. 101-02, Nr. 100, [Gerhard Wenzel, Zur Gründung des KTW, 1956], S. 4.
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32 Abenteuer gehörten zu den Kinder- und Jugendferienlagern und Ausflügen. Das Bild aus den 1950er-Jahren zeigt eine Wanderfahrt der Jungen Pioniere. (Schindler, Freude, Frohsinn, glückliche Menschen, S. 44)
Während in anderen Bereichen des Fremdenverkehrs eine positive Bezugnahme auf frühere Zeiten die Ausnahme blieb, wurden hinsichtlich des Wanderns die Kontinuitätslinien zur Weimarer Republik explizit betont und Bezüge zur Arbeiterwanderbewegung hergestellt.152 Ausdrücklich wurde gefordert, »dass die unter der Arbeiterjugend und Arbeitersportbewegung heimisch gewesene Tradition der untrennbaren Verbindung von Jugend und Wandern wieder auflebt«.153 Denn ein »nicht geringer Teil der Jugend« sei damals »zu Patrioten ihrer Heimat, zu unerschrockenen Kämpfern zur Sache der Arbeiterklasse erzogen« worden, schrieb Gerhard Wenzel, Vorsitzender des 1956 gegründeten Komitees für Touristik und
152 Vgl. die Pionierlager des Jung-Spartakus-Bundes Leipzig in der Weimarer Republik. Hierzu: Wir Pioniere sind immer bereit! Dokumente zur Geschichte der kommunistischen Kinderbewegung in Leipzig, hg. v. Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung der SED-Bezirksleitung Leipzig und Bezirkskabinett für Weiterbildung der Lehrer und Erzieher, Leipzig 1981, Tafel 27ff. und 57. 153 LAB C Rep. 101-02, Nr. 100, Perspektivplan für die Entwicklung der Touristik und des Wanderns im Jahre 1958 in Berlin, o.D., S. 1.
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Wandern, auf das unten näher eingegangen wird.154 So manches Mal sei »im Kampf gegen die kapitalistischen Machtverhältnisse« die Wanderung die einzige Möglichkeit gewesen, »im Freien mit primitiven Mitteln die Ideologie der Arbeiterklasse und ihr Kampfprogramm ›frei‹ und ungehindert zu diskutieren«. Die Wanderungen hätten eine »Geschlossenheit in der Erziehung« hervorgebracht, in der nicht nur der »Ernst des Lebens« dargestellt, sondern auch »der Ausgelassenheit und Fröhlichkeit« genügend Raum gewährt würde. Und so sei die gemeinsame Wanderung schließlich »für alle immer ein Erlebnis« gewesen und habe »grosse Eindrücke [hinterlassen], die wahrscheinlich alle, die es mitgemacht haben, nicht vergessen möchten«. Regelmäßig wurden die Traditionslinien auch über die Arbeiterbewegung hinaus verlängert. So galt immer wieder Johann Wolfgang von Goethe als Vorbild, der oft mit den »für uns heute noch richtungsweisenden Worte[n]« zitiert wurde: »Was ich nicht erlernt habe, habe ich mir erwandert.«155 Diese Konstruktion von Kontinuität korrelierte mit der starken ideologischen Besetzung der »Touristik«. Daher gehörten neben der genuin sportlichen Betätigung in freier Natur auch Besichtigungen und Exkursionen in Städte, »Kulturund Aufbauzentren« sowie der Besuch von »nationalen Gedenkstätten und […] Brennpunkten des revolutionären Kampfes der Arbeiterklasse« zum Programm der »Touristen«.156 Im »Handbuch des FDJ-Gruppenleiters« heißt es dazu: Es ist doch interessant und verlockend, all das Neue und Bedeutende in unserer Deutschen Demokratischen Republik selbst zu sehen, zum Beispiel das Eisenhüttenkombinat J. W. Stalin, die Maxhütte, die Warnowwerft oder eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. Ein gleiches Interesse erwecken Orte, in denen bedeutende und berühmte deutsche Menschen gelebt und gewirkt haben, besonders Führer der Arbeiterklasse und antifaschistische Widerstandskämpfer.157
Zugleich versprach man sich unverhohlen auch einen Beitrag zur paramilitärischen Ausbildung. Denn der »Tourist« eigne sich »freudig und zwanglos« Kenntnisse an, »welche die wichtigsten Voraussetzungen zur Verteidigung unse154 Hier und im Folgenden: LAB C Rep. 101-02, Nr. 100, [Gerhard Wenzel, Zur Gründung des KTW, 1956], S. 2f. 155 Ebd., S. 3; im Original lauten die Worte, mit denen Goethe seine tagebuchartigen Notizen »Zur Naturwissenschaft überhaupt« überschrieben hat: »Was ich nicht erlernt hab ,/ Das habe ich erwandert.« ( Johann Wolfgang von Goethe, Werke. Weimarer Ausgabe II. Abteilung, Bd. 13, hg. v. Max Morris, Weimar 1894, S. 402.) 156 LAB C Rep. 101-02, Nr. 100, Perspektivplan für die Entwicklung der Touristik und des Wanderns in der Deutschen Demokratischen Republik im Jahre 1957, S. 3. 157 Handbuch des FDJ-Gruppenleiters, hg. v. Zentralrat der Freien Deutschen Jugend, Berlin 1956, S. 529.
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rer sozialistischen Errungenschaften und der Heimat sind, da diese [Kenntnisse] zugleich Grund-Elemente für die vormilitärischen Fähigkeiten darstellen«.158 Zu diesen vormilitärischen Fähigkeiten zählten u.a. das Lesen und Beherrschen von Karte und Kompass, die Orientierung im Gelände, das Anlegen von Feuerstätten, das Aufstellen von Zelten und Notunterkünften sowie die Übernachtung im Freien. Die »Fuss- und Körperpflege« auf langen Märschen kam hinzu.159 Seit 1956 wurden regelmäßig Wettkämpfe vom »Komitee für Touristik und Wandern« veranstaltet, bei denen die »Touristen« ihre Fähigkeiten als Leistungssportler unter Beweis stellen konnten (Abbildung 33).160
33 Junge »Touristinnen« beim Wettkampf (Unterwegs 3 [1959], H. 8, Vordere Umschlaginnenseite)
158 LAB C Rep. 101-02, Nr. 100, [Gerhard Wenzel, Zur Gründung des KTW, 1956] , S. 4. Vgl. Ansorg, »Für Frieden und Sozialismus – seid bereit!«, S. 178. 159 Ebd. 160 Heinz Schlosser, Ist Touristik Leistungssport?, in: Unterwegs 3 (1959), H. 8, S. 1–2.
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Dieses Komitee wurde 1956 gegründet, weil die Wanderer in der DDR meist auf eigene Faust aufbrachen – und trotz der ideologischen und paramilitärischen Bedeutung, die man der »Touristik« und dem Wandern in der DDR zuerkannte, wenig Gebrauch von den Angeboten der FDJ, des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) oder des Kulturbundes machten: Organisierte Wanderungen stießen auf wenig Interesse. Durch die Bildung des »Komitees für Touristik und Wandern« (KTW) unter dem Vorsitz von Gerhard Wenzel im Jahre 1956 sollte das organisierte Wandern und die organisierte »Touristik« stärker denn je befördert und zugleich staatlicher Kontrolle unterworfen werden. Als selbstständiges gesellschaftliches Organ, in dem neben den Trägerorganisationen FDJ, FDGB und DTSB andere gesellschaftliche Organisationen wie der Kulturbund und das Deutsche Rote Kreuz, mehrere Ministerien, staatliche Organe und Fachleute vertreten waren, kam ihm die Aufgabe zu, die Voraussetzungen für eine breite Wanderbewegung in der DDR zu schaffen und die unterschiedlichen Aktivitäten verschiedener Stellen auf diesem Gebiet zu fördern und zu koordinieren.161 Die Liste der Aufgaben, die sich aus dieser sehr allgemein gehaltenen Zielstellung ergab, war lang. Sie beinhaltete unkonkrete, beinahe nebulöse Formulierungen zur »Organisierung einer breiten Touristen- und Wanderbewegung unter der Jugend«, »Pflege der fortschrittlichen Traditionen und Kultur der deutschen Wander- und Bergsteigerbewegung« und ihre Förderung »im internationalen und gesamtdeutschen Maßstab«. Neben diesen grundsätzlichen, ideologisch aufgeladenen Vorgaben enthielt die Aufgabenzuschreibung auch sehr pragmatische Aspekte wie die »Erschließung von Wanderrouten, Wanderwegen, Lehrpfaden und deren Markierung«. Außerdem kam dem KTW die Aufgabe zu, einen »einheitlichen Jahresterminkalender für touristische Großveranstaltungen« wie beispielsweise die »Wandertage der deutschen Jugend« und die sogenannten Sonnenwendfeiern zu erstellen. Schließlich oblag dem KTW die »Unterstützung der Arbeit auf dem Gebiet des Lichtbild- und Filmschaffens, des Rundfunks und der Presse«.162 Zur Wahrnehmung dieser Aufgaben wurden dem KTW jedoch keine weitreichenden materiellen Ressourcen zugeteilt. Das Komitee blieb lediglich ein koordinierendes Organ, das keine Möglichkeiten hatte, unmittelbaren Einfluss auf die materielle Gestaltung der »Touristik« zu nehmen. Weder die grundlegenden noch die pragmatischen Aufgaben konnte das KTW erfüllen. Im Wesentlichen blieben die im Komitee vertretenen gesellschaftlichen Organisationen und staatlichen Organe für ihren jeweiligen Aufgabenbereich dominant, ohne dass das KTW hier Einfluss erlangen konnte. 161 LAB C Rep. 101-02, Nr. 100 [ZK-] Beschluß über die Bildung von Komitees für Touristik und Wandern, 11. 10. 1956, S. 1. 162 Ebd., S. 3f.
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Um diese Entwicklung zu korrigieren, wurde beim Amt für Jugendfragen des Ministerrates ein »Büro für Touristik und Wandern« eingerichtet, dessen Leiter zugleich dem KTW vorstehen sollte. Anstatt die Schlagkraft des KTW zu erhöhen, indem man ihm materielle und finanzielle Ressourcen zur Seite stellte, entwickelte sich mit dem Büro beim Amt für Jugendfragen des Ministerrates eine duale Struktur: Das KTW als koordinierendes Organ stand fortan staatlichen Stellen gegenüber, wo die eigentlichen Entscheidungen getroffen wurden. Diese doppelte Struktur setzte sich bis in die Bezirksebene fort. Dort war die Zuständigkeit für die »Touristik« an die Abteilungen Jugendarbeit der Räte der Bezirke angebunden. Die verantwortlichen Mitarbeiter waren zugleich Vorsitzende der bezirklichen »Komitees für Touristik und Wandern«. In Bezirken, auf deren Territorium bedeutende Wandergebiete lagen (Ostsee, Mecklenburgische Seenplatte, Harz, Thüringer Wald, Sächsische Schweiz u.a.) wurden zudem – ebenfalls bei den Jugendabteilungen der bezirklichen Räte – sogenannte Wanderstützpunkte gebildet, deren hauptamtliche Instrukteure die Mitarbeiter der Jugendherbergen und Zeltplätze »anleiten und kontrollieren« sollten. Allein in den Kreisen wurde auf die Bildung von Komitees verzichtet, während die Belange der »Touristik« und des Wanderns wiederum bei der Jugendabteilung der Räte der Kreise behandelt werden sollten. Angesichts dieser unübersichtlichen Struktur wurde die Bedeutung des KTW erheblich relativiert, da die Entscheidungsbefugnisse stets bei den staatlichen Organen verblieben. Von den hochgesteckten Zielen blieben dem KTW kaum mehr als die publizistische Tätigkeit und das Ausarbeiten von Wanderrouten. Aber auch die Wanderungen waren nicht frei von Reglementierungen, die andere staatliche Stellen trafen: Zwingend musste die stets zehntägige Wanderung mit neun Übernachtungen an der sogenannten Leitjugendherberge begonnen werden. Während der Wanderung war es Pflicht, die vorab festgelegten Unterkünfte zur Übernachtung zu nutzen. Allein die angegebene Routenführung wurde als Vorschlag bezeichnet, wobei es dem Wanderer überlassen blieb, andere Wegstrecken zu wählen, sofern er die festgesetzten Ziele der Tagesabschnitte erreichte – möglichst vor 18.00 Uhr.163 Nur für kurze Zeit erreichte das KTW auf dem Gebiet der Auslandsreisen eine gewisse Bedeutung – teilweise bot es sehr ausgefallene Reisen an, wie eine viermonatige Fahrt mit dem Frachtschiff »Freundschaft« nach China, für die aus jedem Bezirk ein Teilnehmer ausgewählt werden konnte.164 Bereits 1963 aber wurden die 163 SAPMO-BArch, DY 34/29/1592/6003, Was man von einer zentralen Wanderroute wissen muß!, S. 1. 164 SAPMO-BArch, DY 34/29/1592/6003, An alle Bezirkskomitees für Touristik und Wandern. An alle Bezirksleitungen der Freien Deutschen Jugend, Betr.: Auslandstouristik, 10. 6. 1959, S. 4.
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Kompetenzen des KTW für Auslandsreisen der Abteilung »Jugendtourist« beim Reisebüro der DDR übergeben. 1975 wurde diese Abteilung des Reisebüros – wie noch zu zeigen ist – mit dem KTW zusammengefasst und als Jugendreisebüro »Jugendtouristik« verselbstständigt.165 Damit war das Ende des KTW besiegelt. Rückblickend kann man feststellen, dass von Beginn an ein tiefer Spalt zwischen den politischen, ideologisch hochgradig durchdrungenen Zielsetzungen und den realen Gestaltungsmöglichkeiten klaffte. Die angestrebte Koordinierung der »Touristik« und des Wanderns war nicht gelungen, die Auflösung des KTW in den 1970er-Jahren somit eine durchaus vernünftige Entscheidung. Gleichwohl aber hatte die Wirkungslosigkeit des KTW die Tür weit aufgestoßen für individuelle Reisen und Campingurlaube, die in den 1960er-Jahren massiv zunahmen. Das Jugendreisebüro »Jugendtourist« der FDJ Im Frühjahr 1972 stellte die FDJ besorgt fest, dass der Jugendtourismus, dem man für die Erziehung des »neuen Menschen« so große Bedeutung beimaß, immer mehr »von der kommerziellen Seite her« betrachtet werde.166 Die Kritik zielte dabei in erster Linie auf das »Reisebüro der DDR« mit seiner Abteilung »Jugendtourismus«, bei dem bis 1975 die Zuständigkeit für organisierte Auslandsreisen lag. Denn von den Jugendfunktionären in Partei, Staat und Gewerkschaft wurde dem Reisebüro der DDR »die kommerzielle Tätigkeit entsprechend den Prinzipien eines wirtschaftsleitenden Betriebes« vorgeworfen. Thiele, Vertreter des FDGBBundesvorstandes im Zentralrat der FDJ, führte sogar aus, dass es eine »Sünde« sei, aus der Jugendtouristik Gewinn zu ziehen.167 Diese Äußerungen markierten den Auftakt zu einer Diskussion um den politischen Einfluss auf die Erholung von Jugendlichen. Denn zum einen hatte sich im vergangenen Jahrzehnt die Zahl von Jugendlichen, die zu Reisen aufbrachen, deutlich erhöht, ohne dass die FDJ die Reisen kontrollieren und kanalisieren konnte. Zum anderen hatte der VIII. Parteitag der SED im Jahre 1971 auch in diesem Bereich deutliche Impulse gesetzt. Die »Jugenderholung« sollte durch die Erweiterung der Campingplätze und Jugendherbergen168 sowie die Nutzung 165 Freiburg/Mahrad, FDJ, S. 229. 166 SAPMO-BArch, DY 30/13911/1, Standpunkt des Sekretariats des Zentralrates der FDJ zu Fragen der Jugendtouristik in der DDR, o.D. [April 1972], S. 4f. 167 SAPMO-BArch, DY 30/13911/1, Gen. R. Becker, Vermerk über die Ereignisse der Beratung der Jugendkommission beim Politbüro zu Fragen der weiteren Entwicklung der Jugendtouristik in der DDR, 16. 6. 1972, S. 2. 168 SAPMO-BArch, DY 34/24944, Maßnahmen zur weiteren Entwicklung des Erholungswesens der DDR durch planmäßige Erweiterung der Anzahl der Erholungsreisen und Schaffung von weiteren Möglichkeiten der Nah- und Wochenenderholung, o.D., S. 6. [Es handelt
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von Internaten und Schulen während der Ferien als Wanderquartiere erheblich ausgeweitet werden.169 Während die FDJ jahrelang die Reisen der Jugendlichen mit dem Reisebüro und sogar die Individualreisen toleriert hatte, forderte sie jetzt ihre Zuständigkeit für den Jugendtourismus ein. Gerhard Naumann, Sekretär der Jugendkommission beim Politbüro des ZK der SED forderte: »Aufgabe des Zentralrates der Freien Deutschen Jugend sollte es künftig sein, unmittelbaren Einfluß auf diese wichtige Seite der Freizeitgestaltung der Jugend zu nehmen und ein konkretes Programm für die Entwicklung der Jugendtouristik in der Deutschen Demokratischen Republik zu erarbeiten.«170 Im »Grundanliegen« gehe es darum, »die politische und organisatorische Verantwortung des Jugendverbandes für die Jugendtouristik insgesamt zu erhöhen«.171 Die FDJ versprach sich davon nicht nur eine Ausdehnung des Angebotes, eine höhere Effektivität und niedrigere Preise, sondern auch vor allem eine Erhöhung der »Ausstrahlungskraft des Jugendverbandes«, eine weitere Festigung der Grundorganisationen und damit seiner Wirkung bei den Jugendlichen.172 Letztlich wollte die FDJ die Reisen der Jugendlichen lenken, um sie kontrollieren zu können. Während in allen anderen Bereichen im Erholungswesen der vergleichende Blick in die Sowjetunion und die Ostblockländer die Ausnahme blieb, wurde der Vergleich im Falle der Jugendtouristik sogar zum politischen Argument, um die fehlenden organisatorischen Voraussetzungen für ein Reisebüro der FDJ schnell herzustellen. 1972 wurde vom Zentralrat der FDJ bezüglich des Jugendtourismus betont, dass auch in »allen anderen sozialistischen Ländern«, im Gegensatz zur DDR, Jugendreisebüros in enger Bindung an die jeweiligen Jugendorganisationen bestünden – wie das sowjetische »Sputnik«, die polnischen Büros »Juventur« und »Almatur«, das ungarische Büro »Express«, das bulgarische »Orbita« etc.173
sich um eine Vorlage für den Ministerrat, der das Präsidium des FDGB am 12. 11. 1971 zustimmte. Vgl. SAPMO-BArch, DY 34/24944, Bundesvorstand. Beschluß des Präsidiums vom 12. 11. 71, Nr. P 141/71.] 169 SAPMO-BArch, DY 30/13911/2, Gerhard Naumann, Sekretär der Jugendkommission beim Politbüro des ZK der SED, Fragen der weiteren Entwicklung der Jugendtouristik der Deutschen Demokratischen Republik, Juli 1972, S. 5. 170 Ebd., S. 9. 171 SAPMO-BArch, DY 30/13911/1, Gen. R. Becker, Vermerk über die Ereignisse der Beratung der Jugendkommission beim Politbüro zu Fragen der weiteren Entwicklung der Jugendtouristik in der DDR, 16. 6. 1972, S. 1. 172 SAPMO-BArch, DY 30/13911/1, Standpunkt des Sekretariats des Zentralrates der FDJ zu Fragen der Jugendtouristik in der DDR, o.D. [April 1972], S. 7ff. 173 Ebd., S. 7.
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Ein Jahr später gab der Bericht einer Delegation des ZK der SED ausführlich Auskunft über eine Konsultation mit den Vertretern des ZK der KPdSU.174 Im Zentrum des Gespräches hatte das »internationale Jugendreisebüro ›Sputnik‹« gestanden, das 1957 anlässlich der VI. Weltfestspiele der Jugend und der Studenten auf Vorschlag des ZK des Komsomol, des sowjetischen Jugendverbandes, gegründet worden war.175 Die deutschen Gäste interessierte vor allem die institutionelle Gestaltung des Jugendreisebüros. Deutlich hob der Bericht deshalb die enge Anbindung an den sowjetischen Jugendverband Komsomol hervor – eine enge Verzahnung von Jugendreisebüro und Jugendverband, die nun auch die Funktionäre in der DDR anstrebten: »Das internationale Jugendreisebüro ›Sputnik‹, so wurde [von sowjetischer Seite, CG] nachdrücklich unterstrichen, hat sich als eine Einrichtung des Komsomol bewährt. Es ist dem Sekretariat des ZK des Komsomol gegenüber unmittelbar rechenschaftspflichtig und arbeitet gleichzeitig auf wirtschaftlich selbstständiger Grundlage.«176 Der Jugendverband der UdSSR trage die Verantwortung für die Jugendtouristik und habe somit unmittelbaren Einfluss auf die erzieherischen Maßnahmen. In der Sowjetunion sei Jugendtouristik vor allem »eine politische Aufgabe […], in deren Mittelpunkt die Erziehung der Jugend im Geiste des sozialistischen Patriotismus und proletarischen Internationalismus steht«.177 Ein Reisebüro in ihrer unmittelbaren Verantwortung schwebte nun auch der FDJ vor; sie regte daher die Gründung eines »Büros für Jugendtouristik« an, das auf der Grundlage des »Komitees für Touristik und Wandern«, der Organe der Abteilung »Jugendtourist« des Reisebüros der DDR und der bezirklichen Vermittlungsstellen für Jugendherbergen geschaffen werden sollte, um die Organisation von Kinder- und Jugendtourismus auf einheitlicher Grundlage weiterzuführen.178 Nach langen Diskussionen wurde 1975 schließlich das Jugendreisebüro »Jugendtourist« der FDJ gegründet. Das Statut des Jugendreisebüros wurde am 174 SAPMO-BArch, DY 30/13911/2, Information über ein Konsultationsgespräch beim ZK der KPdSU zu Fragen der Jugendtouristik, 26. 1. 1973. Der DDR-Delegation gehörten Gerhard Naumann, Stellvertretender Leiter der Abteilung Jugend beim ZK der SED, Hannes Rech, Sekretär des Zentralrates der FDJ und Vorsitzender des KTW, Wolfgang Göttlich, Abteilungsleiter im Zentralrat der FDJ, und Rolf Glückauf, 1. Sekretär der Botschaft der DDR in der UdSSR, an. 175 SAPMO-BArch, DY 30/13911/2, Information über ein Konsultationsgespräch beim ZK der KPdSU zu Fragen der Jugendtouristik, 26. 1. 1973, S. 4. 176 Ebd., S. 7ff. 177 Ebd. 178 SAPMO-BArch, DY 30/13911/1, Standpunkt des Sekretariats des Zentralrates der FDJ zu Fragen der Jugendtouristik in der DDR, o.D. [April 1972], S. 9; SAPMO-BArch, DY 30/13911/2, Gerhard Naumann, Sekretär der Jugendkommission beim Politbüro des ZK der SED, Fragen der weiteren Entwicklung der Jugendtouristik der Deutschen Demokratischen Republik, Juli 1972, S. 9.
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13. März 1975 vom Sekretariat des Zentralrates der FDJ beschlossen; es trat rückwirkend zum 1. Januar 1975 in Kraft. In ihm wurden der neuen Einrichtung die Aufgaben zugeschrieben, »touristische Programme für die Jugend zu organisieren und zu gestalten, den politischen Einfluß der FDJ auf den Inhalt und die Entwicklung der Jugendtouristik zu sichern sowie eine den wachsenden Bedürfnissen der Jugend entsprechende niveauvolle politische und touristische Betreuung der teilnehmenden Jugendkollektive und Jugendlichen zu gewährleisten«.179 Das Reisebüro habe »durch vielseitige Formen die Freundschaft zwischen der Jugend der DDR und der UdSSR sowie der Jugend der anderen sozialistischen Länder zu festigen und unter der Jugend den Gedanken des Internationalismus und sozialistischen Patriotismus zu vertiefen«.180 Nominell konnten »junge Bürger im Alter bis zu 30 Jahren aus der DDR und anderen Staaten, die zeitweilig in der DDR leben und studieren bzw. ein festes Arbeitsrechtsverhältnis nachweisen können, insbesondere FDJ-Kollektive der Arbeiterjugend, der Landjugend, der Studenten und Schüler« an den Reisen teilnehmen.181 In den 1980er-Jahren wurde die Altersgrenze auf 25 Jahre gesenkt, wobei allerdings Ausnahmen möglich waren, um auch den Reisebedürfnissen der meist wesentlich älteren Funktionäre des Jugendverbandes zu entsprechen. Es sei dabei zu gewährleisten, »daß höchstens zehn Prozent der Teilnehmer einer Gruppe über 30 Jahre alt sind«.182 Der Form, der Aufgabe und dem Namen nach war »Jugendtourist« folglich in erster Linie ein Reisebüro, das sein Angebot (Städtereisen, Bildungsreisen, Urlaubsaufenthalte und Erholungsurlaube183) über Mitgliederversammlungen der FDJ, Jugendforen, Wand- und Betriebszeitungen bewarb. Doch damit enden auch schon die Parallelen zu einem kommerziellen Reisebüro. Denn die Jugendlichen mussten sich mit einem Vormerkschein für die gewünschte Reise bewerben; bei Einzelreisen trafen schließlich die FDJ-Grundorganisationen die Entscheidung über die Reisen, 179 SAPMO-BArch, DY 24/12069, Beschluß des Sekretariats des Zentralrates der Freien Deutschen Jugend vom 13. 3. 1975, Statut des Jugendreisebüros der DDR »Jugendtourist«, § 3 Abs. 1ff. 180 Ebd. 181 SAPMO-BArch, DY 24/12.053/K 8/15/76, Teilnahme- und Leistungsbedingungen des Jugendreisebüros der DDR »Jugendtourist« (Beschluß des Sekretariats des ZR der FDJ vom 13. 1. 1976), S. 2. 182 SAPMO-BArch, DY 24/12.072/K 9/16/84, Richtlinie für die Vergabe von »Jugendtourist«-Reisen und die Vermittlung der Plätze in den Jugendherbergen und Allgemeine Bedingungen für Leistungen des Reisebüros der FDJ »Jugendtourist« – Leistungsbedingungen von »Jugendtourist« (Beschluß des Sekretariats des ZR der FDJ vom 13. 2. 1984), S. 2. 183 SAPMO-BArch, DY 24/12069, Beschluß des Sekretariats des Zentralrates der Freien Deutschen Jugend vom 13. 3. 1975, Statut des Jugendreisebüros der DDR »Jugendtourist«, § 4.1.
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Gruppenreisen mussten über die Grundorganisation bei der Kreisleitung der FDJ bzw. der Kreiskommission von »Jugendtourist« beantragt werden.184 Grundlage für die Gewährung der Reise waren explizit politische Kriterien: Wenngleich allen Jugendlichen in der DDR ermöglicht werden sollte, sich bei »Jugendtourist« für eine Reise zu bewerben, sollten doch vor allem Jugendliche, »die vorbildliche Leistungen im sozialistischen Wettbewerb, beim Studium, beim Lernen und zur Verteidigung der DDR vollbringen«, in den Genuss der Reisen kommen.185 Wer sich bei politischen Aktivitäten zurückhielt oder gar Kritik an der DDR öffentlich geäußert hatte, wer in seinen schulischen Leistungen nicht positiv aufgefallen war oder keine privilegierten Eltern hatte, konnte an diesen Reisen in der Regel nicht teilnehmen.186 Vor Antritt der Reise sollten die ausgewählten »Freunde« öffentlich vorgestellt und ihre Leistungen bekanntgegeben werden. Nach Abschluss des Urlaubs sollten die Reisenden in der Mitgliederversammlung der FDJ und in der Presse über ihre Erlebnisse berichten.187 Es ist nicht zufällig, dass diese Richtlinien für die Vergabe der Reisen den Vorgaben ähneln, die der Feriendienst des FDGB schon Anfang der 1950er-Jahre bei der Verteilung von Reisen zugrunde legte.188 Denn mit dem Auftrag, »junge sozialistische Patrioten und proletarische Internationalisten zu formen«,189 wurden auch die Jugendreisen zu einem politischen Projekt. Bereits im Planungsprozess zum neuen Jugendreisebüro war gefordert worden, die Reisen nicht als reine Erholungsreisen, sondern politisch zu gestalten.190 In den Vorbesprechungen sollten die Teilnehmer nicht nur mit dem Ablauf der Reise und – bei Auslandsreisen – mit dem Gastland, sondern auch mit den »wichtigen aktuellen Fragen der Entwicklung der DDR,
184 SAPMO-BArch, DY 24/12.053/K 8/15/76, Teilnahme- und Leistungsbedingungen des Jugendreisebüros der DDR »Jugendtourist« (Beschluß des Sekretariats des ZR der FDJ vom 13. 1. 1976), S. 2. 185 SAPMO-BArch, DY 24/12.053/K 27/54/76, Richtlinie für die Vergabe und Bearbeitung der Reisen von »Jugendtourist« (Beschluss des Sekretariats des ZR der FDJ vom 26. 8. 1976), S. 2. 186 Arno Schanze, Begrenzte Träume. Ferien und Reisen, in: Gesamtdeutsches Institut (Hg.), Jugend in der DDR, Bonn 1988, S. 76-81, hier S. 77. 187 SAPMO-BArch, DY 24/12.053/K 27/54/76, Richtlinie für die Vergabe und Bearbeitung der Reisen von »Jugendtourist« (Beschluss des Sekretariats des ZR der FDJ vom 26. 8. 1976), S. 3. 188 Vgl. die Ausführungen zur Auswahl der FDGB-Urlauber im ersten Teil des Buches. 189 SAPMO-BArch, DY 24/12.053/ K 27/54/76, Richtlinie für die Vergabe und Bearbeitung der Reisen von »Jugendtourist« (Beschluss des Sekretariats des ZR der FDJ vom 26. 8. 1976), S. 2. 190 SAPMO-BArch, DY 30/13911/1, Standpunkt des Sekretariats des Zentralrates der FDJ zu Fragen der Jugendtouristik in der DDR, o.D. [April 1972], S. 8.
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Beschlüssen der SED und Aufgaben der FDJ« vertraut gemacht191 und damit auf ihr »politisches Auftreten im Gastland« vorbereitet werden.192 Besonders ernst genommen wurden Auswahl und Vorbereitung bei Reisen in das nichtsozialistische Ausland – wie zum Besuch der Olympischen Spiele 1972 in München. Auch das Ministerium für Staatssicherheit war an der Auswahl der Jugendlichen zu diesen Reisen beteiligt.193 Das zentrale Ziel des Jugendverbandes, seinen Einfluss auf den Jugendtourismus zu erhöhen, wurde mit dem Jugendreisebüro »Jugendtourist« zweifelsohne erreicht. Die absolute Zahl der Reisen, die nun unmittelbar unter der Kontrolle der FDJ stattfanden, stieg mit der Gründung deutlich an.194 Aber noch immer galt, dass die Jugendtouristik auch weiterhin sehr differenziert ausgestaltet war, was der Idee einer Kontrolle von oben widersprach. Die Plätze in den Jugendherbergen beispielsweise wurden nicht nur vom Jugendreisebüro, sondern nach wie vor auch von den Bezirksstellen des Jugendherbergswesens vergeben.195 Hinzu kam, dass weitere gesellschaftliche Organisationen wie der Deutsche Turn- und Sportbund (DTSB), die Gesellschaft für Sport und Technik (GST), der Kulturbund und der FDGB sich weiterhin eigenständig um die Reisen ihrer jugendlichen Mitglieder kümmerten.196 Für die Jugendlichen war es daher oftmals schwer zu durchschauen, an wen sie ihren Reisewunsch eigentlich adressieren sollten.197 Individualreisen älterer Jugendlicher Wenngleich das Reisebüro regelmäßig in Anspruch genommen wurde, um zu einem bestimmten Ziel, vor allem im sozialistischen Ausland, reisen zu können, gelang es 191 SAPMO-BArch, DY 24/12.053/ K 27/54/76, Richtlinie für die Vergabe und Bearbeitung der Reisen von »Jugendtourist« (Beschluss des Sekretariats des ZR der FDJ vom 26. 8. 1976), S. 3. 192 SAPMO-BArch, DY 24/12.053/K 8/15/76, Teilnahme- und Leistungsbedingungen des Jugendreisebüros der DDR »Jugendtourist« (Beschluß des Sekretariats des ZR der FDJ vom 13. 1. 1976), S. 2. 193 Walter, Die Freie Deutsche Jugend, S. 144ff. 194 Vgl. SAPMO-BArch, DY 24/12.057/K 3/4/80, Information über Ergebnisse und Erfahrungen der Tätigkeit des Jugendreisebüros der DDR »Jugendtourist« sowie Schlußfolgerungen zur weiteren Vervollkommnung der einheitlichen Leitung und Organisation der Jugendtouristik in der DDR (Beschluß des Sekretariats des ZR der FDJ vom 19. 12. 1979), S. 3. 195 Ebd., S. 4. 196 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/13911/2, Gerhard Naumann, Vorlage für das Sekretariat des Zentralkomitees der SED. Betreff: Die Weiterentwicklung der Jugendtouristik in der DDR, Entwurf [November 1972], S. 6. 197 SAPMO-BArch, DY 24/12.057/K 3/4/80, Information über Ergebnisse und Erfahrungen der Tätigkeit des Jugendreisebüros der DDR »Jugendtourist« sowie Schlußfolgerungen zur weiteren Vervollkommnung der einheitlichen Leitung und Organisation der Jugendtouristik in der DDR (Beschluß des Sekretariats des ZR der FDJ vom 19. 12. 1979), S. 4.
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dieser Einrichtung nur unzureichend, die Reisebegeisterung der Jugendlichen zu kanalisieren.198 Wie schon während der Wanderungen in den 1950er- und 60erJahren, so verzichteten die Jugendlichen oftmals auch in den folgenden Jahrzehnten auf staatliche Organisation und verreisten auf eigene Faust. Die Individualreisen älterer Jugendlicher machten so in den 1980er-Jahren etwa die Hälfte aller Jugendreisen aus. In der Mitte des Jahrzehnts lag die Urlaubsreisequote der Jugendlichen bei etwa 90 Prozent. Viele verreisten sogar mehrfach im Jahr. In den letzten Jahren der DDR hatte durchschnittlich jeder zehnte Jugendliche seine Reise sogar ohne festes Ziel und ohne vorher gesicherte Unterkunft angetreten.199 Wesentlicher Antrieb für die Individualreisen der älteren Jugendlichen waren die Suche nach Selbstbestimmung, Spontaneität und Abenteuer sowie der Wunsch, der allgegenwärtigen Politisierung im Alltag und in der Freizeit zu entkommen. Anstatt auf das Reisebüro der FDJ zu vertrauen, suchten die Jugendlichen Unterkunft in Jugendherbergen, auf Campingplätzen, in der freien Natur oder bei Freunden, Bekannten und privaten Vermietern.200 Stärker als bei den Individualreisen von Erwachsenen und Familien bildeten diese Jugendreisen das Gegenmodell zur Gängelung und Bevormundung während des Urlaubs durch den Staat, den Jugendverband und durch andere gesellschaftliche Organisationen. Das Interesse der Jugendlichen richtete sich in erster Linie darauf, Abstand vom Alltag zu gewinnen. Der Leipziger Jugendforscher Peter Voß stellt fest: »Junge Leute wollen auf Wanderungen und Reisen etwas erleben, sie möchten andere Orte und Menschen kennenlernen, und nicht zuletzt unterstreichen sie den Wunsch, mit ihrem Partner zusammensein zu wollen, und zwar ungestörter, als dies im Alltag möglich ist.«201 Obschon die systemgefährdende Tendenz der individuellen Jugendreisen für die Funktionäre spätestens seit den 1970er-Jahren erkennbar war, weil die Jugendlichen auf ihren Reisen großen Abstand zum System gewannen, plädierte der Jugendforscher Peter Voß 1981 angesichts der großen Begeisterung für die individuellen Reisen, diese nicht als »nebensächlich oder gar unerwünscht [zu] betrachten«. Denn zum einen würden dadurch die einzelnen Organisationen und Institutionen entlastet. Sie seien ohnehin nicht in der Lage, die spezifischen Bedürfnisse der einzelnen Jugendlichen zu befriedigen. Zum anderen bedeute »das ›Alleinreisen‹ noch lange kein Außenseiterdasein, denn spätestens der Aufenthalt am Urlaubsort bringt fast immer die mehr oder minder feste Integration in diese oder jene Gruppe
198 199 200 201
Harald Schmidt, Jugend und Tourismus, S. 123ff. Vgl. hierzu die kurzen Ausführungen bei Hille, Jugend und Jugendpolitik, S. 1301. Voß, Die Freizeit der Jugend, S. 223. Ebd., S. 219.
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von Menschen mit sich«.202 Mit der Zeit wurden die Individualreisen nolens volens sogar als Bestandteil der sozialistischen Lebensführung geadelt, weil spätestens in den 1980er-Jahren keine anderen Möglichkeiten mehr bestanden, von staatlicher Seite den Trend zum Individualtourismus der Jugendlichen umzukehren oder gar zu stoppen. So viele Freiheiten man den älteren Jugendlichen auch einräumte, entscheidend war vor allem, dass eine Grenze auch für den Individualtourismus der Jugendlichen unüberwindbar blieb: die Grenze zum Westen. Je mehr Möglichkeiten die Jugendlichen auf ihren Reisen hatten, als desto störender nahmen sie diese Grenze wahr. Sie gaben sich immer weniger mit Reisen in die DDR und das sozialistische Ausland zufrieden. Die Jugendlichen der 1970er- und 80er-Jahre nahmen die Beschränkung der Reisefreiheit weit mehr als die älteren Bürger als arges Hindernis und Einschränkung ihrer Persönlichkeit wahr. Eine Lockerung der Bestimmungen für Reisen in den Westen, zunächst im organisierten Rahmen z.B. anlässlich der Olympischen Spiele in München, kam den Wünschen der Jugendlichen jedoch nicht weit genug entgegen, zumal diese Reise nur einer ausgewählten Gruppe zugutekam und straff organisiert war.203 Nach dem Mauerfall konstatierte der Jugendforscher Peter Voß: »Der Wunsch nach Reisefreiheit war besonders für Jugendliche ein starkes Motiv, sich an den politischen Massendemonstrationen in der Wendezeit zu beteiligen.«204 So wie die Ferienlager durchaus ein wichtiger Bestandteil waren, den Kindern die Regeln der »sozialistischen Demokratie« zu vermitteln, mit dem Ziel, den »neuen Menschen« zu schaffen, so erhielten die älteren Jugendlichen während ihrer Individualreisen eine weitere, wichtige Lektion auf dem Weg zum »gelernten DDR-Bürger«: dass die DDR nicht in allen Bereichen so allmächtig war, wie sie sich gerne darstellte, und dass der Einzelne als durchaus mächtiges Subjekt die Grenzen der Diktatur deutlich aufzeigen und am Ende vielleicht sogar sprengen konnte.205 Gerade bei den älteren Jugendlichen zeigt sich, so lässt sich zusammenfassen, dass durch staatliche Politik und Organisationsformen niemals eine allumfassende, 202 Ebd., S. 231f. 203 Hille, Jugend und Jugendpolitik, S. 1278. 204 Peter Voß, Forschungen zur Freizeit der Jugend. Entwicklung des Forschungsgebietes, in: Walter Friedrich/Peter Förster/Kurt Starke (Hg.), Das Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig 1966–1990. Geschichte, Methoden, Erkenntnisse, Berlin 1999, S. 352–372, hier S. 361; vgl. auch Harald Schmidt, Der deutsche Jugend-Tourist. Jugendsoziologische Studien über die Reiseinteressen und -tätigkeiten junger Leute aus Ost- und Westdeutschland (Institut für Tourismus der FU Berlin, Berichte und Materialien Nr. 9), Berlin 1990. 205 Vgl. hierzu Christopher Görlich, »Schlecht Wandern, das heißt, als Mensch unverändert bleiben«. Reisen und Bildung in der DDR, in: ders. (Hg.), Das lernende Subjekt. Aufsätze. Festschrift zum 65. Geburtstag von Christian F. Görlich, Norderstedt 2009, S. 251–265.
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permanente Reglementierung durchgesetzt werden konnte. Denn die menschliche Natur birgt die Möglichkeit des »Eigen-Sinnes« in sich, der die Grenzen des Staates deutlich aufzuzeigen vermag. 5. Rentner – eine abgeschriebene Generation Den Kindern vergleichbar, blieben auch die Rentner weitgehend von der Teilnahme am gewerkschaftlichen Feriendienst ausgeschlossen: Auch sie waren nicht in den regulären Arbeitsprozess eingebunden und schieden somit aus der Gemeinschaft jener aus, die in den Genuss der Reisen kommen sollten. Bis in die zweite Hälfte der 1970er-Jahre gab es lediglich Reisen für Partei- und Gewerkschaftsveteranen, die als besondere Auszeichnung für die Tätigkeit im Berufsleben verstanden wurden.206 Dass die Reisen im Alter an die »Funktion« im früheren Leben gebunden waren, zeigt sich besonders deutlich bei den »Verfolgten des Naziregimes«, für die ein kleiner Teil der FDGB-Feriendienst-Plätze reserviert war.207 Mit dem Älterwerden dieser Zielgruppe wurden Reservierungen schlicht überflüssig. Auf Antrag des Vorsitzenden des Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR, Otto Funke, wurde daher beschlossen, die Zahl der VdN-Reisen drastisch zu reduzieren, weil »die Kur- und Reisefähigkeit der VdN-Kameraden sich von Jahr zu Jahr reduziert und damit eine vollständige Auslastung der bereitgestellten prophylaktischen Kuren und Erholungsaufenthalte nicht mehr gegeben ist«.208 Reguläre Erholungsaufenthalte mit dem Feriendienst des FDGB außerhalb dieser Sonderkontingente wurden für Rentner erst 1977 ermöglicht, sofern sie nach der Beendigung ihres Arbeitslebens Mitglied im FDGB blieben. Die Zahl der zur Verfügung stehenden Plätze für die Rentner blieb sehr gering. Anders als bei den Jugendlichen gab es hier allerdings kaum Bestrebungen, spezielle Angebote zu schaffen. Bei dem sehr niedrigen Rentenniveau der DDR war es zudem kaum einem
206 SAPMO-BArch, DY 41/75, H. Warnke, [Vorsitzender] Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, [Rundschreiben] an alle Zentralvorstände der Industriegewerkschaften und Gewerkschaften, alle FDGB-Bezirksvorstände, alle Kur- und Erholungszentren, Betr.: Urlaubsplätze für verdiente Parteiveteranen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin, den 25. März 1957. 207 Vgl. etwa SAPMO-BArch, DY 41/75, Entwurf. Richtlinien für die Arbeit des Feriendienstes der Gewerkschaften im Jahre 1957, Berlin, den 22. 10. 56, S. 3. 208 DY 34/25530, FDGB-Bundesvorstand, Abteilung Feriendienst, E. Sonntag, Sekretariatsvorlage. Betrifft: Bereitstellung von Reisen und prophylaktischen Kuren für das Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR in Erholungsheimen des Feriendienstes der Gewerkschaften, Berlin, den 11. Juli 1984, S. 2.
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Rentner möglich, alternativ die Dienste des Reisebüros in Anspruch zu nehmen.209 Die Rentner in der DDR waren somit auch in Bezug auf die Reisen und Erholungsurlaube die »Schwachen und Schwächsten« in der DDR-Gesellschaft.210 Obschon alte, vom Leben und der Arbeit gezeichnete Menschen zum Bildprogramm des Feriendienst gehörten (Abbildung 34), bildeten die Rentner auch bezüglich des Urlaubs eine »abgeschriebene Generation«.211
34 Alte Menschen im Urlaub (Schindler, Freude, Frohsinn, glückliche Menschen, S. 22)
209 Vgl. hierzu Rentner in der DDR. Altsein im »Sozialismus«, hg. v. d. Friedrich-EbertStiftung Bonn 1987 (Die DDR. Realitäten – Argumente), S. 9ff. 210 Bouvier, Die DDR – ein Sozialstaat, S. 202. 211 Rentner in der DDR, S. 5.
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Als auf dem VIII. Parteitag der SED 1971 auch die Rentner »entdeckt« wurden, war die Rede davon, verstärkt Ferienplätze für sie schaffen zu wollen. Dennoch blieben sie auch nach dem VIII. Parteitag die am wenigsten beachtete Gruppe. Gleichwohl forderten die Rentner durchaus selbstbewusst Ferienplätze ein.212 Eine Eingabe von Martin R. ist beispielhaft für das Bemühen zahlreicher Rentner, durch Verweise auf die Leistungen im Arbeitsleben die Logik der Arbeiterfixierung zu bedienen: Ich bin Arbeiterveteran und von 1950 bis mitte [!] 1973, bis zur Vollendung meines 70. Lebensjahres, in der volkseigenen Wirtschaft tätig gewesen, davon ca. 20 Jahre in leitender Stellung. Im Mai 1973 wurde ich für 50 jährige [!] Mitgliedschaft vom FDGB geehrt und ausgezeichnet, ebenso für 25 jährige Mitgliedschaft in der Deutsch Sovjetischen [!] Freundschaft durch die Betriebsgruppe. Wiederholt wurden mir auch Ehrungen als Bestarbeiter u. für gute gesellschaftl. Arbeit zuteil, verbunden mit Urkunden, Buch- und Geldgeschenken.213
Im Bemühen um einen Ferienplatz führte Martin R. zudem an, »Aktivist der sozialistischen Arbeit« gewesen zu sein. Auch seine Frau habe zahlreiche Ehrungen »für hervorragende Leistungen im Wettbewerb ›Schöner unsere Städte u. Gemeinden – Mach mit‹ vom Stadtausschuß der Nationalen Front« entgegennehmen können. Die Ferienreise mit dem FDGB sollte folglich die »Krönung« ihres »Lebensabends« sein und den »wunderschöne[n] Höhepunkt unseres Arbeitsreichen [!] Lebens« darstellen. Das Vorgehen von Martin R. erwies sich als richtige Strategie. Dem Ehepaar wurden schließlich zwei Reisen angeboten; dabei handelte es sich allerdings um Reisen in Vertragshäuser, die anderweitig nicht zu vermitteln waren. Paradoxerweise wurde aber die Arbeitskraft der Rentner in den Ferienorten hoch geschätzt. Da das größte Problem des Feriendienstes in den 1970er- und 80erJahren der Personalmangel war, wurden viele Rentner als Aushilfskräfte in der Küche und bei den Reinigungsarbeiten eingesetzt.214 Der Rentner Martin R. steht prototypisch für alle Rentner in der DDR. Bis auf wenige Ausnahmen blieben sie von der Teilnahme am Tourismus ausgeschlossen. Gerade weil der Staat keinen Wert auf die Rentner legte, ließ er ihnen allerdings ein anderes großes Privileg zukommen, um das die Rentner von vielen jüngeren DDR-Bürgern beneidet wurden. Sie hatten, wie der Volksmund spottete, mit dem Eintritt ins Rentenalter die »Reise212 Vgl. zusammenfassend etwa SAPMO-BArch, DY 34/15851, Sektor Urlauberbetreuung, Eingaben-Analyse 1. Halbjahr 1977 zu Fragen des Feriendienstes der Gewerkschaften, Berlin, den 22. 8. 1977, S. 2. 213 Hier und im Folgenden: SAPMO-BArch, DY 34/10612, Martin Richter, Dresden, an den Bundesvorstand Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Dresden, dem 3./5. 1974. 214 Vgl. nur SAPMO-BArch, DY 34/15864, Zur persönlichen Information. Einschätzung der Sommerreisezeit 1978 im Bezirk Rostock, S. 17.
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Die Urlauber
mündigkeit« erreicht. Bis zu insgesamt 60 Tagen konnten sie sich jährlich auf einer oder mehreren Reisen im Westen aufhalten und sogar die DDR für immer verlassen. Während von der Möglichkeit zur »dauerhaften Übersiedlung« in die Bundesrepublik aber nur wenige Rentner Gebrauch machten, wurden Besuchsreisen häufig durchgeführt.215
215 Vgl. Rentner in der DDR, S. 6; Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989, Berlin 1999, S. 182.
III. Heimleiter und Mitarbeiter 1. Der Heimleiter: Funktionär – Wirtschaftsleiter – Hotelier Ganz im Sinne der politischen Kultur des »demokratischen Zentralismus«1, die auf die starke, verantwortliche Stellung des Ersten Vorsitzenden in politischen Gremien und des Einzelleiters in wirtschaftlichen Betrieben setzte,2 kam vor allem dem Heimleiter, der dem Kollektiv der Mitarbeiter im Ferienheim vorstand, große Bedeutung zu. Auch für den Leiter des Ferienheimes galt: Leitung ist stets Einflußnahme auf das Verhalten der Menschen und Menschengruppen, ist zielgerichtete Organisation, Koordinierung und Kontrolle ihrer Tätigkeit in der Produktion, der politischen Arbeit und in vielen anderen Lebensbereichen.3
Insbesondere ging man davon aus, »dass der Heimleiter die Note des Heimes bestimmt, so wie er das politische Leben in seinem Heim organisiert, so wird es sein«.4 Im Ergebnis verfügte der Heimleiter über weitreichende Kompetenzen. Ihm oblag die Führung der im sogenannten Kollektiv zusammengefassten Mitarbeiter; er trug für die Ausstattung der Ferienheime und die Versorgung der Urlauber Rechnung; er organisierte das Kulturprogramm und engagierte Künstler, die im Ferienheim auftraten; und er hatte sich für die Möglichkeiten zur sportlichen Betätigung der Urlauber einzusetzen.5 Wie ein guter Heimleiter definiert wurde, unterlag jedoch in der vierzigjährigen Geschichte des Feriendienstes deutlichen Veränderungen: Das Bild des idealen Heimleiters changierte zwischen den Funktionen als Gewerkschaftsfunktionär, Wirtschaftsleiter und Hotelier.
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Vgl. »Demokratischer Zentralismus«, in: DDR-Handbuch, Bd. 1, 5. Aufl., S. 268f.; Katharina Belwe, Mitwirkung im Industriebetrieb der DDR. Planung, Einzelleitung, Beteiligung der Werktätigen an den Entscheidungsprozessen des VEB (Schriftenreihe des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschungen der Freien Universität Berlin, Bd. 31), Opladen 1979, S. 39ff. Vgl. »Einzelleitung«, in: DDR-Handbuch, Bd. 1, 5. Aufl., S. 344; Belwe, Mitwirkung im Industriebetrieb der DDR, S. 86ff. Leiter – Kollektiv – Persönlichkeit. Handbuch für die sozialistische Leitungstätigkeit (Autorenkollektiv), 5., wesentl. überarb. Aufl., Berlin 1982, S. 22. SAPMO-BArch, DY 34/20900, Feriendienst der Gewerkschaften, Gebietsleitung Oberhof, Protokoll über die am 25. 9. 1951, 14.00 Uhr, stattgefundene Heimleiterbesprechung, Oberhof, den 26. 9. 1951, S. 1. SAPMO-BArch, DY 34/20897, Feriendienst der Gewerkschaften beim Bundesvorstand des FDGB, Richtlinien für die Kulturarbeit in den Ferienheimen und Orten des Feriendienstes der Gewerkschaften, Berlin, den 20. 4. 52, S. 10.
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Heimleiter und Mitarbeiter
In den 1950er-Jahren sollte der Heimleiter politisch wirken. Er könne seine Aufgaben nur dann erfüllen, hieß es ausdrücklich, »wenn er sich in erster Linie als verantwortlicher Gewerkschaftsfunktionär und nicht als Gastwirt fühlt«.6 In dieser Funktion war der Heimleiter zugleich weit mehr als nur ein Repräsentant der Gewerkschaft. Denn so wie die Gewerkschaft als »Transmissionsriemen« zwischen der führenden Partei und der Masse wirken und die politischen Entscheidungen umsetzen sollte, so hatte der Heimleiter zugleich die Sache der SED und der DDR als Ganzes gegenüber den Urlaubern zu vertreten. Es war daher kein Einzelfall, als beispielsweise 1952 in angespannter weltpolitischer Lage im Vorfeld der Unterzeichnung des Deutschlandvertrages (Generalvertrag) zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den westlichen Alliierten ausdrücklich festgestellt wurde: Unsere Heimleiter als Gewerkschaftsfunktionäre müssen in der Lage sein, die Urlauber im Heim über den Ernst der Situation aufzuklären und ihnen aufzuzeigen, welche Gefahren der Abschluß des Generalkriegsvertrages [!] und die gesamte Politik Adenauers mit sich bringt, die als offene Kampfansage gegen die Deutsche Demokratische Republik und die Volksdemokratien anzusehen ist. Wir als Mitglieder einer der größten Organisationen in der DDR haben ein ganz besonderes Interesse an der Verhinderung des Krieges und der Herbeiführung eines einheitlichen und friedlichen Deutschlands. Deshalb müssen wir alle Anstrengungen des Bundesvorstandes des FDGB unterstützen, um die Aktionseinheit der Werktätigen in ganz Deutschland herzustellen.7
Diesen politischen Auftrag hatte der Heimleiter bei der Gestaltung des Kulturprogramms, den Gemeinschaftsabenden und der Ausstattung des Hauses zu beachten.8 In den offiziellen Verlautbarungen, welche die Heimleiter verfassten, nahmen sie diese politische Rolle durchaus an. So wurde bereits 1951 auf einer Heimleitertagung in Oberhof beschlossen: Wir Heimleiter der Gebietsleitung verpflichten uns zu einer ordentlichen Durchführung der Aufklärung zu der Regierungserklärung. Wir sind uns bewußt, dass wir uns mit aller Kraft für die Erhaltung des Friedens einsetzen müssen. Wir verpflichten uns weiter, alle An-
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SAPMO-BArch, DY 34/20896, Der Feriendienst des FDGB. Seine Entwicklung, sein Zustand, seine Mängel und die zur Verbesserung der Leistungen notwendigen Massnahmen [1950], S. 7. SAPMO-BArch, DY 34/20900, Feriendienst der Gewerkschaften, Landesvorstand Thüringen, Protokoll der Heimleitertagung in Oberhof am 28., 29., und 30. April 1952, o.D., S. 1f. SAPMO-BArch, DY 34/29/326/3628, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Feriendienst der Gewerkschaften, An alle Leitungen der Erholungszentren des Feriendienstes der Gewerkschaften, Instruktion EZ 1/56, 17. 1. 1956, gez. Peper, S. 1.
Der Heimleiter: Funktionär – Wirtschaftsleiter – Hotelier
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gestellte der Heime für den Friedenskampf zu organisieren und eine Atmosphäre des Friedenskampfes in unsere Heime zu tragen, damit jedes Heim ein Bollwerk des Friedens wird.9
Hinter solchen wortgewaltigen, offiziellen Stellungnahmen verbarg sich jedoch nur unzulänglich, dass die Heimleiter gerade in den ersten Jahren den ihnen zugewiesenen politischen Aufgaben weder sonderlich aufgeschlossen gegenüberstanden noch ihnen gewachsen waren. Schon zu Beginn der 1950er-Jahre ließ sich die Politisierung nicht durchhalten. Auf einer anderen Heimleitertagung, so vermerkt ein Bericht, seien Diskussionen geführt worden, deren »Niveau unter allen [!] Würde lag«. Es seien Worte gefallen, die »besser zu einer CDU-Versammlung gepaßt hätten, als auf eine Heimleitertagung«.10 Deutlich wurde, dass die Heimleiter sich kaum für Politik interessierten; »politische Aspekte [traten] ganz hinter Alltagsaspekten [zurück]«, stellten die Funktionäre der höheren Gewerkschaftsorgane fest. »Der Wunsch nach Kiosken der HO für den Verkauf von Zigaretten und Bockwürsten bewegte Heimleiter mehr als die große Politik.«11 Beinahe reflexartig wurde das Verhalten der Heimleiter, das so wenig mit den Idealvorstellungen des sozialistischen Gewerkschaftsfunktionärs im Einklang stand, darauf zurückgeführt, dass man die politische Schulung der Heimleiter vernachlässigt habe. Den Heimleitern müssten folglich »neue«, d.h. dem neuen System angepasste »Arbeitsmethoden« vermittelt werden. Es gelte, die »Verbindung zwischen der Kleinarbeit und der großen politischen Linie« herzustellen.12 Folgerichtig wurden Schulungsprogramme aufgelegt.13 Sämtliche Heimleiter mussten an mindestens vierzehntägigen Schulungen teilnehmen, in denen ihnen die »Aufgaben als Gewerkschaftsfunktionäre« aufgezeigt wurden.14 Dies beinhaltete, das »ideologischpolitische Wissen« der Heimleiter zu vertiefen, »ihre fachliche Qualifikation, das Wissen um Methoden, Mittel und Formen der kulturellen Massenarbeit zu verbessern« und schließlich »die Verbindung zu den Werktätigen der Betriebe, die das Erholungsheim belegen, zu festigen«.15 9
SAPMO-BArch, DY 34/20900, Verpflichtung der Kollegen Heimleiter in der Heimleiterbesprechung vom 25. 9. 1951. 10 SAPMO-BArch, DY 34/20900, Aktenvermerk! o.D. gez. Hain/Schumann [Zur Heimleitertagung des Landes Brandenburg am 29. 10. 51], S. 1. 11 SAPMO-BArch, DY 34/20900, Feriendienst der Gewerkschaften, Landesvorstand Thüringen, Protokoll der Heimleitertagung in Oberhof am 28., 29., und 30. April 1952, o.D., S. 4. 12 Ebd., S. 7. 13 SAPMO-BArch, DY 34/20897, Arbeitsrichtlinien für die Gebietsleitungen des Feriendienstes der Gewerkschaften, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Feriendienst der Gewerkschaften, 5. 7. 1951, S. 6. 14 SAPMO-BArch, DY 34/20896, Vorlage betr. Reorganisation des Feriendienstes, 9. 9. 49, S. 6. 15 SAPMO-BArch, DY 34/29/326/3628, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Feriendienst der Gewerkschaften, An alle Leitungen der Erholungszentren des Feri-
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Heimleiter und Mitarbeiter
Als dermaßen geschulte Funktionäre der Gewerkschaft sollten die Heimleiter ihrerseits zu Erziehern der Urlauber werden. Immer sollte der Heimleiter »mit gutem Beispiel« vorangehen, schrieb die Zeitschrift »Gesundheit und Lebensfreude«, denn »von ihm hängt es wesentlich ab, ob der Urlaub zu einer wirklichen Zeit der Erholung und Entspannung, aber auch der weiteren Formung des sozialistischen Bewußtseins wird«.16 Im Einklang mit der Betonung des politischen Erziehungsauftrages wurde in den ersten Jahren versucht, den Heimleiter so weit wie möglich von der Wirtschaftsführung des Ferienheimes zu entbinden. Wirtschaftliche Belange sollten zentralistisch von der Abteilung Feriendienst geleitet werden. Doch schon früh wurde deutlich, dass diese Trennung zwischen der als politisch-gewerkschaftlicher Arbeit verstandenen Betreuung der Urlauber und der wirtschaftlichen Verwaltung der Ferienheime wenig praktikabel, wenn nicht gar unmöglich war.17 Tatsächlich war schon Ende der 1940er-Jahre in den internen Papieren die strikte Festlegung eingeschränkt worden, dass der Heimleiter in erster Linie als Gewerkschaftsfunktionär zu verstehen sei.18 Man monierte: Wir haben z.Zt. Heimleiter, die nur Gastwirte sind und vollkommen ihre Aufgaben als Gewerkschaftsfunktionäre übersehen, während auf der anderen Seite oft gute Kollegen Heime leiten, die nicht den wirtschaftlichen Anforderungen, die ein solcher Betrieb mit sich bringt, gewachsen sind.19
Zug um Zug wurde der Heimleiter fortan in die »persönliche Verantwortung« für den wirtschaftlichen Betrieb des Ferienheimes eingesetzt.20 Mit den Wirtschaftsreformen der 1960er-Jahre wurde ihm schließlich eine »straff organisierte
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20
endienstes der Gewerkschaften, Instruktion EZ 1/56, 17. 1. 1956, gez. Peper, S. 1. Magda Schütze, Die Rolle des Heimleiters in unseren Ferienheimen, S. 2. SAPMO-BArch, DY 34/20897, Arbeitsrichtlinien für die Gebietsleitungen des Feriendienstes der Gewerkschaften, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Feriendienst der Gewerkschaften, 5. 7. 1951, S. 3. SAPMO-BArch, DY 34/20896, Der Feriendienst des FDGB. Seine Entwicklung, sein Zustand, seine Mängel und die zur Verbesserung der Leistungen notwendigen Massnahmen [1950], S. 7. SAPMO-BArch, DY 34/20896, Vorlage für die 33. Sekretariatssitzung [der] Abteilung Feriendienst beim Bundesvorstand des FDGB, Berlin, den 5. August 1949: ReorganisationsPlan der Abt. Feriendienst beim Bundesvorstand, gez. Brylla [Hauptabteilung 9 – Feriendienst], S. 10. SAPMO-BArch, DY 34/20897, Arbeitsrichtlinien für die Gebietsleitungen des Feriendienstes der Gewerkschaften, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Feriendienst der Gewerkschaften, 5. 7. 1951, S. 3; vgl. auch SAPMO-BArch, DY 34/20896, Der Feriendienst des FDGB. Seine Entwicklung, sein Zustand, seine Mängel und die zur Verbesserung der Leistungen notwendigen Massnahmen [1950], S. 6.
Der Heimleiter: Funktionär – Wirtschaftsleiter – Hotelier
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Wirtschaftsführung« übertragen.21 Damit blieb der Heimleiter natürlich in das System der Planwirtschaft eingebunden. Er konnte nicht in eigener Verantwortung handeln, sondern war dem Plan verpflichtet.22 Durch Geschick, Improvisation und Taktik bei den Verhandlungen mit übergeordneten Stellen musste der Heimleiter den Mängeln und Schwierigkeiten begegnen, die sich aus den planwirtschaftlichen Strukturen ergaben.23 Zu den Funktionen des Heimleiters als Gewerkschaftsfunktionär und Wirtschaftsleiter kam bald eine dritte hinzu: Er wurde zum Hotelier im Sinne eines Dienstleisters für die Gäste. Bereits in frühen Texten zur Rolle des Heimleiters war diese Dienstleistungsfunktion angelegt, um den DDR-Bürgern einen »Urlaubsaufenthalt zu gewähren, wie sie es als Werktätige und Mitarbeiter an der Erfüllung des Fünfjahrplanes zu fordern berechtigt sind«.24 In den ersten Jahren entsprach gerade dies dem Rollenbild, das die Heimleiter für sich selbst annahmen. Denn der rasche Ausbau des Feriendienstes in den 1950erJahren führte zu einem so großen Bedarf an Heimleitern, dass die Stellen nur selten mit Personen besetzt werden konnten, die in politischer Hinsicht als besonders geeignet galten. Ohne dass die Abteilung Feriendienst oder die FDGB-Zentrale auch nur Kenntnis erhielten oder Einfluss nehmen konnten, wurden oftmals ehemalige Gaststätten-, Hotel- und Herbergsleiter von den Gewerkschaftsorganen in einem pragmatischen, oft zufälligen Verfahren auf Landes-, später Bezirks- und Kreisebene in den FDGB-Ferienheimen eingesetzt.25 Weniger die Erfüllung politischer Vorgaben als vielmehr eine angemessene Betreuung der Urlauber war das Ziel dieser Menschen, die nun zu Heimleitern wurden. Sie brachten ihr spezifisches Berufsethos mit, das sie in der Weimarer Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus erworben hatten: Diese Heimleiter verstanden sich in erster Linie als Dienstleister.26 21 SAPMO-BArch, DY 34/24805, Bundesvorstand, Abt. Feriendienst, Vorlage für das Präsidium des Bundesvorstandes des FDGB. Betr.: Anwendung des NÖS im Erholungswesen in Oberhof, Berlin, den 9. März 1967, S. 2. 22 Ebd., S. 23f. 23 SAPMO-BArch, DY 34/6336, FDGB-Bezirksvorstand Erfurt, Abt. Feriendienst, Auswertung der Hinweise der Urlauber während der Urlauberaussprache und ihre Behandlung als Eingaben im Sinne des Staatsratserlasses, Erfurt, den 18. 10. 1963, S. 1. 24 SAPMO-BArch, DY 34/20897, Arbeitsrichtlinien für die Gebietsleitungen des Feriendienstes der Gewerkschaften, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Feriendienst der Gewerkschaften, 5. 7. 1951, S. 5. 25 SAPMO-BArch, DY 34/20896, Vorlage für die 33. Sekretariatssitzung [der] Abteilung Feriendienst beim Bundesvorstand des FDGB, Berlin, den 5. August 1949: ReorganisationsPlan der Abt. Feriendienst beim Bundesvorstand, gez. Brylla [Hauptabteilung 9 – Feriendienst], S. 10. 26 SAPMO-BArch, DY 34/20900, Feriendienst der Gewerkschaften, Landesvorstand Thüringen, Protokoll der Heimleitertagung in Oberhof am 28., 29., und 30. April 1952, o.D., S. 4.
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Heimleiter und Mitarbeiter
Erst zu Beginn der 1970er-Jahre erschien das Selbstverständnis als Dienstleister nicht mehr als »Überbleibsel« der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und stand fortan nicht mehr im Widerspruch zum neuen Gesellschaftssystem. 1971 schrieb die Zeitschrift »Gesundheit und Lebensfreude«: »Feriendienst bedeutet Dienstleistung für den, der seine Ferien bei uns verbringt, um erholt und mit Erinnerungen an einen erlebnisreichen Urlaub an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren.«27 Wie bereits in den Ausführungen zur Ära Honecker beschrieben, hatten die Parteifunktionäre auch in den späten Jahren der DDR einen ideologischen Anspruch. Gleichwohl ist die Fallhöhe beachtlich, wenn dieser Anspruch in den Ferienheimen, Gaststätten und Hotels auf das konkrete Handeln heruntergebrochen wurde: Im »Mittelpunkt« standen nur noch: »ein differenziertes Speisen-, Imbißund Getränkesortiment stabil anzubieten und überall eine niveauvolle Gästebetreuung zu gewährleisten; das Angebot an freizeitgestaltenden Leistungen besonders für die Jugend zu erweitern«.28 Explizit wurde dem Gaststätten-, Hotel- und Heimbetrieb die Aufgabe der »Konsumptionsorganisation« zugeschrieben – also die Organisation der Versorgung der Gäste mit Konsumgütern und Dienstleistungen.29 Der Heimleiter wurde zum Hotelier und hatte nur noch wenig gemein mit dem Heimleiter der 1950erJahre, der in erster Linie als Gewerkschaftsfunktionär zu wirken hatte. Wie im folgenden Kapitel zu zeigen ist, trat damit zugleich die Verwaltung des Mangels an die Stelle der politischen Beeinflussung. 2. Mitarbeiter und Gäste Es gehörte zu den Grundzügen des politisch-ideologischen Selbstverständnisses des Sozialismus, die gesellschaftlichen Hierarchien des kapitalistischen Systems durchbrechen zu wollen. »In der Eigentumssphäre im Sozialismus gibt es keine Teilung in Herrscher und Untertanen«, schreibt Wiktor Grigorjewitsch Afanasjew. »Da alle Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft Miteigentümer der Produktionsmittel sind, ›herrschen‹ sie alle in der Produktion, und keiner ist in ökonomischer Beziehung einem Privateigentümer der Produktionsmittel untergeordnet, da es keinen solchen gibt.«30 27 28 29 30
Wolfgang Freund, Zur Diskussion gestellt. Heimleiter oder Verwaltungsleiter?, in: Gesundheit und Lebensfreude (1971), H. 11, S. 5. Klaus Wenzel/Günther Riedel (Hg.), Der Gaststätten- und Hotelleiter. Handbuch, 2., überarb. Aufl., Berlin 1981, S. 13. Ebd., S. 17. Wiktor Grigorjewitsch Afanasjew, Der Mensch in der Leitung der Gesellschaft, Berlin 1979, S. 240. Vgl. auch Hartmut Zimmermann, Die Arbeitsverfassung der DDR, in; Bundesmi-
Mitarbeiter und Gäste
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Unmittelbar sollten die neuen, gesellschaftlichen Beziehungen, die sich aus der Aufhebung des Eigentums an Produktionsmitteln ergaben, auch für Gast und Mitarbeiter im Erholungswesen gelten. Schon die erste Hausordnung, die mit dem Beginn des Feriendienstes für seine Heime formuliert wurde, verweist auf ein neues Verhältnis von Gast und Mitarbeiter: Wenn Du wünschest, daß die Angestellten des Hauses Dir als Gewerkschaftskollegen besonders entgegenkommend sein sollen, so vergiß aber auch nicht, daß auch sie Deine Kollegen sind. Kleine Extrawünsche wird man Dir gerne erfüllen, denke aber immer daran, daß dies zusätzliche Arbeit bedeutet. Halte also mit Deinen Wünschen Maß, denn sonst gerät die ganze Wirtschaftsführung des Hauses ins Wanken, und auch Du selbst hättest den Nachteil davon.31
Der Gast sollte also nicht mehr kraft seiner finanziellen Möglichkeiten als Herr über die Bediensteten auftreten. Die in früheren Zeiten und im Westen vorhandenen Gegensätze und Rangfolgen zwischen Gast und Hotelangestellten sowie der Gedanke der Dienerschaft wurden so zumindest in den ideologischen Konzepten gänzlich aufgehoben. Die optimale Betreuung der Gäste sollte fortan nicht mehr aus dem Geiste einer unterwürfigen Dienerschaft und dem ökonomischen Machtverhältnis zwischen Gast und Hotelbediensteten abgeleitet sein, sondern dem neuen sozialistischen Menschenbild entspringen. Die »gute Betreuung« sollte aus durchaus humanistischen Gründen zur »ureigenste[n] Angelegenheit« der Mitarbeiter werden.32 Auf diese Weise sollte sich in den Erholungsheimen eine Gemeinschaft herausbilden, die ein harmonisches Miteinander unterstellte und auf das Ziel ausgerichtet war, die besten Bedingungen für die Reproduktion der Arbeitskraft der DDRBürger zu schaffen, um so an der Verwirklichung des Sozialismus mitzuwirken. In der visuellen Darstellung freilich ist kaum ein Unterschied zu früheren Formen des Tourismus zu erkennen. Die Kellnerinnen trugen die traditionellen Schürzen (vgl. Abbildung 35); die Bluse mit dem FDGB-Emblem wurde nur angezogen, wenn die Mitarbeiter bei den feierlichen Heimabenden als Ensemble auftraten (Abbildung 36).
nisterium für innerdeutsche Beziehungen, Materialien zum Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland 1987, Bonn 1987, S. 232-240, hier S. 232. 31 Heimordnung, in: Bernhard Göring, Entspannung und Erholung durch den FDGB-Feriendienst, Berlin 1948, S. 8. 32 SAPMO-BArch, DY 34/24803, FDGB-Bundesvorstand, Abteilung Feriendienst. Vorlage für das Sekretariat des Bundesvorstandes des FDGB. Betr. Durchsetzung des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft im Feriendienst der Gewerkschaften, Berlin, den 9. März 1965, S. 5.
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Heimleiter und Mitarbeiter
35 Kellnerinnen in einem Ferienheim der 1950er-Jahre (Manfred Schindler, Freude, Frohsinn, glückliche Menschen, S. 118)
Die Vergemeinschaftung von Mitarbeitern und Urlaubern sowie die gewünschte Gleichrangigkeit als Werktätige im Arbeiter- und Bauernstaat war ein anspruchsvolles Postulat. Es implizierte die völlige Identifikation des Individuums mit den Zielen von Partei, Staat und Gewerkschaft, als wären es die eigenen. Es unterstellte eine Arbeitsmoral, die durch hohen Einsatz, Initiative, Zuverlässigkeit, durch Schöpfertum und Aufopferungsbereitschaft zum Wohle des Ganzen gekennzeichnet war. Gewissermaßen als Gegenleistung wurden die Mitarbeiter zum Gegenstand der sozialpolitischen Maßnahmen des Staates. In den Arbeitsrichtlinien 1951 wurde die »Sorge um den werktätigen Menschen« nicht nur als »Sorge um den Urlauber«, sondern auch als die »Sorge um alle Mitarbeiter« verstanden.33 Immer wieder wurden in den folgenden Jahren die Arbeits- und Lebensbedingungen der Mitarbeiter diskutiert.34 Die Bemühungen aber, die Arbeits- und Lebensbedingungen grund33 34
SAPMO-BArch, DY 34/20897, Arbeitsrichtlinien für die Gebietsleitungen des Feriendienstes der Gewerkschaften, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Feriendienst der Gewerkschaften, 5. 7. 1951, S. 6. Vgl. nur SAPMO-BArch, DY 34/5958, Abteilung Feriendienst, Sektor materielle und kulturelle Betreuung, Konzeption zur Durchführung von Rationalisierungsmaßnahmen im Fe-
Mitarbeiter und Gäste
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legend zu verbessern, liefen ins Leere – die tatsächliche Arbeitswelt konterkarierte auch für die Mitarbeiter das ideologische Postulat. Gerade für Mitarbeiter mit Familienmitgliedern oder Lebensgefährten, die nicht im Tourismus arbeiteten, waren eine gemeinsame Urlaubsreise oder auch nur die Erholung am Wochenende wegen der unterschiedlichen Arbeits- und Urlaubszeiten kaum möglich. Die familiären Beziehungen litten zudem unter der Unregelmäßigkeit der Schichtarbeit.35 Sehr häufig fehlte in den Urlaubsorten die Möglichkeit zur Kinderbetreuung.36 Die Wohnsituation für die Mitarbeiter war oftmals sehr schlecht, da die Kur- und Erholungsorte regelmäßig beim ohnehin prekären Wohnungsbau in der DDR vernachlässigt wurden.37 Eine hohe Fluktuation der Arbeitskräfte war die Folge. Sie verstärkte den ohnehin vorherrschenden Arbeitskräftemangel und trug zu einer weiteren Belastung der Mitarbeiter bei.38 So sah der Plan des Jahres 1978 im Bezirk Rostock 5.306 Stellen vor, von denen allerdings nur 4.603 besetzt waren.39 Es mangelte an Fachkräften für den Küchenbereich sowie an Hilfsarbeitern.40 Die Betreuungs- und Versorgungsleistungen bis hin zu den Reinigungsarbeiten konnten in den Sommermonaten vielerorts nur durch den starken Einsatz von Schülern, Studenten und Rentnern, die sich ein paar Mark hinzuverdienen wollten, gesichert werden. Bisweilen wurden sogar Studenten aus dem Ausland angeworben. So arbeiteten im Sommer 1986 allein im Bezirk Rostock 720 Studenten aus der Tschechoslowakei und aus Polen. Sie trugen damit einen erheblichen Teil der Arbeitslast.41 riendienst der Gewerkschaften, Berlin, den 13. 4. 66, S. 1f.; SAPMO-BArch, DY 34/24944, Maßnahmen zur weiteren Entwicklung des Erholungswesens der DDR durch planmäßige Erweiterung der Anzahl der Erholungsreisen und Schaffung von weiteren Möglichkeiten der Nah- und Wochenenderholung, o.D. [Mitte der 1970er-Jahre], S. 1. 35 SAPMO-BArch, DY 34/4928, FDGB-Bundesvorstand, Abteilung Feriendienst, Wirksamwerden der 5-Tage-Woche für die Mitarbeiter des Feriendienstes der Gewerkschaften, Berlin, den 30. 8. 66, S. 3. 36 SAPMO-BArch, DY 34/27604, Abteilung Feriendienst, Sektor Urlauberbetreuung, Leitungsinformation. Einschätzung des Verlaufs und der Ergebnisse der Schulferienbelegung im Sommer 1986, 30. 9. 1986, S. 2. 37 SAPMO-BArch, DY 34/15864, Zur persönlichen Information, Einschätzung der Sommerreisezeit 1978 im Bezirk Rostock, S. 2. 38 SAPMO-BArch, DY 34/15895, Abteilung Feriendienst, Sektor Planung/Investition, Bericht über Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes – Teil Arbeitskräfte und Lohn – vom 1. 1. bis 30. 6. 1966, Berlin, 20. 8. 1966, S. 6. 39 SAPMO-BArch, DY 34/15864, Zur persönlichen Information, Einschätzung der Sommerreisezeit 1978 im Bezirk Rostock, S. 1. 40 Ebd., S. 17. 41 SAPMO-BArch, DY 34/27604, Abteilung Feriendienst, Sektor Urlauberbetreuung, Leitungsinformation. Einschätzung des Verlaufs und der Ergebnisse der Schulferienbelegung im Sommer 1986, 30. 9. 1986, S. 2.
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Heimleiter und Mitarbeiter
36 Chor der Mitarbeiter des Feriendienstes auf einer Kulturveranstaltung im Ferienheim (Manfred Schindler, Freude, Frohsinn, glückliche Menschen, S. 109)
Zwar erzielte die zentrale Werbung zu Saisonbeginn auch im Inland einige Aufmerksamkeit. Doch die relativ große Zahl von Bewerbungen für alle Tätigkeiten, die regelmäßig beim Feriendienst einging, löste sich schnell auf; denn spätestens mit der Mitteilung der Verdienstmöglichkeiten »kam entweder eine Absage oder keine Beantwortung«.42 Selbstkritisch musste der FDGB einräumen, dass man es nicht immer verstanden habe, »die gesellschaftlichen mit den persönlichen Interessen der Werktätigen zu verbinden«.43 Das Versprechen, bessere Verhältnisse auch für jene zu schaffen, die maßgeblich für die Verbesserung der Lebensbedingungen der DDRBürger beitrugen, konnte nicht eingelöst werden. Von zentraler Bedeutung für die grundlegende Differenz zwischen den privaten und den gesellschaftlichen Interessen war die Frage, wie im planwirtschaftlichen 42 43
SAPMO-BArch, DY 34/15864, Zur persönlichen Information, Einschätzung der Sommerreisezeit 1978 im Bezirk Rostock, S. 17. SAPMO-BArch, DY 34/15895, Abteilung Feriendienst, Sektor Planung/Investition, Bericht über Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes – Teil Arbeitskräfte und Lohn – vom 1. 1. bis 30. 6. 1966, Berlin, 20. 8. 1966, S. 7.
Mitarbeiter und Gäste
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System die Leistungs- und Anpassungsbereitschaft der Werktätigen stimuliert werden könnte.44 Im marktwirtschaftlich organisierten Tourismus fungiert vor allem das Trinkgeld als effektive Motivation für einen reibungslosen und hochqualifizierten Ablauf.45 In der DDR aber stand die Vergabe von Trinkgeld im Widerspruch zur angestrebten sozialistischen Ordnung, kommt durch das Trinkgeld doch vor allem die Hierarchie zwischen zahlungskräftigem Gast und dienendem Mitarbeiter zum Ausdruck. In der DDR wurde immer wieder gefordert, von der »Unsitte […], Trinkgeld zu geben«,46 Abstand zu nehmen. Den Mitarbeitern im Erholungswesen der DDR, vor allem den Kellnern mit direktem Kontakt zum Gast, fehlte aber mit dem Trinkgeld eine wesentliche, den guten Service motivierende Einnahmequelle. Wie in einem Brennglas wird das Problem in den 1970er-Jahren bei den Interhotels sichtbar, als man, wie im ersten Teil der Arbeit dargestellt, diese vormals meist den westlichen, devisenkräftigen Besuchern vorbehaltenen Hotels für die FDGB-Touristen öffnete.47 Vor dem diesbezüglichen Politbürobeschluss48 war das Trinkgeld von westlichen Besuchern ein wesentlicher Bestandteil des Einkommens der dort Beschäftigten gewesen. Mit der Belegung von bis zu 80 Prozent der Kapazitäten durch FDGB-Urlauber ging diese Einnahme deutlich zurück. Ein Kellner erklärte unverblümt: »Ich werde mir in der nächsten Zeit eine neue Arbeit suchen, die mir weiterhin ein Trinkgeld wie bisher in Höhe bis zu 1000 Mark teilweise in harter Valuta gewährleistet.«49 Wenige Monate nach dem Beschluss, die Interhotels für den FDGB-Feriendienst zu öffnen, wurde daher zur »exakten Durchführung« vom FDGB-Bundesvorstand festgelegt, den bei guter Arbeit auszuzahlenden Prämienfonds auf etwa bis zu 850 Mark pro Mitarbeiter aufzustocken, um den Rückgang der Trinkgeld-
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Hans-Joachim Hof, Motivationale Probleme der intensiven Nutzung des Arbeitskräftepotentials, in: Gernot Gutmann (Hg.), Das Wirtschaftssystem der DDR. Wirtschaftspolitische Gestaltungsprobleme (Schriften zum Vergleich von Wirtschaftsordnungen, H. 30), Stuttgart/New York 1983, S. 103–119, hier S. 103. 45 Vgl. Winfried Speitkamp, Der Rest ist für Sie! Kleine Geschichte des Trinkgeldes, Stuttgart 2008. 46 SAPMO-BArch, DY 34/15844, FDGB-Bezirksvorstand Magdeburg – Abteilung Sozialpolitik –, Bericht über die am 18. 2. 1972 mit Kollegen des »Karl-Marx-Werkes« geführte Aussprache, die im Januar eine Interhotelreise hatten, Magdeburg, den 28. 2. 1972, S. 2. 47 Vgl. hierzu die Ausführungen zu den Interhotels im ersten Kapitel dieses Buches. 48 SAPMO-BArch, DY 30/4765, Beschluß des Politbüros 7./198 15/71 vom 28. 9. 1971. Betrifft: Nutzung von Interhotels zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse, S. 170. 49 SAPMO-BArch, DY 34/15849, Sektor Erf./Verteilung, Information über einige Probleme bei der Durchsetzung des Beschlusses des Sekretariats zur Verteilung der Interhotelreisen, 12. 11. 71, S. 2.
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Heimleiter und Mitarbeiter
einnahmen abzufedern.50 Doch das ausbleibende Trinkgeld konnte damit nicht kompensiert werden. Die unmittelbare Folge war eine unhöfliche Bedienung der FDGB-Gäste. Letztere vermuteten – wie aus Potsdam berichtet wurde – nicht ganz zu Unrecht, als Urlauber zweiter Klasse behandelt zu werden, »weil das Trinkgeld nicht so läuft wie bei anderen Gästen«.51 Andere Anreizsysteme, die mit der sozialistischen Ideologie im Einklang standen, wie der »Sozialistische Wettbewerb« oder das Generieren einer »materiellen Interessiertheit« durch Prämienlohn, zusätzliche Prämien und Auszeichnungen für gute und hervorragende Arbeit konnten keine dem Trinkgeld vergleichbare Wirkung entfalten. Denn die Prämien orientierten sich an der Erfüllung bzw. Übererfüllung der festgeschriebenen Wirtschaftspläne. Anstatt nun zu besonderen Leistungen angespornt zu werden, versuchten die Mitarbeiter vielmehr, von vornherein niedrige Planziele festzuschreiben, die mit wenig Aufwand übertroffen weren konnten und deshalb zu leicht erreichten Prämienleistungen führten.52 Angemerkt sei, dass eine ähnliche Tendenz auch beim »Sozialistischen Wettbewerb« zu beobachten war. Dieser Wettbewerb war – anders als in der offiziellen Darstellung – keine spontane Initiative der Werktätigen. Er wurde von oben verordnet. Die Verpflichtungen blieben oft im Allgemeinen und umfassten kaum mehr als das, was der Urlauber zu Recht erwarten konnte.53 In den 1950er-Jahren ging man noch davon aus, dass die politischen Vorgaben das wichtigste Rüstzeug und das handlungsleitende Motiv für die Arbeit im Feriendienst darstellten. Alle Mitarbeiter, hieß es 1951 im Protokoll über eine Sitzung der Abteilung Feriendienst mit den Landesvorständen der Gewerkschaft, müssten »von der Richtigkeit unserer Politik« durchdrungen sein und »den Charakter und damit auch die Rolle unserer DDR richtig einschätzen«.54 So wie der Heimleiter 50
SAPMO-BArch, DY 34/24944, Beschluß des Sekretariats des Bundesvorstandes des FDGB zur exakten Durchführung des Beschlusses des Politbüros des ZK der SED über die Nutzung von 3 Interhotels durch den Feriendienst des FDGB, 9. 11. 71 (Nr. S 707/71), S. 10. 51 SAPMO-BArch, DY 34/15844, Bezirksvorstand FDGB, Abt. Feriendienst [Potsdam], Schrader, Abteilungsleiter, Sekretariatsinformation. Einschätzung der Stimmungen und Meinungen von Arbeitern, die bereits einen Urlaub in den Interhotels verlebt haben, Potsdam, den 24. 2. 1972, S. 2. 52 Harry Maier, Errungenschaften der SED-Wirtschaftspolitik und ihre Bewertung unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten (Vortrag), in: Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«, Bd. II/1, S. 651–661, hier S. 654; Hof, Motivationale Probleme der intensiven Nutzung des Arbeitskräftepotentials, S. 104. 53 Vgl. nur SAPMO-BArch, DY 34/25840, Bericht über die Erfüllung des Planes des Feriendienstes der Gewerkschaften für das Jahr 1980, S. 2. 54 SAPMO-BArch, DY 34/20900, Protokoll über die Sitzung der Abteilung Feriendienst mit den Landesvorständen, Abt. Feriendienst, am 7. 2. 1951, 9.30 im Hause des Bundesvorstan-
Mitarbeiter und Gäste
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als Gewerkschaftsfunktionär im Sinne der marxistisch-leninistischen Gewerkschaftstheorie wirken und zur Erziehung der Werktätigen beitragen sollte, so galt für die Mitarbeiter, dass sie nicht schlechthin Angestellte des FDGB waren, sondern zugleich eine politische Funktion zu erfüllen hatten. Denn unter den verantwortlichen Funktionären in Partei- und Gewerkschaftsführung war es, wie schon im vorderen Teil dieses Buches angedeutet, in den ersten Jahren Konsens, dass die richtige politische Einstellung die Bewältigung der Alltagsprobleme garantieren könne. Auch hier vertraute man auf beständige Schulung, wo den jeweils aktuellen Beschlüssen der Partei- und Staatsführung besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, um die Mitarbeiter von der politischen Bedeutung und Ausrichtung ihrer Arbeit zu überzeugen. So wurde beispielsweise im Januar 1953 im Perspektivplan für die Sommersaison festgestellt: Entscheidend für die Verbesserung der Arbeit des Feriendienstes ist die Hebung des ideologischen Niveaus aller Mitarbeiter durch ein gründliches Studium der Beschlüsse des XIX. Parteitages der KPdSU, des 10. Plenums des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und der Beschlüsse des Bundesvorstandes, insbesondere der Beschluß der 10. Bundesvorstandssitzung.55
Die geschulten Mitarbeiter wiederum sollten das erworbene Wissen an die Urlauber weiter vermitteln und so zu ihrer politisch-ideologischen Erziehung beitragen. Die Auftritte des Mitarbeiterkollektivs gehörten daher zu den festen Bestandteilen der Kulturprogramme. So konnten die Mitarbeiter ihren Erziehungsauftrag unmittelbar wahrnehmen (siehe Abbildung 36). Früh schon zeigten sich die Urlauber aber sehr eigen-sinnig und konfrontierten die Mitarbeiter mit eigenen Vorstellungen und Wünschen hinsichtlich des Urlaubs, die oftmals im Widerspruch zu den politischen Vorgaben standen. Fortan agierten die Mitarbeiter also an der Schnittstelle zwischen Diktatur und Eigen-Sinn. So sollten sie einerseits den »gesellschaftlichen Auftrag der Arbeiterklasse« erfüllen und mussten andererseits doch die Bedürfnisse, Wünsche und Ansprüche der Urlauber jenseits der Ideologie und der politischen Vorgaben befriedigen. So wurden sie zu Mittlern zwischen Bürgern und Staat. In dieser Konstellation trat in den 1960er-Jahren der Dienstleistungscharakter der Tätigkeiten im Feriendienst in den Vordergrund, womit scheinbar ein Modus Vivendi gefunden war. Denn das Ziel, »die Betreuung unserer Werktätigen in ihrem
55
des, Engeldamm 70, Zimmer 315, Berlin, den 14. Februar 1951, gez. Gienger, S. 1. SAPMO-BArch, DY 34/29/410/3646, Perspektivplan des Feriendienstes der Gewerkschaften für die Sommerreisezeit 1953, 23. 1. 1953, S. 1.
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Heimleiter und Mitarbeiter
Urlaub auf das Bestmöglichste vorzunehmen«, konnte sowohl politisch-ideologisch als auch im Sinne der entstehenden Konsumgesellschaft interpretiert werden.56 Die Lage der Mitarbeiter im Feriendienst war geprägt vom Widerspruch zwischen ideologischem Postulat und der Realität der Planwirtschaft. So standen die Mitarbeiter in der von Dirigismus und Versorgungsschwierigkeiten geprägten planwirtschaftlichen Ordnung den strukturellen wie alltäglichen Schwierigkeiten gegenüber, die allein durch politische Aufklärung nicht zu bewältigen waren. Oft blieb es von staatlicher und gewerkschaftlicher Seite bei Appellen. Zugleich hatten es die Mitarbeiter mit den wachsenden Ansprüchen der Urlauber zu tun, Ansprüchen also, die mit den vorhandenen materiellen und finanziellen Mitteln nur unzulänglich erfüllt werden konnten. Bei der Lösung der Probleme aber waren die Mitarbeiter auf sich allein gestellt; sie mussten »kreativ« und oft im Widerspruch sowohl zu den Planvorgaben als auch zu den Urlauberwünschen handeln. Die vielfältigen Anforderungen, die aus dieser Situation heraus an die Mitarbeiter gestellt wurden – in politisch-ideologischer Hinsicht von Staat und Gewerkschaft, recht eigen-sinnig von den Bürgern der DDR –, mussten diese überfordern. Sie konnten es niemandem recht machen. Aus dieser schwierigen Situation heraus ist es durchaus verständlich, dass die Mitarbeiter oftmals ein gleichgültiges und überhebliches Verhalten an den Tag legten, über das sich die Urlauber in den Eingaben immer wieder beschwerten und das von Besuchern aus der Bundesrepublik mit Verwunderung und Befremden zur Kenntnis genommen wurde.57 An der Schnittstelle zwischen Bürger und Staat konnten die Mitarbeiter über die Zuteilung begehrter Leistungen entscheiden. Als »Verwalter des Mangels« kam ihnen große Macht zu, die nach der Wende oftmals mit bissigem Spott bedacht wurde.58 Das Schild »Sie werden platziert«, mit dem die Gäste im Restaurant begrüßt wurden, wurde zum Symbol für diese Situation, indem es die überkommene Hierarchie von Dienerschaft und Gast nicht nur aufhob, sondern partiell umkehrte.
56
SAPMO-BArch, DY 34/6312, Abt. Feriendienst und Kuren, Analyse über die Eingaben der Mitglieder im Jahre 1958, Berlin, den 15. 1. 1959. 57 SAPMO-BArch, DY 34/6336, Entwurf. Analyse über die Arbeit mit den Eingaben im 1. Halbjahr 1965 (Stichtag 20. 6. 65), S. 4. 58 Vgl. Wolle, Die heile Welt der Diktatur, S. 353.
IV. Die DDR als Urlaubsland 1. Der Urlaubsort – eine gesellschaftliche Konstruktion Alle Welt reist. So gewiss in alten Tagen eine Wetter-Unterhaltung war, so gewiss ist jetzt eine Reiseunterhaltung. »Wo waren Sie in diesem Sommer«, heißt es von Oktober bis Weihnachten; »wohin werden Sie sich im nächsten Sommer wenden?« heißt es von Weihnachten bis Ostern.1
Diese Sentenz aus der Feder Theodor Fontanes ist längst in den Zitatenschatz der wissenschaftlichen Literatur zur Tourismusgeschichte eingegangen; sie wird ebenso oft wie pflichtbewusst als Beleg für die Reise-Begeisterung des entstehenden Bürgertums im 19. Jahrhundert angeführt, die die Grundlage für die Entstehung des Massentourismus im 20. Jahrhundert war. Doch dem scharfsinnigen Wanderer Fontane war nicht entgangen, dass die Geschichte des Tourismus nicht allein in der quantitativen Entwicklung aufgeht. Die Sentenz belegt schon für das 19. Jahrhundert eine Differenzierung der Urlaubsziele, die Fontane beobachtete und auf den Punkt brachte. Während im 17. und 18. Jahrhundert die Routen der Grand Tour junger Adliger beinahe kanonisch festgelegt waren, gab es nun viel mehr Möglichkeiten.2 Zu dieser Differenzierung der Reiseziele trugen neben schichtspezifischen Aspekten auch gesellschaftliche, oftmals politisch durchdrungene Diskurse bei, in denen bestimmt wurde, was als schön, sehenswürdig und besuchenswert galt, welche Orte und fremden Länder die Touristen aufzusuchen hatten, wo und wie man sich erholen konnte, und schließlich eine Definition dessen, was als Urlaubserlebnis galt.3 Sowohl im Frühstadium des Tourismus als auch in den folgenden Jahrzehnten und gerade auch in der DDR ist eine »gesellschaftliche Konstruktion der Urlaubsorte« zu beobachten, die im Folgenden in Anlehnung an die erstmals 1969 vorgelegte Theorie zur »gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit« von Peter L. 1 2
3
Theodor Fontane, Modernes Reisen. Eine Plauderei, in: Theodor Fontane, Der Lokus im Levkojenbeet. Kleines Brevier für Reisende und Sommerfrischler, hg. v. Gotthard Erler, Berlin 2002, S. 32–33, hier S. 32 (erstmals 1873). Knebel, Soziologische Strukturwandlungen im modernen Tourismus; Attilio Brilli, Als Reisen eine Kunst war. Vom Beginn des modernen Tourismus: Die »Grand Tour«, übersetzt v. Annette Kopetzki, Berlin 1997; Jeremy Black, The British Abroad. The Grand Tour in the Eighteenth Century, London 1999; Clare Hornsby (Hg.), The Impact of Italy. The Grand Tour and Beyond, London 2000; Mathis Leibetseder, Die Kavalierstour. Adlige Erziehungsreisen im 17. und 18. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2004. Wiebke Kolbe, Editorial, in WerkstattGeschichte 13 (2004), H. 36: Themenheft zum Tourismus, S. 3–5, hier S. 3.
222
Die DDR als Urlaubsland
Berger und Thomas Luckmann untersucht werden soll. Im Grundsatz betrachten die beiden Autoren »die menschliche Wirklichkeit als eine gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit«4 oder konstatieren, wie es Helmuth Plessner im Vorwort zur deutschen Ausgabe zusammenfassend feststellt, dass »die Kriterien jeder Art von Wirklichkeit sozialen Charakter haben«.5 Auf den Mechanismus der gesellschaftlichen Konstruktion im Tourismus hat bereits Hans Magnus Enzensberger in seinem einleitend vorgestellten Essay über die »Theorie des Tourismus« hingewiesen, indem er feststellte, dass die touristischen Reize, die einem Ort zugeschrieben werden, nicht per se gegeben sind. Enzensberger spricht von der »Normierung« der Urlaubsreise, vor allem aber von der Normierung der Reiseziele.6 Den Ursprung dieser Normierung macht Enzensberger in den »Red Books« von John Murray, den »Urformen aller Reiseführer« aus. Denn die Reiseführer lenken die Touristenströme durch die Auswahl der beschriebenen Reiseziele, vor allem aber durch die Klassifizierung von sogenannten Sehenswürdigkeiten mit einem, zwei oder drei Sternen.7 Enzensberger spottet, die Reiseführer seien die »heiligen Schriften« des Tourismus.8 Die im Reiseführer verzeichnete Sehenswürdigkeit sei weit mehr als des Sehens würdig, schreibt Enzensberger, sie verlange gebieterisch die Besichtigung: »Sehenswürdig ist, was man gesehen haben muß.«9 Der Spott mindert jedoch nicht die Bedeutung, die den Reiseführern bis in die Gegenwart zukommt. Jede Region, die vom Tourismus profitieren will, jede Stadt, die Touristen empfangen möchte, muss in diesem Sinne daran interessiert sein, neben einer Infrastruktur möglichst viele Sehenswürdigkeiten bereitzustellen bzw. Sterne im Reiseführer zu sammeln.
4
Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, mit einer Einleitung zur deutschen Ausgabe von Helmuth Plessner, übers. v. Monika Plessner, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 1977 (erstmals 1969), S. 200f. 5 Plessner, Zur deutschen Ausgabe, in: ebd., S. IX. 6 Vgl. auch die Ausführungen zu Enzensberger in der Einleitung vorne. 7 Enzensberger, Theorie des Tourismus, S. 713. Vgl. auch Roland Barthes, Der »Blaue Führer«, in: ders., Mythen des Alltages, Frankfurt a.M. 1964, S. 59–63. Mittlerweile gibt es eine recht ausführliche Forschungsliteratur über Reiseführer und ihre Funktion. Vgl. nur Rudy Koshar, Seeing, Traveling, and Consuming. An Introduction, in: ders. (Hg.), Histories of Leisure, Oxford 2002, S. 1–24; ders., ›What Ought to be Seen‹. Tourists‘ Guidebooks and National Identities in Modern Germany and Europe, in: Journal of Contemporary History 33 (1998), S. 323–340; Jan Palmowski, Travels with Baedecker – The Guidebook and the Middle Classes in Victorian und Edwardian Britain, in: ebd., S. 105–130; Andreas Pott, »Doing the Town«. Städte aus touristischer Perspektive, in: Helmuth Berking/Martina Löw (Hg.), Die Wirklichkeit der Städte, Baden-Baden 2005, S. 297–312. 8 Enzensberger, Theorie des Tourismus, S. 708. 9 Ebd.
Der Urlaubsort – eine gesellschaftliche Konstruktion
223
Diesen Grundgedanken entwickelte der englische Soziologe John Urry im Konzept des »touristischen Blickes« (tourist gaze) fort und gab damit den Überlegungen zur gesellschaftlichen Konstruktion des Sehenswürdigen einen einprägsamen Begriff, der das Sehen in den Mittelpunkt der touristischen Tätigkeiten stellt. Im Anschluss an die Foucault‘schen Arbeiten zum »medizinischen Blick« meint der Begriff des »touristischen Blicks« mehr als bloße Betrachtung. Urry schreibt: When we »go away« we look at the environment with interest and curiosity. It speaks to us in ways we appreciate, or at least we anticipate that it will do so. In other words, we gaze at what we encounter. And this gaze is as socially organised and systematised as is the gaze of the medic.10
Tatsächlich aber wirkt die Analogie zu Foucaults »medizinischem Blick« aufgesetzt. In einer scharfen Kritik am Konzept des »touristischen Blicks« schreibt Hasso Spode in einem Aufsatz mit dem bezeichnenden Untertitel »Torheiten und Trugschlüsse in der Tourismusforschung«: Die Rede vom »touristischen Blick« hört sich irgendwie tiefschürfend an, bleibt aber bloße Koketterie mit der Begrifflichkeit der Mentalitäts- und Wissenschaftsgeschichte. Er ist kein »Blick« im Foucaultschen Sinne, keine epochale »stumme Ordnung«, sondern im Gegenteil eine beredte, ganz verschiedenartig normierte, zu erlernende Praxis: nämlich der »sozial organisierte« Vorgang des »visuellen Symbolkonsums«.11
Daher empfehle es sich, so das Fazit Spodes, auf den Begriff des »Blicks« zu verzichten, wenn man ihn nicht mit Foucault als »fundamentale Disposition des Wissens« verstehen will und kann.12 Der von Spode vorgeschlagene Begriff des »Symbolkonsums« wiederum wurde bereits 1988 von Ueli Gyr in die Diskussion eingeführt und wenig später von John Urry aufgegriffen.13 Sehenswürdigkeiten, schreibt Gyr, würden »zu globalen Symbolen für Gesellschaft und Kultur, zu Deutungsangeboten über Land und Leute, Geschichte und Natur«.14 Als Besucher und Betrachter dieser Symbole wird der 10 John Urry, The Tourist Gaze, 2. Aufl., London/Thousand Oaks/New Delhi 2002, S. 1. 11 Hasso Spode, Der Blick des Post-Touristen. Torheiten und Trugschlüsse in der Tourismusforschung, in: Hasso Spode/Irene Ziehe (Hg.), Gebuchte Gefühle. Tourismus zwischen Verortung und Entgrenzung, Voyage. Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung, Bd. 7 (2005); zugleich: Kleine Schriften der Freunde des Museums Europäischer Kulturen, H. 4, S. 135– 161, hier S. 142. 12 Ebd. 13 Ueli Gyr, Touristenkultur und Reisealltag. Volkskundlicher Nachholbedarf in der Tourismusforschung, in: Zeitschrift für Volkskunde 84 (1988), S. 224–239, hier S. 234. 14 Ueli Gyr, Touristenverhalten und Symbolstrukturen. Zur Typik des organisierten Erlebniskonsums, in: Burkhard Pöttler (Hg.), unter Mitarbeit von Ulrike Kammerhofer-Agger-
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Die DDR als Urlaubsland
Tourist zum Semiotiker!15 Dabei ist der Tourist kein unbeschriebenes Blatt – oder um in der Welt des Tourismus zu bleiben – kein unbelichteter Film einer Kleinbildkamera. So wie der Tourist die Gesellschaft, aus welcher er stammt, im Urlaub nicht leugnen kann, so kann er auch im Urlaub seine kulturelle Prägung nicht abstreifen, die wiederum seine Wahrnehmung beeinflusst, ohne dass er sich dessen bewusst ist. Die touristische Erfahrung ist – so Ueli Gyr – stets vorgeprägt von Vorwissen, Meinungen, Wertungen, standardisierten Bildern, Zeichenelementen und Symbolen, die über Medien, Kataloge, Reiseführer und mündliche Berichte vermittelt werden.16 Die Seh- und Erlebniswünsche orientieren sich somit an gesellschaftlich überlieferten Sehweisen und Erlebnissen.17 Der Tourist ist aber nicht nur Objekt, das von der gesellschaftlichen Prägung und von kulturell geformten, unbewussten Wahrnehmungsmustern gleichsam ferngesteuert wird. Entscheidend ist vielmehr, dass der Tourist die Zeichen, die ihm geboten werden, interpretieren muss, dass er über »Eigen-Sinn« verfügt, mit dem er diese Zeichen deuten kann. Der Tourist nimmt also selbst an diesen kommunikativen Aushandlungsprozessen teil, die den Sinn und die Attraktivität des Sehenswürdigen und des gesamten Urlaubslandes bestimmen. Schließlich entscheidet der Tourist sogar über dessen Existenz.18 Denn eine vermeintliche Sehenswürdigkeit, deren Symbole den Touristen nicht berühren und von ihm mit Inhalt gefüllt werden können, hört auf, eine Sehenswürdigkeit zu sein. Eine Region, ein Land, das nicht als sehenswürdig erachtet wird und es nicht vermag, die Phantasie der Reisenden schon vor der Planung der Reise anzuregen, wird nicht von Touristen besucht werden. Sie werden sich andere Orte erschließen. Gerade hinsichtlich der DDR stellen sich diese Fragen besonders eindringlich. Zwar hatte die DDR keine Konkurrenz in dem Sinne zu befürchten, dass sie sich einem regelrechten Wettbewerb um die Touristen stellen musste. Für den DDRBürger war die Auswahl der Reiseziele arg beschränkt. Urlaubsreisen ins Ausland blieben die Ausnahme. Zum einen versperrte die Mauer den Weg nach Westen, zum anderen wurden die Reisen in die sozialistischen »Bruderländer« durch diverse Visabestimmungen und die oftmals hohen Preise erschwert.
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mann, Tourismus und Regionalkultur. Referate der Österreichischen Volkskundetagung 1992 in Salzburg (Österreichische Zeitschrift für Volkskunde, Buchreihe, Bd. 12), Wien 1994, S. 41–56, hier S. 42. Jonathan Culler, Semiotics of Tourism, in: American Journal of Semiotics 1 (1981), H. 1–2, S. 127–140. Vgl. auch Hans-Georg Deggau, Zur Semantik der Reise, in: Voyage 1 (1997), S. 54–60. Gyr, Touristenkultur und Reisealltag, S. 233. Karlheinz Wöhler, Imagekonstruktion fremder Räume. Entstehung und Funktion von Bildern über Reiseziele, in: Voyage 2 (1998), S. 97–114, hier S. 105f. Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus, S. 46 und 477.
Der Urlaubsort – eine gesellschaftliche Konstruktion
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Und doch hatte sich die DDR einer Konkurrenz zu stellen, die sich mangels tatsächlicher Alternativen in den Köpfen abspielte. Abgeschnitten von traditionellen Destinationen im Südwesten Europas musste die DDR zwangsläufig zum Hauptreiseziel ihrer Bürger werden. Prototypische Reiseziele, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts etabliert hatten, wie die nördliche Mittelmeerküste und die Alpen, waren den DDR-Bürgern nicht zugänglich. Die Ostsee konnte dem direkten Vergleich mit dem Mittelmeer aber kaum standhalten. Die Mittelgebirge waren nicht alpin. Die Landschaften der DDR mochten insofern – gemessen an den traditionellen Erwartungshaltungen der Urlauber und Touristen – als zweitklassig erscheinen. Zwar gab es schon vor dem Zweiten Weltkrieg einzelne Regionen auf dem Gebiet der späteren DDR, in denen der Tourismus eine große Rolle spielte – wie eben die Ostseeküste, das Elbsandsteingebirge und kulturell bedeutsame Städte. Gleichwohl hatte sich das Gebiet der späteren DDR vor 1945 aber kaum mit starken Bildern als touristische Traumdestination etabliert. Die DDR stand nun vor der Aufgabe, aus der Not eine Tugend zu machen bzw. mit den Worten Bergers und Luckmanns, »den pragmatischen Imperativen die Würde des Normativen« zu verleihen,19 das heißt, sich als Urlaubsland zu erfinden, sich als solches zu konstruieren. Dieses Vorhaben erfolgreich umzusetzen war umso wichtiger, als dass die DDR durch die vermeintliche Tatsache, ein beliebtes Urlaubsland zu sein, auch ihre politische Ordnung legitimieren wollte. So wenig jede Diktatur sich allein auf Gewalt gründen kann, sollten die Menschen in der DDR von der Notwendigkeit der Abgrenzung zum Westen, der Mauer und gar der Diktatur des Proletariats überzeugt werden. Der Urlaub stellte hier einen entscheidenden Baustein dar: Die Bevölkerung sollte die DDR als reizvolles und lohnenswertes Urlaubsland begreifen lernen, um sich auf Dauer mit ihm zufrieden zu geben. Das Konzept ging freilich nicht auf. Denn auch hier trat zutage, was als Leitlinie der vorliegenden Arbeit bezeichnet werden kann. Wieder zeigte sich das Spannungsverhältnis zwischen den durch die sozialistische Ideologie geprägten Intentionen der verantwortlichen Funktionäre und dem »Eigen-Sinn« der Bürger. Denn wesentlicher Bestandteil der »gesellschaftlichen Konstruktion der Urlaubsorte« war die Tatsache, dass die Bürger recht »eigen-sinnig« an dieser Konstruktion mitwirken konnten; denn letztlich ist es der Tourist, dem die Entscheidung zusteht, ob ein Urlaubsland die Erwartungen erfüllt und in der Bewertung der Touristen ein »gutes« oder »schlechtes« Urlaubsland ist. Am Ende akzeptierten die DDR-Bürger die Konstruktion der Funktionäre nicht mehr, die nach außen abgeschlossene DDR als reizvolles Urlaubsland zu etablieren. Der Versuch, neue geographische Vorstellungen in den Köpfen der Menschen zu verankern, scheiterte an der individuellen und gesellschaftlichen Vorstellungskraft der DDR-Bürger. 19
Berger/Luckmann, Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 100.
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Die DDR als Urlaubsland
2. Tourismus – geographische Grundlagen Einen nicht unwesentlichen Anteil an der Erfindung der DDR als Urlaubsland hatte die sogenannte Fremdenverkehrs- und Rekreationsgeographie, die sich in den 1960erJahren in der DDR im Rahmen der »Ökonomischen Geographie« als eigenes, wenn auch randständiges Wissenschaftsfeld herausbildete. Die »Fremdenverkehrs- und Rekreationsgeographie« untersuchte die räumlichen Gegebenheiten und Auswirkungen des Fremdenverkehrs und der Erholungslandschaften. Vorrangiges Ziel dieser Wissenschaft war es, die Politik, also Partei und Staat sowie Gewerkschaft, bei der Planung und Gestaltung des Erholungswesens zu unterstützen.20 Die klassische, unmittelbar einleuchtende und wenig überraschende Definition der Untersuchungsgegenstände, denen sich diese neue Wissenschaft zuwandte, stammte von ihrem Nestor Günter Jacob, seines Zeichens Direktor des Instituts für Verkehrsgeographie der Verkehrshochschule »Friedrich List« in Dresden: Die Geographie des Fremdenverkehrs untersucht die räumliche Verbreitung des Fremdenverkehrs, seine natürlichen und gesellschaftlichen Grundlagen und Voraussetzungen und die zwischen dem Fremdenverkehr und den Fremdenverkehrsorten- und Gebieten bestehenden Wechselwirkungen und -beziehungen. Die Geographie des Fremdenverkehrs ist somit in erster Linie eine Geographie der Fremdenverkehrsorte und -gebiete.21
Ende der 1960er-Jahre entwickelte Jacob ein Modell, das den Fremdenverkehr in Bezug zum »Überbau«, zum »territorialen Produktionskomplex« und zum »Naturkomplex« setzte. Ganz im marxistisch-leninistischen Sinne verstand Jacob dabei unter »Überbau« die Philosophie und die politischen Ideen, den Staat, die Parteien, Moral, Sitten und Gebräuche.22 Im »Produktionskomplex« fasste er die Produktionsverhältnisse, die Bevölkerung, den Handel, die Industrie und den Fremdenverkehr zusammen. Der »Naturkomplex« schließlich bildete sich u.a. aus dem Klima, der geologischen Struktur, der Fauna und der Vegetation.23
20
Ein umfassender Blick auf die fremdenverkehrsgeographische Forschung in der DDR würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Es sollen im Folgenden vielmehr die Grundlinien aufgezeigt werden. Vgl. die ausführliche Diskussion bei Bähre, Tourismus in der Systemtransformation, S. 166ff. 21 Günter Jacob, Modell zur regionalen Geographie des Fremdenverkehrs, in Geographische Berichte 46 (1968), H. 1, S. 51–57, hier S. 51. 22 Ebd. Vgl. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 13, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1974, S. 9; ders., Das Kapitel. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, in: ebd., Bd. 23, S. 96, Anm. 33. 23 Jacob, Modell zur regionalen Geographie des Fremdenverkehrs, S. 53.
Tourismus – geographische Grundlagen
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In den Jahren nach der Begründung der Geographie des Fremdenverkehrs als eigenständiger Wissenschaft setzten die Wissenschaftler, ausgehend von Jacob, jedoch nur den »Produktionskomplex« und den »Naturkomplex« in einen Wirkungszusammenhang. Der »Überbau« wurde lediglich pflichtgemäß diskutiert, wenn in den kurzen historischen Überblicken in den geographischen Darstellungen der Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Fremdenverkehrs und den »herrschenden Produktionsverhältnissen« hervorgehoben wurde.24 Zwar wurde der sozialistische Staat auch in der fremdenverkehrsgeographischen Wissenschaft als Garant für den Urlaub betrachtet, indem man auch hier betonte, dass erst im Sozialismus die Möglichkeit bestehe, Urlaub zu machen. Eine eingehende Untersuchung dieser Zusammenhänge zwischen Tourismus und gesellschaftlichem System in der DDR blieb jedoch aus. Denn der Sozialismus, die DDR und ihr Gesellschaftssystem konnten nicht hinterfragt oder gar in Frage gestellt werden. Mitte der 1970er-Jahre wurde der theoretische Rahmen der Fremdenverkehrsgeographie verändert. Man ging von dem Jacob‘schen Modell ab und stützte sich fortan vor allem auf das in der UdSSR von Vladimir Sergeevic Preobrazenskij, dem Leiter des Geographischen Instituts der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, entwickelte Konzept des »Territorialen Rekreationssystems« (TRS – Territorial‘naja Recreationnaja Sistema). Innerhalb des TRS wurden vier Subsysteme identifiziert, die untereinander in Beziehung stehen und sich wechselseitig beeinflussen, ohne dass der Überbau im klassischen Sinne überhaupt in Erscheinung tritt. Im Mittelpunkt des TRS steht zunächst der Erholungssuchende, der Mensch. Der Geokomplex als weiteres Subsystem umfasst die natürlichen sowie menschlich gestalteten Bedingungen: die Landschaft, die rekreativ nutzbar ist und ein bestimmtes Rekreationspotenzial enthält. Das dritte Subsystem stellt die auf die Erholung bezogene Infrastruktur dar. Das vierte Subsystem schließlich bilden die Betriebe und Einrichtungen des Erholungswesens sowie die Lenkungs- und Verwaltungsorgane, welche die Erholung organisieren. Zwar ist der sozialistische Staat auch in diesem System Garant für den Urlaub und wird über die Infrastruktur, die Betriebe, die staatlichen Einrichtungen und Verwaltungsorgane erfasst. Dennoch bilden Staat und Politik bezeichnenderweise kein eigenes Subsystem. Auch im TRS wird Politik nicht unmittelbar zum Untersuchungsgegenstand.25
24
Vgl. nur K. Hübel, Fremdenverkehr/Erholungswesen, in: Horst Kohl u.a. (Hg.), Ökonomische Geographie der Deutschen Demokratischen Republik, Bd. 1, 3. Aufl., Gotha/ Leipzig 1976, S. 505–516, hier S. 506. 25 Vgl. Monika Henningsen, Der Freizeit- und Fremdenverkehr in der (ehemaligen) Sowjetunion unter besonderer Berücksichtigung des Baltischen Raums (Europäische Hochschulschriften, Reihe XVII, Bd. 6), Frankfurt a.M. u.a. 1994, S. 17f.
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Die DDR als Urlaubsland
Einen wesentlichen Schritt zu einer pragmatischen Fremdenverkehrsforschung vollzog schließlich Bruno Benthien. Als Leiter der 1977 an der Universität Greifswald gegründeten Forschungsgruppe Rekreationsgeographie lenkte er die Aufmerksamkeit vor allem auf die räumlichen Voraussetzungen für die Freizeitgestaltung und die Auswirkung des Freizeitverhaltens auf den Raum. Dieser Zugriff ermöglichte eine pragmatische Forschung, die einen Beitrag zur optimalen territorialen Organisation der Erholung und Freizeitgestaltung – entsprechend den gesellschaftlichen sowie individuellen Bedürfnissen und auf der Grundlage der jeweiligen sozialökonomischen Bedingungen – leisten sollte.26 Dieser Pragmatik unterlagen auch die Darstellungen und Untersuchungen der Fremdenverkehrsgeographie. Sie reduzierten die Komplexität der Forschungsprogramme von Jacob und Preobrazenskij, indem sie vor allem auf die Begriffe des »Fremdenverkehrspotentials« und der »Fremdenverkehrskapazität« abstellten. Dabei unterschied man zwischen dem »natürlichen (naturbedingten)« und dem»gesellschaftlichen Fremdenverkehrspotential«. Gerade durch die Differenzierung von natürlichem und gesellschaftlichem Fremdenverkehrspotenzial wurde stärker als im westlichen Tourismus die Bedeutung der gesellschaftlichen bzw. der anthropogenen Bedingungen für den Tourismus hervorgehoben, was wiederum mit der im Sozialismus immanenten Betonung des menschlichen Schaffens korrelierte. Hübel konstatiert: »Erholungslandschaften werden erst durch ihre gesellschaftliche Erschließung mit Einrichtungen des Fremdenverkehrs zu nutzbaren Fremdenverkehrsgebieten.«27 Auch hier spiegelte sich die Grundannahme des Sozialismus wider, dass es die Menschen sind, die den Sozialismus aufbauen; es sind deshalb auch die Menschen, die erst die Bedingungen für den Urlaub schaffen und durch ihre Eingriffe in die Natur Erholungslandschaften formen. Es bleibt jedoch anzumerken, dass sowohl das »natürliche« als auch das »gesellschaftliche« Erholungspotenzial in der Fremdenverkehrswissenschaft eher behauptet als erwiesen wurde. Die vermeintlich wissenschaftlich abgesicherte Behauptung, diese oder jene Landschaft habe diese und jene Vorzüge, lieferte die Grundlage dafür, dass diese Vorzüge auch mit gewisser Glaubwürdigkeit vermittelt werden konnten.
26
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Günter Jacob, Der gegenwärtige Stand und die Aufgaben der Geographie des Fremdenverkehrs, in: ders. (Hg.), Probleme der Geographie des Fremdenverkehrs der Deutschen Demokratischen Republik und anderer Staaten. Referate der Internationalen Informationstagung zur Geographie des Fremdenverkehrs vom 30. September bis 2. Oktober 1965 in Dresden (Wissenschaftliche Abhandlungen der Geographischen Gesellschaft der DDR, Bd. 6), Leipzig 1968, S. 17–32, hier S. 19. Hübel, Fremdenverkehr/Erholungswesen, S. 510.
Tourismus – geographische Grundlagen
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Die wichtigsten Urlaubsregionen der DDR Mit dem in den vorhergehenden Ausführungen dargestellten Vokabular beschrieb die Fremdenverkehrswissenschaft die wichtigsten Erholungsregionen in der DDR, die im Folgenden kurz skizziert werden sollen (Abbildung 37).
37 Fremdenverkehrsgeographische Übersicht (Horst Kohl [Hg.], Ökonomische Geographie der DDR, Bd. 1, 3. Aufl., Gotha/Leipzig 1976, Tafel 5)
Ostseeküste Die wichtigste Region für den Urlaub in der DDR war der Bezirk Rostock, der die gesamte Ostseeküste umfasste – einschließlich der vorgelagerten Inseln Rügen, Usedom, Poel und Hiddensee, der Halbinseln Fischland-Darß-Zingst und der Boddenund Haffgewässer. Mit ihren abwechselnden mäßig hohen Steil- und langgestreckten Flachufern, Sandstränden und dem bewaldeten Küstenhinterland stellte die Ostseeküste das traditionsreichste und beliebteste Reiseziel in der DDR dar. 38
Strand an der Ostsee in den 1950er-Jahren
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(Manfred Schindler, Freude, Frohsinn, glückliche Menschen, 1957, S. 30)
Zahlreiche Fremdenverkehrsorte waren schon vor der Gründung der DDR erschlossen worden. Im Erscheinungsbild und ihrer inneren Struktur spiegeln »sich auch heute noch deutlich die Ansprüche, Gewohnheiten und Sitten ihrer Gründer und Besucher sowie die ›Mode‹ jener Zeit wider«,28 führte Bruno Benthien im Jahre 1965 aus: »So liegt auch heute noch über der weißen, seewärts gerichteten Front des Bades Heiligendamm mit dem Kurhaus als gediegenem architektonischen Mittelpunkt ein Hauch jener Kuratmosphäre des beginnenden 19. Jahrhunderts.«29 Gänzlich konnte sich die Fremdenverkehrswissenschaft der DDR auch nicht der Tatsache verschließen, dass in dieser überkommenen Gestaltung des Ostseeraumes auch ein gewisser Reiz für den Tourismus lag – mit den Worten der Wissenschaftler: ein hohes, »gesellschaftliches Rekreationspotential«. Pflichtgemäß wurde al28
Benthien, Siedlungsgeographische Auswirkungen des Fremdenverkehrs an der Ostseeküste, in: ders. (Hg.), Probleme der Geographie des Fremdenverkehrs, S. 78f. 29 Ebd.
Tourismus – geographische Grundlagen
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lenfalls angemerkt, dass sich die Zahl der Neubauten des FDGB in »bescheidenen Grenzen« halte und »leider noch nicht das Siedlungsbild der Bädergemeinden« bestimme.30 An der Ostseeküste, die zu den sonnigsten Landstrichen Deutschlands gehört, waren in der Regel von Mitte Mai bis Mitte September ausreichend hohe Luft- und Wassertemperaturen gegeben, um sich am Strand zu sonnen und dort zu spielen, im Meer zu baden und zu schwimmen. Mit den großen Erholungskapazitäten und den »sehenswerten kulturhistorischen Bauten der Städte und Dörfer, aber auch in manchen Verkehrs- und Technikbauten (z.B. Fährhäfen, Leuchttürmen u.a.)« sah man ebenfalls ein hohes »gesellschaftliches Rekreationspotential« als gegeben an (Abbildung 38).31 Die Urlaubsreisen in den Bezirk Rostock konzentrierten sich allerdings auf den sehr schmalen, in der kartographischen Darstellung (vgl. Abbildung 37) kaum noch erkennbaren Streifen an der Ostseeküste, der nur die unmittelbar an der Ostsee gelegenen Orte umfasst. Das Hinterland der Ostseeküste wurde vom Tourismus kaum erschlossen. Doch allein dieser schmale Streifen am Meer war recht konstant über die Jahre der DDR hinweg das Ziel für knapp ein Drittel der jährlichen Urlaube mit dem Feriendienst. 1962 waren dies über 300.000 bzw. 1987 über 1,3 Millionen Reisen mit dem Feriendienst. Allein auf den Campingplätzen an der Ostsee übernachteten 1987 fast 700.000 Menschen.32 Hinzu kamen Privatreisen, deren Zahl statistisch nicht erfasst wurde. Trotz vielfältiger Ansätze, die Kapazitäten weiter zu erhöhen, konnte die Nachfrage für Urlaubsplätze an der Ostseeküste zu keinem Zeitpunkt in der DDR befriedigt werden. Findige DDR-Bürger rechneten in ihren Eingaben vor, dass »jeder Kollege alle 50-100 Jahre einmal an die Ostsee fahren« könne.33 Diese und ähnliche Eingaben verdeutlichen, wie sehr sich die Ostsee als lohnenswertes Urlaubsziel auch in der DDR etablieren konnte. Im Rahmen der Sozialpolitik der 1970er-Jahre wurde die Ostsee so zu einem wichtigen Schwerpunkt des Ausbaus des Erholungswesens.34 Der prozentuale Anteil der Ostseereisen am gesamten Reiseaufkommen konnte aber nicht wesentlich erhöht werden. Erfolgreich als Urlaubsziel in den Köpfen der DDR-Bürger etabliert, wurde der Erfolg so durch
30 Ebd. 31 Benthien, Geographie des Erholungswesens und des Tourismus, S. 277f. 32 Statistisches Jahrbuch der DDR 1988, S. 336. 33 SAPMO-BArch, DY 34/10612, Wolfgang Rossa an den Bundesvorstand des FDGB, Abt. Feriendienst, Hohenstein-Er., am 3. 3. 1975 [handschriftl.], S. 2. 34 SAPMO-BArch, DY 34/24944, Maßnahmen zur weiteren Entwicklung des Erholungswesens der DDR durch planmäßige Erweiterung der Anzahl der Erholungsreisen und Schaffung von weiteren Möglichkeiten der Nah- und Wochenenderholung, o. D., S. 2.
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die knappen Kapazitäten zunichte gemacht. Die Planwirtschaft konterkarierte den Plan, die DDR als Urlaubsland zu gestalten. Mittelgebirge Traditionell beliebt und stark besucht waren die Mittelgebirgszüge der DDR wie der Thüringer Wald, das Vogtland, das Erzgebirge und das Elbsandsteingebirge im Süden sowie der Harz im Westen des Landes. Nicht zuletzt wegen der »zahlreichen historischen und technischen Sehenswürdigkeiten« stellten die Mittelgebirge ein »sehr attraktives Potential« für den Fremdenverkehr dar.35 In den 1950er-Jahren führte beinahe die Hälfte aller Reisen in die Mittelgebirge im südlichen Raum der DDR. Seit den 1960er-Jahren aber ging der prozentuale Anteil am gesamten Reiseaufkommen deutlich zurück. Der gleichwohl gegenüber der Ostsee weiterhin bestehende leicht höhere Prozentsatz der südlichen Bezirke (32 Prozent gegenüber 27 Prozent im Jahre 1988) am gesamten Reiseaufkommen erklärt sich zum einen daraus, dass sich die Mittelgebirge – anders als die Ostsee – für die Nutzung im Sommer wie auch im Winter eigneten. Während im Sommer bei gemäßigten Temperaturen vielfältige Möglichkeiten zum Wandern, Bergsteigen und Klettern bestanden, waren im Winter die höheren Lagen relativ schneesicher, sodass Wintersport betrieben werden konnte.36 Zugleich gab es in den Mittelgebirgszügen insgesamt mehr räumliche Möglichkeiten für den Neubau von Erholungsheimen als im schmalen Küstenstreifen. Die statistischen Angaben zum südlichen Teil der Republik umfassen dementsprechend nicht einen, sondern gleich vier Bezirke (Gera, Suhl, Karl-Marx-Stadt und Dresden). Aber auch im Süden der DDR führte der kontinuierliche Ausbau der Kapazitäten nicht dazu, dass die Nachfrage gedeckt werden konnte. Nur selten gelang es dem DDR-Bürger, einen Urlaubsplatz in den Vorzeigeorten des Südens wie Oberhof zu erhalten. Mehr als anderen Gebieten kam den Mittelgebirgen zudem eine wichtige Rolle bei der Naherholung zu. Der Harz wurde mit seinen Vorgebirgen zum Naherholungsgebiet für das Ballungsgebiet um Halle und Leipzig; der Thüringer Wald wurde von den Bewohnern der thüringischen Industriestädte aufgesucht; das Erzgebirge bot den Menschen aus den Ballungsräumen Karl-Marx-Stadt und Zwickau Erholung, und das Elbsandsteingebirge gewann für Dresden besondere Bedeutung.37
35 Benthien, Geographie des Erholungswesens und des Tourismus, S. 278. 36 Ebd. 37 Ebd.
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Mecklenburger und Brandenburger Seenplatten In den Landschaften des Tieflandes wurde das natürliche Rekreationspotenzial dort am wertvollsten eingeschätzt, »wo bei hügeligem Relief und wechselnden Bodenverhältnissen auch ein häufiger Wechsel der Flächennutzung zwischen Land- und Forstwirtschaft auftritt. Zusätzlich gestalten Seen und Wasserläufe mit den sie begleitenden Niederungen das Landschaftsbild abwechslungsreicher. Auch hier runden gesellschaftliche Gestaltungselemente in den Städten und Dörfern das Rekreationspotential ab.« Besonders die Mecklenburgische und die Brandenburger Seenplatte boten vielfältige Erholungslandschaften. Ähnlich – wenn auch landschaftlich weniger spektakulär – verhielt es sich mit dem Spree-Seengebiet, dem Spreewald, dem Unteren Havelseengebiet und den Waldgebieten der Zauche und des Flämings. Diese Gebiete wurden zu bedeutenden Erholungslandschaften der DDR und boten mit Baden, Wassersport, Angeln, Wandern zahlreiche Freizeitmöglichkeiten. Auch die beliebte Bootsfahrt im Spreewald fehlte nicht im touristischen Programm dieser Region (Abbildung 39).
39 Floßfahrt im Spreewald (Freier Deutsche Gewerkschaftsbund [Hg.], Urlaub, Erholung, Genesung, Berlin 1959, S. 170)
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Die DDR als Urlaubsland
Trotz zahlreicher Bemühungen, diese Landschaften auch im Winter für Urlaube zu nutzen, wurden die Seenplatten in Brandenburg-Mecklenburg vor allem im Sommerurlaub als Ziel gewählt – nicht zuletzt, weil diese Region zu einem Schwerpunkt der Campingtouristen wurde, die hier auf zahlreichen Campingplätzen ihre Zelte aufschlagen konnten.38
40 »Brettsegeln« in der DDR (Joachim Nolte/Rudolf Sack, Segeln. Segler, Boote und Reviere in der DDR, Berlin 1989, S. 37)
Sonstige Erholungsgebiete Zweitrangig waren die deutlich jüngeren Erholungslandschaften, die teilweise erst in der DDR erschlossen wurden, wie das Mittlere Elbegebiet mit den Magdeburger Elbauen und den Waldgebieten der Letzlinger Heide oder die Dübener und Dahlener Heide. Hinzu kamen zahlreiche kleinere Erholungsgebiete wie der Arendsee, der Gebirgszug Huy, die Tagebaufolgelandschaft der Lausitz mit dem Knappensee 38 Ebd.
»... dass uns Warna näher liegt als Sylt«
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bei Hoyerswerda und Senftenberg mit dem gleichnamigen See. Diese Gebiete gerieten seit den 1960er-Jahren in den Blick der Planer, die vor allem Möglichkeiten für die Naherholung erschließen wollten. Gerade hier etablierten sich sehr individuell ausgeprägte Formen der Urlaubsgestaltung, die sich weitgehend den Planungen des Staates entzogen, wie z.B. der Segelsport und das »Brettsegeln« als DDR-Variante des »Windsurfens« (Abbildung 40). Deshalb übernahmen diese Gebiete eine Vorreiterrolle bei der zunehmenden Erlebnisorientierung im Urlaub der DDR. 3. »... dass uns Warna näher liegt als Sylt« – kognitive Landkarten Während die Fremdenverkehrswissenschaft in der DDR kaum eine große Öffentlichkeit erreichte, waren die Vorstellungen von Funktionären und Bürgern über die Geographie ihres Landes überaus bedeutsam. Die tatsächliche Abgrenzung vom Westen war dabei ein wichtiger, aber – wie ich im Folgenden zeigen werde – keinesfalls der einzige Aspekt. Um das Spannungsverhältnis zwischen der Politik und der »alltäglichen« Urlaubswelt nachzuvollziehen, ist es aufschlussreich, sich die Konstruktion von Landkarten zu verdeutlichen. Das Konzept der »mental maps«, im deutschen Sprachraum auch als »kognitive Karten« bezeichnet, stellt einen vielversprechenden Ansatz dar, um sich den aufgeworfenen Fragen der gesellschaftlichen Konstruktion der DDR als Urlaubsland und ihrer symbolischen Besetzung anzunähern.39 Eine wichtige Grundlage für diese Diskussionen waren die bereits in den 1980erJahren zunächst individualpsychologisch entwickelten Überlegungen von Peter Gould und Rodney White40 sowie Roger M. Downs und David Stea.41 Die genannten Autoren befassten sich mit der individuellen und der gesellschaftlichen Raumwahrnehmung. Dabei kamen sie zu dem Schluss, dass Raum und räumliche Zusammenhänge nicht per se gegeben sind, sondern erst in den Köpfen der Menschen konstruiert werden. Die Vorstellungen des Raumes werden zu »mental maps«, zu »kognitiven Karten«.
39 Christoph Conrad (Hg.), Mental Maps, Göttingen 2002 (= Geschichte und Gesellschaft 28 [2002], H. 3). Vgl. auch Rob Kitchin/Mark Blades, The Cognition of Geographic Space, London/New York 2002. Vgl. Kommunikation und Raum. 45. Deutscher Historikertag in Kiel vom 14. bis zum 17. September 2004, Berichtsband, hg. v. Arnd Reitemeier und Gerhard Fouquet i. A. d. Verbandes der Historiker und Historikerinnen in Deutschland, Neumünster 2005. 40 Peter Gould/Rodney White, Mental Maps, 2. Auflage, London/Sydney 1986 (erstmals 1974). 41 Roger M. Downs/David Stea, Kognitive Karten. Die Welt in unseren Köpfen, hg. v. Robert Geipel, übers. v. Daniela und Erika Geipel, New York 1982.
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Die DDR als Urlaubsland
Eine »kognitive Karte« – so die schon als klassisch zu bezeichnende Definition von Downs und Stea – ist ein »Produkt« des menschlichen Denkens und stellt eine »strukturierte Abbildung eines Teils der räumlichen Umwelt« dar. Eine »kognitive Karte« spiegelt die Welt so wider, »wie ein Mensch glaubt, daß sie ist«. Sowohl geographische Zusammenhänge als auch Grenzen, so die Quintessenz, bestehen jenseits ihrer materiellen Ausprägung nicht als solche, sondern werden erst in der individuellen wie gesellschaftlichen Vorstellung von der Welt konstruiert, um die Komplexität der geographisch-politischen Gegebenheiten zu reduzieren. Und weil die kognitiven Karten in den Köpfen der Menschen konstruiert werden, müssen diese Karten nicht korrekt sein. Im Gegenteil: Sie sind in der Regel verzerrt.42 Die Vorstellung von Räumlichkeit, die sich in den kognitiven Karten niederschlägt, reicht zudem weit über nur scheinbar gegebene geographische Strukturen hinaus. Es manifestieren sich vielmehr buchstäblich »Weltbilder« in den Köpfen der Menschen. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist das kartographische Werk des ungarischen Kommunisten, Geographen und Kartographen Alexander (Sándor) Radó.43 Aufgrund seines Lebenslaufes und Werkes erscheint Radó – wie Karl Schlögel konstatiert – als wichtiger Beweis »für die Verschmelzung oder doch enge Beziehung von Politik, Geographie und Kartographie im 20. Jahrhundert«.44 Der Nachwelt ist Radó vor allem unter dem Decknamen »Dora« bekannt. Als Agent im Dienst der Sowjetunion meldete er aus der Schweiz die Vorbereitungen zum deutschen Angriff auf Moskau. Er lieferte kartographisches Material über die Aufstellung der deutschen Wehrmacht und blieb bis 1943 einer der wichtigsten »Aufklärer« im sowjetischen Sold.45 Schon in den 1920er-Jahren hatte Radó als angesehener Geograph einen Reiseführer für die Sowjetunion geschrieben, den unzählige Reisende nutzten, die – fasziniert von dem neuen Gesellschaftssystem – den jungen Staat besuchten.46 Die Wirkung dieses Buches reichte weit über die UdSSR-Reisenden selbst hinaus. Karl Haushofer, der »geistige Vater der [NS-]Geopolitik«, verglich das Buch mit Einsteins Film »Panzerkreuzer Potjokim [sic!]«, da breite Bevölkerungskreise ange42 43
Downs/Stea, Kognitive Karten, S. 24. Vgl. Ute Schneider, Kartographie als imperiale Raumgestaltung. Alexander (Sándor) Radós Karten und Atlanten, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006), H. 1, S. 77–94 , online unter: URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Schneider-1-2006. 44 Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München/Wien 2003, S. 230. 45 Vgl. die Autobiographie: Sándor Radó, Dora meldet, Berlin 1974. 46 A. Radó [Sándor] (Bearb.), Führer durch die Sowjetunion. Gesamtausgabe, hg. v. der Gesellschaft für Kulturverbindungen der Sowjetunion mit dem Auslande, Berlin 1928. Vgl. Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit, S. 236.
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sprochen würden, die sich zuvor kaum mit Kommunismus bzw. Bolschewismus befasst hätten.47 Bezeichnend ist jedoch vor allem die dominante Darstellung der UdSSR auf Radós Karten der Zwischenkriegszeit, mit denen er große propagandistische Wirkung für die Sowjetunion entfaltete (Abbildung 41).
41 Sándor Radós Darstellung der Welt in der Zwischenkriegszeit. (Alexander [Sándor] Radó, Atlas für Politik, Wirtschaft, Arbeiterbewegung, Teil 1: Der Imperialismus, Wien/Berlin 1930, S. 43)
Die gewaltige Erscheinung der UdSSR ist dabei der Mercator-Projektion geschuldet, bei der die kugelförmige Erdoberfläche auf die zweidimensionale Fläche der Karte projiziert wird, wodurch die Regionen stärker verzerrt und vergrößert werden, je näher sie an den Polen der Erdkugel liegen. Die UdSSR wirkt größer, als sie in Wirklichkeit war, die USA hingegen scheint geradezu winzig zu sein. Die Farbgebung, eine rote Hervorhebung, unterstreicht die Dominanz der UdSSR. Unterstützt wird diese Wirkung außerdem durch die Kennzeichnung der mit der Sowjetunion verbündeten Staaten, des Interessengebietes der Sowjetunion und der »national-revolutionierten Staaten des Ostens«. Tatsächlich erwiesen sich Radós Darstellungen als so erfolgreich, dass sie die Weltbilder in Ost und West bis zum Untergang der Sowjetunion nicht unwesentlich bestimmt haben.48 47 48
Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit, S. 230. Schneider, Kartographie als imperiale Raumgestaltung, S. 93.
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Natürlich sind Radós Karten – auch wenn er als Autor von Reiseführern auftrat – keine touristischen Karten in dem Sinne, dass sie unmittelbar für den Tourismus gezeichnet waren. Doch ihr Einfluss ist durchaus auch in den Karten zu entdecken, die in der DDR explizit für die Zwecke des Tourismus geschaffen wurden. In der Zeitschrift »Unterwegs. Magazin für Wandern – Bergsteigen – Zelten – Reisen«, die in den Jahren 1957 bis 1961 wesentlich an der Konstruktion mitwirkte, die DDR und Teile Osteuropas als neue Reiseziele zu entwerfen, wurde 1959 eine Karte abgedruckt, die große Ähnlichkeit mit Radós Werk aufwies (Abbildung 42).49
42 Karte über die Reiseziele des Deutschen Reisebüros der DDR in der Reisezeitschrift »Unterwegs«, 1959 (Unterwegs 3 [1959], H. 1, S. 32-33)
Diese Karte geht einem Artikel voran, in dem das Angebot des Reisebüros der DDR dargestellt wird. Im Zentrum der Karte liegt die Sowjetunion. Westeuropa ist an den linken Rand gedrängt, Spaniens Osten nur noch knapp angedeutet. Rechts endet der Kartenausschnitt nur wenig östlich von Wladiwostok. Wiederum ist es die verwendete Kartenprojektion, die die Sowjetunion größer erscheinen lässt. Auf dem Gebiet der DDR findet sich nicht die Abkürzung des Staatsnamens (DDR), sondern das Logo des Deutschen Reisebüros (DER). Davon ausgehend spannen drei Pfeile das Gebiet auf, das sich der reisende DDR-Bürger zu eigen machen sollte: Durch einen leicht geschwungenen Pfeil, der von der DDR zur VR (Volksrepublik) Korea (Nordkorea) führt, wird »spielend« eine Distanz von 8.500 km überwunden, ohne dass die schier unendlich erscheinende Dimension der UdSSR verschwindet. Nordkorea und mit ihm jeder Ort zwischen Ostberlin und Pjöngjang 49 Vgl. auch Christopher Görlich, »Wohin werden Sie sich im nächsten Sommer wenden?« Zur Reisezeitschrift »Unterwegs« 1957–1962, in: Heiner Timmermann (Hg.), Die DDR in Europa – zwischen Isolation und Öffnung (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen, Bd. 140), Münster 2005, S. 506–527.
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sind weit entfernt und doch erreichbar – eine ideale Voraussetzung für Urlaubsziele. Ein zweiter Pfeil von der DDR nach Odessa lenkt den Blick auf das Schwarze Meer, das gegenüber dem marginalisierten Mittelmeer deutlich aufgewertet wird. Dem dritten Pfeil aber kommt die größte Bedeutung zu. Er führt in einem großen Schwung von der DDR zur VAR (Vereinigte Arabische Republik) Ägypten. Durch Deutschland verläuft der Pfeil auf der innerdeutschen Grenze, und auch weiter südlich bildet er die Demarkationslinie zwischen Ost und West. Er klammert die Gebiete im Osten ein und schließt zugleich die Gebiete im Westen, die nicht bereist werden durften, aus. Die Tatsache, dass die NATO-Staaten Griechenland und Türkei durch ihre geographische Lage in dieser Darstellung als dem Osten zugehörig gezeichnet werden mussten, konnte als »Schönheitsfehler« durchgehen. Wie sämtliche westliche Länder bleiben sie ohne Länderbezeichnung und sind somit für den Betrachter in der ohnehin groben Darstellung der Ländergrenzen nur schwer zu identifizieren. Diese spezifische Darstellung der östlichen Welt aus dem Jahre 1959 sollte gezielt dazu beitragen, dass Westdeutschland, die Benelux-Staaten, Großbritannien, die Schweiz sowie Italien, Spanien und Portugal als mögliche Reiseziele gar nicht erst wahrgenommen wurden. Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien, Albanien, Rumänien und Bulgarien, gar China und die Mongolei hingegen wurden einbezogen in das mannigfaltige, schier unendlich erscheinende Panorama der Reisemöglichkeiten. Mehr noch: Das Gebiet, das den DDR-Bürgern offenstand, erscheint riesig gegenüber dem, was ihnen verschlossen blieb. In einem Artikel, der ebenfalls 1959 in der Zeitschrift »Unterwegs« erschien, zitiert der Chefredakteur Horst Patzig einen Leserbrief, in dem es hieß: »Viele Verfasser haben offenbar seltsame geographische Vorstellungen, so daß ihnen der Kaukasus näher liegt als die Alpen und sie lieber über Warna schreiben als über Westdeutschland.«50 Im Ergebnis längerer Ausführungen, in denen Patzig wortreich die Unterschiede zwischen der DDR und der Bundesrepublik aufzeigt, bestätigt der Chefredakteur den Verdacht des Leserbriefschreibers explizit und bringt das in der Karte verdeutlichte Weltbild auf den Punkt: »Sicher verstehen Sie nun, werter Herr Gottschalk, daß uns im Augenblick politisch Warna tatsächlich näher liegt als Sylt, der Kaukasus näher als die Alpen. Dorthin sind die Wege frei. Dort warten Freunde auf uns!« Im Jahre 1959 unterstreicht diese Textstelle, dass sich die geographischen Zusammenhänge in der öffentlichen Darstellung und in der Wahrnehmung erheblich verschoben hatten. Man wollte die Bundesrepublik und andere westliche Ziele aus dem Bewusstsein der Bürger verdrängen. Doch die oben beschriebene Karte geht weit über den Ost-West-Gegensatz hinaus, den der Chefredakteur der Zeitschrift 50
Horst Patzig, Sehr geehrter Herr Gottschalk!, in: Unterwegs 3 (1959), H. 12, S. 2–3, hier S. 2.
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»Unterwegs« zum Ausdruck bringt. Sie hebt den Ost-West-Konflikt nämlich gänzlich auf, indem sie die Ostblockstaaten ins Zentrum rückt und die westlichen Länder an die Peripherie verdrängt und so fast verschwinden lässt. Anders als in der Karte Radós, auf der die Sowjetunion die Welt dominiert, besteht die Welt auf der Karte des Reisebüros der DDR nur noch aus dem Osten, und sie endet auch an seinen Grenzen.
43 Karte in einem Berlin-Reiseführer (Hans Prang/Horst Günter Kleinschmidt, Durch Berlin zu Fuß. Wanderungen in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1990, S. 335)
In diesem Sinne wird im Text, der unter der Karte abgedruckt wurde, festgestellt, dass das Angebot des Deutschen Reisebüros »ein Ausdruck der Stärke unserer Republik« sei und verdeutliche, »welche großen Möglichkeiten auch auf diesem
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Gebiet die Arbeiter-und-Bauern-Macht den Werktätigen bietet«.51 Es bedarf keines anderen Ortes außerhalb des östlichen Territoriums mehr. Der Westen wird zu einem marginalen, wenn nicht sogar zu einem Nicht-Ort. Die Demarkationslinie zwischen Ost und West trennt nicht mehr, sondern stellt aus touristischer Sicht schlicht das Ende der Welt dar. Einmal mehr wird dieses Vorhaben, den Westen völlig auszublenden, in den heute gerne beschmunzelten und in ihren früheren propagandistischen Wirkungen höchst zweifelhaften Karten deutlich, die den Westen als weißen Fleck darstellen (Abbildung 43).52 Die Reiseführer über die Stadt Berlin verfolgten in diesen und ähnlichen Darstellungen das an sich jeder Karte und jedem Reiseführer ureigene Ziel, den Blick auf das Wesentliche zu lenken, indem sie Sehenswürdigkeiten Ost-Berlins und die wichtigste Infrastruktur hervorhoben. Den Westen zu negieren stellte daher eine, der sozialistischen Ideologie sehr weit entgegenkommende Methode der Komplexitätsreduktion dar. Wieder sollte der Westen als unwichtig und marginal erscheinen. Doch schon zu DDR-Zeiten war es eine leicht durchschaubare Strategie, den Westen durch Nichtdarstellung aus dem Bewusstsein verdrängen zu wollen. So einfach ließ sich die Komplexität der Welt aber nicht reduzieren. Die gemeinsame gesamtdeutsche Vergangenheit, persönliche Beziehungen, die frühe Vereinigungsrhetorik der DDR wie die Kampagnen »Deutsche an einen Tisch«, die hochgesteckten Ziele, den Westen wirtschaftlich zu überholen bzw. einzuholen, und die Möglichkeit, westliche Medien zu empfangen, machten es unausweichlich, dass der Westen für die DDR – für den Staat, die Partei und die Bürger – die wichtigste Referenzgröße blieb. Durch einfaches Verneinen oder die Tilgung aus den kartographischen Darstellungen konnte der Westen nicht aus dem Bewusstsein verdrängt werden. Daher finden sich zahlreiche Versuche, die den westlichen Raum nicht in plumper, leicht durchschaubarer Weise verschwinden lassen, sondern mit abschreckenden Bildern und Phantasien füllen. Eine bereits 1951 in der Broschüre »Frohe Ferientage für unsere Kinder!« veröffentlichte Karte verdeutlicht diese Strategie in eindrücklicher Weise (Abbildung 44).
51 DER, Von der Ostsee bis zum Mittelmeer – vom Schwarzen Meer bis zum Stillen Ozean. Zahlreiche neue Reiseziele bietet das DEUTSCHE REISEBÜRO in diesem Jahre, in: Unterwegs 3 (1959), H. 1, S. 32–33, hier S. 33. 52 Die abgebildete Karte ist einem Reiseführer entnommen, der noch 1990 erschien. Im Impressum findet sich die Notiz: »Nach Redaktionsschluß haben sich zur Freude der Berliner und ihrer Gäste auch für die Stadt Berlin durch die Öffnung der Grenzen am 9. November 1989 zahlreiche Veränderungen ergeben. Diese konnten in der vorliegenden Publikation nicht mehr berücksichtigt werden. Hier können wir nur auf ihr Verständnis rechnen.« (Prang/Kleinschmidt, Durch Berlin zu Fuß, S. 4.)
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44 Deutschland-Karte für Kinder aus dem Jahre 1951 (Abteilung Kulturelle Massenarbeit des FDGB [Hg.], Frohe Ferientage für unsere Kinder!, Berlin 1951, S. 2)
Diese Karte sollte nicht der Orientierung dienen, sondern in erster Linie die Phantasie des (kindlichen) Betrachters prägen. Wieder wird hier die Komplexität reduziert, diesmal mit schnellen Strichzeichnungen, die die Bundesrepublik und die DDR zeigen. Auf dem Territorium der DDR sieht man glückliche Menschen beim Spiel und beim Baden. Es gibt Zeltlager, Segelboote, Natur und Industrieanlagen, die in der ungebrochenen Aufbaubegeisterung der Sozialisten zum Glück des Menschen dazugehören. Und über allem scheint »die Sonne schön wie nie« – allerdings nur über der DDR und nicht über Deutschland insgesamt, wie es noch im Text der Nationalhymne der DDR heißt.53 53 In der ersten Strophe der DDR-Nationalhymne heißt es: »Auferstanden aus Ruinen/Und der Zukunft zugewandt,/Laß uns dir zum Guten dienen,/Deutschland, einig Vaterland./ Alte Not gilt es zu zwingen,/Und wir zwingen sie vereint,/Denn es muß uns doch gelingen,/Daß die Sonne schön wie nie/Über Deutschland scheint.« In der dritten Strophe wird der Gedanke noch einmal variiert: »Deutsche Jugend, bestes Streben/Unsres Volks
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Als Gegensatz dazu ist der Westen Deutschlands buchstäblich in dunklen Farben gezeichnet, mit Menschen, die scheinbar auf der Flucht sind und sich nach Osten wenden, mit Soldaten und Panzern, welche die Waffen auf die eigene Bevölkerung richten. Bezeichnenderweise sind selbst die Grenzanlagen auf der westlichen Seite eingezeichnet. So wird das Glück von Sonne, Urlaub, Spiel, Spaß und Wohlstand, das angeblich in der DDR zu finden ist, der vermeintlich grauen Welt des Westens mit Gewalt, Armut und Vertreibung gegenübergestellt. Auch in Karten, die explizit auf den Tourismus bezogen wurden, stellte man die beiden deutschen Staaten sehr unterschiedlich dar. So zeigt eine weitere, in der Zeitschrift »Unterwegs« abgedruckte Karte das nördliche Westdeutschland mit unzähligen Militärstützpunkten (Abbildung 45). Schon beim Anblick dieser Karte sollte der Eindruck entstehen, dass in Westdeutschland im ganz buchstäblichen Sinne kein Platz für Urlaub und Erholung sei. Der zur Karte veröffentlichte Text verstärkte diesen Eindruck einmal mehr: Da sitzen am Wochenende oder in der Ferienzeit westdeutsche Wanderer vor der Landkarte und suchen ein Fahrtenziel. Aber es fällt nicht leicht, eine Route festzulegen, die nicht unmittelbar an Abschussrampen-, Flug- und Truppenübungsplätzen oder Kasernen vorbeiführt. Ein Blick in die Karte zeigt, daß gerade an den schönsten Stellen der Westzone militärische Einrichtungen allen Erholungssuchenden den Weg versperren. Die Waffen, die Revanchegedanken und die Angriffsspitzen der strategischen Pläne sind nach dem Osten gerichtet, auf uns. Und wer als unpolitischer Latscher mit Gitarrenklang durch die Heide ziehen möchte, trifft immer öfter denn je auf ein Brett mit der eindeutigen Aufschrift: Stop! Militärisches Gelände! Lebensgefahr!54
Angesichts solcher Karten, die den Westen als Urlaubsland zu negieren suchten, fällt der starke Gegensatz zu den bereits diskutierten Karten auf, die die DDR darstellten (vgl. die »Fremdenverkehrsgeographische Übersicht«, Abbildung 37). Großflächig sind darauf von der Ostsee im Norden bis hin zu den Mittelgebirgen im Süden die Erholungsgebiete eingezeichnet. Während die Karten für den Westen die scheinbare Unmöglichkeit, dort Urlaub zu machen, belegen sollten, wurde die DDR als perfektes Urlaubsland mit vielen Erholungsmöglichkeiten dargestellt.
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in dir vereint,/Wirst du Deutschlands neues Leben,/Und die Sonne schön wie nie/Über Deutschland scheint.« (Text: Johannes R. Becher, Musik: Hanns Eisler), abgedruckt in: Heike Amos, Auferstanden aus Ruinen ... Die Nationalhymne der DDR 1949 bis 1990, Berlin 1997, S. 175). Hajo, Wohin geht die Fahrt?, in: Unterwegs 5 (1961), H. 10, S. 6–7, hier S. 7.
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Die DDR als Urlaubsland
45 Wanderkarte mit westdeutschen Militärstützpunkten aus der DDR-Reisezeitschrift »Unterwegs« (Unterwegs 1961, H. 5, S. 7)
Dieses Weltbild, in dem sich die Ideologie der DDR gewissermaßen kartographisch spiegelte, war viel überzeugender als die schlichte Ausblendung des Westens – zumal spätestens mit dem Mauerbau das medial vermittelte Weltbild durch eigene Anschauung nicht mehr überprüft werden konnte. Allenfalls stellten die westlichen Medien ein Korrelat zu den östlichen Verlautbarungen dar.
»... Goethe und Eckermann wussten schon, wo es schön ist«
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4. »Goethe und Eckermann wussten schon, wo es schön ist ...« – imaginäre Geographie Mit den kartographischen Darstellungen wurde versucht, räumliche Vorstellungen und Weltbilder zu erzeugen, die der ideologischen Interpretation der politischen Ordnung der Nachkriegszeit entsprachen. Es wurde bereits angedeutet, dass man sich dabei nicht mit einer Neuordnung des Raumes begnügte, sondern zugleich versuchte, den neugeordneten Raum mit Bildern und kollektiven Phantasien zu füllen. Im Anschluss an die französischen Soziologen Edgar Morin55 und Henri Raymond56 schlug Christoph Hennig für die Vermittlung zwischen Vorprägung und Wahrnehmung den Begriff der Imagination vor und prägte den Begriff der »imaginären Geographie«, die maßgeblichen Einfluss auf das Reiseverhalten nehme: Unsere imaginäre Geographie siedelt in Marokko malerische Araber mit Turban und farbige Basare an, in Venedig Gondeln und verfallende Palazzi, in Andalusien FlamencoTänzerinnen und rauschende Fiestas. Solche Bilder suchen wir auf unseren Reisen; wir sind beglückt, wenn wir auf sie treffen, und enttäuscht, wenn wir sie nicht finden.57
Auch in der DDR wurde versucht, solche »imaginären Geographien« zu schaffen. Deutlich sind die Bemühungen von Staat, Partei und Gewerkschaft, ein bestimmtes Bild von der DDR in die kollektiven Phantasien ihrer Bürger einzuzeichnen. In der materiellen Gestaltung der Erholungsorte sowie in Reiseführern, Prospekten, aber auch in Schlagern und in der Kunst wurde – wie im Folgenden zu zeigen ist – versucht, den Raum der DDR mit einer spezifischen sozialistischen Symbolik zu versehen und sogar den Sozialismus selbst zu etwas zu machen, das aus sich heraus »sehenswürdig« ist. So berichtete zum Beispiel die Zeitschrift »Unterwegs« vor dem Mauerbau über eine Reihe von Fällen, in denen die Neugierde junger Menschen, westliche Länder kennenlernen zu wollen, von westdeutschen Geheimdienststellen durch das Versprechen kostenloser Reisen ausgenützt worden sei. Man müsse sich eine solche Reise erst durch Spionage »verdienen«, hieß es.58 Schutz vor diesen »Rattenfängern«59 gebe dann nur das DDR-Ministerium für Staatssicherheit, dessen Offiziere sich um die jungen Wanderer »bemühten«, die sich auf solche Reisen in den Westen eingelassen hatten: »Wie sind Sie überhaupt auf den Gedanken 55 56 57 58 59
Edgar Morin, Vivent les vacances, in: ders., Indroduction à une politique de l`homme, Paris 1965, S. 220–225. Henri Raymond, L`utopie concrète. Recherches sur un village de vacances, in: Revue française de sociologie 1 (1960), S. 323–333. Hennig, Reiselust, S. 94. – jogo –, Es fing so harmlos an ..., in: Unterwegs 1 (1957), H. 4, S. 6–8, hier S. 8. Kob., Kurz rheingeschaut, in: Unterwegs 5 (1961), H. 3, S. 18–19, hier S. 18f.
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gekommen, in Westdeutschland zu wandern?« Diese Frage wurde einem Offizier der Staatssicherheit in den Mund gelegt, der dabei voller Unverständnis und doch sorgenvoll wirkte.60 Allein der Gedanke an eine Reise in den Westen sollte abwegig erscheinen und bestenfalls gar nicht erst auftauchen. Ausgehend von diesem Grundsatz wurde die negative Darstellung des Westens vielfältig variiert. Bad Kissingen, Garmisch-Partenkirchen, Bad Salzuflen und andere bekannte Kurorte dienten vor allem der Erholung von Besatzungstruppen, ließ der Feriendienst verlauten, der aus ureigenstem Interesse an der düsteren Darstellung des Westens interessiert war. Das Kurbad Oeynhausen sei mit »Stacheldraht von der Außenwelt abgeschlossen«, die Kuranlagen lägen brach und zerfielen.61 Auf Helgoland, »jene[r] berühmte[n] Insel, die in friedlichen Zeiten das Ziel von Zehntausenden von Urlaubern war«, sei keine Erholung mehr möglich, weil die Insel als Übungsgelände für Bombenflüge der britischen Luftwaffe diene. Es dürften »noch nicht einmal die Fischer mit ihren Booten landen, geschweige denn Urlauber sich erholen«.62 Die Ostseeinseln der DDR wurden als Gegenbild zum »besetzten« Helgoland aufgebaut. Stolz hob man das DDR-Urlaubsparadies Usedom hervor, um auch hier die Überlegenheit des Sozialismus zu beweisen (Abbildung 46). In Wustrow trug sogar ein Ferienheim des FDGB den Namen »Heim Helgoland« – ausgeschmückt mit Propaganda, die den Gegensatz zwischen sozialistischer Ostseeküste und der westdeutschen Insel verdeutlichen sollte. Die Losung am Ferienheim lautete: »Erkennt die Verbrecher und die Feinde unserer Heimat. Kampf dem Generalvertrag!« (Vgl. Abbildung 47) Ähnliches war über den West-Berliner Wannsee zu lesen, nachdem es bei Schießübungen der Amerikaner im Grunewald zu mehreren Unfällen gekommen war:63 Am »berühmten Berliner Wannsee«, hieß es, »werden Kriegsübungen durchgeführt und ein Besuch des Bades ist ständig mit Lebensgefahr verbunden«.64 Die Kabarettistin Gina Presgott parodierte den berühmten Schlager von Conny Froboess: Pack’ die Badehose ein, lass das Sonnenbaden sein, denn am Wannsee schießt der Ami.65 60 Michael Daal, Und wer bezahlt deine Zeche?, in: Unterwegs 1 (1957), H. 2, S. 7–8 und 42–45, hier S. 8. 61 SAPMO-BArch, DY 34/15838, Schulungsmaterial über die Aufgaben des Feriendienstes der Gewerkschaften, Berlin, den 22. Nov. 1951, S. 23. 62 Ebd., S. 24. 63 Vgl. Matthias Oloew, Schüsse am Wannsee, in: Der Tagesspiegel, 30. April 2007. 64 SAPMO-BArch, DY 34/15838, Lektion: Der Feriendienst der Gewerkschaften – eine Errungenschaft der Arbeiter- und Bauernmacht, 1955, S. 48. 65 »Pack´ die Badehose ein (Satire-Fassung, 1952)«, Komposition: Gerhard Froboess, Text: unbekannt, Gesang: Gina Presgott, zu hören auf einer CD des Deutschlandradios, die 1996
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46 Darstellung in dem Buch »Erholungsaufenthalte zu allen Jahreszeiten«. Im Vergleich mit Helgoland wird Usedom als Insel beschrieben, auf der man sich erholen könne. (Erholungsaufenthalte zu allen Jahreszeiten, 1954, S. 114)
In den wenigen Urlaubsorten Westdeutschlands, die trotz der »Militarisierung« noch über eine Infrastruktur für Urlauber verfügten, seien die Preise für Urlaubsreisen so hoch, dass die »Masse der Werktätigen […] sich einen solchen Erholungsurlaub in den schönsten Kur- und Erholungsorten Westdeutschlands nicht leisten« könne, behauptete der FDGB in seinem Schulungsmaterial.66 Auch hätten weder der westdeutsche Staat noch die dortigen Gewerkschaften ein Interesse daran, heißt es weiter, »ein solches, grosses Erholungswerk[,] wie wir es in unserer Deutschen Demokratischen Republik haben[,] zu organisieren«.67 Und weil »sie unter dem Titel »Die Partei hat immer Recht. Eine Dokumentation in Liedern« erschien. SAPMO-BArch, DY 34/15838, Lektion: Der Feriendienst der Gewerkschaften – eine Errungenschaft der Arbeiter- und Bauernmacht, 1955, S. 47. 67 SAPMO-BArch, DY 34/15838, Schulungsmaterial über die Aufgaben des Feriendienstes der Gewerkschaften, Berlin, den 22. Nov. 1951, S. 21f. 66
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sich an die deutschen und ausländischen Imperialisten verkauft haben«, könnten die westdeutschen Sozialdemokraten und Gewerkschafter eine Entwicklung wie in der DDR auch nicht erzwingen. Beinahe genüsslich wurde in dem Schulungsmaterial hinzugefügt, dass der westdeutsche Gewerkschaftsbund nur über zwölf Ferienheime verfüge, die zudem nur den Funktionären des DGB zur Verfügung stünden.68
47 Ferienheim »Helgoland« in Wustrow (Erholungsaufenthalte zu allen Jahreszeiten 1954, S. 128)
Über diese propagandistische Darstellung hinaus versuchte der FDGB, einen direkten Vergleich zu inszenieren, indem man in den 1950er-Jahren jährlich mehrere Tausend westdeutsche Arbeiter in den Ferienheimen des FDGB aufnahm. Im Sinne der DDR wurde festgestellt: Für die Herstellung und Festigung der Aktionseinheit der deutschen Arbeiterklasse tragen die Aufenthalte westdeutscher Arbeiter und Angestellten in den Ferienheimen der Gewerkschaften der Deutschen Demokratischen Republik wesentlich bei. Hier ist ihnen Gelegenheit gegeben, die großen Errungenschaften unserer Republik kennenzulernen, die ihnen
68 Ebd.
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zugleich ein Beispiel und Ansporn für den Kampf zum Sturz des reaktionären Adenauerregimes und die Herstellung der demokratischen Einheit Deutschlands sein sollen.69
An anderer Stelle heißt es: »Niemals werden diese westdeutschen Kollegen auf einem Schlachtfeld des amerikanischen Krieges im Herzen Europas auf ihre Brüder im Osten auf Befehl Adenauers und Schumachers schiessen.«70 Dafür standen auch die in unbeholfener Sprache geschriebenen Dankesbriefe: Und wir denken nur an eins – möchte es bei und in Westdeutschland erst so schöne und gute Errungenschaften geben, wie es hier in der DDR gibt, die wir gesehen haben. Hier im Heim haben wir ein grosses Vorbild gehabt, wie es sein könnte.71
Solche Vereinnahmung der westdeutschen Urlauber, die in der DDR unter dem Begriff »Sozialtourismus« firmierte, zielte jedoch weniger darauf, die westdeutschen Arbeiter von der DDR zu überzeugen oder gar zum Umsturz der politischen Ordnung in der Bundesrepublik zu bewegen. In erster Linie war vielmehr auch hier die ostdeutsche Bevölkerung der eigentliche Adressat. Für sie nämlich sollten die westdeutschen Kollegen zu Kronzeugen für das »bessere Deutschland« werden.72 Umso erboster reagierten die Funktionäre von Staat, Partei und Gewerkschaft, wenn die stets als ausgebeutet und verarmt dargestellten westdeutschen Urlauber ihre Rolle nicht spielen wollten. Denn nicht selten führten die Urlauber aus Westdeutschland die Propaganda ad absurdum, indem sie beispielsweise in den Ferienheimen des FDGB Geldsammlungen durchführten, um Gesellschaftsspiele oder Haushaltsgeräte anzuschaffen, an denen in der DDR ein chronischer Mangel herrschte.73 Die Abgrenzung vom Westen blieb jedoch nicht die einzige Strategie, mit der in der DDR versucht wurde, imaginäre Phantasien zu erschaffen, die das Weltbild der Sozialisten verkörpern sollten. Die Abgrenzung zur Vergangenheit, als die »Kommerzienräte, Großindustriellen, Finanzhyänen sowie Kraut- und Schlotbarone« in den Kurorten weilten, habe ich an anderer Stelle bereits ausführlich
69 SAPMO-BArch, DY 34/29/351/3633, [Broschüre:] Lehrmaterial für gewerkschaftliche Bildungsabende, H. 2: Kommission für Feriendienst in volkseigenen Betrieben, Themen 3–5, hg. v. Zentralvorstand Industriegewerkschaft Energie, Berlin o.D. [1953/54], S. 5. 70 SAPMO-BArch, DY 34/15838, Referat über die Bedeutung und die Aufgaben des Feriendienstes der Gewerkschaften 1952 [ohne Hinweis auf Autorenschaft oder den Anlass], S. 4. 71 Ebd. 72 SAPMO-BArch, DY 34/29/324/3628, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Feriendienst der Gewerkschaften, Bericht über die Abwicklung der westdeutschen Urlauberaktion vom 1.–3. 9. 51, Berlin, den 5. Sept. 1951. 73 Ebd.
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dargestellt.74 Im Folgenden möchte ich vielmehr darauf hinweisen, dass die DDR trotz der scharfen Abgrenzung zur Vergangenheit durchaus in einer Tradition stand, die ins 18. Jahrhundert zurückreichte – nämlich in einer bestimmten Tradition der Raum- und Landschaftswahrnehmung, die man bewusst aufgriff, um sie für den neuen Staat zu nutzen.
48 Caspar David Friedrich, Kreidefelsen auf Rügen, um 1818 (Museum Oskar Reinhart am Stadtgarten, Winterthur)
Sehr wirkungsmächtig zeigten sich in der DDR die Bilder des Meeres und des Gebirges, die sich im 18. und 19. Jahrhundert herausgebildet hatten.75 In den Jahrhunderten der Vormoderne war das Meer stets mit Gefahr konnotiert, man näherte 74
75
SAPMO-BArch, DY 34/29/351/3633, Lektion für den Kurzlehrgang der Abteilungsleiter des Feriendienstes bei den Zentralvorständen der Industriegewerkschaften und Gewerkschaften. Thema: Die wirtschaftlichen und finanziellen Grundlagen des Feriendienstes der Gewerkschaften [1954], S. 7. Vgl. die Ausführungen im ersten Teil dieses Buches. Vgl. für die im Folgenden notwendig verkürzten Ausführungen: Alain Corbin, Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste 1750–1840, übers. v. Grete Osterwald, Berlin 1990; Urry, The Tourist Gaze, S. 16ff.; Charles Sprawson, Ich nehme dich auf meinen Rücken, vermähle dich dem Ozean. Die Kulturgeschichte des Schwimmens, übers. v. John und Peter von Düffel, Hamburg 2002, bes. S. 145ff.; Dieter Richter, Das Meer. Epochen der Entdeckung einer Landschaft, in: Voyage 2 (1998), S. 10–31
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sich ihm in erster Linie angstvoll. In der Epoche der historischen Aufklärung wurde dann zunächst die gesundheitsförderliche Wirkung des Meerwassers entdeckt. Bald entstanden die ersten Seebäder an Englands Küsten. Es entwickelte sich – wie Alain Corbin zeigt – eine regelrechte Meereslust, die bald die gesundheitlichen Motive zweitrangig werden ließ.76 Das Baden im Meer trat hinter dem »gesellschaftlichen Ereignis des ›Ins-Bad-Fahrens‹« zurück.77 Vor allem aber änderte sich die ästhetische Wahrnehmung des Meeres. Es erschien nicht mehr als wild und gefährlich, sondern als Ausdruck des »Erhabenen«. Das Meer wurde von den Romantikern nicht mehr allein als physische Gefahr wahrgenommen, sondern versetzte sie in eine »metaphysische Angst«, wie Alain Corbin am Beispiel der Bilder von Caspar David Friedrich zeigt. Friedrich stelle, so Corbin, die Menschen an den Kreidefelsen auf Rügen an einen Abgrund, »den jeder in sich trägt«. Am Meer scheint sich der »romantische Wunsch nach einer pantheistischen Verschmelzung, einem Aufgehen im All« zu erfüllen (vgl. Abbildung 48).78
49 Bild des Königsstuhls auf Rügen in einer DDR-Publikation (Freier Deutsche Gewerkschaftsbund [Hg.], Urlaub, Erholung, Genesung, S. 108)
76 77 78
Corbin, Meereslust. Benthien, Siedlungsgeographische Auswirkungen des Fremdenverkehrs an der Ostseeküste, S. 78. Corbin, Meereslust, S. 217.
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Die Erfahrung der Transzendenz legte in der Romantik die Grundlage für die Betrachtung des Meeres. In den folgenden Jahrzehnten haben sich vor allem die Bilder von Caspar David Friedrich in das kulturelle Erbe eingeschrieben. Im Laufe der Zeit verlor sich jedoch die Idee der Transzendenz; die gesellschaftskritische Sprengkraft wich der gefälligen Darstellung. Auch die DDR vollzog diese Trivialisierung. Es wurden Bilder der Kreidefelsen auf Rügen verbreitet, die auf den ersten Blick an Friedrich erinnern (Abbildung 49). In der Bildunterschrift heißt es kurz und knapp: »Grünes Laub, weiße Kreidefelsen und blaues Meer.« Damit wurden die visuellen Aspekte benannt, die im 19. Jahrhundert maßgeblich zur Entstehung des Ostseetourismus beigetragen hatten und nun erneut den Tourismus an der Ostsee befördern sollten. Dass die Grenzerfahrung, der die Romantiker einst Ausdruck verleihen wollten, aber verloren gegangen war, kam den Verantwortlichen in der DDR wohl gerade recht. Die Bezugnahme auf Denk- und Wahrnehmungsmuster des 18. und 19. Jahrhunderts lässt sich auch in der Beschreibung der Mittelgebirge feststellen. Auch das Gebirge wurde vor Beginn der historischen Aufklärung und der historischen Romantik über Jahrhunderte hinweg als »wild«, »schrecklich« und »voller Gefahren« beschrieben.79 Das Grauen der Berge wich erst im 18. Jahrhundert der Bewunderung, die sie hervorriefen. Für Albrecht von Haller wurden sie in einem Lehrgedicht 1729/30 sogar zum »Paradies«.80 Schließlich war es Jean-Jacques Rousseau, der mit seinem Roman »Julie oder Die Neue Héloïse« 1761 ein wahres Alpenfieber entfachte.81 Der Rousseau zugeschriebene Ruf »Zurück zur Natur« brachte nicht nur das Un-behagen am Ständestaat des ausgehenden 18. Jahrhunderts zum Ausdruck, sondern begleitete die Reisenden, die in den folgenden Jahrzehnten bewusst die Alpen besuchten, um dem menschlichen Leben im Naturzustand zu begegnen. Auch die Berge wurden ein Medium zur Erfahrung von Transzendenz.
79
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Auch hier können die folgenden Ausführungen nur verkürzend sein. Ausführlich untersuchte Jacek Wózniakowski den Wandel in der Wahrnehmung der Berge bereits in den 1970er-Jahren: Jacek Wózniakowski, Die Wildnis. Zur Deutungsgeschichte des Berges in der europäischen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1987 (erstmals 1974). Albrecht von Haller, Die Alpen, in: Friedrich Brüggemann (Hg.), Vorboten der bürgerlichen Kultur. Johann Gottfried Schnabel und Albrecht von Haller (Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen, Reihe Aufklärung, Bd. 4), Leipzig 1931, S. 310–324. Jean-Jacques Rousseau, Julie oder Die Neue Héloïse. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen, gesammelt und herausgegeben durch Jean-Jacques Rousseau, München 1978 (erstmals 1761).
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50 Romantisierte Darstellung der Brosinnadel im Elbsandsteingebirge (Karl Däweritz, Klettern im sächsischen Fels, Berlin 1986, S. 80)
Die Bildersprache der DDR schloss wiederum trivialisierend an diese romantische Betrachtung der Gebirge an, nachdem die Bergwelt durch Luis Trenker und andere in Büchern und Filmen der Zwischenkriegszeit verbreitet und vor allem trivialisiert worden war (vgl. auch Abbildung 50).82 Höchst problematisch war dabei, dass diese Betrachtungsweise der Berge, auf die sich nun die DDR bezog, schon früh nationalistischen und antisemitischen Strömungen als Nährboden gedient hatte und schließlich von den Nationalsozialisten für ihre eigenen Ziele eingesetzt worden war.83 In den Texten der DDR wurden daher vor allem die »fortschrittlichen Traditionen« der sächsischen Bergsteiger in den Vordergrund gestellt, die auch im Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv gewesen waren.84 Das trivialisierte romantische Bildprogramm wurde um den antifaschistischen Aspekt erweitert, indem man mit Vorliebe Jugendgruppen beim Bergsteigen vor Mahnmalen für Widerstandskämpfer zeigte (Abbildung 51). 82
Vgl. Luis Trenker/Walter Schmidkunz, Bergwelt – Wunderwelt. Eine alpine Weltgeschichte, Berlin 1935. 83 Vgl. zu diesem Thema: Dagmar Günther, Alpine Quergänge. Kulturgeschichte des bürgerlichen Alpinismus (1870–1930) (Campus Historische Schriften, Bd. 23), Frankfurt a. M./ New York 1998. 84 Karl Däweritz, Klettern im sächsischen Fels, Berlin 1986, S. 34ff.
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51 Junge Bergsteiger vor einer Gedenktafel in der Sächsischen Schweiz. Die Gedenktafel trägt die Inschrift: »Gewidmet den Widerstandskämpfern der vereinigten Kletterabteilung Dresden – angebracht am 13. 6. 1957 am Ort ihrer illegalen Arbeit, Kreisverband des DSTB Pirna«. (Karl Däweritz, Klettern im sächsischen Fels, Berlin 1986, S. 163)
Häufiger Bestandteil in der Konstruktion imaginärer Geographien war die Berufung auf die deutschen Klassiker und ihre literarischen Werke. Denn im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert fand man für die Reize der Landschaften leicht »Kronzeugen«, deren Autorität und Glaubwürdigkeit auch in der DDR außer Frage standen. Oft bediente sich die DDR des literarischen Wirkens von Johann Wolfgang von Goethe und seines Begleiters Johann Peter Eckermann. Die beiden hatten die Mittelgebirge auf dem Gebiet der späteren DDR oft durchwandert und in ihren Werken beschrieben.85 Ein Reisebericht der DDR aus dem Jahre 1957 über eine zehntägige Fahrradtour durch den Thüringer Wald beruft sich ausdrücklich auf den Dichter, der einst in einem kleinen, unscheinbaren Holzhäuschen bei Ilmenau das Gedicht »Über allen Gipfeln ist Ruh« an die Hüttenwand geschrieben haben soll. 85
Vgl. zur Goetherezeption in der DDR: Georg Lukács, Goethe und seine Zeit, in: ders., Werke, Bd. 7: Deutsche Literatur in zwei Jahrhunderten, Neuwied/Berlin 1964. Diese Sammlung der Aufsätze von Georg Lukács aus den 1930er-Jahren erschien erstmals 1947; Thomas Höhle, Goethe in der DDR. Einführung. Standpunkte, in: Goethe in der DDR. Konzepte, Streitpunkte und neue Sichtweisen (hefte zur ddr-geschichte, Bd. 79), hg. v. Forscher- und Diskussionskreis DDR-Geschichte, Berlin 2003, S. 5–13.
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»Was uns bewegte«, heißt es im Reisebericht, »hatte Goethe für uns ausgesprochen. Was schrieb er doch einmal an Charlotte von Stein: ›Wenn du nur einmal hier sein könntest! Es ist über alle Beschreibung und Zeichnung ...‹ Oh ja, Goethe und Eckermann wussten schon, wo es schön ist ...«86 Vom alten Goethe gewürdigt, war eine weitere Beschreibung der Landschaft nicht mehr notwendig. Indem die DDR eine Tradition konstruierte, die bis in die deutsche Klassik zurückreichte, nahm sie ein wichtiges Element des Tourismus aller Zeiten auf: Man bezieht sich auf andere berühmte und geachtete Personen, die die Schönheit der Urlaubsorte beglaubigen können. Wie dicht Widerstand, deutsche Klassik und Sozialismus zusammengerückt werden können, zeigt der bereits zitierte Bericht über die Fahrradtour durch den Thüringer Wald. Dort heißt es im Anschluss an die Goethe-Passage: »Zella-Mehlis ist das Ziel des vierten Tages. Die heutige Jugendherberge ›Jochen Weigert‹ war früher Besitz der Tochter des Pistolen-Königs Walther. […] Die heute bei uns die Waffen herstellen, tragen sie auch selbst zum Schutze ihrer Interessen, ihrer Errungenschaften. Stolz und Freude erfüllt uns.«87 In diesem Reisebericht wird der Bruch mit der kapitalistischen und militaristischen Vergangenheit harmonisch überformt. Der Schriftsteller Goethe und der Waffenfabrikant stehen Seite an Seite, beide werden von der Gegenwart vereinnahmt. Es liegt an der Struktur von Reisebeschreibungen an sich, die auch Landschaft und Kultur beleuchten wollen, dass in nur wenigen Sätzen verschiedene Zeitschichten aufeinander treffen, denn die Landschaft auf einer Reise lässt sich nicht chronologisch erschließen und beschreiben. Schon diese Struktur zwingt also dazu, die Trennung von Vergangenheit und Gegenwart aufzuheben. Diese Eigenart wussten Autoren von Reiseberichten in der DDR durchaus im Sinne ihrer Ideologie zu nutzen. Der Bruch mit der Vergangenheit wird zwar deutlich herausgearbeitet, doch zugleich entsteht gewissermaßen ein organisch-harmonisches Ganzes: »Wie schön ist nicht nur unsere Heimat, schöner noch ist es, daß sie allen gehört, mit allem, was Vergangenheit und Gegenwart in ihr schufen ...«88 Mit dem »Geschaffenen« war in erster Linie das von menschlicher Hand Geschaffene gemeint, das die Schönheit konstituiere. Denn erst diese »Menschlichkeit« verleihe der Landschaft Schönheit, wie Johannes R. Becher im Gedicht »Schöne deutsche Heimat« schreibt, das ebenfalls in der Zeitschrift »Unterwegs« abgedruckt wurde: 86 87 88
Viator, Thüringen erlebt in 10 Tagen. Tageblätter von einer Radtour durch das grüne Herz Deutschlands, in: Unterwegs 1 (1957), H. 1, S. 9–12, hier S. 11. Ebd., S. 10. Ebd., S. 11.
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Darum ist die Heimat auch wahrhaft schön nur dort, Wo der Mensch sich eine menschliche Ordnung geschaffen hat, Eine menschliche Schönheit. Die wahre Schönheit ist ganz. Singt das Lied der ganzen Schönheit!89
Becher musste gar nicht mehr hinzufügen, dass sich die Schönheit nur im Sozialismus verwirkliche. In vergleichbarer Art und Weise wandte sich Hermann Kähler in der Zeitschrift »Unterwegs« dem romantischen Eichendorff-Gedicht »Sehnsucht« zu, in dem es heißt: Es schienen so golden die Sterne, Am Fenster ich einsam stand Und hörte aus weiter Ferne Ein Posthorn im stillen Land. Das Herz mir im Leibe entbrennte. Da habe ich mir gedacht: Ach, wer da mitreisen könnte in prächtiger Sommernacht!90
Kähler fügte dem Titel des Gedichtes in der Überschrift zu seinem Aufsatz ein Fragezeichen an (»Sehnsucht?«) und führte aus: [W]ie entfernt muten uns solche Verse an, mit denen der romantische Dichter Joseph von Eichendorff sein bekanntes Gedicht »Sehnsucht« begann! Posthorn, rauschende Wälder, Felsenklüfte in Waldesnacht, verwilderte Gärten, Paläste im Mondenschein, Lautengesang und träumerische Mädchen, die an den Fenstern lauschen. – Sehnen wir uns danach, wenn wir auf Wanderfahrt gehen? Kennen wir überhaupt Sehnsucht?91
Kähler setzt dem romantischen Bild Eichendorffs ein anderes, ein sozialistisches Bild entgegen. Er beschreibt nicht die verwilderten Gärten und rauschenden Wälder, sondern betont die anthropogenen Aspekte: Hinter jenem Gebüsch verläuft die Autobahn. Dort braust der Fernverkehr nach den großen Städten. Der Wald ist kein Urwald. Kein geheimnisvolles Einhorn lugt durch das Unterholz. Die Bäume stehen in Reih und Glied, und wir wissen, daß fleißige Hände sie setzten und großzogen. Auf den Feldern surren die Maschinen der MTS [MaschinenTraktoren-Station]. Die Eisenbahn fährt in Richtung jener Schornsteine am Horizont, die von der Existenz eines riesigen Kombinats künden und hoch in den Himmel ragen. Ja, selbst der Himmel ist nicht mehr das Eldorado blauer Wölkchen. Flugzeuge ziehen 89 Johannes R. Becher, Schöne deutsche Heimat, in: Unterwegs 4 (1960), H. 9, S. 1. 90 Zit. nach: Hermann Kähler, Sehnsucht, in: Unterwegs 3 (1959), H. 5, S. 1. 91 Ebd.
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brummend ihre hohe Bahn. Sogar der silberne Mond, die liebe, vertraute Himmelsleuchte junger Pärchen, ist nicht wie damals. Überlegt man nicht bei seinem Anblick, wie es wohl sein wird, wenn erst der Mensch auf ihm landen und den harten Kampf mit den kosmischen Bedingungen aufnehmen wird? Unsere Landschaft ist Menschenlandschaft.92
Die Verneinung der Romantik Eichendorffs bedient sich dabei durchaus selbst romantischer Stilmittel und romantischer Motive, mit denen Kähler die Landschaft als von Menschen geschaffene »Menschenlandschaft« beschreibt. Der paradiesischidyllischen Welt, der Transzendenz, der man in der Natur begegnet und nach der die Sehnsucht der Romantik strebt, setzt Kähler die sozialistische Gesellschaftsordnung entgegen, welche »die Einheit des Menschen mit seinem Leben, mit seiner Gesellschaft, seiner Arbeit und auch der Natur, der Landschaft« herstelle und das Versprechen gebe, die Sehnsucht zu erfüllen.93 Ganz in diesem Sinne beantwortet Kähler die eingangs von ihm aufgeworfene Frage »Kennen wir Sehnsucht?« mit der Feststellung: Und auch wir kennen die Sehnsucht! Die Sehnsucht nach einer immer engeren Harmonie unseres Lebens in Gesundheit, Schönheit, Freiheit und Vernunft, die Sehnsucht nach einer Welt ewigen Friedens und schöpferischer Arbeit, die unseren Planeten Erde so gestaltet, daß sich der Mensch wahrhaft wohl auf ihm fühlt und ihm das Leben ein Genuß ist.94
Es ist ein radikaler Gegenentwurf zur historischen Romantik, den Kähler hier entwickelt: Die verträumte und träumende Flucht der Romantiker aus der als unerträglich empfundenen Gegenwart wird durch das Versprechen ersetzt, dass keine Flucht mehr notwendig sei. Ausdrücklich schreibt Kähler: »Wir flüchten nicht aus den Städten in die Natur: Wir verschönern die Städte, bringen Licht und Natur in sie hinein; wir erholen uns in einer zum Teil von Menschen gestalteten Landschaft.«95 In diesem Sinne wurde es sogar möglich, dass Industrie und Technik – mit solch romantischen Worten beschrieben, im Kern aber trivialisiert – zum Anziehungspunkt für Urlauber auserkoren wurden, im Gegensatz zum westlichen Tourismus, der lange Zeit Industrieanlagen mied und allenfalls in jüngster Zeit diese Anlagen nach ihrer Stilllegung als touristische Attraktionen entdeckt (Abbildung 52).
92 Ebd. 93 Ebd. 94 Ebd. 95 Ebd.
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52 In der DDR trat die »menschengeschaffene Schönheit« in den Vordergrund. Dazu gehörten ausdrücklich auch Industrieanlagen und neue Bauprojekte, die zu touristischen Sehenswürdigkeiten werden sollten. Das Bild zeigt eine Gruppe Urlauber, die die Entstehung von Eisenhüttenstadt Anfang der 1950er-Jahre bestaunen. (Foto: Horst Sturm, Bundesarchiv, Bild 183-26012-002)
Schließlich wird im Zusammenhang mit der »sozialistischen Romantik« immer wieder der Begriff »Heimat« verwendet. Der Tourismus sollte dazu beitragen, dass die DDR-Bürger »planmässig unsere Heimat kennen und lieben lernen«,96 und zugleich die »Bereitschaft zur Verteidigung der Errungenschaften unserer Deutschen Demokratischen Republik« erzeugen.97 Der in den Schriften verwendete Heimatbegriff blieb jedoch in der Regel unscharf. Denn nach dem Missbrauch des Begriffes durch die Nationalsozialisten herrschte eine gewisse Scheu, ihn zu verwen96 97
SAPMO-BArch, DY 34/20897, Arbeitsrichtlinien für die Gebietsleitungen des Feriendienstes der Gewerkschaften, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Feriendienst der Gewerkschaften, 5. 7. 1951, S. 2. SAPMO-BArch, DY 34/29/410/3646, Perspektivplan des Feriendienstes der Gewerkschaften für die Sommerreisezeit 1953, 23. 1. 1953, S. 2.
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den: Eine klare, sozialistische Definition war noch nicht gefunden. Die touristische Literatur war zudem nicht der Ort, um eine solche Definition auszuhandeln. Und so wurde der Heimatbegriff zunächst synonym für die nähere Umgebung genutzt und erzeugte damit erst in zweiter Linie ein politisch verstandenes Heimatgefühl. Heimat sei »das unmittelbar gegebene und soziale Milieu […], in welchem der Mensch aufgewachsen ist, in dem [er] lebt, arbeitet und kämpft«.98 Erst 1958 geriet diese nahräumliche Definition des Heimatbegriffes auf der Kulturbund-Konferenz »Um unsere sozialistische Heimat« in die Kritik. Erik Hühns hob auf dieser Konferenz hervor, dass Heimat vor allem eine »Klassenfrage« sei: Der Arbeiter könne niemals dort beheimatet sein, wo der Imperialismus herrsche, was im Umkehrschluss bedeute, dass nur im Sozialismus der Werktätige seine Heimat finden könne. Die sozialistische Heimatliebe sei daher keinesfalls ein Irrweg proletarischer Selbstvergessenheit, die den Arbeiter im Kapitalismus zur mentalen Flucht aus dem Alltag geführt habe, sondern ein »schöpferisches, gestaltendes Bewusstsein«.99 Von dieser Definition aus war es nur noch ein kleiner Schritt zur ersten sozialistischen Festlegung des Heimatbegriffes durch Karl Czok im Jahre 1962: Die sozialistische Heimat ist somit der natürliche und soziale Lebensbereich der Menschen, mit dem sie politisch, ökonomisch, kulturell, verstandes- und gefühlsmäßig eng verbunden sind und für deren Erhaltung und Veränderung sie sich aktiv im Sinne des Sozialismus einsetzen.
Nachfolgend wurde die DDR als Ganzes zur Heimat. Der einzelne Ort aber wurde im Nachdenken und Reden über den Tourismus in der DDR zur Nebensächlichkeit und konnte beinahe beliebig ausgetauscht werden. Es bestand kein nennenswerter Unterschied mehr, wenn in der Zeitschrift »Unterwegs« beispielsweise über die Mecklenburgische Seenplatte oder den Thüringer Wald geschrieben wurde. Das Hauptargument blieb bestehen: »Die Schönheit der Heimat, unserer Heimat, deren Herr, deren tätiger Besitzer wir alle sind, sie ist überall.«100 Alles habe eine »menschengeschaffene«, gar eine »sozialistisch-romantische« Ordnung. Diese Harmonie brauchte nur noch den sozialistischen Staat als ihren Ort. Der einzelne Urlaubsort war deshalb nur noch konkreter Ausdruck dieses Staates, er diente nur noch als Symbol für den Sozialismus. Diese »Konstruktion« der 98
Zit. nach: Willi Oberkrome, Deutsche Heimat. Nationale Konzeption und regionale Praxis von Naturschutz, Landschaftsgestaltung und Kulturpolitik in Westfalen-Lippe und Thüringen (1900–1960) (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 47), Paderborn/München/ Wien/Zürich 2004, S. 377. 99 Zit. nach: ebd. 100 Rainer Kerndl, Wie lieben die Heimat, die Schöne, in: Unterwegs 4 (1960), H. 3, S. 1.
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Die DDR als Urlaubsland
DDR als Urlaubsland wurde in den 1950er-Jahren entwickelt und festgeschrieben. Der Topos der sozialistischen Heimat und die Anklänge an romantische Argumentationsfiguren sollten die Abgrenzung zum Westen ideologisch untermauern. In den folgenden Jahrzehnten blieben Subtexte dieser Konstruktion stets vorhanden, doch wurden sie nach 1961 nicht mehr so deutlich in den Vordergrund geschoben. Da es für die meisten Bürger der DDR nach dem Mauerbau ohnehin nicht mehr möglich war, in den Westen zu reisen, wirkte die betonte Abgrenzung bestenfalls überflüssig. Bei der Bevölkerung sogar den Eindruck zu erwecken, dass allein schon der Gedanke, in den Westen zu reisen, abwegig sei, war angesichts der Abschottung wenig überzeugend, wenn nicht gar kontraproduktiv für das Bild, was die DDR abgeben wollte. Zu offensichtlich wurde den Menschen etwas ausgeredet, was ohnehin nicht erreichbar war. Zwar ist die offizielle Bezeichnung der Berliner Mauer, die 1961 das letzte Schlupfloch in den Westen schloss, als »antifaschistischer Schutzwall« noch geprägt von der ideellen Abgrenzung zum Westen; dieser Begriff sollte den Westen als »faschistische« Gefahr, die DDR hingegen als »antifaschistischen« und »sozialistischen«, vor allem aber als schutzbedürftigen und schützenswerten Staat erscheinen lassen. Doch weder im alltäglichen Leben noch im Tourismus konnte eine solche Wortwahl überzeugen. Denn mit dem Mauerbau wurden die Reisemöglichkeiten der DDR-Bürger in geographischer Hinsicht massiv beschränkt, während zeitgleich eine Belebung des Tourismus erfolgte, der sich in den 1960er-Jahren auch in der DDR zum Massentourismus entwickelte. Die Behauptung, ein gutes Urlaubsland im antifaschistischen, sozialistischen Gewand zu sein, reichte nicht mehr aus. Die DDR war nach dem Mauerbau vielmehr auch in touristischer Beziehung gänzlich auf sich selbst verwiesen und musste sich fortan im Konkreten beweisen und bewähren. Partei, Staat und Gewerkschaft standen nunmehr vor der existenziellen Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich die Bürger mit dem zufrieden gaben, was in der DDR vorhanden und möglich war. Sie mussten die scharfe, propagandistisch-verbale Abgrenzung gegenüber dem Westen aufgeben und sich auf das Eigene konzentrieren. Folgerichtig wurde die mehrfach zitierte Zeitschrift »Unterwegs«, die in den 1950er-Jahren starken Einfluss auf die Darstellung der DDR in Abgrenzung zum Westen genommen hatte, 1962 offiziell aufgrund Papiermangels eingestellt. Fortan berichtete die Zeitschrift »Neues Leben« mehr oder weniger regelmäßig über Reisen und Tourismus in der DDR und den Ostblockländern, ohne die harte Linie der Abgrenzung zum Westen sowie die Verherrlichung des Ostens in Art und Weise der Zeitschrift »Unterwegs« fortzuführen.101 Auch die vom FDGB-Feriendienst
101 Görlich, »Wohin werden Sie sich im nächsten Sommer wenden?«, S. 506–527.
»... Goethe und Eckermann wussten schon, wo es schön ist«
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herausgegebenen »Ferien- und Bäderbücher«102 verloren mit dem Mauerbau ihre ideologische Durchdringung. Fortan wandelten sie sich zu »Katalogen«, in denen die touristischen Möglichkeiten der DDR zur Schau gestellt wurden, während man den Vergleich mit dem Westen tunlichst vermied. So gibt die touristische Literatur Zeugnis von den Bemühungen der DDR, sich nach dem Mauerbau sui generis als Urlaubsland zu etablieren. Allerorts verlor sich die Utopie des sozialistischen Staates. In der DDR der späten Jahre konnten sich die Bürger in dem Raum, der nicht mehr ideologisch aufgeladen oder in Abgrenzung zum Westen »konstruiert« wurde, schließlich große »Freiräume« schaffen, in denen das Erlebnis und das Vergnügen im Vordergrund standen. Erlebnis und Vergnügen erschlossen sich den Raum, den die Utopie nicht mehr besetzen konnte.
102 Das »Ferien- und Bäderbuch« des FDGB erschien in mehreren Auflagen in der DDR, die sich sehr weitgehend dem jeweiligen »Zeitgeist« anpassten.
Schlussbemerkungen Wenn man versuchen wollte, die Geschichte des Erholungswesens in der SBZ und der DDR in wenigen Worten zusammenzufassen, so könnte diese Geschichte auf den ersten Blick durchaus als »Erfolgsstory« erscheinen: Im Winter 1946 – nur eineinhalb Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – begann die Diskussion, wie Erholungsurlaube für die Menschen in der SBZ zu organisieren seien. Schon im März 1947 entstand der »Feriendienst der Gewerkschaften«, im Sommer des gleichen Jahres verreisten mit ihm bereits 17.500 Urlauber. Vierzig Jahre später verbrachten fünf Millionen Menschen ihren Urlaub mit dem Feriendienst der Gewerkschaften oder den betrieblichen Erholungseinrichtungen. Weitere Millionen Menschen fanden Jahr für Jahr ihr Urlaubsglück mit dem Reisebüro der DDR, mit dem Jugendreisebüro »Jugendtourist«, auf Campingplätzen und im individuell gestalteten Urlaub. Quantitativ entspricht diese Entwicklung in der DDR der in der Bundesrepublik: Beide deutsche Staaten wiesen deutliche Wachstumsraten im Tourismus auf. Mehr noch: Gemessen an der leicht höheren Reiseintensität kommt den Ostdeutschen sogar der Titel »Reiseweltmeister« zu, den die Westdeutschen gerne für sich in Anspruch nehmen. Die Gründung des Feriendienstes des FDGB entsprach durchaus den humanistischen Grundzügen sozialistischen Denkens: Der Mensch benötige Erholung, um seine Arbeitskraft wiederherzustellen. Er könne sich zugleich – so glaubten und hofften die Sozialisten – durch das Zusammenwirken von Arbeit und Erholung emanzipieren und zum neuen, freien Menschen bilden. Schließlich trage der Urlaub dazu bei, ein selbstbestimmtes Leben im Sozialismus jenseits von Ausbeutung und Unterdrückung zu führen. Vor dieser ideologischen Folie entwickelte sich der Feriendienst von einer ursprünglich sozialpolitisch angelegten Maßnahme schnell hin zu einem politischutopischen Projekt, das mit großer Energie ausgebaut wurde. Urlaub in der DDR sollte in den ersten Jahren weit mehr sein als eine Dienstleistung von Staat und Gewerkschaft für die Bürger, die sich auf die Verteilung hoch subventionierter Urlaubsreisen zu beschränken hatte. Der Feriendienst war angetreten, um in einer »neuen« Gesellschaft mit »neuen« Menschen nun auch einen »neuen« sozialistischen Tourismus zu schaffen. Gleichwohl setzten die Bürger diesen ideologischen Vorstellungen ihren »EigenSinn« entgegen. Aus dieser Verbindung von Sozialismus, Tourismus und EigenSinn entstanden schließlich die spezifischen Ausprägungen des real-existierenden Tourismus in der DDR. Schon in den ersten Jahren, als der Feriendienst ideologisch instrumentalisiert wurde und zur Verwirklichung des Sozialismus beitragen sollte, setzten die Bürger den politischen Vorgaben eine auf das Erlebnis bezogene
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Urlaub vom Staat
Innerlichkeit entgegen, die das sozialistische System in Frage stellte. Die verantwortlichen Funktionäre mussten erkennen, dass es nicht ausreichte, die oftmals von politischer Seite unterstellten Bedürfnisse des »neuen«, des »sozialistischen« Menschen, der sein Telos im Sieg des Sozialismus fand, zu befriedigen. Wie der Tourismus seit seinen Anfängen im 19. Jahrhundert mit den Topoi der Flucht aus der Alltagswelt, der Suche nach einer Gegenwelt und der Distanz zur bestehenden Welt verbunden ist, versuchten auch die DDR-Bürger in wachsendem Ausmaß, im Urlaub dem Arbeitsalltag zu entkommen. Angesichts der starken Politisierung, die den DDR-Alltag begleitete, wollten sie wenigstens während der Urlaubszeit dem omnipräsenten Staat, der allgegenwärtigen Politik und ihrem Ordnungsanspruch entfliehen. Erholung und Vergnügen war ihnen zum Selbstzweck geworden. So stellten sie im Urlaub den auf den Sozialismus gerichteten, herrschaftlich intendierten und ideologisch definierten Sinn von Ordnungen, erzwungenen Verhaltensweisen und Verboten ihres Staates in Frage. Von dieser Spannung geprägt, ist ein deutlicher Wandel im Tourismus der DDR zu verzeichnen. Die starke Ideologisierung in den 1950er-Jahren wich schon in den 1960er-Jahren einer technizistischen Reformorientierung. Man war zunehmend bereit, ideologische Grundsätze zu vernachlässigen und sich stattdessen auf die pragmatische Verbesserung der Urlaubsreisen zu konzentrieren. Nach und nach wandelte sich der Feriendienst so zu einem »sozialistischen Neckermann«, zu einem Reiseveranstalter, der es sich – westlichen Reiseveranstaltern nicht unähnlich – zur Aufgabe machte, unter den gegebenen Umständen die bestmöglichen Bedingungen für den Urlaub der Bürger zu schaffen. Ideologische Vorgaben spielten in den letzten Jahren deshalb nur noch eine nachgeordnete Rolle in der Praxis des Erholungswesens. Die Probleme bei der zentralistischen Organisation von Urlaub waren stets konkreter, als dass sie allein durch politisch-ideologisch fundiertes Vorgehen gelöst werden konnten. Sie verlangten in der Regel ein pragmatisches Vorgehen, das sich seit den 1960er-Jahren immer mehr durchsetzte. In dem Maße jedoch, in dem die Bereitschaft zu pragmatischem Handeln wuchs, wurden die Möglichkeiten zur politisch-ideologischen Einflussnahme eingeschränkt. Als mit der neuen Wirtschafts- und Sozialpolitik unter Erich Honecker große finanzielle Mittel zum weiteren Ausbau der Feriendienstkapazitäten bereitgestellt wurden, konnte – trotz einer ideologischen Rückbesinnung auf die 1950er-Jahre – der politische Einfluss nicht mehr »zurückgekauft« werden. Betrachtet man also dezidiert die politisch-ideologischen Aspekte des Urlaubs in der DDR, so wird die »Erfolgsstory« zu einer Geschichte des Utopieverlustes. Die mangelnde Effizienz der Planwirtschaft und der Eigen-Sinn der Menschen, die in dieser Planwirtschaft lebten, machten bereits in der zweiten Hälfte der 1960erJahre deutlich, dass innerhalb des sozialistischen Systems weder die ideologischen
Schlussbemerkungen
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Vorgaben noch die Wünsche der Urlauber ausreichend befriedigt werden konnten. Plan und Planwirtschaft erwiesen sich als nicht mehr mächtig genug, um den Bürger beherrschen zu können. Der Markt indes durfte bis 1989 noch nicht an die Stelle des Planes treten. Während es sich die zentrale Leitung des Feriendienstes lange Zeit noch erlauben konnte, auf den ideologisch-politischen Grundsätzen des sozialistischen Staates zu beharren, waren die Mitarbeiter in den Ferienheimen sehr viel früher mit den teils »bürgerlichen«, teils »profan-touristischen« Ansprüchen der Urlauber konfrontiert. Während die Heimleiter in den ersten Jahren vor allem als Gewerkschaftsfunktionäre agieren sollten, wurden sie de facto zu Hoteliers, denen weniger die Ideologie als vielmehr die gute Betreuung und Versorgung der Gäste am Herzen lag. Damit kam den Leitern und Mitarbeitern in den Ferienheimen eine Schlüsselrolle hinsichtlich der Legitimation der DDR durch den Urlaub zu. Denn im Gegensatz zur nationalsozialistischen Organisation »Kraft durch Freude«, deren durchgeführte Reisen als vermeintlich positives Erlebnis die Legitimation des »Dritten Reiches« bis weit in die Nachkriegsjahre hinein zu stärken vermochte, blieb die legitimatorische Wirkung des Feriendienstes ambivalent. Jeder Mangel der Urlaubsreise wurde dem Staat angelastet, der sich dafür ja selbst verantwortlich erklärt hatte. Mit jeder Beschwerde wurde die Legitimation des ganzen Systems in Frage gestellt. Andersherum formuliert: Je zufriedener die Urlauber waren, desto größer war die stabilisierende Wirkung für das System. Dem so erzeugten Druck entkam der Feriendienst nur dadurch, dass zuerst die Heimleiter und Mitarbeiter, endlich auch die zentralen Instanzen den Urlaubern große Freiheiten in der Gestaltung des Urlaubs gewährten. Schon die Sprachentwicklung verleiht diesem Utopieverlust einen überaus deutlichen Ausdruck: Zunächst waren es die Arbeiter, die sich erholen sollten, dann wurde von den Werktätigen gesprochen, die ein Anrecht auf Erholung hätten, und letztlich rückten die Gäste, die ihre Ansprüche gegen den Veranstalter formulierten, in den Mittelpunkt. Schließlich wurden in der DDR die Neudefinition der geographischen Zusammenhänge, innerhalb derer sich die DDR verortete, und die inhaltliche Ausgestaltung der DDR als Urlaubsland angestrebt. Auch diese Selbstdarstellung unterlag im Zeitverlauf einem gravierenden Wandel. Während in den 1950er-Jahren die ideologische Abgrenzung vom Westen dominierte, war die DDR nach dem Mauerbau 1961 auf sich selbst verwiesen. Indem nach 1961 nicht mehr die »Verwirklichung des Sozialismus« in den Urlaubsorten betont wurde, sondern die Funktionäre sich sehr pragmatisch um die qualitative Verbesserung der Urlaubsplätze bemühten, wurde der vormals ideologisch-utopisch besetzte Raum nun zu einem Raum, in dem Vergnügen und Erlebnis jenseits der politischen Utopie ihren Platz fanden.
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Urlaub vom Staat
Die Geschichte des »Urlaubs vom Staat« ist daher eine Geschichte des Utopieverlustes, der in allen Themenbereichen dieser Untersuchung zu beobachten ist. Dieser Utopieverlust und das Unvermögen, mit einer gewissen Glaubwürdigkeit die Verwirklichung der Utopie auch nur versprechen zu können, haben maßgeblich zum Ende des utopischen Projektes eines »Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden« beigetragen. Gleichwohl bedeutet dieser Utopieverlust nicht, dass der Urlaub zur »Nische« wurde, zum Rückzugsort vom Politischen. Der Urlaub war nicht das »schöne« Gegenstück zum »grauen« Alltag. Urlaub in der DDR war nie politikfrei oder unpolitisch. Das lag nicht nur daran, weil der Urlaub im System der DDR eine so hervorgehobene Stellung einnahm und die Diktatur ihre eigenen Ordnungsvorstellungen auf den Urlaub übertragen wollte. Er wurde auch zu einer Arena, in der nicht nur um die Gestaltung des Urlaubs, sondern auch um seine politische Bedeutung schlechthin gerungen werden musste. Nicht nur durch die ideologische Bewertung durch die Funktionäre, sondern gerade durch die Auseinandersetzungen um die Qualität des Urlaubs wurde er zu einem Politikum, zu einer Arena des Aushandelns und des Konfliktes zwischen Bürgern und Staat. In diesen politischen Aushandlungsprozessen zeigte sich, dass die DDR bei Weitem nicht so mächtig war, wie sie sich selbst gerne darstellte. Der einzelne Urlauber konnte – als durchaus mächtiges Subjekt – der Diktatur Grenzen aufzeigen. Dazu bedurfte es weder widerständigen noch oppositionellen Verhaltens. Eigensinnig Urlaub zu machen, Vergnügen und Erlebnis zu suchen, reichten aus. Dieses scheinbar unspektakuläre Verhalten wies über die in der DDR geltende Herrschaftsund Gesellschaftsordnung hinaus, es schürte die Sehnsucht nach einer anderen Welt. Die Enttäuschung über die Unerfüllbarkeit dieser Sehnsucht erlangte historische Wirkungsmächtigkeit, die zum Fall der Mauer und zum Niedergang der DDR substanziell beigetragen hat. Kurzum: Auch im »Urlaub vom Staat« wirkte jene Kraft, die die DDR zur Geschichte machte.
Abkürzungsverzeichnis ADGB Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund Amt für Nationale Sicherheit, Nachfolgeeinrichtung des AfNS Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) Betriebserholungsheim BEH BGL Betriebsgewerkschaftsleitung BKV Betriebskollektivvertrag BUV Betriebsurlaubsvereinbarung DER Deutsches Reisebüro DM Deutsche Mark (als Abk. auch in der frühen DDR für die Währung in Ostdeutschland gebräuchlich) Deutsche Reichsbahn DR DTSB Deutscher Turn- und Sportbund EH Eigenheim, Ferienunterkünfte im Besitz des FDGB FDGB Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Deutsche Jugend FDJ GTMS Gasturbinenmotorschiff IG Industriegewerkschaft KdF »Kraft durch Freude« KPR (B) Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki) KPdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion Kultur- und Sozialfonds KSF KTW Komitee für Touristik und Wandern Mitteleuropäisches Reisebüro MER MfS Ministerium für Staatssicherheit der DDR MS Motorschiff NÖSPL Neues ökonomisches System der Planung und Leitung Organisationseigener Betrieb OEB ÖSS Ökonomisches System des Sozialismus RIAS Rundfunk im amerikanischen Sektor ROH Revoluční odborové hnutí (dt.: einheitliche revolutionäre Gewerkschaftsbewegung), Staatsgewerkschaft in der Tschechoslowakei Sowjetische Besatzungszone SBZ SED Sozialistische Einheitspartei Deutschland SMAD Sowjetische Militäradministration in Deutschland TRS »Territorial‘naja Recreationnaja Sistema« (Territoriales Rekreationssystem) UdF »Unerkannt durch Freundesland« Verfolgter des Naziregimes VdN Vereinigte Arabische Republik VAR Volkseigener Betrieb VEB VH Vertragshäuser bzw. Vertragsheime, Ferienheime in Privatbesitz, die vom FDGB zur Belegung mit Urlaubern angemietet wurden. WTR Wissenschaftlich-technische Revolution ZK Zentralkomitee ZR Zentralrat
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Danksagung Ich möchte all denjenigen danken, ohne die meine Doktorarbeit nicht abgeschlossen und die vorliegende Veröffentlichung nicht zustande gekommen wäre. An erster Stelle gilt der Dank meinem Doktorvater Prof. Dr. Martin Sabrow. Er hat es ermöglicht, dass ich am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam über den Urlaub in der DDR forschen konnte. Dabei ließ er mir alle erdenklichen Freiheiten, die es brauchte, um das Feld zu bestellen. Auch Prof. Dr. Rüdiger Hachtmann, der das Zweitgutachten übernahm, gilt mein großer Dank; über wissenschaftliche Fragen hinaus hat er mich stets unterstützt. Großer Dank gilt der Projektgruppe »Kulturen des Politischen« am ZZF, an deren Arbeit ich teilnehmen durfte: Christoph Classen, Thomas Mergel, Pavel Kolář, Klaus Große Kracht, Krijn Thijs, Marcus M. Payk, Mario Kessler und Árpád von Klimó. Sie schärften in vielen Diskussionen und Gesprächen meinen Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts und den Gegenstand meiner Untersuchungen. Besonderer Dank gilt Tobias Schulz und Nikolai Wehrs. Als Mitarbeiter in der Projektgruppe hatten sie großen Anteil an den Diskussionen, als Büronachbarn trugen sie zur überaus angenehmen Atmosphäre am ZZF bei. Dafür danke ich auch: Heiner Stahl, Enrico Heitzer, Christoph Kalter, Uwe Sonnenberg, Sven Schultze, Edda Campen, Ulrich Huemer, Christiane Lahusen, Melanie Arndt, Danuta Kneipp, Paulina Gulińska-Jurgiel – ihr wart eine tolle Truppe! Ich danke Inge Schmöker und Katja Stopka für die unermüdliche Hilfe bei der Suche nach Literatur; Christa Schneider, Anke Wappler, Ute Eisenreich, Angela Dittrich und Ursula Schulz für die Unterstützung in Verwaltungsfragen; Andrea Genest für ihren Einsatz als Betriebsrätin; Jochen Laufer für manche Ruderpartie; allen Mitarbeitern des ZZF, die mich in ungezählten Gesprächen und im Institutskolloquium von ihrer intellektuellen Schärfe profitieren ließen. Kurzum: Es war eine schöne Zeit am ZZF – allen, die hierzu beitrugen, sei herzlichst gedankt. Für regen Austausch über die Geschichte des Tourismus danke ich Hasso Spode, Wiebke Kolbe, Christian Noack, Cord Pagenstecher und Kai Reinhart. Meinert A. Meyer nahm die Mühe auf sich, das gesamte Manuskript zu lesen. Wenn er nicht beharrlich Kapitel um Kapitel eingefordert hätte, wäre ich wohl nicht zum Schluss gekommen – so gilt ihm mein ganz großer Dank. Martin Sabrow hat sich schließlich für die Aufnahme in die Buchreihe »Zeithistorische Studien« eingesetzt. Hasso Spode und Christoph Kleßmann haben mit ihren Gutachten die Aufnahme in diese Reihe befürwortet und wichtige Hinweise gegeben. Annelie Ramsbrock hat die Herausgabe koordiniert, Christine Bartlitz übernahm die Arbeit des Lektorats und des Satzes. Ich danke ihnen für die Geduld mit meiner Ungeduld.
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Urlaub vom Staat
Ebenso verpflichtet bin ich aber auch denjenigen, die mit der Geschichtswissenschaft nichts zu tun haben: Steffi, Steffen und Eleonore Breuer-Quedenfeld danke ich, dass ich so oft und so selbstverständlich an ihrem Tisch Platz haben konnte. Kristin Müller danke ich für die unterhaltsamen Stunden in ihrem Hutladen. Peter Lommel nahm mich auf manchen unvergesslichen Segeltörn mit; Olaf Winkler unternahm mit mir ebenso unvergessliche Reisen – vielen Dank. Minna und Lilly danke ich, weil sie mir während des Lektorats immer wieder über die Tastatur sprangen oder sich auf dem Manuskript rekelten, wie es sich für zwei junge Katzen gehört. Der größte Dank gebührt schließlich meinen Eltern und meinem Bruder. Sie gaben mir materielle und vor allem aber ideelle Unterstützung und Rückhalt; ich konnte mich bei allen Höhen und Tiefen der Doktorarbeit auf sie verlassen.
Zeithistorische studien Herausgegeben vom Zentrum für ZeitHistoriscHe forscHung Potsdam eine auswaHl
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böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar