Zerfall und Neuordnung: Die »Wende« in Osteuropa von 1989/91 [1 ed.] 9783412517199, 9783412517175


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German Pages [288] Year 2019

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Zerfall und Neuordnung: Die »Wende« in Osteuropa von 1989/91 [1 ed.]
 9783412517199, 9783412517175

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Peter Collmer, Ekaterina Emeliantseva Koller, Jeronim Perović (Hg.)

 Zerfall und Neuordnung Die »Wende« in Osteuropa  von 1989/91 OSTEUROPA IN GESCHICHTE UND GEGENWART BAND 6

Osteuropa in Geschichte und Gegenwart

Band 6 Im Auftrag des Center for Eastern European Studies (CEES) herausgegeben von Tanja Penter, Jeronim Perović und Ulrich Schmid

Die neue Reihe Osteuropa in Geschichte und Gegenwart kommt einem ­ ach­senden Bedürfnis nach profunder Analyse zu zeitgeschichtlichen und w aktuellen Entwicklungen im östlichen Teil Europas nach. Osteuropa ist geographisch weit gefasst und umfasst einen Raum, der im Wesentlichen die sozialistischen Länder des ehemaligen »Ostblocks« einschließt, wobei Russland und die Staaten der ehemaligen Sowjetunion einen Schwerpunkt bilden sollen. Die Reihe ist interdiszi­plinär ausgerichtet. Historisch orientierte Arbeiten sollen ebenso einbezogen werden wie solche, die sich mit gegenwartsbezogenen politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ­kulturellen Themen auseinandersetzen. Die Herausgeber

Peter Collmer / Ekaterina Emeliantseva Koller / Jeronim Perović (Hg.)

Zerfall und Neuordnung Die »Wende« in Osteuropa von 1989/91

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Historischen Seminars der ­Universität Zürich, des Rektorats der Universität Zürich sowie des Center for Eastern European Studies (CEES).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Moskau, 24. August 1991 – Beisetzung der drei jungen Männer, die bei der Verteidigung einer Barrikade am 21. d. M. von Panzern überrollt wurden. Der Trauerzug mit einer riesigen russischen Flagge. Foto (Wladimir Fedorenko) © akg-images/Sputnik Korrektorat: Anja Borkam, Jena Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51719-9

Nada Boškovska zum 60. Geburtstag

Inhalt

Zerfall und Neuordnung. Osteuropa und das Phänomen der »Wende« von 1989/91 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Peter Collmer, Ekaterina Emeliantseva Koller, Jeronim Perović

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Wende und Struktur. Betrachtungen zu zwei Grundphänomenen der historischen Entwicklung im Osten Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Carsten Goehrke Niedergang und Fall des Kommunismus in Ostmitteleuropa. Zu den globalhistorischen Aspekten der »friedlichen Revolutionen« . . . . 59 Pavel Kolář Die »Wende« als »Verrat«. Russland, die Nato-Osterweiterung und das Scheitern der europäischen Sicherheitsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Jeronim Perović Gibt es ein Fortleben von Sowjetismen im heutigen politischen Diskurs ­Russlands? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Daniel Weiss Der Runde Tisch in Polen – dreißig Jahre danach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Peter Collmer »Krik protiv zla«. Titos Geschichtspolitik und der Zerfall Jugoslawiens, oder Wie eine Künstlergruppe Jugoslawien retten wollte . . . . . . . . . . . . . . 149 Nataša Mišković Von der »Rückkehr« in die Mitte Europas zur Rhetorik der Entflechtung. Der Wandel und die Neuordnung der Koordinaten ungarischer ­Geschichtspolitik seit 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Julia Richers

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Inhalt

Der dramaturgische Kern der rumänischen »­Telerevolution« von 1989 . 213 Ulrich Schmid Staatsverfall, Zivilgesellschaft und Zwangsarbeiterentschädigung in der Sowjetukraine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Carmen Scheide Igel mit Phantomschmerzen. Die »Wende« 1989 und die Schweiz . . . . . . 251 Christian Koller Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

Zerfall und Neuordnung Osteuropa und das Phänomen der »Wende« von 1989/91 Peter Collmer, Ekaterina Emeliantseva Koller, Jeronim Perović

Michail Gorbačëv sprach schon 1984, noch vor seinem Amtsantritt als Generalsekretär der KPdSU, von Europa als »unserem gemeinsamen Haus«.1 Dieses Bild, das er später immer wieder verwendete, implizierte für ihn nicht etwa das Ende des Staatssozialismus, wohl aber das Ende der Blockkonfrontation.2 Doch dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch des Sowjetsystems ist Europa weiterhin gespalten. War es zuvor der »Eiserne Vorhang«, der die Konfrontation zwischen Ost und West markierte, ist das Geflecht politischer Demarkationslinien inzwischen komplexer geworden. Die Gräben verlaufen nicht mehr nur zwischen einem russisch dominierten »Osten« und dem übrigen Europa, sondern auch quer durch die Europäische Union. Dabei machen sie sich gerade auch zwischen den alten und den neuen Mitgliedstaaten der EU bemerkbar. Denn die ehemals sozialistischen Länder Osteuropas starteten ihren Transformationsprozess nicht an einem Nullpunkt, sondern auf der Grundlage unterschiedlicher historischer Erfahrungen und struktureller bzw. institutioneller Voraussetzungen. Entsprechend divers verliefen die Entwicklungen in den Jahren und Jahrzehnten nach der »Wende« von 1989/91. Die Nachwirkungen des kommunistischen Erbes, die spezifischen Ausprägungen nationalistischer Strömungen, der Verlauf und die Auswirkungen marktwirtschaftlicher Reformen, der jeweilige Grad von Korruption und Misswirtschaft – all dies hatte einen Einfluss darauf, wie sich der Wandlungsprozess in den einzelnen Ländern entwickelte und wie das demokratisch-liberale Experiment von der Gesellschaft wahrgenommen wurde. Alle Akteure hatten hohe und gleichzeitig sehr unterschiedliche Erwartungen, so dass Enttäuschungen vorprogrammiert waren. Und es 1 Dies anlässlich einer Rede vor dem Sonderausschuss für Auswärtige Angelegenheiten des Britischen Unterhauses, vgl. Excerpts from Gorbachev’s Speech, in: The New York Times, 19.12.1984, S. 7, https://www.nytimes.com/1984/12/19/world/excerpts-from-speech-by-gorbachev.html [17.09.2019]. 2 Gorbatschow, Michail: Perestroika. Die zweite russische Revolution. Eine neue Politik für Europa und die Welt, München 1987, S. 252–259. Dazu auch: Rey, Marie-Pierre: »Europe is our Common Home«. A Study of Gorbachev’s Diplomatic Concept, in: Cold War History 4 (2004) 2, S. 33–65.

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waren nicht zuletzt diese enttäuschten Hoffnungen und die Erfahrung der Desillusion, die den politischen Diskurs nach 1989 prägten und in späteren Jahren nationalistischen oder auch populistischen Parolen Erfolg bescherten. Die weitgehend friedlichen Massenbewegungen, Verhandlungen und politischen Erosionen, die im November 1989 in den Fall der Berliner Mauer mündeten, hatten eine profunde Krise jenes Systems offenbart, das sich als Gegenpol zum politischen und ökonomischen Modell des Westens verstand. Umso mehr wurde die »Wende« als ein Prozess wahrgenommen, der den Menschen Freiheit, Demokratie und Wohlstand bringen und die Integration der osteuropäischen Gesellschaften in die westliche Welt ermöglichen sollte. In der Geschichtswissenschaft wird die Frage, wie die osteuropäische Transformation zu bewerten ist, kontrovers diskutiert. Für den US-amerikanischen Historiker Charles S. Maier steht der Umbruch von 1989/91 in der Entwicklungslinie technologischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Herausforderungen, mit denen die westliche Welt schon seit Jahrzehnten konfrontiert war. In der Krise des sozialistischen »Ostblocks« sieht er demnach nur eine weitere historische Phase der gesamteuropäischen Transformation spätindustrieller Gesellschaften.3 In einer solchen Sichtweise fügt sich die »Wende« in globalhistorische Zusammenhänge ein.4 Daran anschließend werden als Deutungsrahmen häufig Modernisierungstheorien bemüht, die teleologisch auf das westliche Entwicklungsmodell ausgerichtet sind und dem europäischen Osten eine notorische Rückständigkeit attestieren. Die osteuropäische »Wende« wäre demnach kein einzigartiger historischer Prozess, sondern ein weiterer Versuch osteuropä­ ischer Gesellschaften, zum Westen aufzuschließen. Doch auch jenseits solcher fragwürdiger Verkürzungen lässt sich die »Wende« im Osten Europas als Teil einer globalen Transformation spät- und postindustrieller Gesellschaften begreifen. Den Zeitgenossen erschienen die Ereignisse von 1989/91 jedenfalls als 3 Maier, Charles S.: Two Sorts of Crisis? The »Long« 1970s in the West and the East, in: Hans Günter Hockerts (Hg.): Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des OstWest-­Konflikts, München 2004, S. 49–62; ders.: Thirty Years After: The End of European Communism in Historical Perspective, in: Juliane Fürst/Silvio Pons/Mark Selden (Hg.): Endgames? Late Communism in Global Perspective, 1968 to the Present (The Cambridge History of Communism, Vol. 3), Cambridge 2017, S. 600–621. 4 Lawson, George/Armbruster, Chris/Cox, Michael (Hg.): The Global 1989. Continuity and Change in World Politics, Cambridge 2010; Jacques Rupnik (Hg.): 1989 as a Political World Event. Democracy, Europe and the New International System in the Age of Globalization, London 2012; Engel, Ulf et al. (Hg.): 1989 in a Global Perspective, Leipzig 2015; Mark, James et al. (Hg.): 1989. A Global History of Eastern Europe, Cambridge 2019.

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Ausdruck eines Triumphes neoliberaler Modelle und westlich-demokratischer Weltanschauungen. Osteuropa wurde zu einer Arena für marktwirtschaftliche Experimente und demokratische Initiativen. Gleichzeitig verlieh der Fall des »Eisernen Vorhangs« der Debatte über die europäische Idee und die Grenzen Europas neuen Schwung.5 Die Euphorie des Umbruchs, die Vielfalt an Entwicklungsrezepten und das gleichzeitige Fehlen von Erfahrungen mit ihrer Anwendung machten es schwierig, die Tauglichkeit von Privatisierungsprogrammen, Deregulierungsoffensiven und anderen Maßnahmen für die Realität postsozialistischer Gesellschaften genau zu erfassen. Und obwohl sich bald zeigte, dass die oft im Schnelltempo durchgeführten Reformen nicht auf die Bedingungen von ehemaligen Planökonomien und staatssozialistischen Systemen gemünzt waren, dass sie vorübergehend zu großer Arbeitslosigkeit, zu einer beispiellosen Umverteilung von Vermögen und zu einem Einbruch des Bruttoinlandprodukts führten, stießen sie doch auf eine große Akzeptanz unter den Eliten, von denen sich viele einem neoliberalen Konsens verschrieben hatten. Dieser wurde auch von weiten Teilen der übrigen Gesellschaft mitgetragen, so dass es bei allen sozialen Härten in den 1990er Jahren zu keinen großen Protestwellen gegen die von oben eingeleiteten Maßnahmen kam.6 Die Auflösung bestehender Ordnungs- und Sinnzusammenhänge wurde von den Menschen allerdings unterschiedlich wahrgenommen, was sich in spezifischen Krisendiskursen ablesen lässt.7 Neoliberale Ideen spielten gerade in jenen Ländern Ostmitteleuropas eine bedeutende Rolle, in denen oppositionelle Kräfte bereits in den 1980er Jahren nach alternativen Modellen Ausschau gehalten und die Politik Margaret ­Thatchers oder Ronald Reagans bewundert hatten. Dies trifft etwa auf die Tschechoslowakei bzw. Tschechien zu, wo Premierminister Václav Klaus während der 1990er Jahre zu einem zentralen Protagonisten von Privatisierung und Marktwirtschaft wurde. Im polnischen Danzig hatten sich bereits in den 1980er Jahren liberale Kräfte formiert, deren Mitglieder – darunter der nachmalige Ministerpräsident Donald Tusk – später maßgeblich für die schnelle Pri5 Mark, James/Rupprecht, Tobias: Europe’s »1989« in Global Context, in: Fürst/Pons/Selden (Hg): Endgames?, S. 224–249. 6 Kovács, János Mátyás/Zentai, Violetta (Hg.): Capitalism from Outside? Economic Cultures in Eastern Europe after 1989, Budapest 2012; Ther, Philipp: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2015; Drahokoupil, Jan: Globalization and the State in Central and Eastern Europe. The Politics of Foreign Direct Investment, London 1997. 7 Zum Fallbeispiel Moskau: Shevchenko, Olga: Crisis and the Everyday in Postsocialist Moscow, Bloomington 2009.

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vatisierung verantwortlich waren.8 In Bulgarien oder Rumänien hielt der Neoliberalismus langsamer Einzug.9 Trotz der Öffnung Rumäniens für westliche Technologieimporte ab den späten 1960er Jahren dominierte die aus den Reihen der alten Parteinomenklatura stammende Elite die Richtung der Reformen auch in der ersten Regierung nach der »Wende« bis in die frühen 1990er Jahre hinein; in Bulgarien gar bis 1997. Radikale Proteste gegen wilde Privatisierungen, gegen die neuen, offen zur Schau gestellten sozialen Ungleichheiten oder gegen die weggefallene soziale Absicherung blieben jedoch auch in diesen Ländern aus. Der Glaube an den längerfristigen Erfolg des Marktkapitalismus und der Westernisierung erwies sich stärker als sozialistische Werte, die auf sozialer Gleichheit und staatlich garantierter Sicherheit basierten.10 Als Francis Fukuyama Anfang der 1990er Jahre das »Ende der Geschichte« verkündete, ahnte kaum jemand, dass das von ihm propagierte Modell – eine auf Demokratie und neoliberalen Ideen beruhende sozioökonomische Ordnung – nur wenige Jahre später von einer weltweiten Krise erfasst werden sollte.11 Im Kontext der »Wende« schien dieses Modell noch das einzig zukunftsträchtige zu sein. Und obwohl die Kriege im zerfallenden Jugoslawien oder die autoritären Tendenzen, die sich bereits ab Mitte der 1990er Jahre in Russland manifestierten, problematische Seiten des Umbruchs vor Augen führten, schien sich die Welt für viele doch in eine einzige Richtung zu entwickeln: die westliche. Die Kriege und Konflikte an den Rändern Europas wurden dabei als Anomalie und Auswuchs archaischer Überbleibsel aus einer früheren Zeit angesehen. Tatsächlich verlief die osteuropäische Transformation insgesamt bemerkenswert gewaltfrei. Auch starke oppositionelle Bewegungen wie die polnische Solidarność setzten auf einen stufenweisen Übergang und zeigten sich offen für Kompromisse und für eine Verständigung mit den alten Eliten, ohne deren Mitwirken eine plausible Lösung für die verfahrene Situation kaum zu finden war. So wurden Kommunisten etwa in Polen und Ungarn zu Mitbegründern demokratischer Ordnungen. Dass es überhaupt so weit kam, verdankt sich aber vor allem der Zivilcourage der Menschen. Entscheidend waren Massen 8 Eyal, Gil: The Origins of Post-Communist Elites. From the Prague Spring to the Breakup of Czechoslovakia, Minneapolis 2003; Kochanowicz, Jacek: Have Polish Economists Noticed New Institutionalism?, in: Kovács/Zentai (Hg.): Capitalism from Outside?, S. 203–222.  9 Ganev, Venelin I.: Preying on the State. The Transformation of Bulgaria After 1989, ­Ithaca 2007; Ban, Cornel: Sovereign Debt, Austerity, and Regime Change. The Case of Nicolae Ceauşescu’s Romania, in: East European Politics and Societies 24 (2012) 2, S. 743–776. 10 Zur »Westernisierung« vgl. Bren, Paulina/Neuberger, Mary (Hg.): Communism Unwrapped. Consumption in Cold War Eastern Europe and the Soviet Union, Pittsburgh 2010. 11 Fukuyama, Francis: The End of History and the Last Man, New York 1992.

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proteste wie die Leipziger Montagsdemonstrationen, die Großversammlungen auf dem Wenzelsplatz oder die Aktionen verschiedener Menschenrechtsgruppen, die pazifistische, religiöse oder ökologische Bewegungen umfassten. Künstlergruppen wie die »Orange Alternative« der Breslauer Kunststudierenden zogen mit ihren ironischen Performances die herrschende Macht ins Lächerliche und inspirierten zur Nachahmung. In Budapest putzte eine Gruppe von Arbeitern am 7. November 1988, dem Jahrestag der Oktoberrevolution, demonstrativ den öffentlichen Raum; sie hatten sich buchstäblich der sozialistischen Arbeitsmoral verpflichtet und den Feiertag zum Arbeitstag erklärt.12 Das Ende des Staatssozialismus ging einher mit dem Ende des letzten europäischen Imperiums: der Sowjetunion. Als sich der sowjetische Einfluss auf den »Ostblock« unter Michail Gorbačëv abschwächte, erweiterten sich nicht nur die Spielräume für oppositionelle Kräfte in den Ländern Ostmitteleuropas. Auch in den sowjetischen Unionsrepubliken wurden die Forderungen nach Unabhängigkeit und nationaler Selbstbestimmung lauter. Die Entwicklungen in Ostmitteleuropa ermutigten insbesondere freiheitlich-nationalistische Bewegungen in den westlichen und südlichen Regionen der Sowjetunion – in den baltischen Republiken, in Moldawien, in der Ukraine, in Georgien und Armenien. Namentlich in den östlichen Teilen des sowjetischen Imperiums führte die Dynamik der »Wende« aber auch zu einer Zementierung alter Machtverhältnisse. In den zentralasiatischen Republiken etwa versuchte die Elite dem drohenden Kontrollverlust mit einer von oben verordneten Unabhängigkeit zu begegnen. In diesen ehemaligen Sowjetrepubliken oder auch in Aserbaidschan ließ sich eine erstaunliche Elitenkontinuität beobachten, während der Zerfall der Sowjetunion sogar in Russland zu einer neuen Zusammensetzung der herrschenden Kreise führte. Gorbačëv wollte mit seiner Reformpolitik nicht den Staatssozialismus in Frage stellen. Ein radikaler »Umbau« (perestrojka) und eine Politik der »Transparenz« (glasnost’) sollten dem Sozialismus vielmehr zu neuem Schwung verhelfen und die föderalen Beziehungen innerhalb der Sowjetunion und des »Ostblocks« auf eine neue Basis stellen. Das Ziel bestand darin, die gesellschaftlichen Kräfte für einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« zu mobilisieren.13 Allerdings beförderte diese Politik auch zentrifugale Kräfte, die schließlich nicht mehr zu bändigen waren. Nur wenige glaubten Ende der 1980er Jahre noch daran, dass sich der Sozialismus als Staatsform reformieren ließ. Entscheidend 12 Kenney, Padraic: A Carnival of Revolution. Central Europe 1989, Princeton 2002. 13 Kotkin, Stephen: Armageddon Averted. The Soviet Collapse 1970–2000, New York 2008; Gorbatschow, Michail: Erinnerungen, Berlin 1995.

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war, dass auch russische Oppositionelle um Boris El’cin im Machtkampf mit dem sowjetischen Zentrum auf (russischen) Nationalismus und Antikommunismus setzten. Damit sprachen sie der herrschenden Ordnung jegliche Legitimation ab und beschleunigten letztlich den Zerfall des ganzen Systems. **** Der 30. Jahrestag der »Wende« ist Anlass zurückzuschauen und zu bilanzieren. Im vorliegenden Buch gehen wir der Frage nach, wie der Zerfall der alten und der Aufbau einer neuen Ordnung in Osteuropa aus heutiger Perspektive konzeptualisiert und historisch verortet werden können. Das Phänomen der »Wende« von 1989 (Ostmitteleuropa) bzw. 1991 (Sowjetunion) wird in seiner ganzen Bandbreite thematisiert – als Untergang, Zerfall und Transformation, im lokalen, regionalen, nationalen und globalen Kontext. Im Mittelpunkt stehen Fragen nach Kontinuitäten und Brüchen. Darüber hinaus fragen die Autorinnen und Autoren danach, wie die »Wende« gedeutet wird und in welche Narrative die Ereignisse von 1989/91 von Geschichtswissenschaft, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in den verschiedenen Ländern eingebettet wurden und werden. Den Anfang macht Carsten Goehrke, der sich mit dem Zusammenhang von »Wende« und »Struktur« in der historischen Entwicklung Osteuropas auseinandersetzt. In einer breitangelegten Tour d’Horizon betrachtet er vier Fallbeispiele (Russland, Ungarn, Polen, baltische Staaten) und analysiert Gemeinsamkeiten und Unterschiede im osteuropäischen Transformationsprozess. Pavel Kolář bietet mit seinem Beitrag zum Niedergang und Fall des Kommunismus einen Überblick über die Charakteristika der »friedlichen Revolutionen« in Ostmitteleuropa und stellt diese in globalhistorische Bezüge. Jeronim Perović behandelt in seinem Beitrag die »Wende« als Gegenstand einer vor allem zwischen Russland und dem Westen kontrovers geführten Auseinandersetzung um Fehlwahrnehmungen und unerfüllte Erwartungen bezüglich des Aufbaus einer neuen europäischen Sicherheitsordnung, die nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation hätte entstehen sollen. Den linguistischen Dimensionen der »Wende« widmet sich Daniel Weiss. Er fragt in seinem Beitrag danach, inwiefern sich im öffentlichen Diskurs Russlands auch nach dem Umbruch sprachliche Überbleibsel aus der Sowjetzeit finden lassen. In den nachfolgenden Beiträgen stehen jeweils einzelne Länder im Zentrum: Peter Collmer befasst sich mit der Frage, wie sich die Wahrnehmung und Beurteilung des Runden Tisches, eines der wichtigsten Symbole der »Wende«,

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seit 1989 verändert haben. Nataša Mišković richtet den Blick auf Jugoslawien und zeichnet die Bemühungen der jugoslawischen Führung nach, mit einem einheitlichen Geschichtsbild den desintegrativen Kräften im Vielvölkerstaat entgegenzuwirken. Julia Richers zeigt, wie sich in Ungarn unter der Führung von ­Viktor Orbán das Verhältnis zur eigenen Geschichte verändert hat. Ulrich Schmid analysiert am Beispiel der blutig verlaufenen rumänischen Revolution Stabilitäts- und Zusammenbruchsbedingungen von autoritären Machtstrukturen. Carmen Scheide befasst sich mit der Ukraine und fragt nach der Bedeutung von Geschichte und Erinnerung für die schwierig verlaufenden Staats- und Nationsbildungsprozesse nach dem Zerfall der Sowjetunion. Schließlich dreht Christian Koller im letzten Beitrag die Perspektive um: Er untersucht die Bedeutung der Ereignisse von 1989 für den Westen, genauer gesagt für die Schweiz, und verdeutlicht die fundamentale Verunsicherung, welche die »Wende« auch hierzulande auslöste. **** Die Autorinnen und Autoren widmen dieses Buch Nada Boškovska zum 60. Geburtstag. Sie gratulieren der Jubilarin, in deren Forschungsbiografie die Transformation Osteuropas seit den 1980er Jahren eine zentrale Rolle spielt, und wünschen ihr alles Gute. Zürich, im September 2019

Wende und Struktur Betrachtungen zu zwei Grundphänomenen der historischen Entwicklung im Osten Europas Carsten Goehrke »Wende«,1 »Wendezeit«,2 »Zeitenwende«,3 »Schicksalsjahre«,4 »Schlüsseljahre«5 – das sind Begriffe, derer man sich zu bedienen pflegt, wenn der gemächlich dahintreibende Strom der Geschichte plötzlich nicht nur zu strudeln beginnt und neue historische Konstellationen an die Oberfläche trägt, sondern sogar abrupt seine Richtung zu ändern scheint. Demgegenüber sind Strukturen, die den historischen Prozess prägen, an seiner Oberfläche nicht sichtbar. Zudem sind sie abstrakter Natur. Wahrnehmbar werden sie erst auf der Zeitachse, und auch nur, wenn man mit spezifischen Fragestellungen nach ihnen schürft. Wende und Struktur erscheinen innerhalb der historischen Entwicklung also als Gegenpole. Aber es gibt ein Phänomen, das beide Pole miteinander verbindet: die sichtbaren Veränderungen, die ein historischer Prozess durchläuft. Von der Wende unterscheiden sie sich insofern, als sie nicht plötzlich auftreten, sondern über eine längere Zeitstrecke verlaufen. Mit den Strukturen verbindet sie, dass sie gerade diese ganz oder teilweise allmählich in neue Strukturen transformieren. In diesem meinem Essay soll es aber nur um die beiden Gegenpole Wende und Struktur gehen. Mich interessiert dabei die Frage, inwieweit als Wendepunkte wahrgenommene Momente des historischen Prozesses Strukturen nicht nur zeitweise überlagern, sondern auch mehr oder minder zu ändern vermögen. Dabei ist mir bewusst, dass man Strukturhistorikern in unserer Zunft mit einer gewissen Zurückhaltung begegnet. Man wirft ihnen vor, die historische Entwicklung zu vereinfachen, auf wenige tragende Elemente herunterzubrechen und deterministisch zu deuten. Diese Diskrepanz innerhalb der Historikerschaft 1 Krauze-Olejniczak, Alicja/Piontek, Slawomir (Hg.): Die »Wende« von 1989 und ihre Spuren in den Literaturen Mittelosteuropas, Frankfurt a. M. 2017. 2 Capra, Fritjof: Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild, Bern 1983. 3 Canfora, Luciano: Zeitenwende 1956. Entstalinisierung, Suez-Krise, Ungarn-Aufstand, Köln 2012; Thun, Nyota: Zeitenwende. Die Oktoberrevolution im Spiegel der frühen sowjetischen Prosa, Berlin (Ost) 1987. 4 Lauterbach, Reinhard: Das lange Sterben der Sowjetunion. Schicksalsjahre 1985–1999, Berlin 2016. 5 Stadelmann, Matthias/Antipow, Lilia (Hg.): Schlüsseljahre. Zentrale Konstellationen der mittel- und osteuropäischen Geschichte. Festschrift für Helmut Altrichter zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2011.

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hängt auch damit zusammen, dass historisch gewachsene Strukturen sich erst im Längsschnitt erschließen und nur aus dieser Perspektive heraus die Frage beantwortet werden kann, wie ein als Wende wahrgenommenes Momentum der Geschichte Strukturen tatsächlich verwandelt hat. Historische Längsschnittforschung ist heutzutage aber leider eher rar geworden. Meine Fragestellung möchte ich am Zusammenbruch des Sowjetsystems in den Jahren 1989 bis 1991 festmachen, und zwar an vier Beispielen: Russland, Polen, Ungarn und den baltischen Republiken. Dabei sehe ich mich jedoch genötigt, aus Platzgründen die komplexe historische Entwicklung holzschnittartig auf das für meine Fragestellung Wesentlichste zu reduzieren.6

Russland Wenn etwas in der Geschichte den Prototypen einer Wende markiert, dann die Oktoberrevolution von 1917 bzw. die Machtergreifung und Machtsicherung durch die Bol’ševiki in den Jahren 1917 bis 1921. Damals und in den unmittelbaren Folgejahren wurde alles, was das Zarenreich ausmachte, buchstäblich auf den Kopf gestellt. Die herrschende Elite wurde völlig ausgetauscht, eine beispiellose soziale Mobilität setzte ein, das bestehende Wirtschaftssystem wurde in sein Gegenteil verkehrt, eine neue Ideologie und neue Werte erschienen auf der staatlichen Agenda. Doch schon unter Lenin meldeten sich unter dem Wust des Neuen bekannte Strukturmerkmale der Zarenzeit wieder zurück: die Angst der Staatsführung vor Kontrollverlust, die Monopolisierung der Macht in den Händen einiger weniger, der Zentralismus unter der föderativen Oberfläche des Staates und die Ausschaltung politischer Konkurrenz. Unter Stalin beschleunigte sich diese Entwicklung. Die letzten verbliebenen Freiräume in Wirtschaft, Medien, Kunst und Kultur verschwanden. Was sich seit den 1930er Jahren entwickelte, war ein Hybrid aus Neuem und Altem. Da waren einerseits erkennbare Brüche mit der Vergangenheit und historisch relevante Neuansätze: Die Sowjetmacht stützte sich auf zuvor unterprivilegierte soziale Schichten. Die Gesellschaft wurde durchlässiger. Eine innovative, zielgerichtete Wirtschaftsstrategie vermochte unter Anwendung von Gewalt Russland von einem noch stark agrarisch geprägten Schwellenland in einen Industriestaat umzuwandeln. Männer und 6 Für kritische Lektüre und weiterführende Hinweise zu diesem Beitrag habe ich Peter Collmer zu danken.

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Frauen wurden gleichgestellt. Der Analphabetismus verschwand, eine Bildungsoffensive begann die gesamte Bevölkerung zu erfassen. Auch für ein unentgeltliches, wenngleich bescheidenes Gesundheitswesen entstanden die Grundlagen. Auf der anderen Seite traten aber mehr und mehr weitere Strukturmerkmale an die Oberfläche, die schon die Zarenzeit geprägt hatten: eine stärker noch als zuvor auf den Staat fixierte Gesellschaft; die egalitaristische Mentalität des russischen Bauerntums, die mit der forcierten Industrialisierung auch die Arbeiterschaft erfasste. Die Ideologie des Marxismus-Leninismus, die der Masse der Bevölkerung fremd geblieben war, wurde durch das Ideologem des Sowjetpatriotismus ersetzt, dessen Kern eines altvertrauten russischen Nationalismus den Menschen leichter zu vermitteln war. Für die immer noch größtenteils bäuerlich geprägte Bevölkerung trat an die Stelle der patriarchalen Fixierung auf das »Väterchen Zar« das Vertrauen auf »Väterchen Stalin« – endgültig nach dem verlustreichen, aber glorreichen Sieg über Hitler-Deutschland 1945. Das Ziel einer Weltrevolution und der proletarische Internationalismus traten zurück hinter dem Streben nach nationaler Größe und internationalem Ansehen, und die Sowjetarmee legte sich sogar die Uniformen und Rangbezeichnungen der Zarenzeit wieder zu. Unter Nikita Chruščëv begann sich die Diktatur der Macht zu lockern. Die Führung war nunmehr bemüht, den Lebensstandard der Bevölkerung spürbar zu verbessern. In den 1960er Jahren formierten sich vor allem in Moskau und Leningrad auf breiterer Basis Ansätze einer parteiunabhängigen Zivilgesellschaft, und seit dem Beitritt der Sowjetunion zum Abkommen von Helsinki (1975) wagten sich sogar erste politische Dissidenten an die Öffentlichkeit. Sowjetische Weltraumtechnologie wetteiferte erfolgreich mit derjenigen der Vereinigten Staaten von Amerika und zeugte damit von den enormen Fortschritten, die das Land in der naturwissenschaftlichen Bildung und im Ingenieurwesen gemacht hatte. Doch dieser Aufbruch der 1960er und 1970er Jahre stieß zunehmend an seine Grenzen, weil er die überkommenen wie die neu entstandenen Strukturen gleichermaßen überforderte. Wie schon zur Zarenzeit exportierte die Sowjetunion immer noch vorwiegend Rohstoffe, nur anstelle von Getreide nunmehr Rohöl. Außer bei Rüstungsgütern war die verarbeitende Industrie international nicht wettbewerbsfähig. Daher flossen weniger ausländische Devisen ins Land, als man gebraucht hätte. Die Ineffizienz der Planwirtschaft, immense Kosten für Rüstung und Weltraumtechnik sowie die hohen Rentenleistungen, die auf dem Staat lasteten, ließen immer weniger Spielräume, um die Erwartungen der Bevölkerung auf weitere Steigerungen des Lebensstandards befriedigen zu können. Schließlich diskreditierte sich die vergreisende Staats- und Parteiführung

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durch ihre zunehmende Immobilität selber und in Partei wie Öffentlichkeit wuchs seit Beginn der 1980er Jahre der Druck, einen neuen Aufbruch zu wagen. Der neue Mann, dem die reformwilligen Kräfte innerhalb der KPdSU diesen Aufbruch 1985 zutrauten, Michail Gorbačëv, war tatsächlich ein Angehöriger der vergleichsweise »jungen« Funktionärsgeneration. Als Ziel schwebte ihm vor, durch systemimmanente Reformen die Erwartungen der Bevölkerung zu befriedigen und damit die Position der Partei wieder zu festigen. Um aber zunächst überhaupt Reformen durchführen zu können, versuchte er die Öffentlichkeit durch die Propagierung von politischer »Transparenz« (glasnost’) und »Umbau« (perestrojka) für sich zu gewinnen. Erst 1987 verfügte er über die nötige Machtbasis, um sein wichtigstes Ziel, die Effizienz der Sowjetwirtschaft zu steigern, anzugehen. Flankierende Maßnahmen sollten diese Politik unterstützen. Um die hohe finanzielle Belastung durch den militärisch-industriellen Komplex abzubauen und dafür vorgesehene Mittel in den Konsumgütersektor umzuschichten, setzte er auf eine Entspannungs- und Abrüstungspolitik gegenüber dem Westen, insbesondere mit den USA. Diese Politik ermutigte wiederum die sowjetischen Satellitenstaaten in Ostmittel- und Südosteuropa, sich von der Herrschaft der UdSSR zu lösen. Dass Gorbačëv der Wirtschaft Marktelemente verpasste, ohne den planwirtschaftlichen Rahmen aufzugeben, steigerte – anders als gedacht – ihre Effizienz nicht, sondern brachte das eingespielte System zunehmend durcheinander und endete in Chaos. Reaktionäre Parteikreise taten das Ihre, um Gorbačëvs Politik nach Kräften zu sabotieren. Um sie zu umgehen, suchte Gorbačëv daher seine Machtposition innerhalb der staatlichen Strukturen zu stärken und ließ sich im März 1990 in das neu geschaffene Amt eines Präsidenten der Sowjetunion wählen, welches ihm erhebliche Vollmachten einräumte. Dies nützte ihm aber wenig, weil die Reformkräfte innerhalb der RSFSR mit Boris El’cin an der Spitze darauf hinarbeiteten, die RSFSR als größte Unionsrepublik dem Zugriff Gorbačëvs zu entziehen und sich für souverän zu erklären. Diesem Beispiel folgten zunehmend auch andere Unionsrepubliken. Als im August 1991 reaktionäre Parteikreise einen vergeblichen Putschversuch gegen Gorbačëv starteten, war es Boris El’cin als erster durch das Volk frisch gewählter Präsident der RSFSR, der durch beherztes und konsequentes Auftreten gegen die KPdSU und gegen Gorbačëv diesen ausmanövrierte. Der Putsch beschleunigte die Absetzbewegung der Unionsrepubliken von der Sowjetunion und endete mit der Erklärung ihrer Unabhängigkeit. Am Ende des Jahres 1991 stand Staatspräsident und Parteichef Gorbačëv daher ohne Staat und auch ohne Partei da, denn El’cin hatte die KPdSU in der RSFSR verboten. Mit Gorbačëvs Rücktritt von allen Ämtern waren Sowjetunion und Sowjet-

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system am Ende. Sein Versuch, das Sowjetsystem kontrolliert zu modernisieren, war gescheitert – einerseits an der eigenen zögerlichen Reformpolitik, die der Dynamik der Entwicklung und des wirtschaftlichen Verfalls hinterherhinkte, andererseits an dem unlösbaren Konflikt zwischen den Verfechtern des Alten, welche die bestehenden Strukturen bewahren wollten, und den Vertretern des Neuen, die sich nicht einig waren, wohin Russlands Reise nunmehr gehen sollte. Auf das Jahr 1992 hin wurden in der Russländischen Föderation die Karten daher völlig neu gemischt. Erstmals seit der Machtergreifung der Bol’ševiki schien es möglich, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft auf ein völlig neues Gleis zu schieben. Eine wirkliche Wende zeichnete sich ab. Als Galionsfigur dieses neuen Aufbruchs trat der populäre Boris El’cin auf.7 Eigentlich ein typischer Parteifunktionär, der weder von Marktwirtschaft noch von dem Wesen einer Demokratie viel verstand, nutzte er seine Chance als gewählter Präsident der Russländischen Föderation, um seinen Erzfeind Michail Gorbačëv dadurch auszumanövrieren, dass er sich als radikalen Verfechter von Demokratie und Marktwirtschaft inszenierte. Wo Gorbačëv durch zu große Zögerlichkeit gescheitert war, setzte El’cin auf einen Umbruch mit der Brechstange. Dies entsprach 1992 anfänglich wohl auch den Erwartungen eines großen Teiles der Bevölkerung, die sich durch Übernahme des westlichen Staats- und Wirtschaftsmodells Anteil an den Segnungen des Kapitalismus versprach. Was hatte Boris El’cin erreicht, als er 1999 von der politischen Bühne abtrat? Auf der institutionellen Ebene ist die Wende vollzogen worden. An die Stelle der Verfassung der UdSSR von 1977 (sinngemäß auch die der RSFSR), die der KPdSU die führende Rolle in Staat und Gesellschaft zugeschrieben hatte, trat eine neue Verfassung der Russländischen Föderation, die am 12. Dezember 1993 in einer Volksabstimmung von einer knappen Mehrheit gutgeheißen wurde. Sie proklamierte erstmals in der Geschichte Russlands Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, einen echten Föderalismus, Meinungsfreiheit und Parteienpluralismus, ferner die Unverletzlichkeit des Privateigentums und freien ökonomischen Wettbewerb. Ein Zweikammersystem aus einer direkt gewählten Staatsduma und einem Föderationsrat, der die 89 Regionen vertrat, bildete die parlamentarische Basis des Systems. Der Staatspräsident, vom Volk direkt gewählt, nahm innerhalb des neuen Systems eine zwar dominante, aber keine 7 Strukturanalyse des politischen Systems zur Zeit El’cins nach Wolfgang Merkels Mehrebenenmodell bei Wiederkehr, Stefan: Russland – Das Legitimitätsdefizit des politischen Systems als Hindernis der ökonomischen Transformation, in: Carsten Goehrke/Seraina Gilly (Hg.): Transformation und historisches Erbe in den Staaten des europäischen Ostens, Bern 2000, S. 43–120.

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entscheidende Stellung ein (»semipräsidentielles System«). Dies führte dazu, dass in der praktischen Politik Parlament, Regierung und Präsident sich immer wieder gegenseitig blockierten. Dass das neue politische System eher schlecht als recht funktionierte, hing aber auch mit anderen Faktoren zusammen: Wegen des siebzigjährigen Hiatus zwischen den Parteien der Zarenzeit und den 1990er Jahren waren die neuen Parteien schwach, in der Bevölkerung kaum verankert und stark personenzentriert. Ein Gleiches gilt für die Rolle von Verbänden und Gewerkschaften. Wegen des Mangels an reformgesinnten Persönlichkeiten konnten sich in Regierung, Parlament und Parteien viele Angehörige der ehemaligen kommunistischen Nomenklatura breitmachen. Dies alles verlieh dem neuen politischen System ein hohes Maß an Konflikthaftigkeit, Zerbrechlichkeit und Labilität. Doch was als wohl größte – im Kern bereits in Gorbačëvs Pere­stroika wurzelnde – Errungenschaft zunächst blieb, war die Medienfreiheit, die Vergleiche mit dem Westen nicht zu scheuen brauchte und ein wichtiges Vehikel bildete, um die Öffentlichkeit politisch zu sensibilisieren. Die große Mehrheit der Bevölkerung maß die Ergebnisse der »Wende« jedoch nicht an den politischen Errungenschaften, sondern an den Resultaten für ihr eigenes Wohlergehen, und da sah die Bilanz schon in der Mitte des Jahres 1992 katastrophal aus. Mit einer Schocktherapie, die darauf setzte, dass eine weitgehende Freigabe der Preise durch das Einpendeln von Angebot und Nachfrage automatisch eine Marktwirtschaft generieren würde, sollte die russische Wirtschaft auf neue Grundlagen gestellt werden. Dabei hatte man aber nicht bedacht, dass diese größtenteils immer noch aus Staatsmonopolen bestand und daher gegenüber den neu gegründeten privaten Klein- und Mittelbetrieben über erhebliche Wettbewerbsvorteile verfügte. Zudem vermochten geschäftstüchtige Jungunternehmer durch Aufkauf von Volksaktien und Devisenspekulation zu »Oligarchen« aufzusteigen, die einen immer größeren Anteil am Wirtschaftskuchen Russlands an sich rafften, insbesondere im Öl- und Rohstoffsektor. Dass Boris El’cin seine knappe Wiederwahl im Jahre 1996 ganz wesentlich ihrer finanziellen Unterstützung verdankte, vergrößerte ihre politischen und wirtschaftlichen Spielräume. Da weder der Staat noch die verschiedenen, erbittert miteinander ringenden wirtschaftlichen Akteure in der Lage waren, eine geordnete Transformation des ökonomischen Systems sicherzustellen, baute sich ein Chaos auf, das den Übernamen »Raubtierkapitalismus« geboren hat. Die Rechnung zahlte das Volk. Zwar wurde die Schocktherapie bereits nach wenigen Monaten abgebrochen, doch nach der Hyperinflation von 1992 bis 1994 war es schließlich die finanzielle Bankrotterklärung des hoffnungslos überschuldeten Staates im August 1998, die gerade den neu entstehenden Mittelstand seiner bislang

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erarbeiteten Wertschöpfung beraubte und die Masse des Volkes in Armut stürzte. Angesichts dessen mussten der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung die plakativen Begriffe Marktwirtschaft und Demokratie wie Hohn erscheinen; diesen kam in Russland bis zum Ende der 1990er Jahre die breite Akzeptanz abhanden. Als Boris El’cin am Ende des Jahres 1999 zurücktrat, hinterließ er einen innerlich weitgehend zerrütteten Staat, der sich sowohl auf der realen politischen als auch auf der ökonomischen Ebene als Zwitter aus überkommenen sowjetischen Strukturen und neuen demokratischen und marktwirtschaftlichen Elementen präsentierte. Wenn eine wirkliche »Wende« bei den Transformationsversuchen nicht gelang, obgleich anfänglich offenbar eine knappe Mehrheit der Bevölkerung dies wünschte, so hing dies zum Ersten damit zusammen, dass die russische Wirtschaft sich bereits seit Gorbačëv im Krisenmodus befand. Zum Zweiten war die ökonomische Schocktherapie ein in dieser Situation völlig falscher Ansatz. Zum Dritten schließlich fehlten El’cin nicht zuletzt auch wegen seiner gesundheitsbedingten häufigen Absenzen ein schlüssiges politisches Gesamtkonzept und die Fähigkeit zu dessen Durchsetzung. Von Vladimir Putin, den El’cin selber zu seinem Nachfolger aufgebaut hatte, erwartete die Bevölkerung vor allem eines: geordnete Verhältnisse und Sicherheit. Als ehemaliger Geheimdienstoffizier vermochte Putin dies zu bieten. Jedoch zählte er nicht zu den reaktionären Kräften, die wieder zu den sowjetischen Verhältnissen zurückkehren wollten, sondern was ihm anfänglich offenbar vorschwebte, war ein starker Staat, der sich im Prinzip zwar auf die neu geschaffenen Strukturen stützen, aber autoritativer auftreten sollte. Im Laufe seiner mittlerweile bald zwanzigjährigen Tätigkeit an der Spitze der Russländischen Föderation – sei es als Staats-, sei es als Ministerpräsident – hat er dieses Ziel beharrlich verfolgt, ja mehr und mehr ausgeweitet, bis er schließlich Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Medien auf seine Person und die von ihm verfolgte Politik ausgerichtet hat. El’cins semipräsidentielle Demokratie hat er in eine gelenkte Präsidialdemokratie mit autoritären Zügen umgestaltet, die sich auf eine fast vollständige Beherrschung der Medien, eine staatshörige Justiz, teilmanipulierte Wahlen, die Bevorzugung einer Putin hörigen Staatspartei und die Besetzung aller wichtigen Positionen im Staatsapparat, in den Sicherheitsorganen und an den Schaltstellen der Wirtschaft mit loyalen Funktionsträgern stützt. Diese »Vertikale der Macht«, wie das System sich selbstbewusst benannt hat, garantiert die Kontrolle über alle relevanten Bereiche der Gesellschaft nicht weniger strikt als in sowjetischen Zeiten. Ein Großteil der Wirtschaft wurde in Gestalt staatsnaher Konzerne staatskapitalistisch umgepolt, die Oligarchen, die sich nicht in die Vertikale der Macht einfügen wollten, enteignet, zur Flucht ins

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Ausland gezwungen oder vor Gericht gestellt. Private Klein- und Mittelbetriebe können sich zwar nach wie vor behaupten, haben aber kaum Chancen, ihr kreatives Potenzial voll auszuschöpfen; dies deshalb nicht, weil sie sich zwischen dem Hammer des korrupten Staatsapparates auf der einen und dem Amboss der privilegierten staatsnahen Großbetriebe auf der anderen Seite ganz auf das Überleben konzentrieren müssen.8 Putins »Vertikale der Macht« garantiert der neuen herrschenden Schicht zwar Sicherheit und Profit. Sie hat zugleich aber auch alle Bereiche der Gesellschaft mit einem Ausmaß an Korruption durchdrungen, welches das der Zaren- wie der Sowjetzeit weit übersteigt. Von den Ministern bis hinunter zum Verkehrspolizisten versucht jeder Funktionsträger den Spielraum seiner Macht auszunutzen, um sich persönlich zu bereichern. In wirtschaftlicher Hinsicht fehlen dem Putin-Regime zukunftsträchtige Entwicklungskonzepte.9 Bislang beschränkt es sich wie schon zur Zarenzeit und Sowjetzeit primär auf die Ausbeutung und den Export von Rohstoffen. Dies macht die Wirtschaft extrem abhängig vom Steigen und Fallen des Ölpreises auf den Rohstoffmärkten. Wie die privaten Klein- und Mittelbetriebe zeigen, wären gut ausgebildete und innovative Fachkräfte zwar vorhanden, um die Wirtschaft weiterzuentwickeln und auf internationale Konkurrenzfähigkeit zu trimmen, aber dies hätte staatlichen Kontrollverlust zur Folge, und davor schreckt die Staatsführung zurück. Dass die Wirtschaft in ihrer derzeitigen Performance immer weniger die finanziellen Bedürfnisse des Staates zu decken vermag, der seine anspruchsvollen internationalen Engagements, seine Aufrüstung und die immensen Rentenlasten schultern muss, zeigt sich am sinkenden Lebensstandard der Bevölkerung. Wie ernst die Lage ist, ist daran zu erkennen, dass das Regime kürzlich mit der (absolut notwendigen) drastischen Erhöhung des Rentenalters versucht hat, Ballast abzuwerfen, obgleich seine Popularität dadurch massiv gelitten hat. Aber statt die Wirtschaftspolitik neu auszurichten, setzt das Regime auf die Selbstinszenierung Putins als des starken Mannes aus dem Volk, eines Man8 Schon gegen Ende der El’cin-Jahre ergab eine Umfrage, die Nicolas Oesinger unter russischen Klein- und Mittelunternehmern durchgeführt hat, dass diese als größtes Hindernis für ihre Entfaltung den Staat bezeichneten, siehe Oesinger, Nicolas: Zwischen Stühlen und Bänken. Die Entstehung neuer, kleiner und mittlerer privater Unternehmen in der Russländischen Föderation, Lizentiatsarbeit Universität Zürich 2000. 9 Dazu und zu den derzeitigen Problemen der Wirtschaft Russlands vgl. Movčan, Andrej: Russlands Volkswirtschaft 2016. Fundamentaldaten einer fundamentalen Krise, in: Osteuropa 66 (2016) 5, S. 33–49, insbesondere S. 38 f.

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nes »nicht anders als du und ich« und auf seine darin wurzelnde Popularität. Dazu hat beigetragen, dass Putin Russland als starke Großmacht wieder auf den Schauplatz der internationalen Politik zurückgeführt hat, nachdem es zur Zeit El’cins vom Westen abschätzig behandelt und gedemütigt worden war und sich als Opfer einer Einkreisungspolitik der Nato wahrnahm. Zur populistischen Strategie des Regimes gehören auch die Rückbesinnung auf Glanz und nationale Größe der Zarenzeit, ferner die wiedergewonnene staatstragende Rolle der orthodoxen Kirche, die aus ihren historischen Erfahrungen ebenso wenig gelernt hat wie das Regime selber. Die staatliche Strategie der Ablenkung von den wachsenden inneren Schwierigkeiten stützt sich aber auch auf den Aufbau eines öffentlichen Feindbildes, das den Westen generell und die USA insbesondere als moralisch verkommen und als militärische Bedrohung inszeniert. Dies alles aber ist ein Spiel auf Zeit, dessen Ausgang für das Regime sich im Ungewissen verliert. Wie lässt sich dieses von Putin geschaffene System in die Geschichte Russlands einordnen? Zum einen hat sich an der Fixierung der russischen Gesellschaft auf den Staat, die sich seit der Formierung der Autokratie in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts beobachten lässt, nichts geändert. In diesem System ist der Staat respektive die herrschende Schicht das zentrale Agens in der Politik. Wer nicht zum Zirkel der Macht gehört, hat kaum Spielraum für politische Initiativen. Dies hat im Laufe der Geschichte dazu geführt, dass die Masse der Gesellschaft sich daran gewöhnt hat, nichts zu unternehmen, was nicht von oben angeordnet wird, aber umgekehrt auch, von oben alles zu erwarten. Dabei zeigt sich auch heute noch das auffällige Paradox, dass man auf der einen Seite all seine Hoffnungen und Erwartungen auf die Person an der Staatsspitze richtet – gleich ob Zar, Stalin, El’cin oder Putin –, dass man jedoch auf der anderen Seite dem von dieser Person repräsentierten Staat als solchem zutiefst misstraut.10 Diese Inkonsequenz wurzelt meiner Meinung nach in der historischen, wenngleich subjektiven Erfahrung, dass alles Schlechte immer von oben kommt, aber auch in dem nach wie vor starken Bildungsgefälle zwischen Stadt und Land. Weil der wenig gebildeten Provinzbevölkerung das Minenfeld der Politik zu 10 Laut einer Umfrage des Moskauer Levada-Instituts vom Oktober 2011 setzte gut die Hälfte der Befragten ihr volles Vertrauen in Vladimir Putin, nur 9 Prozent sprachen ihm ihr volles Misstrauen aus. Demgegenüber genossen Parteien, Parlament, Gewerkschaften, Großunternehmen, Banken, Polizei, Justiz und lokale Behörden so gut wie keinen Kredit, siehe Gudkov, Lev: Sozialkapital und Werteorientierung. Moderne, Prämoderne und Antimoderne in Russland, in: Auge auf! Aufbruch und Regression in Russland, Osteuropa 62 (2012) 6–8, S. 55–83, hier S. 65.

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kompliziert erscheint, neigt sie zu politischem Schwarz-Weiß-Denken und setzt auf Persönlichkeiten, die Autorität ausstrahlen und scheinbar einfache Lösungen anbieten. Ein ähnliches Phänomen lässt sich derzeit in den Vereinigten Staaten von Amerika um Donald Trump beobachten. Dass Russland bis weit in das 20. Jahrhundert hinein eine Agrargesellschaft war, hat die Mentalität nicht nur mit politischer Passivität geimpft, sondern auch das egalitaristische Denken zementiert. Weil die Bauern in der Frühen Neuzeit dazu übergegangen waren, das Ackerland ihrer Gemeinde periodisch nach Familiengröße neu zu verteilen, achteten sie argwöhnisch darauf, dass niemand aus der Reihe tanzte, um als »Kulak« zu mehr Geld zu kommen. Da die sowjetische Ideologie diesem Gleichheitsdenken entgegenkam, vermochte es nach der Kollektivierung mit dem Einströmen der Bauern in die Fabriken auch in der sowjetischen Industriegesellschaft Fuß zu fassen. Diese Mentalität macht es sogar heute noch privaten Unternehmen schwer, sich gegen das ihnen entgegengebrachte Misstrauen durchzusetzen.11 Missgunst und Neid gegenüber Tüchtigen und Initiativreichen zählen in Russland – ganz anders als etwa in China – zu den mentalen Bremsen der ökonomischen Entwicklung. Mit Russlands verspätetem Start in die Industriegesellschaft und der verzögerten Urbanisierung hängt auch die Schwäche der Zivilgesellschaft zusammen. Nach vielversprechenden Anfängen in der späten Zarenzeit ging sie in der Sowjetzeit unter und vermochte sich zögerlich erst wieder seit den 1960er Jahren neu zu formieren. Ihren Höhepunkt erlebte sie in der Zeit Michail Gorbačëvs und Boris El’cins, wurde aber unter Vladimir Putin nach vorübergehendem Aufflammen von Massenprotesten vor allem im Jahre 2012 wieder zunehmend unterdrückt. Nach Einschätzung einer russischen Forscherin lässt sich die politische Aufgeschlossenheit der Bevölkerung in drei etwa gleich große Teile abstufen: Ein eher reformbereites Drittel der Gesellschaft konzentriert sich in den Millionen- und Großstädten des Landes, allen voran in Moskau und St. Petersburg. Dieses Drittel stellt den Kern einer neuen Mittelschicht, die einen Wertewandel durchmacht und politische Veränderungen wünscht. Das zweite Drittel bilden die mittelgroßen Industriestädte, die noch stark sowjetisch geprägt sind. In ihnen ballen sich die größten wirtschaftlichen und sozialen Probleme. Ihre Einwohnerschaft ist weitgehend staatsgläubig, weil sie auf die von oben fließenden Subventionen angewiesen ist. Der Rest der Bevölkerung ent11 In der erwähnten Umfrage vom Oktober 2011 bevorzugte immer noch fast die Hälfte der Befragten eine Staats- und nur gut ein Drittel eine Marktwirtschaft unter Einbezug privater Unternehmen, siehe ebd., S. 74. Dass der Anteil der »Marktwirtschaftler« gegenüber dem Jahre 2001 um 6 Prozent zugenommen hat, lässt für die Zukunft vielleicht hoffen.

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fällt auf das »periphere« Russland der Kleinstädte und Dörfer, das noch völlig patriarchalisch geprägt ist.12 Derzeit dominiert also eindeutig noch die staatsgläubige und veränderungsresistente Mentalität. Solange die Staatsgläubigkeit vorherrscht, fehlt in der Öffentlichkeit auch das Vertrauen darauf, dass allein aus der Mitte der Zivilgesellschaft heraus ein neues tragfähiges politisches System aufgebaut werden könnte. Wie die Massenproteste gegen die Vertreter des Staates in der westsibirischen Stadt Kemerovo gezeigt haben, wo bei dem Großbrand des Einkaufszentrums »Winterkirsche« vom 25. März 2018 41 Kinder und 19 Erwachsene ums Leben kamen, weil Brandschutzmaßnahmen fehlten und die Feuerwehr versagte, schwelt in der Bevölkerung ein erhebliches Unmutpotenzial. Aber gegen den Riesenkraken Staat mit seinen bis weit hinab sich verästelnden Tentakeln anzukämpfen, wagt kaum jemand. »Ist die russländische Gesellschaft reif für die Modernisierung?«, lautete eine Umfrage des Soziologischen Instituts der Russländischen Akademie der Wissenschaften aus dem Jahre 2010. Das Gesamtergebnis präsentiert sich zwiespältig. In Bezug auf die Möglichkeiten persönlichen Engagements fielen die Antworten erwartungsgemäß eher negativ aus, für die große Mehrheit der Befragten sollte der Staat alle Probleme lösen.13 Diese Mentalität hat sich im August 2018 erneut an den Massenprotesten gegen die bereits erwähnte, von Putin persönlich gerechtfertigte und sachlich begründete Erhöhung des im internationalen Vergleich niedrigen Rentenalters gezeigt. Das Volk will vom Staat gefüttert werden. Da dieser ihm aber echte politische Mitverantwortung verweigert, kann er von den Menschen auch nicht erwarten, dass diese selbst sachlich begründete Opfer widerspruchslos zu tragen bereit sind. Dafür, dass die Bereitschaft, Demokratie zu wagen, derzeit so gering ist, dürfte es wohl vor allem eine Erklärung geben: Die Traumata des blutigen Bürgerkriegs von 1917 bis 1921 und des chaotischen Jahrzehnts unter Boris El’cin sind unvergessen. Damals waren beide Versuche, Demokratie zu wagen, gescheitert. Daher hat die historische Erfahrung die russische Öffentlichkeit gelehrt, dass sie scheinbar nur zwischen zwei entgegengesetzten Polen wählen kann: entweder Chaos oder autoritärer Staat. Dass das Staatsverständnis der russischen Gesellschaft sich von dem des Westens grundlegend unterscheidet, verrät bereits die Terminologie. Während 12 Zubarevič, Natal’ja: Russlands Parallelwelten. Dynamische Zentren, stagnierende Peripherie, in: Osteuropa 62 (2012) 6–8, S. 263–278. 13 Gorškova, M.K. et al. (Hg.): Gotovo li rossijskoe obščestvo k modernizacii?, Moskva 2010, insbesondere S. 326.

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in Lateineuropa die Bezeichnung für Staat (englisch state, französisch état) dem lateinischen status entlehnt ist14 und damit wertneutral eine gegebene Ordnung oder einen gegebenen Zustand markiert, leitet sich das russische gosudarstvo vom Herrscher (gosudar’) her, bezeichnet also eine persönliche Herrschaft. Doch wird dieses abstrakte Kunstwort in der Umgangssprache nicht gebraucht, vielmehr heißen Staat und Staatselite dort »Macht« (vlast’) oder »Mächte« (vlasti). Wer aber den Staat als »Macht« und die Staatselite als »Machthaber« bezeichnet, der sieht sich selbst als »macht-los«. Richtet man den Blick auf die Herrschenden, so zeigt sich auch dort ein vertrautes Bild: Ob Zaren, Sowjet- oder Putin-Regime – sie alle wurden und werden beherrscht von der Angst vor Kontrollverlust über Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Gerechtfertigt wird dies mehr oder minder offen damit, dass sonst das Chaos ausbrechen würde. Diese Gesinnung geht von der politischen Unmündigkeit der Gesellschaft aus. Solange die Mehrheit der Gesellschaft diese Einschätzung teilt, wird sich in Russland aber nichts ändern. Ich gebe zu, dass dies ein Urteil aus demokratisch-rechtsstaatlicher Perspektive ist. Die Adlaten des Putin-Regimes rechtfertigen das derzeitige politische System demgegenüber mit der These, dass Russland unabhängig von Europa seine eigenen Werte entwickelt habe und daher mit westlichen Maßstäben nicht gemessen werden dürfe.15 Betreten wir zum Schluss noch die internationale Bühne. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihres Imperiums war der »Kalte Krieg« – der Wettstreit der Systeme – mit einem scheinbaren Sieg des Westens zu Ende gegangen. Mich dünkt aber, dass wir uns heute wieder in einem neuen Kalten Krieg befinden, der (noch) nicht so genannt wird, aber in der derzeitigen offenen Konfrontationspolitik zwischen Russland und insbesondere den USA deutlich zum Ausdruck kommt. Ausgetragen wird dieser Kalte Krieg nicht mehr als Wettstreit zwischen zwei ideologischen Systemen, sondern zwischen zwei Großmächten, die um eine führende Position auf der Bühne der Weltpolitik ringen. Als Mittel zum Zweck dienen gegensätzliche internationale Interventionsstra14 Anders jedoch das polnische państwo: Diese Staatsbezeichnung ist bereits im frühen 16. Jahrhundert nachgewiesen und nimmt Bezug auf die Adelsherrschaft nach der Devise państwo to my – szlachta (»der Staat«, wörtlich: »die Herrschaft der Herren, das sind wir – der Adel«). Diese ältere Staatsbezeichnung wurde später aber überlagert vom Terminus Adelsrepublik, siehe Bem-Wiśniewska, Ewa: Funkcjonowanie nazwy Polska w języku czasów nowożytnych (1530–1795), Warszawa 1998, S. 154–156. 15 Laut der erwähnten Umfrage vom Oktober 2011 ist der Anteil der Anhänger eines politischen Systems nach westlichem Vorbild zwischen 1996 und 2011 von 28 auf 20 Prozent abgestürzt, siehe Gudkov: Sozialkapital, S. 74.

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tegien, wechselseitige Sanktionen, Drohungen, die Wiederaufnahme russischer Giftattacken auf abtrünnige Spione und von Seiten russischer »Trollfabriken« Cyberangriffe auf das Internet der USA und anderer missliebiger Staaten. Damit ist Russland wie schon zu Sowjetzeiten aus westlicher Sicht erneut zum internationalen »Bösewicht vom Dienst« avanciert. Zieht man aus den genannten Beobachtungen eine Bilanz, so lässt sich feststellen, dass Russland seit der Zarenzeit enorme Entwicklungsschübe durchlaufen hat – technologisch, im Bildungsbereich, auf medizinischem und naturwissenschaftlichem Gebiet, in der sozialen Grundsicherung. Aber es hat seine gewaltigen natürlichen Ressourcen und sein hochentwickeltes Humankapital immer noch nicht hinreichend genutzt, um die Wohlstandsgesellschaft zu schaffen, die es im Vergleich mit westlichen Gesellschaften eigentlich haben müsste. Warum nicht? Weil es der Staat und die staatsfixierte Gesellschaft sind, die einer solchen Entwicklung im Wege stehen. Dieser historisch gewachsene, wechselseitig sich bedingende Unheilszirkel zwischen Staat und Gesellschaft hat eine Zähigkeit entwickelt, die offensichtlich schwer aufzubrechen ist.16 Doch solange dies nicht gelingt, kann von einer tiefgreifenden Wende in der Geschichte Russlands nicht die Rede sein.

Ungarn Die Magyaren, die sich am Ende des 9. Jahrhunderts als Spätankömmlinge nichtindoeuropäischer Zunge im mittleren Donaubecken niedergelassen hatten, vermochten als kriegsgewohnte Reiternomaden unter den Arpaden ein eigenes Reich aufzubauen, das weit über das eigene Kernland hinausgriff und bis zum Ende des Mittelalters als Vielvölkerstaat mehr oder minder Bestand hatte. Während der Türkenzeit dreigeteilt, erlebte es seit dem frühen 18. Jahrhundert – in Personalunion mit dem Habsburgerreich verbunden – eine neue Konsolidierung, allerdings unter Beschränkung seiner Souveränität. Erst der österreichisch-ungarische »Ausgleich« von 1867 – eine Spätfolge des ungarischen Aufstands von 1848/49 – teilte das Habsburgerreich zwischen Deutsch-Österreichern und Magyaren als den politischen Trägernationen auf und machte die Ungarn wieder zu Herren im eigenen Haus. Das Aufkommen des Nationalismus im 19. Jahrhundert verwandelte jedoch das eher unproblematische Neben16 Dazu näher Goehrke, Carsten: Russland. Eine Strukturgeschichte, Paderborn/Zürich 2010, insbesondere S. 235–237.

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einanderleben von Magyaren, Rumänen, Kroaten, Slowaken und Deutschen zunehmend in Nationalitätenkonflikte. Da die Magyaren innerhalb ihrer Reichshälfte als Ethnie in der Minderheit waren, betrieb ihre Führung, um die Vorherrschaft des eigenen Ethnos zu erreichen, eine Politik gezielter Magyarisierung.17 Das Prinzip nationalungarischer Hegemonie und Identität war für alle magyarischen Parteien ein »kategorischer Imperativ«.18 Nicht zuletzt auf diesem Wege gelang es, den Anteil der Magyarischsprachigen im eigenen Reichsteil von 41,6 Prozent (1850) auf 54,5 Prozent (1910) zu steigern.19 Es verwundert daher nicht, dass nach der Niederlage Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg und der darauffolgenden politischen Neuordnung keine nichtmagyarische Nation in einem Staatsverband mit Ungarn verbleiben wollte. Der Friede von Trianon (1920), der Ungarn territorial auf den Sprachkern der Magyaren reduzierte und überdies Millionen Angehörige des eigenen Volkes jenseits der neuen Grenzen in Rumänien, der Tschechoslowakei und Jugoslawien beließ, begründete in Ungarn ein kollektives Trauma, das bis heute nicht überwunden ist und sich bei Bedarf immer wieder zu innenpolitischen Zwecken instrumentalisieren lässt. Der neue magyarische Rumpfstaat (»Trianon-Ungarn«) startete generell unter ungünstigsten Bedingungen. Eine demokratische Tradition unter Beteiligung des gesamten Volkes bestand nicht, da die ungarische Reichshälfte bis 1918 nur das Zensuswahlrecht praktiziert hatte, in dessen Genuss im Jahre 1901 ganze 6,9 Prozent der Bevölkerung (insbesondere Adel und Besitzbürgertum) kamen. Ökonomisch war der ungarische Reichsteil hinter dem österreichischen stark zurückgeblieben – zum einen wegen der führenden Rolle der adligen Großgrundbesitzer, zum anderen weil ihm innerhalb der Doppelmonarchie die Rolle des Lieferanten von Agrarprodukten und Rohstoffen zugefallen war. Daher blieben Urbanisierung und Industrialisierung bescheiden. Unter diesen Umständen und im Chaos des Zusammenbruchs war der Versuch Graf Mihály Károlyis, Grundlagen für einen demokratischen Rechtsstaat zu schaffen, zum Scheitern verurteilt. Vielmehr folgte von März bis August 1919 das entgegengesetzte Experiment einer Räterepublik, das in einem blutigen Bürgerkrieg endete. Die Macht über Trianon-Ungarn sicherte sich unter »Reichsverweser« Admiral Miklós Horthy erneut die alte, vor allem von Adel und Militär verkörperte Elite, während zahlreiche Angehörige nicht nur der Linken, sondern auch der libe17 Kann, Robert A.: Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie, I. Das Reich und die Völker, 2. erweiterte Aufl., Graz/Köln 1964, S. 135–138. 18 Katus, Lászlo: Die Magyaren, in: Die Habsburgermonarchie 1848–1918, III, 1, Wien 1980, S. 411–488, hier S. 471 f. 19 Klimó, Arpád von: Ungarn seit 1945, Göttingen 2006, S. 169.

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ralen und linken Mitte das Land verließen. An Politik, Besitzverhältnissen und Sozialstruktur änderte sich daher wenig. Trianon-Ungarn war ein autoritärer Klassenstaat, der zwar ein starkes Parlament hatte, doch nur einer Minderheit der Bevölkerung das Wahlrecht zugestand und die Unterschicht von der politischen Teilhabe ganz ausschloss. Erst 1938 wurde die geheime Wahl eingeführt und immerhin 41 Prozent der Bevölkerung das Stimmrecht zugestanden. Der Großgrundbesitz blieb weitgehend unangetastet, fast ein Drittel der Bevölkerung stellten Landarbeiter und Hausgesinde, die Mehrheit der Landwirte setzte sich aus Zwerg- und Kleinbauern zusammen. Die Wirtschaft hatte große Mühe, die Umstellung vom großen Markt des Habsburgerreiches auf den neuen Binnenmarkt eines Kleinstaates zu bewältigen. Die Landwirtschaft stagnierte, während die Industrialisierungsanstrengungen der Regierung zumindest bescheidene Früchte trugen. Allerdings konzentrierte sich die Industrie weitgehend auf Budapest, das mit seiner linken Arbeiterschaft, mit seinem aufgeblähten Beamtenapparat, seinem größtenteils jüdisch geprägten Besitz- und Bildungsbürgertum20 und seinem frustrierten akademischen Proletariat, das zu wenig Berufsmöglichkeiten fand, sozial fragmentiert blieb und kein eigentliches Bürgertum ausbilden konnte. Zudem dominierte es wie ein sozialökonomischer Wasserkopf den Kleinstaat. Soziale Spannungen, Antisemitismus und ideologische Konflikte zwischen Liberalen, Christlich-Nationalen und Rechtsradikalen nahmen vor allem nach der Weltwirtschaftskrise massiv zu. In dieser Situation schien eine Annäherung an Hitler-Deutschland die Möglichkeit zu eröffnen, durch eine Revision des Trianon-Vertrages von 1920 den Staat zu stabilisieren.21 Doch auch diesmal hatte die ungarische Führung auf das falsche Pferd gesetzt. Der zum Schluss noch faschistisch gewordene ungarische Traditionsstaat ging 1945 an der Seite Hitler-Deutschlands unter. Hoffnungen ungarischer Nationalkommunisten, Stalin werde an der Pariser Friedenskonferenz von 1947 die Grenzen Ungarns weiter ziehen, um die über 2 Millionen Magyaren in Rumänien, der Tschechoslowakei, in Jugoslawien und der Karpato-Ukraine »heimzuholen«, scheiterten am Widerstand der Nachbar20 Konrád, Miklós: The Social Integration of the Jewish Upper Bourgeoisie in the Hungarian Traditional Elites. A Survey of the Period from the Reform Era to World War I, in: Hungarian Historical Review 3 (2014), S. 818–849, hier S. 819; Katus: Die Magyaren, S. 465. 21 Zum Bisherigen eingehender: Kann, Robert A.: Geschichte des Habsburgerreiches 1526– 1918, 3. Aufl., Wien 1993; Bogyay, Thomas von: Grundzüge der Geschichte Ungarns, 4. überarbeitete Aufl., Darmstadt 1990; Sugar, Peter F. (Hg.): A History of Hungary, London/New York 1990; Crampton, R.J.: Eastern Europe in the Twentieth Century, London/New York 1994, S. 78–94 (Zwischenkriegszeit).

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staaten, so dass auch das kommunistisch gewordene Ungarn mit den Vorkriegsgrenzen leben musste.22 Die neuen sowjetischen Herren begnügten sich nach Kriegsende zunächst damit, über das Innenministerium die Polizei und die Geheimpolizei zu kontrollieren, und ließen 1945 erstmals in der ungarischen Geschichte relativ freie, allgemeine und geheime Wahlen für beide Geschlechter zu. Doch die absolute Mehrheit der Stimmen ging an die Kleinlandwirtepartei, während die Kommunisten auf ganze 17 Prozent kamen. Aber auch in den nächsten, bereits manipulierten Wahlen von 1947 ernteten sie lediglich 22,3 Prozent.23 Damit war klar, dass die Sozialistische Arbeiterpartei Ungarns nur mit sowjetischer Unterstützung und gewaltsam die volle Macht erringen würde. Da 1947 der Kalte Krieg zwischen Ost und West in Fahrt kam, konnte die UdSSR nunmehr die Maske fallen lassen und den ungarischen Satellitenstaat unter ihrem Platzhalter Mátyás Rákosi nach dem Vorbild der stalinistischen Sowjetunion umformen. Stalins Tod nötigte Rákosi als Premierminister Imre Nagy zu berufen, der als Exponent eines national gesinnten Reformkommunismus das Regime aufzulockern begann, bevor er 1955 wieder gestürzt wurde. Doch als Chruščëvs Entstalinisierung den Budapester Aufstand vom Oktober 1956 auslöste, setzte Nagy sich erneut an die Spitze der Bewegung, diesmal mit dem Ziel staatlicher Unabhängigkeit und größerer innerer Freiheiten, ohne dass allerdings ein Konzept für einen generellen Systemwechsel erkennbar gewesen wäre. Der Aufstand wurde von breiten Kreisen der Bevölkerung, insbesondere Arbeitern, aber auch Teilen der Armee getragen. Nach seiner Niederschlagung durch sowjetische Interventionstruppen und der anschließenden brutalen Abrechnung mit seinen Aktivisten versank das Land in Lethargie. Der neue kommunistische Parteichef János Kádár suchte die Parteiherrschaft dadurch zu stabilisieren, dass er Loyalität gegenüber Moskau mit einer konsumorientierten Wirtschaftspolitik (»Gulaschkommunismus«) und innenpolitischem Pragmatismus verband, der es vermied, die Bevölkerung zu provozieren. Dazu zählten auch zunehmende Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen. In der Ära Gorbačëv wurde Ungarn daher nicht zufällig nach Polen zu einem der ersten Protagonisten eines offenen Reformkommunismus. Schon 1987 und 1988 begannen sich unter den Intellektuellen liberale Zirkel zu bilden, die über Ungarns politische Zukunft debattierten.24 22 Fejtö, François: Die Geschichte der Volksdemokratien, I. Die Ära Stalin 1945–1953, Graz 1972, S. 130–132. 23 Klimó: Ungarn, Tab. S. 62. 24 Goldman, Minton F.: Revolution and Change in Middle and Eastern Europe. Political, Economic, and Social Challenges, New York/London 1997, zu Ungarn S. 181–218, hier S. 188 f.

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Im Februar 1989 flammten Diskussionen um die Bedeutung des Aufstandes von 1956 in aller Öffentlichkeit wieder auf, im Mai begann man schrittweise mit dem Abbau des »Eisernen Vorhangs«, zugleich wurde die KP aus der Regierung entfernt, am 16. Juni gedachte man in einem offiziellen Staatsakt des 31. Jahrestages der Hinrichtung Imre Nagys, am 29. September wurde eine neue Verfassung verabschiedet und am 23. Oktober die demokratische und parlamentarische Republik Ungarn ausgerufen. Die neuen Regierungen, die durch wechselnde Koalitionen zustande kamen, machten sich konsequent daran, Ungarn in einen demokratischen Rechtsstaat umzuwandeln und die Marktwirtschaft einzuführen. Der Bevölkerung verlangte dies schwere Opfer ab. 1999 trat Ungarn der Nato bei und 2004 der Europäischen Union, nachdem sich bei einer Volksabstimmung 83,8 Prozent dafür ausgesprochen hatten. Bei den erstmals freien Parlamentswahlen von 1990 hatte die Ungarische Sozialistische Partei ganze 10,9 Prozent der Stimmen erhalten, während die Systemerneuerer, das bürgerliche Ungarische Demokratische Forum auf 24,7, der linksliberale Bund Freier Demokraten auf 21,4 und die ehemals dominierende Kleinlandwirtepartei auf 11,7 Prozent gekommen waren. Mit 8,9 Prozent eine marginale Rolle spielte im Verein mit der Bürgerpartei damals noch der Bund Junger Demokraten (Fidesz) von Viktor Orbán. Aber schon bei den Wahlen von 1994 schichtete sich die Zusammensetzung des Parlaments vollständig um. Die 1990 so starken demokratischen Mitteparteien und die Kleinlandwirtepartei versanken bis 2002 in der Bedeutungslosigkeit, weil die meisten ihrer Wähler zu nur noch zwei etwa gleich starken Parteien überliefen: zu der nach ihrer Reformierung wiedererstarkten Ungarischen Sozialistischen Partei mit 42 auf der einen und der Fidesz mit 41,1 Prozent auf der anderen Seite.25 Was steht hinter dieser rapiden politischen Polarisierung? Daran zeigte sich, dass die Mehrheit der ungarischen Wählerinnen und Wähler mit den eher abstrakten und breitgestreuten liberalen Programmen westlich orientierter Mitteparteien wenig anzufangen wusste und sich daher an ihnen eher vertrauten konkreten Parolen orientierte – einerseits sozialdemokratisch-sozialistischen und andererseits an konservativ-nationalen. Exemplarisch verkörpert diese Wendung der neue Politstar Ungarns, Viktor Orbán, der Begründer von Fidesz. Angetreten noch mit langen Haaren und Bart als junger Vorkämpfer für eine liberale Erneuerung Ungarns, registrierte er mit feinem Gespür, dass dem Liberalismus in seinem Land keine Zukunft beschieden sein würde, und machte seine Partei durch einen radikalen Kurswechsel mit nationalungarischen und christlich-konservativen 25 Klimó: Ungarn, Tab. S. 65.

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Parolen auf Kosten der politischen Mitte zu einem außerordentlich erfolgreichen Sammelbecken der meisten Nichtsozialisten.26 Schon von 1998 bis 2002 erstmals Ministerpräsident und unangefochtener Anführer des bürgerlichen Lagers, errang Orbán bei den Wahlen von 2010 zusammen mit seinem Bündnispartner, der Christlich-Demokratischen Volkspartei, mit 52,7 Prozent erstmals die absolute Mehrheit der Stimmen und die für eine Verfassungsänderung notwendige Zweidrittelmehrheit im Parlament. Da auch die rechtsradikale Jobbikpartei 16,7 Prozent der Stimmen verbuchen konnte, während die Sozialisten auf nicht einmal 20 Prozent abstürzten, vollzog sich in diesem Jahr eine erneute fundamentale Wende in der politischen Landschaft Ungarns: Die übergroße Mehrheit des Wahlvolkes hatte sich für die Rechte, ja sogar extreme Rechte entschieden, während die Mitte weiterhin in der Marginalisierung verharrte. Orbán nutzte seine Chance und setzte 2011 eine neue Verfassung durch, welche der Exekutive mehr Macht zuschreibt und die Kompetenzen des Verfassungsgerichts einschränkt. Ein neues Mediengesetz stellte die Kontrolle der Regierung über die öffentlich-rechtlichen Medien sicher. Alle wichtigen Funktionen in Staatsapparat, Justiz, öffentlich-rechtlichen Medien und Kultur gingen an loyale Parteigänger Orbáns. Dieses Klientelsystem förderte eine massive Korruption. Den Kitt seiner Politik bildet auf der einen Seite eine nationalistische Politik, die das ethnische Magyarentum als Volksgemeinschaft in ihr Zentrum stellt und großungarische Züge trägt, da die über 2,5 Millionen Magyarischsprachigen in den Nachbarländern ein Recht auf ungarische Pässe erhielten. Auf der anderen Seite wird das Ausland, insbesondere die Europäische Union, zum Feindbild – ungeachtet dessen, dass Ungarn von den finanziellen Segnungen seiner EU-Mitgliedschaft enorm profitiert hat. Wie in Putins Russland werden seit 2017 vom Ausland unterstützte Nichtregierungsorganisationen als potenzielle feindliche Agenturen schikaniert. Der amerikanische jüdischstämmige Milliardär George Soros, von dessen finanzieller Unterstützung Orbán als Student persönlich profitiert hatte, ist zum Intimfeind geworden, die von ihm mitfinanzierte Central European University in Budapest muss das Land verlassen und wird ihren Sitz nach Wien verlegen. Auch Ungarns latenter Antisemitismus ist wieder hoffähig geworden. Obgleich Fidesz bei den Wahlen von 2014 die absolute Mehrheit verlor, sicherte ein neues Wahlrecht ihr im Parlament trotzdem eine Zweidrittelmehrheit. Auch die Wahlen von 2018 gewann Fidesz.27 26 Mayer, Gregor: Der Stürmer. Der Aufstieg von Viktor Orbán, in: Unterm Messer. Der illiberale Staat in Polen und Ungarn, Osteuropa 68 (2018) 3–5, S. 186–204. 27 Bos, Ellen: Das System Orbán. Antipluralismus in Aktion, in: ebd., S. 19–32.

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So vermochte Orbán seinen Umbau Ungarns zu einer antipluralistischen Gesellschaft und zu einer (in seinen eigenen Worten) »illiberalen Demokratie« nach dem Vorbild Putin-Russlands weiter voranzutreiben. Doch was dieser Staat heute verkörpert, ist keine »illiberale Demokratie«, sondern eher eine »liberale Autokratie, eine Autokratie, in der noch die Bürgerrechte gelten«.28 Davor, dass auch diese massiv eingeschränkt werden, bewahrt die Bevölkerung nur noch Ungarns Mitgliedschaft in der EU. Ein Abklatsch von Putin-Russland im Herzen Europas? Und das nach dem vielbewunderten ungarischen Aufstand von 1956 und nach dem furiosen demokratischen Aufbruch des Jahres 1990? Wie reimt sich das zusammen? Einen ersten Erklärungsansatz vermag ein Vergleich Orbán-Ungarns mit dem Horthy-­ Ungarn der Zwischenkriegszeit zu liefern. Beide Regimes weisen durchaus ähnliche Züge auf, doch unterscheidet sich das Vorkriegsungarn in zweierlei Hinsicht positiv vom heutigen: Zum einen war es nicht so absolut auf den Staatsführer ausgerichtet und zum anderen war die damalige Gesellschaft pluralistischer und in der Hauptstadt bürgerlich-liberaler als die heutige.29 Daher muss eine mögliche Erklärung in gesellschaftlichen Veränderungen seit dem letzten Krieg zu suchen sein – im Verschwinden der adligen, militärischen, bürgerlichen und teilweise auch intellektuellen Elite der Vorkriegszeit seit 1945; in der weitgehenden Auslöschung des liberalen Judentums als des wichtigsten Trägers des städtischen Mittelstandes und der Intelligenzia; in der Vernichtung des Kleinbauernstandes durch die kommunistische Diktatur; in der Flucht gerade der politisch bewusstesten und aktivsten Teile der Bevölkerung ins Ausland nach dem Scheitern des Aufstandes von 1956; schließlich im Versinken der breiten Massen in politischer Lethargie und reiner Konsummentalität in der Zeit des »Gulaschkommunismus«. Im Unterschied zur Vorkriegszeit ist die ungarische Gesellschaft in gewisser Weise amorph geworden. Sie hat nie die Möglichkeit gehabt, über eine längere Zeit hinweg Demokratie einzuüben. Die Zivilgesellschaft Ungarns konzentriert sich nach wie vor auf Budapest, doch sie ist geschwächt. Während der kommunistischen Herrschaft haben sich neue technokratische Eliten gebildet, welche nach der Wende die jeweilige Politik und die mit dieser verbundene Deutungshoheit genutzt haben, um davon materiell zu profitieren. Auf größeren Widerstand der Zivilgesellschaft sind sie dabei nicht gestoßen. 28 Ebd., Einführung, S. 5. 29 Ungváry, Krisztián: Rückkehr der Geschichte? Orbán & Horthy. Ein Regimevergleich, in: ebd., S. 350–368.

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Allerdings genügt diese Erklärung allein nicht. Es muss tiefer in die Geschichte zurückreichende Ursachen geben, die in kollektiven Ängsten und Fremdbildern gründen. Seit die Magyaren im Zeitalter des Nationalismus zu ihrer eigenen ethnischen Identität fanden und ihnen damit zugleich bewusst wurde, wie sprachlich isoliert und zahlenmäßig unterlegen sie in indoeuropäischer Umgebung existierten, war ihre Elite vor allem darum bemüht, das Überleben des Magyaren­tums zu sichern. Was die Magyaren über die Katastrophen von 1848/49, 1918/19 und 1945 hinweg zusammenhielt, war die in der Stephanskrone verkörperte nationale Idee und die Überzeugung, dass alle Welt sich gegen sie verschworen habe. Dieses nationale Moment verschwand aus dem öffentlichen Denken nicht einmal in der kommunistischen Zeit. Es trat verstärkt wieder auf, nachdem bei näherem Kontakt mit dem unbekannten und daher idealisierten Westeuropa dieses sich nach anfänglicher Begeisterung sehr schnell »entzaubert« hatte.30 Das Misstrauen sogar gegenüber der EU zehrt auch heute noch von dieser Angst davor, dass die westeuropäische Mentalität die ungarische aushöhlen und dass eine liberalisierte Einwanderungspolitik die Magyaren ihrer eigenen Identität berauben könnte. Das Klavier dieser Ängste weiß Viktor Orbán souverän zu traktieren und dem Volk zugleich einzutrichtern, dass nur eine starke Persönlichkeit als politischer Führer die ungarischen Werte und die ungarische Identität zu schützen wisse.31 Fazit: Eine tiefgreifende politische Wende innerhalb der Geschichte Ungarns zeichnet sich nach anfänglichem Aufflammen 1989/90 kaum ab. Die überkommenen mentalen und kulturellen Prägungen haben sich bislang als stärker erwiesen.

Polen »Republik« (Rzecz Pospolita) nannte sich stolz der Staat Polen-Litauen in der Frühen Neuzeit, obgleich er faktisch eine Wahlmonarchie war.32 Allerdings beschränkten sich die politischen Rechte innerhalb dieser Republik auf den Adel. Städter und leibeigene Bauern waren von ihnen ausgeschlossen. Diese Adelsrepublik ging mit der letzten polnischen Teilung im Jahre 1795 unter und 30 Klimó: Ungarn, S. 204–211. 31 Ebd., S. 67. 32 Vergleichende Würdigung bei Müller, Michael G./Lichy, Kolja: Die polnisch-litauische respublica – ein verfassungsgeschichtlicher Sonderweg?, in: Hans-Jürgen Bömelburg (Hg.): Polen in der europäischen Geschichte, II. Frühe Neuzeit, Stuttgart 2017, S. 791–816.

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mit ihr der verzweifelte Versuch, durch die erste geschriebene Verfassung Europas (1791) den nach der Teilung von 1772 verbliebenen Rumpfstaat auf neue Grundlagen zu stellen. In dieser Verfassung wurden die Gewaltenteilung und die Kontrolle der Regierung durch das Parlament festgeschrieben. Der Adel blieb zwar nach wie vor der herrschende Stand, doch den Stadtbürgern wurde großzügig Mitsprache in eigenen Angelegenheiten eingeräumt. Von 1795 bis 1918 standen die Polen unter fremder Herrschaft – Westpolen unter preußischer, seit 1871 reichsdeutscher, Galizien unter österreichischer und der große Rest (»Kongresspolen«) unter zaristischer. Während dieser Zeit entwickelten sich die drei Teilgebiete höchst unterschiedlich. Preußisch-Polen (Posen und Westpreußen) profitierte von der Einführung der allgemeinen Schulpflicht, vom Zensuswahlrecht, von einem ausgebauten bäuerlichen Genossenschaftswesen und von der intensiven landwirtschaftlichen Entwicklung, litt aber nach 1871 unter starken Germanisierungsbestrebungen. Russisch-Polen entwickelte sich ungleichmäßig: Die Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft (1861) erfolgte zwar zulasten des Großgrundbesitzes, doch die Verdoppelung der Bevölkerung bis zum Ersten Weltkrieg und das Fortbestehen extensiver Anbaumethoden ließen die Landwirtschaft stagnieren. Dafür entwickelten sich Łódź und Warschau zu Zentren einer raschen Industrialisierung vor allem auf dem Textilsektor. Wie die gesamte Bevölkerung im Zarenreich hatten auch die Polen keine politischen Rechte und unterlagen im späteren 19. Jahrhundert einem zunehmenden Russifizierungsdruck. Österreichisch-Galizien blieb ein agrarisch geprägtes, kaum industrialisiertes Armutsgebiet mit einem hohen Anteil jüdischer Bevölkerung in den zahlreichen Kleinstädten, die jedoch keine ökonomischen Zukunftsperspektiven hatten. Dadurch, dass der polnische Gutsadel sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegen seine vorwiegend ukrainischen Bauern mit der österreichischen Regierung verbündete, vermochte er für Galizien eine weitgehende Autonomie, einen eigenen Landtag und ein Zensuswahlrecht zu erkämpfen, das seine Vorherrschaft sicherte. Aus diesem Landesteil stammten daher auch die wichtigsten politischen Strategen, die sich aktiv für die Wiederherstellung eines polnischen Gesamtstaates einsetzten. An Versuchen, die Fremdherrschaft abzuschütteln, hat es nicht gefehlt. Die Aufstände von 1830/31 und 1863/64 richteten sich vor allem gegen Russland, waren aber nicht zuletzt deshalb zum Scheitern verurteilt, weil sie vom Adel getragen und daher von der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit kaum unterstützt wurden. Die Mythisierung dieser Aufstände durch die spätere Propaganda täuscht darüber hinweg, dass bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts

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hinein die nationale Idee von der Wiederherstellung eines polnischen Gesamtstaates das Anliegen einer kleinen Minderheit repräsentierte. Als der Zusammenbruch aller drei Teilungsmächte durch den Ausgang des Ersten Weltkrieges 1918 dieses Ziel Tatsache werden ließ, stand die »Zweite Republik« vor der Herkulesaufgabe, drei Teilgebiete zusammenzufügen, die im Lauf von mehr als einem Jahrhundert wirtschaftlich, sozial, bildungsmäßig und in der Entwicklung des politischen Bewusstseins weit auseinandergedriftet waren. Welten klafften insbesondere zwischen den wirtschaftsschwachen Agrargebieten im Osten und Süden des Landes und den hochentwickelten Regionen im Westen sowie um Krakau und Warschau. Diese Unterschiede auszugleichen, ging über die Kräfte des neuen Staates. Zudem stellten die ethnischen Polen in diesem Staat angesichts starker ukrainischer, weißrussischer, jüdischer und deutscher Minderheiten nicht einmal zwei Drittel der Gesamtbevölkerung.33 Damit belasteten auch nationale Animositäten die Politik. Die Industrie stagnierte, weil der unersättliche russische Binnenmarkt weggefallen war und das internationale Umfeld sich ungünstig entwickelte. Die Agrarreform, die Teile des Gutsbesitzes an Bauern verteilen sollte, schleppte sich nur mühsam dahin und erfolgte zu für die Bauern unvorteilhaften Bedingungen. Der Anteil der Stadtbevölkerung lag 1931 bei ganzen 27 Prozent. Für das Funktionieren des parlamentarischen Systems fehlten im neuen Staat daher solide Grundlagen. Schon 1926 putschte der populäre Marschall Józef Piłsudski und errichtete eine »moralische Diktatur«, welche die Kompetenzen des Parlaments beschnitt, seit 1930 oppositionelle Parteien massiv bekämpfte und 1935 eine neue Verfassung erließ, die eine autoritär gefärbte Präsidialdemokratie begründete. Nach Piłsudskis Tod noch im gleichen Jahr tendierte die weitere Entwicklung zu einer Oligarchie mit Einparteienherrschaft. Genützt hat die Konzentrierung der Macht wenig, denn Polen blieb bis zum Zweiten Weltkrieg ein Staat, der weitgehend von einer adligen Elite und deren Interessen beherrscht wurde. Der Zweite Weltkrieg bescherte Polen nach 1795 eine weitere Katastrophe. Es wurde das erste Opfer des Augustabkommens von 1939 zwischen Hitler und Stalin. Zwischen Deutschland und der Sowjetunion aufgeteilt, wüteten der deutsche und der sowjetische Terror gleichermaßen gegen die Angehörigen der politischen, militärischen und intellektuellen Elite, gegen den Klerus und den nationalen Widerstand. Als mit Deutschlands Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 die ehemals polnischen Ostgebiete ebenfalls unter deutsche Kontrolle 33 Die unterschiedlichen statistischen Angaben dazu diskutiert Rhode, Gotthold: Geschichte Polens. Ein Überblick, Darmstadt 1980, S. 474 f.

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gerieten, wurde auch die massenhafte Ermordung der Juden vorangetrieben. Das Leiden der polnischen Bevölkerung unter der deutschen Gewaltherrschaft ließ die Menschen über die Klassengrenzen hinweg zusammenrücken und weckte das Bewusstsein einer übergreifenden nationalen Gemeinschaft. Im Untergrund bildete sich eine weitverzweigte »Heimatarmee« (Armia Krajowa), deren Stärke sie dazu befähigte, mit einem bewaffneten Aufstand im August und September 1944 große Teile Warschaus der deutschen Kontrolle zu entreißen. Die Erinnerung an diesen »Warschauer Aufstand« dient seitdem als wichtiges Fanal nationalen Heldentums und nationaler Einheit. Erst mit den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges war daher die Herausbildung einer alle Schichten umgreifenden polnischen Nation abgeschlossen.34 Der sowjetisch beherrschte polnische Satellitenstaat der Nachkriegszeit unterschied sich äußerlich radikal vom Vorkriegspolen. Er wurde nach Westen bis an die Oder verschoben, die deutsche Bevölkerung Ostpreußens, Pommerns und Schlesiens vertrieben. An ihre Stelle traten Polinnen und Polen, die das östliche Drittel Vorkriegspolens, welches der Sowjetunion zugeschlagen worden war, verlassen mussten. Damit rückte Polen nicht nur näher an die Mitte Europas heran, es wurde durch Vertreibung, Bevölkerungsaustausch und Umsiedlung erstmals in seiner Geschichte zu einem ethnisch homogenen Nationalstaat. Bei der Kontrolle Polens war sich die sowjetische Politik dessen bewusst, dass sie es mit einem Volk zu tun hatte, welches alles Russische hasste und Widerstandsgeist zeigte. Daher übte man sich in Zurückhaltung, beließ dem Land bis 1949 ein Übergangsregime mit lediglich verdeckter Kontrolle, bis die Stalinisierung auch hier voll einsetzte. Allerdings sah sich die sowjetische Führung in der Folge von Unruhen schon 1956 gezwungen, die Diktatur der »Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei« dadurch abzumildern, dass man die Regierung Władysław Gomułka überließ, der als Exponent des polnischen Nationalkommunismus einen eigenen Weg zum Sozialismus propagierte. Dazu zählte auch die Beendigung der Kollektivierungskampagnen. Als im Dezember 1970 erneut Arbeiterunruhen ausbrachen, weil das Regime die Erwartungen mehr und mehr enttäuschte, wurde Gomułka gestürzt und durch Edward Gierek ersetzt, der insbesondere nach neuen Unruhen 1976 den Wünschen der Bevölkerung durch einen stärker konsumorientierten Wirtschaftskurs und durch eine flexiblere Innenpolitik entgegenzukommen suchte. Der neue Wirtschaftskurs musste aber durch eine wachsende Auslandsverschuldung erkauft 34 Imhof, Lukas: Polen und das Phänomen Solidarność, in: Goehrke/Gilly (Hg.): Transformation und historisches Erbe, S. 529–597, hier S. 553 f.

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werden, die sich nur auf Kosten des Binnenkonsums abbauen ließ. Die durch die Auflockerung des Regimes mittlerweile immer selbstbewusster auftretende Stadtbevölkerung reagierte auf die wachsenden Versorgungsschwierigkeiten 1980 mit einer Streikwelle, die ihren Höhepunkt im August mit einem Aufstand der Danziger Werftarbeiter erreichte. Der Zusammenschluss der Arbeiter in der autonomen Gewerkschaft »Solidarität« (Solidarność), die Bildung eines »Komitees zur Verteidigung der Arbeiter« (KOR) durch radikaldemokratische Intellektuelle bereits nach den Unruhen von 1976 sowie die Unterstützung der Aufständischen durch die katholische Kirche waren die Hauptmerkmale einer Bewegung, die große Teile der Bevölkerung erfasst hatte. Angesichts dieser Einheitsfront von Arbeitern, Kirche, Intellektuellen und Bauern sah die Regierung sich gezwungen, am 31. August 1980 dem überbetrieblichen Streikkomitee in Danzig unter Lech Wałęsa ein grundsätzliches Streikrecht, die Bildung autonomer Gewerkschaften und das Recht auf Zugang zu den Medien zuzugestehen. Das konnte die Sowjetregierung nicht mehr tolerieren und ließ Gierek stürzen. Doch da die völlig diskreditierte Polnische Arbeiterpartei zu einem Ausweg aus dem Konflikt mit Solidarność nicht mehr fähig war, übernahm das polnische Militär 1981 schrittweise die Macht über Staat und Partei, wohl um einem direkten Eingreifen der Sowjetunion zuvorzukommen. Der neue Machthaber, General Wojciech Jaruzelski, rief im Dezember 1981 das Kriegsrecht aus und drängte Solidarność in den Untergrund ab. Trotzdem genoss sie als eine Art Gegenstaat weiterhin große Popularität, zumal auch das Militärregime sich trotz einer gewissen Liberalisierung und großzügiger Reisegenehmigungen in den Westen ebenfalls als unfähig erwies, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen und die schwelende Wirtschafts- und Versorgungskrise zu lösen. Auf Michail Gorbačëvs Politik der Perestroika reagierten die Polen als Erste. Wie schon bei früheren Krisensituationen der Nachkriegszeit kam es ab April 1988 zu einer Streikwelle als Reaktion auf die Ankündigung von Preiserhöhungen. Wieder schlugen die ökonomischen schnell in politische Forderungen um, vor allem nach Wiederzulassung der Solidarność. Da Polens »militärsozialistisches Regime« in der Sowjetunion Gorbačëvs keinen hinreichenden Rückhalt mehr sah, kam im September 1988 der liberale Reformkommunist Mieczysław Rakowski an die Macht, der sich im Februar 1989 zu »Gesprächen am runden Tisch« bereitfand. Am 4. Juni konnten Parlamentswahlen stattfinden, die am 24. August eine von einem Nichtkommunisten (Tadeusz Mazowiecki) geführte Regierung an die Macht brachten, an der die Arbeiterpartei jedoch noch beteiligt war. Mit den ersten freien Parlamentswahlen von Ende Oktober 1991 trat Polen in eine neue Phase seiner Geschichte ein: in die der »Dritten

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Republik«. Der Sieg über die kommunistische Diktatur setzte jedoch Sprengkräfte frei, die zuvor nur durch den gemeinsamen Feind gebunden gewesen waren. Es kam zu einem Auseinanderdriften nationalpopulistischer Kräfte um den künftigen Staatspräsidenten Lech Wałęsa einerseits und intellektueller Pragmatiker um den früheren Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki andererseits. In dieser frühen Polarisierung zeichnete sich keimhaft bereits die politische Konfrontation ab, welche die heutige Gesellschaft Polens spaltet: hier die Gemeinschaft der idealisierten polnischen Nation als höchster gesellschaftlicher Wert, dort die mündige, auf der Souveränität des Individuums gründende Zivilgesellschaft.35 Als Verdienst kann der kommunistischen Ära zugeschrieben werden, durch die zielgerichtete Industrialisierung die Urbanisierung Polens vorangetrieben zu haben.36 Dies war eine unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Demokratisierung. Die 1990er Jahre37 waren zunächst geprägt durch den rapiden Zerfall von Solidarność in divergierende politische Lager, eine starke Zersplitterung der Parteienlandschaft, heftige ideologische Auseinandersetzungen, den Kampf der katholischen Kirche gegen eine Verwestlichung der Gesellschaft, eine Radikalisierung der Gewerkschaften, die immer öfter zu politisch motivierten Streiks aufriefen, und einen scharfen antikommunistischen Kurs des 1990 zum Staatspräsidenten gewählten Lech Wałęsa. Seit nach den Wahlen von 1993 aufgrund einer 5-Prozent-Hürde nur noch vier Parteien im Parlament vertreten waren, der postkommunistische SLD (Union der demokratischen Linken) gemeinsam mit der Bauernpartei zwei Drittel der Parlamentssitze gewann und die nächste Regierung stellte, begannen sich die Verhältnisse allmählich zu konsolidieren. Dies zeigte sich auch daran, dass Wałęsa 1995 nicht wiedergewählt wurde und seine Nachfolge als Staatspräsident ausgerechnet ein Exkommunist, Aleksander Kwaśniewski, antrat. Während seiner zehnjährigen Amtszeit (1995–2005) erwies dieser sich als umsichtiger Pragmatiker, der Polens Umbau zu einem demokratischen Rechtsstaat abschließen konnte (Verfassung von 1997), konsequent die Anbindung an den Westen vorantrieb und das Land 1999 in die Nato und 2004 in die Europäische Union führte. Die Umstellung von der Planauf die Marktwirtschaft vollzog Finanzminister Leszek Balcerowicz mit einer Schocktherapie, die der Bevölkerung für wenige Jahre schwere Lasten auferlegte, 35 Imhof: Polen, hier S. 580 f. 36 1980 lebten über 58 Prozent der Bevölkerung in Städten, 1989 bereits 61,2 Prozent, siehe https://de.theglobaleconomy.com/Poland/Percent_urban_population [09.04.2019]. 37 Vertiefte Analyse der politischen Entwicklung bei Imhof: Polen, S. 573–594.

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doch dann rasche und eindrückliche Erfolge zeitigte. Im Jahre 2005 wurden die regierenden Postkommunisten abgewählt. Als Wahlsieger trat eine neue Parteiformation auf: die nationalkonservative PiS (Recht und Gerechtigkeit, Prawo i Sprawiedliwość) der Zwillingsbrüder Lech und Jarosław Kaczyński. Doch schon bei den Wahlen von 2007 verlor sie die Mehrheit wieder und bis 2015 regierte die liberalkonservative Bürgerplattform (PO, Platforma Obywatelska) unter Donald Tusk (2014/15 unter Ewa Kopacz) zusammen mit der Bauernpartei das Land. Die Bürgerplattform hatte bei der Wahl 41,5 Prozent der Stimmen erhalten. Dies schien ein deutliches Votum für eine EU-freundliche Politik zu sein. Doch dass der liberale Ministerpräsident Donald Tusk gleichzeitig als Nachfolger Kwaśniewskis mit einem Staatspräsidenten von PiS konfrontiert wurde – Lech Kaczyński –, bekundete bereits eine zunehmende Polarisierung der Bevölkerung. Tatsächlich löste PiS bei den Parlamentswahlen vom Oktober 2015 mit 37,6 Prozent der Stimmen die Bürgerplattform an der Spitze ab. Die PO vermochte – nicht zuletzt auch aus eigenem Verschulden – nur noch 24,1 Prozent der Stimmen auf sich zu vereinen. Aufgrund des Zusammentreffens spezifischer Umstände errang PiS damit im Parlament die absolute Mehrheit38 und konnte als erste Partei seit 1989 alleine regieren. Wie konnte das geschehen? Wenn nach dem kurzen Intermezzo der Aufbruchsjahre allen negativen Erfahrungen aus kommunistischer Zeit zum Trotz bereits 1993 die Postkommunisten wieder an die Macht kamen, so ist dies ein deutliches Zeichen dafür, dass nach den Erfahrungen der Schocktherapie die Mehrheit der Wählerschaft nur eines wollte: politische Stabilität und wirtschaftliche Sicherheit. An diesen Prioritäten hat sich bis heute nichts geändert – Demokratie hin oder her. Als es der liberalkonservativen Regierung nicht gelang, ihre unbestreitbaren wirtschaftlichen Erfolge auch den zurückgebliebenen Regionen des Landes zugute kommen zu lassen, erfolgte 2015 prompt die massive Gegenreaktion. Zuvor schon hatte PiS der Regierung ständig vorgeworfen, sie vertrete einen vom Volk abgehobenen Eliteklüngel, sei unpatriotisch, dem polnischen Staatsgedanken gegenüber feindlich gesinnt, auslandsfreundlich und linkslastig. Diese 38 Zu den Wahlergebnissen siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Parlamentswahl_in_Polen_2015 [09.04.2019]. Die absolute Mehrheit für PiS trotz lediglich 37,6 Prozent Stimmanteil ergab sich aus dem Scheitern mehrerer Parteien an der 5-Prozent-Hürde. Daraus resultierte beim geltenden Verhältniswahlrecht gemäß der Sitzverteilung nach dem d’Hondt-Verfahren eine Zusicherung von 51 Prozent der Mandate, siehe Wojtasik, Waldemar: Parlamentswahlen 2015 in Polen – Trends und Taktiken, https://www.boell.de/de/2016/02/08/parlamentswahlen2015-polen-trends-und-taktiken [09.04.2019].

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Propaganda hat offensichtlich Früchte getragen. Die Ideologie von PiS stellt den imaginären »einfachen Menschen« und seine Interessen in den Mittelpunkt. Dieser »einfache Mensch« ist Pole und Katholik. Seine Heimat Polen wird deutlich gegen den Rest der Welt abgegrenzt – neben dem Erzfeind Russland insbesondere gegen die EU, die man mit religiöser Indifferenz, Multikulturalismus, Sittenverfall und Turbokapitalismus gleichsetzt. PiS positioniert sich strikt gegen die Aufnahme von Asylanten, um die ethnische Reinheit des Polentums zu bewahren. Dabei übersieht die so geschichtsbewusste Partei, dass Polen-­Litauen einst ein Vielvölkerstaat und dass auch die Zweite Republik kein ethnisch homogener Nationalstaat waren. Konkret lehnt PiS die Verfassung von 1997 und den von ihr geförderten gesellschaftlichen Pluralismus ab, hat sie bislang zwar noch nicht durch eine neue ersetzt, faktisch jedoch durch eine Reihe von Maßnahmen ausgehebelt. Dazu gehört die Kontrolle über die öffentlich-rechtlichen Medien und der Zugriff auf die Justiz. Die EU und Deutschland dienen den Herrschenden als willkommene Feindbilder, obgleich Polen von den Subventionen der EU ausgesprochen profitiert.39 Hatte im Jahre 2000 Lukas Imhof bei seiner Analyse des politischen Wandels in Polen seit 1989 noch optimistisch auf eine deutliche und unumkehrbare demokratisch-rechtsstaatliche Konsolidierung geschlossen,40 so hat sich das Bild mittlerweile erheblich eingetrübt. Die massive reaktionäre Wende der polnischen Politik lässt sich schwerlich mit einer vorübergehenden Laune des Stimmvolks erklären, sie wurzelt tiefer.41 Die Wahlen von 2015 haben die Wählerschaft der Bürgerplattform auf ihren harten Kern eingedampft – auf den weltoffenen, liberalkonservativen und europafreundlichen Mittelstand der Großstädte, etwa ein Viertel der Bevölkerung. Rund die Hälfte der Bevölkerung – vor allem die schlechter Ausgebildeten und Älteren, die in den Plattenbauten der großstädtischen Peripherien, in den Kleinstädten und auf dem Lande leben – fühlt sich den Herausforderungen der Leistungsgesellschaft nicht gewachsen, hat sich von der Politik abgewandt oder sucht ihr Heil bei PiS.42 Die Bauern als das restliche Viertel der Bevölkerung verfügen über eine eigene Partei. Dass diese anfänglich mit den Postkommunisten, danach mit der Bürgerplattform zusammen regierte, offen39 Bucholc, Marta/Komornik, Maciej: Gewaltenteilung ausgehebelt, in: Osteuropa 68 (2018) 3–5, S. 7–18. 40 Imhof: Polen, S. 588–594. 41 Dazu eingehend Kijowska, Marta: Was ist mit den Polen los? Porträt einer widersprüchlichen Nation, München 2018. 42 Borodziej, Włodzimierz: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 402 f.

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bart ein Dilemma, in welchem die Bauern stecken: Sie sind hin- und hergerissen zwischen Beharrung und Fortschritt. Das Wahlergebnis vom Oktober 2015 hat den traditionellen Graben zwischen dem Bevölkerungssegment, das vom Wirtschaftsboom besonders profitiert hat, und der eher nationalkonservativen Mehrheit, die sich auf der Schattenseite des wirtschaftlichen Fortschritts sieht, weiter geöffnet als zuvor. Dieser Graben ist auch räumlich sichtbar: Die Mehrheit hat PiS vor allem in den Wojewodschaften des Südens und in dem seit jeher zurückgebliebenen Osten des Landes errungen, hingegen nicht in den beiden pommerschen Wojewodschaften; in Ermland-Masuren, Lebus, Schlesien und der ehemaligen preußischen Provinz Posen hat sie sich nur knapp durchgesetzt.43 Das heißt, PiS ist paradoxerweise schwach in den an Deutschland und die Ostsee angrenzenden Gebieten. Verstärkt wird der ländliche Kern der PiS-Wählerschaft von den strenggläubigen kirchentreuen Katholiken. Aber auch ein großer Teil der Industriearbeiterschaft ist im Gefolge der Solidarność vom linken in das nationalpopulistische Lager übergeschwenkt.44 Diese Entwicklung hat die Skepsis bestätigt, die schon früh gegenüber einer mythischen Überhöhung der polnischen Arbeiterschaft im Gefolge des Jahres 1980 geäußert wurde und die diese eher als apolitisch und in erster Linie materiell interessiert wahrnahm.45 Dass PiS mit einem Wähleranteil von nur gut einem Drittel und einer lediglich knappen absoluten Mehrheit der Parlamentssitze46 sich erkühnt, Polen in einen autoritär regierten Staat umzubauen, verrät, wie wenig seine Wählerschaft und seine Exponenten von Demokratie und Rechtsstaat halten. Allerdings muss man den gegenwärtigen politischen Trend relativieren. PiS verdankt seine parlamentarische Dominanz neben der spezifischen Wahlmechanik, die sich 2015 ergab, ganz wesentlich der Zersplitterung der polnischen Parteienlandschaft und dem Scheitern einiger neuer Parteien an der 5-Prozent-Hürde. Dass sich einiges Protestpotenzial angestaut hat, welches PiS nicht aufzufangen vermag, zeigen zwei Parteien, die 2015 den Einzug in das Parlament schafften: die von dem Rockmusiker Paweł Kukiz gegründete »Bewegung Kukiz 15«, die auf Anhieb mit 8,8 Prozent der Stimmen zur drittstärksten Kraft im Sejm wurde, 43 Karten in: https://de.wikipedia.org/wiki/Parlamentswahl_in_Polen_2015 [09.04.2019]. 44 Die Vereinigte Linke (Zjednoczona Lewica) kam nur noch auf 7,6 Prozent der Stimmen, verfehlte aber selbst damit wegen der 8-Prozent-Hürde für Parteienbündnisse den Einzug in das Parlament. 45 Pradetto, August: Mythos und Wirklichkeit. Die polnische Arbeiterklasse, in: Hans Henning Hahn/Michael G. Müller (Hg.): Gesellschaft und Staat in Polen. Historische Aspekte der polnischen Krise, Berlin 1988, S. 136–156. 46 PiS verfügt im Sejm über 235 von 460, im Senat allerdings über 61 von 100 Sitzen.

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sowie die Partei Nowoczesna (7,6 Prozent), die klassische liberale Positionen vertritt. Zwar vermögen diese Hinweise das Gewicht des Stimmenanteils von PiS zu mindern, aber bedenklich muss stimmen, dass die geringe Wahlbeteiligung von knapp 51 Prozent eine weitverbreitete politische Lethargie innerhalb der polnischen Gesellschaft bezeugt.47 Sie dürfte dem generellen Misstrauen gegen »die da oben« geschuldet sein, das sich schon in der Zweiten Republik und in kommunistischer Zeit beobachten ließ und sich durch die sozialen Umbrüche nach der Wende bestätigt sah.48 Wo aber die Hälfte der Bevölkerung sich von der Politik nichts verspricht und mehr als ein Drittel der anderen Hälfte Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geringschätzt, da steht die Bürgergesellschaft noch nicht unmittelbar vor der Tür. Geschickt weiß PiS ein traditionelles Element der jüngeren Geschichte zu Propagandazwecken zu instrumentalisieren: den Nationalismus in seiner spezifischen polnischen Spielart. Seit 1795 sahen sich die Angehörigen der Elite verpflichtet, für die Wiederherstellung des polnischen Staates zu kämpfen und von der Emigration im Ausland, später auch von Galizien aus einen glühenden polnischen Nationalismus zu entfachen, der die Zeit der Staatenlosigkeit überbrücken sollte. Dabei dienten die gescheiterten Aufstände von 1830 und 1863 als Fanal für die außergewöhnliche polnische Opferbereitschaft bis hin zu der Idee von der besonderen historischen Mission Polens als des Messias der Unterdrückten und als des stellvertretend für alle gekreuzigten Christus der Völker.49 Aus den historischen Erfahrungen der gesellschaftlichen Selbstverteidigung und wiederholter Auflehnung erwuchs zudem eine Mentalität des Widerstandsgeistes, die von Generation zu Generation weitervermittelt wurde.50 Vor diesem Hintergrund nationaler Mythen lässt sich heute ähnlich wie in Ungarn das eigene Land 47 Schon an der Parlamentswahl von 1991 nahmen lediglich 43,2 Prozent der Wahlberechtigten teil; dies zeugt von wenig demokratischer Aufbruchstimmung. Bei den späteren Wahlen schwankte die Wahlbeteiligung zwischen 40,6 Prozent (2005) und 53,9 Prozent (2007), nach Wikipedia: Parlamentswahlen in Polen. Vgl. auch den Kommentar von Borodziej: Geschichte, S. 397 f. 48 Ebd., S. 399. 49 Diese Idee geht auf den polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz zurück; ähnlich auch dessen Zeitgenosse Juliusz Słowacki. Näher dazu: Olschowsky, Heinrich: Sarmatismus, Messianismus, Exil, Freiheit – typisch polnisch?, in: Andreas Lawaty/Hubert Orlowski (Hg.): Deutsche und Polen. Geschichte, Kultur, Politik, 2. Aufl., München 2006, S. 279–288. Vgl. auch Mechtenberg, Theo: Kultur und Nationalbewusstsein in Polen, in: Johannes Hoffmann/Helmut Skowronek (Hg.): Polen, der nahe – ferne Nachbar, Dortmund 2002, S. 22–30. 50 Hahn, Hans Henning: Die Gesellschaft im Verteidigungszustand. Zur Genese eines Grundmusters der politischen Mentalität in Polen, in: Hahn/Müller (Hg.): Gesellschaft und Staat in Polen, S. 15–48.

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als potenzielles Opfer traditionell feindlich gesinnter Nachbarn stilisieren, um das Volk hinter die Regierung zu scharen. Diese übersteigerte Nationsidee verdankt sich auch der kirchlichen Propaganda, da die katholische Kirche während der Zeit, als kein polnischer Staat existierte, als eine Ersatznation fungierte, die alle Polen, wo immer sie auch lebten, unter ihrem Dach vereinte. Mit diesem Anspruch versteht sich die polnische Kirche auch heute noch als eine politische Kirche, die sich immer wieder in die Politik einmischt – allerdings immer weniger mit Zustimmung der Bevölkerung.51 Eine nachhaltige historische Wende hat in Polen daher noch nicht stattgefunden. Aber dass die fortschrittlich Gesinnten acht Jahre lang die Politik bestimmen konnten und dass die heutige PiS-Regierung sich immer wieder Massenprotesten gegenübersieht, zeigt anders als in Ungarn eine erstaunliche Vitalität der demokratischen Kräfte.52

Die baltischen Republiken Unter den wenigen Ländern Ostmittel- und Südosteuropas, die es nach dem Zusammenbruch von Sowjetunion und Sowjetimperium geschafft haben, stabile demokratische Rechtsstaaten aufzubauen, stehen Estland, Lettland und Litauen an der Spitze. Dabei teilten sie eigentlich mit Ungarn und Polen einige der historischen Lasten, die diesem Erfolg hätten im Wege stehen können: kommunistische Diktatur und Fremdherrschaft, bis zum Zweiten Weltkrieg eine eher agrarische Prägung und dementsprechend ein relativ niedriger Urbanisierungsgrad. Anders als in Polen und Ungarn hatten insbesondere Lettland und Estland unter sowjetischer Herrschaft zusätzlich noch eine erhebliche russische Zuwanderung zu schultern, deren Folgen nach der »Wende« zu schweren nationalen Konflikten hätten eskalieren und den Aufbau geordneter demokratisch-rechtsstaatlicher 51 Chwalba, Andrzej: Kurze Geschichte der Dritten Republik Polen, Wiesbaden 2010, S. 154– 167; Mechtenberg, Theo: Wie katholisch ist das katholische Polen?, in: Hoffmann/Skowronek (Hg.): Polen, der nahe – ferne Nachbar, S. 50–57; ders.: Józef Tischner – Keine Furcht vor der Freiheit, in: ebd., S. 73–89, insbesondere S. 84–86. Aus der Perspektive der 1980er Jahre: Woźniakowski, Jacek: Anmerkungen zur Rolle der Katholischen Kirche in Polen, in: Hahn/Müller (Hg.): Gesellschaft und Staat in Polen, S. 163–181. 52 Eine soziologische Momentaufnahme aus dem Jahre 2006 kam allerdings zu dem Ergebnis, dass die aktive Zivilgesellschaft in Polen vergleichsweise schwach verankert sei – nicht zuletzt, weil Teile der Elite sich ihr verweigerten, siehe Gliński, Piotr: Die Zivilgesellschaft in Polen. Genese, Entwicklung, Dilemmata, in: Polen-Analysen 25, 15.01.2008, S. 2–12. Seit PiS an der Macht ist, dürfte sich dies aber nicht unwesentlich geändert haben.

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Verhältnisse hätten behindern können. Was hat im Unterschied zu Polen und Ungarn die drei baltischen Republiken bislang vor einem Rückfall in halbautoritäre Verhältnisse bewahrt? Während das ethnische Litauen durch langjährige polnische Herrschaft geprägt und zusammen mit Polen 1795 an das Zarenreich gefallen war, hatten ostseefinnische Liven und Esten sowie die wie die Litauer zur indoeuropäischen Sprachfamilie zählenden Letten im Spätmittelalter die bäuerliche Unterschicht des Staates Livland gebildet. Dieser bestand aus einem lockeren Konglomerat von fünf unterschiedlichen ständischen Herrschaftsträgern53 deutscher Zunge – den Vorfahren der Deutschbalten. Nach dem Ende livländischer Unabhängigkeit 1561 fiel das Gebiet nacheinander an Polen, Schweden und das Zarenreich, doch die deutschbaltische Oberschicht vermochte ihre kulturelle und politische Dominanz zu behaupten. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen sich auf der Basis der allgemeinen Schulpflicht Anfänge einer ­estnischen und lettischen Identität und erste Keime einer eigenen Bildungsschicht herauszukristallisieren. Der Zusammenbruch des Zarenreiches 1917 und die Absorbierung der Bol’ševiki durch den Bürgerkrieg von 1918 bis 1921 ermöglichten es, dass entlang der Sprachgrenzen im Baltikum Litauer, Letten und Esten ihre eigenen Staaten gründen konnten. Obgleich sie außenpolitisch nie zueinanderfanden, gestaltete sich ihr Schicksal in der Zwischenkriegszeit ähnlich. Konzipiert als parlamentarische Republiken, zeigte es sich schon bald, dass den Staaten wegen der Vielzahl von Parteien und wegen der häufigen Regierungswechsel die innere Stabilität fehlte. In einem zunehmend unsicheren internationalen Umfeld, in welchem die drei Kleinstaaten auch mit revanchistischen Gebietsansprüchen Polens und Sowjetrusslands rechnen mussten, tendierte die politische Führungsschicht daher dazu, die parlamentarische durch eine gelenkte Demokratie und schließlich gar durch mehr oder minder autoritäre Präsidialsysteme zu ersetzen, die sich vor allem auf das Militär stützten. Das Besondere an dieser Entwicklung war, dass einerseits die obersten Repräsentanten der parlamentarischen Phase weiter regierten und dass sie andererseits auch weiterhin auf die Unterstützung

53 Der sogenannte altlivländische »Fünfstaat« bestand aus dem Erzbischof von Riga, den Bischöfen von Dorpat und Ösel-Wiek, dem livländischen Zweig des Deutschen Ritterordens als Landesherren, ferner aus den drei an die Hanse angelehnten großen Städten Riga, Reval und Dorpat sowie aus den zu politischer Mitbestimmung aufgestiegenen Ritterschaften – den ehemaligen Vasallen der Landesherren.

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durch die bäuerliche Bevölkerungsmehrheit zählen konnten;54 dies deshalb, weil schon in den Anfängen der Eigenstaatlichkeit der in allen drei Ländern weitverbreitete Gutsbesitz, der sich in Est- und Lettland in deutschbaltischen,55 in Litauen in polnischen und russischen Händen befunden hatte, enteignet und an die Landarbeiter verteilt worden war.56 Ein besonderes Merkmal war dabei nach dem bereits bestehenden Muster der älteren Bauernhöfe die Ansiedlung der Neubauern in verstreut liegenden Einödhöfen. Dies förderte das Bewusstsein wirtschaftlicher Eigenständigkeit.57 Dadurch hatte sich die Agrarfrage politisch deutlich entschärft und auch die neue Kleinbauernschaft entwickelte sich zu einem staatstragenden Element.58 Gerade in dieser Beziehung unterscheidet sich die Entwicklung der drei baltischen Republiken während der Zwischenkriegszeit markant von Polen und Ungarn, wo sich der Großgrundbesitz nicht in fremdethnischer Hand befunden hatte und daher einer Enteignung entgangen war. Der Zweite Weltkrieg traf die baltischen Republiken besonders hart. 1940 von der Sowjetunion okkupiert, von 1941 bis 1944 unter deutscher Besatzung und danach erneut der Sowjetunion einverleibt, wurden nicht nur die vor allem in Litauen stark vertretenen Juden, sondern auch der größte Teil der einheimischen Elite ausgelöscht oder zur Flucht ins Ausland getrieben. Die Sowjetregierung liquidierte ebenfalls das staatstragende Bauerntum und zwang selbst die Kleinbauern in Kolchosen. Darüber hinaus wurden Hunderttausende russischer Arbeiter vor allem in Est- und Lettland angesiedelt, um die Industrialisierung zu forcieren und die widerborstigen Völker langfristig zu russifizieren. Als die Sowjetherrschaft zu Ende ging, stellten Russen, Ukrainer und Weißrussen in Estland über 35 und in Lettland sogar fast 42 Prozent der Bevölkerung, wäh54 Garleff, Michael: Die Baltischen Länder. Estland, Lettland und Litauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Regensburg 2001, S. 122–124. Um 1935 lebten in Estland 71,3 Prozent, in Lettland 65,4 Prozent und in Litauen gar 80 Prozent der Bevölkerung auf dem Lande, siehe Angermann, Norbert/Brüggemann, Karsten: Geschichte der baltischen Länder, Ditzingen 2018, S. 252. 55 1918 entfielen vom landwirtschaftlichen Nutzland auf Großgrundbesitz in Estland 58 Prozent, in Lettland 48 Prozent und in Litauen gut ein Drittel, siehe Angermann/Brüggemann: Geschichte, S. 265. 56 Näher dazu ebd., S. 264–267. 57 Dazu eingehend Goehrke, Carsten: Siedlungsgeschichte des Ostbaltikums. Eine Forschungsbilanz, in: Zeitschrift für Ostforschung 37 (1988), S. 481–554, insbesondere S. 517–526. 58 Zu den drei baltischen Republiken der Zwischenkriegszeit vgl. Rauch, Georg von: Geschichte der baltischen Staaten, Stuttgart 1970; Vardys, V. Stanley/Misiunas, Romuald J. (Hg.): The Baltic States in Peace and War 1917–1945, London 1978. Zur Geschichte von 1918 bis 1989: Meissner, Boris: Die baltischen Nationen. Estland, Lettland und Litauen, Köln 1990. Zu Estland: Gilly, Seraina: Der Nationalstaat im Wandel. Estland im 20. Jahrhundert, Bern 2002.

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rend im weniger industrialisierten Litauen nur jeder achte Einwohner eine ostslawische Sprache benutzte; dafür bildeten dort aber Polnischsprachige mit 7 Prozent immer noch ein Relikt der Vorkriegszeit, als Vilnius von Polen okkupiert gewesen war.59 Durch die in der Sowjetzeit vorangetriebene Industrialisierung hatte auch die Urbanisierung große Fortschritte zu verzeichnen. Daher vermochte sich der Urbanisierungsgrad der Bevölkerung allein zwischen 1940 und 1979 in Estland von 34 auf 70, in Lettland von 35 auf 68 und in Litauen von 23 auf 61 Prozent zu steigern. In Verbindung mit dem ererbten, vergleichsweise hohen Bildungsstand der Einheimischen hatte dies zur Folge, dass insbesondere Est- und Lettland innerhalb der Sowjetunion den höchsten Lebensstandard aufwiesen. Dies erhöhte wiederum ihre Attraktivität für russische Zuwanderer.60 Sobald Michail Gorbačëv seine Politik der Perestroika einleitete, waren die baltischen Sowjetrepubliken in der UdSSR die Ersten, die sich neue Freiräume erkämpften. Der Oberste Sowjet der Estnischen Sowjetrepublik erklärte bereits am 16. November 1988 die Souveränität der Republik, und Lettland und Litauen folgten 1989. 1990 bildeten sich in allen drei Staaten neue nichtkommunistische Regierungen. Versuche der Sowjetregierung, im Januar 1991 durch den Einsatz von Militär und Sondereinheiten in Vilnius und Riga das Rad der Geschichte zurückzudrehen, scheiterten am Widerstand der Bevölkerung, an westlichen Protesten und an der persönlichen Unterstützung durch Boris El’cin. Daraufhin führten alle drei Republiken Volksabstimmungen durch, die eine überwältigende Mehrheit für die staatliche Unabhängigkeit ergaben (wobei auch ein Großteil der Russen sich dafür aussprach). Als der Putschversuch vom August 1991 gegen Gorbačëv die Ängste vor einem Wiedererstarken reaktionärer Kräfte in der Sowjetunion verstärkte, traten alle baltischen Regierungen die Flucht nach vorn an und erklärten nur wenige Tage später die staatliche Unabhängigkeit Estlands, Lettlands und Litauens. Die neuen baltischen Staaten knüpften in mancherlei Hinsicht an die Vorkriegszeit an. Sie formierten sich als parlamentarische, rechtsstaatliche Republiken, und auch die Parteienvielfalt lebte wieder auf. Daher waren stets Koalitionsregierungen nötig und die Kabinette wechselten häufig, nicht zuletzt auch wegen Korruptionsskandalen. Aber im Unterschied zur parlamentarischen Instabilität der 1920er und frühen 1930er Jahre erwies sich das neue politische System als sehr viel tragfähiger und krisenresistenter. Drei Gründe dürften dafür 59 Stadelbauer, Jörg: Die Baltischen Republiken. Sowjetisch überprägte Kulturlandschaft zwischen Nord-, Ost- und Mitteleuropa, in: Geographische Rundschau 43 (1991), S. 713–722, hier S. 715. 60 Ebd., S. 715.

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maßgeblich sein: Über alle ideologischen Differenzen hinweg waren sich die Parteien darin einig, dass Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit unabdingbare Grundpfeiler der Verfassung bildeten; dass ihre Länder sich eng an das westliche Staatensystem binden müssten; und schließlich dass die Plan- in eine Marktwirtschaft umzubauen sei.61 Dies war alles andere als selbstverständlich, denn alle Republiken standen in den 1990er Jahren vor mehr oder minder ähnlichen Schwierigkeiten, die den Neustart belasteten. Dazu gehörte zum einen der Umbau der Wirtschaft von der Plan- in eine Marktwirtschaft, zugleich begleitet von der Umorientierung vom russländischen hin zu nord- und westeuropäischen Märkten; ohne eine längere Wirtschaftskrise und Konsumverzicht war dies nicht möglich. Hohe Arbeitslosigkeit vor allem auf dem Lande, Abwanderung in die Städte und ins westliche Ausland und eine schrumpfende Bevölkerungszahl belasteten die sozialen Systeme. Zum anderen bildete vor allem in Lettland und Estland die politische Loyalität der starken ostslawischen Minderheiten einen steten Anlass zu Sorge und Misstrauen. Allerdings erwiesen sich diese Befürchtungen als übertrieben, zum einen weil im Lauf der Zeit ihr Anteil durch Rückwanderung nach Russland und Assimilation zurückging,62 zum anderen weil Russland wegen seines niedrigeren Lebensstandards keine wirkliche Alternative zu bieten hatte. Nach der Einführung der Marktwirtschaft entwickelten sich trotz der genannten Schwierigkeiten alle drei Staaten bald derart dynamisch, dass sie sich den Beinamen »Baltische Tiger« einhandelten. Die internationale Finanzkrise von 2008 traf auch sie schwer, doch erholten sie sich erstaunlich gut. Estland wurde sogar zum europäischen Vorreiter bei der Digitalisierung des politischen und wirtschaftlichen Lebens. Dass alle drei Staaten schon 2004 der Europä­ ischen Union und der Nato beitreten konnten, minderte zwar ihre Ängste vor einem russischen Revanchismus, doch bleiben diese angesichts der politischen Unberechenbarkeit des Putin-Regimes virulent. Weil Finanzen und Wirtschaft Litauens, Estlands und Lettlands sich weiterhin als solide präsentierten, konnten sie es sich leisten, der Eurozone beizutreten (Estland 2011, Lettland 2014 und Litauen 2015).

61 Gilly: Nationalstaat, S. 383; Näf, Kaspar: Lettland – Von einer Sowjetrepublik zu einer Brücke zwischen Ost und West?, in: Goehrke/Gilly (Hg.): Transformation und historisches Erbe, S. 215–259, hier S. 243 f. 62 Von 1989 bis 2011 ging der Bevölkerungsanteil der Russen, Weißrussen und Ukrainer in Lettland von fast 42 Prozent auf etwa ein Drittel, in Estland von 35,2 auf 28,7 Prozent und in Litauen von 12,3 auf 7,5 Prozent zurück (Angaben nach Wikipedia).

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Wie lässt es sich erklären, dass die drei baltischen Republiken die Last von 45 Jahren kommunistischer Diktatur mit ihren enormen ideologischen, ökonomischen, ethnischen und gesellschaftlichen Strukturveränderungen so rasch abzuschütteln vermochten und dass sie anders als Polen und Ungarn bis heute keinem Rückfall in ein halbautoritäres und nationalistisches Regime ausgesetzt waren?63 Dazu vier Thesen: 1. Als Kleinstaaten waren sie eher als etwa Polen in der Lage, flächendeckende Reformen zu verwirklichen. 2. Sie konnten auf dem bereits in der Zwischenkriegszeit erreichten und während der sowjetischen Herrschaft weiterentwickelten Wirtschafts- und Bildungsniveau aufbauen. 3. Aus der Vorkriegszeit, den Leiden im Zweiten Weltkrieg und aus der Unterdrückung durch die sowjetkommunistische Fremdherrschaft resultiert eine historische Erfahrung, welche die nationale Identität und Solidarität gestärkt hat, ohne dass diese im Unterschied zu Polen und Ungarn in einen übersteigerten Nationalismus ausgeartet wären. 4. Da Est- und Lettland im Unterschied zu Polen und Ungarn unmittelbar an Russland angrenzen, zwingt die latente Bedrohung durch dessen Revanchismus sie alle – auch Litauen – zu einer konsequenten Westbindung.64 Diese war bei Est- und Lettland historisch bereits vorgespurt durch die Integration Altlivlands in den Wirtschaftsraum der Hanse im Spätmittelalter, durch die schwedische Überprägung in der Frühen Neuzeit und durch die Einbeziehung der ersten einheimischen Elite in den deutschsprachigen Kulturraum seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Nach der »Wende« intensivierten sich insbesondere die Beziehungen zu Finnland und Schweden mit ihren stabilen Demokratien. In Litauen bildeten die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche, der Hass auf Russland und die Abneigung gegen Polen wesentliche politische Bindemittel. Die Mitgliedschaft in der EU nötigt alle drei Staaten auch dazu, mit ihren Minderheiten pfleglich umzugehen und sie nicht zu provozieren. Dies hat zu deren Integrationsbereitschaft und zur inneren Entspannung wesentlich beigetragen. Die jüngsten Wahlen in Lettland und Estland haben gezeigt, wie lebendig und erneuerungsfähig Demokratie und Parteienlandschaft in diesen Staaten sind – 63 Zu Lettland vgl. auch Näf: Lettland, S. 257–259. 64 Zum Verhältnis der Russländischen Föderation und der baltischen Staaten zueinander vgl. Angermann/Brüggemann: Geschichte, S. 334–340.

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allen sozialen Problemen zum Trotz.65 Dass Litauen mit Dalia Grybauskaitė eine Staatspräsidentin hat und Estland neben der Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid mit Kaja Kallas wohl auch eine Regierungschefin haben wird, katapultiert beide Länder zudem in die Spitzengruppe der Staaten, die Frauen in der Politik eine Chance geben. In dieser Hinsicht heben sie sich markant von den traditionellen Ein-Mann-Herrschaften Russlands und Ungarns ab. Allerdings sei nicht verhehlt, dass sich auch in den baltischen Staaten rechtspopulistische Kräfte regen, die ähnlich wie in Polen und Ungarn der EU kritisch gegenüberstehen, ja die ethnische Reinheit der eigenen Nation propagieren und daher die Aufnahme von außereuropäischen Asylanten ablehnen. Noch bilden diese Kräfte eine relativ kleine Minderheit.66 Daran zeigt sich aber, dass auch erfolgreiche Transformationsstaaten vor dem Rückfall in alte politische Muster nicht gefeit sind. Insoweit sich dies aus heutiger Warte beurteilen lässt, hat sich in den drei baltischen Staaten eine tiefgreifende politische Wende vollzogen. Historisch gesehen handelt es sich dabei allerdings eher um eine »halbe Wende«, denn ihr Erfolg verdankt sich wesentlich zwei Faktoren: dem Wiederaufleben älterer kultureller und sozialer Strukturmerkmale sowie der Angst vor dem russländischen Revanchismus, der die Westbindung in besonderem Maße beflügelt.

Vergleichende Bilanz Aus einer Distanz von dreißig Jahren ist es sicherlich statthaft, darüber zu urteilen, welchen der sechs behandelten Staaten es gelungen ist, seit dem Ende der kommunistischen Diktatur den historischen Karren auf ein neues Gleis zu schieben, welchen weniger und welchen so gut wie gar nicht. 65 In Lettland gingen bei den Parlamentswahlen vom Oktober 2018 40 Prozent der Stimmen an neue Parteien, weil die Wähler genug hatten von den etablierten, teilweise korrupten Gruppierungen und alten Seilschaften (Hermann, Rudolf: Eine Truppe Neulinge mischt Lettlands Politik auf, in: Neue Zürcher Zeitung, 24.01.2019, S. 3). Dies, obwohl gerade in Lettland sich immer noch eine besonders tiefe Kluft zwischen Hauptstadt und Provinz auftut (Hermann, Rudolf: Riga und der Rest des Landes, in: Neue Zürcher Zeitung, 29.01.2019, S. 7). Aus den Parlamentswahlen von Anfang März 2019 in Estland ging die liberale Estnische Reformpartei mit ihrer erst 41-jährigen Vorsitzenden Kaja Kallas überraschenderweise mit fast 29 Prozent der Stimmen als stärkste Kraft hervor; Kallas dürfte daher an der Spitze einer Koalitionsregierung die erste Premierministerin des Landes werden (Strittmatter, Kai: Die »Prinzessin« wird Regierungschefin, in: Tages-Anzeiger, 06.03.2019, S. 15). 66 Angermann/Brüggemann: Geschichte, S. 341 f.

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Als Beispiel einer  – allen inneren Schwierigkeiten zum Trotz  – bisher gelungenen, zumindest »halben Wende« können die drei baltischen Republiken dienen. Die nach dem Zweiten Weltkrieg von der Sowjetunion ihnen aufgezwungenen politischen und sozialökonomischen Strukturveränderungen wurden als Produkte einer Fremdherrschaft zum erstmöglichen Zeitpunkt abgeworfen. Dies gelang auch deshalb, weil diese Veränderungen anders als in Russland zu wenig Zeit hatten, um die in der Erinnerung der Menschen weiterwirkenden Strukturelemente der Vorkriegszeit völlig eliminieren zu können. Worin bestanden diese? Zum einen in einem vollständigen Elitenwechsel: An die Stelle der Deutschbalten bzw. Russen und Polen traten Angehörige einer neuen, direkt aus dem Bauerntum aufgestiegenen estnischen, lettischen und litauischen Elite. Dadurch, dass in diesem Zusammenhang die drei jungen baltischen Republiken die fremdethnischen Großgrundbesitzer konsequent enteignet hatten, vermochten sie das ländliche Proletariat weitgehend zu eliminieren und relativ stabile soziale Verhältnisse zu schaffen. Dazu beigetragen hat, dass die politischen Führer der jungen Staaten nicht elitären Eliteklüngeln entstammten und daher volksnah blieben. In diesen Zusammenhang gehört als weiterer stabilisierender Faktor die nationale Solidarität, die sich nicht zuletzt aus dem Bewusstsein speiste, dass der eigene Kleinstaat von außen stets bedroht war. Dieser nationale Schulterschluss hat auch den Elitenbruch durch den Zweiten Weltkrieg und die frühen Nachkriegsjahre überdauert und ist von der neuen Elite, die unter der kommunistischen Herrschaft aufwuchs, übernommen und in die Zeit nach der »Wende« weitergetragen worden. Dadurch, dass nach den Erfahrungen des Sowjetregimes Est- und Lettland nunmehr viel unbefangener als in der Zwischenkriegszeit auch das hansische, schwedische und deutschbaltische kulturelle Erbe in die eigene historisch begründete Identität inte­ grieren konnten, war die konsequente Annäherung der neuen Republiken an Skandinavien und Westeuropa vorgespurt. In diesem Sinne verstehen sich die baltischen Republiken konsequent als Teile des demokratischen und rechtsstaatlichen Europa. Disziplinierend wirkt dabei die EU gerade auch im Hinblick auf den Umgang mit den in Lettland und Estland starken ostslawischen Minderheiten. Vor allem aber ist es die Angst vor dem russischen Revanchismus, der die drei Länder nötigt, den Anforderungen der EU an ihre Mitglieder bestmöglich gerecht zu werden. Die erfolgreiche »Wende« von 1989/90 in den baltischen Republiken dünkt mich daher nur auf den ersten Blick ein historischer Neuanfang zu sein – im Hinblick auf den Bruch mit den durch die Sowjetherrschaft geschaffenen neuen Strukturen. Stärker treten aus heutiger Sicht demgegenüber kulturelle, natio-

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nale und politische Kontinuitäten hervor, die das Heute mit der Geschichte vor 1940 verbinden. Bei Polen und Ungarn ist das Ergebnis der postkommunistischen Transformation diffuser. In ihrem heutigen halbautoritären Erscheinungsbild als PiSStaat bzw. Orbán-Ungarn ähneln sie sich und sind schon als »zweieiige Zwillinge« verspottet worden.67 Beiden ist zu eigen, dass sie unmittelbar nach der »Wende« zwar auf der institutionellen und auf der wirtschaftlichen Ebene einen klaren Bruch mit der kommunistischen Vergangenheit vollzogen, dass sich dann aber mehr und mehr Strukturelemente aus ihrer Vergangenheit zurückgemeldet haben, die eine autoritäre Entwicklung begünstigen. Vordergründig ist dafür in beiden Ländern die Enttäuschung darüber verantwortlich, dass die Politik angesichts der enormen Herausforderungen der sozialökonomischen Transformation und der damit verbundenen Kosten die hochgesteckten Erwartungen der Bevölkerung auf eine rasche Verbesserung ihrer Lebensbedingungen nicht zu erfüllen vermochte. Verstärkt wird diese Enttäuschung durch die diffusen Ängste vieler Menschen vor den Herausforderungen der Globalisierung und vor Identitätsverlust.68 Durch die propagandistische Bewirtschaftung dieser Ängste suchen sich PiS und das Regime Orbán an der Macht zu halten. Letztlich gründen diese Ängste in dem Grundsatzkonflikt zwischen Modernisierung und der Bewahrung nationaler Identität.69 Den baltischen Republiken ist es trotz aller inneren Schwierigkeiten bislang gelungen, beides miteinander zu verbinden, in Polen und Ungarn nicht. Warum nicht? Im Unterschied zu den baltischen Staaten blieben sowohl Polen als auch Ungarn in der Zwischenkriegszeit sozial instabil. An der Macht hielt sich eine weitgehend im Adel verwurzelte und vom Volk abgehobene Elite, die zu verhindern wusste, dass der Großgrundbesitz enteignet wurde. Gewalt, Armut und Antisemitismus waren weitverbreitet, den meisten Menschen blieben demokratische Ideen völlig fremd, zumal die Regierungen im Namen einer »nationalen Wiedergeburt« die bürgerlichen Freiheiten immer stärker einschränkten.70 Der Elitenbruch des Zweiten Weltkrieges und der ersten Nachkriegsjahre wirkte 67 Lang, Kai-Olaf: Zweieiige Zwillinge. PIS und Fidesz. Genotyp und Phänotyp, in: Osteuropa 68 (2018) 3–5, S. 77–98. 68 Für Polen vgl. Chwalba: Kurze Geschichte, S. 146–154. 69 Näher dazu Mechtenberg, Theo: Der EU-Beitritt der mitteleuropäischen Länder als Konflikt zwischen Modernisierung und Identität, in: Hoffmann/Skowronek (Hg.): Polen, der nahe – ferne Nachbar, S. 270–284. 70 Górny, Maciej: Schwache Brüder. Polen und Ungarn in der Zwischenkriegszeit, in: Osteuropa 68 (2018) 3–5, S. 369–389.

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sich in Ungarn insofern stärker aus als in Polen, weil die im »Wasserkopf« Budapest konzentrierte liberale Gesellschaft, die stark jüdisch geprägt war, durch die weitgehende Eliminierung der Juden entscheidend geschwächt wurde. Bei der ungarischen Revolution von 1956 ging es daher in erster Linie um einen Aufstand gegen die kommunistische Fremdherrschaft und nicht um einen Kampf für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.71 Schon die ersten freien Wahlen nach der »Wende« offenbarten eine weitgehende politische Apathie des Stimmvolkes.72 Selbst unter den Intellektuellen regten sich früh Sehnsüchte nach der Rückkehr zum Vorkriegsungarn unter Horthy, und bereits 1992 propagierte István Csurka als Exponent der bürgerlichen äußersten Rechten mit deutlich antisemitischen Untertönen einen »eigenen ungarischen Weg« in Europa und die Besinnung auf das Magyarentum als höchsten Wert.73 Politische Apathie und nationaler Chauvinismus wurden so zum Humus, auf dem das System Orbán gedeihen konnte. Die Zivilgesellschaft blieb demgegenüber schwach entwickelt und weitgehend auf Budapest konzentriert. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Polen der Nachkriegszeit wenigstens teilweise von Ungarn. In Ungarn entflammte der Widerstand gegen die kommunistische Fremdherrschaft nur einmal  – 1956. Danach versanken Arbeiter und Intellektuelle wieder in Passivität. In Polen wirkte das historische Erbe der Aufstände des 19. Jahrhunderts und von 1944 weiter. Dieser Widerstandsgeist äußerte sich auch nach 1956 immer wieder und erreichte seinen Höhepunkt im Solidarność-Sommer 1980. Die urbane Gesellschaft Polens hat damit ihre politische Vitalität bislang viel stärker zur Geltung gebracht als die ungarische. Auch wenn der Rückhalt für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sich in den Städten Polens auf Intellektuelle und den bürgerlichen Mittelstand zurückgezogen hat,74 ist abzusehen, dass mit dem rasanten wirtschaftlichen Fortschritt in Polen diesem Bevölkerungssegment eher die Zukunft gehören wird als den Unterstützern von PiS.75 Die polnische Zivilgesellschaft ist leben71 Im »Polnischen Oktober von 1956« taktierten die Beteiligten aller Seiten umsichtiger und pragmatischer und vermochten daher ein Blutvergießen zu verhindern. Dies spricht für einen stärkeren zivilgesellschaftlichen Entwicklungsgrad in Polen schon zu dieser Zeit. Vergleich des »Ungarischen« und des »Polnischen« Oktober bei Fejtö: Die Geschichte der Volksdemokratien, II, S. 122–150. 72 Goldman: Revolution and Change, S. 198 f. 73 Ebd., S. 199 f. 74 Zur polnischen Zivilgesellschaft Chwalba: Kurze Geschichte, S. 138–146. 75 Wenn man den Wähleranteil der Bürgerplattform an den letzten Wahlen von 2015 (24,1 Prozent) und den der Liberalen von Nowoczesna (7,6 Prozent) addiert, kommt man bereits auf ein Drittel fortschrittlich gesinnter Wahlberechtigter. Auch Marta Kijowska ist im Hinblick

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dig und demonstrationsbereit und solange die populären privaten Printmedien die Öffentlichkeit noch mit politisch ungefilterten Informationen versorgen,76 wird sich daran nichts ändern. Die Zivilgesellschaft Orbán-Ungarns wirkt demgegenüber eingeschüchtert und weitgehend passiv. Gerade der Vergleich Polens und Ungarns vermag daher zu zeigen, dass trotz ähnlicher ererbter sozialökonomischer Strukturen »weiche« Faktoren wie die Stärke oder Schwäche der Zivilgesellschaft und das Fehlen oder Vorhandensein von Widerstandstraditionen die autoritären Tendenzen von heute zementieren oder in Frage stellen. Russland hat nur zwei kurze demokratische Aufbrüche erlebt: von Frühjahr bis Herbst 1917 und in den 1990er Jahren. Beide Aufbrüche fielen mit einer schweren Krise von Staat und Gesellschaft zusammen und hatten daher keine Chance, sich einzuwurzeln. Angesichts einer schwachen Zivilgesellschaft ohne weiter zurückreichende Traditionen,77 angesichts eines patriarchalen Staatsverständnisses der breiten Massen und der Übermacht weiterwirkender autoritärer Machtstrukturen hat Russland sich unter dem Regime von Vladimir Putin weit in die Vergangenheit zurückbewegt – in die Ära von Kaiser Nikolaus I. (1825– 1855). Nikolaus hatte nach dem gescheiterten Dekabristenaufstand von 1825 in Russland ein repressives Regime errichtet, das mit Hilfe von Geheimpolizei, schärfster Pressezensur und von Klassenjustiz versuchte, die Herrschaft des Adels, des Staatsapparats und der Kirche zu zementieren. Das Putin-Regime erscheint mir wie eine modernisierte Wiederkehr dieses Polizeistaates. Von höchster Warte aus betrachtet lässt sich das Verhältnis von Wende und Struktur auf der politischen Ebene seit dem Ersten Weltkrieg auch lesen als eine Abfolge von Demokratisierungs- und Entdemokratisierungsschüben unterschiedlicher Intensität und Dauer.78 Dabei spielen die historisch bedingte auf Polens Zukunft als demokratischer Rechtsstaat optimistisch (Kijowska: Was ist mit den Polen los, S. 198). 76 Dazu jüngst der Zeitungsbericht »Polens Medien sind erstaunlich frei. Das Staatsfernsehen ist zwar unter strenger Kontrolle der Regierung in Warschau. Doch umso mehr setzen ihr die privaten Medien zu – mit Erfolg« (NZZ am Sonntag, 26.08.2018, S. 5). Die PiS-Regierung plant allerdings ein Pressegesetz, das die aus dem Ausland finanzierten Medien ebenfalls unter Staatsaufsicht stellen soll. 77 Natal’ja Zubarevič schätzte 2012 zwar den Anteil der reformbereiten Bevölkerung auf ein Drittel (s. o. Anm. 12), doch anders als in Polen kann man die Mehrheit der Großstädter nicht dazurechnen, wie der Absturz der westlich orientierten Wählerschaft auf 20 Prozent vom Jahre 2011 zeigt (s. o. Anm. 15). 78 Laba, Agnes/Wojtczak, Maria: »Aufbruch zur Demokratie?« – Aspekte einer Demokratiegeschichte Ostmitteleuropas (1918–1939), in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 64 (2015), S. 159–173, hier S. 164 f.

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sozialökonomische Grundierung und die nationale Komponente eine differenzierende Rolle. Die baltischen Staaten haben diesen Transformationsprozess offenbar erfolgreich abgeschlossen. Polens derzeitige Entdemokratisierungsphase dürfte in absehbarer Zeit zu Ende gehen. Bei Ungarn ist das Ende dieser Phase derzeit nicht absehbar, aber nicht unmöglich. Russland hat die Entdemokratisierung zum System erhoben. Ende ungewiss.

Niedergang und Fall des Kommunismus in Ostmitteleuropa Zu den globalhistorischen Aspekten der »friedlichen Revolutionen« Pavel Kolář

Über die Revolutionen von 1989 zu schreiben bedeutet für die ostmitteleuropäischen Historikerinnen und Historiker meiner Generation, sich mit einem Thema zu befassen, zu welchem wir ein doppeltes Verhältnis haben: als Historiker, aber auch als Zeitzeugen, die die Ereignisse von 1989 selbst als junge Menschen miterlebt und an ihnen teilgenommen haben. Es war eine Erfahrung der unmittelbar vorbeischreitenden Geschichte. Das Erlebnis der geschichtlichen Dynamik und Kontingenz, der ungeahnten Wenden sowie die Wahrnehmung einer Zeitenschwelle haben meine Generation dauerhaft geprägt. Wie auch immer wir über die Ursachen, den Verlauf und die Folgen der Revolutionen von 1989 streiten können: Das Gefühl eines epochalen Umbruchs, das wir damals empfanden, ist eine unbestreitbare historische Tatsache. Die Erinnerung an das damalige Epochenbewusstsein ist ein Beweis dafür, dass der Begriff Revolution, wie kontrovers oder gar obsolet er aus heutiger Sicht auch erscheinen mag, doch wohlbegründet ist. »Revolution« ist schließlich ein Quellenbegriff, der von den damaligen Akteuren verwendet wurde. Natürlich stellt sich die Frage, warum damals gerade von einer Revolution gesprochen wurde und was wir darunter verstanden. Es ist aber gerade die zeitgenössische Wahrnehmung, die nach Ansicht vieler Historikerinnen und Historiker das wichtigste Merkmal einer Revolution ausmacht: Wie es Eric Hobsbawm formuliert hat, seien Revolutionen Umbrüche »recognized by contemporaries as prodigious and influential upheavals«.1 Auch wenn der Revolutionsbegriff historisch umstritten sein mag, drückt er doch trefflich die emanzipatorisch-massenhafte Natur der Prozesse des Jahres 1989, das Gefühl der Zeitbeschleunigung sowie den grundsätzlichen Charakter der Änderungen aus. In den folgenden Betrachtungen möchte ich einige Denkanstöße bieten, wie wir die Revolutionen von 1989 neu kontextualisieren und ihre Relevanz für die gesamteuropäische und sogar Globalgeschichte herausarbeiten können. Schließlich ist es die europäische Dimension des Jahres 1989 und seiner Folgen, die es mit den Revolutionen von 1789 und 1917 vergleichbar macht. 1 Hobsbawm, Eric J.: Revolution, in: Roy Porter/Mikuláš Teich (Hg.): Revolution in History, Cambridge 1986, S. 1–46, hier S. 5.

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Doch in verschiedenen Teilen Europas hat das Jahr 1989 eine unterschiedliche Bedeutung. Es stellt sich die Frage, ob dieses Wendejahr die frühere Ost-WestSpaltung Europas eher modifizierte, als sie überwand. Der Historiker Philipp Ther zum Beispiel deutet die Ereignisse von 1989 als »eine verpasste Chance« für die europäische Vereinigung.2 Man denkt an die heutigen Spannungen in Europa, etwa an den steigenden Populismus (nicht nur) in Ostmitteleuropa, an die Spaltung in der Euro- und Migrationskrise sowie auch an die Unterschiede in der Geschichtspolitik. All das mag mit dem Erbe von 1989 zu tun haben. Die Fragen, was dreißig Jahre danach bleibt und was wir gelernt haben, scheinen daher durchaus gerechtfertigt. Wir müssen für sie aber neue Kontexte und Perspektiven suchen.

Ein neuer Deutungsrahmen für das Jahr 1989 Als Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung befinden sich die Revolutionen von 1989 in einem imaginären Zwischenraum: Während die Politikwissenschaftler das Thema längst verlassen haben, ist das Wendejahr für manche Historikerinnen und Historiker noch nicht historisch genug, um als eine abgeschlossene, »vollwertige« Geschichte verstanden werden zu können. Die Historisierung ist noch zu stark vom tagespolitischen Streit beeinflusst. Es lässt sich jedenfalls feststellen, dass je weiter wir uns vom Ereignis entfernen, desto vielfältiger und experimenteller die Kontextualisierungsversuche werden – temporal, territorial, thematisch. Die Ereignisse verlieren ihre Einzigartigkeit und Bedeutung an und für sich und werden stattdessen Bestandteil oder Ausdruck umfassenderer Prozesse, die wir erst aus einem größerem Zeitabstand zu deuten vermögen. Wir interessieren uns also für Bedeutungen, die über das eigentliche Ereignis hinausgehen und die somit auch die Kontinuität in den Blick nehmen. In ähnlicher Weise fasste einer der ersten Interpreten der Französischen Revolution, Alexis de Tocqueville, seine Geschichte auf. Er fragte nicht nach dem Ereignis an sich, sondern nach der allgemeinen Strukturänderung. Die Französische Revolution verstand er als eine Station in einer langfristigen Entwicklung der Zentralisierung der Staatsmacht. Die Revolution habe einen Prozess vollendet, der im Ancien Régime begonnen habe. Tocquevilles Frage zielte demnach eher

2 Ther, Philipp: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014, S. 308.

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darauf zu verstehen, was die Herrschaftsordnung von Bonaparte und Louis XIV. verbinde, als sie unterscheide.3 Wir befinden uns gewissermaßen in einer ähnlichen Situation wie de Tocqueville Mitte des 19. Jahrhunderts. Dreißig Jahre nach dem Ereignis fragen wir weniger nach den unmittelbaren Ursachen und politischen Entscheidungsprozessen. Dies scheint längst – und, zugegeben, relativ zufriedenstellend – beantwortet. Darüber, dass es keine monokausalen Erklärungen gibt, herrscht inzwischen Konsens. Wichtiger scheinen jetzt die Brückenschläge zu allgemeineren Debatten über die Spätmoderne, zu anderen Makrophänomenen der Epoche. Zunächst soll die historiografische Diskussion über das Ende des Kommunismus kurz diskutiert werden, vor allem im Hinblick darauf, was wir aus ihr für eine umfassendere Geschichte des späten 20. Jahrhunderts gewinnen können. Der Umgang mit dem Jahr 1989 hat uns vor allem gelehrt, der Gefahr einer teleologischen Geschichtserzählung auszuweichen, das heißt der zu starken Perspektivierung durch das noch wirkende Ergebnis der Geschichte, nämlich den objektiven Zusammenbruch eines Herrschaftssystems. Dieses Ende verleitet uns dazu, die Vorgeschichte als geradlinigen Niedergang zu sehen, und dies war in der Tat auch die vorherrschende Perspektive der ersten beiden Dekaden nach 1989. Es bestand die Gefahr einer Verengung von Fragestellungen auf herrschaftsgeschichtliche Faktoren, die oft durch kurzlebige geschichtspolitische Konjunkturen bedingt wurden. Damit lässt sich auch die anfängliche Vorherrschaft des Totalitarismusparadigmas erklären, das sich einseitig auf die Entscheidungen von Herrschaftseliten und die Gegentätigkeit der Opposition konzentrierte.4 Die Antwort auf diese teleologische Sicht war der Aufstieg der Gesellschaftsgeschichte des Kommunismus vor allem in den späten 1990er Jahren.5 Sie konzentrierte sich auf soziale Beziehungen als Voraussetzung der Diktaturherrschaft, auf das Verhalten der Vielen, das oft ambivalent und widerspruchsvoll war und sich nicht in eindeutige Kategorien von Tätern und Opfern pressen ließ. Diese 3 Furet, François: 1789 – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a. M. et al. 1980, S. 24. 4 Kritisch zu diesem Paradigma: Sabrow, Martin: Sozialismus als Sinnwelt. Diktatorische Herrschaft in kulturhistorischer Perspektive, in: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien (2007) 40/41, S. 9–23. 5 Heumos, Peter/Brenner, Christiane (Hg.): Sozialgeschichtliche Kommunismusforschung, München 2005; Lindenberger, Thomas (Hg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln et al. 1999.

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Verschiebung brachte eine große Vielfalt an Themen aus Kultur-, Sozial- und Alltagsgeschichte hervor, die eine Brücke zu übergreifenden Themen der westlichen Moderne bauten, wie die Geschichte der Arbeiterschaft, der Jugend, des Konsums, der Popkultur, der Medien und die Geschlechtergeschichte.6 Das Ziel der Gesellschaftshistorikerinnen und -historiker war jedoch keineswegs, eine pa­ rallele Geschichte jenseits der Diktatur zu schreiben, sondern eben nach neuen Antworten auf die große Frage nach der Stabilität und Instabilität von Herrschaft zu suchen. Damit trugen sie wesentlich zu einer neuen Sicht auf den Niedergang des Kommunismus und auch zur Diskussion über die Revolution von 1989 bei. Dieser Rückblick führt mich zur Frage, ob und wie wir die Geschichte des Kommunismus als Ideologie, Bewegung und Herrschaftssystem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Form einer Niedergangserzählung darstellen können. Dabei verstehe ich dieses Unternehmen als eine Beschreibung eines umfangreichen Prozesses des graduellen Wirkungsverlusts einer politischen Formation in einer konkreten Zeit und einem konkreten Raum, nicht als inhärente Aporie eines Utopieprojekts, das aufgrund seiner angeblichen Widersprüche von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen sei. Der Niedergang war nämlich keineswegs geradlinig  – eine banale Tatsache, die aber in Einzeldarstellungen wie auch in Synthesen immer wieder vergessen wird. Wir können zwar feststellen, dass der Kommunismus um 1950 den Zenit seiner Macht erreichte und sich seit Stalins Tod 1953 und Chruščëvs Entstalinisierung im Jahr 1956 zunehmend in der Defensive befand. Seitdem musste die auf Zwang und Dirigismus beruhende Modernisierung korrigiert und reformiert werden. In den 1960er Jahren wurde die Überlegenheit des Westens immer klarer, was den Glauben an die Zukunftsfähigkeit der staatssozialistischen Systeme schwächte. Die Anerkennung nationaler Wege zum Kommunismus, ausgedrückt in der Konzeption des Policentrismo des Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Italiens, Palmiro Togliatti, gefährdete den unitarischen Charakter des sowjetischen Kommunismus. Dazu kamen das ­sowjetisch-chinesische Zerwürfnis (es zirkulierte der Witz, dass das kommunistische Lager ständig wachse – es gebe nämlich bereits zwei) sowie die ideologische Spaltung im Inneren, vorangetrieben vor allem durch die sogenannten Revisionisten. Die Semantik der sozialistischen Revolution wurde weitgehend geschwächt: Statt die Welt radikal und gewaltsam zu ändern, mussten die 6

Siehe z. B. Smith, Stephen A. (Hg.): Oxford History of Communism, Oxford 2014; ­Boškovska, Nada et al. (Hg.): »Entwickelter Sozialismus« in Osteuropa. Arbeit, Konsum, Öffentlichkeit, Berlin 2016.

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Kommunisten nun »reformieren«. Und Reform war auch das Hauptmotto der 1960er Jahre, das im Prager Frühling 1968 seinen Höhepunkt fand. Die Entstalinisierung von 1956 sollten wir freilich nicht nur als den Anfang vom Ende, sondern auch als einen Neubeginn verstehen. Denn was folgte, war eine mehr als drei Jahrzehnte andauernde Ära der kommunistischen Herrschaft, auch wenn sie als »Realsozialismus« verspottet werden mochte. Einige ihrer Phasen zeichneten sich durch eine bemerkenswerte Stabilität aus. Beispiele dieser stabilen Zeiten sind die Gomułka-Ära im Volkspolen der 1960er Jahre, Husáks »Konsolidierung« nach der Zerschlagung des Prager Frühlings 1968 in der Tschechoslowakei, der Großteil der Kádár-Zeit in Ungarn oder auch Honeckers »entwickelter Sozialismus« in der DDR. Im »Realsozialismus« ging es sicherlich nicht mehr um eine baldige Erreichung der klassenlosen kommunistischen Gesellschaft, des »Königreichs der Freiheit«, aber genauso wenig rechnete man mit einem baldigen Ende des Sozialismus. Der Effekt der Stabilitätspolitik war eher eine Ausschaltung der Geschichte, die »Verstetigung der Gegenwart«, wie es der Historiker Stefan Plaggenborg genannt hat.7 Gegen eine teleologische, viel zu stark auf das Ende hin gedachte Interpretation der Zeit zwischen 1956 und 1989 spricht schließlich die Tatsache, dass niemand den Zusammenbruch voraussah, weder im Osten noch im Westen. Auch sollte daran erinnert werden, dass gerade um 1980 der Weltkommunismus seine größte räumliche Expansion in der Geschichte erreichte und ein Drittel der Weltbevölkerung in sozialistischen »Volksrepubliken« lebte. Die Niedergangsgeschichte des Kommunismus hin zum Kollaps von 1989 muss daher als eine ständige Wechselwirkung von Aufstieg und Abstieg, Stärkung und Schwächung, Expansion und Rückzug verstanden werden. In dieser Hinsicht kann als ein historiografisches Vorbild das Meisterwerk des britischen Aufklärungshistorikers Edward Gibbon Verfall und Untergang des Römischen Reiches (erschienen 1776–1788) gelten, welches das allmähliche Ende des Römischen Reiches vom Tode Mark Aurels bis zur türkischen Einnahme Konstantinopels beschreibt.8 Gibbon verknüpfte strukturhistorische (soziale, wirtschaftliche, kulturelle) Aspekte mit politischen und militärischen Entwicklungen. Er interessierte sich für die Interaktion innerer und äußerer Schwächungsfaktoren (Christentum, Barbaren, Islam, Verlust der Legitimität im Herrschaftsapparat, Korruption der Eliten). Das Ergebnis war keine einseitig auf den Untergang vor7 Plaggenborg, Stefan: Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt a. M. 2006, S. 98 ff. 8 Gibbon, edward: Verfall und Untergang des Römischen Reichs, Frankfurt a. M. 2000.

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programmierte Teleologie, sondern eine Geschichte mit Sinn für Ambivalenz, Komplexität und unbeabsichtigte Folgen. Um ein Beispiel zu nennen: Gerade die Übernahme der Techniken und Kultur des Römischen Reiches durch die »Barbaren« trug zur Zerstörung des Reiches, zugleich aber zum teilweisen Weiterbestehen von dessen Kultur bei.9 Eine Geschichte des Niedergangs des Kommunismus sollte sich an Gibbon orientieren, das heißt die Gegenkräfte von innen und von außen betrachten, denn ganz von alleine brach der Kommunismus nicht zusammen. Eine einfache »Implosion« rein von innen, wie Stephen Kotkin angedeutet hat, wäre unwahrscheinlich gewesen.10 Die kommunistische Herrschaftsordnung wurde sowohl von innen her wie von außen konsolidiert, aber auch destabilisiert. Dazu gehören die im Innern der Diktaturen sich ausbreitende Dissidenz, aber auch Gegenprojekte wie der Nationalismus, der marktorientierte Liberalismus, das Einfordern individueller Menschenrechte sowie die ökologischen und neuen sozialen Bewegungen. Ebenso wirksam war die zunehmende Aushöhlung der offiziellen Ideologie, die in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ihre konsensstiftende Kraft verlor.11 Zu beachten ist auch die wachsende wirtschaftliche Rückständigkeit und – bei einigen Ländern wie Rumänien, Polen, Ungarn und später auch der DDR – die immer größere direkte finanzielle Abhängigkeit vom Westen. Im Folgenden möchte ich fünf Vorschläge für Rekontextualisierungen anbieten, mit denen die Ereignisse von 1989 eine neue Bedeutung für die heutigen historiografischen Debatten gewinnen können. Sie betreffen erstens die Geschichtspolitik und Erinnerungskultur, zweitens die Rolle der staatlichen Gewalt (sowohl der vom Staat verübten Gewalt als auch der Gewaltkontrolle durch den Staat), drittens den Niedergang der globalen Linken, viertens den Aufstieg des Neoliberalismus und fünftens die Geschichte der Globalisierung.

 9 Meyer, Michael: Edward Gibbon. Verfall und Untergang des Römischen Reiches, in: Wolfgang Weber (Hg.): Klassiker der Geschichtsschreibung, Stuttgart 2016, S. 11–116. 10 Kotkin, Stephen: Uncivil Society. 1989 and the Impulsion of the Communist Establishment, New York 2009. 11 Yurchak, Alexei: Everything Was Forever, Until it Was No More. The Last Soviet Generation, Princeton 2006; Pullmann, Michal: Konec experimentu. Přestavba a pád komunismu v Československu, Praha 2011.

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Erinnerung und Geschichtspolitik Das Jahr 1989 wird zu Recht nicht nur als eine politische Wende, sondern auch als ein Umbruch im kollektiven Gedächtnis verstanden, der die gesamteuropäische Erinnerungskultur geprägt hat. Gleichzeitig waren sowohl die symbolische Aufladung der Ereignisse selbst (man denke an die Bedeutung von »Erinnerungsorten«, etwa 1939 im Baltikum, 1956 in Ungarn oder 1968 in der Tschechoslowakei) sowie die folgende Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit Teil eines größeren tektonischen Schubs, den der Historiker Dan Diner als Paradigmenwechsel »von Gesellschaft zu Gedächtnis« bezeichnet hat.12 Darunter versteht er die Fragmentierung des bis zu den späten 1960er Jahren bestehenden Fortschrittsnarratives der gesellschaftlichen Modernisierung: Anstelle einer einheitlichen Geschichtserzählung setzte sich eine »Vielfalt von Vergangenheiten« durch. Am Anfang dieses Wechsels stand der Holocaust, nämlich die Unmöglichkeit, das Geschehene in eine sinnvolle Erzählung zu integrieren;13 aber auch das Jahr 1989 trug infolge des Scheiterns des kommunistischen Fortschrittsmodels zur Fragmentierung des einheitlichen Zeitbildes bei. Dabei wurde die Zäsur von 1989 oft überschätzt. Zu denken ist an die Jugoslawienkriege der 1990er Jahre, die man im Westen als Folge eines plötzlichen Wiedererwachens vermeintlich »eingefrorener« gegenläufiger Gedächtnisse bezeichnete, während langfristige soziale, wirtschaftliche und machtpolitische Faktoren übersehen wurden. Der überbetonte Zäsurcharakter des Jahres 1989 als Rückkehr des Gedächtnisses und der folgende Boom der Erinnerungsforschung mögen jedoch eher als Grund denn als Folge der sich nach dem Ende des Kalten Krieges fortsetzenden Ost-West-Spaltung gedeutet werden. Das Bestehen auf der »Besonderheit« des postkommunistischen Gedächtnisses, die durch dessen Institutionalisierung in staatlichen Gedenkanstalten bekräftigt wurde, und die Unfähigkeit, Gemeinsamkeiten im europäischen Gedächtnis zu suchen, stärkten die innereuropäische Divergenz.14 Es ist bezeichnend, dass in den meisten Darstellungen zu Ostmitteleuropa Gedächtnis als etwas verstanden wird, das erst 1989 einsetzte. Um als Beispiel 12 Diner, Dan: Von »Gesellschaft« zu »Gedächtnis« – über historische Paradigmenwechsel, in: ders.: Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München 2003, S. 7–15. 13 Ebd., S. 8–9. 14 Kopeček, Michal: Kommunismus zwischen Geschichtspolitik und Historiographie in Ostmitteleuropa, in: Volkhard Knigge (Hg.): Kommunismusforschung- und Erinnerungskulturen in Ostmittel- und Westeuropa, Köln et al. 2013, S. 17–38.

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aus einem Beitrag zum postsozialistischen Polen zu zitieren: »Die Wende von 1989/90 bot die Chance, Städten und Dörfern die Geschichte wiederzugeben, die sich die Machthaber der Volksrepublik Polen aus ideologisch-propagandistischen Gründen angeeignet, deformiert oder abgelehnt hatten.«15 Die postsozialistische Erinnerungsforschung hat demnach mit dem Gedächtnis vor 1989 das gleiche gemacht, wie die Totalitarismustheorie mit der Gesellschaft: Sie hat sie für nichtig erklärt. Damit wird übersehen, dass sich während des Staatssozialismus ein spezifisches Gedächtnis entwickeln konnte, im Dissens wie auch darüber hinaus. Gute Beispiele davon liefern die neueren Forschungen zu den Bildern vom Weltkrieg und Holocaust in Literatur und Film.16 Die Forderungen nach der Fortsetzung einer »unvollendeten« oder gar »gestohlenen« Revolution, die die Rechtskonservativen in Polen und Ungarn heutzutage erheben, konnten auch deshalb auf fruchtbaren Boden fallen, weil sich große Teile der Gesellschaft in den offiziellen Bildern der kommunistischen Vergangenheit lange Zeit nicht wiederfanden. Die tschechischen Darstellungen der Samtenen Revolution vom November 1989, wie der kanadische Historiker James Krapfl gezeigt hat, begrenzen sich fast ausschließlich auf Anführer und autorisierte Zeitzeugen, während das kollektive Handeln der Bevölkerung abwesend bleibt.17 Hinzu kommt die offiziell geförderte Selektivität der Erinnerung, die nur entweder heroisches oder opferartiges Verhalten in den Blick nimmt, während andere Haltungsarten – Mitmachen, Kompromisse, Ambivalenzen – verschwiegen oder marginalisiert werden; der britische Historiker James Mark spricht demnach von einer »Säuberung der Biografien« nach 1989.18 Hierzu lässt sich schlussfolgern, dass die Revolutionen damit scheiterten, ein nichtelitäres, demokratisches Gedächtnis zu schaffen. Das Versagen des liberalen Geschichtsnarrativs und die wiedererstarkende Nostalgie nach der kommunistischen (oder nationalistischen) Vergangenheit wurzeln gerade in jener Unfähigkeit der Produzenten der Geschichtsbilder, die Erinnerungskultur in ihrer sozialen Vielfalt zu erfassen. 15 Wolff-Powęska, Anna: Strategien der Erinnerung in Polen – die zivilgesellschaftliche Alternative, in: Robert Traba et al. (Hg.): Geschichtspolitik in Europa seit 1989, Göttingen 2013, S. 68–93, hier S. 74. 16 Hallama, Peter: Nationale Helden und jüdische Opfer. Tschechische Repräsentationen des Holocaust, Göttingen 2015; Hallama, Peter/Stach, Stephan (Hg.): Gegengeschichte. Zweiter Weltkrieg und Holocaust im ostmitteleuropäischen Dissens, Leipzig 2015. 17 Krapl, James: Revolution with a Human Face. Politics, Culture and Community in Czecho­ slovakia, Ithaca 2013, S. 1. 18 Mark, James: Unfinished Revolution. Making Sense of Communism in East-Central Europe, New Haven 2010, S. 137.

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Die Rolle der Gewalt Eine zweite Perspektiverweiterung zu 1989 bietet die Geschichte der Gewalt. Bekanntlich verliefen die Revolutionen mit Ausnahme Rumäniens mehrheitlich gewaltfrei, abgesehen von der Polizeigewalt am Anfang der Revolutionen in der DDR und in Prag; im Hintergrund der Revolution in Bulgarien stand die staatliche Gewalt gegenüber der türkischen Minderheit.19 Gewaltlosigkeit, Dialog, Menschlichkeit, Solidarität und guter Wille waren die wichtigsten Losungen der friedlichen Revolutionen. Die slowakische Bürgerbewegung nannte sich sogar »Öffentlichkeit gegen Gewalt«. Die Gewalt spielte also 1989 eine große Rolle – gerade durch ihre vielfach artikulierte Absenz. Oft ist die Frage gestellt worden, warum die kommunistischen Machthaber nicht zur Gewalt griffen. Warum wurde die chinesische Lösung nicht vorgenommen, die etwa in der SED-Führung einige Befürworter hatte? Dafür gab es situative Erklärungen, vor allem Gorbačëvs Unwilligkeit, das Militär einzusetzen. Auch herrscht in der Forschung Konsens darüber, dass tiefere und langfristige Ursachen auf die Gewaltlosigkeit gewirkt hätten, vor allem die Entstalinisierung von 1956 und die Absage an den Massenterror. Seitdem wurde direkte physische Gewalt nur punktuell eingesetzt. Im Laufe der Justizreformen der 1960er und 1970er Jahre wurde die Staatsgewalt zunehmend verrechtlicht und teilweise entpolitisiert. Unter anderem fanden die ersten Versuche der Humanisierung des Strafvollzugs statt. Und gerade das Ausbleiben dieses langfristigen Gewaltausbaus in Rumänien mag auch einer der Gründe sein, warum die Revolution hier im Unterschied zu den anderen kommunistischen Ländern blutig verlief.20 Eine am Recht orientierte und gewaltfreie Strategie verfolgte schließlich auch die Opposition, wie die Charta 77 oder das polnische Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (Komitet Obrony Robotników, KOR). Im Polen der 1980er Jahre, nach der Erfahrung des Kriegsrechts, herrschte ein allgemeiner Unwillen zu radikalen Lösungen; beide Seiten, Regierung wie Opposition, wünschten sich einen Kompromiss.21 Auf der internationalen Ebene setzte sich die Entspannungspolitik durch, während der westliche Wohlfahrtsstaat auch im Osten als Modell zunehmend an Attraktivität gewann. Das ostentative 19 Siehe den sehr informativen Aufsatz von Troebst, Stefan: Bulgarien 1989. Gewaltarmer Regimewandel in gewaltträchtigem Umfeld, in: Martin Sabrow (Hg.): 1989 und die Rolle der Gewalt, Göttingen 2012, S. 357–383. 20 Siehe zur Revolution in Rumänien den Beitrag von Ulrich Schmid in diesem Band. 21 Borodziej, Wlodzimierz: Vom Warschauer Aufstand zum Runden Tisch. Politik und Gewalt in Polen 1944–1989, in: Sabrow (Hg.): 1989, S. 278–303.

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gewaltlose Handeln der Demonstranten im Herbst 1989 war daher nicht nur ein taktisches Mittel gegen die kommunistische Repressionsmacht. Vielmehr speiste sie sich sowohl aus dem offiziellen Versprechen der Diktatur als auch dem Programm der Dissidenten. Sie macht deutlich, wie sich die gesellschaftliche Akzeptanz des legitimen Gewaltansatzes im Spätsozialismus veränderte.22 Mit der Beschränkung und Kontrolle der Gewalt befanden sich die realsozialistischen Systeme auf dem gleichen Weg wie andere moderne Gesellschaften und gerade in diesem breiteren Transformationsrahmen der westlichen Moderne sollte ihre spezifische Gewalterfahrung bewertet werden. Diese Transformation der Staatsgewalt basierte auf der Entwicklung der Gesellschaft, ihres Wohlstandes und ihrer Gesundheit, und zwar nicht durch Zwang, sondern zunehmend durch Kooperation. Die »nackte Gewalt« war nicht verschwunden, wurde aber aufgrund steigender Legitimationszwänge zur Ausnahmegewalt erklärt, aus dem Blickfeld entfernt und zivilisiert.23 Um diesen allgemeinen Prozess der Gewaltlegitimierung zu erfassen, sollten wir Räume und Praktiken der Macht untersuchen, die weder ausschließlich für die Diktatur noch die Demokratie typisch sind, in welchen aber der physische Zwang oder gar Gebrauch der physischen Gewalt von grundsätzlicher Bedeutung ist: Gefängnisse, Militär, Polizeiwachzimmer, Grenzzonen wie auch Anstalten, in denen Hilflose, Alte und Behinderte untergebracht waren. Dazu zählt auch die Einstellung des Staates zur Gewalt in der Gesellschaft, zu häuslicher Gewalt oder Kindesmissbrauch. Der Prototyp der Staatsgewalt ist die Polizei, und es ist ein banales Faktum, dass trotz aller Kultivierung von Gesellschaftsbeziehungen jede Herrschaftsordnung, gleich ob Demokratie oder Diktatur, eine Polizei braucht.24 Zum Beispiel hat sich die Bereitschaftspolizei in liberalen wie sozialistischen Staaten seit den 1970er Jahren vergleichbar entwickelt: konsens- und deeskalationsorientierte Ordnungspraktiken sowie modernere Instrumente zur Eliminierung von Unruhen wurden gegenüber roher Polizeigewalt bevorzugt: von Hieb- und dann auch Feuerwaffen zu Helmen, Schilden und Handgriffen. Und es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Ausrüstung der kommunistischen Polizei oft die westlichen Modelle kopierte. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist es gewinn22 Kolář, Pavel/Pullmann, Michal: Klid k práci, holé ruce a konec našeho komunismu, in: dies.: Co byla normalizace? Studie o pozdním socialismu, Praha 2016, S. 60–71. 23 Zum Begriff der zivilisierten Gewalt Šimečka, Milan: The Restoration of Order. The Normalization of Czechoslovakia, 1969–1976, London 1984. 24 Bessel, Richard/Emsley, Clive (Hg.): Patterns of Provocation. Police and Public Disorder, New York 2000.

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bringend, darüber nachzudenken, weshalb in Ostmitteleuropa Gewalt im Zuge des Umbruchs von 1989/91 eine weniger wahrscheinliche Option darstellte als in Südosteuropa und in Teilen der zerfallenden Sowjetunion.25

Der Niedergang der europäischen Linken Eine dritte Rekontextualisierung der Revolutionen von 1989 bietet der Niedergang der Linken und des Sozialismus im globalen Maßstab. Hier ist zu fragen, wie die Stagnation und später auch die graduelle Erosion der kommunistischen Herrschaft seit den 1970er Jahren mit dem weltweiten Rückzug der sozialistischen Bewegung zusammenhängen. Dabei möchte ich auf zwei Probleme eingehen. Das erste ist der Niedergang der kommunistischen und sozialistischen Massenpartei als der Verkörperung der modernen Massenpolitik. Diese Frage bezieht sich zwar vor allem auf Westeuropa, wir sollten aber durch diese Optik auch die Veränderungen der herrschenden Parteien im Ostblock als Voraussetzung des Kollapses von 1989 betrachten. Inwieweit hat sich das Parteiengagement in der Spätphase des Sozialismus geändert? In quantitativer Hinsicht sehen wir eine Diversität in der Entwicklung der Parteimitgliedschaft. Einige Parteien wuchsen bis zum bitteren Ende: die SED, die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei sowie die Rumänische KP, deren Mitgliederzahl 1989 3,7 Millionen erreichte. Dabei war die letztgenannte wahrscheinlich die proportional zur Bevölkerung größte kommunistische Partei in der Geschichte des Kommunismus. Andere kommunistische Parteien stagnierten seit den 1970er Jahren oder deren Mitgliederzahl sank. Das gilt für die polnischen und ungarischen Arbeiterparteien sowie den Bund der Jugoslawischen Kommunisten, deren Mitgliederzahl nach Titos Tod im Jahr 1980 stark abnahm.26 Im Westen lässt sich eine ähnliche Entwicklung bei den beiden größten kommunistischen Parteien, der italienischen und französischen, beobachten. Ihre Mitgliedschaft erreichte den Höhepunkt in den späten 1970er Jahren, dann fiel sie graduell während des folgenden Jahrzehntes (ähnlich wie bei der SPD und der britischen Labour Party).27 25 Dudek, Antoni: Walki uliczne w PRL 1956–1989, Krakow 1999. 26 Staar, Richard F.: Communist Regimes in Eastern Europe, Stanford 1988. 27 Lazar, Marc: Maisons rouges. Les partis communistes français et italien de la Libération à nos jours, Paris 1992.

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Diese Entwicklungen sind natürlich hauptsächlich aus den jeweiligen nationalen Kontexten her zu erklären; doch hilft uns der vergleichende Blick auf den allgemeinen Trend über das Ausmaß des Legitimitätsglaubens und der Loyalität nachzudenken, über die Strategien der Führungen wie auch darüber, wie sich Erwartungen an die Parteimitgliedschaft vor 1989 änderten. Dies waren wichtige Voraussetzungen für das Verhalten der Kommunisten während der Revolutionsereignisse von 1989. Ein zweiter wichtiger Umstand in diesem Zusammenhang war der Niedergang der industriellen Arbeiterschaft. Die kommunistischen Parteien kämpften stets um einen hohen Anteil von Arbeitern unter ihren Mitgliedern, was allerdings nur in begrenztem Umfang gelang. Mit Ausnahme Rumäniens stagnierte oder sank der Anteil der Arbeiter in den osteuropäischen kommunistischen Parteien in der Spätphase des Sozialismus kontinuierlich. Dieser Rückgang hing mit den Veränderungen der Arbeiterklasse seit den späten 1960er Jahren zusammen. In Westeuropa ging das Arbeitermilieu mit seiner spezifischen Subkultur und organisatorischen Infrastruktur im Zuge der Entindustrialisierung unter, was auch Einfluss auf das Ausmaß des politischen Engagements der Arbeiter hatte.28 In Osteuropa vollzog sich der Niedergang der Arbeiterklasse zwar langsamer oder blieb sogar ganz aus (vor allem auf dem Balkan). Doch die Arbeiterklasse blieb zahlenmäßig als Bevölkerungsanteil bis 1989 wichtig. Die Frage dabei ist, wie sich ihre Zusammensetzung und ihr Selbstbewusstsein veränderten. Die einschlägigen Studien stellen einen Erosionsprozess der Arbeiteridentität fest, vor allem infolge der Privatisierung und Individualisierung des Konsums wie auch der steigenden gesellschaftlichen Missachtung gegenüber der »Qualitätsarbeit«, vor allem bei der ostdeutschen und tschechischen Arbeiterklasse.29 Diese soziokulturellen Veränderungen führten zu einer Entfremdung und Entpolitisierung der Arbeiter während der 1980er Jahre. So zeigt sich in Polen eher eine Passivität der Arbeiterklasse nach der Niederschlagung der Solidarność-Bewegung. Durch diese distanzierte Haltung der Arbeiterklasse wird auch ihre relativ bescheidene Rolle an den Revolutionen von 1989 erklärt. Die Passivität der Arbeiter mag auch ein Grund dafür sein, warum es später für die nichtsozialistischen Kräfte so einfach war, das Erbe von 1989 entweder für sich zu vereinnahmen oder gar zu negieren und mit einem anderen Symbol zu ersetzen. Dies war vor allem in Ungarn der Fall, wo das Jahr 1989 als identitäts28 Eley, Geoff: Forging Democracy. The History of the Left in Europe, 1850–2000, Oxford 2002. 29 Hübner, Peter et al. (Hg.): Arbeiter im Staatssozialismus. Ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit, Köln et al. 2005; Pittaway, Mark: From the Vangaurd to the Margins, Leiden 2014; Pullmann: Konec experimentu, S. 133–144.

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stiftender Erinnerungsort durch den antikommunistischen Aufstand von 1956 in den Hintergrund gedrängt wurde.30

Der Aufstieg des Neoliberalismus Mit dem Niedergang der Arbeiterklasse und des Sozialismus hängt mein vierter Punkt zusammen, nämlich der heute vieldiskutierte Aufstieg des Neoliberalismus seit den 1970er Jahren.31 Die Revolutionen in Osteuropa werden als ein Wendepunkt betrachtet, der dem Sozialismus das Genick brach und den Weg für den globalen Sieg des Marktliberalismus und der Deregulierung frei machte. Hierzu hat Philipp Ther einen bedeutenden Denkanstoß mit seinem Buch Die Neue Ordnung auf dem Alten Kontinent gegeben. Er entwickelte das Konzept der Kotransformation, laut welchem das Jahr 1989 und die folgenden Wirtschaftsreformen im Osten auch für die Durchsetzung des Neoliberalismus im Westen eine Schlüsselrolle gespielt hätten. Die neoliberale »Agenda 2010« der Bundesregierung von Gerhard Schröder, so Ther, sei ohne die Reformvorgeschichte in Ostmitteleuropa nicht denkbar gewesen.32 Eine zweite Diskussion zum Neoliberalismus drehte sich um die Frage, inwieweit wir die Wurzel des späteren Sieges der marktorientierten Politik bereits vor 1989 im Staatssozialismus selbst finden können. Laut dieser Kritik sollte man die späteren Liberalisierungsreformen der 1990er Jahre nicht nur als Import aus dem Westen betrachten. Wie die Arbeiten etwa von Joanna Bockmann und Michal Pullmann zeigen, müssen wir auch die einheimischen Voraussetzungen dieser Umorientierung in Betracht ziehen.33 Beispielsweise nutzten die sozialistischen Wirtschaftsexperten die zunehmende Aushöhlung

30 Harms, Victoria: A Tale of Two Revolutions. Hungary’s 1956 and the Undoing of 1989, in: East European Politics, Societies and Cultures 31 (2017) 3, S. 479–499. 31 Stedman Jones, Daniel: Masters of the Universe. Hayek, Friedman, and the Birth of Neoliberal Politics, Princeton 2012; Ther, Philipp: Neoliberalismus, Version: 1.0, in: Docupedia-­ Zeitgeschichte, http://docupedia.de/zg/ther_neoliberalismus_v1_de_2016 [05.07.2016]. 32 Ther: Die neue Ordnung. 33 Bockmann, Johanna: Markets in the Name of Socialism. The Left-Wing Origins of Neoliberalism, Stanford 2011; Pullmann, Michal: Vervollkommnung, Intensivierung, Beschleunigung, Perestrojka. Die Planung in den sowjetischen und tschechoslowakischen Wirtschaftsdebatten der achtziger Jahre, in: Martin Schule Wessel/Christiane Brenner (Hg.): Zukunftsvorstellungen und staatliche Planung im Sozialismus. Die Tschechoslowakei im ostmitteleuropäischen Kontext 1945–1989, München 2010, S. 253–282.

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der spätsozialistischen Ideologiekonzepte und füllten sie graduell mit marktliberalen Inhalten. Die Frage nach endogenen Wurzeln des Neoliberalismus betrifft aber auch die regimekritische Opposition, deren Agenda sich während der 1980er Jahre von kollektiven sozialen und ökonomischen zu individuellen bürgerlichen Rechten verschob. Die amerikanische Historikerin Mary Nolan spricht sogar von einer Symbiose der Ideologie der Menschenrechte mit der marktliberalen Ideologie der 1980er Jahre.34 Diese Verschiebung zeigt sich deutlich in der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung Charta 77 oder der polnischen Opposition nach der Niederschlagung der Solidarność im Dezember 1981, die den Glauben an die sozialistischen Reformvisionen endgültig begrub, sowohl in der herrschenden Partei als auch in der Opposition. Die Oppositionellen wandten sich jetzt definitiv von sozialistischen Konzepten ab und begannen die neoliberalen Wirtschaftsentwürfe von Friedrich Hayek und Milton Friedman heraufzubeschwören.35 Diese Tendenzen gingen gar so weit, dass im Umfeld des polnischen Parteiführers, General Wojciech Jaruzelski, Forderungen erhoben wurden, eine neoliberale Wirtschaftsreform mit Hilfe einer Militärdiktatur nach dem Vorbild von Augusto Pinochet durchzuführen – eine Idee, die sogar vom konservativen Teil der Opposition unterstützt wurde. Zwar wurde dieser Plan nicht realisiert, doch sollten wir nicht vergessen, dass die ersten Deregulierungen in Polen noch durch die letzte kommunistische Regierung von Mieczysław Rakowski durchgesetzt wurden. Die berühmte »Schocktherapie« des postsozialistischen Finanzministers Leszek Balcerowicz war daher kein Blitz aus heiterem Himmel, sondern ergab sich aus einer schleichenden Marginalisierung der Sozialrechte während der 1980er Jahre. Diese Beispiele zeigen, dass im Aufstieg des Neoliberalismus Ostmitteleuropa kein passiver Rezipient aus dem Westen war, sondern ein selbständiger Akteur; dies bedeutet aber auch, dass die Revolutionen von 1989 in dieser Hinsicht nur als eine »relative« und keine radikale Wende zu betrachten sind.

34 Nolan, Mary: Human Rights and Market Fundamentalism in the Long 1970s, in: Norbert Frei/Annette Weinke (Hg.): Toward a New Moral World Order. Menschenrechtspolitik und Völkerrecht seit 1945, Jena 2013, S. 144–153. 35 Modzelewski, Karol: Zajeździmy kobyłę historii. Wyznania poobijanego jeźdźca, Warszawa 2013; Uhl, Petr/Pavelka, Zdenko: Dělal jsem, co jsem považoval za správné, Praha 2013.

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Das Jahr 1989 und die Globalisierung Der letzte Rekontextualisierungsvorschlag betrifft die Geschichte der Globalisierung. Die Globalgeschichte des Staatssozialismus bildet heutzutage einen sich rasch entwickelnden Forschungsbereich. Untersucht wird zum Beispiel die Frage, ob der wirtschaftliche Niedergang des Kommunismus durch die Globalisierung befördert, vorangetrieben oder gar verursacht wurde; oder umgekehrt, ob die Globalisierung durch den Zusammenbruch des Ostblocks einen neuen Schub erhielt. Manche Schlussfolgerungen mögen radikal erscheinen, wenn bei­spielsweise von einer »roten Globalisierung« die Rede ist: Laut dieser These war der Sowjetblock an der Globalisierung aktiv beteiligt und erreichte sehr früh einen hohen Integrationsgrad.36 Einige Wirtschaftshistorikerinnen und -historiker des Sozialismus mahnen allerdings zur Vorsicht. Zum Beispiel weist André Steiner darauf hin, dass erstens das Volumen des Außenhandels der sozialistischen Staaten immer bescheiden geblieben sei (auch mit der »Dritten Welt«), und zweitens, dass der Ostblock keine Rolle für die sich herausbildenden globalen Kapitalmärkte gehabt habe, die den eigentlichen Motor der Globalisierung darstellten.37 Eine globale Bedeutung von 1989 besteht im Ende der bipolaren Welt und in einem neuen Regime der Territorialität, das den Untergang des souveränen Nationalstaats mit sich brachte. Hier ist von Interesse, dass die spätsozialistischen Länder – trotz aller Rhetorik des Internationalismus – eben die letzten Hüter des klassischen Nationalstaates waren. 1989 glaubten sie, ihre Souveränität von der sowjetischen Hegemonie zurückgewonnen zu haben, und gaben sie aber bald zugunsten der transnationalen Integration in Nato, EU und den globalen Markt wieder auf. Dabei behielten sie aber weiterhin das Prinzip der ethnonationalen Homogenität als Identitätsgrundlage, was nun zu Spannungen innerhalb Europas führt und teilweise den heutigen »Populismus« in diesen Ländern erklärt. Die Erfahrung des Souveränitätsverlustes ist aber auch keine ostmitteleuropäische Besonderheit. Zugleich wird offensichtlich, dass globale Prozesse mit überlieferten nationalstaatlichen Herrschaftsinstrumenten gesteuert werden (und in Konflikt geraten können). Übergreifende internationale Krisen, wie die Finanz- und Migrationskrise, werden nach wie vor vorwiegend mit souveräner Gewalt des Nationalstaates bekämpft – mit nationalen Staatsetats und natio36 Sanchez-Sibony, Oscar: Red Globalization. The Political Economy of the Soviet Cold War from Stalin to Khrushchev, New York 2014. 37 Steiner, André: Ostblock und Globalisierung, in: Jahresbericht des ZZF, Potsdam 2015, S. 40–45.

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nalen Grenzregimen.38 Diese Spannung wird in Ostmitteleuropa durch spezifische Erfahrungen des 20. Jahrhunderts geprägt.

Für eine integrierte Zeitgeschichte Europas Das Ziel dieser Rekontextualisierungsvorschläge ist es, die gesamteuropäische und globalhistorische Relevanz des Jahres 1989 zu erkunden und die jüngste Zeitgeschichte Ostmitteleuropas in größere Entwicklungszusammenhänge zu stellen. Es bringt dabei wenig, wenn sich Historikerinnen und Historiker, die zum Staatssozialismus forschen, darüber aufregen, dass im Westen diese Geschichte ungenügend berücksichtigt werde oder dass in vielen Darstellungen der europäischen Zeitgeschichte Ostmitteleuropa nach wie vor nur als Anhängsel auftrete und das Jahr 1989 als ein Ausdruck einer Verspätung und eines Nachholbedarfs betrachtet werde. Selbstkritisch muss man gestehen, dass auch die Historikerinnen und Historiker Osteuropas die Entwicklung im Westen nach 1945 nicht genügend zur Kenntnis nehmen, obwohl sie dort viel lernen können: Das gilt zum Beispiel für die im Westen sehr weit gediehene Forschung zur Sozialgeschichte der Arbeiterschaft oder die Geschichte der kommunistischen Parteien in Europa. So ist etwa die hervorragende Forschung zu den kommunistischen Bewegungen in Frankreich und Italien bisher von Osteuropahistorikerinnen und -historikern kaum rezipiert worden. Rigorose Spezialisierung in der Zeitgeschichtsforschung überwiegt auf beiden Seiten des ehemaligen Eisernen Vorhangs. Erst nachdem wir eine Reziprozität hergestellt haben, werden wir ein Gleichgewicht in der Darstellung des europäischen Jahres 1989 und seiner Voraussetzungen erreichen, die sowohl die Besonderheiten Ostmitteleuropas als auch den allgemeinen europäischen Kontext berücksichtigt. So wird sich das wichtigste Ergebnis der Revolutionen von 1989 auch in den geschichtlichen Darstellungen verwirklichen: nämlich, wie Robin Okey bemerkt hat, dass Ostmitteleuropa endlich sein Schicksal mit dem gesamten europäischen Kontinent teilen wird.39

38 Rodrik, Dani: Who Needs the Nation State?, in: Economic Geography 89 (2014) 1, S. 1–19. 39 Okey, Robin: Echoes and Precedents. 1989 in Historical Perspective, in: Kevin McDermott/ Matthew Stibbe (Hg.): The 1989 Revolutions in Central and Eastern Europe. From Communism to Pluralism, Manchester 2014, S. 33–52, hier S. 49.

Die »Wende« als »Verrat« Russland, die Nato-Osterweiterung und das Scheitern der europäischen Sicherheitsordnung Jeronim Perović Der Kalte Krieg wurde in Paris symbolisch beendet. Vom 19. bis 21. November 1990 fanden sich die Staats- und Regierungschefs der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, heute OSZE) in der französischen Hauptstadt ein, um ein grundlegendes Abkommen über die Schaffung einer neuen Ordnung für Europa und die Wiedervereinigung Deutschlands zu unterschreiben. Die Verabschiedung der Charta von Paris für ein neues Europa war Ausdruck der Überwindung der Teilung Europas und ein Bekenntnis für Demokratie, Menschenrechte und Grundfreiheiten. Die Unterzeichnerstaaten gaben ein feierliches Versprechen ab, die eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer zu stärken, Konflikte unter den Teilnehmerstaaten friedlich zu lösen und dafür »Mechanismen zur Verhütung und Lösung von Konflikten zwischen den Teilnehmerstaaten zu entwickeln«.1 Spätestens seit dem Ausbruch des russisch-ukrainischen Konflikts 2014 ist klar, dass die Herstellung einer stabilen Sicherheitsordnung für Europa gescheitert ist. Die nach dem Ende des Kalten Krieges geschaffenen Mechanismen haben sich nicht imstande gezeigt, das Aufflammen neuer Kriege in Europa zu verhindern. Als Reaktion auf die Einverleibung der ukrainischen Halbinsel Krim in den russländischen Staatsverband und das Schüren des bewaffneten Konflikts in der Ostukraine durch Russland hat der Westen Sanktionen gegen Moskau verhängt. Seither sind die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland so angespannt wie seit den frühen 1980er Jahren nicht mehr. Anstatt Abrüstung und Rüstungskontrolle zu fördern, wie dies auch die Unterzeichnerstaaten der Charta von Paris beschwört haben, erlebt die Welt ein neues Wettrüsten und geht die Rede von einem neuen Kalten Krieg. Die Meinungen darüber, weshalb sich die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen derart verschlechtern haben, gehen auseinander. Eine vor allem im Westen verbreitete Sicht sieht die Schuld hauptsächlich beim Anwachsen von Militarismus und Nationalismus in Russland, das seit dem Amtsantritt von Vladimir Putin als Präsident zunehmend imperiale Ziele in 1 Charta von Paris für ein neues Europa, Paris 1990, https://www.bundestag.de/blob/189558/ 21543d1184c1f627412a3426e86a97cd/charta-data.pdf [11.02.2019].

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seiner Außenpolitik verfolge und dabei auch vor militärischen Konfrontationen nicht zurückschrecke. In eine andere Richtung zielen diejenigen Analysten und Kommentatoren, die in der westlichen Politik gegenüber Russland das Grundübel erkennen wollen. Anstatt Russland nach dem Ende des Kalten Krieges in eine neue, gesamteuropäische Sicherheitsordnung einzubinden, sei das Land zunehmend isoliert worden und habe sich der Westen ausgebreitet, ohne Rücksicht auf russische nationale Interessen zu nehmen. Eine dritte Stoßrichtung begreift das Auseinanderdriften zwischen Russland und dem Westen als eine Folge von Fehlwahrnehmungen und Missverständnissen, die in eine unheilvolle Spirale zunehmender Unsicherheit betreffend den Absichten des Gegenübers geführt hätten.2 Dass in russischen Narrativen, wie sie namentlich von offizieller Seite vorgebracht werden, der Westen und an erster Stelle Washington für die Zunahme der Spannungen verantwortlich gemacht werden, überrascht kaum. Moskau hat insbesondere aus seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Osterweiterung der Nato nie einen Hehl gemacht und wiederholt beklagt, dass die Ausdehnung des westlichen Militärbündnisses der Idee der Errichtung einer neuen gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur, wie sie in den Jahren der »Wende« angedacht worden war, grundsätzlich widerstrebe und zudem vitale russische Sicherheitsinteressen verletze. Russlands politische Führung wirft dem Westen sogar »Verrat« vor, weil mit der Erweiterung der Nato nach Osten gegen frühere Abmachungen und westliche Garantien verstoßen worden sei. Besonders verbreitet ist die Auffassung, dass Vertreter westlicher Staaten bereits 1990 gegenüber dem damaligen sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbačëv versprochen hätten, die Nato nicht nach Osten auszudehnen. Auch im Westen haben sich in den letzten Jahren die Stimmen derjenigen gemehrt, die nicht nur Russlands Verhalten kritisch bewerten, sondern auch dem Westen den Vorwurf machen, zu wenig unternommen zu haben, um Russland nach dem Ende der Blockkonfrontation in gesamteuropäische Sicherheitsstrukturen einzubinden.3 Anstatt solche zu errichten, habe sich die Nato ausgebreitet und damit Russland an die Peripherie einer amerikanisch domi-

2 Shifrinson, Joshua: »No Place for Russia«: How Much Are Old US Ambitions in Europe to Blame for Russia-West Tensions Today?, in: Russia Matters, 03.01.2019, https://www.russiamatters.org/analysis/no-place-russia-how-much-are-old-us-ambitions-europe-blame-russiawest-tensions-today [11.02.2019]. 3 Stellvertretend: Hill, William H.: No Place for Russia. European Security Institutions Since 1989, New York 2018.

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nierten Sicherheitsordnung in Europa gedrängt.4 Obwohl in der westlichen historischen Forschung in der Zwischenzeit ein Konsens darüber besteht, dass der Westen gegenüber Moskau eine formelle Zusicherung, die Nato nicht nach Osten zu erweitern, nie geleistet hat, so ist die Debatte darüber noch längst nicht beigelegt.5 Schützenhilfe haben die Befürworter der These vom westlichen Wortbruch namentlich durch online publizierte Aktenzusammenstellungen zur Frage der Nato-Osterweiterung erhalten, die das National Security Archive an der Georgetown University in Washington, DC, in den Jahren 2017 und 2018 veröffentlicht hat.6 Die unterschiedlichen Sichtweisen, die sich namentlich in der Debatte um den angeblichen westlichen Wortbruch von 1990 manifestieren, machen deutlich, wie aktuelle Spannungen in den internationalen Beziehungen auf die Deutung der Vergangenheit einwirken. Ziel dieses Beitrags ist nicht die Klärung einer Schuldfrage, sondern die Rekonstruktion des historischen Kontexts mit Hilfe einer Auswertung von Gesprächsprotokollen und anderer Quellen aus den 1990er Jahren. Nach einer Diskussion zur Genese und politischen Bedeutung des Mythos vom westlichen »Verrat« wird der Frage nachgegangen, welche Vorstellungen einer neuen Sicherheitsarchitektur unter den Protagonisten der damaligen Zeit vorherrschten. Auf der Grundlage zeitgenössischer Dokumente soll herausgearbeitet werden, welche Auffassungen vor allem in Washington und Moskau bestanden und ob es zulässig erscheint, schon für die frühen 1990er Jahren einen Zeitpunkt festzumachen, der die spätere Entfremdung zwischen Russland und dem Westen rechtfertigen würde. Der letzte Teil dieses Kapitels zeichnet die Entwicklungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach und fokussiert dabei vor allem auf die Frage, wie das Thema der Nato-Osterweiterung im Rahmen der Gespräche zwischen dem amerikanischen Präsidenten Bill Clinton und Russlands Präsident Boris El’cin behandelt wurde.

4 Sarotte, Mary Elise: A Broken Promise? What the West Really Told Moscow About Nato Expansion, in: Foreign Affairs 93 (2014) 5, S. 90–97. 5 Eine Übersicht zum Forschungsstand bietet: Nünlist, Christian: Krieg der Narrative – Das Jahr 1990 und die Nato-Osterweiterung, in: Sirius 2 (2018) 4, S. 389–397. 6 Blanton, Thomas/Savranskaya, Svetlana (Hg.): Nato Expansion. What Gorbachev Heard, National Security Archive, Briefing Book 613, Washington, DC, 12.12.2017, https://nsarchive. gwu.edu/briefing-book/russia-programs/2017-12-12/nato-expansion-what-gorbachev-­heardwestern-leaders-early [12.02.2019]; Savranskaya, Svetlana/Blanton, Thomas (Hg.): Nato Expansion. What Yeltsin Heard, National Security Archive, Briefing Book 621, Washington, DC, 16.03.2018, https://nsarchive.gwu.edu/briefing-book/russia-programs/2018-03-16/nato-expansion-what-yeltsin-heard [12.02.2019].

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Der Mythos des »Verrats« Wenn es in Russland zu einem außenpolitischen Thema Einmütigkeit gibt, dann in der Ablehnung der Nato-Osterweiterung. Russland hat sich zur Frage der Nato-Osterweiterung ab dem Zeitpunkt negativ verhalten, als 1993 im Westen die öffentlichen Diskussionen darüber ernsthaft begannen. Die Analyse der innerrussischen Debatte in den 1990er Jahren zeigt, wie heftig damalige russische Politiker aller Couleur, vom westlich eingestellten Außenminister Andrej Kozyrev über den Präsidentschaftsanwärter und Anführer der Kommunistischen Partei, Gennadij Zjuganov, bis hin zu radikal nationalistisch eingestellten Politikern wie Vladimir Žirinovskij gegen die Erweiterung der transatlantischen Militärallianz opponierten.7 Auch Russlands Präsident Boris El’cin sorgte aufgrund seiner leidenschaftlichen Ausfälle gegen die Nato-Osterweiterung wiederholt für Schlagzeilen in der Weltpresse, so etwa im Dezember 1994, als er auf dem KSZE-Gipfeltreffen in Budapest vor einem »kalten Frieden« für Europa warnte8 oder als er auf einer Pressekonferenz im Herbst 1995 mahnte, die Aufnahme neuer Mitglieder in die Nato könne die »Flamme des Krieges in ganz Europa« entfachen.9 Auch zeigen die in der Zwischenzeit veröffentlichten Gesprächsprotokolle zwischen dem damaligen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton und El’cin eindrücklich, welch großer Stellenwert der russische Präsident dem Thema der Nato-Osterweiterung beimaß und mit welcher Vehemenz er sich gegen eine Entwicklung zu stemmen suchte, in der er »nichts als eine Erniedrigung für Russland« erkennen wollte, wie er dies gegenüber Clinton anlässlich eines Treffens in Moskau am 10. Mai 1995 einmal erklärte.10 Was El’cin in der zum damaligen Zeitpunkt noch sehr freundschaftlich geprägten Atmosphäre der russisch-westlichen Beziehungen zum Ausdruck brachte, hatte allerdings weniger mit einer   7 Zur innerrussischen Debatte in den 1990er Jahren: Wenger, Andreas/Perović, Jeronim: Russland und die Osterweiterung der Nato. Herausforderung für die russische Aussen- und Sicherheitspolitik (Zürcher Beiträge zur Sicherheitspolitik und Konfliktforschung, Heft 43), Zürich 1997.   8 Russia Warns Nato of »Cold Peace«, in: The Independent, 06.12.1994, https://www.independent. co.uk/news/russia-warns-nato-of-a-cold-peace-1386966.html [24.03.2019].   9 Zitat aus der Pressekonferenz des Präsidenten der Russländischen Föderation, Boris El’cin, am 8. September 1995, enthalten in: Nato-Osterweiterung – ein Spektrum russischer Meinungen, in: Osteuropa-Archiv, August 1996, S. A391–A392. 10 Document 19. Summary Report on One-on-One Meeting between Presidents Clinton and Yeltsin, May 10, 1995, Kremlin, in: Savranskaya/Blanton (Hg.), Nato Expansion. What Gorbachev Heard, https://nsarchive2.gwu.edu/NSAEBB/NSAEBB447/1995-05-10 Summary Report on One-On-One Meeting between Presidents Clinton and Yeltsin.PDF [24.03.2019].

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genuinen Angst Moskaus vor einer sich ausbreitenden Nato zu tun, sondern zeugte vielmehr von tiefgreifender Frustration über die neuen Mächteverhältnisse nach dem Zerfall der Sowjetunion: Die westliche Allianz expandierte, obwohl Russland sich nachdrücklich dagegen aussprach. Die von Russland vorgebrachten Argumente gegen die Nato-Osterweiterung variierten und in der damaligen noch sehr heterogenen innerrussischen politischen Landschaft konnten sich hinter der Ablehnung der Nato-Osterweiterung unterschiedliche Motivationen und Weltbilder verbergen. Im Kern bestand aber unter den einzelnen Akteuren und politischen Gruppierungen ein weitgehender Konsens darüber, dass die Nato-Osterweiterung russische Interessen verletzte. Die Befürchtung war, dass Russland dadurch vom Westen isoliert und seine geostrategische Position bei einer Auflösung des Gürtels neutraler Staaten zwischen Westeuropa und Russland verschlechtert werde. Zudem warnten namentlich die reform- und westlich orientierten Kreise vor möglichen negativen Rückwirkungen auf die russische Gesellschaft, weil dadurch denjenigen Kräften Vorschub geleistet werden könnte, die für eine Abkehr vom Westen plädierten und für die Bildung eines von Russland angeführten Militärblocks bestehend aus ehemaligen Sowjetrepubliken eintraten.11 Schon zu einem frühen Zeitpunkt fand sich in der Debatte auch das Argument wieder, dass die Ausdehnung der Nato historisch ungerecht sei, weil dies einen Verstoß gegen Abmachungen darstelle, welche im Rahmen der Diskussionen um die Wiedervereinigung Deutschlands 1990 vereinbart worden seien. Bereits im September 1993 bezeichnete Russlands Präsident Boris El’cin in einem Brief an den amerikanischen Präsidenten die Nato-Osterweiterung als »illegal«, weil dies seiner Meinung nach gegen die Bestimmungen des Zwei-plus-Vier-Vertrages verstoße, die vorsähen, die Nato nicht nach Osten zu erweitern.12 Besonders deutlich kamen die damaligen russischen Befindlichkeiten in einem vom Rat für Außen- und Verteidigungspolitik (Sovet po vnešnej i oboronnoj politike – SVOP) am 21. Juni 1995 in der Nezavisimaja gazeta publizierten Positionspapier zur Nato-Osterweiterung zum Ausdruck. Die Autoren hielten darin fest, dass die Aufnahme ehemaliger Warschauer-­ Pakt-Staaten in die Nato das Vertrauen Russlands in den Westen zutiefst untergraben könne, weil eine solche Entscheidung »gegen eine wohlverstandene implizite Verpflichtung« seitens des Westens verstoße, die Nato im Gegen11 Wenger/Perović: Russland, S. 39–40, 56; Parrish, Scott: Russia Contemplates the Risk of Expansion, in: Transition 1 (1995) 23, S. 11–14. 12 Der entsprechende Auszug aus dem Brief El’cins an Clinton vom 15. September 1993 ist zitiert bei: Nünlist: Krieg der Narrative, S. 389.

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zug für den sowjetischen Truppenrückzug und Moskaus Zustimmung zur Vereinigung und Nato-Mitgliedschaft Deutschlands nicht nach Osten auszudehnen. Die Autoren sahen in der Absicht der Nato, mittel- und osteuropäische Staaten in die Allianz aufzunehmen, zwar keine direkte militärische Bedrohung für Russland, gaben aber zu bedenken, dass dies im Endeffekt zur »Schaffung eines Sicherheitssystems führen [könnte], in dem Russland keine Rolle spielen würde«.13 Sergej Karaganov, zum damaligen Zeitpunkt stellvertretender Direktor des Europa-Instituts an der Russischen Akademie der Wissenschaften und federführend bei der Ausarbeitung des SVOP-Positionspapiers, äußerte sich in einem Interview gegenüber dem Autor eines Artikels in der Zeitschrift The World Today im Oktober 1995 zur Frage westlicher Zusagen noch deutlicher, wenn er davon sprach, dass Russland vom Westen »ausgetrickst und betrogen« worden sei: For Russians, NATO expansion is a psychological question as much as a strategic one: it involves mutual trust and Western recognition of Russia’s status. Expansion would result in a shift in the whole Russian perception of the West and of the developments of the past five years. It would confirm a feeling of having been if not defeated, then at least tricked and framed. In 1990, we were told quite clearly by the West that the dissolution of the Warsaw pact and German unification would not lead to NATO expansion. We did not demand written guarantees because in the euphoric atmosphere of that time it would have seemed almost indecent – like two girlfriends giving written promises not to seduce each other’s husbands.14 Auch wenn Karaganov damit bereits die Argumentationslinien vorzeichnete, die später, als sich die russisch-westlichen Beziehungen in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre unter Putin merklich zu verschlechtern begannen, in der eigentlichen »Verratsthese« kulminieren sollten, ist es bezeichnend, dass dieser Vorwurf in der damaligen russischen Rhetorik gegen die Nato-Osterweiterung noch nicht sehr prominent figurierte. Trotz heftigem russischen Widerstand waren die westlich-russischen Beziehungen über die gesamten 1990er Jahre stabil genug, um nicht nur die erste Erweiterungsrunde der Nato 13 Das SVOP-Positionspapier ist in der englischen Fassung enthalten in: No Role for Russia in a Security Order That Includes an Expanded Nato, in: Transition 1 (1995) 23, S. 27–32, hier S. 29. 14 Interview Anatol Lievens mit Sergej Karaganov, zitiert in: Lieven, Anatol: Russian Opposition to Nato Expansion, in: The World Today 51 (1995) 10, S. 196–199, hier S. 198.

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1997, sondern auch die tiefgreifende Krise, welche der von Russland heftig kritisierte Nato-Militäreinsatz gegen Jugoslawien 1999 nach sich zog, zu verkraften. Solange westliche Institutionen nicht direkt in den postsowjetischen Raum und damit in die von Russland beanspruchte Einflusszone eindrangen, schien Russland seine vitalen Interessen nicht direkt bedroht zu sehen und war die Fortführung einer pragmatischen Partnerschaft mit dem Westen möglich. Die Situation begann sich erst ab Anfang der 2000er Jahre allmählich zu verändern. Für Unmut sorgte in Moskau nicht nur der von Washington forcierte Plan zur Errichtung eines nationalen Raketenabwehrsystems, das Polen und Tschechien als Standorte vorsah, sondern auch der Entscheid der Nato von 2002, sieben weitere Staaten, darunter die drei Länder des Baltikums, aufzunehmen (der offizielle Beitritt dieser Länder erfolgte 2004). Noch beunruhigender waren aus russischer Sicht aber die »Farbrevolutionen« in Georgien 2003, in der Ukraine 2004 und in Kirgistan 2005. In allen drei Ländern kam es nach Wahlfälschungen zu Massenprotesten, die zum Sturz der herrschenden Elite und zur Machtübernahme durch die Opposition führten. Im Fall Georgiens und der Ukraine ergriff eine prowestlich orientierte Opposition die Macht, welche sich für eine möglichst enge Anbindung ihrer Staaten an die Nato und die Europäische Union aussprach. Moskau wollte hinter den Ereignissen in Georgien und der Ukraine eine von Washington gelenkte Verschwörung gegen Russland erkennen und suchte der Perspektive einer künftigen Mitgliedschaft dieser Länder in westlichen Institutionen entschiedener als zuvor entgegenzuwirken. Es ist vor diesem Hintergrund zu sehen, dass Russlands Präsident Vladimir Putin in seiner berühmten Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 die von den USA angestrebte »monopolare Weltherrschaft« und die Osterweiterung der Nato in bis dahin ungewöhnlicher Schärfe verurteilte, indem er klarmachte, dass Russland darin eine Bedrohung für seine Sicherheit erkenne. Dabei war es in dieser Rede, dass Putin die These vom westlichen Wortbruch erstmals zu einem zentralen Baustein in seiner antiwestlichen Argumentation erhob, wenn er in Zusammenhang mit der Nato-Osterweiterung festhielt: [W]e have the right to ask: against whom is this expansion intended? And what happened to the assurances our western partners made after the dissolution of the Warsaw Pact? Where are those declarations today? No one even remembers them. But I will allow myself to remind this audience what was said. I would like to quote the speech of NATO General Secretary Mr Woerner in Brussels on 17 May 1990. He said at the time that: »the fact

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that we are ready not to place a NATO army outside of German territory gives the Soviet Union a firm security guarantee«. Where are these guarantees?15 Spätestens ab diesem Zeitpunkt gehörte die These vom westlichen Wortbruch zum Standardrepertoire in der antiwestlichen Rhetorik russischer Politiker. Unterstützung erhielt Putins These auch von prominenten Zeitzeugen, darunter Michail Gorbačëv, der im April 2009 in einem Interview gegenüber der Zeitung Bild behauptete, dass er vom deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl, aber auch von US-Außenminister James Baker und anderen Zusicherungen bekommen habe, die Nato würde sich »keinen Zentimeter nach Osten bewegen«, sollte Moskau einem vereinigten Deutschland als Teil der Nato zustimmen. Dabei habe sich der Westen danach vermutlich gefreut, »wie toll man die Russen über den Tisch gezogen« habe.16 Längst nutzen offizielle Vertreter Russlands die These vom westlichen Wortbruch nicht mehr nur als gegen den Westen gerichtete rhetorische Waffe, sondern als zentralen argumentativen Baustein, um die Rechtmäßigkeit der nach dem Kalten Krieg geschaffenen internationalen Ordnung in Frage zu stellen. Besonders deutlich äußerte sich der russische Präsident dazu im Zuge der Ukrainekrise. So rechtfertigte Putin in seiner Rede am 18. März 2014 im Kreml die Aufnahme der Krim in den russländischen Staatsverband als legitimen Akt, wenn er betonte, dass der Westen Russland wiederholt »belogen« habe und »Entscheidungen hinter unserem Rücken« getroffen worden seien. Dies sei auch im Fall der Erweiterung der Nato nach Osten geschehen. Durch ihre Einmischung in der Ukraine habe der Westen nun endgültig »eine Linie überschritten« und habe Russland deshalb keine andere Wahl gelassen, als dem Vordringen des Westens Einhalt zu gebieten.17

15 Transkript und Video der Rede sind abrufbar unter: Vystuplenie i diskussija na Mjunchenskoj konferencii po voprosam politiki i bezopasnosti, München, 10.02.2007, http://kremlin.ru/ events/president/transcripts/by-date/10.02.2007 [12.02.2019]. Hier zitiert aus der offiziellen englischen Übersetzung: http://en.kremlin.ru/events/president/transcripts/by-date/10.02.2007 [15.03.2019]. 16 Gorbačëvs Äußerung im Bild-Interview vom 2. April 2009 ist zitiert bei: Adomeit, Hannes: Nato-Osterweiterung. Gab es westliche Garantien? (Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Arbeitspapier Sicherheitspolitik, Nr. 3), Berlin 2018, S. 1, https://www.baks.bund.de/sites/ baks010/files/arbeitspapier_sicherheitspolitik_2018_03.pdf [12.02.2019]. 17 Aus Putins Rede zur offiziellen Eingliederung der Krim in den russländischen Staatsverband: Obraščenie Prezidenta Rossijskoj Federacii, Moskva, Kreml’, 18.03.2019, http://kremlin.ru/ events/president/news/20603 [12.02.2019].

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»Keinen Zentimeter nach Osten« Was ist an der »Verratsthese« dran? Besondere Berühmtheit hat in der Nato-­ Erweiterungsdebatte die von Gorbačëv im Bild-Interview 2009 zitierte Äußerung erlangt, die westliche Militärallianz werde sich »keinen Zentimeter nach Osten« ausweiten. Tatsächlich geht dieses Zitat auf den damaligen amerikanischen Außenminister James Baker in einem Gespräch mit Gorbačëv in Moskau am 9. Februar 1990 zurück. Bakers Unterredung mit Gorbačëv ist Historikerinnen und Historikern schon länger bekannt,18 und das Transkript des Gesprächs wurde auch schon mehrfach publiziert.19 Das Zitat erfuhr erneut große mediale Beachtung, als das National Security Archive Auszüge aus dem Gespräch in seiner Onlinesammlung zur Nato-Osterweiterung publizierte.20 Die vom National Security Archive veröffentlichten Auszüge stützen sich auf die sowjetische Version des Gesprächstranskripts, das sich im Archiv der Gorbačëv-Stiftung findet und das sich auch mit dem amerikanischen Transkript weitgehend deckt:21 [Baker:] NATO is the mechanism for securing the U.S. presence in Europe. If NATO is liquidated, there will be no such mechanism in Europe. We understand that not only for the Soviet Union but for other European countries as well it is important to have guarantees that if the United States keeps its presence in Germany within the framework of NATO, not an inch of NATO’s present military jurisdiction will spread in an eastern direction.22

18 Der erste, der dieser Frage im Detail nachgegangen ist (und eine Forschungsdebatte losgetreten hat), ist der amerikanische Historiker Mark Kramer: Kramer, Mark: The Myth of a No-Nato-­ Enlargement Pledge to Russia, in: The Washington Quarterly 32 (2009) 2, S. 39–61. 19 Das Dokument findet sich etwa in: Savaransaka, Svetlana/Blanton, Thomas/Zubok, Vladislav (Hg.): Masterpieces of History. The Peaceful End of the Cold War in Europe, 1989, Budapest, New York 2010, S. 675–684; Galkin, Aleksandr/Tschernjajew, Anatolij (Hg.): Michail Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente 1986–1991, München 2011, S. 310–316 (dt. Übersetzung der russischen Version: Michail Gorbačëv i germanskij vopros. Sbornik dokumentov 1986–1991, Moskva 2006). 20 Document 06. Record of Conversation between Mikhail Gorbachev and James Baker in Moscow (Excerpts), in: Blanton/Savranskaya (Hg.): Nato Expansion. What Gorbachev Heard, https://nsarchive2.gwu.edu//dc.html?doc=4325680-Document-06-Record-of-­conversationbetween [23.03.2019]. 21 Karner, Stefan et al.: Der Kreml und der deutsche Vereinigungsprozess, in: Stefan Karner et al. (Hg.): Der Kreml und die deutsche Wiedervereingigung, Berlin 2015, S. 69, inkl. Fussnote 212. 22 Document 06. Record of Conversation between Mikhail Gorbachev and James Baker in Moscow.

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In den heute zugänglichen Gesprächsprotokollen finden sich zahlreiche weitere Äußerungen prominenter westlicher Politiker, die von Befürwortern der Wortbruchthese für die Stützung ihrer Argumentation herangezogen werden, darunter namentlich auch solche des damaligen deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher. Dieser war für seine konziliante Haltung gegenüber der Sowjetunion bekannt – eine Haltung, die sich nicht immer mit derjenigen des deutschen Bundeskanzlers deckte. So soll Genscher im Februar 1990 in Gesprächen mit seinem sowjetischen Gegenüber, dem sowjetischen Außenminister Eduard Ševardnadze, unmissverständlich klargemacht haben, dass »wir […] die Nato nicht nach Osten ausdehnen [werden]«.23 Genscher war im Rahmen der Gespräche über die deutsche Wiedervereinigung auch gegenüber der Idee offen, als Preis für die deutsche Einheit einer Auflösung beider Militärbündnisse, der Nato und des Warschauer Paktes, im Sinne der Schaffung einer paneuropäischen Sicherheitsordnung zuzustimmen – eine Position, die von Kohl allerdings vehement abgelehnt wurde.24 Dementsprechend mag es der sowjetischen Führung in der Rückschau als strategischer Fehler angelastet werden, keine verbindlichen Garantien hinsichtlich der Nato-Osterweiterung eingefordert zu haben. Dies beklagt auch Evgenij Primakov in seinen 2015 erschienenen Memoiren, in denen er sich in einem seiner Kapitel ausführlich mit der Frage westlicher Zusagen hinsichtlich der Nato-Osterweiterung beschäftigt.25 Primakov diente unter El’cin zunächst als Außenminister (1996–1998) und später als Ministerpräsident (1998–1999) und galt innerhalb der El’cin-Regierung als einer der schärften Opponenten der Nato-Osterweiterung. In seinen Aufzeichnungen gibt Primakov an, dass er nach seinem Amtsantritt als Außenminister um eine Zusammenstellung von Archivdokumenten aus der Zeit von 1990/91 gebeten habe, um herauszufinden, ob es seitens westlicher Vertreter Zusicherungen in der Frage der Erweiterung der Nato gegeben habe. Aus den Gesprächsprotokollen, die ihm aus russischen Archiven zur Auswahl vorgelegt wurden, ergibt sich für Primakov ein klares Bild: Westliche Vertreter hätten gegenüber der damaligen sowjetischen Füh23 Genscher zitiert in: Sarotte: A Broken Promise?, S. 93. 24 Nünlist: Krieg der Narrative, S. 390–391. 25 Primakov, Evgenij M.: Vstreči na perekrёstach, Moskva 2015, S. 209–211. Die entsprechenden Auszüge aus den Memoiren Primakovs hat das National Security Archive in englischer Übersetzung im Frühjahr 2018 publiziert: Document 22. Excerpt from Evgeny Primakov Memoir on Nato Expansion, in: Savranskaya/Blanton (Hg.): Nato Expansion. What Yeltsin Heard, https://nsarchive2.gwu.edu//dc.html?doc=4390836-Document-22-Excerpt-from-Evgeny-­ Primakov-Memoir [23.03.2019].

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rung wiederholt mündlich versichert, die Nato werde sich nicht nach Osten ausdehnen. Primakov zitiert in seinen Memoiren nebst den Äußerungen von James Baker auch Auszüge aus Gesprächen mit Helmut Kohl und mit dem französischen Staatspräsidenten François Mitterand, die in direkten Gesprächen mit Gorbačëv im Zeitraum 1990/91 alle großes Verständnis für die Sicherheitsbedenken der Sowjetunion aufgebracht hätten.26 Primakov gibt sich im Rückblick zwar erstaunlich selbstkritisch, wenn er festhält, dass Russland durch sein Verhalten eine Mitschuld daran trage, dass sich Mittel- und Osteuropa dem Westen zugewandt hätten. Mit Blick auf die ihm zur Verfügung gestellten Gesprächsprotokolle aus dem Zeitraum 1990/91 ist er allerdings überzeugt, dass Moskau damals die Möglichkeit gehabt habe, dem Westen eine verbindliche Zusicherung abzuringen, die Nato nicht in den Osten Europas zu erweitern.27 Eine solche Forderung wird dem historischen Kontext jedoch nur bedingt gerecht, zumal zum Zeitpunkt der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen sowohl der Warschauer Pakt als auch die Sowjetunion noch existierten und deren Auflösung von den maßgeblichen Protagonisten der damaligen Zeit nicht antizipiert wurde.28 Dies bestätigt auch Gorbačëv selbst, der, ganz anders als im Bild-Interview, gegenüber der Zeitung Rossijskaja gazeta im Oktober 2014 klarstellte, dass das Thema Nato-Expansion überhaupt nicht diskutiert worden sei: »Ich sage das mit voller Verantwortung: Nicht ein einziges osteuropäisches Land hat diese Frage angesprochen, noch nicht einmal nachdem der Warschauer Pakt 1991 aufgehört hatte zu existieren. Westliche Staats- und Regierungschefs haben sie auch nicht erhoben.«29 Das Problem besteht darin, dass in der Vielzahl von öffentlichen Verlaut­ barungen, die in den Jahren der »Wende« und auch danach abgegeben wurden, und durch die Veröffentlichung einer Fülle von zuvor geheimen Gesprächs26 Primakov: Vstreči na perekrёstach, S. 209–211. 27 Ebd. 28 Das heißt nicht, dass sich in den Gesprächsakten nicht auch individuelle Verlautbarungen finden, die Gedankenspiele in diese Richtung anstellten. So äußerte sich etwa der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher in einem Gespräch mit seinem britischen Gegenüber, Douglas Hurd, am 6. Februar 1990 dahingehend, dass die Russen »must have assur­ ances that if, for example, the Polish Government left the Warsaw Pact on day, they would not join Nato the next day«. Interessanterweise nennt das deutsche Protokoll der Unterredung nicht Polen, sondern Ungarn. Für das russische Narrativ vom westlichen Wortbruch ist die Aussage Genschers aber deshalb von geringem Wert, weil Genscher den Satz gegenüber den Briten, nicht gegenüber sowjetischen Vertretern, geäußert hatte. Dazu: Nünlist: Krieg der Narrative, S. 390. 29 Gorbačev, Michail: Ja protiv ljubych sten, in: Rossijskaja gazeta, 16.10.2014, https://rg.ru/2014/ 10/15/gorbachev.html [23.03.2019].

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akten jede Seite in der Geschichte das findet, was ihrer jeweiligen Sichtweise nützt.30 So ist etwa für den vom russischen Staat finanzierten Auslandsender RT (ehemals Russia Today) mit dem vom National Security Archive publizierten Quellenmaterial zur Nato-Osterweiterung der westliche Wortbruch nun eindeutig belegt.31 Auch einzelne westliche Historikerinnen und Historiker, darunter der bekannte amerikanische Russlandspezialist Stephen F. Cohen, sehen mit den neu publizierten Dokumenten die Wortbruchthese weitgehend bestätigt.32 Zwar finden sich in den Dokumenten individuelle Äußerungen einzelner westlicher Vertreter, die durchaus einen gewissen Interpretationsspielraum offen lassen. Allerdings muss beachtet werden, dass es sich gerade bei den National Security Archive publizierten Dokumenten um eine sehr begrenzte und deshalb einseitige Auswahl an Dokumenten handelt, die, wenn isoliert betrachtet, leicht auf eine falsche Fährte führen können. Die Durchsicht der Vielzahl von Gesprächsakten, die heute für die Jahre 1990/91 vorliegen, lässt dagegen kaum einen Zweifel daran aufkommen, dass sich die damaligen Diskussionen nicht um die Erweiterung der Nato auf die damals noch zum Warschauer Pakt gehörenden Staaten Osteuropas drehte, sondern die Frage erörtert wurde, ob ein vereinigtes Deutschland Teil der Nato oder neutral werden sollte, wie dies die sowjetische Seite in den Verhandlungen wiederholt forderte. Dabei verschweigen die Akten nicht, dass Moskau gegenüber dem Westen seine Bedenken in dieser Frage wiederholt und sehr deutlich vorbrachte: Die sowjetische Führung wollte verhindern, dass die Einbindung eines vereinigten Deutschlands in die Nato eine aus Moskauer Sicht »empfindliche Störung des militärstrategischen Gleichgewichts« nach sich ziehen werde.33 In zahlreichen Gesprächen tat Moskau seine Anliegen kund und suchte stattdessen alternative Visionen einer künftigen gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur durchzusetzen. So gab Gorbačëv 30 Rühle, Michael: Die Mythen und Legenden wuchern, in: Neue Zürcher Zeitung, 10.4.2014, https://www.nzz.ch/die-mythen-und-legenden-wuchern-1.18280961 [23.03.2019]. 31 Nato-Osterweiterung. Deklassifizierte Dokumente belegen Wortbruch des Westens gegenüber Sowjetunion, in: RT Deutsch, 14.12.2017, https://deutsch.rt.com/europa/62195-natoost­erweiterung-dokumente-belegen-wortbruch-des-westens/ [23.03.2019]. 32 Cohen, Stephen F.: The US »Betrayed« Russia, but It Is Not »News That’s Fit to Print«, in: The Nation, 10.01.2018, https://www.thenation.com/article/the-us-betrayed-russia-but-it-isnot-news-thats-fit-to-print [11.02.2019]. 33 Haltung der sowjetischen Führung zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten, Rotstrichinformationen der Hauptabteilung Information des MfAA, 22.02.1990, Nr. 131. Vertraulich. MfAA, MF 031641, in: Möller, Horst/Institut für Zeitgeschichte (Hg.): Die Einheit. Das Auswärtige Amt, das DDR-Aussenministerium und der Zwei-plus-Vier-Prozess, Göttingen 2015, S. 297–299, hier S. 298.

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in einem Telefongespräch mit dem damaligen amerikanischen Präsidenten George H. W. Bush am 28. Februar 1990 zu bedenken, dass die Eingliederung Deutschlands in die Nato der Idee der Errichtung einer paneuropäischen Sicherheit zuwiderlaufe: President Gorbachev: […] [W]e agree that there should be common security as the result of events in Europe of those connected with the unification of Germany. I believe that both of us understand that we regard this in the context of the post-war, all European process. […] You have said that no one should be concerned about these changes and about the threat of a united Germany. But then if that is so, if you believe a united Germany would not be a threat – Why do Western countries want to incorporate them [the Germans] into one alliance? […] Mr. President: […] [I]n response to your question of why we want Germany in the Western alliance – I must say to guard against uncertainty and instability.34 Die USA sollten von dieser Position zwar nicht abweichen, suchten sowjetische Ängste aber zu zerstreuen, indem sie der Sowjetunion letztlich mit der Zusicherung entgegenkamen, die Nato nicht auf damaliges DDR-Territorium auszudehnen. In diesem Kontext ist nicht nur die Äußerung Bakers, sondern auch die von Putin zitierte Aussage Wörners zu verstehen. Der Nato-Generalsekretär hatte den Satz zwar in der von Putin wiedergegeben Form geäußert, allerdings wird beim Lesen der gesamten Rede schnell klar, dass Wörner ausschließlich über die Frage der Nato-Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschlands und die Stationierung von Nato-Truppen auf damaligem DDR-Gebiet sprach.35 Genau in dieser Frage kam es denn auch zu einem Übereinkommen und sollte der Westen der Sowjetunion eine verbindliche Garantie abgeben. In wegweisenden Gesprächen im Juli 1990 in Moskau einigten sich Kohl und Gorbačëv 34 Memorandum of Telephone Conversation. Telephone Conversation with President Mi­khail Gorbachev of the Soviet Union [28.02.1990], in: George H.W. Bush Presidential Library, Memcons and Telcons, https://bush41library.tamu.edu/files/memcons-telcons/1990-02-28-Gorbachev.pdf [19.03.2019]. Weiterführend zur sowjetischen Haltung in der Deutschlandfrage: Zubok, Vladislav: Gorbachev, German Unification, and the Soviet Demise, in: Frédéric Bozo/Andreas Rödder/Mary E. Sarotte (Hg.): German Reunification. A Multinational History, London/New York 2017, S. 88–108. 35 Die Rede Wörners in Brüssel vom 17. Mai 1990 ist abrufbar unter: https://www.nato.int/docu/ speech/1990/s900517a_e.htm [15.03.2019].

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darauf, dass das vereinigte Deutschland zwar die volle Souveränität erhalten solle und deshalb auch die der Nato unterstellten Truppen eines vereinigten Deutschland nach Abzug der sowjetischen Truppen auf dem Territorium der DDR stationiert werden durften (jedoch ohne Kernwaffen). Wie aus dem sowjetischen Protokoll der Gespräche zwischen Kohl und Gorbačëv hervorgeht, hätten sich die beiden Seiten darauf verständigt, dass sich nach dem Abzug der sowjetischen Truppen auf dem Territorium der damaligen DDR »keinerlei ausländische Truppen und deren Bewaffnung« aufhalten dürften, um damit sicherzustellen, dass sich »die militärisch-politische Lage in diesem Raum nicht zu Lasten der Sowjetunion und der anderen Nachbarn Deutschlands [verändere], was von prinzipiell wichtiger Bedeutung für die Aufrechterhaltung der Stabilität und des Kräftegleichgewichts auf dem Kontinent« sei.36 Diese Zusicherung floss in verkürzter Form schließlich in den am 12. September 1990 unterzeichneten Zwei-plus-Vier-Vertrag ein, der in Artikel 5 festhält, dass keine »[a]usländische[n] Streitkräfte und Atomwaffen oder deren Träger« auf dem Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik stationiert oder dorthin verlegt werden dürfen.37

Die Diskussionen um die Rolle der Nato Auch wenn die Debatte um den angeblichen westlichen Wortbruch in die Sackgasse führt, weil sie längst Teil einer umkämpften und hochpolitisierten Geschichtsdeutung geworden ist, so bleibt dennoch zu fragen, ob im Zeitraum 1990/91 eine Chance für den Aufbau einer neuen, gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur bestanden hätte. Die Kernfrage dabei ist, weshalb trotz des kooperativen Klimas, das zwischen den beiden Supermächten herrschte und das sich nicht zuletzt auch in engen persönlichen Beziehungen unter den führenden Protagonisten widerspiegelte, der Westen, und allen voran Washington, an der Nato als dem Pfeiler der künftigen europäischen Sicherheitsordnung 36 Information über die Hauptergebnisse der Gespräche M.S. Gorbatschows mit dem Bundeskanzler der BRD, H. Kohl, während dessen Arbeitsbesuches in der UdSSR vom 14.–16. Juli 1990 (Übersetzung aus dem Russischen), in: BArch, DC 20/6619, https://deutsche-einheit-1990. de/wp-content/uploads/BArch-DC-20_6619.pdf [15.02.2019]. 37 Der Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland wurde am 12. September 1990 in Moskau abgeschlossen und von den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges (USA, UdSSR, Frankreich und Großbritannien) unterzeichnet. Er trat am 15. März 1991 in Kraft. Dokument abrufbar unter: http://www.bpb.de/nachschlagen/gesetze/zwei-plusvier-vertrag/ [15.02.2019].

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festhalten wollte und wenig Enthusiasmus für alternative Vorstellungen aufbrachte. Namentlich die von Moskau vorgebrachte Idee eines neutralen Deutschland außerhalb der bestehenden Verteidigungsbündnisse oder die Aufwertung der KSZE als Alternative zur Nato stießen auf amerikanischer Seite auf entschiedene Ablehnung. Das Interesse Washingtons am Erhalt der Nato lag auf der Hand, denn schließlich war das transatlantische Verteidigungsbündnis die einzige Organisation, die den amerikanischen Einfluss in Europa garantierte. Die Amerikaner sahen in der Nato den eigentlichen Anker für die Stabilität der nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Ordnung in Europa. Dabei machten die amerikanischen Gesprächspartner gegenüber ihren sowjetischen Kollegen auch kein Geheimnis daraus, wie wichtig ihnen die Nato zu diesem Zeitpunkt war. So kommunizierte etwa auch Baker gegenüber Gorbačëv den amerikanischen Standpunkt im erwähnten Gespräch vom 9. Februar 1990 offen und direkt, wenn er sich überzeugt gab, dass die »Nato der einzige Mechanismus zur Sicherung der amerikanischen Präsenz in Europa« sei.38 Baker war zu diesem Zeitpunkt sogar zuversichtlich, dass auch Gorbačëv und Ševardnadze die Präsenz der Nato in Zeiten des Wandels und den damit verbundenen Unsicherheiten nicht als problematisch empfänden, sondern darin ein stabilisierendes Element erkennen würden.39 Und auch Bush machte dies in seinem Telefongespräch mit Gorbačëv am 28. Februar 1990 deutlich.40 Auf westlicher Seite trat man dem sowjetischen Anliegen eines vereinigten Deutschland außerhalb der Nato nicht in erster Linie aus Angst vor möglichen sowjetischen Begehrlichkeiten entgegen, sondern weil ein neutrales und demilitarisiertes Deutschland als potenzieller Unsicherheitsfaktor für die Zukunft angesehen wurde. Nachdrücklich warnte etwa auch der damalige Nato-Generalsekretär Manfred Wörner in einem Gespräch mit Bush am 24. Fe­ bruar 1990 in Camp David vor einem solchen Szenario. Dabei wird aus den folgenden Ausschnitten aus der Unterredung zwischen Wörner und Bush deutlich, dass Wörner nicht nur die Interessen der Nato zu wahren suchte, sondern 38 Document 06. Record of Conversation between Mikhail Gorbachev and James Baker in Moscow. 39 »Baker: I believe Gorbachev and Shevardnadze believe US forces are a stabilizing presence.« Zitat aus: Memorandum of Conversation. Meeting with Helmut Kohl, Chancellor of the Federal Republic of Germany [Camp David, 24.02.1990], in: George H.W. Bush Presidential Library, Memcons and Telcons, https://bush41library.tamu.edu/files/memcons-telcons/199002-24--Kohl.pdf [20.02.2019]. 40 Memorandum of Telephone Conversation. Telephone Conversation with President Mikhail Gorbachev of the Soviet Union [28.02.1990].

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vielmehr aus der Perspektive eines Vertreters der Bundesrepublik Deutschland argumentierte, aus der er selbst stammte: [Wörner:] Trying to create a demilitarized Germany would reproduce the mistake of the Versailles Treaty. I won’t accept it. My democracy, the FRG, is as good as anybody’s. In·this scenario, of a neutral Germany, this German power would not be tied to any safe structure. The most natural reaction then would be for the British and French to try to control the new Germany. The Germans will react, forming their own alliances. We would be repeating the game, with all of its instability, that we witnessed in European politics at the beginning of this century. Potential instability in Eastern Europe will add even more competition and rivalry to the situation.41 Wörner appellierte an den amerikanischen Präsidenten, alles zu tun, um dies zu verhindern: I am frightened by such a vision. We must avoid the classical German temptation: to float freely and bargain with both East and West. If I have one message, it is that you should not allow that to happen. That is your historic task. The Russians are in a different situation, and we should make clear that we appreciate their concerns. But they are in a weak position. They cannot prevent German unification, if you keep your clear line of supporting the process. I want to protect the Germans from temptation, Europe from instability, and safeguard those elements that have made a new Europe possible.42 Viel an Überzeugungsarbeit musste Wörner gegenüber Bush nicht leisten, denn seine Argumente waren im Kern dieselben der amerikanischen Führung. Bush sah es als seine vorrangige Aufgabe an sicherzustellen, dass auch die Europäer auf derselben Linie waren. Zu überzeugen galt es vor allem auch die damalige deutsche Führung. Wegweisend waren in dieser Hinsicht die Gespräche, die Bush mit Kohl im selben Zeitraum, am 24. und 25. Februar 1990, in Camp David führte. Nicht der Inhalt der Ausführungen des amerikanischen Präsidenten erstaunt, sondern die Kompromisslosigkeit, die Bush in der Nato-Frage an 41 Memorandum of Conversation. Meeting with Manfred Woerner, Secretary General of the North Atlantic Treaty Organization [Camp David, 24.02.1990], in: George H.W. Bush Presidential Library, Memcons and Telcons, https://bush41library.tamu.edu/files/memcons-telcons/1990-02-24--Woerner.pdf [23.03.2019]. 42 Ebd.

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den Tag legte. Während sich der amerikanische Präsident in der Öffentlichkeit und in direkten Gesprächen mit Gorbačëv durchaus verständnisvoll für sowjetische Anliegen zeigte, schlug er intern, gegenüber seinen westlichen Partnern, andere Töne an, wenn er etwa seinen Unmut gegenüber sowjetischen Forderungen bei der Deutschlandfrage zum Ausdruck brachte. Gegenüber Kohl äußerte sich Bush dazu wie folgt: [T]he Soviets are not in a position to dictate Germany’s relationship with NATO. What worries me is talk that Germany must not stay in NATO. To hell with that. We prevailed and they didn’t. We can’t let the Soviets clutch victory from the jaws of defeat.43 Was die sowjetische Seite in dieser Direktheit ebenfalls nicht zu hören bekam, war, mit welcher Entschlossenheit die amerikanische Seite eine nachhaltige Stärkung der KSZE zu verhindern suchte. Die Idee der Schaffung paneuropäischer Sicherheitsstrukturen auf Grundlage der KSZE war ein Anliegen, das nicht nur Moskau wiederholt vorbrachte, sondern auch bei den Europäern auf Wohlwollen stieß. Anlässlich derselben Gespräche in Camp David Ende Februar 1990 zeigte sich Bush in dieser Frage jedoch unnachgiebig. Bush war durchaus willens, die KSZE zu erhalten und den KSZE-Prozess fortzuführen, doch nicht deshalb, um eine Alternative zur Nato aufzubauen, sondern um die Prozesse der gegenseitigen friedlichen Annäherung, der Demokratisierung und der marktwirtschaftlichen Öffnung in Osteuropa zu unterstützen. Auch hier zählte er auf Kohls Verständnis: [Bush:] […] I’m sure you agree with me that the CSCE cannot replace NATO as the core of the West’s deterrent strategy in Europe and as the fundamental justification for U.S. troops in Europe. If that happens, we will have a real problem.44 Obwohl sich Washington in der Frage der Nato und einer deutschen Mitgliedschaft unnachgiebig zeigte, so wäre es dennoch übertrieben, in diesen Entwicklungen bereits die Absicht des Westens erkennen zu wollen, die Sowjetunion vorsätzlich zu täuschen und »über den Tisch« ziehen zu wollen, wie dies Gorbačëv im Bild-Interview 2009 behauptete. Insgesamt herrschte ein 43 Memorandum of Conversation. Meeting with Helmut Kohl, Chancellor of the Federal Republic of Germany [Camp David, 24.02.1990]. 44 Ebd.

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kooperativer Geist vor, der sich auch darin ausdrückte, dass der Westen pa­rallel zu den Zwei-plus-Vier-Gesprächen um eine engere Kooperation mit der Sowjetunion und den Warschauer-Pakt-Staaten bemüht war. Dieser kooperative Geist machte auch vor den Türen der Nato nicht halt.

»Hand der Freundschaft« Der veränderten politischen und militärischen Situation in Europa Rechnung tragend, einigten sich die Nato-Mitglieder auf ihrem Gipfeltreffen am 5. und 6. Juli 1990 in London darauf, der Organisation eine stärkere politische Ausrichtung zu geben und die Nato zu reformieren. Dabei sollte der KSZE-Prozess als Gefäß für den Dialog mit den »ehemaligen Gegnern« genutzt werden, um eine »friedliche Neuordnung« Europas einzuleiten, was schließlich im November 1990 in die Unterzeichnung der Charta von Paris münden sollte. Gleichzeitig waren sich die Nato-Mitglieder aber auch darüber einig, dass die KSZE die Nato als Kern einer neuen Ordnung angesichts der »Unabwägbarkeiten und Risiken der Entwicklung in der UdSSR« nicht ersetzen könne. Die Nato schloss zwar in ihre Abschlusserklärung keine expliziten Hinweise auf Sicherheitsgarantien für die UdSSR ein (Stationierung von Nato-Truppen auf damaligem DDR-­Gebiet), dafür wurde aber ausdrücklich eine engere politische Zusammenarbeit zwischen der Nato und den Warschauer-Pakt-Staaten gefordert.45 Nato-Generalsekretär Manfred Wörner tat sich in dieser Hinsicht als besonders engagierter Verfechter einer solchen Zusammenarbeit hervor. Nach dem Gipfeltreffen der Nato reiste Wörner nach Moskau, um am 16. Juli 1990 vor dem Obersten Sowjet der UdSSR eine denkwürdige Rede zu halten. Darin versicherte er, dass die Nato die Sowjetunion und den Warschauer Pakt nicht mehr als Gegner betrachte und er nach Moskau gekommen sei, um die »Hand der Freundschaft« auszustrecken und die Kooperation zu suchen. Als »Partner« sollten alle Seiten Anstrengungen unternehmen, an einem »Gemeinsamen Europäischen Haus« zu arbeiten.46 Mit dem Begriff »Gemeinsames Europäisches Haus« nahm Wörner 45 Vgl. dazu den vertraulichen Bericht zum Nato-Gipfeltreffen vom 10. Juli 1990 des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, enthalten in: PA AA, MfAA, ZR 37/14, https://www.ifzmuen­chen.de/fileadmin/user_upload/Forschung/AA/AA_Dokumente/128-ZD%20A_199007-10_Rotstrich%2037-VII_NATO-Gipfeltreffen.pdf [20.02.2019]. 46 A common Europe – Partners in Stability. Speech by Secretary General, Manfred Wörner to Members of the Supreme Soviet of the USSR, Moscow, 16 July 1990, https://www.nato.int/ docu/speech/1990/s900716a_e.htm [20.02.2019].

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ganz bewusst eine von Gorbačëv schon seit Mitte der 1980er Jahre propagierte Vision einer gesamteuropäischen Sicherheitsordnung auf. Eine solche sollte gemäß Wörner auf »neuen Strukturen« basieren, die »uns alle« einschlössen.47 Wörner machte gegenüber seinen Zuhörern allerdings deutlich, dass die Zeiten unsicher seien und die Nato ihre Verteidigungsbereitschaft aufrechterhalten werde – genau wie dies auch die Sowjetunion tue. Gleichzeitig deutete er bereits in dieser Rede die strategische Neuausrichtung der Allianz an, wenn er erklärte, dass Sicherheit »in einer Zeit, in der keine Nation ihre Sicherheit allein oder isoliert von ihren Nachbarn gewährleisten kann, zunehmend kooperativ werden« müsse.48 Gorbačëv schwenkte im Laufe des Sommers 1990 in der Deutschlandfrage zwar auf die westlichen Positionen ein, versuchte in den Verhandlungen jedoch das Maximum für die sowjetische Seite herauszuschlagen. Nebst den Sicherheitsgarantien betreffend der Stationierung von Nato-Truppen auf dem Gebiet der damaligen DDR strebte er insbesondere finanzielle Leistungen im Gegenzug für das sowjetische Einlenken an. Der Westen wusste um die massiven internen Schwierigkeiten der Sowjetunion, die sich nicht nur in der anhaltenden Wirtschaftskrise manifestierten, sondern auch in innenpolitischer Hinsicht – namentlich im Machtkampf Gorbačëvs mit dem russischen Oppositionspolitiker Boris El’cin und in den nationalen Sezessionsbestrebungen im Baltikum, im Kaukasus und in der Ukraine. Moskaus Verhandlungsposition war entsprechend schwach, und dies suchte der Westen für seine Zwecke auszunutzen. In den erwähnten Gesprächen zwischen Bush und Kohl am 24. und 25. Februar 1990 forderte die amerikanische Seite die Deutschen faktisch dazu auf, die Sowjets zu bestechen; die Deutschen hätten »tiefe Taschen« und Kohl solle die Finanzhilfe als Aussicht für ein Entgegenkommen Moskaus ins Spiel bringen: Chancellor Kohl: […] There will be concerns for the Soviets if Germany remains in NATO, for their security. And they will want to get something in return. The [US] President: You’ve got deep pockets.49 47 Adomeit, Hannes: Imperial Overstretch. Germany in Soviet Policy from Stalin to Gorbachev. An Analysis Based on New Archival Evidence, Memoirs, and Interviews, Baden-Baden 2016, S. 233–360. 48 A common Europe – Partners in Stability [Rede Wörners in Moskau, 16.07.1990]. 49 Memorandum of Conversation. Meeting with Helmut Kohl, Chancellor of the Federal Republic of Germany [Camp David, 24.02.1990]. Weiterführend: Sarotte, Mary Elise: Perpetuating U.S. Preeminence. The 1990 Deals to »Bribe the Soviets Out« and Move Nato In, in: International Security 35 (2010) 1, S. 110–137.

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Tatsächlich waren es nebst westlichen Zusicherungen hinsichtlich der Ausweitung der Nato auf DDR-Gebiet auch die Aussicht auf den Ausbau der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen und die Zusage deutscher Milliardenkredite, die schließlich eine nicht unwesentliche Rolle für das sowjetische Entgegenkommen in der Deutschlandfrage spielten.50 Das sowjetische Einlenken darf jedoch nicht als grundsätzliche Zustimmung angesehen werden. Moskau akzeptierte die westlichen Positionen zwar, jedoch entsprachen sie nicht den sowjetischen Idealvorstellung einer neuen europä­ ischen Sicherheitsarchitektur, und die Moskauer Führung ließ in Gesprächen mit ihren westlichen Partnern auch nach Unterzeichnung des Zwei-plus-VierVertrags kaum eine Gelegenheit aus, ihren Unmut darüber kundzutun. Nicht ohne Ironie ist in diesem Zusammenhang die Feststellung von Gorbačëv in einer Unterredung mit Genscher im März 1991 zu verstehen, wenn der sowjetische Staats- und Parteichef meinte, dass die Sowjetunion eigentlich Nato-Mitglied werden sollte, wenn der Westen behaupte, die Nato fördere Stabilität und Frieden in Europa. Was Gorbačëv als »hypothetische« Frage formulierte, brachte seinen Ärger darüber zum Ausdruck, dass auf amerikanischer Seite kaum Bereitschaft zu erkennen war, den Charakter der Nato umfassend zu verändern und diese Organisation schrittweise in einer neuen, gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur aufgehen zu lassen.51 Gorbačëvs Aussage ist aber vermutlich auch in Reaktion auf wachsende Kritik zu verstehen, die ihm aus den eigenen Reihen erwuchs. Denn dass sich die damalige sowjetische Führung nicht vehementer bemühte, ihre Interessen gegenüber dem Westen durchzusetzen und sich nicht stärker um seine ehemaligen sozialistischen Alliierten in Osteuropa kümmerte, stieß nicht überall auf Verständnis. Die Sorge vor dem schwindenden Einfluss der Sowjetunion in Osteuropa kommt etwa in einem von der internationalen Abteilung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei am 23. Januar 1991 verfassten Informationsschreiben zum Ausdruck. Darin hält der Autor (V. Falin) fest, dass der Einfluss des Westens in der Region zugenommen habe, während Mos50 Bierling, Stephan: Wirtschaftshilfe für Moskau. Motive und Strategien der Bundesrepublik Deutschland und der USA (1990–1996), in: Zeitschrift für Politik 44 (1997) 4, 1997, S. 451– 468, hier S. 454–456. 51 Zapis’ besedy Prezidenta SSSR, General’nogo sekretarja CK KPSS M.S. Gorbačeva s ministrom inostrannych del FRG G.D. Genšerom o meždunarodnom položenii i po voprosam dvustoronnich ekonomičeskich otnošenij meždu SSSR i Federativnoj Republikoj Germanii, 18 marta 1991, in: I.V. Kazarina et al. (Hg.): Konec epochi. SSSR i revoljucii v stranach Vostočnoj Evropy v 1989–1991 gg. Dokumenty, Moskva 2015, S. 505–517, hier S. 513–514.

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kau immer weniger Interesse zeige und nach dem Zusammenbruch »des alten Modells der Beziehungen« sich nicht um die Formulierung einer neuen außenpolitischen Strategie bemühe. Der Autor des Dokuments fordert denn auch die Ausarbeitung einer neuen außenpolitischen Konzeption, die verhindern solle, dass »unsere ehemaligen militärisch Verbündeten« in der Zukunft nicht in »andere Blöcke und Gruppierungen, in erster Linie die Nato« eintreten würden.52 Zwar sollten die militärischen Strukturen des Warschauer Pakts bereits Ende Februar 1991 aufgelöst werden (formell beendete das Bündnis am 1. Juli 1991 seine Existenz), doch über die Möglichkeit einer Nato-Mitgliedschaft ehemaliger Warschauer-Pakt-Staaten wurde auf westlicher Seite zu diesem Zeitpunkt nicht ernsthaft diskutiert. Trotz der sowjetischen Vorbehalte trug die damalige in der Öffentlichkeit geführte Debatte über die Gestaltung der künftigen europäischen Sicherheitsordnung inklusiven Charakter. So äußerte sich etwa der erste Präsident der Tschechoslowakei, Vaclav Havel, in einer Rede vor dem polnischen Sejm im Januar 1991, dass beide Militärallianzen aufgelöst werden sollten, um damit den Prozess einer gesamteuropäischen Integration zu starten.53 Der ehemalige US-Sicherheitsberater und Außenminister Henry Kissinger plädierte in einem Aufsatz in der Washington Post am 22. Januar 1991 für eine stärkere Einbindung osteuropäischer Staaten in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und andere westliche Institutionen – allerdings ausdrücklich nicht in die Nato –, um nach dem Ende des Kalten Krieges das »historische Europa« wieder herzustellen.54 Im Sinne der auf dem Nato-Gipfel im Juli 1990 beschlossenen Neuausrichtung rief die Nato am 20. Dezember 1991 den Nordatlantischen Kooperationsrat ins Leben, der ein Forum für Kooperation und Dialog zwischen den Nato-Mitgliedern und den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten, einschließlich der Sowjetunion, darstellte. Noch während am Ratstreffen das Schlusskommuniqué verabschiedet wurde, informierte der sowjetische Vertreter die Anwesenden darüber, dass sich die Sowjetunion aufgelöst habe und er nun als Vertreter der Russländischen Föderation auftrete. Die Kooperation setzte sich zwar auch 52 Zapiska Meždunarodnogo otdela CK KPSS »O razvitii obstanovki v Vostočnoj Evrope i našej politike v ėtom regione« 23 janvarja 1991 g., in: Kazarina (Hg.): Konec ėpochi, S. 230–235, hier S. 231, 233. 53 Havel, Vaclav: The Future of Central Europe, in: The New York Review of Books, 29.03.1990, https://www.nybooks.com/articles/1990/03/29/the-future-of-central-europe/ [14.03.2019]. 54 Kissinger, Henry: No Illusions About the USSR, in: The Washington Post, 22.01.1991, https://www.washingtonpost.com/archive/opinions/1991/01/22/no-illusions-about-theussr/31c44969-620c-4a73-931a-ccf6a283d43d/?noredirect=on&utm_term=.e0a32d858523 [14.03.2019].

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danach fort, die Ausgangslage in Europa hatte sich mit dem Zerfall der UdSSR allerdings noch einmal grundlegend verändert.

Nach dem Zerfall: Russland und die Nato-Osterweiterung Verbindliche westliche Zusagen gegenüber der Sowjetunion, die Nato nicht nach Osten zu erweitern, hatte es 1990/91 nicht gegeben. Diskutiert wurde die Frage der Ausdehnung der Nato im Rahmen der Deutschlandfrage und mit Blick auf das damalige DDR-Territorium. Solange der Warschauer Pakt und die Sowjetunion existierten, wurde die Aufnahme osteuropäischer Staaten in westlich-sowjetischen Gesprächen nicht thematisiert. Wäre es schon 1990/91 die verdeckte Absicht des Westens gewesen, die Nato über das vereinigte Deutschland hinausgehend auszuweiten, dann hätte erwartet werden können, dass sich die innerwestliche Debatte darüber gleich im Anschluss an die Auflösung des Warschauer Pakts und des Zerfalls der Sowjetunion fortsetzen würde. Tatsächlich aber stand die Erweiterung der Nato nach Osten auch nach dem Zerfall der UdSSR zunächst nicht im Raum. Die Bush-Administration hielt zwar an ihrem Standpunkt fest, die Nato als wichtigstes Instrument amerikanischen Einflusses in Europa zu erhalten, bezog zur Frage der Erweiterung der Allianz aber keine Position. Die Diskussionen darüber begannen auf westlicher Seite zögerlich. Mitte 1992 machte sich außerhalb der US-Administration der ehemalige nationale Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski für die Aufnahme Polens in die Nato stark. Doch es war erst Ende 1992, dass zwei prominente Vertreter der Bush-­ Administration, Verteidigungsminister Dick Cheney und Außenminister Lawrence Eagleburger, in der Öffentlichkeit erstmals über die Möglichkeit der Erweiterung der Nato nach Osten spekulierten.55 Dabei stand bei den ursprünglichen westlichen Überlegungen, die Nato auszuweiten, zunächst nicht so sehr die Angst vor imperialen Gelüsten Russlands im Vordergrund (auch wenn dies später seitens der ostmitteleuropäischen Staaten ein wichtiges Motiv bei ihrem Streben Richtung Nato darstellen sollte), sondern die Frage, welche Rolle sich die Nato angesichts des Wegfalls seines früheren Widersachers zuschreiben sollte. Es waren die Kriege auf dem Territorium des zerfallenden Jugoslawien und die Furcht vor einer Ausweitung von Instabilität, welche die Nato dazu bewegte, über eine grundsätzliche Neuausrichtung nachzudenken. Dazu gehörte nicht 55 Hill: No Place for Russia, S. 110.

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nur die Möglichkeit, auch außerhalb des Nato-Gebiets aktiv zu werden, sondern auch die Option, neue Mitglieder aufzunehmen. Auch wenn die These vom westlichen Wortbruch widerlegt werden kann, wäre es gleichwohl falsch, die russischen Einwände, der Westen habe mit der Nato-Osterweiterung sein Versprechen von 1990 gebrochen, nur als Beispiel für ein »verzerrtes Erinnerungs-Syndrom« abzutun.56 Auch wenn westliche Regierungen und Vertreter der Nato keine verbindlichen Zusicherungen abgegeben hatten, so entsprach der Entscheid, die Nato auszudehnen, nicht der kooperativen Atmosphäre der damaligen Zeit. Im erwähnten Interview von 2014 gegenüber der Rossijskaja gazeta brachte Gorbačëv dies auf den Punkt, wenn er festhielt, dass die Nato-Osterweiterung einen »Verstoß gegen den Geist der Erklärungen und Zusicherungen« darstelle, welche 1990 gegenüber der Sowjetunion geleistet worden seien.57 Eine Durchsicht der zahlreichen westlich-sowjetischen Gesprächsakten bestätigt diesen Eindruck. Dass der spätere Entscheid, die Nato zu erweitern, in Moskau nicht nur Besorgnis, sondern auch Empörung auslösen musste, konnte deshalb nicht verwundern. Washington war in der Folge zwar bemüht, russische Einwände gegen eine Erweiterung zu zerstreuen, indem wiederholt beteuert wurde, die Ausdehnung der Nato richte sich nicht gegen Russland, sondern sei als eine Ausdehnung von Stabilität und Sicherheit Richtung Osten zu verstehen, was letztlich auch russischen sicherheitspolitischen Interessen entgegenkomme. Zudem war die amerikanische Regierung vor allem während der Clinton-Amtszeit (1993–2001) ehrlich bestrebt, Russland auch institutionell stärker an den Westen anzubinden, um russischen Sicherheitsbedenken entgegenzukommen. So gelang es Washington, Moskau 1994 zur Unterschrift unter das Partnership-for-Peace-Programm der Nato zu bewegen. Was die KSZE anging, so hielt die amerikanische Regierung zwar auch unter Clinton an ihrer grundsätzlich skeptischen Haltung gegenüber dieser Institution fest und sah darin zu keinem Zeitpunkt einen Ersatz für die Nato. Allerdings wurde die KSZE in der Folge aufgewertet und wurde schließlich 1994 in eine vollwertige Organisation (die OSZE) umgewandelt, die unter anderem mit wichtigen friedensfördernden Missionen in den jugoslawischen Konfliktgebieten und anderen Brennpunkten im postsowjetischen Raum, da­ runter auch in Tschetschenien, betraut wurde. 56 Clark, Christopher/Spohr, Kristina: Moscow’s Account of Nato Expansion is a Case of False Memory Syndrome, in: The Guardian, 24.03.2015, https://www.theguardian.com/commentisfree/2015/may/24/russia-nato-expansion-memory-grievances [13.02.2019]. 57 Gorbačëv: Ja protiv ljubych.

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Einen Meilenstein in den Beziehungen zu Russland stellte die im Mai 1997 erfolgte Unterzeichnung der Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nato und der Russischen Föderation dar, welche auch die Schaffung des Ständigen Gemeinsamen Nato-Russland-Rats beinhaltete. Der Zeitpunkt war nicht zufällig gewählt. Durch die Einrichtung einer permanenten Vertretung Russlands bei der Nato sollten russische Bedenken gegen die Osterweiterung im Vorfeld des Beschlusses der Nato zur Aufnahme von drei neuen Staaten, Polen, Tschechien und Ungarn, abgefedert werden (der formelle Nato-Beitritt dieser Staaten erfolgte schließlich 1999). Da­ rüber hinaus machte sich Clinton auch für die Aufnahme Russlands in die G7, die Gruppe führender Industrienationen, stark, der Moskau 1998 offiziell beitrat, und setzten sich die USA auch für die Vergabe von Finanzhilfen an Russland im Rahmen internationaler Finanzinstitutionen wie des IWF und der Weltbank ein. Auch wenn Russland in institutioneller Hinsicht somit relativ eng an den Westen angebunden wurde, darf dies dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Westen die Bedingungen der russischen Integration weitgehend diktierte und zu keinem Zeitpunkt bereit war, Russland als gleichberechtigten Partner an einer neuen gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur teilhaben zu lassen. Dies zeigen etwa die Diskussionen zwischen El’cin und Clinton im Vorfeld des Nato-Erweiterungsentscheids im Frühjahr 1997 in Helsinki. Nachdem Clinton dem russischen Präsidenten klargemacht hatte, dass der Westen an der Aufnahme neuer Mitglieder in die Nato trotz russischer Proteste festhalten würde, bat El’cin eindringlich um Zugeständnisse, um die »negativen Konsequenzen« eines solchen Schrittes für Russland abzufedern.58 So forderte El’cin konkrete Garantien, dass die Nato in der Zukunft von der Aufnahme ehemaliger sowjetischer Republiken, und insbesondere der Ukraine, absehen würde. Auf dem Treffen in Helsinki schlug er Clinton eine Art »Gentlemen’s Agreement« vor, eine mündliche Vereinbarung, in der sich die USA verpflichten würden, keine ehemaligen Sowjetrepubliken in die Nato aufzunehmen. Im Gegenzug würde Russland sich bereit erklären, keine territorialen Ansprüche auf andere Staaten zu erheben.59 Auch war El’cin von der Idee eines Abkommens mit der Nato als Kompensation für die Nato-Osterweiterung in der von Washington vorgeschlagenen Form nicht begeistert und forderte, dass dieses rechtlich verbindlich sein müsse: 58 Memorandum of Conversation. Afternoon Meeting with Russian President Yeltsin [Helsinki, 21.03.1997], Clinton Digital Library, https://clinton.presidentiallibraries.us/items/show/57569 [20.03.2019]. 59 Ebd.

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[El’cin:] I am prepared to enter into an agreement with NATO not because I want to but because it is a forced step. There is no other solution for today. The principal issues for me are the following: The agreement must be legally binding – signed by all 16 Allies. Decisions by NATO are not to be taken without taking into account the concerns or opinions of Russia. Also, nuclear and conventional arms cannot move eastward into new members to the borders of Russia, thus creating a new cordon sanitaire aimed at Russia.60 Die Nato kam zwar dem russischen Anliegen entgegen, keine Nuklearwaffen in neuen Mitgliedstaaten zu stationieren, falls die Situation dies nicht erforderlich mache. Ein entsprechender Beschluss wurde in den Text der Nato-Russland-Grundakte aufgenommen, wenn darin festgehalten wurde, dass die Mitglieder der Nato »keine Absicht, keinen Plan und keinen Grund« haben würden, solche Waffen auf dem Territorium neuer Staaten zu stationieren.61 Zudem wurde in das Dokument auch die Bestimmung aufgenommen, einen potenziell gefährlichen Auswuchs konventioneller Streitkräfte in den neuen Mitgliedstaaten zu verhindern und bestrebt zu sein, keine substanziellen Kampftruppen dauerhaft zu stationieren.62 Allerdings weigerte sich Clinton, ein konkretes Versprechen hinsichtlich künftiger Erweiterungspläne abzugeben, und lehnte die Forderung nach einem faktischen Vetorecht Russlands bei internen Nato-Entscheidungen ab. Die Nato-Russland-Grundakte hatte damit vor allem symbolischen Charakter, der die Dauerhaftigkeit der Partnerschaft des Westens mit Russland unterstreichen, aber auch El’cins damalige schwierige innenpolitische Position nicht weiter untergraben sollte. Entsprechend bemühte sich der russische Präsident denn auch, die Unterzeichnung der Nato-Russland-Grundakte als großen Erfolg für die russische Diplomatie darzustellen. So betonte El’cin in seiner Radioansprache an das russische Volk am 30. Mai 1997, dass durch die Einrichtung des Gemeinsamen Rats der russische Einfluss in europäischen Sicherheitsangelegenheiten nun garantiert sei und Russland ein Mitspracherecht als gleichberechtigter Partner der Nato erhalten 60 Ebd. 61 In Paragraph IV der Grundakte heißt es: »The member States of Nato reiterate that they have no intention, no plan and no reason to deploy nuclear weapons on the territory of new members, nor any need to change any aspect of Nato’s nuclear posture or nuclear policy – and do not foresee any future need to do so.« Aus: Founding Act on Mutual Relations, Cooperation and Security between Nato and the Russian Federation signed in Paris, France [27.05.1997], https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_25468.htm [20.03.2019]. 62 Ebd.

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habe.63 Dass dem nicht so war und der Ständige Gemeinsame Nato-Russland-Rat letztlich nur ein Konsultationsorgan bildete, in dem Russland über kein echtes Mitspracherecht verfügte, ließ der Präsident in seiner Radioansprache unerwähnt. Wie wenig der Westen auf russische Bedenken tatsächlich Rücksicht nehmen sollte, kam im Fall des Nato-Militäreinsatzes gegen Jugoslawien 1999 zum Ausdruck. Die Kosovo-Krise führte Moskau vor Augen, dass Russland trotz der institutionellen Anbindungen an den Westen in Kernangelegenheiten europä­ ischer Sicherheitsfragen eben kein wirkliches Mitspracherecht, und schon gar nicht ein Veto, zugestanden wurde. Dabei spielte auch keine Rolle, dass Russland neben den USA, Frankreich, Großbritannien und Deutschland Mitglied der Jugoslawien-Kontaktgruppe war, die 1994 mit dem Ziel eingerichtet worden war, die internationalen Aktivitäten in den Konfliktgebieten dieses Raumes zu koordinieren. Mehr als die Erweiterung der Nato Richtung Osten war es der ohne Uno-Mandat und gegen den ausdrücklichen Willen Moskaus durchgeführte Militäreinsatz der Nato gegen Jugoslawien, welcher die bis dahin tiefsten Narben im westlich-russischen Verhältnis hinterließ. Russland sah sich in der Befürchtung bestätigt, dass die USA die Neugestaltung der Weltordnung nach eigenen Gesichtspunkten und ohne Rücksicht auf russische Interessen vornahmen. Zwar erholte sich das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland nach der Kosovo-Krise und sollte im Nachgang des Terroranschlags auf die USA am 11. September 2001 sogar nochmals eine Stärkung erfahren, als Putin den Amerikanern die Hand zur Zusammenarbeit im Kampf gegen den internationalen Terrorismus bot. Auf ihrem außerordentlichen Gipfel in Rom im Mai 2002 bekräftigte die Nato denn auch nochmals ausdrücklich die Partnerschaft mit Russland und rief den Nato-Russland-Rat ins Leben. Dieser ersetzte den 1997 eingerichteten Gemeinsamen Rat und sollte als Forum für gegenseitige Konsultationen dienen, um die konkrete Zusammenarbeit zwischen der Nato und Russland in verschiedenen Regionen und Bereichen, darunter namentlich bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, zu koordinieren. Dennoch sahen sich ab diesem Zeitpunkt schon längst all diejenigen im Westen bestätigt, welche die Erweiterung der Allianz explizit auch als Absicherung gegen ein möglicherweise revanchistisches Russland verstanden. Solange sich Russland in Richtung Demokratie und freie Marktwirtschaft bewegte, schienen diesbezügliche Befürchtungen fehl am Platz. Doch erste Anzeichen dafür, wie fragil die Situation diesbezüglich war, manifestierten sich bereits im Okto63 Wenger/Perović: Russland, S. 7.

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ber 1993, als El’cin die Beschießung des russischen Parlaments anordnete. Unbehagen bereiteten im Westen auch die mit großer Brutalität geführten Kriege der russischen Armee gegen das abtrünnige Tschetschenien in den 1990er und 2000er Jahren. Die politische und wirtschaftliche Konsolidierung Russlands unter Putin wurde im Westen zwar begrüßt, mit großer Sorge wurde allerdings die damit einhergehende Einschränkung demokratischer Freiheiten beobachtet. Spannungen traten wiederholt auch aufgrund unterschiedlicher außenpolitischer Interessen zutage, die sich immer deutlicher auch im postsowjetischen Raum bemerkbar machten. Dass Putin, anders als sein Vorgänger, nicht davor zurückschreckte, auf die vermeintliche Ausdehnung des Westens mit konkreten Gegenaktionen zu reagieren, kam erstmals im Zuge des russisch-georgischen Krieges im August 2008 zum Ausdruck. In Reaktion auf den Versuch der westlich orientierten Führung Georgiens, die abtrünnige und von Russland protegierte Teilrepublik Südossetien zurückzuerobern, ließ Moskau seine Armee in den südkaukasischen Staat einmarschieren und sendete damit auch ein Signal an den Westen, dass Russland bereit war, dem Einfluss äußerer Mächte in dieser Region aktiv entgegenzutreten.64

Die »Wende« als verpasste Chance? Die Spannungen zwischen Russland und dem Westen haben sich seit dem Ausbruch des russisch-ukrainisches Konflikts 2014 zwar nochmals deutlich verschärft. In der Ukrainekrise aber den vorläufigen Endpunkt einer Eskalationsspirale erkennen zu wollen, die bereits in den frühen 1990er Jahren einsetzte, verkennt, dass das Verhältnis zwischen Russland und den westlichen Staaten über die gesamten 1990er Jahre, aber auch darüber hinausgehend, trotz wiederholter Krisen und Meinungsverschiedenheiten grundsätzlich gut und eine Zusammenarbeit möglich war. Der Weg in den Konflikt, wie er sich seit 2014 darstellt, war in den frühen 1990er Jahren noch nicht vorgezeichnet, und es wäre falsch, einen solchen zu antizipieren, ohne dabei den historischen Kontext und die Sichtweisen der damaligen Akteure in Betracht zu ziehen. Wenn die amerikanische Historikerin Mary Elise Sarotte in den westlichen Entscheidungen von 1990/91 bereits die Absicht sieht, Russland zu isolieren, dann spiegelt dies eine historisch gesehen problematische Vorwegnahme späte64 Stellvertretend: Lucas, Edward: The New Cold War. Putin’s Russia and the Threat to the West, New York2 2009.

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rer Entwicklungen wider.65 Dass sich Russland heute tatsächlich außerhalb westlicher sicherheitspolitischer Strukturen befindet, war zum damaligen Zeitpunkt keine vom Westen intendierte Absicht. Das vorrangige Ziel der damaligen westlichen Protagonisten war nicht die Schwächung oder Isolation der Sowjetunion bzw. Russlands, sondern die Durchsetzung eigener Vorstellungen betreffend der sicherheitspolitischen Zukunft der Nato und des vereinigten Deutschlands als Mitglied der transatlantischen Verteidigungsallianz. Allerdings gilt es im Rückblick auch festzuhalten, dass die Chance, nach 1990/91 eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands aufzubauen, zu wenig genutzt worden war. Dem Westen war zwar an guten und stabilen Beziehungen mit Russland gelegen, doch diese Beziehungen gestalteten sich nicht auf Augenhöhe. Es war der Westen, der darüber zu befinden suchte, wie diese Beziehungen strukturiert waren und welche Rolle Russland in der auf der Nato basierenden europäischen Sicherheitsarchitektur spielen sollte. Dabei ist die Frage, inwiefern die Nato-Osterweiterung tatsächlich auf ein genuines russisches Bedrohungsgefühl zurückgeführt werden kann oder inwiefern dieses Thema von der politischen Elite des Landes als dankbares Feindbild aufgebauscht und instrumentalisiert wird, um bestimmte innen- und außenpolitische Zielsetzungen zu rechtfertigen, längst müßig geworden. Denn wenn Putin in seiner Rede am 18. März 2014 die Einverleibung der Krim in den russländischen Staatsverband als einen legitimen Akt der Selbstverteidigung und als Reaktion auf die »Eindämmungspolitik« sieht, wie sie der Westen »bereits im 18., im 19. und im 20. Jahrhundert gegen Russland angewendet hat« und »bis heute« fortführt, dann bespielt Russlands Präsident ein Narrativ, das in weiten Teilen der politischen Elite, aber auch in der Gesellschaft, einen Nerv trifft und breite Zustimmung findet.66 Die Wahrnehmungen darüber, weshalb sich das russisch-westliche Verhältnis in den letzten Jahren derart verschlechtert haben, divergieren heute genauso stark wie die historischen Narrative. Geschichte ist damit längst zu einem weiteren Kampfplatz in der russisch-westlichen Auseinandersetzung geworden. Eine Aufarbeitung der Vergangenheit muss deshalb Teil der Anstrengungen im Prozess der Normalisierung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen bilden. Angesichts der verhärteten Positionen ist eine solche Empfehlung derzeit allerdings schwierig zu vermitteln. 65 Sarotte: A Broken Promise?, S. 90–97. 66 Zitate aus Putins Rede am 18. März 2014 anlässlich der offiziellen Eingliederung der Krim in den russländischen Staatsverband: Obraščenie Prezidenta Rossijskoj Federacii.

Gibt es ein Fortleben von Sowjetismen im heutigen politischen Diskurs Russlands? Daniel Weiss

Wer sich länger mit dem öffentlichen Diskurs in der Sowjetunion – im Folgenden der Kürze halber mit dem Label Newspeak bezeichnet1 – befasst hat, der wird öfter mit der Frage konfrontiert, was bzw. wie viel von diesem Sprachgebrauch im heutigen russischen politischen Diskurs weiterlebt. Von vornherein ausgeschlossen werden hier parodistische und ironische Zitate, das heißt ein nonbona-fide-Umgang mit dem damaligen Sprachgebrauch. Zu fragen ist stattdessen nach lexikalischen und anderen Überbleibseln des Newspeak im heutigen russischen Sprachsystem (Kapitel »Überbleibsel des Newspeak im Sprachsystem«) und nach Reflexen im heutigen politischen Diskurs (Kapitel »Nachwirkungen des Newspeak im politischen Diskurs«). Dies setzt allerdings eine, wenn auch knappe, Charakterisierung der Grundzüge des Newspeak voraus.

Einführung: Kleiner Abriss des Newspeak Auch wenn manche diagnostische Kriterien des Newspeak allgemein bekannt sein dürften, empfiehlt sich eine Rekapitulation seiner wichtigsten Merkmale, zumal diese eine klare Hierarchie erkennen lassen. Dieses Kapitel gründet auf einem langjährigen Forschungsprojekt zur Geschichte der verbalen Propaganda in der Sowjetunion und Volkspolen, in dessen Verlauf zwischen 1986 und 2009 insgesamt 43 Publikationen entstanden.2 Die Beschränkung auf dieses Projekt bietet den Vorteil eines einheitlichen theoretischen Rahmens, der unten kurz vorgestellt wird. Nachdem seit letztem Jahr eine neue synthetische Darstellung vorliegt,3 braucht auch nicht auf alle früheren Titel eingegangen zu werden. Damit bleibt allerdings eine Reihe gewichtiger fremder Beiträge zum Thema 1

Dabei sollen keinerlei manipulatorischen Intentionen bzw. Wirkungen mitverstanden werden, wie sie bei Orwell angelegt waren: Schon die hochgradige Voraussagbarkeit dieser Sprachform verbietet eine solche Interpretation. 2 Towards a history of verbal propaganda in the Soviet Union and socialist Poland, http://www. research-projects.uzh.ch/p471.htm [29.11.2018]. 3 Weiss, Daniel: Einheitlich bipolar. Die Sprache des Sowjetsystems aus linguistischer Sicht, in: Osteuropa 67 (2017) 6–8, S. 425–436.

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ungewürdigt, die zweifellos Bedeutendes zur Erhellung von Teilaspekten des Gegenstands geliefert haben.4 Ausgehend von gewissen Grundthesen – wie: Newspeak-Gehalt als graduierbare Größe, Newspeak als Mischverhältnis vieler unterschiedlicher Mittel, aber ohne exklusives Monopol auf spezifische sprachliche Mittel, und Variabilität nach Textsorte und historischem Zeitabschnitt, aber kaum nach Personalstil5 – sei hier zunächst die zentrale Achse genannt, um die herum sich sehr viele andere Merkmale gruppieren lassen und die sich auch als historische Invariante erweist. Es geht kurz gesagt um die propagandistische Scheidung der Böcke von den Schafen, des Nichtwir oder Anderen vom Wir oder Eigenen, oder anders: des »bad Guy« vom »good Guy«. Daran ist noch überhaupt nichts originell, jede politische Propaganda ist diesem Ziel verpflichtet. Spezifisch für den Newspeak sind dagegen die Wahl und systematische Verwendung der sprachlichen Mittel: Hierher gehören nicht etwa bloß lexikalische Einheiten (Wörter, Phraseme), sondern auch grammatisch zentrale Mittel wie Pronomina, Negation, Tempora, Modalität (Notwendigkeit versus Möglichkeit versus Unmöglichkeit), Syntax (koordinative Konstruktionen, verallgemeinerte Relativsätze etc.), grammatische und lexikalische Steigerung, Wortbildung und anderes mehr. Das bipolare Weltbild nimmt dabei folgende Gestalt an: Dem eigenen Lager ist der prädikatenlogische Allquantor6 zugeordnet, dem Gegner der Existenzquantor, die hauptsächlichen Ausdrucksmittel für Totalität versus Partialität bzw. Vereinzelung sind entsprechend angeordnet:

4 Dies gilt z. B. für Sériot, Patrick: Analyse du discours politique soviétique, Paris 1985, insbesondere zur impliziten Kommunikation mit Präsuppositionen etc., und Bralczyk, Jerzy: O Języku Polskiej Propagandy Politycznej Lat Siedemdziesiątych, Uppsala 1987. Die letztere Monografie gilt zwar dem polnischen Pendant des sowjetischen Newspeak, hat aber mit dem hier gewählten Ansatz am meisten gemeinsam. 5 Der aussichtsreiche Vertreter eines eigenen Individualstils ist nicht etwa J. Stalin (Vajskopf, Michail: Pisatel’ Stalin, Moskva 2000), sondern N. S. Chruščëv. Genauer dazu Weiss: Einheitlich bipolar, S. 426. 6 Die formallogische Darstellung ist der natürlichsprachlichen Version wegen ihrer größeren Explizitheit vorzuziehen: Z. B. entfallen so semantische Doppeldeutigkeiten und die Reihenfolge der einzelnen Elemente ist distinktiv, während sie in der natürlichen Sprache durch die reale syntaktische Abfolge z. T. verwischt wird. ∀x p(x) ist zu lesen als »für alle x gilt p von x«, während ∃x p(x) bedeutet: »Es gibt mindestens ein x, für das gilt: p von x«.

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Gibt es ein Fortleben von Sowjetismen? Tabelle 1 (eigene Darstellung): Gegenüberstellung der Quantoren

›wir‹  Allquantor ∀x

vs. ›sie‹  Existenzquantor ∃x

každyj, vse, ljuboj, kto by to ni był, ne

kto-to, koe-kto, nekotorye, inoj, izvestnyj,

tol’ko …, no i …; polnyj, celyj; vsecelo,

raznye, (ne)mnogie etc.; otdel’nyj, est’ /

polnost’ju; vollständige Aufzählungen

suščestvuet x, etc.

Die Vielfalt der involvierten Ausdrucksmittel – Pronomina, Adjektive, Adverbien, Syntax – manifestiert sich schon hier. In vollständigen Aufzählungen wird das Prinzip der Totalität einfach syntaktisch entfaltet. Die Totalität manifestiert sich weiter als (monolithische, totale) Einheit der Eigenen, also edinyj, (monolitnoe) edinstvo, kak odin; vs. ediničnyj; raspadat’sja splotit’sja

Die Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Negation ist ebenfalls distinktiv: »nicht alle« (−∀) verweist als Signal der Teilmenge auf den Gegner, »alle nicht = keiner« (∀−)7 auf die eigenen Reihen: Nikto, ni odin, net, ne suščestvuet

vs. ne vse, ne každyj

Ideologisch lässt sich die Idee der Totalität auf alle erdenklichen Sachverhalte beziehen, so die totale Unterstützung des gensek, die totale Genialität (Stalins), die totale Liebe (zu Stalin), den totalen Hass (gegen den Feind), die totale Trauer (nach dem Ableben des gensek), die totale Kontrolle (über die Nuklear­ katastrophe) etc. Die Opposition Totalität versus Partialität funktioniert auch auf der temporalen Ebene, wo sie zur Opposition Stabilität/Kontinuität versus Vergänglichkeit/Hinfälligkeit mutiert:

7 Dies ist logisch äquivalent mit dem umgekehrt negierten Existenzquantor: −∀x p(x) = ∃x −p(x), vgl. Ne vse priderživajutsja partijnoj linii = Nektorye ne priderživajutsja partijnoj linii.

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Tabelle 2 (eigene Darstellung): Gegenüberstellung der temporalen Quantoren

›wir‹  Allquantor ∀t

vs. ›sie‹  Existenzquantor ∃t

vsegda, večnyj, postojannyj, vernyj,

inogda, často, ne raz, redko, ešče, vremennyj,

neizmennyj, neuklonnyj, nepobedimyj,

byloj; byvat’, slucat’sja, upadok, perežitki

nerušimyj; neustanno; i vpred’;

prošlogo, otryžka (meščanstva)

X-oval, X-uet i budet X-ovat’

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Die Wirkung der äußeren wie inneren Negation ist hier dieselbe wie bei der referentiellen Opposition, also ∀−t: nikogda   »wir« vs. −∀t: ne vsegda   »sie«. Zwei Beispiele sollen das Zusammenspiel der verschiedenen Marker illustrieren. Das erste stammt aus Gorbačëvs Fernsehansprache nach der Reaktorkatastrophe von Černobyl’. Es markiert die totale Kontrolle über das Geschehen: (1) Они [= ] находятся под постоянным контролем. Суровый экзамен держали и держат все – пожарные, транспортники, строители, медики, специальные части химзащиты, вертолетчики и другие подразделения Министерства обороны, министерства внутренних дел. Die Aufzählung der an der Schadensbekämpfung beteiligten Akteure erfüllt hier neben der Beschwörung des totalen Einsatzes auch die Funktion einer umfassenden Danksagung. Das zweite Beispiel führt die Kombination von Vereinzelung und Vergänglichkeit beim Feind vor Augen: (2) В отдельные периоды в отдельных капиталистических странах под влиянием преходящих факторов может иметь место более быстрый рост экономики, чем в других капиталистических странах. Н.С. Хрущев, Жить в мире и дружбе, Москва 1959. Wachstum wäre eigentlich dem sozialistischen Lager vorbehalten; wenn es im Kapitalismus auftrete, dann nur vorübergehend und nie in größerem Ausmaß als im Sozialismus. Es ist leicht abzusehen, welche prognostische Kraft diese kleine Zusammenstellung beansprucht: Jedes Mal, wenn ein Satz etwa mit Kto-to … oder Nekotorye … beginnt, weiß der Hörer, dass damit der Gegner gemeint ist, andererseits darf er nach jedem Vsegda oder Každyj oder Ähnlichem eine Referenz auf das 8 Das bekannteste Beispiel hierfür ist die Parole »Lenin žil, živ i budet žit’«.

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eigene Lager erwarten. In Wirklichkeit bedarf diese Faustregel natürlich vieler weiterer Differenzierungen, so bei der Semantik von Indefinita (die -nibud’Reihe verhält sich anders als die -to-Reihe) oder bei der Berücksichtigung der lexikalischen Negation, die sich in Ausdrücken wie uničtožat’, podavljat’, lišat’, krome, bez etc. verbirgt. Auch axiologisch neutrale Aussagen wie »pered každoj stranoj stojat svoi zadači« müssen von dem Dualismus ausgenommen werden.9 Mit diesen Verfeinerungen ergibt sich dann aber eine statistisch eindrucksvolle Bestätigung der prognostizierten Verteilung.10 Mit den heutigen Mitteln der Korpuslinguistik wäre eine sehr viel breiter angelegte Quantifizierung möglich; allerdings verunmöglichen die eben genannten Faktoren eine durchgängig automatisierte Suchabfrage. Mit der Idee der Instabilität bzw. Vergänglichkeit verbindet sich eine in jeder politischen Propaganda zentrale Metapherngruppe: Dem Gegner werden diverse Krankheitsmetaphern zugeordnet. Entsprechend treten im Newspeak jazva, čuma, rak, opuxol’, gniloj, parazity als Marker des Feindes auf, ebenso auch Attribute, die Schwäche und Verfall anzeigen wie slabyj, bol’noj, staryj, drjachlyj, chilyj, agonizm, raskol, raspad, razrucha, upadok, razlagat’sja und andere mehr. Letzten Endes führten solche Gebrechen zu Untergang und Tod. Im eigenen Lager dagegen herrsche ewige Jugend, Gesundheit, Kraft und Vitalität: molodoj, zdorovyj, sil’nyj, krepkij, novyj. Die Brücke zur Modalität ergibt sich einerseits aus dem Textmaterial, wo Marker der Möglichkeit häufig zusammen mit Markern der Partialität und Vergänglichkeit, also des Existenzquantors auftreten: možet neben otdel’nych und prechodjaščich. Umgekehrt paaren sich Ausdrücke der Notwendigkeit gern mit jenen des Allquantors wie in »My vse dolžny …«. Andererseits lässt sich auch modallogisch ein Zusammenhang zwischen Quantoren und Modaloperatoren herleiten: p ist dann und nur dann notwendig, wenn p in allen möglichen Welten wahr ist, und p ist dann und nur dann möglich, wenn p in mindestens einer möglichen Welt wahr ist. Hier ist aber ebenfalls eine semantische Differenzie-

  9 Ausführlich zu diesen Differenzierungen: Weiss, Daniel: Alle vs. einer. Zur Scheidung von good guys und bad guys in der sowjetischen Propagandasprache, in: Walter Breu (Hg.): Slavistische Linguistik 1999. Referate des XXV. Konstanzer Slavistischen Arbeitstreffens, München 2000, S. 235–275. 10 Eine Kostprobe vermittelt die Auswertung von 5118 tokens zu 17 types in Weiss, Daniel: Stalinist vs. Fascist propaganda. How much do they have in common?, in Louis de Saussure/Peter Schulz (Hg.): Manipulation and Ideologies in the Twentieth Century. Discourse, Language, Mind. Amsterdam-Philadelphia 2005, S. 251–274, hier S. 257.

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rung vonnöten, nämlich jene nach dem jeweiligen Redehintergrund bzw. Typ der Modalität, auf die hier nicht mehr eingegangen werden kann.11 Das hier skizzierte semantische bipolare System stellt das umfassende diskursorganisierende Gerüst des Newspeak dar, wie es sich nach der Oktoberrevolution herauskristallisiert hatte. Eine Untersuchung früher Texte wird es erlauben, die Anfänge genauer herauszupräparieren; so zeigt etwa das 1. Parteiprogramm der Bol’ševiki12 eine Asymmetrie in dem Sinne, dass die Zuordnung des Allquantors zum eigenen Lager schon voll ausgebildet ist, während beim Existenzquantor noch keine so klare Bindung an den Gegner vorliegt. Das Ende des Newspeak hingegen ist klar zu datieren: Aus der postsowjetischen Zeit ist mir kein einziger Text bekannt, der die beschriebene systematische Polarisierung satzsemantischer Mittel aufwiese. Diejenigen Elemente, die zum Teil in Nischen überlebt haben (vgl. nächstes und übernächstes Kapitel), sind demgegenüber vorwiegend lexikalischer Natur. Die sprachliche Zweiteilung der Welt im Newspeak setzt sich fort bei der Verdoppelung der Benennung vieler abstrakter Inhalte nach dem Freund-FeindDualismus,13 so für den Staatsbesuch (vizit versus vojaž), den Staatsvertrag (dogovor versus pakt) oder die Friedensliebe (miroljubie versus pacifizm). Das Prinzip der phraseologischen Bindung (und damit Voraussagbarkeit)14 nach dem Muster: wenn bor’ba, dann rešitel’naja, wenn provedenie v žizn’, dann tverdoe i posledovatel’noe, wenn odobrjat’, dann celikom i polnost’ ju etc. steht ebenfalls weitgehend im Dienste der bipolaren Weltsicht. Der semantische Extremismus nach dem Muster s glubočajšej blagodarnost’ ju oder bezzavetnaja predannost’ gehört zum selben phraseologischen Prinzip und ist ebenfalls bipolar organisiert. Die Steigerungsmanie schließlich äußert sich sowohl grammatisch (tesnee splotit’sja, (ešče) bystree dostignut’) als auch lexikalisch in Verben wie množit’, udvoit’, usilit’ oder den zugehörigen Verbalnomina wie povyšenie, rost, ukreplenie. Beim Gegner ist jeweils der umgekehrte Vektor anzusetzen, also zum 11 Ausführlicher dazu Weiss, Daniel: Vozmožnost’ i neobchodimost’ v sovetskom novojaze, in: Björn Hansen/Petr Karlík (Hg.): Modality in Slavic Languages. New Perspectives, München 2005, S. 337–364. 12 Bucharin, Nikolaj/Preobraženskij, Evgenij: Azbuka kommunizma. Populjarnoe ob’’jasnenie programmy Rossijskoj kommunističeskoj partii bol’ševikov, Peterburg 1920. 13 Weiss, Daniel: Was ist neu am »newspeak«? Reflexionen zur Sprache der Politik in der Sowjetunion, in: Renate Rathmayr (Hg.): Slavistische Linguistik 1985, München 1986, S. 247–325, hier S. 21–23; viele Stichwörter erläutern auch Zemtsov, Ilya, The Lexicon of the Soviet Political Language, Epping 1985; Mokienko, Valerij M./Nikitina, Tat’jana G.: Tolkovyj slovar’ jazyka Sovdepii, Moskva 2005. 14 Zu den Modellen der phraseologischen Bindung ausführlicher: Weiss: Was ist neu, S. 13–16.

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Beispiel slabee, umen’šit’sja oder upadok. In diesem Absatz sind damit jene drei Merkmale erwähnt worden,15 die an der Oberfläche sofort greifbar sind und daher die Forschung in den frühen Beschreibungen des Newspeak am meisten fasziniert haben; aus meiner Sicht sind sie jedoch der viel umfassenderen satzsemantisch-syntaktischen Opposition von Totalität versus Partialität, Kontinuität versus Vergänglichkeit und Notwendigkeit versus Möglichkeit hierarchisch untergeordnet. Im Folgenden wird es darum gehen, welche Elemente im postsowjetischen Diskurs in welcher Form ein Weiterleben führen.

Überbleibsel des Newspeak im heutigen Sprachsystem Aus der Newspeak-spezifischen Lexik haben nur wenige Elemente überlebt. Eines davon ist das Akronym ČK/Čeka (aus črezvyčajnaja komissija), seinerseits nur eine Abkürzung für VČK (s. u.), und der davon abgeleitete čekist.16 Die ČK funktionierte ursprünglich als Eigenname jener Institution, die später insgesamt sechsmal den Namen wechseln sollte, bevor sie in der postsowjetischen Zeit zum FSB mutierte. Während aber alle späteren Akronyme mitsamt ihren Ableitungen, also ėnkavėdėšnik, gėpėušnik, kagėbėšnik, gebist etc., negativ konnotiert waren, wurde die Čeka zum Gattungsnomen deonymiert und weist bis heute eine positive Konnotation auf; dasselbe gilt für den čekist, als welcher ja bekanntlich noch Putin agierte. Den Ausdruck umgibt eine gleichermaßen Furcht wie Respekt einflößende, geheimnisumwitterte Aureole: Ein Mitarbeiter des Geheimdienstes verrichtet eine patriotische Mission, und als solcher ist er »naibolee beskompromissnyj i surovyj sotrudnik special’noj služby, on – opytnyj razvedčik i bezžalostnyj kontrrazvedčik«.17 Dzeržinskijs oft zitiertes Idealbild des čekist – »čistye ruki, gorjačee serdce, cholodnaja golova« – hat wohl ebenso zum Mythos der hohen Professionalität solcher Funktionsträger beigetragen wie die zahlreichen sowjetischen Agentenfilme, die sich beim sowjetischen Publikum einer großen Popularität erfreuten. Diese Aureole unterscheidet den čekist auch vom postsowjetischen und semantisch weiteren silovik, als den sich etwa Putin gerne bezeichnete. War es hier also vor allem die Deonymierung, die den Ausdruck über die Zeit hinweggerettet hat, so erlebte man in den 1990er Jahren ein eher merkwürdiges 15 Eine viel ausführlichere Diskussion findet sich in Weiss: Was ist neu. 16 Ausführlich zum Umgang mit diesen Vokabeln in der Presse der 1990er Jahre Gusejnov, Gasan: Sovetskie ideologemy v russkom diskurse 1990-ch, Moskva 2004, S. 98–118. 17 Ebd., S. 102.

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Revival des ursprünglichen Eigennamens VČK: am 11. Oktober 1996 wurde eine Kommission mit der Bezeichnung Vremennaja črezvyčajnaja komissija po ukrepleniju nalogovoj i bjudžetnoj discipliny pri Prezidente geschaffen,18 die den unzähligen säumigen Steuerzahlenden Russlands einheizen sollte, um das Land vor dem finanziellen Kollaps zu bewahren. Die ominöse Übereinstimmung mit dem früheren homonymischen Akronym VČK, der Vserossijskaja črezvyčajnaja komissija po bor’be s kontrrevoljuciej i sabotažem pri Sovete narodnych komissarov RSFSR von 1917 war gewollt, und die Erinnerung an Lenins Charakteristik der VČK als karajuščij meč revoljucii sollte den nötigen Schrecken verbreiten; bezeichnend dafür ist die Blütenlese von Pressekommentaren, insbesondere das folgende Zitat: »trepet ona dolžna vyzyvat’ ne men’šij, čem detišče Oktjabr’skoj revoljucii«.19 Das Ziel war weit gesteckt: »deržat’ v postojannom strache ljuboe predprijatie i ljubuju kompaniju, a čerez nich vlijat’ na ljubogo politika«.20 Moralisch sah sich die El’cin-Equipe im Recht, wie A. Čubajs es formulierte: »Odni golodajut, drugie ne platjat nalogov!« Als Rückgriff auf die sowjetische Phraseologie muss die folgende Formulierung gelten: »bystro i bespoščadno sobrat’ nalogi«:21 Das Epithet bespoščadnyj war im Newspeak ein beliebter Intensifikator für Nomina wie bor’ba und Ähnliches. Die Zeitung Kommersant’ schrieb über die neu gegründete Behörde: (3) Организация, которую все сразу окрестили ВЧК и которая действительно начала работать чекистскими методами, осуществляя психологический террор среди директоров крупных предприятий и угрожая им уголовным преследованием.22 Ihre Aktivitäten wurden von A. Lifšic umschrieben als »Vozbuždat’ ugolovnye dela i sažat’«, die Rede war auch von der Konfiskation von Unternehmensvermögen.23 Alles in allem handelte es sich also um einen bewussten Rückgriff auf jene Insti­ tution, die zu Sowjetzeiten Angst und Schrecken verbreitet hatte. Wie effizient diese Maßnahmen letzten Endes waren, ist an dieser Stelle nicht zu erörtern. Im Zusammenhang mit dem Akronym ČK bietet es sich an, auch auf das das Fortleben des morphologischen Markenzeichens des Newspeak einzugehen, 18 Ebd., S. 98. 19 Ebd., S. 110. 20 Ebd., S. 111 21 Ebd. 22 Kommersant’ 43, 25.11.1997, S. 37, https://www.kommersant.ru/doc/13935 [29.11.2018]. 23 Ebd.

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nämlich der Abkürzungen als Wortbildungsverfahren. Die Anfänge dieses Phänomens reichen in die vorrevolutionäre Zeit zurück: Firmenbezeichnungen im russischen Frühkapitalismus bildeten eine erste Schicht, entscheidend war aber der Erste Weltkrieg, der eine militärische Verknappung der Terminologie gebot. Die futuristische Faszination für Technik und Geschwindigkeit mochte einen weiteren Anstoß geliefert haben. Die Bol’ševiki trieben aber die Abkürzungsmanie bis zum Exzess, wie schon die ersten Beschreibungen der neuen Sprachform konstatierten.24 Parodien blieben nicht aus, erinnert sei etwa an Majakovskijs Glavnačpups. Im Übrigen veralteten manche dieser Neubildungen so rasch, dass schon 1930 mehr als die Hälfte von ihnen außer Gebrauch war. Formal kommen recht unterschiedliche Typen in Betracht.25 Hier sollen nur zwei von ihnen im Hinblick auf ihr postsowjetisches Schicksal verfolgt werden. Akronyme zerfallen eigentlich in zwei Untertypen: Sie basieren entweder auf grafischen oder phonetischen Initialen. Beispiele für die erstere Variante sind neben ČK etwa CK, RSFSR oder SSSR, phonetische Akronyme liegen vor in NĖP, vuz oder zags. Den zweiten Typ bilden sogenannte Stummelkomposita (der Terminus verweist schon auf einen gewissermaßen gewaltsamen Umgang mit dem Sprachmaterial), also aus Initialsilben zweier oder mehrerer Ableitungsbasen gebildete Zusammensetzungen wie Komsomol, gorkom, agitprop, likbez etc. Semantisch können beide Typen, wie schon die unterschiedliche Schreibung klarmacht, als Eigennamen oder Gattungsnamen funktionieren. Bei den genannten Beispielen handelt es sich um Bezeichnungen von Institutionen bzw. Organisationen und deren Aktivitäten. All dies ist auch in anderen Sprachen mühelos zu belegen, wenn auch bei den Stummelkomposita nicht in diesem Umfang. Aufmerksamkeit verdienen im internationalen Vergleich hingegen die Abkürzungen mit personaler Referenz. Hierher gehörten im Stalinismus zum Beispiel die Akronyme zek, SOĖ (social’no opasnyj ėlement) oder die scherzhafte Bildung vridlo (vremenno ispolnjajuščij dolžnost’ lošadi). Wie ersichtlich, haben alle diese Ausdrücke mit dem staatlichen Repressionsapparat zu tun. Weit produktiver und axiologisch neutral sind Stummelkomposita als Personenbezeichnungen. Auch hier ist die staatliche Sphäre übervertreten: Narkom, polpred gehören in die frühe Sowjetzeit, aber gensek, politruk oder partorg hielten sich bis zum Ende der Ära. Wieder in den Bereich der ČK gelangen wir mit 24 Mazon, André: Remarques sur le vocabulaire de la Révolution russe, Paris 1920. 25 Eine frühe systematische Klassifikation bietet Karcevskij, Sergej I.: Jazyk, vojna i revoljucija, Berlin 1923.

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seksot (sekretnyj sotrudnik). Auf nichtstaatliche Rollen verweisen etwa členkor oder upravdom. Im Sprachvergleich fällt auf, dass sogar im sozialistischen Polen solche Abkürzungen mit personaler Referenz völlig fehlten.26 Anderswo sind vereinzelte Akronyme zu greifen, so im Französischen SDF (sans domicile fixe) für Obdachlose oder (mit sozial völlig gegensätzlicher Polung) im Englischen CEO, CIO, CFO, COO. Stummelkomposita hingegen sind außerhalb des Russischen wenig vertreten. Aus dem deutschen Bereich seien hier die historischen Beispiele Gestapo, Stuka, Vopo oder Stasi erwähnt, bis heute halten sich Bezeichnungen polizeilicher Organe wie Kripo, Sipo, Bupo. Stummelkomposita mit personaler Referenz scheinen aber im Deutschen völlig zu fehlen, wenn man von scherzhaften Beispielen wie »Gröfaz« absieht. Wie gestaltet sich nun die Vertretung dieser Abkürzungstypen im postsowjetischen Russland? Nicht nur haben sich hier viele Ausdrücke aus der Sowjetzeit bis heute erhalten, es treten auch neue Bildungen auf. Stummelkomposita mit institutioneller Referenz sind zum Beispiel kompromat, Minjust, Roskomnadzor, Sovbez (OON), den wirtschaftlichen Sektor markieren solche Giganten wie Gazprom, Lukojl, Rosneft’, Strojgazmontaž. Wie ersichtlich, kommen auch Mischtypen mit Erhaltung des Letztglieds vor. Während die Herkunft dieser Abbreviaturen durchsichtig ist, weist Jukos eine komplexe Ableitungsgeschichte auf, an der fünf weitere Abbreviaturen teilnehmen: Juganskneftegaz plus KujbyševnefteOrgSintez. Mehrgliedrige Komposita sind generell keine Seltenheit: Menatep (mežotraslevye naučno-techničeskie programmy) oder Rossel’chozzemlemonitoring. Wie ersichtlich, bleibt das letzte Glied oft ungekürzt, das heißt, eigentlich liegt ein Mischtyp vor. Auf individuelle Referenten verweisen einerseits viele aus der Sowjetzeit übernommene Bezeichnungen wie chud­ruk oder upravdom, andererseits das neuere postpred (postojannnyj predstavitel’). Unter den Akronymen ist wohl bomž das bekannteste Beispiel einer Personenbezeichnung; sein Ursprung reicht bis in die 1970er Jahre zurück, zum Allgemeingut wurde es aber erst in den 1990er Jahren. Seine Auflösung (bez opredelennogo mesta žitel’stva) erinnert stark an das französische Pendant SDF, aber im Unterschied zu Letzterem hat es eine abwertende Konnotation. Einen weit höheren gesellschaftlichen Rang weist zum Beispiel der io (ispolnjajuščij objazannosti [prezidenta]) auf. 26 Näher dazu Weiss, Daniel: The Newborn Polish Nowomowa after 1944 and its Relation to the Soviet Original, in: Paulina Gulińska-Jurgiel et al. (Hg.): Ends of War. Interdisciplinary Perspectives on Past and New Polish Regions after 1944, Göttingen 2018, S. 157–187.

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Wie ist diese Weitertradierung sowjetischer Wortbildungsmuster zu bewerten? Schon die Sprachkritik der frühen 1920er Jahre wies auf die mangelnde Motiviertheit bzw. Transparenz mancher Abkürzungen hin: Diese trugen wesentlich zur Unverständlichkeit des neuen officialese, das heißt des Novojaz bei und luden entsprechend zu humoristischen oder ironischen Auflösungen ein. Ähnliches gilt auch für Neubildungen wie Menatep. Aus einer anderen Warte betrachtet lässt sich einwenden, dass die Einebnung der formalen Unterscheidung zwischen Menschen einerseits und Institutionen, Organisationen und dergleichen andererseits auf eine Entpersönlichung bzw. Dehumanisierung der Sprache hinauslaufe. Diese Entwicklung war in der Sowjetunion im Vergleich mit anderen Gesellschaften besonders weit gediehen, und sie setzt sich im postsowjetischen Russland fort. Das Gegenmodell bleibt natürlich weiterhin verfügbar: Es ist zum Beispiel in dem Paar ČK versus čekist verwirklicht.

Nachwirkungen des Newspeak im politischen Diskurs Wie schon in der Einleitung erwähnt, sind ganze nach den Mustern des Novojaz gebildete Texte heute nirgendwo mehr zu finden. Dies bedeutet aber nicht, dass auch die Suche nach einzelnen Fragmenten ergebnislos bliebe; zu fragen ist dann nicht nur nach dem Wo, sondern auch nach dem Warum: Wie ist die Anleihe bei einer an sich historischen Sprachform motiviert? Das Illustrationsmaterial liefern Duma-Debatten der letzten Jahre, deren Sprachform als ein Hybrid von spontaner mündlicher und elaborierter schriftlicher Sprachverwendung gelten kann.27 Überdies sind viele Akteure hier in einem Alter, das einen längeren intensiven Kontakt mit dem Newspeak mehr als wahrscheinlich erscheinen lässt, und außerdem waren die meisten Abgeordneten unabhängig von ihrer jetzigen Parteicouleur früher Mitglieder der KPdSU, was ihnen im Übrigen V. Žirinovskij öfter genüsslich vorgehalten hat. Das folgende Beispiel zeigt, wie weit die Reaktivierung von Newspeak-Verfahren reichen kann:

27 Zur inkonsistenten Endredigierung der einzelnen Voten in den elektronischen Transkripten vgl. Weiss, Daniel: Parliamentary Communication. The Case of the Russian Gosduma, in: Nadine Thielemann/Peter Kosta (Hg.),: Approaches to Slavic Interaction, Amsterdam/Philadelphia 2013, S. 215–237; zum Vergleich von Videoaufnahmen und Transkripten: ders., Parlamentsdebatten in der russischen Gosduma. Originalton vs. Transkript, in: Wiener Slawistischer Almanach 72 (2013), S. 103–136.

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(4) В это сложное время, когда коричневая чума снова поднимает свою недобитую голову, вы, отодвинув в сторону политические разногласия, стали единым мощным монолитом, вы стали надёжной опорой нашему президенту, вы показали всему миру, что мы, россияне, были, есть и всегда будем едины, каких бы взглядов ни придерживались! V. A. Vasil’ev, Gosduma, 20.03.2014 Dieses Fragment ist stark gesättigt mit Versatzstücken aus der sowjetischen Phraseologie, die im heutigen politischen Diskurs selten in dieser Dichte vorkommen. Der Sprecher ist nicht etwa Kommunist, sondern Mitglied der Regierungspartei Edinaja Rossija, die sowjetische Rhetorik ist offensichtlich dem historischen Moment (Annexion der Krim) geschuldet. Alle vorkommenden Metaphern sind konventionell. Der Anfang evoziert ein monströses Bedrohungsszenario. Die braune Pest bezeichnete ursprünglich den Kriegsgegner im Zweiten Weltkrieg, bezieht sich aber jetzt auf ukrainische rechte Politiker; sie amalgamiert als Blend ein Element des Quellbereichs Krankheit mit dem metonymischen Zielbereich braun → Faschismus. Dann entwickelt sich der Blend28 zu einem Fabelwesen, das sein noch nicht getötetes Haupt erhebt; hier spukt wohl die Vorstellung der Hydra herum, deren Köpfe immer wieder nachwachsen. Dieser Rückgriff auf die antike Mythologie führt uns in die Ikonografie der frühen Sowjetzeit zurück, die ihrerseits auf die Tradition der internationalen Arbeiterbewegung zurückweist. Das Haupt zu erheben ist gleichzeitig Ausdruck der universellen metaphorischen Zuordnung strong is up, der Feind ist also durchaus ernst zu nehmen. Der restliche Passus umschreibt Russlands Reaktion auf diese tödliche Herausforderung. Die Einheit des eigenen Lagers, das hier anfänglich durch die Adressatinnen und Adressaten (vy) verkörpert ist, wird zuerst mit der ebenfalls aus Sowjetzeiten stammenden Metapher Monolith beschworen, dann durch den Stabilitätsmarker verlässliche Stütze verstärkt, bevor der Redner auf das Wir (my, rossi­jane) umschwenkt, deren Einheit (ediny) gleich mit dem Stabilitätsmarker der Tempusvariation (byli, est’ i vsegda budem) zementiert wird. Zusätzlich findet die Idee der totalen Einheit ihren Ausdruck in einer adverbialpartizipialen Wendung (otodvinuv v storonu političeskie raznoglasija) und einem verallgemeinernden Relativsatz (kakich by vzgljadov ne priderživalis’), die beide das Hintanstellen parteipolitischer Divergenzen beinhalten. 28 Fauconnier, Gilles/Turner, Mark: The Way We Think. Conceptual Blending and the Mind’s Hidden Complexities, New York 2002.

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Insgesamt wirken hier also konventionelle Metaphern, Einheitslexik, Morphologie und syntaktische Mittel zusammen, um ein hochgradig kohärentes challenge-and-response-Szenario zu vermitteln. Dabei wird die Herausforderung mit agitatorischem Pathos charakterisiert, die Antwort mit jenen rituellen Mitteln, wie sie während der ganzen Dauer des sowjetischen Newspeak inklusive des Betonstils der Spätzeit in Gebrauch waren. Das Beispiel ist als Trouvaille zu bezeichnen, denn ähnliche Newspeak-gesättigte Passagen stellen im postsowjetischen Diskurs Russlands eine absolute Ausnahme dar. Es bietet auch eine eindrucksvolle Illustration für die durch die pressure of coherence diktierte Metaphernwahl, wobei coherence sowohl textuell als auch situativ zu verstehen ist.29 Wenig überraschend hat derselbe historische Anlass, das heißt die Annexion der Krim, auch in Putins Ansprache aus dem Georgssaal an die Föderationsversammlung vom 18. März 2014 eine ähnliche Häufung von Kontinuitäts- und Einheitssignalen hinterlassen: (5) Уважаемые коллеги! В сердце, в сознании людей Крым всегда был и остаётся неотъемлемой частью России. Эта убеждённость, основанная на правде и справедливости, была непоколебимой, передавалась из поколения в поколение, перед ней были бессильны и время, и обстоятельства, бессильны все драматические перемены, которые мы переживали, переживала наша страна в течение всего ХХ века. Nach dem eben erfolgten Bruch des Völkerrechts machte diese intensive Beschwörung von Kontinuität durchaus Sinn. Derselbe temporale Stabilitätsmarker fand aber damals auch Anwendung in der ukrainischen Rechten: (6) Крим був, є і буде українською землею! O. Turčynov, Zaporiz’ka pravda, 12.04.2014 Das Beispiel zeigt, dass gerade ein grammatisches Verfahren wie die Tempusvariation kaum noch mit dem sowjetischen Erbe assoziiert wird. Die Sprache der neuen KP zeichnet sich nicht durchweg durch eine größere Treue zum ehemaligen Newspeak aus. Von den 43 in meinen bisherigen Arbeiten zum gegenwärtigen russischen politischen Diskurs angeführten Zitaten aus 29 Kövecses, Zoltan: Metaphor, Culture, and Discourse. The Pressure of Coherence, in: Andreas Musolff/Jörg Zinken (Hg.): Metaphor and Discourse, Basingstoke 2009, S. 11–24.

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Voten kommunistischer Duma-Abgeordneter lässt kein einziges eine Affinität zum ehemaligen Newspeak erkennen. Gewiss finden sich in ihrer Lexik mitunter Vokabeln, die keine andere Partei verwendet, so Imperialismus: (7) Я уже сказал, что англо-американский империализм уже одной ногой стоит на территории Украины. N. F. Rjabov, 14.03.2014 Nochmals geht es hier um den Ukrainekonflikt, der ja aus offizieller russischer Perspektive als Teil der globalen Auseinandersetzung zwischen Washington und Moskau gedeutet wird, in der den Ukrainern selber lediglich eine passive Rolle zukommt; in diese Richtung weisen nicht nur die zahlreichen Metaphern, mit denen die Ukraine in russischen Fernsehdebatten belegt wird,30 sondern auch das Ranking der Schlüsselwörter in den parlamentarischen und Regierungsdaten, bei dem »West« bzw. »USA« zusammen in den russischen Quellen einen weit höheren Platz einnimmt als in ihren ukrainischen, polnischen und tschechischen Pendants.31 Angesichts dieser Sachlage erstaunt nicht, dass hier das alte Schreckgespenst des Imperialismus wieder auftaucht. Rjabov verwendet aber in seinem Votum noch vier weitere Male das Label anglo-amerikanskij imperializm und holt dabei zu einem aggressiven Rundumschlag aus, wie er zu besten Sowjetzeiten kaum drastischer hätte formuliert werden können: (8) Запад не ожидал такой прыти бандитствующих националистов и даёт сейчас задний ход, но это временный отход звериной западной демократии, для того чтобы перестроить атаку, а цель англо-американского империализма одна – оторвать Украину от России, затем ввести в состав НАТО и разместить на её территории натовские войска, а далее разыграть »оранжевую революцию« с немцовыми, касьяновыми, навальными в России, раздербанить Россию, убрать её с мировой и политической, и экономической арены.

30 Vgl. Brunner, Galina: Metapherngebrauch in russischen Fernseh-Debatten zur Ukraine-Krise (Masterarbeit, Universität Zürich, unpubl. 2015); Weiss, Daniel: The Ukrainian Nation – Stepmother, Younger Sister or Stillborn Baby? Evidence from Russian TV debates (2013–2015), in: Natalia Knoblock (Hg.): Discourses of the Ukrainian Crisis, London 2019 (i.E.). 31 Weiss, Daniel: Ukrainskij konflikt v zerkale korpusnoj lingvistiki, in: Ekaterina Velmezova (Hg.): Schweizerische Beiträge zum Belgrader Slavistenkongress, Bern/Frankfurt 2018, S. 321– 348.

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Die Vertreter der innerrussischen Opposition, die mit dem Feind im selben Boot sitzen, werden nach bester Tradition mit dem pluralischen Eigennamen bedacht, also deonymiert.32 Eine Internetabfrage der Webseite der Gosduma ergab, dass das Stichwort imperializm in den letzten zehn Jahren insgesamt 29 Mal in Duma-Debatten vorkam. 22 Mal wurde es von Kommunisten verwendet. Alle sieben Nichtkommunisten markierten Distanz zu dem Begriff: Sie betteten es in historische Zitate ein (zum Beispiel: »otečestvennuju kibernetiku nazyvali prodažnoj devkoj imperializma«, A. M. Makarov, 20.02.2009) oder negierten es schlichtweg als kommunistisches Phantom: (9) Уважаемые товарищи-коммунисты, вы всё там по традиции тридцать лет боретесь с американским империализмом – завязывайте эту тему, потому что никакого американского империализма нет, американцы превращаются в исполнителей воли более богатых, серьёзных и влиятельных на их территории сил. A. V. Mitrofanov, SR, 18.05.2012 Die letztere Einschätzung begründet dieser Politiker mit dem Einfluss der Saudis auf die amerikanische Wirtschaft. Auch Kommunisten sehen den US-Präsidenten als Marionette wirtschaftlicher Akteure: (10) За белой перчаткой Обамы скрыты хищные лапы американского империализма. Мы понимаем, что президенты США – лишь менеджеры при олигархических группах, которые управляют США, президенты всего лишь выражают их волю. P. S. Dorochin, KPRF, 14.12.2012 Das Verhalten dieser Akteure beweist, dass das Imperialismuslabel nicht eine Erfindung der Sowjetpropaganda war: (11) В годы перестройки многие посмеивались над словами »американский империализм«, говорили о штампах советской пропаганды, но жизнь показала: причин для смеха не было. Гигантские корпорации жадно рыщут по миру, и именно в их интересах действуют НАТО и правительства многих стран. Глобальный капитал упорно рушит госу32 Rjabovs Rede fällt noch in den Zeitraum vor Boris Nemcovs Ermordung.

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дарственные границы, в ход идут не только санкции: ещё недавно это было немыслимо, но теперь даже в Донецке и Луганске рвутся снаряды! D. G. Novikov, KPRF, 21.04.2017 Die Formel žizn’ pokazala gehört übrigens (ebenso wie das Verb ryskat’ mit abstraktem Subjekt) zum Formelvorrat des Newspeak, sie findet sich zum Beispiel bei Gorbačëv sehr häufig. Neben dem Imperialismus grüßt hier auch das Kapital, das sich vom mirovoj zum global’nyj kapital modernisiert hat. In Russland lebt auch die Bourgeoisie im Verein mit Ausbeutung weiter: (12) даже после Великой Октябрьской революции, которая создала предпосылки для строительства подлинно народного государства и успешного развития советской власти в течение семидесяти лет, они смогли всё это уничтожить и вернуть потребительско-грабительскую сущность буржуазной власти! Не желает буржуазия расставаться с властью, которую она использует так же, как средства производства, для получения прибавочной стоимости в виде различных доходов, не гнушаясь и коррупционными схемами, тем самым всё изощрённее и изощрённее эксплуатируя народ своей страны, американский же империализм эксплуатирует ещё и все другие народы мира (поясняю непонятливым: через их главный продукт – доллар). Не хотите, господа буржуи, отдавать власть народу, не хотите! Это показали и доказали все последние выборы: все мило улыбаются друг другу, прекрасно понимая, что это не выборы, а самая настоящая профанация! (Шум в зале.) N. F. Rjabov, KPRF, 15.10.2014 Die Präsenz des Newspeak äußert sich hier in der Präsenz der marxistisch-­ leninistischen Schlüsselbegriffe. Neben weiteren ideologischen Modernisierungsschritten – die Herrschaft der Bourgeoisie ist nicht mehr nur räuberisch, sondern wird als potrebitel’sko-grabitel’skaja beschrieben, und das hauptsächliche amerikanische Produkt ist der Dollar – werden die Herrschenden in Russland als gospoda buržui beschimpft, die ihre Herrschaft genauso wie die Produktionsmittel und korrupte Techniken auf der Jagd nach dem Mehrwert einsetzten und so das eigene Volk auf immer raffiniertere Weise ausbeuteten. Kein Wunder, dass diese Tirade, die sich so gar nicht vereinbaren ließ mit der allgemeinen patriotischen Euphorie im Zuge des Ukrainekonflikts, im Saal Protest auslöste. Das Ganze mündet in eine erneute Klage über die Wahlfarce – ein Topos, der

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spätestens seit 2003, als die KP mit ihrer Klage gegen Wahlfälschung bis vor den Europäischen Gerichtshof zog, jede Legislaturperiode begleitet.33 Auch sonst wärmen Kommunisten gerne Glaubenssätze aus den Klassikern auf: »očerednoj sistemnyj krizis mirovogo imperializma podchodit k svoej voennoj faze« (P. S. Dorochin, 18.09.2012) oder »Perečitajte knigu Lenina ›Imperializm kak vysšaja stadija kapitalizma‹« (P. S. Dorochin, 16.10.2013). Eine weitere historische Reminiszenz findet sich in der Debatte über den geplanten Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs, wo sich V. S. Romanov wie folgt äußerte: »O kakom prazdnike možno govorit’, kogda imperializm vverg množestvo narodov v krovavuju svalku, kogda milliony pogibšich?!« (24.10.2012). Auch im folgenden Beispiel aus jüngster Zeit dürfte der historische Bezug entscheidend gewesen sein. Anlass ist der Entwurf eines Aufrufs an die Uno-Vollversammlung, eine Aufhebung der Blockade Kubas durch die USA zu erwirken: (13) Мы вот сегодня говорим со слезами на глазах о том, что происходит в Луганской и Донецкой республиках – а тут практически в пасти империализма 10 миллионов под руководством Фиделя Кастро, Че Гевары и других товарищей-коммунистов сделали революцию, пошли к социальной справедливости, которая позволяет много десятилетий не бояться ничего. N. M. Charitonov, KPRF, 18.10.2018 Die dramatische Lokalisierung des damaligen Kubas »im Rachen des Imperialismus« unterstreicht die tollkühne Leistung Castros und seiner Genossinnen und Genossen Bemerkenswert an diesem kleinen Überblick ist, dass sich auch bei den Kommunisten die Verwendungen nicht quer über die ganze Fraktion verteilen: Von den 22 Vorkommen entfallen 18 auf lediglich fünf Abgeordnete, nämlich Rjabov (sieben), Dorochin (vier), Bortko (drei), Tetekin und Romanov (je zwei), dies bei einer Gesamtzahl von 92 Abgeordneten in der 6. Legislaturperiode. Die Vorliebe für die Imperialismusvokabel markiert also eher den Individualstil einzelner Kommunisten. Besonders augenfällig wird dies bei der Kombination anglo-amerikanskij imperializm (warum gerade anglo-?), die insgesamt sechsmal belegt ist, aber jedes Mal bei Rjabov. Die Zurückhaltung aller übri33 Weiss: Parliamentary Communication, S. 215, 222; Weiss, Daniel: Chula v Gosdume, in: Ljudmila L. Fedorova (Hg.): Chvala i chula v jazyke i kommunikacii. Sbornik statej, Moskva 2015, S. 163–186, hier: S. 170–172.

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gen Abgeordneten (zum Beispiel auch des Vorsitzenden der kommunistischen Fraktion Zjuganov) ist umso bemerkenswerter, als ja unter allen in der Duma vertretenen Parteien Konsens bezüglich der Verurteilung der amerikanischen Hegemoniebestrebungen herrscht. Traditionelle Krankheitsmetaphern tauchen nur sporadisch auf, so die schon in Beispiel (1) erwähnte faschistische Pest. Das folgende Beispiel stammt aus der Duma-Debatte über den Entwurf einer Resolution zu den Massakern, die der NKVD in Katyn’, Charkov’ und anderswo Anfang 1940 an 22.000 polnischen Offizieren und Zivilisten begangen hatte. Die kommunistische Fraktion stemmte sich damals wie ein Mann gegen diese Geste der Versöhnung gegenüber der polnischen Nation und stellte jegliche Schuld der sowjetischen Seite in Abrede. In diesem Kontext erstaunt der Rückgriff auf die Propaganda des Zweiten Weltkriegs keineswegs: (14) И что, вы сегодня хотите проголосовать за то, что победители, спасшие мир от фашистской чумы, наши отцы и деды такие же преступники? Я против такой политической шизофрении, я возмущён. S. P. Obuchov, KPRF, 26.11.2010 Das nächste Beispiel gehört nochmals in den Kontext des Ukrainekonflikts. Prochanov, Redakteur der Zeitschrift Zavtra, richtet sich hier in der wohl populärsten russischen Fernsehpolitshow34 an den Westen, den er von Leichengift und Geschwüren zerfressen sieht: (15) Мы очень пытались Вас залечить. Мы хотели, чтобы Вы были здоровыми. А Вы по-прежнему наполнены трупными ядами и язвами. И неизлечимы. A. Prochanov, Poedinok, 04.04.2014 Geschwüre waren im Newspeak ein fester Begleiter des Kapitalismus; als solche funktionieren sie auch noch bei Rjabov: »Vsё ėto neizlečimye jazvy kapitalizma i osnovy častnoj sobstvennosti« (26.02.2016). Ob es sich bei dieser Metapher wirklich um einen Sowjetismus handelt, könnte nur eine ausgedehnte Korpusanalyse zeigen. 34 Für einen Überblick über die wichtigsten Formate russischer TV-Politdebatten zum Ukrainekonflikt und ihre Ratings s. Dolgova, Julija I.: Fenomen populjarnosti obščestvennopolitičeskich tok-šou na rossijskom TV osen’ju 2014 goda – vesnoj 2015 goda, in: Vestnik Moskovskogo universiteta, ser. 10, žurnalistika (2015) 6, S. 160–175.

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Tiermetaphern gab es in der Sowjetpropaganda ähnlich wie in andern politischen Systemen zuhauf.35 Die meisten von ihnen haben nicht überlebt. Neben der in Beispiel (4) angedeuteten Hydra sei hier auf die von Obamas weißen Handschuhen verdeckten grjaznye lapy imperializma (Beispiel 10), die past’ imperializma (Beispiel 13) und auf die zverinaja zapadnaja demokratija (Beispiel 8) verwiesen. Angesichts der weiteren Verbreitung dieser Metaphern, die ja vielfach auf die viel ältere Tradition der internationalen Arbeiterbewegung zurückgehen, welche auch anderswo ihre Spuren hinterließ – man denke nur an die Hydra oder den deutschen »Raubtierkapitalismus« –, wird man zögern, hier eindeutige Sowjetismen zu diagnostizieren. Ebenso wenig aussagekräftig ist der Umgang mit Zitaten. Der Verweis auf die ideologischen Klassiker ist jedenfalls keineswegs ein Monopol der KP. Die folgende Passage ist Karl Marx’ Kapital entnommen. Sie wird wörtlich wiedergegeben, wobei der fehlende Zugang zum Videoarchiv der Duma (dieser wurde erst ab 12. September 2012 ermöglicht) es leider nicht erlaubt festzustellen, ob der Sprecher sich einer schriftlichen Gedächtnisstütze bediente; angesichts seines vorgerückten Alters scheint allerdings nicht ausgeschlossen, dass er sie zu Sowjetzeiten wirklich memoriert hatte und sie jetzt aus dem Gedächtnis reproduzierte: (16) Я считаю, что наиболее эффективным средством борьбы с этим злом являются экономические средства. Вот я напомню слова классика, который говорил: обеспечьте капиталу 10 процентов прибыли – и капитал согласен на всякое применение, при 20 процентах он становится оживлённым, при 50 процентах положительно готов сломать себе голову, при 100 процентах он попирает все человеческие законы. Поэтому никакие уговоры, никакие пути агитации не убедят торговцев алкоголем умерить свою активность при продаже алкоголя несовершеннолетним – только экономические формы борьбы могут поставить заслон на этом пути. V. E. Pozgalëv, ER, 20.06.2012 Bemerkenswert ist hier gleich viererlei. Zum Ersten wird das Zitat typografisch nicht durch Anführungszeichen markiert, wie sonst in den elektronischen Tran35 Weiss, Daniel: Tiere in der Sowjetpropaganda. Verbale und graphische Stereotypen, in: Tillmann Berger/Jochen Raecke/Tilmann Reuther (Hg.): Slavistische Linguistik 2004/2005, München 2006, S. 423–465.

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skripten der Gosduma-Debatten üblich. Zum Zweiten wird die Quelle nicht identifiziert, sondern lediglich als »Klassiker« umschrieben: Offenbar setzt der Redner voraus, dass der Autor allgemein bekannt ist. Zum Dritten ist der Redner kein Kommunist, sondern ein edinoross, das heißt Angehöriger der Regierungspartei. Zum Vierten ist der Kontext, in dem dieses Zitat als Argumentum ad auctoritatem eingesetzt wird, eher profaner Art: Es geht um das Verbot des Alkoholverkaufs an Minderjährige. Diese Fallhöhe vom Klassiker der politischen Ökonomie bis zu den ökonomischen Stimuli im russischen Detailhandel mit Alkoholika lässt wohl eher auf eine humoristische Intention schließen. Während also der vertraute Umgang mit Karl Marx keineswegs ein Privileg der Kommunisten ist, finden sich umgekehrt bei Letzteren manchmal Anleihen beim Christentum. Der Abgeordnete O.N. Smolin, Mitglied der Gosduma seit der 2. Legislaturperiode (ab 1995) und stellvertretender Vorsitzender des Komitet po obrazovaniju der Duma, der öfter durch seine profunde Erudition auffällt, zitiert zunächst den orthodoxen Ostergruss aus der Feder Puškins:36 (17) Недавно мы отмечали день рождения Александра Сергеевича Пушкина, все цитировали стихи. Позвольте и мне короткую цитату из великого поэта, из его письма к дяде Василию Львовичу Пушкину: »Христос воскрес, питомец Феба! / Дай бог, чтоб милостию неба / Рассудок на Руси воскрес; / Он что-то, кажется, исчез.« Nach dieser durch den Dichterfürsten geadelten Parallelisierung von Christus und Vernunft von Gottes Gnaden greift der Redner auch noch selber zum Bibelzitat: (18) Ещё раз поздравляю всех выпускников 2012 года и надеюсь, что они сполна оценят мудрость древнего Евангелия: знание – свобода. Спасибо. (Аплодисменты.) O. N. Smolin, KPRF, 20.06.2012 Sowohl der vermittelte als auch der direkte Rückgriff auf die religiöse Tradition wären zu Sowjetzeiten für ein Mitglied der KPdSU zweifellos undenkbar 36 Diese Technik der »Doppelstock-Zitierung« ist nicht unüblich. Zu Beispielen mit Putin als Zwischeninstanz siehe Weiss, Daniel: Quotations in the Russian State Duma. Types and Functions, in: Daniel Weiss (Hg.): Contemporary Eastern European Political Discourse, Zeitschrift für Slawistik 61 (2016) 1, Special issue, S. 184–214, hier S. 25 f.

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gewesen. Znanie – svoboda war natürlich inhaltlich konform mit der herrschenden Ideologie, aber seine biblische Herkunft wäre nicht expliziert worden. Dies alles soll nicht heißen, dass nicht auch der Newspeak sich aus dem Fundus religiöser Texte bedient hätte. Die wohl wichtigste Anleihe betrifft das von der internationalen Arbeiterbewegung übernommene mechanische FrageAntwort-Verfahren des Typs »Čemu nas učit istorija? Istorija nas učit …« nach dem Prinzip des Katechismus;37 klare Beispiele liefern etwa Bucharins Parteiprogramm38 und die Parteigeschichte der KP, der Kratkij kurs, an dem Stalin anonym mitgewirkt hatte. In den 1920er Jahren wurde der ursprüngliche Kirchenslavismus i iže s nim(i) zum ironischen Ausgrenzungsmarker für den ideologischen Gegner,39 der als solcher auch in das Wörterbuch von Ušakov40 Eingang fand, mit dem der zeitgenössische sowjetische Sprachgebrauch kodifiziert wurde.41 Die kirchliche Herkunft gehört heute kaum noch zu den Konnotationen dieses Phrasems, wohl aber die konventionell-ironische Note. Sie findet zum Beispiel bei Rjabov Verwendung: »anglo-amerikanskij imperializm ostavit na Ukraine ul’tra-nacionalistov, banderovcev i iže s nimi« (14.03.2014). Aber auch Nichtkommunisten beziehen dieses Phrasem auf den ukrainischen Gegner, so zum Beispiel in der Fernsehshow Poedinok: (19) И сегодня вот эта огромная кровавая каша, которая полностью по вине тех господ, которые сегодня называют себя властью в Киеве: господин Порошенко, господин Аваков и иже с ними. S. Mironov, SR, Poedinok, 27.02.2014 URL: http://russia.tv/video/show/brand_id/3963/episode_id/970423/ [11.07.2019]. Diese Äußerung enthält im Übrigen mit der krovavaja kaša einen weiteren Blend:42 In Kombination mit dem Attribut »blutig« wird bei kaša in seiner dritten, metaphorischen Bedeutung »Durcheinander«, »Chaos« auch die erste Bedeutung »Brei« reaktiviert; gleichzeitig verweist »blutig« metonymisch auf 37 Seliščev, Afanasij M: Jazyk revoljucionnoj ėpochi, Moskva 1928, hier: S. 132 f.; Vajskopf: Pisatel’ Stalin, 126 f. 38 Siehe Anm. 12. 39 Ein noch früherer Beleg von 1913 findet sich zitiert in Seliščev: Jazyk, S. 64. Zu weiteren Kirchenslavismen: ebd., S. 62–68. Der Autor führt diese Entlehnungen auf die soziale Biografie mancher Bol’ševiki zurück, die eine geistliche Ausbildung durchlaufen hatten. 40 Ušakov, Dmitrij N.: Tolkovyj slovar’ russkogo jazyka, Moskva 1935–1940. 41 Dazu: Kupina, Natal’ja A.: Totalitarnyj jazyk. Slovar’ i rečevye reakcii, Ekaterinburg/Perm’ 1995. 42 Vgl. Anm. 28.

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Blutvergießen im Krieg. Dieser kreative Umgang mit Metaphern ist charakteristisch für den postsowjetischen Diskurs; er hebt sich klar ab von dem völlig erstarrten und verbrauchten Metapherninventar des Newspeak.

Abschließende Bemerkungen Das in Kapitel »Überbleibsel des Newspeak im Sprachsystem« dokumentierte Überleben des Paars ČK/čekist erweist sich in der Lexik des heutigen politischen Diskurses als Einzelfall; es illustriert vor allem, dass sowohl die respekteinflößende als auch die angsterregende (Assoziation mit Staatsterror) Konnotation dieses Paars nachwirken können. Der Fortbestand von Akronymen und Stummelkomposita verdient nicht nur wegen ihrer hohen Frequenz Erwähnung, sondern auch wegen der Möglichkeit persönlicher Referenz, die außerhalb des Russischen sehr begrenzt ist. Die kleine Übersicht in Kapitel »Nachwirkungen des Newspeak im politischen Diskurs« hat erwiesen, dass zwar der Newspeak als übergreifendes diskursorganisierendes Prinzip tot ist, jedoch selbst größere Bruchstücke im heutigen politischen Diskurs Russlands vereinzelt wieder auftauchen können. Die Motivation dafür ist häufig der historische Anlass: In einer patriotischen Feierstunde wie nach der Annexion der Krim (Beispiele 4 und 5) werden Metaphern reaktiviert, die aus dem siegreich überstandenen Zweiten Weltkrieg stammen, gleichzeitig dient die Kontinuitätssemantik der Übertünchung des tatsächlichen Kontinuitätsbruchs und die mehrfach beschworene Einheit der eigenen Reihen als Signal, dass die zu erwartenden westlichen Gegenreaktionen an dem russischen Monolith abprallen werden. Hier kommen also sowohl die agitatorische als auch die rituelle Komponente des Newspeak zu ihrem Recht. Das Kontrastmodell dazu lieferte Beispiel (12), wo das heutige Russland ganz im Sinne der marxistisch-leninistischen Lehre als Klassengesellschaft mit einer ausbeuterischen Elite dargestellt wird. Ansonsten aber kann weder anhand des Gebrauchs von Schlüsselwörtern wie Imperialismus, Kapital, Bourgeoisie noch anhand des Umgangs mit Metaphern und Zitaten ein generelles Nachwirken des Newspeak nachgewiesen werden. Dies gilt nicht zuletzt auch für die Mitglieder der Kommunistischen Partei, wo lediglich einzelne Abgeordnete diesem Wortgut treu bleiben, während andere zum Beispiel keine Berührungsängste vor Bibelzitaten kennen. Das Lebensalter spielt dabei keine Rolle: Der Abgeordnete Bortko ist ganze fünf und Rjabov drei Jahre älter als Smolin, und der demselben Betonstil wie Rjabov verpflichtete Dorochin ist sogar erst 1965

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geboren. Und schließlich waren die meisten Charakteristika des Newspeak ja, wie eingangs betont, kein exklusives Monopol der Sowjetmacht: Zum Beispiel ist die Variation der Tempora als emphatisches Kontinuitätssignal nach dem Muster X byl, est’ i budet gewiss schon vor der Oktoberrevolution zu belegen und bleibt heute wieder als wertneutrales Mittel verfügbar.

Der Runde Tisch in Polen – dreißig Jahre danach Peter Collmer

Der Runde Tisch gehört zu den prägnantesten Symbolen der »Wende« von 1989. Er steht für das Gespräch und damit für eine pragmatische Form des Wandels. So gesehen ist er das Gegensymbol der Barrikade: Er verweist nicht auf Konfrontation und radikalen Bruch, sondern auf eine am Machbaren orientierte, kompromissbereite Vorgehensweise. Als bildhafter lieu de mémoire erinnert der Runde Tisch daran, dass die Transformation von der sozialistischen Staatsbürokratie und Planwirtschaft zu einer freiheitlicheren Gesellschaftsordnung in den meisten Ländern des vormaligen »Ostblocks« relativ einvernehmlich verlief.1 Runde Tische gab es an verschiedenen Orten.2 Symbolische Strahlkraft entfaltete aber besonders jenes imposante Möbelstück, an dem die Vertreter der polnischen Regierung und der Solidarność-Bewegung am 6. Februar 1989 Platz nahmen. Es war das erste Mal, dass sich im sowjetischen Einflussbereich kommunistische Machthaber und Angehörige der gesellschaftlichen Opposition trafen, um auf Augenhöhe über die Zukunft eines Landes zu debattieren.3 Für diese Gespräche war eigens ein großer runder Tisch angefertigt und im Warschauer Namiestnikowski-Palast (dem späteren Präsidentenpalast) aufgestellt worden. Knapp sechzig Stühle standen für die Teilnehmenden bereit.4 Die Delegation des Regierungslagers bestand im Wesentlichen aus Vertretern der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robot1 Für das Gegenbeispiel Rumänien vgl. den Beitrag von Ulrich Schmid in diesem Band. 2 So später auch in Ungarn, in der Tschechoslowakei, in der DDR und in Bulgarien, vgl. Holzer, Jerzy: Der Runde Tisch. Internationale Geschichte eines politischen Möbels, in: Bernd Florath (Hg.): Das Revolutionsjahr 1989. Die demokratische Revolution in Osteuropa als transnationale Zäsur, Göttingen 2011, S. 225–232. 3 Zur Geschichte des Runden Tisches in Polen vgl. etwa die Beiträge in Polak, Wojciech/Kufel, Jakub/Chechłowska, Marta/Nowakowski, Paweł/Chrul, Damian (Hg.): Okrągły Stół – dwadzieścia lat później. Zbiór studiów, Toruń 2009; ferner Dudek, Antoni: Historia polityczna Polski 1989–2015, Kraków 2016, S. 15–46. Zur Eröffnung der Gespräche im Februar 1989 vgl. etwa [Osadzuk, Bogdan]: Beginn der Gespräche am »runden Tisch« in Warschau. Vor sechswöchigen Verhandlungen, in: Neue Zürcher Zeitung 31, 07.02.1989, S. 1. 4 Vgl. Dalos, György: Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa. Deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla, München 2009, S. 32. Im gleichen Gebäude waren 1955 der Warschauer Pakt und 1970 der Normalisierungsvertrag mit Deutschland unterzeichnet worden.

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nicza, PZPR) und der mit ihr verbündeten Blockparteien, aus Funktionären des offiziellen Gesamtpolnischen Gewerkschaftsverbandes (Ogólnopolskie Porozumienie Związków Zawodowych, OPZZ), Angehörigen regierungstreuer Verbände sowie einigen Wissenschaftlern. Dieser Delegation, die von Innenminister General Czesław Kiszczak angeführt wurde, gehörten unter anderem der spätere Präsident Aleksander Kwaśniewski, der spätere Ministerpräsident Leszek Miller sowie der renommierte Mediävist Aleksander Gieysztor an.5 Wortführerin der gesellschaftlichen Opposition war auf der anderen Seite die (offiziell immer noch verbotene) Unabhängige Gewerkschaft Solidarität.6 Ihre Delegation, an deren Spitze der Solidarność-Vorsitzende und Friedensnobelpreisträger Lech Wałęsa stand, umfasste Protagonisten der Solidarność, des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (Komitet Obrony Robotników, KOR), der intellektuellen katholischen Laienorganisation Znak (Zeichen) und anderer Netzwerke der frühen polnischen Bürgerrechtsbewegung. Dazu kamen Vertreter regimekritischer Medien, Anführer vergangener Streikaktionen und wiederum einige Wissenschaftler. Mitglieder der Solidarność-Delegation waren unter anderem Tadeusz Mazowiecki, nachmaliger erster Ministerpräsident einer postkommunistischen polnischen Regierung, sowie Adam Michnik, Mitbegründer und bis heute Chefredakteur der linksliberalen Gazeta Wyborcza. Drei Stühle blieben am Runden Tisch für kirchliche Beobachter reserviert: für zwei katholische Priester und einen protestantischen Bischof. Insgesamt handelte es sich bei diesen Gesprächen um eine überwiegend männliche Veranstaltung. Den Delegationen der Plenarversammlungen gehörten gerade einmal zwei Frauen an. Das Altersspektrum reichte von Mitte dreißig bis Anfang achtzig, wobei die Delegierten beider Seiten durchschnittlich etwas über fünfzig, die kirchlichen Beobachter gut sechzig Jahre alt waren.7

5 Vgl. zur Zusammensetzung der Delegationen Henzler, Marek: Die Leute vom Runden Tisch. Eine Anwesenheitsliste, übersetzt von Antje Ritter-Jasinska, polnische Originalversion in: Polityka 1 (2009), 29.12.2008, https://www.polityka.pl/tygodnikpolityka/swiat/281870,1,dieleute-­vom-runden-tisch-eine-anwesenheitsliste.read [26.06.2019]. Zu den Teilnehmenden an der Eröffnungssitzung vom 6. Februar 1989 vgl. auch Lista uczestników inauguracyjnego posiedzenia Okrągłego Stołu – 6 lutego 1989r., http://okragly-stol.pl/ludzie [30.07.2019]. 6 Genauer: NSZZ (Niezależny Samorządny Związek Zawodowy/Unabhängiger Selbstverwalteter Gewerkschaftsbund) Solidarność. 7 Vgl. Henzler: Die Leute vom Runden Tisch.

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Abb.: Abschluss der Gespräche am Runden Tisch, 5. April 1989 (akg-images/IMAGNO/Votava).

Der monumentale runde Tisch, den man auf vielen Pressefotos bewundern kann, wurde unter anderem für die Eröffnung der Gespräche am 6. Februar und für deren Abschluss am 5. April 1989 verwendet.8 In den beiden Monaten dazwischen fanden Diskussionen an verschiedenen Orten, in unterschiedlichen Zusammensetzungen und unter Beizug zahlreicher weiterer Personen statt. An drei »Haupttischen« (zespoły) debattierten die Teilnehmenden über »Wirtschaft und Gesellschaftspolitik«, »politische Reformen« sowie »Gewerkschaftspluralismus«. Dazu kamen zahlreiche themenspezifische »Untertische«, beispielsweise zu Fragen der Bildung, der Gesundheit oder des Bergbaus. Insgesamt waren Hunderte von Teilnehmenden in die Verhandlungen involviert.9 Nachdem der erste Elan verflogen war, wurde der eigentliche Kompromiss des Runden Tisches zu einem guten Teil in vertraulichen, informellen und bis8 Zum Abschluss der Verhandlungen vgl. etwa [Stieger, Cyrill]: Nationale Verständigung in Polen. Vereinbarung zwischen Regierung und Opposition, in: Neue Zürcher Zeitung 79, 06.04.1989, S. 1 f. 9 Vgl. Dalos: Der Vorhang geht auf, S. 46–49; hier (S. 46) die Schätzung, dass über 500 Personen an den Gesprächen teilnahmen, inklusive Berater, Pressesprecher und Beobachter. Stenogramme der einzelnen Sitzungen sind auf der Webseite des Sejm publiziert, vgl. Stenogramy z posiedzeń Okrągłego Stołu, https://www.sejm.gov.pl/Sejm8.nsf/stenOkrStol.xsp [04.07.2019].

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weilen feuchtfröhlichen Zusammenkünften im Warschauer Vorort Magdalenka erzielt; hier nahmen auch einflussreiche Personen teil, die bei der Eröffnung der Gespräche nicht am Tisch gesessen hatten.10 Im historischen Rückblick bestand das wichtigste Ergebnis des Runden Tisches in der Stärkung der Demokratie, der Gewaltenteilung und des politisch-gesellschaftlichen Pluralismus. Noch im April 1989 wurde die Gewerkschaft Solidarität legalisiert. Der ausgehandelte Kompromiss sah außerdem vor, dass 35 Prozent der Sitze des Sejm in einer freien Wahl vergeben würden; die restlichen Sitze sollten dem Lager der bisherigen Machthaber vorbehalten bleiben. Eine zweite Parlamentskammer (Senat) sollte geschaffen und in gänzlich freien Wahlen besetzt werden, außerdem sollte Polen wieder einen Staatspräsidenten oder eine Staatspräsidentin erhalten. Und so geschah es dann auch: Im Juni 1989 fanden die ersten halbfreien Parlamentswahlen statt, in denen die Solidarność 99 von 100 Senatssitzen und alle frei wählbaren Sitze im Sejm eroberte. Gemäß der von Adam Michnik geprägten Formel »Wasz prezydent, nasz premier« (»Euer Präsident, unser Premier«) wurden im Juli der bisherige Staatsratsvorsitzende General Wojciech Jaruzelski zum Staatspräsidenten und im August Tadeusz Mazowiecki zum Ministerpräsidenten gewählt. Im Dezember 1990, nach Einführung der Volkswahl des Präsidenten, übernahm Lech Wałęsa das Amt des Staatspräsidenten. Innerhalb von knapp zwei Jahren hatte Polen einen nicht abrupten, aber doch raschen und tiefgreifenden Wandel durchgemacht. Der britische Historiker Timothy Garton Ash hat denn auch von einer »Refolution« gesprochen – von einem Umbruch zwischen Reform und Revolution, bei dem sich gesellschaftlicher Druck »von unten« und eine gewisse Wandlungsbereitschaft »von oben« ergänzten.11 Der vorliegende Beitrag fragt danach, wie die Menschen den Runden Tisch im heutigen Polen beurteilen und wie ihre Haltung vor dem Hintergrund der Entwicklungen seit 1989 einzuordnen ist.12

10 Beispielsweise der spätere Präsident Lech Kaczyński, der sich 2009 in einem Interview an die Verhandlungen am Runden Tisch und an die Zusammenkünfte in Magdalenka erinnerte: Kaczyński, Lech: Okrągły Stół był konieczny [Wywiad z 2009 r.], in: Newsweek Polska, 01.04.2016, https://www.newsweek.pl/polska/lech-kaczynski-o-okraglym-stole-i-rozmowachw-magdalence/kzvpc24 [02.07.2019]. 11 Garton Ash, Timothy: We the People. The Revolution of ’89 Witnessed in Warsaw, Budapest, Berlin & Prague, Cambridge 1990, S. 14. 12 Für kritische Lektüre und wertvolle Hinweise danke ich Jaromir Sokołowski.

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Die Wahrnehmung des Runden Tisches im heutigen Polen Im Januar 2019 befragte das in Warschau ansässige Centrum Badania Opinii Społecznej (Zentrum zur Untersuchung der öffentlichen Meinung, CBOS) knapp eintausend Polinnen und Polen zu ihrer Einschätzung des Runden Tisches von 1989.13 Hier die wichtigsten Resultate: Eine relative Mehrheit der Polinnen und Polen stand den Verhandlungen am Runden Tisch nach wie vor positiv oder eher positiv gegenüber (37 Prozent der Befragten). Eine negative oder eher negative Haltung deklarierten im Januar 2019 nur gerade 15 Prozent. 36 Prozent gaben an, in dieser Frage neutral bzw. gleichgültig zu sein. Bei Personen im Alter von bis zu 37 Jahren machten die Neutralen/Gleichgültigen den größten Anteil aus (47 Prozent), während sich Personen im Alter von 38 bis 70 Jahren überwiegend positiv äußerten (über 40 Prozent). Bei älteren Menschen über 70 Jahre überwog wiederum die neutrale Haltung knapp vor der positiven Einschätzung (32 bzw. 31 Prozent).14 Ein offensichtlicher Zusammenhang besteht zwischen der Einschätzung des Runden Tisches und den politischen Präferenzen der befragten Person. Wer sich selber als links bezeichnet, äußerte sich im Januar 2019 besonders positiv über den Runden Tisch (59 Prozent). Am meisten kritische Stimmen gab es bei Personen, die sich selber im rechten politischen Lager verorten (29 Prozent); aber auch hier überwiegt die positive Einschätzung (33 Prozent). Betrachtet man die parteipolitischen Sympathien, so lässt sich bei Anhängern der liberal-konservativen Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO) mit 67 Prozent eine besonders hohe Zustimmung zum Runden Tisch beobachten. Anhänger der nationalkonservativen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) und ihrer Verbündeten äußerten sich mehrheitlich neu­ tral oder negativ (33 bzw. 31 Prozent).15 Neben der allgemeinen Einschätzung des Runden Tisches bat das CBOS die Befragten um ihre Meinung zu einigen konkreten Behauptungen. Dabei zeigte sich, dass eine Mehrheit der Aussage zustimmte, der Runde Tisch habe eine 13 CBOS: Trzydziesta rocznica obrad Okrągłego Stołu, opracował Antoni Głowacki (Komunikat z badań 16/2019), Februar 2019, https://cbos.pl/SPISKOM.POL/2019/K_016_19.PDF [14.06.2019]. Vom 10. bis 17. Januar 2019 wurden 928 durch das Los bestimmte erwachsene Personen befragt, die für die polnische Wohnbevölkerung repräsentativ waren. Vgl. ebd., S. 1. Für eine englische Kurzfassung der Resultate vgl. https://www.cbos.pl/EN/publications/­ reports/2019/016_19.pdf [19.06.2019]. Zur Befragungsmethode des CBOS vgl. auch https:// www.cbos.pl/PL/badania/metody_realizacji.php [18.06.2019]. 14 CBOS: Trzydziesta rocznica obrad Okrągłego Stołu, S. 3–6. 15 Ebd., S. 6 f.

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friedliche Machtübergabe ohne Blutvergießen ermöglicht (70 Prozent); etwas mehr als die Hälfte fand auch, dass der Runde Tisch anderen Staaten als Vorbild für die Ausgestaltung einer demokratischen Transformation dienen könne (51 Prozent). Die Mehrheit der Befragten stimmte allerdings auch kritischen Aussagen zu: 55 Prozent waren der Meinung, dass infolge des Runden Tisches eine Abrechnung mit dem vergangenen System und seinen wichtigsten Vertretern ausgeblieben sei; 52 Prozent glaubten, dass der Runde Tisch eine weitere Einflussnahme der kommunistischen Nomenklatura ermöglicht habe. Bei all diesen Fragen gab es relativ wenige dezidierte Antworten; die meisten Befragten äußerten sich »eher« in die eine oder andere Richtung, der Anteil derjenigen, die sich zu keiner Meinung durchringen konnten, betrug hohe 20 bis 35 Prozent.16 Interessant ist ein Blick auf die Veränderungen der Resultate gegenüber ähnlichen Umfragen in den Jahren 2009 und 2014. Hier fällt zunächst auf, dass die positive Haltung zum Runden Tisch eine solide Kontinuität aufweist, zwischen 2014 und 2019 aber doch um 5 Prozentpunkte sank, während die negative Einschätzung im gleichen Umfang anstieg.17 Auch bei der Frage, ob der am Runden Tisch gefundene Kompromiss in der damaligen Situation die bestmögliche Lösung für einen politischen Wandel war, lässt sich ein Absinken der Zustimmung beobachten: Während 2009 30 Prozent diese Meinung vertreten hatten, waren es 2019 noch 21 Prozent (2014: 27 Prozent). Demgegenüber fanden 2019 etwas mehr Personen, am Runden Tisch seien den kommunistischen Machthabern unnötige Zugeständnisse gemacht worden (13 Prozent gegenüber 8 Prozent im Jahr 2009 und 11 Prozent im Jahr 2014).18 Bei den meisten konkreteren Fragen lässt sich in den letzten fünf Jahren eine Zunahme der Unentschlossenen beobachten. So widersprachen 2019 beispielsweise noch 15 Prozent der Befragten dezidiert der Aussage, der Runde Tisch habe eine Abrechnung mit dem alten System verhindert; alle anderen stimmten zu (55 Prozent) oder hatten keine klare Meinung (30 Prozent).19 Bei der bewusst zugespitzten Frage, ob es sich bei den Gesprächen am Runden Tisch eher um die Erarbeitung eines Gesellschaftsvertrags oder um eine Verschwörung der Eliten gehandelt habe, 16 Ebd., S. 8 f. Nur 30 Prozent der Befragten waren der Meinung, dass die Verständigung mit den Machthabern am Runden Tisch tendenziell unnötig gewesen sei, weil das System ohnehin bald kollabiert wäre (gegenüber 41 Prozent, die diese Ansicht nicht teilen). 17 Ebd., S. 4. 18 Ebd., S. 7 f. Zugenommen hat bei diesen Fragen auch die Zahl der Unentschiedenen (von 20 Prozent 2014 auf 26 Prozent 2019). 19 Ebd., S. 9 f. 2009 hatten dieser Aussagen noch 21 Prozent widersprochen und 51 Prozent zugestimmt, 28 Prozent waren unentschlossen (2014: 18 Prozent Widerspruch, 57 Prozent Zustimmung, 25 Prozent Unentschlossene).

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sprachen sich gleich viele Personen für die eine oder andere Variante aus (je 38 Prozent). 2009 hatte noch eine relative Mehrheit der Befragten den Runden Tisch mit der Vorstellung eines Gesellschaftsvertrags verbunden (44 Prozent).20 Die vielleicht markanteste Veränderung betrifft aber die historische Bedeutung, die dem Runden Tisch zugeschrieben wird. Während dieser 2009 für 40 Prozent der Befragten das Ende der kommunistischen Ära markierte, stellte er 2019 nur noch für 22 Prozent einen solchen symbolischen Schlüsselmoment dar (2014: 34 Prozent). Heute wird das Ende des Kommunismus am häufigsten mit den ersten freien Parlamentswahlen von 1991 assoziiert (25 Prozent; 2014: 10 Prozent).21 Betrachten wir nun einige dieser Resultate und ihre historischen Hintergründe etwas genauer.

Der Runde Tisch als beste Lösung Bemerkenswert ist zunächst, dass die Polinnen und Polen die Verhandlungslösung des Runden Tisches auch aus der kritischen Distanz von dreißig Jahren tendenziell positiv beurteilen. Dieser Befund wird nur vor dem Hintergrund der verfahrenen, fast ausweglosen Situation verständlich, in die sich die späte Volksrepublik hineinmanövriert hatte.22 Von Anfang an hatte sich das kommunistische Polen in einem Spannungsfeld widersprüchlicher politischer Orientierungen befunden. Auf den Ruinen des Zweiten Weltkriegs war ein neuer polnischer Staat entstanden, der unter dem Einfluss der siegreichen Sowjetunion stand, sich gleichzeitig aber auch auf seine nationalen Traditionen und die identitätsstiftende Kraft des katholischen Glaubens besann.23 Durch die Westverschiebung des Landes, durch Umsiedlungen und Vertreibungen mutierte Polen erstmals in seiner Geschichte zu einem ethnisch nahezu homogenen Staat, was der nationalen Perspektive zusätzliches 20 Ebd., S. 10 f. 21 Ebd., S. 1 f. 22 Für einen Überblick über die strukturellen Entwicklungen und Grundprobleme der Volksrepublik Polen vgl. etwa Jaworski, Rudolf/Lübke, Christian/Müller, Michael G.: Eine kleine Geschichte Polens, Frankfurt a. M. 2000, S. 332–359; Hoensch, Jörg K.: Geschichte Polens. 3., neubearbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 1998, S. 300–357. Vgl. auch den Beitrag von Carsten Goehrke in diesem Band. 23 Berühmt ist das Stalin zugeschriebene Bonmot, wonach man eher eine Kuh satteln und reiten als den Kommunismus in Polen einführen könne, vgl. Jaworski/Lübke/Müller: Eine kleine Geschichte Polens, S. 334.

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Gewicht verlieh. Die Sowjetisierung Polens blieb dagegen unvollständig: Nach einer kurzen Phase des stalinistischen Terrors unter Bolesław Bierut (Parteichef 1948–1956) etablierte sich bereits in der Tauwetterperiode der 1950er Jahre ein moderateres nationalkommunistisches Regime unter Władysław Gomułka (1956–1970). Unter weitgehendem Verzicht auf ideologischen Furor lavierte die Staats- und Parteiführung in den folgenden Jahren zwischen einer Politik des eigenen Machterhalts, den Postulaten der sozialistischen Bündnistreue und dem Bestreben, einen spezifisch polnischen Weg zum Sozialismus zu finden. In einem gewissen Zusammenhang mit dieser unklaren politischen Orientierung stand ein zweites Grundproblem der Volksrepublik: die Unfähigkeit des kommunistischen Regimes, eine längerfristig erfolgreiche Wirtschaftspolitik zu entwerfen und umzusetzen. Während die Industrialisierung des Landes nach sowjetischem Vorbild zunächst mit guten Resultaten lanciert worden war und sich mit den praktischen Bedürfnissen des Wiederaufbaus verbinden ließ, scheiterte der Versuch, die weitgehend aus bäuerlichen Kleinbetrieben bestehende polnische Landwirtschaft zu kollektivieren; entsprechende Bestrebungen wurden nach der nationalkommunistischen Wende von 1956 wieder fallengelassen.24 Darüber hinaus sah sich die zentrale Bürokratie auf Dauer außerstande, die Kluft zwischen der steigenden Produktivität der einseitig geförderten Schwerund Produktionsmittelindustrie und den unerfüllten Konsumbedürfnissen der Bevölkerung zu überbrücken. Schon früh war die unvollständig sowjetisierte polnische Wirtschaft in eine Dauerkrise abgedriftet, die durch staatliche Eingriffe in das Preisgefüge und später, in den 1970er Jahren, durch die Überforderungen einer exzessiven Schuldenwirtschaft noch verschärft wurde.25 Das Resultat war nicht zuletzt eine sich verschlechternde Versorgungslage, welche die Menschen auf die Straßen trieb und gegen das Regime aufbrachte. Damit sind wir bei einem dritten Grundproblem angelangt, der gescheiterten politischen und gesellschaftlichen Integration. Im Zuge des »Stalinismus24 Zu den frühen Erfolgen der Industrialisierungspolitik vgl. etwa Hoensch: Geschichte Polens, S. 332 f.; aus polnischer Sicht: Topolski, Jerzy: Die Geschichte Polens, Warszawa 1985, S. 289– 291. Zum Misserfolg der Kollektivierung vgl. Pienkos, Donald E.: Peasant Responses to Collectivization. A Comparison of Communist Agriculture Policies in the U.S.S.R. and Poland, in: Journal of Baltic Studies 4 (1973) 3, S. 191–210; ferner Heyde, Jürgen: Geschichte Polens, München 2006, S. 116. Zu den sozioökonomischen Weichenstellungen von 1956 vgl. auch Pienkos, Donald E.: A Look Back. Poland and the Historic Events of 1956, in: The Polish Review 51 (2006) 3–4, S. 371–374. 25 Zur Aufbruchstimmung und zur Schuldenwirtschaft unter Parteichef Gierek nach 1970 vgl. Krzemiński, Adam: Polen im 20. Jahrhundert. Ein historischer Essay, München 1993, S. 144– 160.

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imports«26 und der Konsolidierung kommunistischer Herrschaft in den ersten Nachkriegsjahren etablierte sich auch in Polen ein Machtgefüge, das nicht primär auf einem Dialog mit der Bevölkerung, sondern auf Bevormundung und der Unterdrückung abweichender Meinungen beruhte. Kaum ließ die Repression nach dem Ende der Ära Bierut etwas nach, demonstrierten im Juni 1956 Maschinenbauarbeiter in Posen für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen. In einer ganzen Serie von Protestaktionen und Streiks wurde in den folgenden Jahrzehnten immer wieder deutlich, wie sehr sich die Staats- und Parteiführung von der Masse der Gesellschaft entfremdet hatte.27 Früher als in den anderen Ländern des sowjetischen Einflussbereichs hatte sich in der Volksrepublik Polen eine gut organisierte gesellschaftliche Opposition herausgebildet. Dass dies möglich war, hängt wiederum nicht unwesentlich mit der spezifisch polnischen, halbfertigen Variante des kommunistischen Herrschaftsmodells zusammen: Während nach sowjetischem Vorbild eine selbstbewusste, gut qualifizierte Arbeiterklasse herangebildet wurde, entwickelte sich die Repression gegen Andersdenkende nicht in der gleichen Konsequenz und Rücksichtslosigkeit wie anderswo. Innerhalb der Parteiführung gab es unterschiedliche Lager, die Kirche nahm ihre traditionelle Vermittlerrolle ein und auf Wellen des Terrors und der Unterdrückung folgten regelmäßig hoffnungsvolle Phasen einer liberaleren Politik – so namentlich zu Beginn der Ära Gomułka 1956 oder unter Parteichef Edward Gierek nach 1970. Vor diesem Hintergrund konnte sich ausgerechnet die staatlich geförderte Arbeiterschaft zum Nukleus einer politischen Gegenöffentlichkeit entwickeln. Wiederholt demonstrierten Arbeiter und Arbeiterinnen in den Städten gegen Preiserhöhungen und schlechte Lebensbedingungen, bevor sie in den späten 1970er Jahren den Schulterschluss mit der regimekritischen Intelligenz und mit kirchlichen Kreisen wagten. 1976 war in dieser Hinsicht ein Schlüsseljahr: Nach der Niederschlagung erneuter Proteste gegen Preiserhöhungen formierte sich mit dem Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) eine Plattform des Widerstands, die verschiedene Schichten der Gesellschaft adressierte und, zusammen mit anderen nun entstehenden Netzwerken, dem erratischen Aufbegehren eine dauerhafte strukturelle Grundlage verlieh. Spätestens bei den landesweiten Protesten und Streikaktionen der Jahre 1980/81 wurde offensichtlich, dass sich mittlerweile ein bedeutender Teil der 26 Jaworski/Lübke/Müller: Eine kleine Geschichte Polens, S. 338. 27 Zur Destalinisierung vgl. Kemp-Welch, Tony: Dethroning Stalin. Poland 1956 and its ­Legacy, in: Europe-Asia Studies 58 (2006) 8, S. 1261–1284.

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polnischen Bevölkerung zu einer Bürgergesellschaft formiert hatte, die dem Regime mit wirtschaftlichen wie auch politischen Forderungen kritisch gegenübertrat. Zum Sprachrohr und ideellen Zentrum dieser Bewegung wurde die Unabhängige Gewerkschaft Solidarität. Ihre offizielle Zulassung war einer der Punkte des Abkommens vom 31. August 1980, zu dessen Unterzeichnung sich die Regierung im Kontext eskalierender Proteste und Streiks in der Danziger Leninwerft gezwungen sah.28 Dass 1989 der Runde Tisch vielen als einziger Ausweg aus der Sackgasse erschien, hat dann besonders auch mit der Entwicklung der Lage in den 1980er Jahren zu tun. Die Vertrauenskrise im Verhältnis zwischen Regime und Bevölkerung erreichte einen Höhepunkt, als der damalige Ministerpräsident und Parteichef Jaruzelski am 13. Dezember 1981 den Kriegszustand ausrief. Diese Maßnahme wurde später mit der Abwendung einer Intervention der sozialistischen Bruderländer gerechtfertigt. Sie zeugte aber vor allem von der Verzweiflung einer Regierung, die sich in die Enge getrieben und in ihrer Macht bedroht fühlte.29 Mit den immer lauter vorgebrachten Forderungen nach Freiheit, Demokratisierung und gesellschaftlichem Pluralismus wurde die Staats- und Parteiführung alleine nicht mehr fertig. Militärische Gewalt und ein Verbot der Solidarność sollten wieder Ruhe herstellen. Die grundlegenden Probleme des Landes, die desolate Versorgungslage und die Frustration der Bevölkerung über mangelnde Freiheitsrechte und Partizipationschancen ließen sich mit einer solchen Weichenstellung freilich nicht beseitigen. So gelang es dem Regime denn auch nach der Beendigung des Kriegszustands im Juli 1983 und nach der Freilassung politischer Gegner nicht mehr, das Ruder zu seinen Gunsten herumzureißen und einen versöhnlichen Dialog auf der Basis der Regimetreue zu etablieren.30 Dass solche Bestrebungen zunehmend realitätsfern wirkten, hatte nun auch mit äußeren Faktoren zu tun: Der polnische Papst Johannes Paul II. beflügelte das nationale und religiöse Bewusstsein sei28 Zu den Ereignissen von 1980/81 und zu den Anfängen der Solidarność-Bewegung in der Erinnerung von Zeitzeugen vgl. Bloom, Jack M.: The Solidarity Revolution in Poland, 1980– 1981, in: The Oral History Review 33 (2006) 1, S. 33–64. Zur Geschichte der Solidarność vgl. auch Imhof, Lukas: Polen und das Phänomen Solidarność, in: Carsten Goehrke/Seraina Gilly (Hg.): Transformation und historisches Erbe in den Staaten des europäischen Ostens, Bern 2000, S. 529–597. 29 Zu den politischen Kämpfen der 1980er Jahre vgl. etwa Paczkowski, Andrzej: Revolution and Counterrevolution in Poland, 1980–1989. Solidarity, Martial Law, and the End of Communism in Europe, translated by Christina Manetti, Rochester 2015. 30 Zur Einberufung eines Konsultativen Rates beim Staatsratsvorsitzenden Jaruzelski 1986 vgl. ebd., S. 288.

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ner Landsleute und stärkte ihnen im Wunsch nach Selbstbestimmung den Rücken.31 Und als 1985 in der Sowjetunion Michail Gorbačëv an die Macht kam und der glasnost’, dem offenen und ehrlichen Dialog mit den Bürgern, neue Bedeutung zuschrieb, verlor die Machtpolitik des einsam gewordenen Regimes in Warschau endgültig ihre Legitimität und Glaubwürdigkeit.32 Neue Bemühungen um ökonomische Reformen und namentlich die beginnende Privatisierung von Staatsbetrieben seit 1988 konnten die Eigendynamik des Wandels nicht mehr aufhalten.33 All dies mündete nun aber nicht in einen einfachen Triumph der Solidarność, sondern in eine Pattsituation. Die oppositionelle Bewegung war auf eine Übernahme der Staatsgeschäfte nicht vorbereitet; sie hatte überdies gegen Ende der 1980er Jahre massiv an Schwung und auch viele aktive Anhänger verloren. Vor diesem Hintergrund waren sowohl die Regierung wie auch die Opposition an einer Verhandlungslösung interessiert. Keine der beiden Seiten sah sich in der Lage, die Situation alleine zu meistern, beide agierten aus einer Position der Schwäche heraus. Der Runde Tisch war damit von vornherein »zum Erfolg verurteilt«.34 Im Juli 1988 bot die Parteiführung ihren Widersachern Gespräche an, am 31. August kam es zu einem ersten vorbereitenden Treffen zwischen Innenminister Kiszczak und Lech Wałęsa. Man einigte sich darauf, Gespräche am Runden Tisch aufzunehmen, sobald die Solidarność für ein Ende der Streiks sorgte. Minimale Ergebnisse des geplanten Verhandlungsprozesses wurden bereits jetzt vorweggenommen: Die Gewerkschaft Solidarität sollte wieder zugelassen werden, im Gegenzug war auf offene Kampfwahlen zu verzichten.35

31 Zur nationalen und religiösen Mobilisierung, die der 1978 gewählte Johannes Paul II. bereits bei seiner ersten Polenreise im Juni 1979 auslöste, vgl. etwa Mink, Georges: La Pologne au cœur de l’Europe de 1914 à nos jours. Histoire politique et conflits de mémoire, Paris 2015, S. 351. 32 Zum Einfluss Gorbačëvs auf die Entwicklungen in Polen vgl. ebd., S. 405–422. 33 Zu den Privatisierungsbestrebungen vgl. Zajicek, Edward K./Heisler, James B.: Economic Reforms in Poland. The Dilemma of Privatization or Partition, in: International Journal of Politics, Culture and Society 7 (1993) 1, S. 19–42, hier besonders S. 23 f. 34 Dalos: Der Vorhang geht auf, S. 47. Zur Schwäche beider Seiten vgl. auch Holzer: Der Runde Tisch, S. 226. 35 Dalos: Der Vorhang geht auf, S. 45.

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Politisierte Wahrnehmung Ein zweiter markanter Befund der Umfrage vom Januar 2019 betrifft den Einfluss der politischen Haltung auf die Wahrnehmung des Runden Tisches. Hier ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Verhandlungen schon 1989 unterschiedlich beurteilt wurden. Mariusz Mazur hat in einer akribischen Quellenanalyse drei grundlegende zeitgenössische Narrative herausgeschält: jenes der regierenden Arbeiterpartei, jenes des pragmatischen Flügels der Solidarność um Lech Wałęsa sowie jenes der unversöhnlichen Oppositionsvertreter.36 Das Narrativ, das die regierende PZPR verbreitete, war das einheitlichste unter den dreien. Es lässt sich in etwa folgendermaßen zusammenfassen: Die Führung des Landes war sich der Notwendigkeit ökonomischer, sozialer und politischer Reformen bewusst. Nicht die Streiks und Proteste der Opposition hatten den Runden Tisch erzwungen; mit ihm konkretisierte sich vielmehr ein schon lange geplanter Prozess der Demokratisierung und der besseren Berücksichtigung des sozialistischen Pluralismus. Der Runde Tisch war Ausdruck eines versöhnlichen Dialogs und der Zusammenarbeit im Rahmen einer Gemeinschaft, die nicht zwei »Seiten«, sondern nur unterschiedliche Kräfte kannte. Im Interesse der polnischen Nation war es die moralische Pflicht aller Beteiligten, Verantwortung zu übernehmen, sich zu verständigen und das Werk der Einigung zu unterstützen. Bei all dem blieb freilich klar, dass die oppositionellen Kräfte teilweise irrige, extreme Positionen vertraten und dass letztlich nur die Partei das Land aus der Krise führen konnte. Die Bereitschaft zum Kompromiss offenbarte gerade die wahre Stärke der sich erneuernden Partei.37 Das oppositionelle Lager ließ sich nicht auf ein ähnlich stringentes Narrativ verpflichten. Unbestritten war hier, dass das kommunistische Regime seine Macht nicht aufgrund eigener Einsichten teilte, sondern dass es die ökonomische Lage und die Streiks waren, die es dazu zwangen. Die pragmatische Mehrheit im Umfeld von Lech Wałęsa sah im Runden Tisch eine Chance, friedliche Veränderungen anzustoßen und dem allgemeinen Hass entgegenzutreten. Allerdings war es auch für die Gesprächsbereiten nicht sicher, dass die Verhandlungen Erfolg haben würden. Im Gegenteil: Das Misstrauen gegenüber der Staats- und Parteiführung blieb groß, und Wałęsa selber warnte vor der Gefahr, ein weite36 Mazur, Mariusz: Oficjalne narracje Okrągłego Stołu 1988–1989, in: Wojciech Polak/ Jakub Kufel/Marta Chechłowska/Paweł Nowakowski/Damian Chrul (Hg.): Okrągły Stół – dwadzieścia lat później. Zbiór studiów, Toruń 2009, S. 28–50. 37 Für die Analyse dieses Narrativs berücksichtigte Mazur unter anderem auch Artikel und Leserbriefe in der Trybuna Ludu (Volkstribüne), dem Organ der PZPR, vgl. ebd., S. 28–34.

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res Mal verschaukelt zu werden. Dennoch: Der Weg zu mehr Demokratie und Unabhängigkeit setzte ein Mitwirken der Regierung voraus. In dieser Sichtweise gab es keinen anderen Ausweg als das Gespräch, weshalb die große Mehrheit der Solidarność und der Bevölkerung zu diesem Schritt bereit sei. Dabei ging es nicht um einen pathetisch aufgebauschten »Kompromiss« oder Konsens, sondern um pragmatische Zugeständnisse in Richtung sozialer Reformen und einer Machtbeteiligung der Opposition. Prioritär war besonders die erneute Legalisierung der Gewerkschaft Solidarität.38 Diesem Narrativ der Gesprächswilligen standen, mit teilweise fließenden Übergängen, die Sichtweisen radikalerer Oppositionskreise gegenüber, die vor den negativen Konsequenzen des Rundes Tisches warnten. Ein Teil von ihnen lehnte Gespräche mit einer Führungsclique, die in der Tradition des Stalinismus und des Kriegsrechts stand, gänzlich ab. Befürchtet wurde unter anderem, dass die oppositionelle Bewegung kompromittiert, gespalten und neutra­ lisiert werden könnte, wenn sie mit dem Regime gemeinsame Sache machte. Es drohten halbherzige Lösungen, die das Ziel eines umfassenden Umbruchs gefährdeten. Die Regierung, so die radikale Sichtweise weiter, spiele doppelzüngig auf Zeit, um das alte Machtgefüge zu stabilisieren und zu erhalten. Jeder Kompromiss anerkenne letztlich die Legitimität der Gegenseite. Die einzig denkbaren Gesprächsthemen seien demnach die Unabhängigkeit und der komplette Systemwechsel. Zusätzliches Unbehagen bestand darüber, dass die SolidarnośćFührung um Lech Wałęsa den politischen Prozess faktisch monopolisierte und der kritischere Teil der Opposition von den weiteren Entscheidungen ausgeschlossen blieb.39 Wałęsa wurde im Narrativ der Unversöhnlichen noch nicht direkt als Verräter bezeichnet; der spätere Vorwurf des Verrats lässt sich aber doch als Zuspitzung einer Kritik verstehen, die bereits 1989 in der oppositionellen Untergrundpresse laut geworden war.40 Die disparate Wahrnehmung der Zeitgenossen, die in den drei skizzierten Narrativen zum Ausdruck kommt, spiegelt sich bis zu einem gewissen Grad in der Art und Weise, wie die politischen Eliten den Runden Tisch später beurteilten und bis heute mit ihrer jeweiligen parteipolitischen Programmatik verknüpfen. Zum besseren Verständnis der unterschiedlichen Positionen sei daran erinnert, dass die Parteienvielfalt nach 1989, abgesehen von 38 Vgl. ebd., S. 34–41. 39 Zu den oppositionellen Gruppierungen, die Gespräche mit der Machtelite ablehnten und das Verhandlungsmandat der Solidarność-Führung um Lech Wałęsa bezweifelten, vgl. auch Dalos: Der Vorhang geht auf, S. 37. 40 Vgl. Mazur: Oficjalne narracje Okrągłego Stołu 1988–1989, S. 41–46.

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den Postkommunisten, im Wesentlichen aus der Zersplitterung des heterogenen Solidarność-Lagers resultierte.41 Von langfristiger Bedeutung war die Ausdifferenzierung der früheren Oppositionsbewegung in eine liberale und ein national-klerikale Richtung: Die Liberalen sahen die Transformation als Chance für den Aufbau einer freien Marktwirtschaft und einer demokratischen Gesellschaftsordnung. Für diese Haltung standen zunächst besonders der Liberal-Demokratische Kongress (Kongres Liberalno-Demokratyczny, KLD) und seit 1994 die Freiheitsunion (Unia Wolności, UW) mit Tadeusz Mazo­ wiecki, Bronisław Geremek, Donald Tusk und Leszek Balcerowicz; 2001 wurde die liberal-konservative Bürgerplattform (PO) gegründet. Das national-klerikale Lager griff auf der anderen Seite das Traditionsbewusstsein der Solidarność auf. Dem euphorischen Freiheitsstreben und der Kälte des Marktes hielt es die Vision einer Rückbesinnung auf nationale und religiöse Werte entgegen und rückte Fragen der Moral, der nationalen Kultur und der Identität in den Vordergrund.42 Diese Perspektive hat sich vor allem die 2001 von den Brüdern Lech und Jarosław Kaczyński gegründete Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zu eigen gemacht. Seit dem Misserfolg der Allianz der Demokratischen Linken (Sojusz Lewicy Demokratycznej, SLD) in den Wahlen von 2005 prägt die Auseinandersetzung zwischen den beiden Post-Solidarność-Parteien PO und PiS wesentlich den politischen Diskurs in Polen. Die Umfrage zum Runden Tisch von 2019, wir haben es gesehen, hat sich denn auch besonders für die Wahrnehmungsunterschiede zwischen den Anhängern der PO und der PiS interessiert. Die überdurchschnittlich positive Einschätzung durch die Sympathisanten der Bürgerplattform ist wohl vor dem Hintergrund der freiheitlichen Dynamik der »Wende« zu sehen, welche marktliberale und demokratische Reformen erst denkbar machte und letztlich auch den Weg für die europäische Integration Polens ebnete. Die vergleichsweise negativen Stimmen aus dem PiS-Lager lassen sich dagegen mit einer antikommunistischen Programmatik erklären, die sich längst auch gegen den Kompromiss von 1989 und gegen die damalige Milde mit den Vertretern des alten Systems richtet. Zwar hatten sich die Gebrüder Kaczyński als einstige enge Weggefährten Wałęsas ebenfalls für die Verhandlungen am Runden Tisch ausgesprochen. Schon kurz nach deren Abschluss forderten sie aber 41 Genauer gesagt: aus der Parlamentsfraktion der Solidarność (Obywatelski Klub Parlamen­tarny, OKP). Zur Entwicklung und zu den Programmen der polnischen Parteien seit 1989 vgl. Ziemer, Klaus: Das politische System Polens. Eine Einführung, Wiesbaden 2013, S. 169–244. 42 Ebd., S. 190 f. Zur Verbundenheit der Solidarność mit dem Erbe der polnischen Kultur und dem Katholizismus vgl. auch Dalos: Der Vorhang geht auf, S. 44 f.

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eine unzweideutige Entkommunisierung der polnischen Gesellschaft und eine historisch-investigative »Durchleuchtung« (lustracja) von Personen in öffentlichen Funktionen. Dieses Postulat wurde nach der Jahrtausendwende zu einem Kernanliegen der PiS, zumal in der Wahrnehmung der Partei kommunistische Netzwerke die polnische Gesellschaft nach wie vor durchdrangen.43

Das Problem der »Abrechnung« Damit sind wir bei einem dritten Befund der Umfrage von 2019 angelangt: dem sich mehrenden Eindruck, der Runde Tisch habe eine wirkungsvolle »Abrechnung« mit dem Kommunismus verhindert. In diesem Zusammenhang ist zuerst nach der polnischen Ausprägung dessen zu fragen, was die Forschung als »Vergangenheitspolitik« oder transitional justice bezeichnet hat.44 Wie in den anderen Transformationsländern stellte sich in Polen nach 1989 die Frage des richtigen Umgangs mit der kommunistischen Vergangenheit und den vormaligen Machteliten. Besondere Brisanz erhielt diese Thematik, als nach dem Wahlsieg der Linken 1993 Vertreter des alten Regimes erneut Regierungsverantwortung übernahmen. Der berühmte »dicke Strich«, den der erste nichtkommunistische Ministerpräsident Mazowiecki unter die Vergangenheit zu ziehen gedachte und mit dessen Hilfe die zerstrittene Nation wieder geeint

43 Zur ursprünglichen Haltung der Kaczyński-Brüder gegenüber dem Runden Tisch vgl. Kaczyński, L.: Okrągły Stół był konieczny. Zur Vorstellung, Polen sei von Kommunisten unterwandert, vgl. Tighe, Carl: Lustration – the Polish experience, in: Journal of European Studies 46 (2016) 3/4, S. 338–373, hier besonders S. 347 f. Der dezidierte Antikommunismus der PiS wird noch dadurch unterstrichen, dass Mitglieder der ehemaligen antikommunistischen Zentrumsallianz (Porozumienie Centrum, PC), die Jarosław Kaczyński bereits 1990 gegründet hatte, zum inneren Zirkel der PiS-Führung gehören, vgl. Ziemer: Das politische System Polens, S. 205. Im Vergleich mit den Kaczyński-Brüdern lässt sich bei Bronisław Komorowski (Präsident 2010–2015) ein umgekehrter Wandlungsprozess beobachten: Er hatte den Runden Tisch zunächst als faulen Kompromiss abgelehnt, schätzte die Verhandlungen später aber positiv ein. 44 Vgl. dazu etwa Stan, Lavinia/Nedelsky, Nadya (Hg.): Post-Communist Transitional Justice. Lessons from twenty-five years of experience. Cambridge 2015. Zum Begriff transitional justice und seiner deutschen Entsprechung Vergangenheitspolitik (polnisch: polityka wobec przeszłości) vgl. auch Troebst, Stefan: Geschichtspolitik. Politikfeld, Analyserahmen, Streitobjekt, in: Etienne François/Kornelia Kończal/Robert Traba/Stefan Troebst (Hg.): Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich, Göttingen 2013, S. 15–34, hier S. 26.

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werden sollte, geriet nun mehr und mehr ins Kreuzfeuer einer politischen Auseinandersetzung.45 Ein Lustrationsgesetz erhielt Polen vergleichsweise spät, nämlich erst 1997.46 Entwürfe dazu hatte es schon kurz nach der »Wende« gegeben, doch das Anliegen einer Durchleuchtung individueller Vergangenheiten wurde nicht zuletzt durch ungeschickte Versuche einer parteipolitischen Instrumentalisierung für längere Zeit blockiert.47 Die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung zeigte sich dann aber deutlich, als immer wieder Bruchstücke von Informationen aus verschlossenen Archiven an die Öffentlichkeit sickerten und eine Atmosphäre des Misstrauens und der gegenseitigen Verdächtigungen schufen. Als konkreter Anstoß für das Lustrationsgesetz von 1997 gilt unter anderem die Affäre um Ministerpräsident Józef Oleksy (SLD), der Ende 1995 der Spionage für Russland bezichtigt wurde und trotz unklarer Faktenlage zurücktrat.48 Ein Ziel des nun erarbeiteten Gesetzes bestand denn auch darin, die Menschen vor willkürlichen Anschuldigungen zu schützen. Darüber hinaus sollte es die junge polnische Demokratie vor unerwünschten Einflüssen der alten Nomenklatur bewahren und dem Recht der Bevölkerung auf Information Rechnung tragen.49 45 Zum »dicken Strich«, den Mazowiecki in seiner Regierungserklärung 1989 thematisiert hatte, vgl. beispielsweise Loew, Peter Oliver: Helden oder Opfer? Erinnerungskulturen in Polen nach 1989, in: Osteuropa 58 (2008) 6, S. 85–102, hier S. 85 f. Der milde Umgang mit den alten Eliten entspricht einem evolutionären Modell der Transformation, wie es früh auch Adam Michnik vertrat, vgl. Dalos: Der Vorhang geht auf, S. 49 f. 46 Zur Lustration in Polen vgl. etwa Tighe, Lustration – the Polish experience; S­ zczerbiak, Aleks: Dealing with the Communist Past or the Politics of the Present? Lustration in Post-Communist Poland, in: Europe-Asia Studies 54 (2002) 4, S. 553–572; De Vries, Tina: Die Lustration in Polen, in: Bernd Rill (Hg.): Vergangenheitsbewältigung im Osten – Russland, Polen, Rumänien, München 2008, S. 69–80; Grajewski, Andrzej: Lustration in Polen – der Umgang mit der Volksrepublik, in: Polen-Analysen 17 (2007), S. 2–4, http://www.laender-­ analysen.de/polen/pdf/PolenAnalysen17.pdf [27.07.2019]. In komparativer Perspektive: David, Roman: Lustration Laws in Action. The Motives and Evaluation of Lustration Policy in the Czech Republic and Poland (1989–2001), in: Law & Social Inquiry 28 (2003) 2, S. 387–439; Williams, Kieran/Fowler, Brigid/Szczerbiak, Aleks: Explaining Lustration in Central Europe. A ›Post-communist Politics‹ Approach, in: Democratization 12 (2005) 1, S. 22–43. 47 Innenminister Antoni Macierewicz hatte 1992 auf Anweisung des Sejm eine Liste von Parlamentariern und hohen Staatsbeamten zusammengestellt, die zu Zeiten der Volksrepublik angeblich mit den Geheimdiensten kollaboriert hatten. Nach diesem Anlauf zu einer punktuellen Lustration wurde die Regierung von Ministerpräsident Jan Olszewski gestürzt, vgl. Grajewski: Lustration in Polen, S. 2. 48 Das betreffende Verfahren gegen Oleksy verlief im Sand, hingegen wurde er 2004/2005 wegen Lustrationslüge und Kollaboration mit dem militärischen Geheimdienst der Volksrepublik verurteilt, vgl. Dudek: Historia polityczna Polski 1989–2015, S. 350–352, 519 f. 49 Vgl. Williams/Fowler/Szczerbiak: Explaining Lustration in Central Europe, S. 28.

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Das Gesetz wurde gegen den Widerstand der Linksallianz verabschiedet und hielt im Wesentlichen Folgendes fest: Es wird in Warschau ein Lustrationsgericht geschaffen, dem Personen, die öffentliche Funktionen ausüben wollen, eine Erklärung über ihre allfällige Zusammenarbeit mit den Sicherheitsorganen der Volksrepublik vorlegen müssen. Die Erklärung wird zunächst vom sogenannten Anwalt des öffentlichen Interesses geprüft. Stellt sich heraus, dass die abgegebene Erklärung falsch ist, wird dies veröffentlicht; die betreffende Person ist dann für zehn Jahre von der Ausübung öffentlicher Ämter ausgeschlossen. Eine eingestandene, im Rahmen des damals geltenden Rechtes ausgeübte Kooperation bleibt ohne Konsequenzen.50 Im weiteren Verlauf der Lustrationsdebatte spielte das 1999 eingerichtete Institut für Nationales Gedenken (Instytut Pamięci Narodowej, IPN) eine Schlüsselrolle.51 Unzufrieden mit den bisherigen Ergebnissen der Durchleuchtung, bemühte sich die erste von der PiS dominierte Regierung nach 2005 darum, die Bestimmungen von 1997 zu verschärfen und auszuweiten. Gemäß dem erneuerten Lustrationsgesetz vom Oktober 2006 sollte das Verdikt der Kollaboration auch Personen treffen, die im Rahmen der damals geltenden Gesetze mit den kommunistischen Geheimdiensten kooperiert hatten, wobei der Kreis der Deklarationspflichtigen auf über eine halbe Million Personen ausgeweitet wurde und nun auch zusätzliche Berufsgruppen wie Lehrpersonen und Journalisten einschloss. Dem IPN, das ursprünglich primär die Archivalien der Staatssicherheitsorgane zu beaufsichtigen und Verbrechen früherer Regimes zu untersuchen hatte, war jetzt eine neue, viel aktivere Rolle zugedacht: Es sollte nicht nur die Funktion des bisherigen Anwalts des öffentlichen Interesses übernehmen, sondern auch Informationen über Personen sammeln und publizieren, die von den Geheimdiensten der Volksrepublik als Mitarbeiter betrachtet wor-

50 Für eine deutsche, von Kai Struve angefertigte Übersetzung des Gesetzes vgl. Gesetz vom 11. April 1997 über die Offenlegung der Arbeit oder des Dienstes in den Staatssicherheitsorganen oder der Zusammenarbeit mit ihnen in den Jahren 1944–1990 von Personen, die öffentliche Funktionen ausüben, https://www.dpg-brandenburg.de/nr16/lustrage.htm [27.07.2019]. Zum Lustrationsgesetz von 1997, zur Schwierigkeit seiner Umsetzung und zu Anpassungen in den Folgejahren vgl. auch Grajewski: Lustration in Polen, S. 2 f. 51 Zum IPN vgl. etwa Lau, Carola: Erinnerungsverwaltung, Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur nach 1989. Institute für nationales Gedenken im östlichen Europa im Vergleich (Kultur- und Sozialgeschichte Osteuropas/Cultural and Social History of Eastern Europe 6), Göttingen 2017, S. 145–281; Leschnik, Hubert: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in Polen von 1998 bis 2010 (Studien zur Ostmitteleuropaforschung 42), Marburg 2018, S. 430–435.

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den waren.52 Gegen eine solchermaßen institutionalisierte Kommunistenhetze, welche die Unschuldsvermutung außer Kraft setzte, wehrten sich nun aber nicht nur prominente Veteranen des Widerstands wie Bronisław Geremek oder Adam Michnik.53 Das Verfassungsgericht befand am 11. Mai 2007, dass wesentliche Punkte des erneuerten Lustrationsgesetzes gegen die Verfassung verstießen; grundsätzlich dürfe die Lustration nicht zu Zwecken der Rache missbraucht werden.54 In der breiten Bevölkerung stieg zwar die Mehrheit jener noch an, die keine ehemaligen Informanten der Geheimdienste in öffentlichen Funktionen sehen wollten. Außerhalb des nationalkonservativen Lagers erkannten aber viele in der radikalisierten Form der Lustration auch ein taktisches Spiel der Politik.55 Kurz darauf brach die von der PiS angeführte Regierungskoalition auseinander. Für die neue PO-Regierung unter Donald Tusk hatte die Lustration keine Priorität mehr. Die begrenzte Tauglichkeit der »Durchleuchtung« als Instrument der Wahrheitsfindung und der Abrechnung wurde dann noch einmal augenfällig, als 2012 der ehemalige hohe Geheimdienstfunktionär Gromosław Czempiński zugab, während des Kommunismus falsche Polizeiberichte (fałszywki) produziert zu haben, mit deren Hilfe die Glaubwürdigkeit prominenter Oppositioneller beschädigt werden sollte. Der frühere Innenminister Kiszczak bestätigte 2014 die Existenz solcher Fälschungen und ließ gleichzeitig durchblicken, dass die meisten Akten zu den wirklichen Informanten ohnehin längst vernichtet worden seien.56 Solche Hinweise unterminierten das Vertrauen in die Wahrheit der Archive und trugen dazu bei, dass namentlich auch die wiederholten Meldungen über geheimdienstliche Verstrickungen Lech Wałęsas in den 1970er Jahren keine entschiedene Reaktion der Öffentlichkeit zu provozieren vermochten.57 52 Vgl. zum erneuerten Gesetz Grajewski: Lustration in Polen, S. 3 f.; Tighe: Lustration – the Polish Experience, S. 349–351. 53 Für eine intellektuelle Abrechnung mit dem Ansatz der Lustration vgl. Michnik, Adam: In Search of Lost Meaning. The New Eastern Europe, Berkeley 2011. Ferner Tighe: Lustration – the Polish Experience, S. 351, 357. 54 Vgl. Urteilsbegründung des Verfassungsgerichts vom 11. Mai 2007 bezüglich der Ablehnung von Teilen des neuen Lustrationsgesetzes, in: Polen-Analysen 17 (2007), S. 5–7, http://www. laender-analysen.de/polen/pdf/PolenAnalysen17.pdf [27.07.2019]. 55 Vgl. Die Einstellung der polnischen Bevölkerung zum Lustrationsgesetz, in: Polen-Analysen 17 (2007), S. 8–10, http://www.laender-analysen.de/polen/pdf/PolenAnalysen17.pdf [27.07.2019]. 56 Tighe: Lustration – the Polish Experience, S. 360 f. 57 Zu den Untersuchungen des IPN in Sachen Lech Wałęsa, der in den 1970er Jahren unter dem Decknamen »Bolek« als Informant tätig gewesen sei, vgl. etwa die auf der Webseite https://ipn. gov.pl abrufbaren Dokumente. Für einen kritischen Kommentar zum Versuch, das »Denkmal«

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Insgesamt scheiterte also der Versuch, auf dem Weg der Lustration befriedigend mit dem alten System abzurechnen. Was erreicht wurde, waren einzelne spektakuläre Entlarvungen, emotionale öffentliche Debatten und ein Aufblühen von Ausgrenzungsdiskursen, in deren Kontext sich der antikommunistische Impetus der Lustration immer wieder mit nationalistischer oder auch antisemitischer Diskriminierung verband.58 Dass in den vergangenen Jahren die Zahl derjenigen angestiegen ist, die im Zusammenhang mit dem Runden Tisch an eine Verschwörung der Eliten glauben,59 dürfte auch mit der energischen Geschichtspolitik der aktuellen Regierung zusammenhängen.60 Seit Herbst 2015 regiert die PiS mit einer absoluten Mehrheit; sie stellt überdies den Staatspräsidenten und bekennt ganz offen, ihre geballte Macht auch zur aktiven Gestaltung der Geschichte nutzen zu wollen. Denn die Beschäftigung mit der Vergangenheit, so die Überzeugung der PiS, soll das »patriotische Fundament« der Nation stärken und dem Land eine positive Orientierung für die Zukunft geben. In diesem Sinne bemisst sich die Gültigkeit historischer Erkenntnis weniger nach wissenschaftlichen Kriterien als nach ihrer Verwertbarkeit für bestimmte politische Ziele. Im Falle des Runden Tisches propagiert die PiS das Bild eines verräterischen Kuhhandels, den die kommunistischen Machthaber geschickt dazu nutzten, ihre Netzwerke und ihren Einfluss über den Systemwechsel hinaus zu bewahren. Aus diesem Verdikt und aus dem daraus resultierenden angeblichen Notstand leitet die Partei für sich selber die historische Mission ab, Polen nun endlich von alten kommunistischen Seilschaften zu befreien, moralisch zu erneuern und zu sich selbst zurückzuführen.61 Die Forschung hat sich schon verschiedentlich mit der Geschichtspolitik der PiS beschäftigt.62 Sie hat analysiert, wie die Partei zur Popularisierung

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Wałęsa zu stürzen, vgl. Krzemiński, Ireneusz: Der Kampf mit Wałęsa – der Kampf mit der Demokratie, in: Polen-Analysen 198 (2017), S. 2–6, http://www.laender-analysen.de/polen/ pdf/PolenAnalysen198.pdf [30.07.2019]. Zum Antisemitismus in der politischen Debatte nach 1989 vgl. Tighe: Lustration – the Polish experience, z. B. S. 343, 348 f. Von 31 Prozent (2010) auf 38 Prozent (2019). CBOS: Trzydziesta rocznica obrad Okrągłego Stołu, S. 11. Zum Begriff Geschichtspolitik vgl. Troebst: Geschichtspolitik, besonders S. 19–21. Zur Orientierung der PiS an Józef Piłsudskis Politik einer moralischen »Gesundung« (sana­ cja) in der Zwischenkriegszeit vgl. Loew, Peter Oliver: Zwillinge zwischen Endecja und Sanacja. Die neue polnische Rechtsregierung und ihre historischen Wurzeln, in: Osteuropa 55 (2005) 11, S. 9–20, hier S. 17 f. Vgl. etwa Stoll, Katrin/Stach, Sabine/Saryusz-Wolska, Magdalena: Verordnete Geschichte? Zur Dominanz nationalistischer Narrative in Polen. Eine Einführung, in: Zeitgeschichte-online, Juli 2016, www.zeitgeschichte-online.de/thema/verordnete-geschichte-­zur-

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ihres Geschichtsbildes Einfluss auf die Konzepte von Museen und Bildungsprogrammen nimmt, wie sie gezielt erinnerungskulturelle Infrastrukturen aufbaut und (so namentlich im Falle des IPN) an sich bindet. Sie hat gezeigt, wie die aktuelle Regierung und ihr Präsident passende Heldenfiguren mit pompösen Feierlichkeiten ehren und auf Social-Media-Kanälen bekanntmachen, wie sie mutmaßliche Verräter anklagen – und wie sie dort, wo sie den »guten Namen« Polens bedroht sehen, auch vor der strafrechtlichen Verfolgung abweichender historischer Interpretationen nicht zurückschrecken.63 Gleichzeitig wurde aber auch darauf hingewiesen, dass weder die politische Indienstnahme der Geschichte noch der selektive Blick auf die Vergangenheit neue Phänomene sind.64 Vielmehr scheinen sich in der Geschichtspolitik der PiS zwei Traditionen polnischer Erinnerungskultur miteinander zu verbinden: die verklärende romantische Sichtweise, welche die christlichen Werte sowie die Auserwähltheit und die historische Opferrolle der polnischen Nation betont; und der autoritäre geschichtspolitische Duktus der ehemaligen kommunistischen Machthaber, die für sich selbst die alleinige Deutungshoheit über die Geschichte beanspruchten.65 Der Dialog mit einer um Differenzierung bemühten historischen Wissenschaft gestaltet sich unter diesen Bedingungen schwierig.

Neue Gelassenheit? Zum Schluss ein letzter Befund der Umfrage vom Januar 2019, der die teilweise hitzigen geschichtspolitischen Debatten rund um den Kompromiss von 1989 wieder etwas relativiert: Nach dreißig Jahren haben immer weniger Polinnen dominanz-nationalistischer-narrative-polen [29.07.2019]; Vetter, Reinhold: Die PiS und das Erbe der Volksrepublik, in: Polen-Analysen 214 (2018), S. 2–7, hier S. 5 f., http://www.laender-analysen.de/polen/pdf/PolenAnalysen214.pdf [30.07.2019]. Allgemeiner zum Verhältnis von Politik und Geschichte im Kontext der polnischen »Wende« vgl. auch Kraft, Claudia: Geschichte im langen Transformationsprozess in Polen, in: Helmut Altrichter (Hg.): GegenErinnerung. Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozess Ost-, Ostmittelund Südosteuropas, München 2006, S. 129–150. 63 So namentlich im Zusammenhang mit der Diskussion um eine allfällige Beteiligung von Polinnen und Polen am Holocaust, wie sie der polnisch-amerikanische Historiker Jan Tomasz Gross beschrieben hat: Gross, Jan Tomasz: Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne. Mit einem Vorwort von Adam Michnik. Aus dem Englischen von Friedrich Griese, München 2001. 64 Vgl. Stoll/Stach/Saryusz-Wolska: Verordnete Geschichte. 65 Zu den Parallelen zwischen der PiS und der ehemaligen PZPR im Bereich der Geschichtspolitik (und in anderen Bereichen) vgl. Vetter: Die PiS und das Erbe der Volksrepublik, S. 5 f. Zum »romantischen Paradigma« vgl. etwa Loew: Helden oder Opfer, S. 95.

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und Polen eine pointierte Meinung zum Runden Tisch. Besonders bei der jüngeren Generation stehen viele den damaligen Ereignissen schon heute gleichgültig gegenüber oder finden es schwierig, sich klar dazu zu äußern.66 Dazu passt ein anderes Resultat der Umfrage: dass sich nämlich vor allem jene Leute eindeutig positiv oder negativ zum Runden Tisch äußern, die ihr Urteil auf eigene Erinnerungen abstützen.67 Viele, die damals Teenager oder Erwachsene waren, assoziieren den Umbruch von 1989 zweifellos mit neuen Freiheiten und Lebensperspektiven; die älteren, die sich bereits eine Existenz in der Volksrepublik aufgebaut hatten, erlebten die »Wende« wohl auch als eine Zeit des Verlustes oder der Verunsicherung. Gleichgültigkeit dagegen macht sich heute vor allem bei jungen Leuten ohne persönliche Erinnerung an die damaligen Ereignisse breit. Das CBOS prognostiziert denn auch, dass die neutrale Haltung in dem Masse weiter zunehmen wird, wie sich der Runde Tisch aus der Sphäre der Politik herauslöst und ins Reich der Geschichte übergeht.68 Hier, im weiten Horizont der polnischen Vergangenheit, lassen sich die Gespräche von 1989 dann freilich noch einmal neu verorten. Sie können beispielsweise im Licht jener politischen Kultur des Aushandelns und Mitredens gesehen werden, die schon in der frühneuzeitlichen monarchia mixta das Verhältnis zwischen dem polnischen Adel und seinem König geprägt hatte und die auch in den folgenden Jahrhunderten immer wieder die Ausgestaltung herrschaftlicher Beziehungen beeinflusste.69 Sie können als Ausdruck einer spezifisch polnischen Widerstandstradition interpretiert werden, die ebenfalls in die Zeiten der Adelsrepublik zurückreicht und in den großen Aufständen des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erfuhr. Oder sie können als zeitgeschichtliches Beispiel für den integrativen Einfluss der Kirche und der nationalen Mobilisierung seit der Teilungszeit dienen. Bei all dem zeichnet sich ab, dass der Runde Tisch – auch losgelöst von den konkreten Ereignissen des Jahres 1989 – 66 CBOS: Trzydziesta rocznica obrad Okrągłego Stołu, S. 5 f. 67 Ebd., S. 5. Ein hoher Anteil eindeutig positiver und vor allem negativer Meinungen wurde auch bei den wenigen Respondenten beobachtet, die angaben, sich primär aus historischen Abhandlungen über den Runden Tisch informiert zu haben. 68 »Może to sugerować, że w przyszłości poziom obojętności wobec tych wydarzeń będzie coraz wyższy, wraz z ich przechodzeniem ze sfery polityki do obszaru historii.« Ebd., S. 6. 69 Zur partizipativen Grunddisposition der monarchia mixta vgl. etwa Augustyniak, Urszula: Wazowie i »królowie rodacy«. Studium władzy królewskiej w Rzeczypospolitej XVII wieku, Warszawa 1999, S. 32. Zur »ausgehandelten« Transition Polens vom kommunistischen System zur Demokratie vgl. Szczerbiak, Aleks: Dealing with the Communist Past, S. 555. Zum Runden Tisch als einer für Polen typischen Verhandlungslösung und einem »Kunstwerk der Halbheiten« vgl. Krzemiński: Polen im 20. Jahrhundert, S. 174.

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als Symbol der Verständigung und als historisch erprobtes Konfliktlösungsmodell im politischen Diskurs der polnischen Gesellschaft präsent bleibt.70

70 Zum »Runden Tisch« im Bildungsbereich, den die Regierung im Frühjahr 2019 einberief, vgl. https://www.gov.pl/web/edukacja/okragly-stol-edukacyjny [31.07.2019].

»Krik protiv zla« Titos Geschichtspolitik und der Zerfall Jugoslawiens, oder Wie eine Künstlergruppe Jugoslawien retten wollte Nataša Mišković Erinnerung ist schlimmer als jedes Vergessen. Filip David, Kuća sećanja i zaborava (2014)

Am 4. Mai 1980 starb Tito. In ganz Jugoslawien weinten die Menschen. Während das Land in der Welt höchstes Ansehen genoss und der begehrte Pass die visafreie Einreise in eine rekordhohe Anzahl von Staaten beidseits des Eisernen Vorhangs erlaubte, waren die Bürgerinnen und Bürger besorgt: Was passiert nach dem Tod des Landesvaters? Würde Jugoslawien zusammenhalten? Würde die Verfassung von 1974, die die sechs Republiken und zwei autonomen Provinzen der Föderation zu staatsähnlichen, wirtschaftlich autonomen Strukturen mit Austrittsrecht ausbaute, den Ausgleich zwischen den wohlhabenden nördlichen und den ökonomisch schwachen südlichen Landesteilen dauerhaft absichern? Oder verstärkte sie im Gegenteil die bestehenden Zentrifugalkräfte? War gar zu befürchten, dass die Geister des Zweiten Weltkrieges zurückkehren und das Land zerreißen würden? Zehn Jahre später kam die »Wende«. Während die Staaten des ehemaligen Ostblocks eine mehr oder weniger friedliche Transformationsphase durchliefen, schlitterte Jugoslawien in einen erbitterten Zerfallskrieg, der im Sommer 1991 mit dem Zehntagekrieg in Slowenien begann, sich im Kroatien, Bosnien- und Kosovokrieg fortsetzte und mit der Nato-Bombardierung Serbiens 1999 endete.1 Die Geister des Zweiten Weltkrieges waren zurück. Für jede/n wahrnehmbar 1



Zehntagekrieg in Slowenien: 26. Juni bis 7. Juli 1991; Kroatienkrieg: März 1991 bis Dezember 1995; Bosnienkrieg: April 1992 bis Dezember 1995; Kosovokrieg: November 1997 bis Juni 1999; Nato-Bombardierung: 24. März bis 10. Juni 1999. Zur Geschichte Jugoslawiens siehe Calic, Marie-Janine: Geschichte Jugoslawiens, München 2018 (München 2010); Sundhaussen, Holm: Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943–2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen, Wien/Köln/Weimar 22014; Ramet, Sabrina P.: The Three Yugoslavias. State-Building and Legitimation, 1918–2005, Washington/Bloomington 2006 (deutsche Übersetzung: Die drei Jugoslawien. Eine Geschichte der Staatsbildungen und ihrer Probleme, München 2011). Zum Zerfall Jugoslawiens siehe Jović, Dejan: Yugoslavia. A State that Withered Away, West Lafayette 2009 (Übersetzung von: Jugoslavija. Država koja je odumrla, Beograd/Zagreb 2003); Ramet, Sabrina P.: Balkan Babel. The Desintegration of Yugoslavia from the Death of Tito to Ethnic War, Boulder 1996; Bieber, Florian: Nationalismus in Serbien vom Tode Titos bis

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offenbarten sie sich im Vokabular der Kriegspropaganda des Kroatien- und des Bosnienkrieges, namentlich in der Bezeichnung der kroatischen und serbischen Kriegsgegner als Ustaša und Četniks: Die Ustaša war die ultranationalistische kroatische Terrororganisation, die 1934 den jugoslawischen König ermordet und 1941 bis 1945 im Auftrag Hitlers Kroatien und Bosnien verwaltet hatte; Četniks nannte sich die Guerilla von General Draža Mihailović, die 1941 die jugoslawische Monarchie gegen die deutschen Besatzer verteidigen wollte, dabei jedoch von antikommunistischen und großserbischen Zielen geleitet wurde. Folgender Beitrag geht der Frage nach, wie die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges in Jugoslawien aufgearbeitet wurde und welche Rolle die staatliche Geschichtspolitik unter Josip Broz Tito dabei spielte. Das erste von drei Kapiteln diskutiert die Staatsdoktrin bratstvo – jedinstvo (Brüderlichkeit und Einheit) im Kontext der im Gefolge von Bürgerkriegen weitverbreiteten Strategie des »Vergessens und Verzeihens«. In den 1960er Jahren kam diese Politik europaweit in die Kritik. In Jugoslawien kulminierte sie in den Massenprotesten des Kroatischen Frühlings und der Belgrader Studentenbewegung. Die Niederschlagung dieser Protestbewegungen leitet zum zweiten Kapitel über: Ein prominenter linksoppositioneller Belgrader Künstlerzirkel um die Schriftsteller Filip David und Danilo Kiš ließ sein Unbehagen über separatistische Tendenzen und staatliche Repression in einen der erfolgreichsten Filme der jugoslawischen Kinematografie einfließen. Der durch seine sorgfältige historische Rekonstruktion herausstechende Spielfilm Okupacija u 26 slika (Okkupation in 26 Bildern, 1978) unter der Regie von Lordan Zafranović thematisierte die Gewalt des Zweiten Weltkriegs als Brudermord und stellte den Zerfall einer bürgerlichen Gesellschaft unter dem Terror faschistischer Eindringlinge und ihrer lokalen Mitläufer mit schonungsloser Präzision dar. Der Kassenschlager provozierte zugleich eine Polemik über den historischen Wahrheitsgehalt seiner filmischen Darstellung. Das dritte Kapitel folgt der Auseinandersetzung dieses Regisseurs mit der Gewalt des Zweiten Weltkrieges. 1986 nahm er den spektakulären Kriegsverbrecherprozess gegen den ehemaligen Innenminister des Ustaša-Staates Andrija Artuković als Anlass für eine dokumentarische Auseinandersetzung mit diesem Marionettenstaat. Als 1990 Franjo Tuđman an die Macht kam, geriet die Produktion ins Stocken.

zum Ende der Ära Milošević, Wien 2005. Zu den Jugoslawienkriegen siehe Melčić, Dunja (Hg.): Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zur Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen, Wiesbaden 22007.

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»Brüderlichkeit und Einheit«: Vergessen und Verzeihen in Titos Jugoslawien Das sozialistische Jugoslawien, offiziell die Sozialistische Föderative Repu­blik Jugoslawien SFRJ (Socijalistička Federativna Republika Jugoslavija), ruhte auf drei Säulen: erstens auf Josip Broz Tito (1892–1980) und dessen Prestige und Charisma, zweitens auf der absoluten Macht der Kommunistischen Partei (KPJ, ab 1953 Bund der Kommunisten Jugoslawiens, Savez komunista Jugoslavije, SKJ) und drittens auf der Jugoslawischen Volksarmee (Jugoslovenska narodna armija, JNA). Im Gegensatz zum zentralistisch regierten Königreich der Zwischenkriegszeit (1918–1941) bestand der sozialistische Staat aus einer Föderation gleichberechtigter Teilrepubliken, jede mit einer eigenen Regierung und einer dahinter geschalteten Parteistruktur.2 Tito stabilisierte den Staat kraft seiner persönlichen Autorität als Parteivorsitzender auf Lebenszeit. Während die Umbenennung der KPJ in Bund der Kommunisten Jugoslawiens die relative Autonomie der Parteiorganisationen der Teilrepubliken und nicht etwa individuelle Freiheiten betonte, garantierte Tito als unwidersprochener predsednik Predsedništva (Vorsitzender des Präsidiums) der selbstredend hierarchisch organisierten Struktur die Solidarität unter den Brudernationen respektive Teilrepubliken. Auch die JNA kommandierte Tito als Oberbefehlshaber auf Lebenszeit. Diese führte ihre Entstehung auf die Partisanenarmee des Zweiten Weltkriegs zurück und erhielt beträchtliche Mittel, um die Integrität der jugoslawischen Föderation militärisch abzusichern. Die von Josip Broz Tito angeführte Partisanenbewegung, die 1944/45 nach einem vierjährigen Blutbad den Krieg in Jugoslawien für sich entschied, war der Ausgangspunkt der jugoslawischen Nationsbildung sozialistischer Prägung. Unter der Kampfparole smrt fašizmu, sloboda narodu! (Tod dem Faschismus, Freiheit dem Volk!) leistete sie nach der Zerschlagung des Königreichs als einzige Kriegspartei den Widerstand gegen die fremden Besatzungsmächte und einheimischen Terrorregimes mit einer gesamtjugoslawischen Perspektive. Die königliche jugoslawische Armee war nach ihrer Niederlage gegen die Deutschen im April 1941 zerfallen. Ein Teil verweigerte unter Führung von General Draža Mihailović die Kapitulation und baute in der zentralserbischen Ravna Gora eine Četnik-Guerilla auf, die die fremden Besatzer in der Tradition anti2 Zu den sechs Teilrepubliken Slowenien, Kroatien, Serbien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro und Makedonien kamen zwei autonome Gebiete innerhalb der Republik Serbien: Kosovo und die Vojvodina.

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osmanischer Freischärler bekriegte. In Belgrad übernahm der ehemalige Verteidigungsminister der Cvetković-Maček-Regierung (und Mihailovićs früherer Vorgesetzter), General Milan Nedić, im Auftrag der deutschen Besatzungsmacht die Kommissariatsregierung Serbiens. In einem waren sich Nedić und Mihailović trotz ihrer Differenzen einig: in ihrer dezidiert antikommunistischen und großserbischen Einstellung.3 Die Verwaltung Kroatiens, Bosniens und der Herzegowina übertrug Hitler dem kroatischen Ultranationalisten und Ustaša-Gründer Ante Pavelić, der auf dem in eine deutsche und eine italienische Besatzungszone geteilten Territorium den Unabhängigen Staat Kroatien (Nezavisna država Hrvatska, NDH) gründete.4 Die Ustaša strebte einen ethnisch reinen kroatischen Nationalstaat an und ließ einen Sturm entfesselter Gewalt auf die serbische Bevölkerung los, die am Anfang des Krieges ein Drittel der Bevölkerung des NDH-Territoriums ausmachte. Rund 300.000 der damals 2 Millionen Orthodoxen in Kroatien und Bosnien (15 Prozent) verloren im NDH ihr Leben, ferner 80 Prozent der JüdInnen (rund 31.000 Personen), fast die gesamte Roma-Bevölkerung sowie Tausende KroatInnen, die sich dem Ustaša-Regime verweigert hatten.5 Symbol für diesen blutigen Terror ist das Konzentrationslager Jasenovac, welches zwischen 3 Zur deutschen Besatzung Serbiens 1941–1944 vgl. Sundhaussen, Holm: Geschichte Serbiens, 19.–21. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2007, speziell S. 313–315, S. 320 f.; Prusin, Alexan­ der: Serbia under the Swastika. A World War II Occupation, Urbana/Chicago 2017, hier speziell S. 42–45. 4 Pavelić lebte seit Ausrufung der Königsdiktatur in Jugoslawien im Januar 1928 im Exil, wo er mit Hilfe Italiens und Ungarns die Ustaša gründete, mit dem Ziel, das Königreich Jugoslawien zu zerstören. Er und der spätere NDH-Sicherheitschef Eugen Dido Kvaternik waren als Hauptverantwortliche für das Attentat von Marseille im Oktober 1934, dem König Aleksandar Karađorđević und der französische Außenminister Louis Barthou zum Opfer fielen, in absentia zum Tod verurteilt worden. Adriano, Pino/Cingolani, Giorgio: Nationalism and Terror. Ante Pavelić and Ustasha Terrorism from Fascism to the Cold War, Budapest/ New York 2018; Miljan, Goran: Croatia and the Rise of Fascism. The Youth Movement and the Ustasha during WWII, London 2018. 5 Der NDH umfasste eine Fläche von 98.572 km2 und rund 6.300.000 EinwohnerInnen. Genaue Schätzungen der Toten lassen sich nur annähernd ermitteln, bis heute sind in Serbien und Kroatien staatliche Institutionen damit beschäftigt, deren Identität zu ermitteln. Nach Igor Graovac’ Analyse der Menschenverluste starben von den rund 2 Millionen SerbInnen im NDH rund 295.000, während Vladimir Žerjavić auf 312.000 tote SerbInnen im NDH kommt. Graovac, Igor: Der Zweite Weltkrieg. Menschenverluste durch Kriegseinwirkung, in: Melčić (Hg.): Der Jugoslawien-Krieg, S. 185–191, hier S. 188; Korb, Alexander: Im Schatten des Weltkriegs. Massengewalt der Ustaša gegen Serben, Juden und Roma in Kroatien, 1941–1945, Hamburg 2013, S. 12, Fußnote 7. Slavko und Ivo Goldstein schätzen die Zahl der ermordeten JüdInnen im NDH auf 31.000 Personen, bei einer Vorkriegspopulation von 39.000. Goldstein, Slavko: Der Zweite Weltkrieg. Verlauf und Akteure, in: Melčić (Hg.): Der Jugoslawien-Krieg,

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120.000 und 130.000 Gefangene jeglichen Alters und Geschlechts durchliefen, von denen um die 90.000 ums Leben kamen.6 Die deutschen Besatzer beharrten auf der Verfolgung der JüdInnen und ließen die Ustaša ansonsten gewähren. Viele der Verfolgten schlossen sich Titos Partisanen an. Die Bilanz des Zweiten Weltkriegs für Jugoslawien weist eine Million Kriegstote aus, ferner 669.000 Geflüchtete oder Vertriebene, mehrheitlich Volksdeutsche und ItalienerInnen.7 Die jugoslawische Erinnerungspolitik der Nachkriegszeit ehrte die Toten des Faschismus und legte einen Mantel des Schweigens über die offenen Wunden, die der erbarmungslose Besatzungs-, Vernichtungs- und Bürgerkrieg in fast jeder Familie hinterlassen hatte. Die Politik des Schweigens knüpfte grundsätzlich an ein Rezept an, das bei Kriegsende Common Sense war: Das forget and forgive läutete den Anfang einer neuen Zeit ein und bereitete den Boden für den Wiederaufbau, wie Winston Churchill 1946 öffentlich verkündete: Wir alle müssen den Gräueln der Vergangenheit den Rücken zuwenden. Wir müssen in die Zukunft schauen. Wir können es uns nicht leisten, in die kommenden Jahre den Hass und die Rache hineinzuziehen, die aus den Wunden der Vergangenheit entstanden sind. Wenn Europa von endlosem Unheil und endgültigem Untergang gerettet werden soll, müssen wir es auf einen Akt des Glaubens an die europäische Familie und einen Akt des Vergessens aller Verbrechen und Irrtümer der Vergangenheit gründen.8

S. 170–185, hier S. 171, 174. Zur Massengewalt der Ustaša siehe Goldstein, Slavko: 1941. Das Jahr, das nicht vergeht, Frankfurt a. M. 2018; Korb: Im Schatten des Weltkriegs; Goldstein, Ivo: Jasenovac, Zagreb 2018. 6 Bis 2018 bestätigte die Gedenkstätte Jasenovac 83.811 Namen von Todesopfern in diesem KZ, davon 48.217 serbischer, 16.164 Roma, 13.143 jüdischer, 4281 kroatischer, 1143 bosniakischer, 271 slowenischer, 119 tschechischer, 106 slowakischer sowie 367 unbestimmter Herkunft. Goldstein: Jasenovac, S. 26 f., S. 772–797, hier S. 797; Radonić, Ljiljana: Krieg um die Erinnerung. Kroatische Vergangenheitspolitik zwischen Revisionismus und europäischen Standards, Frankfurt/New York 2009; Mataušić, Nataša: The Jasenovac Concentration Camp, in: Tea Benčić Rimay (Hg.): Jasenovac Memorial Site, Jasenovac 2006, S. 46–54, hier S. 47. Über die serbisch-kroatische Polemik zu den Opferzahlen vgl. Goldstein: Jasenovac, S. 28– 40 sowie die kurz vor dessen Tod publizierte Streitschrift seines Vaters: Goldstein, Slavko: Jasenovac. Tragika, mitomanija, istina, Zagreb 2016. 7 Graovac: Menschenverluste, S. 186, 188. 8 Churchill, Randolph S. (Hg.): The Sinews of Peace. Post-War Speeches by Winston S. Churchill, London 1948, zitiert nach Assmann, Aleida: Zur Kritik, Karriere und Relevanz des Gedächtnisbegriffs. Die ethische Wende in der Erinnerungskultur, in: Ljiljana Radonić/ Heidemarie Uhl (Hg.): Gedächtnis im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2016, S. 29–42, hier S. 32.

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Aleida Assmann schreibt, dass »die befriedende Kraft des Vergessens […] tatsächlich mehrfach in der Geschichte den Gewaltzyklus nach Bürgerkriegen unterbrochen und das Ende gegenseitiger Beschuldigungen eingeleitet [hat]. Voraussetzung dafür war, dass man die Gewalt und das Unrecht, das andere einem zugefügt hatten, fortan nicht mehr zur Sprache bringen durfte.«9 Schon bald nach dem Ende des Krieges warnten kritische Stimmen, der Verzicht auf Aufarbeitung erlittener Gewalt könne diese nur verdrängen, nicht jedoch sublimieren und auflösen. Hannah Arendt, die die negativen Folgen dieser Politik aus dem New York der antikommunistischen McCarthy-Zeit verfolgte, schrieb 1951 in ihrer wegweisenden Schrift über den Totalitarismus: The conviction that everything that happens on earth must be comprehensible […] means, rather, examining and bearing consciously the burden which our century has placed on us – neither denying its existence nor submitting weakly to its weight. Comprehension, in short, means the unpremeditated, attentive facing up to, and resisting of, reality – whatever it may be. […] We can no longer afford to take that which was good in the past and simply call it our heritage, to discard the bad and simply think of it as a dead load which by itself time will bury in oblivion. The subterranean stream of Western history has finally come to the surface and usurped the dignity of our tradition. This is the reality in which we live. And this is why all efforts to escape from the grimness of the present into nostalgia for a still intact past, or into the anticipated oblivion of a better future, are vain.10 Der unterirdische Strom der Geschichte fließt freilich nicht nur im Westen, sondern gestaltet die Gegenwart auch im globalen Osten und Süden. Wie komplex und problematisch sich die Politik des Vergessens und Verzeihens längerfristig auswirken kann, hat Arendt selber in ihrem 1950 erstmals erschienenen Essay über die Nachwirkungen des Naziregimes in Deutschland beschrieben, wo diese Politik das Weiterbestehen nationalsozialistischer Netzwerke bis in die heutige Zeit begünstigt und in der »Weigerung zu trauern« zu gesellschaftlicher Versteinerung geführt hat.11 Glühender Antikommunismus begünstigte im globalen Kalten Krieg die perpetuierte Salonfähigkeit reaktionären, rassistischen  9 Assmann: Zur Kritik, S. 31. 10 Arendt, Hannah: The Origins of Totalitarianism, Cleveland/New York 1951, S. viii f. 11 Arendt, Hannah: Besuch in Deutschland. Die Nachwirkungen des Naziregimes, Berlin 1993. Zu den Folgen etwa für die deutsche Südosteuropaforschung siehe Beer, Mathias (Hg.): Im Schatten des Dritten Reiches. Institutionen, Inhalte, Personen, München 2004.

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Gedankenguts, in den USA ebenso wie in totalitären katholischen Staaten wie Argentinien und dem franquistischen Spanien.12 Titos Jugoslawien folgte also dem europäischen Trend: Wer sich auf Kriegsverliererseite der Partisanenarmee unterwarf und dem neuen Staat die Treue schwor, durfte nach einer prekären Übergangsphase mit Integration und beruflichem sowie gesellschaftlichem Neuanfang als Angehörige/r eines der jugoslawischen Brudervölker rechnen. Im Rahmen dieser »brüderlichen Einheit« wurde über das Vergangene geschwiegen und nur die Partei entschied über die Ausnahmen und deren Bedingungen. Wer sich weigerte, ko nije s nama (wer nicht mit uns ist), bezahlte mit Exil, Haft oder Leben. Die Ausgeschlossenen wurden dämonisiert als das Böse, das Andere, das mit den fremden Besatzern kollaboriert habe und das Land weiterhin bedrohe, in politischen Reden ebenso wie in Schulbüchern und im klassischen Partisanenfilm. Um die Einheit im Inneren zu festigen, wurde das Gefühl der Belagerung quasi im Frieden fortgesetzt und durch den Kalten Krieg noch perpetuiert. Der unerwartete Ausschluss des Landes aus der Komin­form 1948 setzte der streng stalinistischen unmittelbaren Nachkriegszeit ein abruptes Ende. Dem militärischen Ausnahmezustand an der Staatsgrenze entsprach die intensive Säuberung der KPJ von tatsächlichen und vermeintlichen Informbirovci, von denen Tausende auf der zu diesem Zweck eingerichteten Gefangeneninsel Goli otok landeten. Parallel zur Säuberungswelle durchlief die KPJ eine Zeit der Ernüchterung, Selbstkritik und Neuausrichtung. Amerikanische Kredite halfen in letzter Minute, den Staatsbankrott abzuwenden: Die von den Briten vermittelte Unterstützung für das kommunistische Land hatte auf dem Höhepunkt der antikommunistischen McCarthy-Ära zum Ziel, weitere Ostblockstaaten auf die westliche Seite zu locken.13 Die jugoslawische Parteiführung suchte derweil nach einem Weg, eine sozialistische Agenda unabhängig vom Moskauer und Washingtoner Dominanzanspruch zu entwickeln. 1950 beschloss sie die Einführung der Arbeiterselbstverwaltung, nach Stalins Tod 1953 und dem Scheitern des Balkanpakts leitete sie außenpolitisch zur Blockfreienpolitik über.14 Diese 12 Vgl. die Diskussion im dritten Teil dieses Beitrags über die Auslieferung von Kriegsverbrechern aus den USA. 13 Heuser, Beatrice: Western »Containment« Policies in the Cold War. The Yugoslav Case, 1948–1953, London/New York 1989; Perović, Jeronim: The Tito-Stalin Split. A Reassessment in Light of New Evidence, in: Journal of Cold War Studies 9 (2007) 2, S. 32–63. 14 Mišković, Nataša: The Pre-History of the Non-Aligned Movement. India’s First Contacts with the Communist Yugoslavia 1948–1950, in: India Quarterly 65 (2009) 2, S. 185–200; Rajak, Svetozar: Yugoslavia and the Soviet Union in the Early Cold War. Reconciliation, Comradeship, Confrontation, 1953–1957, Abingdon 2011; Dinkel, Jürgen: Die Bewegung bündnisfreier Staaten. Genese, Organisation und Politik (1927–1992), Berlin 2015.

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Reformen brachten Jugoslawien Öffnung, weltweites Ansehen, steigenden Wohlstand und Freiheiten, von denen die Ostblockstaaten nur träumen konnten. Die bewährte Doktrin des bratstvo – jedinstvo wurde weiterhin beibehalten. Im Partisanenkrieg hatte diese Parole die Disziplin befördert, in der unmittelbaren Nachkriegszeit diente sie dazu, unter den KriegsverlierInnen die Auszuschließenden auszusortieren. Nun sollte sie nebst Einheit der Föderation die Solidarität unter den BürgerInnen sicherstellen, und zwar sowohl gegen eine feindliche Unterwanderung von außen wie auch gegen separatistischen Chauvinismus von innen.15 Die Parole steht somit zugleich für die Autorität der Parteilinie, die sich explizit gegen eine historische Aufarbeitung der Vergangenheit wendet. Im Mai 1962 kritisierte Tito in einer legendären, ungewöhnlich scharfen Ansprache in Split unerwünschte Entwicklungen im Gefolge der Reformpolitik, indem er nachhaltig an Brüderlichkeit und Einheit appellierte und die Entwicklung einer eigenen, sozialistisch-jugoslawischen Geschichtsschreibung forderte: Wir haben ein Meer an Blut vergossen für die Brüderlichkeit und Einheit unserer Völker und werden niemandem erlauben, diese anzugreifen oder sie von innen her zu vernichten. Jene politischen Schwächen und Unrechtmäßigkeiten sind ein Ergebnis der kulturellen Entwicklung in unserem Land. In einigen unserer Republiken erlauben sich bürgerliche Schriftsteller Dinge, dass es nicht zu glauben ist in einem sozialistischen Land! Diese Leute kehren zurück in ihre Geschichte, beginnen darin zu stochern und vergessen die zukünftige Entwicklung unserer sozialistischen Gemeinschaft als Ganzes. Keine einzige unserer Republiken wäre etwas wert, wenn wir nicht zusammen wären! Wir müssen unsere eigene Geschichte erschaffen, unsere jugoslawische sozialistische Geschichte, geeint auch in Zukunft, ohne das nationale Recht einzelner Republiken, ihre Traditionen zu pflegen, zu belangen, und zwar nicht zum Schaden, sondern zwecks gegenseitiger Ergänzung im Interesse der gesamten Gemeinschaft. Das ist unser Weg, 15 Über die Herleitung der Parole siehe Roksandić, Drago: »Bratstvo i jedinstvo« u političkom govoru jugoslovenskih komunista 1919–1945. godine, in: Momčilo Mitrović/Miladin Milošević (Hg.): Tito – viđenja i tumačenja, Beograd 2011, S. 28–42. Jan Dutoit und Boris Previšić arbeiten in ihrem Beitrag über das Verständnis von Brüderlichkeit in Jugoslawien den Klassencharakter des Volksbegriffes und die internationale Komponente der sozialistischen Solidarität heraus. Dutoit, Jan/Previšić, Boris: Zwischen Stammesdenken und internationaler Solidarität. Bratstvo im Ersten und Zweiten Jugoslawien, in: Tanja Zimmermann (Hg.): Brüderlichkeit und Bruderzwist. Mediale Inszenierungen des Aufbaus und des Niedergangs politischer Gemeinschaften in Ost- und Südosteuropa, Göttingen 2014, S. 73–97.

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das wollen wir, nicht die Zerschlagung unserer Einheit wegen irgendwelcher Dinge da. Das sind verschiedene bürgerliche Elemente, die mit dem sozialistischen Weg unserer Entwicklung nicht einverstanden sind, die noch immer der Meinung sind, wir müssten uns zurück auf den alten Weg begeben. Und sie haben auch Einfluss auf einige Kommunisten. Wir haben zugelassen, dass auch in unserer Presse alles Mögliche geschrieben wird. Schaut euch einige Magazine und diverse Artikel an und ihr werdet sehen, wie destruktiv diese wirken. Die vergiften sogar unsere Jugend. Es wird einem schlecht, wenn man sieht, wie dieser Chauvinismus angefangen hat, sich unter unseren Jungen festzusetzen. Ich glaube nicht, dass das aus dem Himmel kommt, sondern von unseren Älteren. Wir müssen unsere wichtigste Errungenschaft bewahren, die Brüderlichkeit und Einheit unserer Völker, weil sie uns den Aufbau unserer Zukunft erlaubt, eine starke sozialistische Gemeinschaft und ein glücklicheres Leben unseres Volkes. Auch heute, 15 Jahre und mehr nach dem Krieg, müssen wir noch immer über Brüderlichkeit und Einheit sprechen, wo sie doch längst in Fleisch und Blut jedes jugoslawischen Bürgers übergegangen sein sollte […].16 In der Vergangenheit sollte nicht gewühlt werden, die Jugend nicht mit alten Geschichten verdorben werden. Die Parole der Brüderlichkeit und Einheit wurde gebetsmühlenartig repetiert und denunzierte jede vom Parteinarrativ abweichende Erinnerung an die Zeit vor dem Kriegsende – der Stunde null des sozialistischen Jugoslawiens – als Chauvinismus. Tito stellte die Generation der Alten in Generalverdacht, die junge zu infizieren. Doch die Spannung zwischen staatlich kultivierter und privater Erinnerung, offiziellem Anspruch der Partei und Erfahrung der Bevölkerung war zu groß, der europaweit in Gang kommende Prozess ließ sich nicht aufhalten: Die Generation der unmittelbar vor, während und nach dem Krieg Geborenen prägte die 1960er Jahre durch ihren kulturellen und politischen Aufbruch an der Universität, in Literatur, Film und Theater: Der jugoslawische Sozialismus bedürfe dringender Reformen, zu viel sei unter den Teppich gekehrt worden, zu sehr spottete das Gebaren einer korrupten »roten Bourgeoisie« den Idealen der asketischen PartisanInnenbe-

16 Tito, Josip Broz: Govor na mitingu u Splitu, maj 1962. Zitiert nach: Petranović, Branko/ Momčilo Zečević: Jugoslavija 1918/1984. Zbirka dokumenata, Beograd 1985, S. 919–922, hier S. 921 f. [Übersetzung und Hervorhebungen NM]. Siehe auch die Tonaufnahme unter https://www.youtube.com/watch?v=VYPoIdgW4Y8 [11.08.2019].

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Abb. 1: Tito spricht am 6. Mai 1962 im Hafen von Split vor einer riesigen Menge, die sich vom Platz der Republik am Ende der Riva bis (auf dieser Fotografie nicht ersichtlich) zum Bahnhof ­erstreckte. Muzej Jugoslavije, Titov fond: 1962_193_033.

wegung.17 Im Jahrzehnt zwischen dem Inkrafttreten der dritten Verfassung von 1963 und der Verfassung von 1974 fanden heftige Auseinandersetzungen zwischen der zentralistischen, orthodoxen Mitte, dem freidenkenden linken sowie dem partikularnational gesinnten rechten Flügel der Partei statt, die sich in den Debatten der selbstverwalteten Arbeiterräte ebenso wie auf den Seiten der Feuilletons spiegelte. Die linke Opposition wollte die Legitimitätskrise 17 Vgl. Džaja, Srećko M.: Die politische Realität des Jugoslawismus (1918–1991). Mit besonderer Berücksichtigung Bosnien-Herzegowinas, München 2002, S. 132–158; Kanzleiter, Boris: Die »Rote Universität«. Studentenbewegung und Linksopposition in Belgrad 1964–1975, Hamburg 2011; ders./Stojaković, Krunoslav (Hg.): 1968 in Jugoslawien. Studentenbewegung und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975, Bonn 2008; Klasić, Hrvoje: Jugoslavija i svijet 1968, Zagreb 2012; Vučetić, Radina: Koka-kola socijalizam. Amerikanizacija jugoslovenske popularne kulture šezdesetih godina XX veka, Beograd 2012; dies.: Monopol na istinu. Partija, kultura i cenzura u Srbiji šezdesetih i sedamdesetih godina XX veka, Beograd 2016; DeCuir, Greg: Yugoslav Black Wave. Polemical Cinema in Socialist Yugoslavia, Amsterdam 2018.

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der Partei lösen, indem sie sie in klassischer kommunistischer Manier mittels schonungsloser Kritik von innen her zu reformieren versuchte. Der rechte Flügel dagegen schlug den Weg des Separatismus ein und nahm die Desintegration des gemeinsamen Staates bewusst in Kauf. Nach anfänglich öffentlich signalisiertem Interesse an den Forderungen der jungen Generation lud Tito Ende 1971 die kroatische Parteispitze zum Gespräch nach Karađorđevo ein, wo er den Wunsch nach Aufarbeitung der Vergangenheit mit dem Argument vom Tisch fegte, dass man »im Krieg nicht darauf [achtet], was jemand morgen sagen würde, sondern man kämpft und vernichtet wer wen kann«.18 Kurz darauf begann 1972 eine zweite große Säuberungswelle, in deren Gefolge die Parteiführungen sowohl Serbiens wie auch Kroatiens ausgewechselt wurden.19 An die Macht kamen nun technokratische Funktionäre, die weder zur aussterbenden Generation der aktiven Partisanen noch zum aussortierten liberalen Nachwuchskader gehörten. Tito, 82 Jahre alt und hochbetagt, entglitt zusehends die Kontrolle. Einen designierten Nachfolger gab es nicht. Die Verfassung von 1974 verstärkte unterdessen die föderalistische Tendenz. Sie definierte die Republiken als eigene Staaten mit garantierten Grenzen. Garantiert wurde auch die Autonomie der beiden serbischen Provinzen Vojvodina und Kosovo. Das Präsidium der Föderation, nach Titos Tod zur Landesregierung aufgewertet, unterhöhlte noch zu Lebzeiten des alten Präsidenten die eigene Autorität, indem es die Regelung zahlreicher Fragen per Mehrheitsbeschluss statt Konsens bewilligte.20 Die Probleme Jugoslawiens manifestierten sich ferner in der Wirtschaft und in einem nun sehr krampfhaft praktizierten Herrscherkult. Sorge über den Fortbestand des Landes machte sich breit.

18 Džaja: Die politische Realität des Jugoslawismus, S. 146–150, Zitat S. 147. 19 Gemäß späteren amtlichen Angaben wurden rund 32.000 Menschen schikaniert, entlassen oder anderweitig »bestraft« und rund 1156 Personen strafrechtlich verfolgt. Vgl. Meier, Viktor: Der Titostaat in der Krise. Jugoslawien nach 1966, in: Melčić (Hg.): Jugoslawien-Krieg, S. 201–210, hier S. 203. 20 Meier: Titostaat in der Krise, S. 204.

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»Krik protiv zla«: Wie ein Belgrader Literatenzirkel Jugoslawien retten wollte Auch nach 1974 war es jedoch möglich, den Verlauf der roten Linie, deren Überschreiten die Partei nicht erlaubte, zu verhandeln. Im Belgrader Schriftstellerklub trafen sich damals einige Intellektuelle, die der Avantgarde zuzurechnen waren, die die drohende Gefahr des Auseinanderfallens Jugoslawiens erahnten und nicht tatenlos zusehen wollten, wie ein nationalistischer Strudel die dunkle, schmerzvolle Vergangenheit an die Oberfläche spülte, ohne sie im Sinne Hanna Arendts öffentlich zu diskutieren. Teilweise jüdischer Abstammung, hatten sie den Zweiten Weltkrieg als Kinder überlebt, Schule und Studium als erste Nachkriegsgeneration des sozialistischen Jugoslawiens in einer von Armut und Aufbruch geprägten Zeit durchlaufen. Zu diesem Zirkel gehörten Danilo Kiš (1935–1989), der zwischen Belgrad und seiner Arbeit als Universitätslektor in Frankreich pendelte, Filip David (geboren 1940), der langjährige Chef des Ressorts Drama am Belgrader Fernsehen und spätere Gründer des oppositionellen Belgrader Kreises, ferner der montenegrinische Schriftsteller Mirko Kovač (1938–2013) sowie zwei Dalmatiner, der Filmkritiker Ranko Munitić (1943– 2009) und der Filmregisseur Lordan Zafranović (geboren 1944). Zafranović war 1971 im Gefolge der Säuberungen in Zagreb nach Belgrad gekommen, unter anderem weil er im Film Ave Maria eine rote Ziege ums Leben kommen ließ.21 Es ist kein Zufall, dass in seinem ersten Belgrader Werk Ubistvo u noćnom vozu (Mord im Nachtzug) der Zug von Zagreb nach Belgrad losfährt, während aus

21 Zafranović, Lordan: Ave Maria (moje prvo pijanstvo), FAS Zagreb 1971. Lordan Zafranović war in der Armut der Nachkriegszeit in Split aufgewachsen und gut zwanzigjährig als Regiegenie des Spliter Filmklubs nach Zagreb gekommen, wo er mit Hilfe des Filmverbandsvertreters Kruno Heidler seine ersten professionellen Filme für das eigens gegründete Filmautorenstudio (Filmski autorski studio FAS) drehte. Seine Studienzeit an der Prager Filmschule FAMU 1967– 1971 fiel in die Zeit des Prager Frühlings und der sowjetischen Invasion. Gemeinsam mit seinen jugoslawischen Studienkollegen, darunter Rajko Grlić und Srđan Karanović, träumte er von einem demokratisch reformierten Sozialismus und engagierte sich im studentischen Streik. Die FAMU lehrte die jugoslawischen Gaststudenten den Wert der Unterstützung von Kultur und Bildung für die Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft. Der Einmarsch der Warschauer Truppen verdeutlichte den Grad der Freiheit in Jugoslawien. Zurück in Zagreb, positionierte sich Zafranović im linken Parteiflügel, welcher das kommunistische System von innen her reformieren wollte und sowohl den kroatischen Separatismus wie auch die staatliche Repression der kroatischen Massenbewegung ablehnte. Vgl. den Dokumentarfilm von Grlić, Rajko: Mi iz Praga, RTV Zagreb 1968, https://www.youtube.com/watch?v=Wbd-­ hoDloYI [25.06.2019]. Siehe auch Džaja: Die politische Realität des Jugoslawismus, S. 142–147.

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der Gegenrichtung ein mit Panzern beladener Güterzug anrollt.22 Im liberaler gestimmten Belgrad begann er seine von David, Munitić und Kiš eng begleitete Zusammenarbeit mit Mirko Kovač, was ihm den Raum bot, sich über Titos Erinnerungsverbot hinwegzusetzen und die Grenzen auszuloten. Die Freunde suchten einen Stoff, der sich als krik protiv zla (Schrei gegen das Böse), als Warnung gegen die schleichende Wiederkehr des Nationalismus eignete. Sie wurden fündig in den 1966 publizierten Memoiren des Dubrovniker Rechtsanwalts und späteren Generals Mato Jakšić.23 Okupacija u 26 slika wurde zu einem der erfolgreichsten jugoslawischen Filme überhaupt und machte seinen Regisseur berühmt.24 Der Film erzählt die Geschichte der drei Freunde Niko, Miho und Toni, Dubrovniker Herrensöhne dalmatinischer, jüdischer und italienischer Abstammung, die in den Wirren der deutschen und italienischen Okkupation der Stadt im Frühjahr 1941 zu erbitterten Feinden wurden. Anhand von Jakšićs Memoiren und einer umfangreichen Sammlung historischer Dokumente und Fotografien aus dem Historischen Archiv Dubrovnik, dem Revolutionsmuseum und dem Museum Dubrovnik rekonstruiert der Film exemplarisch, wie die wohlgeordnete Bürgergesellschaft einer traumhaft schönen mediterranen Stadt unter dem Druck der faschistischen Besatzung innerhalb kürzester Zeit in ein brutales Bürgerkriegsinferno mutiert. Die als Fabel angelegte, dramaturgisch als sich verengende Spirale konstruierte Geschichte kulminiert im Massaker in einem Bus, dem Miho als einziger Überlebender entkommt.

22 Zafranović, Lordan: Ubistvo u noćnom vozu, RTV Beograd 1973, https://www.youtube. com/watch?v=D5e5O1I8kpo [23.06.2019]: Ab Minute 1:05 fährt in einer Szene am Zagreber Bahnhof ein mit Panzern beladener Güterzug vor den Augen der ZuschauerInnen vorüber, worauf die Kamera auf eine Ansammlung von Koffern auf dem Perron schwenkt. Die nächste Szene zeigt rennende Menschen. Laut Zafranović war der Wechsel der Republik ein übliches Verhaltensmuster von in Ungnade gefallenen Kunstschaffenden und Intellektuellen. Siehe dazu auch Vučetić: Monopol, S. 22. 23 Jakšić, Mato: Dubrovnik 1941, Beograd 1966. Den Ausdruck krik protiv zla brauchen sowohl Zafranović wie David als Motivation für diesen Film. Vgl. die Diskussion mit den beiden Künstlern anläßlich des 40-Jahr-Jubiläums des Filmes am 15.12.2018: https://www.youtube. com/watch?v=rpgEaR2Ykr8 [23.06.2019]. 24 Der Film erhielt 1978 die drei Hauptpreise am Festival des jugoslawischen Films in Pula, lief 1979 in der Sélection des Filmfestivals von Cannes und wurde im selben Jahr als bester ausländischer Film für den Oscar nominiert. In Jugoslawien war er mit über 6 Millionen Eintritten im ersten Jahr Publikumshit des Jahres, ebenso in der Tschechoslowakei. Gegen dringend benötigte Devisen wurde der Film in 30 weitere Länder verkauft. Vgl. Goulding, Daniel J.: Occupation in 26 Pictures – Okupacija u 26 slika, Trowbridge, Wiltshire 1998, S. 9.

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Abb. 2: Die deutsche Eroberung Dubrovniks 1941. Fotografie aus dem Film Okupacija u 26 slika (Privatarchiv Lordan Zafranović)25.

Der Film wäre um ein Haar der Zensur zum Opfer gefallen. Der Aufsichtsrat der (selbstverwalteten) Produktionsfirma Jadran kritisierte die unerträglich intensiv und realistisch inszenierte Gewaltszene im Bus und befürchtete Probleme wegen der Darstellung der unrühmlichen Kollaboration der Dubrov25 Die Szene reinszeniert Mato Jakšićs Beschreibung: »Die deutsche und italienische Armee stieß von allen Seiten her vor. Als Erste kamen einige deutsche Motorradfahrer, die [am 17. April 1941] kurz nach 1 Uhr mittags direkt vor dem Rathaus vorfuhren. Dort erwartete sie, ganz verzückt, der damalige Bürgermeister, Rechtsanwalt Dr. Josip Baljkas von der HSS [der Kroatischen Bauernpartei]. Es war eine motorisierte Vorhut der Besatzungsarmee. Als der sie anführende deutsche Offizier dem Bürgermeister mitteilte, seine Stadt sei von der deutschen Armee besetzt, worüber ein Protokoll anzufertigen sei, konnte er selbst mit seinem faschistischen Hirn kaum glauben, dass die freiwillige Übergabe einer eroberten Stadt deren gewählten Repräsentanten mit derart viel Freude erfüllen könne. Er reagierte nicht auf die untertänige Antwort dieses Armseligen, dies sei der glücklichste Tag in seinem Leben. Er übergab ihm die Hakenkreuzfahne und befahl, sie aufzuziehen, was sofort ausgeführt wurde. Das Glück dieses schändlichen Verräters war die dunkelste Stunde in der Geschichte der Stadt, deren unwürdiger Präsident er war.« Aus: Jakšić: Dubrovnik, S. 12 f. [Übersetzung NM].

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niker Stadtväter mit den deutschen und italienischen Besatzern. Zafranović und Kovač weigerten sich jedoch kategorisch, das Busmassaker zu streichen oder zu kürzen. Autoren und Produzenten einigten sich auf eine geschlossene Probevorführung vor ausgewähltem Publikum. Alle Augen richteten sich auf Vladimir Bakarić, den langjährigen Chef des kroatischen SKJ, der zu Titos engstem Kader aus der Partisanenzeit gehört hatte. Bakarić entschied, die inkriminierte Szene sei historisch belegt, weshalb der Film nicht gekürzt werden müsse.26 Der Weg nach Pula war frei, doch die Probleme hörten nicht auf.27 In Cannes protestierte die kroatische Diaspora gegen den Film, weshalb der Regisseur und seine SchauspielerInnen Polizeischutz benötigten. Während die meisten Kritiker das Werk als eines der besten der gesamten jugoslawischen Kinematografie würdigten, griff ein Mitarbeiter der Zagreber Studentenzeitung Polet den Film als šminkerski, gewaltverliebt und dekadent an und entfachte eine Polemik.28 Im Oktober 1980 kommentierte Zafranović in einem unveröffentlichten biografischen Gespräch mit Filmkritiker Munitić: Ich habe mich an dieser ganzen Polemik nicht beteiligt außer in dem Moment, als sie auf die politische Ebene kam, dann habe ich natürlich als Mensch, als Teil dieser Gesellschaft reagiert und meine Meinung über diese Leute kundgetan, als diese rechtsgerichteten Vorwürfe einer Ideologie einsetzten, gegen die ich mich schon 1971 erhoben hatte […]. Die »Okkupation« musste gemacht werden, […] das ist auch meine ganz persönliche Abrechnung mit gewissen Strukturen, die in diesem [mediterranen, NM] Klima leider weiterhin präsent sind, Strukturen […] einer zwischennationalen Intoleranz, welche in diesem Gebiet hier laufend Gefahr laufen, ins Böse zu kippen, wenn nicht ständig davor gewarnt wird. Ich habe immer gesagt, dieser Film sei eine Warnung an die jetzige Generation, die nie erlebt hat, was unter Freunden passieren kann, die, sagen wir, heute gemeinsam in die Schule gehen oder in die Disko oder auf Ausflüge, die gemeinsam das Leben genießen, was passieren kann, wenn sie jemand terro26 Goulding: Occupation, S. 8 sowie telefonische Auskunft von Zafranović am 25.06.2019. Der Zagreber Publizist Jovo Popović, der die historische Dokumentation für das Drehbuch zusammengestellt hatte, publizierte in diesem Zusammenhang eine Artikelserie in den Medien. Bakarić (1912–1983) war damals kroatisches Mitglied des Präsidiums der SFRJ. 27 Zafranović glaubt, die Szene habe ihn den Oscar gekostet, weil er und Kovač damals nicht auf den Vorschlag der Filmakademie eingegangen seien, wegen des weiblichen Publikums die Busszene zu kürzen. 28 Vgl. dazu den etwas tendenziösen Film von Marinković, Pavo: Occupation – The 27th Picture, 8heads Productions 2013.

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risiert und auf perfide Weise voneinander trennt. Ich denke, es ist eine Warnung, die Kovač und ich mittels dieses Filmes aussprechen und weitergeben.29 Zafranović und Kovač wussten, dass die verdrängte Erinnerung präsent war und jederzeit wieder an die Oberfläche durchdrücken konnte, wie Arendt das in ihrem Totalitarismustext bildlich als unterirdischen Fluss beschrieben hat. Der Film über die mediterrane Stadt, die sich von einer harmonischen Utopie in eine grausame Dystopie verwandelt, soll aufrütteln. Gleichzeitig will er die ZuschauerInnen über das im Krieg Vorgefallene aufklären. Dies war auch die Funktion des im Folgejahr nachgeschobenen Dokumentarfilms Slobodna interpretacija (Freie Interpretation), der die in der Okupacija verwendeten historischen Dokumente vorstellt und ZeitzeugInnen aus Dubrovnik zu Wort kommen lässt.30 Die Gewaltszene im Bus verstört bis heute. Dies ist laut Filip David volle Absicht: Als Dramaturg hatte er selber vorgeschlagen, die gesamte Geschichte um diese zentrale Szene zu arrangieren.31 Unmittelbar im Anschluss an Okupacija u 26 slika entwickelten Zafranović und Kovač das Drehbuch zum Film Pad Italije (Der Fall Italiens), das die Geschichte der Okkupation der Insel Šolta erzählt, wo der Regisseur 1944 zur Welt gekommen war. Die filmische Rekonstruktion von Erinnerung spitzte er weiter zu, indem er in seinem Geburtsort Maslinica drehte und die Dorfbewoh­ nerInnen – Verwandte und NachbarInnen – sowohl als ZeitzeugInnen wie auch als LaiendarstellerInnen einsetzte. Die Parabel über die Revolution, die ihre Kinder frisst, gewann 1981 den Hauptpreis von Pula und lief im Wettbewerb von Venedig. Historisch belegte, aber fantastisch wirkende Szenen wie der Überfall der Četniks und Tscherkessen auf die Insel führten erneut zu Problemen mit der Zensur und zu polemischen Angriffen in den Medien. Die filmische Rekonstruktion von Erinnerung forderte das offizielle Narrativ der Partei auch in diesem Film heraus. Pad Italije erforscht wie Okupacija u 26 slika die Folgen des Terrors fremder Besatzer auf die lokale Gesellschaft.32 Der Film rückt ferner 29 Munitić, Ranko: Lordan Zafranović, Split, 3.–4. Oktober 1980, unveröffentlichtes Transkript, S. 117 f. [Übersetzung NM]. 30 Zafranović, Lordan: Slobodna interpretacija, Jadran Film 1979. 31 Filip David an der Diskussion vom 15.12.2018 im Belgrader Zentrum für kulturelle Dekontamination, siehe Link unter Anm. 23, ab Min. 24:50. Die kürzlich verstorbene Philosophin Ágnes Heller veröffentlichte 2016 eine Schrift zum Nutzen von Dystopien: Heller, Ágnes: Von der Utopie zur Dystopie. Was können wir uns wünschen?, Wien/Hamburg 2016. 32 Zafranović, Lordan: Pad Italije, Jadran Film Zagreb und Centar Film Beograd, 1981. 1986 folgte als dritter Teil von Zafranovićs und Kovačs Weltkriegstrilogie der Spielfilm Večernja zvona (Abendglocken), der die Geschichte eines Revolutionärs aus der Herzegovina von Mitte der 1930er Jahre bis 1948 verfolgt.

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die Partisanen als rigide Parteiorganisation in den Fokus, die einen Bruder zum Richter über den anderen macht. Die Fischer, BäuerInnen und ArbeiterInnen von Maslinica erlauben den Autoren, von einem humanistischen Standpunkt aus gleich zwei revolutionäre Credos in Frage zu stellen: das Prinzip, wonach der Zweck die Mittel heilige, und das unbarmherzige Gesetz des Krieges, töten zu müssen, um nicht selber getötet zu werden – dieselben Argumente, mit denen Tito anfangs der 1970er Jahre die Reformwünsche der Parteien Kroatiens und Serbiens von Tisch gefegt hatte. Unmittelbar vor Beginn der Dreharbeiten zu Pad Italije starb am 4. Mai 1980 Tito.33 Mit seinem Tod fiel der wichtigste jugoslawische Integrationsfaktor weg. Die besorgte Frage nach der Zukunft Jugoslawiens wurde auch in den internationalen Medien gestellt, unter anderem an Danilo Kiš in einem großen Interview für Radio France-Inter: Je ne sais pas. Il y a des moments où je suis très optimiste, des moments où je suis très pessimiste. J’ai parlé avec mes amis, j’ai pensé à tout cela. Je ne pense pas que l’on sera attaqué [von außen, das heißt vom Warschauer Pakt] et si on l’est, on va se défendre […]. Mais il y aura des problèmes et que surtout, ce sera assez grave, si l’on n’est pas unis, nous, toutes les nations qui forment la Yougoslavie.34 Kiš paraphrasiert, vermutlich unbewusst, das Credo der Brüderlichkeit und Einheit als Bedingung für das Überleben Jugoslawiens: Nicht der Wille der BürgerInnen garantiere den Zusammenhalt Jugoslawiens, sondern die Solidarität der Staatsvölker. Diese wurden jedoch von Parteikadern regiert, die zunehmend als rivalisierende Vertreter wirtschaftlich und politisch autonomer Einheiten agierten, welche sich auf Bundesebene zu Verhandlungen trafen statt als Delegierte der Bundesregierung, welche in deren Auftrag die Teilrepubliken verwalteten. Im Streit um den Ausgleich zwischen den wirtschaftlich stärkeren nördlichen Republiken und den wirtschaftlich schwächeren südlichen Republiken wurde die Bundesregierung zunehmend entmachtet und marginalisiert. 1981 erschütterten die albanischen Proteste im Kosovo die SFRJ weit über Serbien hinaus und befeuerten eine Essentialisierung der verfassungsmäßigen Völker und Völkerschaften (narodi i narodnosti), welche die Grenzen der Republiken 33 Telefonische Auskunft von Lordan Zafranović, 10.07.2019. 34 Zitiert nach Dimitrijević, Dejan: Le procès d’Andrija Artukovic, un événement oublié, in: Socio-­anthropologie 23–24 (2009), S. 7–39, hier Absatz 6.

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immer mehr als nationale Hoheitsgebiete verstanden: Nicht Slowenien und Kroatien wurden überproportional zur Unterstützung der südlichen Republiken zur Kasse gebeten, sondern »die Slowenen« und »die Kroaten«. »Die Serben« wiederum wollten als Herren über Serbien nicht zulassen, dass das autonome Gebiet Kosovo unter die Kontrolle »der Albaner« kam und die serbische Bevölkerung dort rückläufig war. Der jugoslawische Homogenisierungsprozess kippte quasi in den Retourgang: Nationalismus wurde salonfähig, lange bevor sich die Föderation auflöste – eine Möglichkeit, die ab Mitte der 1980er Jahre offen diskutiert wurde. 1986 wählte der Bund der Kommunisten Serbiens einen neuen Generalsekretär: Slobodan Milošević.35

Der Artuković-Prozess als Brandbeschleuniger der Desintegration Jugoslawiens Im selben Jahr kehrte das leibhaftige Böse nach Jugoslawien zurück. Die USA lieferten nach jahrzehntelangen juristischen Auseinandersetzungen und Mediengetöse im Februar 1986 Andrija Artuković (1899–1988) aus, der als Innenminister des NDH-Staates gemeinsam mit dem sogenannten Poglavnik (Führer) Ante Pavelić und Sicherheitschef Eugen Dido Kvaternik dessen genozidale Vernichtungspolitik verantwortete.36 Zusammen mit der übrigen Ustaša-Führungsspitze war er bei Kriegsende aus Zagreb geflohen und hatte sich auf dem sogenannten Rattenpfad in Sicherheit gebracht.37 1948 unter falschem Namen in die USA eingereist, ließ er sich mit seiner Familie bei seinem Bruder in Kalifor35 Vgl. Bieber: Nationalismus in Serbien; Tromp, Nevenka: Prosecuting Slobodan Milošević. The Unfinished Trial, Abingdon 2016. 36 Zur Auslieferung aus den USA siehe Ryan, Allan A.: Quiet Neighbours. Prosecuting Nazi War Criminals in America, San Diego/New York/London 1984; Pyle, Christopher H.: Extradition, Politics, and Human Rights, Philadelphia 2001. Zur Auslieferung aus jugoslawischer Sicht siehe Popović, Jovo: Suđenje Artukoviću, i što nije rečeno, Zagreb 1986. Zu Artukovićs Funktion im NDH siehe Goldstein: Jasenovac, S. 62 f., 347, 368–385, 594, 682 f. Artuković stammte aus einem Nachbardorf von Pavelić in der Herzegovina und gehörte zu dessen engstem Zirkel. Nach seinem Rechtsstudium eröffnete er eine Kanzlei in Gospić (Lika). Dort gründete er um 1930 einen Ustaša-Ableger und organisierte den Überfall auf eine Polizeistation, der als Lika-Aufstand in die Ustaša-Historiografie einging. Er war einer der Angeklagten im Prozess gegen die Mörder des jugoslawischen Königs Aleksandar. Adriano/Cingolani: Nationalism and Terror, S. 77 f.; Ramet, Sabrina P.: Personalities in the History of the NDH, in: Totalitarian Movements and Political Religions 7 (2006) 4, S. 493–498, hier S. 493. 37 Artuković gelangte mit Hilfe eines Franziskanernetzwerks über die Schweiz nach Irland. Vgl. Cupek Hamill, Mirjana: Irska godina Andrije Artukovića, in: Časopis za suvremenu povijest 2 (2014), S. 265–275; Popović: Suđenje Artukoviću, S. 15–22.

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nien nieder. Nach seiner Enttarnung verkaufte er sich sehr erfolgreich als »politischer Flüchtling«, der vor der Willkür der kommunistischen Justiz zu schützen sei. Die kroatische Diaspora und das reaktionäre katholische Netzwerk der Kolumbusritter organisierten Geld für seine Verteidigung durch alle Instanzen und für großangelegte Medienkampagnen.38 Jugoslawien verlangte umgehend die Auslieferung, was ein amerikanisches Bundesgericht, notabene entgegen der Empfehlung von Außenminister Dean Acheson, 1952 in erster Instanz ablehnte. Auf dem Höhepunkt der McCarthy-Ära hielt der zuständige Bundesrichter Peirson Hall, sekundiert von einer lautstarken antikommunistischen Öffentlichkeit, den Naziflüchtling für einen Freiheitskämpfer, »something very close to a model American citizen«, der allenfalls einige Kommunisten auf dem Gewissen habe.39 Die Truman-Administration, die Jugoslawien bereits seit Ende 1948 diskret unterstützte und mit Hilfe des 1953 signierten Balkanpaktes mit Griechenland und der Türkei in die zukünftige Nato-Struktur einzubauen plante, unterließ es derweilen aus innenpolitischen Gründen, die 1948 proklamierte Uno-Konvention zu ratifizieren, die eine Anklage auf Genozid erlaubt hätte.40 Als der Supreme Court 1958 nach einer siebenjährigen Kette juristischer Rekurse zu einer Zeugenanhörung vorlud, waren einzig die Anklagepunkte auf Mord noch nicht verjährt. Richter Theodore Hocke akzeptierte jedoch die von Jugoslawien vorgelegten Beweise nicht, die allesamt auf schriftlichen eidesstattlichen

38 Es ging um zwei unterschiedliche juristische Geschäfte: erstens Deportation wegen unerlaubten Aufenthalts in den USA, zweitens Auslieferung infolge eines entsprechenden Gesuches der jugoslawischen Regierung. Ryan: Quiet Neighbours; Popović: Suđenje Artukoviću, S. 15 f.; Pyle: Extradition, S. 131 f.; Adriano/Cingolani: Nationalism and Terror, S. 406. 39 Der Richter entschied, dass der zugrunde liegende Staatsvertrag über gegenseitige Auslieferung mit dem Königreich Serbien aus dem Jahr 1901 ungültig sei, und folgte ansonsten der Argumentation einer Flucht aus politischen Gründen, die auch das Immigrationsbüro übernommen hatte. Ryan: Quiet Neighbours, S. 156–173, hier S. 161. Die Washington Post schrieb unter dem Titel Reds Want Him vom »ehemaligen jugoslawischen« Innenminister: Washington Post, 19.09.1957, S. A18. Der Kolumnist Drew Pearson kommentierte 1962 unter dem Titel Croat ›Himmler‹ Finds U.S. Haven, der Angeklagte »has become the center of a high-pressure lobbying campaign by well-meaning people who have no idea of the enormity of his war crimes«: Washington Post, 25.06.1962, S. B23 sowie Washington Post, 16.10.1963, S. D17. Vgl. auch Pyle: Extradition, S. 134 f.; Popović: Suđenje Artukoviću, S. 16 f.; Popović, Srđa: Posljednja instanca, Bd. 3, Beograd 2003, S. 1241. 40 Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung legte der UN-Generalversammlung 1951 eine Petition vor, die USA wegen Genozid an der schwarzen Bevölkerung anzuklagen. Die USA ratifizierten die Genozid-Konvention erst 1988. Siehe auch den Leserbrief des Presseattachés der jugoslawischen Botschaft Josip Defrančeski in der Washington Post vom 23. September 1957, S. A16. Zum Balkanpakt vgl. Mišković: Pre-History, S. 193 f.

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Erklärungen beruhten.41 Artukovićs Verteidigung nutzte die Gelegenheit, eigene Zeugen vorzustellen, allesamt Ustaše, die alle Schuld Dido Kvaternik zur Last legten.42 Der auf political offence exception plädierende negative Entscheid des Obersten Gerichtshofs von 1959 verschleierte weder die antikommunistische Haltung des Richters noch seine Geringschätzung der jugoslawischen Justiz, wie der spätere Leiter des Office of Special Investigations (OSI), Staatsanwalt Allan A. Ryan, bitter feststellte: Die jugoslawische Regierung hatte den schweren Fehler begangen, dem amerikanischen Richter keine AugenzeugInnen vorzustellen. Artuković hatte gewonnen.43 Erst Ende der 1970er Jahre, unter dem massiven Druck jüdischer Organisationen, nahm das Justizministerium unter der Carter-Administration die unbefriedigende Situation in Angriff. Unter der Leitung von Staatsanwalt Ryan untersuchte das OSI ab 1978 rund zweihundert Fälle faschistischer Kriegsverbrecher in den USA. Artukovićs Fall nahm als Butcher of the Balkans und Croat Himmler in den Medien breiten Raum ein. Unter dem heftigen Widerstand seiner Verteidiger zog sich das Verfahren weitere Jahre dahin, bis die jugoslawischen Behörden 1984 ihr Gesuch um Auslieferung noch einmal vorbringen durften. Ryan schreibt: What emerges from this long involvement with the law is the picture of an intelligent, disciplined, and supremely shrewd individual who sensed danger like a mountain cat and who placed himself in the position of maximum strength when danger approached. Throughout his hundreds of pages of testimony there is not a single false step. […] It is not difficult to believe

41 Der Richter erwartete Beweise für Mord gemäß US-amerikanischem Recht. Die jugoslawischen Behörden hatten ihre Beweisunterlagen bereits 1951 vollständig vorgelegt, wobei sie sich auf das Material stützen mussten, das die Ustaša übriggelassen hatten. Diese hatten vor ihrer Flucht systematisch Akten und Infrastruktur vernichtet. Korb: Im Schatten des Weltkriegs, S. 37; Pyle: Extradition, S. 134 f., 138; Popović: Posljednja instanca, S. 1241. 42 Ryan: Quiet Neighbours, S. 178–181; Pyle: Extradition, S. 136–138. Dido Kvaternik, der mit seiner Familie in Argentinien lebte, machte sich über Artukovićs Anschuldigungen lustig: »Welcher Jurist oder Politiker auf dieser Erdkugel wird glauben, dass ein aktiver Außenminister eines Landes, Minister über alles Mögliche, wie Artuković das war, vier Jahre lang nichts gehört, nichts gesehen, nichts gewusst und für nichts verantwortlich gewesen sein soll, sondern einzig eine taubstumme und blinde Puppe war, die wie das verzauberte Schneewittchen am 10. April 1941 einschlief und im Glassarg schlummerte, bis sie am Prozess in Los Angeles wieder aufwacht?« Zitiert nach Goldstein: Jasenovac, S. 379 [Übersetzung NM]. 43 Ryan: Quiet Neighbours, S. 181–183; Pyle: Extradition, S. 138 f.

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that this man could have maneuvred himself into a position of tremendous power in the control of terrorism, reprisal, and persecution.44 Im Februar 1986 wurde der mittlerweile greise und an Alzheimer erkrankte Kriegsverbrecher unmittelbar nach einem letzten abgewiesenen Appell wegen Prozessunfähigkeit in eine Maschine der jugoslawischen Fluggesellschaft JAT verfrachtet und nach Zagreb befördert.45 Nach dem Willen der Partei sollte der auf Mitte April 1986 in Zagreb angesetzte Prozess die Werte der Brüderlichkeit und Einheit bekräftigen und Gerechtigkeit herstellen. Die kroatischen Behörden standen unter enormem Druck, denn nebst der enormen politischen Bedeutung, die diesem Ereignis innenpolitisch beigemessen wurde, sollte es auch die Legitimität der jugoslawischen Justiz vor den Augen der Weltöffentlichkeit bekräftigen. Wie groß die Sicherheitsbedenken und die Ängste der Partei waren, dass der Prozess in der erhitzten politischen Debatte zu einem Brandbeschleuniger des jugoslawischen Desintegrationsprozesses werden könnte, zeigt der Umstand, dass die Zagreber Innenstadt für die Dauer des Prozesses vier Wochen lang gesperrt wurde. Trotz der überwältigenden Beweislast durfte sich die Staatsanwaltschaft in ihrem Plädoyer ausschließlich auf die Mordklage gemäß amerikanischem Auslieferungsbefehl stützen. Die Verteidiger Artukovićs behaupteten in diesem Zusammenhang, die Staatsanwaltschaft habe den Kronzeugen Bajro Avdić präpariert.46 Das Gericht jedoch verweigerte der Verteidigung Einsicht in dieses Protokoll. Der prominente Belgrader Menschenrechtsanwalt Srđa Popović, der Artuković im Auftrag der Familie verteidigte, argumentierte, dass das Gericht den Angeklagten aus formalen Gründen hätte freisprechen müssen, wäre es wahrhaft unabhängig gewesen.47 Doch wie hätte dies der jugoslawischen Öffentlichkeit erklärt werden sollen?

44 Ebd., S. 187. 45 Popović: Suđenje Artukoviću, S. 21 f. 46 Pyle: Extradition, S. 224 suggeriert eine Komplizenschaft des amerikanischen OSI mit den jugoslawischen Gerichtsbehörden, um amerikanischem Recht genügende Unterlagen für eine Auslieferung herzustellen. Avdić hatte im NDH zur motorisierten Eskorte der Ustaša-­Führung gehört und war nach dem Krieg mit Gefängnis bestraft worden. Er wurde gemäß einem Agenturbericht kurz nach Ausbruch der Feindseligkeiten im Bosnien-Krieg 1992 ermordet. Vgl. https://www.aa.com.tr/ba/arhiva/kona%C4 %8Dan-mir-za-bajru-avdi%C4 %87a-svjedoka-­ protiv-artukovi%C4 %87a/336258 [27.08.2019]. 47 Vergleichbare Rechtsfragen stellten sich auch im Prozess gegen Adolf Eichmann, der 1960 vom Mossad aus Argentinien nach Israel entführt und dort vor Gericht gestellt wurde. Srđa Popović kämpfte Zeit seines Lebens für die Integrität und Unabhängigkeit der Justiz in Jugo-

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Abb. 3: Der greise Kriegsverbrecher Artuković leugnete seine Verantwortung für die Vernich­ tungspolitik der Ustaša, wusste von nichts und stellte die Anklagepunkte als Verschwörung gegen seine Person dar. Still aus dem Film Zalazak stoljeća. Testament Lordana Zafranovića (1993), mit freundlicher Genehmigung von Lordan Zafranović.

Im Gerichtssaal waren auch Lordan Zafranović und der Publizist Jovo Popović präsent. Zafranović hatte im Vorjahr einen Film über das Konzentrationslager Jasenovac fertiggestellt und nahm den Prozess zum Anlass, den NDH als Staatsgebilde zu erforschen.48 Den Arbeitstitel Civitas Dei – wie die Ustaša-Ideologen ihren Staat nannten – änderte er in Fiat Iustitia (Es geschehe Gerechtigkeit!). Seine Kameras fingen nicht nur die Angst und den Stress der ZeugInnen ein, sie entlarvten in der Mimik des Angeklagten auch die Lüge.49 In Zusammenarbeit mit slawien und schreckte dabei nicht vor unpopulären Statements zurück. Popović: Posljednja instanca, S. 1241 f. Siehe auch den Nachruf im Guardian vom 15. November 2013: https:// www.theguardian.com/world/2013/nov/15/srdja-popovic [04.08.2019]. 48 Zafranović, Lordan: Krv i pepeo Jasenovca, FRZ Kinodokument 1985. 49 Zafranović, Lordan: Zalazak stoljeća. Testament Lordana Zafranovića, Kinodokument 1993. Die Sequenz in Teil 2, Minute 1:01:14 zeigt klar die Mimik Artukovićs beim Anhören des Zeugen Bajro Avdić.

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Popović beschaffte er umfangreiches zusätzliches Beweismaterial, insbesondere die Wochenschauen des NDH, die bislang im Giftschrank der Belgrader Kino­ thek weggesperrt waren, ferner das Tagebuch von Erzbischof Alojzije Stepinac, aber auch die Filmaufnahmen diverser europäischer Kriegsverbrecherprozesse nach 1945. Popović arbeitete an seinem Buch über den Prozess, das 1986 in einer 10.000er Auflage erschien. Er zitierte die Befragung Avdićs vor Gericht in langen Passagen und ließ an der Authentizität des Zeugen keinen Zweifel aufkommen. Er wunderte sich jedoch, weshalb es der Staat verpasst habe, seine Gesetzgebung bezüglich der Unverjährbarkeit genozidaler Verbrechen rechtzeitig anzupassen, um die Anklage des Kriegsverbrechers auf sichere Füße zu stellen.50 Verteidiger Srđa wie Journalist Jovo Popović hielten damit dem Gericht Fehler vor, die der Autorität seiner Rechtsprechung schadeten.51 Zafranović konzentrierte seine Aufnahmen aus dem Gerichtssaal auf den Angeklagten. Seine Kamera erforscht das Wesen des fragilen Greises auf der Anklagebank und fängt dessen Bewunderung für Pavelić ein, den aufflackernden Stolz auf die hohe Position im Ustaša-Staat, die Routine im Verleugnen der begangenen Verbrechen, seine Verachtung der ZeugInnen, aber auch die Tränen beim Zusammentreffen mit dem Sohn. »Warum filme ich diesen alten Mann?«, fragt er zu Beginn des fertigen Filmes aus dem Off: »Damit wir über die Verbrechen anderer sprechen können, müssen wir zuerst über die Verbrechen reden, die von Angehörigen unseres eigenen Volkes begangen wurden.«52 Entlang des Prozessverlaufs rekonstruierte er anhand von historischem Filmmaterial die Geschichte der Ustaša, des NDH und des Zweiten Weltkrieges. Der Chronologie der NDH-Wochenschauen folgend, zeigt er den begeisterten Empfang, den Zagreb den deutschen »Befreiern« vom jugoslawischen »Joch« bereitete, die Reden Pavelićs, die die genozidale Absicht der Ustaša-Ideologie mehr als deutlich machen, die Manipulationen in der propagandistischen Darstellung von Gefangenen oder katholisch getauften serbischen Kindern, aber auch den Alltag in der lange von Kriegshandlungen verschonten Hauptstadt Zagreb. Das am 14. Mai 1986 verkündete Todesurteil gegen Artuković war keine Überraschung. Es wurde angesichts des Gesundheitszustands und Alters des Verurteilten ausgesetzt. Der langjährige Chefredakteur der parteinahen Za­ greber Tageszeitung Vjesnik Pero Pletikosa resümierte im Vorwort von Jovo Popovićs Buch zufrieden: 50 Popović, Jovo: Suđenje Artukoviću, S. 141–149. 51 Popović: Posljednja instanca, S. 1242; Popović: Suđenje Artukoviću, S. 148. 52 Zafranović, Lordan: Zalazak stoljeća. Testament Lordana Zafranovića. Kinodokument 1993, Minute 13:54.

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Wenn vom Prozess über Andrija Artuković und dem Urteil die Sprache ist, das das Gericht nach einem alles in allem korrekten Verfahren gefällt hat, so darf festgestellt werden, dass es für Gerechtigkeit niemals zu spät ist. Nicht wegen der Rache, nicht wegen der Vergeltung, sondern nur wegen der Gerechtigkeit, damit das Volk, aus welchem der Verbrecher hervorgegangen ist, den anderen Völkern in die Augen schauen kann, vor allem denjenigen, denen das Böse in seinem Namen angetan wurde. Es zeigte sich, dass das kroatische Volk sich nicht schämen muss, außer für die Handvoll Verbrecher, die in seinem Namen gewütet haben. Hat nicht das kroatische Volk mit dem serbischen und den anderen, die auf dem Boden der Sozialistischen Republik Kroatien leben, sein Schicksal in die Hand genommen und mit seinen Auswüchsen abgerechnet? […] Dieses Buch ist die beste Antwort an alle, die den monströsen »kroatischen Himmler« als Opfer oder als Resultat unserer hiesigen Beziehungen und historischen Bedingungen präsentieren wollten.53 Das kroatische Volk müsse sich nicht schämen, denn es habe gemeinsam mit den SerbInnen Kroatiens und den anderen Minoritäten auf seinem Boden die Verantwortung übernommen und die Handvoll Kriegsverbrecher abgeurteilt, die seinen Namen missbraucht hätten: So fasste Pletikosa die offiziöse Bilanz des Gerichtsverfahrens zusammen. Wenn es die Erwartung der jugoslawischen Justiz war, mit Hilfe des späten Prozesses Gerechtigkeit herzustellen und die Brüderlichkeit und Einheit des Landes wieder zu stärken, so deckte er die Schwächen des Systems auf und verlieh der Diskussion um die Verbrechen des Ustaša-Staates zu einem Zeitpunkt offiziellen Schub, als die Teilrepubliken in ihrer Transformation in autonome, ethnisch definierte Staaten bereits weit fortgeschritten waren.54 Den Nationalisten in Serbien bot er vor dem Hintergrund des gärenden Kosovo-Konflikts eine Steilvorlage, um ihre These vom anhaltenden Genozid am serbischen Volk zu untermauern. Der Belgrader Akademie-Historiker Vasilje Krestić verstieg sich sogar zu der Behauptung, das kroatische Volk als solches weise genozidale Tendenzen auf.55 Krestić gehörte zu den Autoren des im Sep53 Siehe Popović: Suđenje Artukoviću, S. 5 [Übersetzung NM]. 54 Während ich mit Dimitrijevićs Einschätzung einig gehe, dass der Prozess die Diskussion um die Verbrechen des NDH anfeuerte, so sehe ich anhand des Filmes von Zafranović und der Veröffentlichungen von Popović und Popović seitens des Gerichtes keine bewusste Relativierung der genozidalen Politik des NDH gegenüber der serbischen Bevölkerung, sondern ein ängstliches Bemühen um Ausgleich gemäß der föderalen jugoslawischen Geschichtspolitik. Vgl. Dimitrijević: Le procès d’Andrija Artukovic, Absatz 44. 55 Vgl. Dragović Soso, Jasna: Saviours of the Nation. Serbia’s Intellectual Opposition and the Revival of Nationalism, London 2002, S. 112. Siehe auch Ramet: Three Yugoslavias, S. 322.

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tember 1986 publizierten Memorandums der Serbischen Akademie der Wissenschaften, das Holm Sundhaussen als »paranoides Pamphlet zur Lage Serbiens und des serbischen Volkes« bezeichnet hat.56 Tatsächlich steigerte sich der Ton der politischen Debatte in der zweiten Hälfte der 1980er Jahren zu schriller Hysterie. Die Unterstellungen aus Serbien hatten in Kroatien einen verheerenden Effekt weit über das nationalistisch gesinnte Spektrum hinaus. Die ganze Nation fühlte sich an den Pranger gestellt und reagierte, sei es mit Scham, mit Wut oder mit Gegenangriff: Die kroatische Partei und Polizei seien serbisch unterwandert, Kroatien werde seit der Gründung des jugoslawischen Staates 1918 von Serbien dominiert und ausgenützt.57 Exponenten beider Seiten trugen zur allgemeinen Verwirrung bei, indem sie die Opferzahlen des Zweiten Weltkrieges instrumentalisierten und mittels maßloser Über- und Untertreibungen gegeneinander polemisierten. Auf kroatischer Seite tat sich diesbezüglich der Historiker Franjo Tuđman hervor, der die Ustaša-Verbrechen relativierte und den NDH als ersten unabhängigen kroatischen Staat der Moderne würdigte. So schrieb er 1989 in seinem Buch Irrwege historischer Wahrheit ohne Belege, dass »im Lager von Jasenovac real einige zehntausend Gefangene (wahrscheinlich 3 bis 4) umgekommen sind, davon am meisten Zigeuner, ferner Juden und Serben, aber auch Kroaten«.58 Tuđman, der im selben Jahr die zukünftige Regierungspartei Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft (HDZ) gründete, wurde 1990 in den ersten demokratischen Wahlen in Kroatien nicht ohne von der Kommu56 Die Schrift enthält zwei Teile, erstens eine Analyse der sozial- und wirtschaftspolitischen Krise Jugoslawiens, die durchaus als Diskussionsgrundlage aus serbischer Sicht hätte dienen können, sowie zweitens eine Anklage über die angebliche Benachteiligung Serbiens in der Konföderation, die den seit mehreren Jahren schwelenden Diskurs vom Genozid am serbischen Volk im Kosovo und seiner Diskriminierung in Kroatien das Siegel der obersten wissenschaftlichen Einrichtung des Landes verlieh. Der Text erschien zuerst unauthorisiert in den Večernje novosti vom 24.9.1986. 1995 wurde er in einer redigierten Fassung in diversen Übersetzungen von der Akademie neu aufgelegt, herausgegeben von Krestić. Sundhaussen: Jugoslawien, S. 240–244; Mihailović, Kosta/Vasilje Krestić: Memorandum of the Serbian Academy of Sciences and Arts – Answers to Criticisms, Belgrade 1995. Vgl. auch Stefanov, Nenad: Wissenschaft als nationaler Beruf. Die Serbische Akademie der Wissenschaften 1944–1992, Wiesbaden 2011. 57 Die offizielle Sprachregelung lautete auf eine kleine Handvoll Ustaša, die die Verbrechen im NDH begangen habe. Tatsächlich waren die Ustaša bei ihrem Machtantritt nur eine Handvoll Fanatiker gewesen, doch wurde der deutschen Wehrmacht bei ihrem Einzug in Zagreb im April 1941 ein begeisterter Empfang bereitet und über 100.000 Personen legten im ersten Monat nach Gründung des NDH den Ustaša-Schwur ab. Ivo Goldstein: Croatia. A History, London 1999, S. 134. 58 Tuđman, Franjo: Bespuća povijesne zbiljnosti, Zagreb 1989, hier zitiert nach Goldstein: Jasenovac, S. 782.

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nistischen Partei verschuldete Zahlenakrobatik zum Präsidenten gewählt und im Folgejahr nach der Unabhängigkeitserklärung bestätigt. Angehörige der serbischen Minderheit reagierten angesichts der von Tuđman und seinen AnhängerInnen geförderten Ustaša-Symbolik mit zunehmender Angst. In Serbien begann Parteichef Milošević im Anschluss an seinen legendären Besuch in Priština vom April 1987 mit der Umsetzung eines politischen Programms, das das definitive Ende Jugoslawiens einläutete.59 Bis 1989 setzte er die Abschaffung der Autonomie des Kosovo und der Vojvodina durch und war damit in der Lage, am 14. Parteikongress des SKJ im Januar 1990, dem letzten, die Diskussionen und Abstimmungen nach seinem Gutdünken zu blockieren und so den Auszug der Delegationen Sloweniens und Kroatiens zu provozieren. Als Nächstes instrumentalisierte er die verängstigte serbische Minderheit in ihren Hauptwohngebieten entlang der ehemaligen Militärgrenze. Deren politische Führung bat nach der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens um den Schutz der JNA und gründete die autonome serbische Republik Krajina. Es kamen nicht nur Einheiten der Armee, sondern auch die paramilitärischen Terrorgruppen von Željko Raznatović Arkan und Vojislav Šešelj, die diese Gebiete von katholischer Bevölkerung säuberten. Jugoslawien war am Ende.

Anstelle eines Schlusses Zafranović stellte seinen Film über den NDH nicht mehr in Jugoslawien fertig. In den wenigen Jahren vor Ausbruch des offenen Krieges mischte er sich in die politische Debatte ein und ließ sich ins Zentralkomitee der Partei Kroatiens wählen. Er polemisierte mit Tuđman und nannte ihn wegen seiner Behauptungen einen Dilettanten. Ende 1991 fand sich der Belgrader Literatenzirkel auf unterschiedlichen Seiten der Fronten wieder: Das Szenario aus dem Film Okupacija u 26 slika wiederholte sich. Während Zafranović aus Zagreb fliehen musste, ereilte Kovač dasselbe Schicksal in Belgrad. Zafranović ging nach Paris, doch Kovač 59 Nevenka Tromp definiert fünf konsekutive, flexible von Milošević im Zeitraum von 1987 bis 1999 mit viel krimineller Energie verfolgte Ziele: erstens die Zentralisierung Serbiens (1987–1990), zweitens die Zentralisierung der jugoslawischen Föderation (1990/91), drittens die Schaffung eines reduzierten Jugoslawien inkl. der serbischen Gebiete in Kroatien und der Schaffung der Republika Srpska Krajina (1991/92), viertens die Gründung der Föderativen Republik Jugoslawien mit Serbien und Montenegro inkl. Verfassungspassagen, die den Anschluss weiterer Gebiete erlauben, sowie Gründung der Republika Srpska (1992–1995), fünftens Niederschlagung des albanischen Widerstands und Kosovo-Krieg (1998/99). Siehe Tromp: Prosecuting Slobodan Milošević, S. 32 f.

Titos Geschichtspolitik

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ließ sich ausgerechnet in Kroatien nieder. Seinen Anteil an der Busszene leugnend, schrieb er im malerischen Rovinj seine Romane in die neue kroatische Standardsprache um.60 Filip David blieb in Belgrad und wurde zum Zentrum des Belgrader Kreises, der sich Miloševićs Herrschaft widersetzte.61 Zafranovićs im Exil fertiggestellter Film hieß nun Zalazak stoljeća. Testament Lordana Zafranovića (Decline of the Century. The Testament of L.Z.) und endete mit einer delirischen Collage aus Bildern von Opfern des Zweiten Weltkriegs, Filmausschnitten und Fernsehvideos aus dem belagerten Dubrovnik und Sarajevo von 1991 und 1992. Aus dem Off kommentiert seine Stimme: In dieser Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit bleibt nur der Aufschrei mit Hilfe der vielseitigsten Feder unserer Zeit, der Filmkamera. Falls die Wirklichkeit und das Leben meine Arbeit und meine künstlerische Realisation bestätigt haben, so bedeutet mir das keine Satisfaktion, im Gegenteil. Ich bin zerschlagen, beschämt und zutiefst entmutigt. Ist das unser Schicksal? Ist das unsere Conditio humana? […] Ich beende die Niederschrift des Testaments. […] Ich fühle mich wie eine Maus in der Falle. Ich kann nichts ändern. Es gibt nichts mehr außer Dunkelheit. Aber wie Sartre sagte: Wenn nichts mehr da ist, dann bleibt die Hoffnung.

60 Kovač und Zafranović versöhnten sich erst 2013 an Kovačs Sterbebett wieder. Mündliche Auskunft von Lordan Zafranović; ferner Jergović, Miljenko: Kommentar zu Kovačs Flucht unter https://www.jergovic.com/subotnja-matineja/vrata-od-utrobe-roman-je-o-hercegovini­o-biblijskom-jobu-i-o-komunizmu/ [04.08.2019] sowie Grlić, Rajko: Neispričane priče, Zagreb 2018, S. 239. 61 Vgl. Beogradski Krug/Borba (Hg.): Druga Srbija, Beograd 1992. Kiš erlag 1989 in Paris seiner Krebserkrankung.

Von der »Rückkehr« in die Mitte Europas zur Rhetorik der Entflechtung Der Wandel und die Neuordnung der Koordinaten ungarischer Geschichtspolitik seit 1989* Julia Richers Vor dreißig Jahren hatten wir gedacht, wir hätten die kommunistische Denkweise, die das Ende der Nationen und die Supranationalität verkündete, auf den Kehrichthaufen der Geschichte geworfen. Anscheinend haben wir uns geirrt. […] Denn erneut sind jene hier, die unsere Traditionen gerne auslöschen und unsere Länder mit einer fremden Kultur überfluten würden.1 In seiner jüngsten, alljährlich stattfindenden Rede zur Lage der Nation nahm der amtierende Ministerpräsident Ungarns, Viktor Orbán, in seiner Kritik gegenüber der Europäischen Union bewusst Bezug auf das Jubiläumsjahr von 1989. In einer Art Rückschau auf die vergangenen dreißig Jahre seit der »Wende« verglich er den Internationalismus des Kommunismus mit dem Antinationalismus der westeuropäischen Liberalen und Linken. In diesem Zusammenhang, so Orbán weiter, habe sich herausgestellt, dass gerade die europäische Linke zur »Vorkämpferin der Spekulanten, des Weltbürgertums, der Weltregierung und jetzt schließlich der Weltmigration, zur Totengräberin der Nationen, der Familie und der christlichen Lebensform geworden« sei.2 Dieser Entwicklung sei An dieser Stelle möchte ich Nada Boškovska danken, die mich mit ihrer Tagung Zwischen öffentlich und privat. Arbeit, Konsum und Freizeit im Sozialismus, 1960er bis Mitte 1980er Jahre im Herbst 2011 dazu motivierte, mich intensiver mit Ungarns spätsozialistischer Geschichte zu beschäftigen. Ein besonderer Dank gilt auch Györgyi Barta, Regina Fritz, Thomas R. Richers, Carmen Scheide und Natalie Seiler für den wissenschaftlichen Austausch und wichtige Hinweise. 1 Orbán, Viktor: Évértékelő beszéd [Jährliche Rede zur Lage der Nation], 10. Februar 2019, abrufbar über die offizielle Webseite des ungarischen Ministerpräsidenten: http://www.miniszter­ elnok.hu/orban-viktor-evertekelo-beszede-3/ [27.02.2019]. Originalwortlaut: »Harminc éve azt gondoltuk, hogy a történelem szemétdombjára hajítottuk a kommunista észjárást, amely a nemzetek végét és a nemzetekfelettiséget hirdette. Úgy látszik, tévedtünk. […] És újra itt vannak azok, akik eltörölnék a hagyományainkat, és idegen kultúrával árasztanák el országainkat.« 2 Orbán: Évértékelő beszéd, 10. Februar 2019. Originalwortlaut: »Így lett mára az európai baloldal a spekulánsok, a világpolgárság, a világkormányzás és most végül a világmigráció élharcosa, a nemzetek, a család és a keresztény életforma sírásója.« Erläuternd führt er aus: »Jene, die sich für Einwanderung und Migranten entscheiden […], erschaffen in Wirklichkeit ein Land mit gemischter Bevölkerung. Die historischen Traditionen eines solchen Landes gehen * 

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entschlossen und energisch entgegenzutreten. Denn es sei jetzt der Zeitpunkt gekommen, an dem »wir verstehen müssen, dass die europäischen Völker an einem historischen Scheideweg angekommen sind«. Ungarn habe dies erkannt und gehöre zu jenen Ländern Mitteleuropas, die sich tatkräftig gegen eine Fremdbestimmung zur Wehr setzten und damit nicht nur ihre Traditionen und ihre Vergangenheit wahrten, sondern auch selbstbewusst sagen könnten: »Wir, Mitteleuropäer, besitzen noch unsere eigene Zukunft«.3 Mit seiner jüngsten Lagebeurteilung steckte Orbán die Koordinaten des neuen Selbstverständnisses der ungarischen Regierung dreißig Jahre nach der »Wende« klar ab: gegen Internationalismus, gegen Sozialismus, gegen Liberalismus, gegen Migration und gegen »Brüsseler Diktate«. Im Gegenzug liegt die neue Ausrichtung auf Nationalismus, auf einem kategorischen Antikommunismus, einem dezidierten Illiberalismus,4 auf der staatlich geförderten Erhöhung der Geburtenrate ungarischer Kinder sowie einer neuartigen Rhetorik der Ent-

zu Ende, und eine neue Welt nimmt ihren Anfang. In den Einwanderungsländern entsteht eine christlich-muslimische Welt, mit einem beständig abnehmenden christlichen Anteil.« Originalwortlaut: »Akik a bevándorlás és a migránsok mellett döntenek, […] valójában kevert népességű országot hoznak létre. Az ilyen országok történelmi hagyománya véget ér, és egy új világ veszi kezdetét. A bevándorló országokban keresztény-muszlim világ jön létre, folyamatosan zsugorodó keresztény aránnyal.« 3 Orbán: Évértékelő beszéd, 10. Februar 2019. Originalwortlaut: »Meg kell értenünk, hogy az európai népek történelmi válaszúthoz érkeztek. […] Nekünk, közép-európaiaknak azonban még megvan a saját jövőnk.« 4 In Abkehr vom klassischen Liberalismus, dessen Adjektiv auf Ungarisch (liberális) unter vorgehaltener Hand als Chiffre für »jüdisch« gilt, wird unter Viktor Orbán seit einigen Jahren der Illiberalismus und die »illiberale Demokratie« propagiert. In einer programmatischen Rede vom 26. Juli 2014 hielt Orbán dazu fest: »Der neue Staat, den wir in Ungarn aufbauen, ist ein illiberaler Staat, kein liberaler Staat. Er verneint nicht die Grundwerte des Liberalismus wie die Freiheit […], macht diese Ideologie aber nicht zu einem zentralen Element seiner staatlichen Organisation, sondern verfolgt einen anderen, spezifisch nationalen Ansatz.« Orbán, Viktor: Beszéd a XXV. Bálványosi Nyári Szabadegyetem és Diáktáborban, Tusnádfürdő/Băile Tuşnad [Rede an der 25. Bálványos-Sommeruniversität und dem Studentenlager in Tusnádfürdő/ Băile Tuşnad], 26. Juli 2014, abrufbar über die Website des ungarischen Ministerpräsidenten: http://2010-2015.miniszterelnok.hu/beszed/a_munkaalapu_allam_­korszaka_kovetkezik [27.02.2019]. Originalwortlaut: »Az új állam, amit Magyarországon építünk, illiberális állam, nem liberális állam. Nem tagadja a liberalizmus alapvető értékeit, mint a szabadság, […] de nem teszi ezt az ideológiát az államszerveződés központi elemévé, hanem egy attól eltérő sajátos, nemzeti megközelítést tartalmaz.« Zu den illiberalen Tendenzen in Zentral- und Osteuropa siehe jüngst: Bieber, Florian/Solska, Magdalena/Taleski, Dane (Hg.): Illiberal and Authoritarian Tendencies in Central, Southeastern and Eastern Europe, Bern etc. 2018.

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flechtung.5 In seiner Rede wird deutlich, dass die langersehnte »Wende« von 1989 Ungarn nicht nur Gutes gebracht habe. Bereits in früheren Reden hatte Orbán betont, dass es sich 1989 aufgrund der anschließenden Fortsetzung »linker« Traditionen überhaupt nicht um einen richtigen Umsturz und Elitewandel gehandelt habe. Die wahre Revolution im Sinne einer vollständigen Ablösung vom (krypto)kommunistischen Erbe sei erst in den letzten neun Jahren Fidesz-Regierung und durch die Umgestaltungsmöglichkeiten der parlamentarischen »Zweidrittelrevolution« vollzogen worden.6 In der Tat hat die derzeitige ungarische Regierung in den letzten Jahren große Anstrengungen unternommen, das kommunistische Erbe zu tilgen und die ungarische Geschichte des 20. Jahrhunderts neu zu interpretieren. Die durch die Dekommunisierung und Reinterpretation entstandenen Leerstellen wurden rasch und unter Bereitstellung erheblicher finanzieller Ressourcen mit alten und neuen Inhalten gefüllt. Insgesamt ist eine ausgesprochen intensive Hinwendung zur Geschichte zu verzeichnen: Der künstlich erzeugten Tabuisierung und Geschichtsvergessenheit ist eine regelrechte Geschichtsversessenheit gefolgt.7 Kaum eine andere Regierung hat dermaßen viele neue Institutionen zur Erforschung und Vermittlung der jüngsten Geschichte ins Leben gerufen und dermaßen viele neue Denkmäler in den letzten Jahren errichten lassen. Von den in Orbáns erster Amtszeit von 1998 bis 2002 und in seiner zweiten Amtszeit seit 2010 mit staatlichen Mitteln errichteten Geschichtsinstitutionen und Denkmäler sind zunächst folgende zu nennen: das 1999 gegründete In5 Der Begriff der Entflechtung deckt semantisch ein breites Feld an Bedeutungen ab. Entflechtung kann als ordnendes Entwirren chaotischer Zustände verstanden werden, aber auch – wie in diesem Beitrag – als Gegenstück zu Annäherung, Austausch und Verflechtung. Wichtige Impulse zu Phänomenen der Entflechtung und Verflechtung in der Geschichtswissenschaft gaben Werner, Michael/Zimmermann, Bénédicte: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002) 4, S. 607–636. Zum »Nebeneinander von Abwehr und Aneignung« siehe Paulmann, Johannes: Feindschaft und Verflechtung. Anmerkungen zu einem scheinbaren Paradox, in: Martin Aust/Daniel Schönpflug (Hg.): Vom Gegner lernen. Feindschaften und Kulturtransfers im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/New York 2007, S. 341– 356, hier S. 341. 6 Orbán, Viktor: Ünnepi beszéd a Kossuth téren [Festrede auf dem Kossuth-Platz], 23. Oktober 2010, abrufbar über die offizielle Website der ungarischen Regierung: https://2010-2014. kormany.hu/hu/miniszterelnokseg/miniszterelnok/beszedek-publikaciok-interjuk/orban-viktor-unnepi-beszede-a-kossuth-teren-2010-oktober-23 [20.02.2019]. Zur »unvollendeten Revolution« siehe auch Mark, James: Unfinished Revolution. Making Sense of the Communist Past in Central-Eastern Europe, New Haven/London 2010. 7 Vgl. dazu Assmann, Aleida/Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999.

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stitut des 20. Jahrhunderts (XX. Század Intézet), das 2000 gegründete Institut des 21. Jahrhunderts (XXI. Század Intézet), das 2002 eingeweihte Museum Haus des Terrors (Terror Háza Múzeum), das 2011 eröffnete Institut zur Erforschung des Kommunismus (Kommunizmuskutató Intézet) sowie die sogenannte Gulag-­ Gedenkkommission (Gulág Emlékbizottság). Zur Vorsitzenden all dieser fünf Institutionen wurde die Historikerin und wichtigste geschichtswissenschaftliche Beraterin Orbáns Mária Schmidt ernannt.8 Zu weiteren wesentlichen Neuerungen gehören die 2011 im ungarischen Parlament beschlossene Rekonstruktion des Parlamentsplatzes in der Gestalt von 1944, die 2013 erfolgte Gründung des Geschichtsforschungsinstituts Veritas (Veritas Történetkutató Intézet) unter der Leitung von Sándor Szakály, die Errichtung des umstrittenen Denkmals zur deutschen Besatzung von 1944 im Jahre 2014, das 2015 fertiggestellte, aber wegen massiver Einwände bislang noch nicht eröffnete Haus der Schicksale (Sorsok Háza), das im Juni 2018 eingeweihte Denkmal für die Opfer der sowjetischen Besatzung (A szovjet megszállás áldozatainak emlékműve) sowie die zwischen 2012 und 2016 durchgeführte Umbenennung von rund 2200 Straßen und Plätzen.9 Hier zeigt sich, dass Geschichte nicht nur zu einer steten Begleiterin der Tagespolitik, sondern zu einer ausgesprochen wichtigen Sinnressource und einem tragenden Element der symbolischen Politik der gegenwärtigen Regierung geworden ist. Mária Schmidt, die seit längerem maßgeblich an einer revisionistischen Neuordnung der historischen Bezüge beteiligt ist, hat in einem ihrer Beiträge zu den demokratischen Umbrüchen in Europa betont, dass gerade die auf »öffentlichen Plätzen errichteten Denkmäler«, zusammen mit Straßennamen, zu jenen »wichtigsten symbolischen Ausdrucksformen« gehörten, »mit deren Hilfe sich eine politische Gemeinschaft, ein politisches System an eine breite Masse wenden« könne.10 Eine Regierung könne neben historischen Ereignissen   8 Finanziert werden diese Institutionen über die 1999 eingerichtete Öffentliche Stiftung für die Erforschung der Geschichte und Gesellschaft Mittel- und Osteuropas (Közép- és Kelet-Európai Történelem és Társadalom Kutatásáért Közalapítvány), in deren Kuratorium wiederum Mária Schmidt prominent vertreten ist. Die Stiftung fördert zudem auch das 2003 eröffnete Institut für Habsburgergeschichte (Habsburg Történeti Intézet), die 1956-Gedenkkommission (1956os Emlékbizottság) sowie das 2017 eingerichtete Imre-Kertész-Institut (Kertész Imre Intézet).   9 Direkt nach der »Wende« waren zwischen 1989 und 2003 bereits 1234 Straßen umbenannt worden. Fritz, Regina: Die politische Besetzung des öffentlichen Raums. Straßennamenumbenennungen in Budapest, 1945–1989–2011, in: Zeitgeschichte 46 (2019) 1, S. 39–59, hier S. 49, 53. 10 Schmidt, Mária: Denkmälerlandschaft – Symbolische Ausdrucksformen politischen Willens in Ungarn, in: Hans-Joachim Veen/Volkhard Knigge (Hg.): Denkmäler demokratischer Umbrüche nach 1945, Köln 2014, S. 131–143, hier S. 132.

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auch bestimmte Heldenfiguren benennen, diese »mit einer herausragenden Bedeutung bekleiden« und damit zum »Vorbild für eine nationale Identitätsgemeinschaft« erklären. Dieser Umstand der Auswahl und Setzung verrate, so Schmidt weiter, »sehr viel über die Wertewelt einer bestimmten historischen Epoche«.11 Der vorliegende Beitrag wird im Folgenden diese neue Wertewelt und ihre Manifestationen im politischen Diskurs und öffentlichen Raum zum Gegenstand seiner Untersuchung machen. Im Zentrum steht die Frage, wie sich seit der »Wende« von 1989 in Ungarn das Verhältnis zur eigenen Geschichte des 20. Jahrhunderts verändert hat. Wo setzt die gegenwärtige ungarische Regierung die Schwerpunkte ihrer Erinnerungskultur und Geschichtspolitik? Welche historischen Ereignisse werden dreißig Jahre nach der »Wende« hervorgehoben, welche finden kaum oder gar keine Erwähnung mehr? Als Grundlage dienen diesem Beitrag eine Analyse der historischen Bezüge in den offiziellen Reden des amtierenden Ministerpräsidenten Orbán, eine Analyse des Geschichtsbildes in der Präambel der neuen ungarischen Verfassung, die neu errichteten Denkmäler und städtebaulichen Veränderungen im öffentlichen Raum sowie die Tätigkeiten der genannten neu gegründeten Geschichtsinstitutionen. Das Geschichtsbild der rechtsradikalen Jobbik Magyarországért Mozgalom (Bewegung für ein besseres/rechteres Ungarn), der zweitstärksten Partei im ungarischen Parlament, wird hingegen nicht oder nur am Rande Gegenstand der Untersuchung sein.12

Die »Wende« von 1989 und die »Rückkehr nach Europa« In Ungarn wurde das kommunistische Regime im Jahre 1989 buchstäblich zwischen zwei großen Staatsbegräbnissen zu Grabe getragen: zwischen der symbolträchtigen Wiederbestattung des 1958 hingerichteten Ministerpräsidenten Imre Nagy und seiner engsten Weggefährten am 16. Juni 1989 sowie der Beisetzung von János Kádár am 6. Juli 1989, dessen Name für dreißig Jahre aufs Engste mit 11 Schmidt: Denkmälerlandschaft, S. 132–133. 12 Stattdessen sei an dieser Stelle auf weiterführende Publikationen zum Thema verwiesen: Róna, Dániel: Jobbik-jelenség. A Jobbik Magyarországért Mozgalom térnyerésének okai [Das Jobbik-­Phänomen. Die Ursachen für den Vormarsch der Bewegung für ein besseres/rechteres Ungarn], Budapest 2016; Spalj, Carmen: Die politische Rechte in Ungarn. Polarisierung als Einfallstor für die Jobbik-Partei, Ulm 2015; Koob, Andreas/Marcks, Holger/Marsovszky, Magdalena: Mit Pfeil, Kreuz und Krone. Nationalismus und autoritäre Krisenbewältigung in Ungarn, Münster 2013; Ungváry, Krisztián: »Lager und Fahne sind eins«. Fatale Traditionen in Ungarns Erinnerungskultur, in: Osteuropa 61 (2011) 12, S. 281–301.

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dem ungarischen »Gulaschkommunismus« und Spätsozialismus verbunden war, der jedoch seine steile politische Karriere der Hinrichtung der Gruppe um Nagy zu verdanken hatte. Aufgrund seines hohen Alters und seiner mangelnden Reformbereitschaft war er am 22. Mai 1988 gezwungen worden, seine Ämter und den Vorsitz als Generalsekretär der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (Magyar Szocialista Munkáspárt, MSZMP) an Károly Grósz abzugeben. Kurz darauf, Anfang Juni, forderte eine aus ehemaligen Freiheitskämpfern zusammengesetzte Kommission für historische Gerechtigkeit (Történelmi Igazságtétel Bizottság), die in einem anonymen Massengrab Verscharrten ordentlich zu bestatten und zu rehabilitieren. Am 16. Juni 1988 kam es in Budapest zu einer nicht bewilligten Demonstration zum 30. Jahrestag der Hinrichtungen, die von Polizeikräften gesprengt wurde. Der wachsende Unmut der Bevölkerung sowie die erdrückende Beweislage eines internen Untersuchungsberichts bewogen den damaligen ungarischen Staatsminister Imre Pozsgay schließlich, in einem Interview am 28. Januar 1989 von der bislang geltenden Interpretation der Ereignisse von 1956 als »Konterrevolution« abzuweichen und 1956 erstmals öffentlich als echten Volksaufstand zu bezeichnen.13 Eine ernsthafte Reformbereitschaft war innerhalb der Parteispitze möglich geworden, nachdem Grósz aufgrund seines politischen Lavierens und seiner mangelnden Bereitwilligkeit, tiefgreifende Veränderungen einzuleiten, sein Amt als Ministerpräsident und Generalsekretär der Partei Ende November 1988 an Miklós Németh abtreten musste, der radikale Reformen und eine Regierungsumbildung ankündigte. Die Reformpolitik »von oben« wollte dadurch mit der seit längerem bestehenden aktiven Reformbewegung »von unten« Schritt halten.14 Gleichzeitig muss betont werden, dass die außerparteiliche Opposition zwar eine große Rolle bei der Vorbereitung des Reformprozesses spielte, die »entscheidenden Veränderungen konnten jedoch nur die an der Macht beteiligten

13 Dieses nicht mit der Parteispitze abgesprochene Interview Pozsgays stürzte die Partei in eine tiefe Krise. Eine Abschrift der Krisensitzung des Politbüros am darauffolgenden Tag ist nachzulesen in: Extraordinary Meeting of the HSWP Political Committee Discussing Imre ­Pozsgay’s Declaration on 1956, January 31, 1989, in: Csaba Békés/Malcolm Byrne/János M. Rainer (Hg.): The 1956 Hungarian Revolution. A History in Documents, New York 2002, S. 553–556 (Dokument Nr. 119). 14 Dazu: Dalos, György: Archipel Gulasch. Die Entstehung der demokratischen Opposition in Ungarn, Bremen 1986. Siehe auch seine Studie zur »Wende«: Dalos, György: Ungarn. Der gemütliche Weltuntergang, in: ders.: Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa, München 2009, S. 62–97, zur demokratischen Opposition siehe insbesondere S. 70–74.

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Eliten durchführen«.15 Aufgrund der schrittweisen Lockerungen wurden offiziell neue Parteigründungen möglich. Bereits im September 1987 war das Ungarische Demokratische Forum (Magyar Demokrata Fórum, MDF) ins Leben gerufen worden. Es folgten die Gründung des Bunds Junger Demokraten (Fiatal Demokraták Szövetsége, Fidesz)16 im März 1988, des liberalen Bunds Freier Demokraten (Szabad Demokraták Szövetsége, SZDSZ), der Partei der Kleinen Landwirte (Független Kisgazdapárt, FKgP)17 im November 1988 sowie der Christlich-Demokratischen Volkspartei (Kereszténydemokrata Néppárt, KDNP) im Mai 1989. Unter diesen politischen Veränderungen war es Ende März 1989 möglich geworden, die verscharrten Leichen von Imre Nagy und seinen Weggefährten zu exhumieren. Fünf Särge – sowie ein leerer sechster für die 300 weiteren hingerichteten Freiheitskämpfer von 1956 – wurden auf dem Heldenplatz in Budapest an ihrem 31. Todestag, dem 16. Juni 1989, in Anwesenheit von weit über 200.000 Menschen aufgebahrt. Das ungarische Staatsfernsehen übertrug die monumentale Zeremonie und die Reden live.18 Einer der damaligen Redner auf der Tribüne war Viktor Orbán, in seiner Rolle als Repräsentant der jungen Generation und in seiner Funktion als Vorsitzender des 1988 gegründeten Fidesz. Seine damalige Rede, in der er mit überraschend deutlichen Worten freie Wahlen, Demokratie, Unabhängigkeit und den Abzug der sowjetischen Truppen forderte, markierte den Startschuss seiner steilen politischen Karriere. In seiner damaligen Rede waren für ihn und die junge Generation die impulsgebenden Vorbilder noch »der Kommunist Imre Nagy und seine Mitstreiter, vor denen wir das Haupt verneigen«. Denn »Imre Nagy, Miklós Gimes, Géza Losonczy, Pál Maléter und József Szilágyi«, so Orbán am Ende seiner Aus15 Göllner, Ralf Thomas: Die Europapolitik Ungarns von 1990 bis 1994. Westintegration, mitteleuropäische regionale Kooperation und Minderheitenfrage, München 2001, S. 22. 16 Von seiner ursprünglichen Bezeichnung Fidesz – Bund Junger Demokraten (Fidesz – Fiatal Demokraták Szövetsége) verabschiedete sich Fidesz im Jahre 1996 und bezeichnet sich seither als Fidesz – Ungarische Bürgerliche Partei (Fidesz – Magyar Polgári Párt). Ebenso verabschiedete sich Fidesz von seinen liberalen Wurzeln: 1992 war die Partei ein aktives Mitglied in der Liberal International geworden; nach Orbáns radikaler Kehrtwende vom Liberalen zum Konservativen beendete Fidesz im Jahr 2000 die Mitgliedschaft in diesem Weltverband der liberalen Parteien. 17 Die wenig gebräuchliche, vollständige Bezeichnung der Partei, die bereits zwischen 1930 und 1949 sowie 1956 existierte, lautet Unabhängige Partei der Kleinlandwirte, der Landarbeiter und des Bürgertums (Független Kisgazda- Földmunkás- és Polgári Párt). 18 Vgl. Klimó, Árpád von: »1956« – Nationale Geschichtskultur, Erinnerungspolitik und private Erinnerung während Ungarns »Systemwechsel« 1989, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (2006), S. 93–115.

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führungen, »opferten ihr Leben für die Unabhängigkeit und Freiheit Ungarns; jene jungen Ungarn, für die dieser Gedanke auch heute noch unantastbar ist, verneigen im Andenken ihr Haupt«.19 Imre Nagy als historischer Referenzpunkt sollte später aus Orbáns Vokabular schrittweise verschwinden. Zur selben Zeit, am 13. Juni 1989, hatten die Verhandlungen am sogenannten Nationalen Runden Tisch begonnen, der eigentlich ein »Dreiecksgespräch« zwischen den drei Hauptakteuren der »Wende« – der MSZMP, den gesellschaftlichen Massenorganisationen und der acht oppositionellen Parteien – war.20 Hauptaufgabe dieses Runden Tisches war die Schaffung »der Normen und Bestimmungen, die den Übergang zur parlamentarisch-pluralistischen Demokratie regeln und einen paktierten, friedlichen Übergang ermöglichen sollten«.21 Dazu zählte die Ausarbeitung von mehreren Gesetzen wie das Gesetz zur grundlegenden Modifizierung der Verfassung von 1949, die Einrichtung eines Verfassungsgerichts, ein neues Partei- und Wahlgesetz, freie Parlamentswahlen sowie der vollständige Abbau der Grenzanlagen. Gerade letztere Maßnahme hatte eine immense Wirkung. Als am 27. Juni die Außenminister Ungarns und Österreichs, Gyula Horn und Alois Mock, vor laufenden Fernsehkameras den Grenzzaun durchschnitten, symbolisierte dies die Öffnung des Eisernen Vorhangs und signalisierte der Weltöffentlichkeit das Ende des Kalten Krieges und den Beginn einer neuen Ära. Die Kenntnis von diesem unerwarteten Schlupfloch im Eisernen Vorhang verbreitete sich in den anderen sozialistischen Volksrepubliken wie ein Lauffeuer und führte im Sommer und Frühherbst zu einer Fluchtwelle von DDR-Bürgerinnen und Bürgern. Horn ließ schließlich in der Nacht vom 10. auf den 11. September 1989 die Grenze offiziell zur freien Ausreise öffnen, eine Möglichkeit, die binnen weniger Stunden über 10.000 Ostdeutsche nutzten, was wiederum den politischen Zusammenbruch der DDR einleitete. 19 Orbán, Viktor: Beszéd Nagy Imre újratemetésekor [Rede zur Wiederbestattung Imre Nagys], 16. Juni 1989, abrufbar über das Zeitungsarchiv Magyar Nemzet Online: https://web.archive. org/web/20171207125017/https://mno.hu/belfold/orban_viktor_beszede_nagy_imre_es_martirtarsai_ujratemetesen-320290 [20.02.2019]. Originalwortlaut: »Azok a fiatalok, akik ma az európai polgári demokrácia megvalósításáért küzdenek, […] hajtanak fejet a kommunista Nagy Imre és társai előtt. […] Nagy Imre, Gimes Miklós, Losonczy Géza, Maléter Pál, Szilágyi József a magyar függetlenségért és szabadságért adták életüket. Azok a magyar fiatalok, akik előtt ezek az eszmék még ma is sérthetetlenek, meghajtják fejüket emléketek előtt.« 20 Eine umfassende Zusammenstellung der damals verfassten Dokumente ist zu finden in: ­Bozóki, András/Elbert, Márta et al. (Hg.): A rendszerváltás forgatókönyve kerekasztal-tárgyalások 1989-bek. Dokumentumok [Das Drehbuch des Systemwechsels, Verhandlungen des Runden Tischs 1989. Dokumente], 8 Bde., Budapest 1999–. 21 Göllner: Die Europapolitik Ungarns, S. 27.

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In Ungarn dauerten die folgenreichen Verhandlungen am Nationalen Runden Tisch bis zum 18. September 1989 und beinhalteten im Wesentlichen »alle Schritte des Machtwechsels«.22 In einer Direktwahl wurde der Reformsozialist Pozsgay zum Interimspräsidenten gewählt. Am 23. Oktober 1989 – symbolträchtig zum 33. Jahrestag des Ungarnaufstands von 1956 – verabschiedete man eine umfassend reformierte Version der Verfassung23 und Parlamentspräsident Mátyás Szűrös rief vom Balkon des Parlamentsgebäudes die neue »Republik Ungarn« aus. Damit war der Systemwechsel mit aktiver Beteiligung der damaligen politischen Elite in Ungarn vollzogen worden. Aufgrund der schrittweisen Reformen seit 1987/88 und der intensiven Aushandlungsprozesse zwischen Regime und Opposition konnte die »Wende« vollkommen friedlich und ausgesprochen rasch durchgeführt werden. Ein wichtiger Bestandteil dieses friedlichen Endes des Kommunismus war gerade die Einbindung und Einigung mit der kommunistischen Führung. So beruhte die »Wende« »nicht auf ihrer Ausgrenzung, sondern ihrer Einbeziehung in die politischen Abläufe«.24 Der Übergang zur Demokratie verlief auf parlamentarischem Wege dermaßen geräuschlos, dass heutzutage im Falle Ungarns von einer »stillen« oder einer »ausgehandelten Revolution« gesprochen wird.25 Vielfach wurde betont, dass in Ungarn anders als in den anderen ostmittel- und südosteuropäischen Ländern der Staat zum Teil »von jener Elite abgebaut [wurde], die ihn aufgebaut hatte«.26 Dies entspricht jedoch nur teilweise den Tatsachen. Ebenfalls diskutiert und wird die Frage, ob es sich im ungarischen Falle 1989 überhaupt um eine »Revolution« oder nicht vielmehr um eine politische Systemtransformation »von innen«, veranlasst und getragen von den systemimmanenten Reformkräften

22 Fischer, Holger: 1989 in Ungarn – Die ausgehandelte »Revolution«, in: Michael Düring/ Norbert Nübler/Ludwig Steindorff/Alexander Trunk (Hg.): 1989 – Jahr der Wende im östlichen Europa, Lohmar 2011, S. 155–186, hier S. 176. 23 A Magyar Köztársaság Alkotmánya [Verfassung der Ungarischen Republik], 23. Oktober 1989, nach den ersten freien Wahlen modifiziert und amtlich publiziert in Magyar Közlöny, Nr. 84 vom 24. August 1990. Eine deutsche Übersetzung des Grundgesetzes ist abrufbar über: http:// www.verfassungen.eu/hu/verf49-89.htm [20.02.2019]. 24 Bozóki, András: Autoritäre Versuchung. Die Krise der ungarischen Demokratie, in: Osteuropa 61 (2011) 12, S. 65–87, hier S. 67. 25 Fischer: 1989 in Ungarn, S. 159, 184. Siehe auch Tőkés, Rudolf L.: Hungary’s Negotiated Revolution. Economic Reform, Social Change, and Political Succession, 1957–1990, Cambridge etc. 1996. 26 Göllner: Die Europapolitik Ungarns, S. 22.

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der MSZMP, gehandelt habe.27 Bezeichnenderweise spricht man im ungarischen politischen Leben in der Regel von »Systemwechsel« (rendszerváltás), aus dem Verständnis heraus, dass das kommunistische Einparteiensystem zwar ausgewechselt worden sei, aber die dazugehörigen Eliten weitgehend in ihren Positionen hätten bleiben können.28 Aus diesem Grund sind die Ereignisse von 1989 von Paul Lendvai auch als »Systemwechsel der Halbheiten« charakterisiert worden, während der ungarische Politikwissenschaftler Ferenc Miszlivetz noch einen Schritt weiter ging und das Ungarn nach der »Wende« aufgrund mangelnden Demokratieverständnisses als postkommunistische »Demokratie ohne Demokraten« bezeichnet hat.29 Ungeachtet dessen verband man mit der 1989 vollzogenen »Wende« allseits eine nicht näher definierte »Rückkehr nach Europa«.30 In diesem häufig verwendeten Sprachbild erschien die kommunistische Epoche unter sowjetischer Vormacht als »asiatische Sackgasse« (ázsiai zsákutca),31 aus der man sich erfolgreich und aus eigener Kraft herausmanövriert habe, um den hoffnungsvollen Weg nach Westeuropa einzuschlagen. Manche sprachen im Zusammenhang mit der Westorientierung von einer »Re-Europäisierung«32 der ehemaligen Volksrepubliken und betonten damit einerseits die Verabschiedung von einem als uneuropäisch empfundenen Kommunismus und andererseits die Wiedereinbettung in die »tausendjährigen westlichen Traditionen«.33 In der ungarischen Medienberichterstattung erreichte 1989 die Erwähnung »Europa« ein 27 Diese These vertritt unter anderem Andreas Schmidt-Schweizer, siehe Schmidt-Schweizer, Andreas: Politische Geschichte Ungarns von 1985 bis 2002. Von der liberalisierten Einparteienherrschaft zur Demokratie in der Konsolidierungsphase, München 2007. Auch unter Viktor Orbán wird diese These seit einigen Jahren vertreten, jedoch aus einer anderen politischen Motivation heraus. 28 Klimó, Árpád von: Die Bedeutung der Erinnerung an 1956 und die Besonderheiten des ungarischen »Systemwechsels« von 1988–1990, in: ders.: Ungarn seit 1945, Göttingen 2006, S. 207–211, hier S. 210. 29 Lendvai, Paul: Mein verspieltes Land. Ungarn im Umbruch, Wien 2010, S. 19. Für eine neue, umfangreiche Analyse der damaligen Ereignisse siehe Mink, András (Hg.): Rendszerváltás [Systemwechsel], Budapest 2018. 30 Halík, Tomáš: Rückkehr nach Europa, in: Ost-West: Europäische Perspektiven 2 (2001) 1, S. 3–9; Heinisch, Reinhard: Returning to »Europe« and the Rise of Europragmatism: Party Politics and the European Union since 1989, in: Irina Livezeanu/Árpád von Klimó (Hg.): The Routledge History of East Central Europe since 1700, London/New York 2017, S. 415–464. 31 Orbán: Beszéd Nagy Imre újratemetésekor. 32 Göllner: Die Europapolitik Ungarns, S. 13. 33 Glatz, Ferenc: Reform und Systemwechsel in Ungarn 1989 bis 1993, in: Karlheinz Mack (Hg.): Revolutionen in Ostmitteleuropa 1789–1989. Schwerpunkt Ungarn, Wien/München 1995, S. 159–173, hier S. 169.

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ungekanntes Ausmaß.34 Die erfolgreiche »Rückkehr nach Europa« manifestierte sich 1990 in der Aufnahme Ungarns in den Europarat, 1999 im Nato-Beitritt und schließlich 2004 in der Aufnahme in die Europäische Union.35 Doch die damalige Westeuphorie hatte ihre Grenzen. Die großen Erwartungen der ungarischen Gesellschaft an die grenzenlose »Hilfsbereitschaft und Hilfskapazitäten des Westens« schlugen bereits Mitte der 1990er Jahre in Enttäuschung und Ernüchterung um.36 Den wachsenden Euroskeptizismus untermauerte man mit historischen Anleihen, indem man die »abgrundtiefe Enttäuschung über den Westen«37 in eine lange Kette von historischen Momenten des »Verlassen-worden-Seins« durch Europa – etwa in den Jahren 1849, 1918, 1945 und 1956 – einreihte. In dieser kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhältnis zum »Westen« stellte man die eigene Position vermehrt als ein »durch die Jahrhunderte tradiertes Dilemma zwischen Ost und West« dar.38 Ungarn erschien dadurch als »Pufferstaat« und »Spielball« der Großmächte. Im Rahmen dieser Debatten erhielt schließlich das alte Konzept eines »Mitteleuropas« (Közép-Európa), als Abgrenzungsnarrativ gegenüber Ost und West, rasch neuen Aufwind.39

34 Der inflationäre Gebrauch des Wortes Europa veranlasste den bekannten ungarischen Autoren Péter Esterházy damals, den Vorschlag zu machen, dass jede Person, die das Wort Europa in den Mund nehme, einen Forint in die tiefverschuldete Staatskasse zu zahlen habe. Dazu: Dalos: Ungarn. Der gemütliche Weltuntergang, S. 79. 35 Zur »Westintegration« Ungarns nach der »Wende« siehe insbesondere Göllner: Die Europapolitik Ungarns; Themel, Christoph: Ungarns politischer Weg nach der Wende 1989 bis Ende 2004, Norderstedt 2005. 36 Glatz: Reform und Systemwechsel in Ungarn, S. 169. Zum Europadiskurs nach der »Wende« siehe auch Kovács, Éva: Wie wird Europa in Ungarn kommuniziert?, in: Vrääth Öhner/Andreas Pribersky/Wolfgang Schmale/Heidemarie Uhl (Hg.): Europa-Bilder, Innsbruck 2005, S. 103–118. 37 Lendvai: Mein verspieltes Land, S. 21. 38 Göllner: Die Europapolitik Ungarns, S. 61. 39 Zur unüberschaubaren Fülle an Literatur zu Konzepten von »Ostmitteleuropa«, »Mitteleuropa« und »Zentraleuropa« siehe beispielsweise Jaworski, Rudolf: Die aktuelle Mitteleuropadiskussion aus historischer Perspektive, in: Historische Zeitschrift 247 (1988) S. 529–550; Hadler, Frank: Mitteleuropa – Zwischeneuropa – Ostmitteleuropa: Reflexionen über eine europäische Geschichtsregion im 19. und 20. Jahrhundert, in: Slovanské Štúdie 1 (1996) S. 14–21; Kovács, János Mátyás: Westerweiterung. Zur Metamorphose des Traums von Mitteleuropa, in: Transit 21 (2001) S. 3–20; Philipp Ther: Von Ostmitteleuropa nach Zentraleuropa – Kulturgeschichte als Area Studies, in: H-Soz-Kult, 02.06.2006, www.hsozkult.de/article/id/artikel-739 [20.02.2019]; Troebst, Stefan: »Osten sind immer die anderen!« Mitteleuropa als exklusionistisches Konzept, in: ders.: Erinnerungskultur – Kulturgeschichte – Geschichtsregion. Ostmitteleuropa in Europa, Stuttgart 2013, S. 43–50.

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Neubewertung der ungarischen Geschichte Die »Wende« begann in Ungarn zu einem wesentlichen Teil mit der Enttabuisierung eines historischen Schlüsselereignisses, des Volksaufstands von 1956. In diesem Prozess zeigte sich insgesamt, dass unmittelbar nach dem Systemwechsel »für einen Großteil der Bevölkerung keine attraktiven Identifikationsangebote«40 zur Hand waren. Nach 1989 folgte sodann eine grundlegende Neubewertung der ungarischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Die bereits erwähnte Historikerin Mária Schmidt hielt zu diesem Prozess nach 1989 verklärend fest: Nachdem die siegreiche antikommunistische Revolution und der nationale Unabhängigkeitskampf von 1989 [sic!] gleichermaßen zum Aufbau eines unabhängigen, freien und demokratischen Ungarns beigetragen hatten, war es notwendig geworden, dass die ungarische Nation ihre Selbstbestimmung auch über die Deutung und Wertung ihrer Vergangenheit zurückerlangte.41 In ihrer eigenen Deutung der Ereignisse von 1989 weicht sie fundamental von der weitgehend etablierten Meinung von einem eng mit den Kommunisten ausgehandelten Systemwechsel ab und bewertet die »Wende« kurzerhand als »antikommunistische Revolution« und »nationalen Unabhängigkeitskampf«; und dies, obschon gerade die »Wende« in Ungarn nicht von Bevölkerungsmassen in einem revolutionären Umsturz von unten herbeigeführt worden war. Die von Schmidt geforderte »Selbstbestimmung« über die Deutung und Bewertung der eigenen Geschichte sollte sich in den drei Jahrzehnten nach 1989 als äußerst schwieriger, teils schmerzhafter und vor allem wenig konsensualer Prozess herausstellen. Von Anfang an stand für viele eine Abgrenzung und kritische Auseinandersetzung mit der sozialistischen Ära des Landes im Vordergrund. Wie ein kursorischer Überblick über die diversen staatlichen »Geschichtsinitiativen« zeigt, verstanden die jeweiligen Regierungen sehr Unterschiedliches darunter. Die erste frei gewählte Regierung unter József Antall (1990–1994) war vorrangig damit beschäftigt, die offensichtlichsten Spuren der kommunistische Ära, die vielen Statuen, Denkmäler und Straßennamen, aus dem Erscheinungsbild des jungen demokratischen Landes zu tilgen und auf 40 Örkény, Antal: Die Untertanen. Nationale Identität und Geschichtsbewusstsein, in: Osteuropa 61 (2011) 12, S. 249–254, hier S. 249. 41 Schmidt: Denkmälerlandschaft, S. 133.

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dem »Kehrichthaufen der Geschichte« zu entsorgen. Mit dem 1991 am südwestlichen Stadtrand von Budapest eröffneten Statuenpark (Szoborpark) gab man den bekanntesten kommunistischen Denkmälern eine neue Heimstätte.42 Das damals noch unklare Vektorfeld der historischen Neuausrichtung versuchte man mit einem tentativen Anknüpfen an Traditionen aus der Habsburgermonarchie und der Zwischenkriegszeit zu füllen.43 Ein vehement umstrittener Diskussionspunkt unter Antall, aber auch den darauffolgenden Regierungen, war die Frage der Lustration, also der umfassenden Durchleuchtung von Personen in Hinblick auf mögliche Geheimdienstkontakte. Antalls MDF-Fraktion hatte bereits 1990 den sogenannten Justitia-Plan (Justitia-terv) vorgelegt, der »die vollständige Lustration der politischen und kulturellen Elite« des Landes forderte.44 Der Plan hatte jedoch nur die Führung der sozialistischen Partei im Blick und nicht die Tausende Spitzel und Informellen Mitarbeiter (IM). Der Plan scheiterte, da sich sowohl die Opposition als auch Antall selbst dagegen aussprachen. Ebenso wurde ein Vorstoß der Liberalen zum Ausschluss ehemaliger IM aus der Politik rigoros verworfen. Denn diese Maßnahme hätte gerade die Liberalen gestärkt, die als demokratische Opposition in der spätsozialistischen Zeit weit weniger als alle anderen Parteien von der IM-Frage betroffen waren.45 Sämtliche Gesetzesvorstöße für eine umfangreiche Lustration und einen Zugang zu den entsprechenden Akten der Staatssicherheit scheiterten allesamt in den Jahren zwischen 1989 und 1996. Zwar wurde mit dem Gesetzesartikel XXIII/1994 ein erstes Gesetz »über die Überprüfung der Personen, die wichtige und vertrauenswürdige und die Gemeinschaft beeinflussende Ämter bekleiden«, verabschiedet, doch blieb die Zahl an Sanktionen gegen durchleuchtete Personen bis zum Ende der Laufzeit des Gesetzes im Jahre 2005 ausgesprochen klein.46

42 Boros, Géza: Szoborpark [Statuenpark], Budapest 2002. 43 Ein Beispiel hierfür ist etwa die Überführung und Wiederbestattung der sterblichen Überreste Miklós Horthys aus seinem portugiesischen Exilort Estoril nach Kenderes, seinem Geburtsort, im September 1993. 44 Kónya, Imre: … és az ünnep mindig elmarad? Történetek a rendszerváltástól napjainkig [… und die Feier bleibt aus? Geschichten vom Systemwechsel bis heute], Pécs 2016, S. 427–429. 45 Ungváry, Krisztián: Der Umgang mit den Akten der Staatssicherheit und der kommunistischen Vergangenheit in der heutigen ungarischen Erinnerungspolitik, in: Florian Kührer-Wielach/Michaela Nowotnick (Hg.): Aus den Giftschränken des Kommunismus. Methodische Fragen zum Umgang mit Überwachungsakten in Zentral- und Südosteuropa, Regensburg 2018, S. 97–122, hier S. 104. 46 Ebd., S. 106.

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Die Regierung unter Gyula Horn (1994–1998) setzte den Lustrations- und Akteneinsichtsbestrebungen ein vorläufiges Ende und signalisierte mit ihrem Verhalten, »kein Bedürfnis nach einer kritischen Konfrontation« mit der eigenen kommunistischen Vergangenheit zu haben.47 Dies zeigte sich auch in einem 1996 verabschiedeten Gesetz, das einem Täterschutz gleichkam.48 Eine Revision dieses restriktiven Gesetzes erfolgte erst 2001, als die Frist zur Einsicht der Akten von einhundert auf dreißig Jahre nach dem Tod des Betroffenen verkürzt wurde; ein umfangreiches »Agentengesetz« lehnte das Parlament 2004/05 ab. Hingegen wurde die Erinnerung an Imre Nagy als Märtyrer der Revolution von 1956 und als Gallionsfigur für »Demokratie und nationale Unabhängigkeit« mit dem Gesetzesartikel LVI/1996 gesetzlich verankert.49 Zu Ehren Nagys 100. Geburtstag weihte man das auf private Initiative hin gestaltete Imre-Nagy-­Denkmal am 6. Juni 1996 nahe des Parlaments am Platz der Märtyrer (Vértanúk tere) feierlich ein (Abb. 2). Eine radikale Veränderung trat mit Viktor Orbáns erster Amtszeit (1998– 2002) ein. Diese betraf weniger die Lustrationsfrage und die Einsicht in die Stasiakten, bei der sich auch Fidesz bedeckt hielt und vor allem einen »verbalen Antikommunismus«50 betrieb. Die Veränderung bestand in einer massiv gesteigerten Nutzbarmachung der Geschichte als politischer Sinnressource. Die Liste geschichtsbezogener Initiativen in Orbáns erster Amtszeit ist ausgesprochen lang und umfasst die eingangs bereits erwähnten zahlreichen Institutsgründungen sowie die Einführung diverser Gedenktage. Auffallend ist dabei, dass die beiden Unrechtsregime des 20. Jahrhunderts, der Nationalsozialismus und der Stalinismus, in einen engen Zusammenhang gestellt und zusammengedacht wurden. Dies zeigte sich etwa im Jahr 2000 bei der Diskussion um den »Holocaust-Gedenktag« (Holokauszt Áldozatainak Emléknapja), dessen Einführung in Ungarn konditional an die Einführung eines Gedenktages für die »Opfer des Kommunismus« (Kommunizmus Áltozatainak Emléknapja) gebunden wurde. Die systematische Verknüpfung der beiden Unrechtsregimes 47 Ungváry, Krisztián: Der Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit in der heutigen ungarischen Erinnerungskultur, in: Bernd Faulenbach/Franz-Josef Jelich (Hg.): »Transformationen« der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989, Essen 2006, S. 201–220, hier S. 208. 48 Ebd., S. 204. 49 1996. évi LVI. törvény – Nagy Imre mártírhalált halt magyar miniszterelnök és mártírtársai emlékének törvénybe iktatásáról [Gesetz LVI/1996 über die gesetzliche Verankerung der Erinnerung an den Märtyrertod des ungarischen Ministerpräsidenten und seiner Leidensgenossen], abrufbar über die Datenbank ungarischer Gesetzessammlungen https://net.jogtar. hu [20.02.2019]. 50 Ungváry: Der Umgang mit den Akten der Staatssicherheit, S. 111.

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und Opfergruppen fand sich schließlich auch in Mária Schmidts Konzeption des 2002 von Orbán feierlich eingeweihten Haus des Terrors wieder. Als mit den neuen Ministerpräsidenten Péter Medgyessy (2002–2004) und Ferenc Gyurcsány (2004–2009) eine Koalitionsregierung zwischen Ungarischer Sozialistischer Partei (Magyar Szocialista Párt, MSZP) und linksliberaler SZDSZ zustande kam, verschob sich die geschichtspolitische Orientierung der Regierung hin zu einer intensiveren Beschäftigung mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der ungarischen Mitverantwortung am Holocaust. Im Jahr 2004 wurde an der Páva utca in Budapest ein Holocaust-Gedenkzentrum eröffnet51 und 2005 in Erinnerung an die Ermordung ungarischer Jüdinnen und Juden durch die ungarischen Pfeilkreuzler am Ufer der Donau ein eindrückliches Mahnmal mit verwaisten Schuhpaaren aus Eisen eingeweiht. Im Jubiläumsjahr zum 50. Jahrestag der Revolution von 1956, der von massiven Ausschreitungen von Rechtsradikalen und Fidesz-Anhängern und anschließender Polizeibrutalität überschattet wurde, errichtete man im Budapester Stadtwäldchen ein großflächiges, keilförmiges »Denkmal für die ungarische Revolution und den Freiheitskampf von 1956«, das jedoch von rechtskonservativer Seite, aber auch von gewissen Veteranengruppen kritisiert wurde. Als Gegendenkmal ist der nahezu zeitgleich in Csömör am nordöstlichen Stadtrand von Budapest eingeweihte Gedenkkomplex Gloria Victis für die »100 Millionen Opfer des Weltkommunismus« zu verstehen, der unter Orbáns Schirmherrschaft steht.52 Spätestens zu diesem Zeitpunkt zeigte sich nur zu deutlich, dass sich die ungarische Gesellschaft nach dem Systemwechsel von 1989 immer stärker auseinanderdividiert hat. Die Gräben zwischen nationalkonservativen, rechten, linken und liberalen Kräften teilten die Gesellschaft in Menschen mit unterschiedlichen Verständnissen von Vergangenheit, unterschiedlichen Wertesystemen und unterschiedlichen Zukunftsbildern. Während Zukunft und Gegenwart erstaunlich selten Gegenstand politischer Diskurse sind, nimmt das Referenzieren auf die historische Vergangenheit weiterhin eine hervorgehobene Rolle ein. Gerade mit Orbáns zweiter Amtszeit 51 Der Beschluss zum Bau eines solchen Zentrums war bereits 2002, noch unter der ersten Orbán-Regierung, gefallen. Er stand mit der zunehmenden internationalen Kritik in Zusammenhang, die Orbán-Regierung habe den Bau des Haus des Terrors innerhalb von anderthalb Jahren umgesetzt, während die »Realisierung des Holocaust-Museums seit Jahren auf sich warten ließ«. Fritz, Regina: Nach Krieg und Judenmord. Ungarns Geschichtspolitik seit 1944, Göttingen 2012, S. 286. 52 Zum Gedenkkomplex Gloria Victis wurde eine mehrsprachige Webseite eingerichtet, siehe: http://gloriavictis.hu/de/ [20.02.2019].

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seit 2010 sind erneut großangelegte geschichtspolitische Maßnahmen zur Neuinterpretation der jüngsten Vergangenheit ergriffen worden. Die Deutung und Bewertung der Vergangenheit unter der gegenwärtigen Regierung lässt sich an offiziellen Dokumenten präzise ableiten. Am offenkundigsten ist die derzeitige Geschichtspolitik an der bereits vielfach diskutierten Präambel der neuen ungarischen Verfassung abzulesen, die am 18. April 2011 von der Nationalversammlung unter Protest der Opposition verabschiedet wurde und am 1. Januar 2012 in Kraft trat.53 Während die Präambeln der bundesdeutschen, polnischen und Schweizer Verfassung dazu dienen, in wenigen knappen Sätzen auf universelle Werte wie Freiheit, Frieden, Vielfalt, Einheit und Verantwortung zu verweisen, ist die Präambel der ungarischen Verfassung ein vergleichsweise langer, zweiseitiger Text mit überraschend vielen Geschichtsbezügen. Rund ein Drittel des Textes ist bewusst gewählten historischen Themen gewidmet. Mit ihrer offiziellen Bezeichnung als »Nationales Glaubensbekenntnis« (nemzeti hitvallás) gleicht die Präambel einem Gelübde. Von besonderem Interesse sind für diesen Beitrag gerade jene historischen Bezüge, die als identitätsstiftende Koordinaten für Ungarns Gesellschaft genannt werden. Denn der Präambeltext ist nicht nur ein politisches Dokument, sondern kann als kultur- und zeithistorische Quelle bewertet werden. In ihm kommt ein neues ungarisches Selbstverständnis zum Vorschein, das stark auf bestimmten, ausgewählten Geschichtsbildern fußt. So ist hier zu fragen, welche Kapitel der Vergangenheit zum neuen ungarischen Geschichtsverständnis gehören und welche explizit nicht. In diesem Zusammenhang sind gerade auch die vielen Leerstellen aussagekräftig, die bei einer sorgsamen Lektüre der Präambel zu eruieren sind: Keine Erwähnung findet erstaunlicherweise die bürgerliche Revolution von 1848, die sonst stets ein wichtiger historischer Referenzpunkt in Ungarn war, so etwa während des Volksaufstands von 1956, als die Kossuth-Fahne wieder Verwendung fand. Ebenfalls unerwähnt bleiben die Asternrevolution vom Herbst 1918 und 53 Das Abstimmungsergebnis setzte sich aus 262 Ja-Stimmen, 44 Nein-Stimmen und 79 Enthaltungen (75 durch Fernbleiben) zusammen. Siehe dazu: https://www.parlament.hu/internet/plsql/ogy_szav.szav_lap_egy?p_szavdatum=2011.04.18.15:13:30&p_szavkepv=I&p_­ szavkpvcsop=I&p_ckl=39 [20.02.2019]. Für eine kritische Analyse der neuen ungarischen Verfassung siehe die Beiträge im Themenheft »Quo vadis, Hungaria? Kritik der ungarischen Vernunft« der Zeitschrift Osteuropa 61 (2011) 12; zum »Geschichtsbild« respektive zu den 15 Gemälden, die im Zusammenhang mit der neuen ungarischen Verfassung in Auftrag gegeben wurden, siehe von Puttkamer, Joachim: Beunruhigend banal. Die Erinnerung an den Kommunismus in der ungarischen Verfassung und ihren Bildern, in: Volkhard Knigge (Hg.): Kommunismusforschung und Erinnerungskulturen in Ostmittel- und Westeuropa (Europäische Diktaturen und ihre Überwindung; 19), Köln 2013, S. 61–87.

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die Ausrufung der ersten demokratischen Republik unter Graf Mihály Károlyi. Ebenso findet der zweite demokratische Umbruch des Landes, die »Wende« von 1989, keine Erwähnung. Namentlich explizit getilgt wurden die fast fünfzig Jahre zwischen 1944 und 1990, also die Zeit der faschistischen Pfeilkreuzler-Regierung, die unsicheren Nachkriegsjahre und die gesamte kommunistische Ära. Subsumiert unter dem Begriff der fremdbestimmten »Willkürherrschaft« passen sie nicht in die »organische Geschichte Ungarns«.54 Im Folgenden sollen jene drei wesentlichen historischen Bezugspunkte genauer untersucht werden, auf die sich die gegenwärtige ungarische Regierung maßgeblich stützt. Es handelt sich dabei um die Bedeutung der Stephanskrone und die Christianisierung Ungarns, das Referenzieren auf die selbstbestimmte Eigenstaatlichkeit vor 1944 unter Miklós Horthy sowie die Abrechnung mit dem Kommunismus. Diese drei zentralen Bezugspunkte finden sich denn auch in der Präambel der neuen Verfassung wie auch in zahlreichen geschichtspolitischen Initiativen der Regierung wieder. König Stephan I. und die Heilige Krone König Stephan I. (969–1038) sowie die Heilige Krone (Szent Korona) haben in der ungarischen Geschichte mit wechselnden Konjunkturen eine herausragende Bedeutung und eine lange Vorgeschichte. Stephan I. war nicht nur der erste König des von ihm begründeten Königreichs Ungarn; als er im Jahr 1000 von Papst Silvester II. die Heilige Krone überreicht bekam, wurde er auch zum Christianisierer der heidnischen Magyaren. Die Präambel der neuen ungarischen Verfassung hebt den Stellenwert der Christianisierung an mehreren Stellen hervor. So hält sie bereits im einleitenden Satz fest: »Wir sind stolz darauf, dass unser König, der Heilige Stephan I., den ungarischen Staat vor tausend Jahren auf festen Fundamenten errichtete und unsere Heimat zu einem Bestandteil des christlichen Europas machte« – ein christliches Europa, das das ungarische Volk »Jahrhunderte in Kämpfen verteidigt hat«.55 Neben dem Bekenntnis zum christlichen Abendland und zu gemeinsamen christlichen Werten sind in die54 Bozóki: Autoritäre Versuchung, S. 85. 55 Magyarország Alaptörvénye [Grundgesetz Ungarns], 2011, amtlich publiziert in: Magyar Közlöny, Nr. 43 vom 25. April 2011, S. 10656–10682, hier S. 10656; Originalwortlaut: »Büszkék vagyunk arra, hogy Szent István királyunk ezer évvel ezelőtt szilárd alapokra helyezte a magyar államot, és hazánkat a keresztény Európa részévé tette. […] Büszkék vagyunk arra, hogy népünk évszázadokon át harcokban védte Európát […].« Eine offizielle deutsche Übersetzung des Grundgesetzes ist abrufbar über: https://nemzetikonyvtar.kormany.hu/­kiadvanyok [20.02.2019].

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sen Aussagen auch das Bild von Ungarn als dem »Bollwerk gegen die Türkengefahr« und der Antemurale-Christianitatis-Gedanke enthalten.56 Im Gegensatz zu früheren Regierungen wird von den Verfassern der Präambel die überragende Bedeutung des Christentums augenfällig häufig betont und findet ihren deutlichsten Ausdruck in der Feststellung: »Wir erkennen die Rolle des Christentums bei der Erhaltung der Nation an.«57 Zwar werden andere »religiöse Traditionen des Landes« erwähnt, doch sie – wie auch Vorstellungen von Säkularisierung oder Konfessionslosigkeit – erhalten eine vollständig marginalisierte Position. In Gedenken an König Stephan I. und die Staatsgründung wurde mit dem 20. August der sogenannte Stephanstag (Szent István nap) eingeführt. Der 20. August als nationaler Feiertag hat eine verhältnismäßig lange Tradition.58 Nach einer längeren neoabsolutistisch verordneten Zwangspause infolge der Revolution von 1848 durfte die ungarische Nationalversammlung 1891 mit dem Gesetzesartikel XIII/1891 den 20. August zu einem nationalen Fest- und Feiertag erklären,59 der bis zur Ausrufung der ungarischen Räterepublik 1919 alljährlich begangen wurde. In der Zwischenkriegszeit knüpfte die Regierung unter Miklós Horthy an diese Tradition an und führte den Tag des Heiligen Stephan wieder ein. Er wurde zum bedeutendsten Feiertag in der Horthy-Ära und diente insbesondere auch dazu, an die von Ungarn durch den Friedensvertrag von Trianon abgetrennten »Länder der Stephanskrone« zu erinnern. Selbst in der sozialistischen Zeit behielt der 20. August eine Bedeutung: Bewusst wählte man dieses Datum für das Inkrafttreten des neuen ungarischen Grundgesetzes von 1949 und erklärte den 20. August feierlich zum »Tag der Verfassung«.60 Die erste frei gewählte Regierung kehrte 1990 wieder zur ursprünglichen Bedeutung 56 Zur Bollwerkrhetorik siehe Srodecki, Paul: Antemurale Christianitatis. Zur Genese der Bollwerksrhetorik im östlichen Mitteleuropa an der Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, Husum 2015. 57 Magyarország Alaptörvénye [Grundgesetz Ungarns], 2011, S. 10656; Originalwortlaut: »Elismerjük a kereszténység nemzetmegtartó szerepét.« 58 Bereits Papst Innozenz XI. ließ nach der Rückeroberung Budas 1686 den 20. August als Gedenktag feiern. 1771 akzeptierte Maria Theresia den 20. August als landesweiten Feiertag, doch nach dem niedergeschlagenen Freiheitskampf von 1848/49 verbot man in der Habsburgermonarchie für mehr als vierzig Jahre die Erinnerung an den ersten König eines unabhängigen Ungarns. 59 Sinkó, Katalin: Zur Entstehung der staatlichen und nationalen Feiertage in Ungarn (1850– 1991), in: Emil Brix/Hannes Stekl (Hg.): Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa, Wien/Köln/Weimar 1997, S. 251–271, hier S. 261. 60 Sinkó: Zur Entstehung der staatlichen und nationalen Feiertage, S. 266–267; Gyarmati, ­György: A nemzettudathasadás ünnepi koreográfiája. Augusztus 20 fél évszáda [Festliche Choreographie der nationalen Gespaltenheit. Ein halbes Jahrhundert 20. August], in: Mozgó Világ 8 (1995), S. 87–100.

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des 20. August zurück und erklärte ihn – zusammen mit dem 15. März und 23. Oktober – zu einem der drei nationalen Feiertage.61 Diese drei sind auch in der neuen ungarischen Verfassung verankert, wobei der 20. August als offizieller Staatsfeiertag festgeschrieben wurde.62 Einen ebenso zentralen Stellenwert nimmt die bereits erwähnte Heilige Krone im neuen Selbstverständnis der ungarischen Regierung ein, als reale Insignie, als politisches Symbol und als Bildelement auf staatlichen Emblemen.63 Wofür die Stephanskrone konkret steht, wird in der Präambel wie folgt festgehalten: »Wir halten […] die Heilige Krone in Ehren, die die verfassungsmäßige staatliche Kontinuität Ungarns und die Einheit der Nation verkörpert.«64 Die Stephanskrone als Symbol für die territoriale und nationale Einheit des Königreichs Ungarn durchlief eine weit weniger lineare Kontinuität als der Stephanstag und war stark von Konjunkturen geprägt. Seit dem 14. Jahrhundert legten die jeweiligen ungarischen Könige den Treueschwur auf die Krone ab, und auch unter Habsburger Herrschaft ließen sich die meisten Herrscher mit ihr zum König von Ungarn krönen. Nach der Asternrevolution und der Ausrufung der demokratischen Volksrepublik Ungarn im Herbst 1918 hatte man unter Mihály Károlyi die Stephanskrone als Symbol für das Königreich aus dem ungarischen Staatswappen entfernen lassen, woraus sich ergibt, dass die Krone damals eindeutig »als Symbol der Staatsform« gewertet wurde.65 Auf61 Zur Debatte um die nationalen Feiertage nach 1989 siehe auch Krause, Ellen: Nationalismus und demokratischer Neubeginn. Nationale Identität und postkommunistischer Transformationsprozess am Beispiel Ungarns, Neuried 1997, insbesondere S. 161–164; Kovács, Éva: Vom nationalen Mythos zum nationalistischen Alibi. Leben und Sterben der Revolutionsmythen in Ungarn, in: Rudolf Jaworski/Jan Kusber (Hg.): Erinnern mit Hindernissen. Osteuropäische Gedenktage und Jubiläen im 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Münster 2011, S. 241–266. 62 Magyarország Alaptörvénye [Grundgesetz Ungarns], 2011, S. 10658 (Art. J, Abs. 1 und Abs. 2): »Ungarns Nationalfeiertage sind: a) 15. März, zum Gedenken an die Revolution und den Freiheitskampf von 1848–1849; b) 20. August, zum Gedenken an die Staatsgründung und an den Staatsgründer König Stephan I. den Heiligen; c) 23. Oktober, zum Gedenken an die Revolution und den Freiheitskampf von 1956. Der offizielle Staatsfeiertag ist der 20. August«. 63 Zur Symbolik der Stephanskrone siehe u. a. Péter, László: The Holy Crown of Hungary, Visible and Invisible, in: Slavonic and East European Review 81 (2003) 3, S. 421–510; Wakounig, Marija: Die drei Kronen Ostmitteleuropas, in: dies./Wolfgang Müller/Michael Portmann (Hg.): Nation, Nationalitäten und Nationalismus im östlichen Europa, Wien 2010, S. 69–90. 64 Magyarország Alaptörvénye [Grundgesetz Ungarns], 2011, S. 10656; Originalwortlaut: »Tiszteletben tartjuk […] a Szent Koronát, amely megtestesíti Magyarország alkotmányos állami folytonosságát és a nemzet egységét.« 65 Szabó, István: An der Grenze von Demokratie und autoritärem Regime. Charakteristische Merkmale der ungarischen Staatsorganisation in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2014, S. 19.

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grund dieser Verbindungslinie und außenpolitischer Überlegungen hinsichtlich des bevorstehenden Friedensvertrags von Trianon hatte die Regierung unter Horthy anfangs gezögert, die Stephanskrone wieder in das Staatswappen einzufügen. Mit der Regierungsverordnung 2394/1920 vom 18. März 1920 entschied man sich aber doch, sie als Symbol der neu wieder eingeführten Staatsform der Monarchie in das Staatswappen aufzunehmen. Mit dem späteren Kult um die Stephanskrone beabsichtigte das Horthy-Regime unter anderem, dem Irredentismus zur Wiederherstellung der alten historischen Grenzen auch eine symbolische Ausdrucksform zu geben.66 Es ist jedoch an dieser Stelle anzumerken, dass die Bedeutung der Stephanskrone, die selbst einem steten historischen Wandel unterlag, weit komplexer ist. Die Heilige Krone – als selbständiges Subjekt – stand für den ungarischen Staat als Ganzes. Dessen Staatsmacht wurde durch die historische Nation und den König als die beiden zentralen Teile, die das Korpus der Heiligen Krone bilden, getragen.67 Unmittelbar nach dem Systemwechsel von 1989 war man sich der Haltung gegenüber der Stephanskrone noch nicht ganz sicher. In der Fassung des Grundgesetzes vom 23. Oktober 1989 war das neue Staatswappen der Republik noch nicht geregelt worden, doch mit dem Gesetzesartikel XLIV/1990 entschied man sich schließlich für das Staatswappen mit Stephanskrone.68 Im Jahr 2000 beabsichtigte die damals amtierende nationalkonservative Regierungskoalition unter Viktor Orbán, den Satz »Die Heilige Krone symbolisiert die Einheit des ungarischen Staates« gesetzlich festschreiben zu lassen. Doch die Ungarische Akademie der Wissenschaften sowie das Verfassungsgericht gaben damals der Opposition Recht, wonach die Heilige Krone keine »öffentlich-rechtliche Funktion« in einer Republik habe.69 Hingegen wurde vom Parlament beschlossen, im Rahmen der umfangreichen Millenniumsfeierlichkeiten zur »1000-jährigen Staatsgründung Ungarns« die Stephanskrone am 1. Januar 2000 vom Nationalmuseum ins Parlament zu überführen. Im Jahr 2011 schaffte es die Stephanskrone schließlich in die ungarische Verfassung; wer die Heilige Krone ver-

66 Ebd., S. 20. 67 Siehe dazu ausführlich: Máthé, Gábor: Die Bedeutung der Lehre von der Heiligen Stephanskrone für die ungarische Verfassungsentwicklung, Budapest 2006. 68 A Magyar Köztársaság Alkotmánya [Grundgesetz der ungarischen Republik], modifizierte Fassung vom 3. Juli 1990, Art. 76, Abs. 2, abrufbar über: http://www.verfassungen.eu/hu/ verf49-89.htm [20.08.2019]. 69 Péter: The Holy Crown of Hungary, S. 422–423, 504.

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unglimpft, wird seit 2012 auf der Grundlage des überarbeiteten ungarischen Strafgesetzbuches »mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr bestraft«.70 Gegen die verstärkte Hervorhebung der Stephanskrone werden seit Jahren auch in den Nachbarstaaten Bedenken angemeldet, denn die Krone als Symbol für die »staatliche Kontinuität Ungarns« und die »Einheit der Nation« kann durchaus als Hinweis auf das Staatsgebiet des einstigen Königreichs, auf die »Länder der Stephanskrone«, verstanden werden, das immerhin die ganze Slowakei, Teile Rumäniens, Serbiens, Kroatiens und der Ukraine umfasste. Horthy-Nostalgie, die deutsche Besatzung von 1944 und der Holocaust Mit der wiederholten Betonung der herausragenden Rolle der Stephanskrone greift die gegenwärtige ungarische Regierung auf eine Tradition zurück, die zuletzt in der Horthy-Ära intensiv gepflegt worden war. Obwohl in der Präambel der neuen ungarischen Verfassung nicht explizit erwähnt, wird implizit auf die Ära unter Reichsverweser Miklós Horthy referenziert, wenn im Text festgehalten wird: »Für uns gilt die Wiederherstellung der am neunzehnten März 1944 verloren gegangenen staatlichen Selbstbestimmung unserer Heimat ab dem zweiten Mai 1990, von der Bildung der ersten frei gewählten Volksvertretung an.«71 Die Zwischenkriegsjahre von 1920 bis 1944 unter Horthy werden als wichtige Epoche der »staatlichen Selbstbestimmung« und nationalstaatlichen Eigenständigkeit Ungarns angesehen. Horthy hatte sich nach dem Zusammenbruch der ungarischen Räterepublik im August 1919 nicht nur an die Spitze der antikommunistischen Bewegung gestellt, sondern Ungarn in den 1930er Jahren – mit Unterstützung seiner Allianzpartner Italien und Deutschland – wieder zu einer gewissen Größe verholfen. Diese Geschichtsauffassung zeigt sich in zahlreichen geschichtspolitischen Initiativen der Orbán-Regierungen und in Äußerungen regierungsnaher Historikerinnen und Historiker. So beurteilt Mária Schmidt in einem Artikel die Zwischenkriegszeit und die Rolle Horthys wie folgt: 70 Büntető Törvénykönyv [Strafgesetzbuch], 2012, Art. 334. Originalwortlaut: »Aki nagy nyilvánosság előtt Magyarország himnuszát, zászlaját, címerét vagy a Szent Koronát sértő vagy lealacsonyító kifejezést használ, illetve azokat más módon meggyalázza, ha súlyosabb bűncselekmény nem valósul meg, vétség miatt egy évig terjedő szabadságvesztéssel büntetendő.« 71 Magyarország Alaptörvénye [Grundgesetz Ungarns], 2011, S. 10657 (Präambel); Originalwortlaut: »Hazánk 1944. március tizenkilencedikén elveszített állami önrendelkezésének visszaálltát 1990. május másodikától, az első szabadon választott népképviselet megalakulásától számítjuk.«

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Das »Königreich ohne König« spielte eine wichtige konsolidierende Rolle im ungarischen politischen Leben zwischen den beiden Weltkriegen. Das Zukunftsbild des »Trianon-Ungarns« richtete sich auf die Rekonstruierung der Vergangenheit: auf die friedlich herbeizuführende territoriale Revision und auf die Neuerschaffung der glückseligen und friedlichen Verhältnisse der »k.u.k.« Zeit. Dabei stand an Ungarns Spitze in der Person des Reichsverwesers Miklós Horthy zwischen 1920 und 1944 ein legitimes Staatsoberhaupt.72 Dieses friedliche Idyll wurde, gemäß diesem Geschichtsverständnis, jäh von der deutschen Besatzung Ungarns am 19. März 1944 und der Installierung der nationalsozialistischen Pfeilkreuzler-Regierung unterbrochen. In diesem Lichte betrachtet erscheinen die ungarische Beteiligung am Zweiten Weltkrieg an der Seite Nazideutschlands und der Holocaust an Ungarns Jüdinnen und Juden wie ein aufgezwungenes, deutsches »Importprodukt«. Erst die »Besetzung durch fremde Mächte«, namentlich die »nationalsozialistischen und kommunistischen Diktaturen«, so die Präambel, habe zu »unmenschlichen Verbrechen gegen die ungarische Nation und ihre Bürger« geführt.73 Mit dieser Darstellung verfolgt die gegenwärtige Regierung eine Geschichtspolitik, die die verübten Gewalttaten als Verbrechen fremder Mächte sieht. Aus historiografischer Sicht ist diese Betrachtung der ungarischen Geschichte nicht nur problematisch, sondern entspricht auch in keiner Weise dem aktuellen Forschungsstand. Unerwähnt bleibt, dass Horthy bereits sehr früh die Nähe zu Nazideutschland suchte, stets in der Hoffnung, dass das Land mit diesem starken Bündnispartner an der Seite jene durch den Friedensvertrag von Trianon verlorenen Gebiete zurückgewinnen könne, um das Königreich der Stephanskrone in seinen historischen Grenzen wiederherzustellen.74 Die Nähe zu Deutschland ließen in der Tat einen Teil der revisionistischen und irredentistischen Träume in 72 Schmidt, Mária: Ungarn zwölf Jahre nach 1918, nach 1945 und nach 1989, in: Hans-Joachim Veen (Hg.): Nach der Diktatur. Demokratische Umbrüche in Europa – zwölf Jahre später, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 85–99, hier S. 89. 73 Magyarország Alaptörvénye [Grundgesetz Ungarns], 2011, S. 10656 (Präambel); Originalwortlaut: »Nem ismerjük el történeti alkotmányunk idegen megszállások miatt bekövetkezett felfüggesztését. Tagadjuk a magyar nemzet és polgárai ellen a nemzetiszocialista és kommunista diktatúrák uralma alatt elkövetett embertelen bűnök elévülését.« 74 Dazu: Kovács-Bertrand, Anikó: Der ungarische Revisionismus nach dem Ersten Weltkrieg. Der publizistische Kampf gegen den Friedensvertrag von Trianon (1918–1931), München 1997; Zeidler, Miklós: Ideas of Territorial Revision in Hungary, 1920–1945, Boulder, CO 2007; Romsics, Ignác: Hungarian Revisionism in Thought and Action, 1920–1941. Plans, Expec-

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Erfüllung gehen: Im November 1938 annektierte Ungarn infolge des Ersten Wiener Schiedsspruches große Teile der Südslowakei und grenznahe Gebiete in den östlichen Karpaten, im März 1939 nahm es schließlich die gesamte Karpatho-­ Ukraine in Besitz. Infolge des Zweiten Wiener Schiedsspruches vom August 1940 erhielt Ungarn schließlich Nordsiebenbürgen von Rumänien zurück. Im Gegenzug beteiligte sich Ungarn an den deutschen Feldzügen und Kriegsverbrechen gegen Jugoslawien und die Sowjetunion.75 Ein ebenso dunkles Kapitel der Horthy-Ära umfasst die »Judengesetze«. Das erste antijüdische Gesetz – der Numerus clausus, der jüdischen Studierenden den Zugang zur Universität erschwerte – wurde unter Horthy bereits 1920 erlassen, wodurch Ungarn damals, in den Worten der Horthy-Regierung, »der erste Staat [Europas] war, der im Jahre 1920 durch staatliche Maßnahmen die freie Entfaltung des jüdischen Einflusses eingeschränkt hat«.76 Der Antisemitismus in Ungarn begann folglich keineswegs erst 1944 mit der deutschen Besatzung, sondern zeigte gerade während des »weißen Terrors« 1919 und 1920 unter Horthy sein erbarmungsloses Gesicht.77 Die ungarische Räterepublik als vermeintlich »judeo-bolschewistisches« Unterfangen sowie die antisemitischen tations, Reality, in: Marina Cattaruzza/Stefan Dyroff/Dieter Langewiesche (Hg.): Territorial Revisionism and the Allies of Germany in the Second World War. Goals, Expectations, Practices, New York/Oxford 2013, S. 92–101. 75 Braham, Randolph L.: The Kamenets Podolsk and Délvidék Massacres: Prelude to the Holo­ caust in Hungary, in: Yad Vashem Studies 9 (1973) S. 133–156; Deák, István: The Worst of Friends: Germany’s Allies in East Central Europe – Struggles for Regional Dominance and Ethnic Cleasing, 1938–1945, in: Cattaruzza/Dyroff/Langewiesche (Hg.): Territorial Revisionism, S. 17–29. 76 Aufzeichnung des ungarischen Außenministeriums für die deutsche Regierung vom 16. April 1943, abgedruckt in: Magda Ádám/Gyula Juhász/Lajos Kerekes (Hg.): Allianz Hitler–Horthy– Mussolini. Dokumente zur ungarischen Außenpolitik 1933–1944, Budapest 1966, S. 335–346 (Dokument 118), hier S. 344. Zur Geschichte des antijüdischen Numerus-clausus-Gesetzes siehe u. a. Karady, Victor: Different Experiences of Modernization and the Rise of Antisemitism. Socio-Political Foundations of the numerus clausus (1920) and the »Christian Course« in Post World War I Hungary, in: transversal 4 (2003) 2, S. 3–34; Kovács, Mária M.: Törvénytől sújtva: A Numerus Clausus Magyarországon 1920–1945 [Vom Gesetz betroffen: Der Numerus Clausus in Ungarn 1920–1945], Budapest 2012. 77 Zur Geschichte des ungarischen Antisemitismus siehe: Fischer, Rolf: Entwicklungsstufen des Antisemitismus in Ungarn 1867–1939. Die Zerstörung der magyarisch-jüdischen Symbiose, München 1988. Zum »weißen Terror« unter Horthy siehe Kádár, Gábor/Vági, Zoltán: Törvényen kívül. Fehérterror és lakossági pogromhullám 1919–1921 [Außerhalb des Gesetzes. Weißer Terror und Pogromwelle 1919–1921], http://konfliktuskutato.hu/index.php?­option=com_co ntent&view=article&id=146:toervenyen-kivuel-feherterror-es-lakossagi-pogrom­hullam-19191921-&catid=15:tanulmanyok [20.02.2019]; Bodó, Béla: The White Terror. Antisemitic and Political Violence in Hungary, 1919–1921, Abingdon/Oxon/New York 2019.

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Gewaltexzesse in der Zeit danach wirkten als Erfahrung und Erinnerung bis zum Zweiten Weltkrieg in die ungarische »Judenpolitik« hinein.78 Ab 1938 wurde eine ganze Serie an »Judengesetzen« eingeführt, die nun deutlich Züge der Nürnberger Rassengesetze trugen und die stufenweise Ausgrenzung und Entrechtung der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger bezweckten. Entgegen den Wünschen der deutschen Regierung weigerte sich Ungarn allerdings anfangs noch, seine jüdische Bevölkerung zu deportieren. Diese Grundhaltung änderte sich im Frühling 1943, also bereits knapp ein Jahr vor der deutschen Besatzung, als Horthy in einem Schreiben an Adolf Hitler bestätigte: »Maßnahmen zur allmählichen Ausschaltung der Juden sind im Gange und sobald die Möglichkeit ihrer Abtransportierung geschaffen sein wird, werden wir sie durchführen.«79 Zur konkreten Umsetzung kam es, als sich nach der deutschen Besetzung vom 19. März 1944 der neue von Horthy eingesetzte Ministerpräsident Döme Sztójay (März–August 1944) aktiv am Holocaust beteiligte. Die Deportationen jüdischer Ungarn nach Auschwitz begannen am 15. Mai 1944 und hielten bis 9. Juli 1944 an, als Horthy – auf internationalen Druck hin – die Transporte stoppen ließ und die jüdische Bevölkerung von Budapest damit weitgehend verschonte. Doch weit über 400.000 jüdische Ungarinnen und Ungarn waren bereits in diesem monströsen »Holocaust nach dem Holocaust«80 unter ungarischer Mithilfe ermordet worden. Die in der Präambel der Verfassung erwähnte »verloren gegangene staatliche Selbstbestimmung« ab März 1944 enthebt Ungarn einer Verantwortung für die Gräueltaten, indem die Verbrechen externalisiert und die Ära Horthy gleichzeitig idealisiert wird. Dieses Geschichtsbild der Präambel spiegelt sich deckungsgleich im Narrativ des staatlich finanzierten Geschichtsmuseums Haus des Terrors wieder. Man könnte sagen, das Museum visualisiert die Präambel. Das Gebäude, in dem das Museum 2002 eröffnet wurde, ist in sich bereits ein 78 Richers, Julia/Fritz, Regina: Der Vorwurf des »Judeo-Bolschewismus« und die Folgen der Räterepublik für die jüdische Gemeinschaft in Ungarn, in: Christian Koller/Matthias Marschik (Hg.): Die ungarische Räterepublik 1919. Innenansichten – Außenperspektiven – Folgewirkungen, Wien 2018, S. 155–166. 79 Schreiben von Miklós Horthy an Adolf Hitler vom 7. Mai 1943, abgedruckt in: Ádám/Juhász/ Kerekes (Hg.): Allianz Hitler–Horthy–Mussolini, S. 351–357 (Dokument 120), hier S. 351. 80 Gerlach, Christian/Aly, Götz: Das letzte Kapitel. Der Mord an den ungarischen Juden, Stuttgart/München 2002, S. 11. Die Entwicklung der Holocaust-Geschichtsschreibung seit 1989 lässt sich im ungarischen Fall eindrücklich nachzeichnen anhand der Publikationen: Braham, Randolph L./Pók, Attila (Hg.): The Holocaust in Hungary. Fifty Years Later, New York 1997; Braham, Randolph L./Chamberlin, Brewster S. (Hg.): The Holocaust in Hungary. Sixty Years Later, New York 2006; Braham, Randolph L./Kovács, András (Hg.): The Holocaust in Hungary. Seventy Years Later, Budapest/New York 2016.

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ungarischer lieu de mémoire. In diesem Stadtpalais an der noblen Andrássy-­ Straße 60 befand sich zwischen 1937 und 1945 die Zentrale der ungarischen Pfeilkreuzler. Nach dem Zweiten Weltkrieg quartierte sich hier bis 1956 der kommunistische Staatssicherheitsdienst (Államvédelmi Hatóság, ÁVH) ein. Die vormalige Präsenz beider Unrechtsregime prädestinierte dieses Gebäude dazu, ein Ort der historischen Auseinandersetzung mit beiden Terrorregimen zu werden. Dies war zumindest der vordergründige Anspruch des von Mária Schmidt konzipierten und von Orbán eröffneten Museums. Doch bereits die Raumaufteilung des Museums spricht Bände: Gerade einmal zwei kleine Räume des Museums sind der Pfeilkreuzler-Zeit gewidmet, während 25 große Räume die kommunistische Ära thematisieren. Es ist äußerst bezeichnend, dass der Ausstellungsrundgang erst mit der Machtergreifung der Pfeilkreuzler am 15. Oktober 1944 beginnt. Damit wird – wie in der Präambel auch – die gesamte Horthy-Ära ausgeblendet. Im publizierten Ausstellungskatalog liest man dazu lediglich: Bis zur Besetzung Ungarns durch die Nazis am 19. März 1944 standen an der Spitze des Landes ein gewähltes, legitimes Parlament und eine eben solche Regierung, oppositionelle Parteien waren legal tätig […]. Die ungarischen Bürger lebten besser und freier als ihre Nachbarn.81 Zu dieser vermeintlich gewaltfreien Idylle der Horthy-Ära gehörten auch »die Bemühungen zur friedlichen Verwirklichung der Gebietsrevision und zur Wiederherstellung des historischen Ungarn«.82 Der Terror kam gemäß diesem Geschichtsbild erst mit dem Einmarsch der Deutschen im März 1944. Er war somit ein Fremdimport, etwas Unungarisches. In den beiden karg beschilderten Räumen findet sich keine Erwähnung dessen, dass die nationalsozialistische Pfeilkreuzler-Partei bereits 1939 zweitstärkste Partei Ungarns war, ihr unmiss81 Schmidt, Mária (Hg.): Terror Háza. Haus des Terrors (Ausstellungskatalog), Budapest 2003, S. 6–7. 82 Schmidt (Hg.): Terror Háza, S. 6. Für eine kritische Evaluation des Museums siehe auch Csillag, Gábor: »Little House of Terrors«. The Premises and Practices of the »House of Terror« Museum, Budapest, in: transversal 3 (2002) 1, S. 18–46; Ungváry, Krisztián: Orte der Erinnerung an kommunistische Verbrechen. Das »Haus des Terrors« und der »Zentralfriedhof«, in: Matthias Weber/Burkhard Olschowsky/Ivan A. Petranský/Attila Pók (Hg.): Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Erfahrungen der Vergangenheit und Perspektiven, München 2011, S. 219–233; Kiss, Csilla: Divided Memory in Hungary. The House of Terror and the Lack of a Left-wing Narrative, in: Simona Mitroiu (Hg.): Life Writing and Politics of Memory in Eastern Europe, Basingstoke 2015, S. 242–259.

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verständliches Programm also auf große Zustimmung in der ungarischen Bevölkerung stieß.83 Die Externalisierung der Verbrechen an der jüdischen Landesbevölkerung findet heute auch räumlich-topografisch statt: Da der Holocaust nur marginal bis gar nicht im offiziellen Haus des Terrors Eingang fand, wurde 2004 das Holocaust-Gedenkzentrum in der Páva utca eingerichtet. Die Separiertheit der Geschichtsdiskurse und die Unvereinbarkeit der Erinnerungskulturen finden ihre Fortschreibung in einem weiteren Geschichtsprojekt der Regierung, dem Haus der Schicksale (Sorsok Háza), dessen Gebäude bereits 2015 errichtet worden war, aber wegen massiver Kritik an dem von Mária Schmidt entworfenen Ausstellungskonzept bis heute nicht eröffnet worden ist. Die Externalisierung der Verbrechen zeigt sich auch an dem höchst umstrittenen, 2014 nachts errichteten, aber nie offiziell eingeweihten Denkmal zur deutschen Besatzung von 1944 am Szabadság tér im Zentrum von Budapest (Abb. 1). Das umstrittene Denkmal wurde rasch von zivilgesellschaftlicher Seite durch persönliche Gegenerinnerungen vor Ort gekontert.84 Für die Jahre vor 1944 unter Miklós Horthy hegt die gegenwärtige Regierung nachweislich »nostalgische Gefühle«, obwohl sie gemäß András Bozóki »keine Absicht artikuliert, dorthin zurückzukehren«.85 Gleichzeitig hinterlässt die zunehmende Idealisierung der Horthy-Ära nicht nur in Reden und Schriften, sondern auch im öffentlichen Raum durchaus deutliche Spuren. So fällte die Nationalversammlung im Juli 2011 den Beschluss, den zentralen Kossuth-Lajos-Platz vor dem ungarischen Parlament in seinem »künstlerischen Erscheinungsbild von vor 1944 wiederherzustellen« und ihn zur »herausragenden nationalen Gedenkstätte« zu erklären.86 Die Konsequenzen dieses Beschlusses waren massiv und bedeuteten die rigorose Entfernung nahezu aller Denkmäler, die nach 1944 errichtet und als unerwünschte Relikte kommunistischer Herrschaft gedeutet wurden. Über die entstandenen Leerstellen wurde 83 Zum Erdrutschsieg der ungarischen Pfeilkreuzlerpartei (Nyilaskeresztes Párt, NYKP) siehe Szöllösi-Janze, Margit: Die Pfeilkreuzlerbewegung in Ungarn. Historischer Kontext, Entwicklung und Herrschaft (Studien zur Zeitgeschichte; 35), München 1989, S. 153. 84 Vgl. Fritz, Regina: Persönliche Holocaust-Erinnerungen auf Facebook. (Private) Gegenerzählungen in Ungarn im Kontext des Holocaust-Gedenkjahres 2014, in: Zeitgeschichte 43 (2016) 4, S. 233–249. 85 Bozóki: Autoritäre Versuchung, S. 82. 86 Országgyűlés határozata 61/2011. (VII.13.) »A budapesti Kossuth Lajos tér rekonstrukciójáról« [Parlamentsbeschluss 61/2011 vom 13. Juli 2011 »Über die Rekonstruktion des Budapester Kossuth Lajos-Platzes«], abgedruckt in: Magyar Közlöny, Nr. 80 vom 13. Juli 2011, S. 23086– 23087, hier S. 23087 (Abs. 2.e).

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Abb. 1: Das umstrittene Denkmal zur deutschen Besatzung von 1944 wurde rasch durch private Gegenerinnerungen vor Ort konterkariert und umgedeutet (Foto: Julia Richers, September 2018).

nicht öffentlich verhandelt, sondern eine eigens eingerichtete Kommission für die herausragende nationale Gedenkstätte (Kiemelt Nemzeti Emlékhely Bizottság, KNEB) hat darüber zu wachen, dass das Erscheinungsbild des Platzes, wie es vor 1944 unter Horthy existierte, wiederhergestellt wird.87 Einige Oppositionspolitiker warnten gerade vor dieser historischen Anleihe und betonten, dass »die Ära vor 1944 nicht unser Ideal sein kann«, nicht zuletzt da »viele Parlamentsbeschlüsse der damaligen Zeit« – gemeint waren unter anderem die »Judengesetze« unter Horthy – »für das 21. Jahrhundert inakzeptabel« seien.88 Die Grundsatzkritik blieb ungehört, und seit 2012 wurden mit viel Aufwand fast alle Statuen aus der Zeit vor 1944 rekonstruiert. Dazu zählen fast ausschließlich Statuen, die erst unter Horthy überhaupt auf dem Kossuth-­LajosPlatz errichtet wurden, wie etwa das Kossuth-Denkmal aus dem Jahre 1927, das Reiterdenkmal für Ferenc II. Rákóczi aus dem Jahre 1937 sowie die monumen87 Der Kommission gehören László Kövér, amtierender Präsident des ungarischen Parlaments, János Halász als Vertreter des Kulturministeriums, Sándor Szakály, Direktor des Veritas-­ Instituts sowie Tamás Wachsler als Vertreter des Kulturausschusses der Nationalversammlung und Leiter des Steindl-Imre-Programms zur Rekonstruktion des Parlamentsplatzes, an. 88 Parlamentsdebatte vom 29. Juni 2011 zur geplanten Rekonstruktion des Kossuth Lajos-Platzes (106. Sitzung, 8. Redebeitrag: Sándor Burány, MSZP), einsehbar unter: https://www.parlament.hu/orszaggyulesi-naplo-elozo-ciklusbeli-adatai [20.02.2019].

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tale Statue für den umstrittenen Ministerpräsidenten István Tisza aus dem Jahr 1938. Neu hinzugefügt werden soll im Jahr 2020 eine großflächige Trianon-­ Gedenkstätte in der angrenzenden Alkotmány utca. In der augenfälligen Nos­ talgie für die Horthy-Ära spiegelt sich vor allem ein unkritischer Umgang mit dem einstigen Reichsverweser und seiner Politik.89 Als Historiker der Ungarischen Akademie der Wissenschaften den Auftrag erhielten, im Zusammenhang mit der geplanten Umbenennung von Straßen und Plätzen, die an eines der Unrechtsregime des 20. Jahrhunderts erinnern könnten, auch die Person Horthy zu beurteilen, hielten sie in ihrem Abschlussbericht fest: Die Beurteilung seiner Persönlichkeit und seiner Tätigkeit sowie des politischen Systems, das seinen Namen trägt, spaltet sowohl die Öffentlichkeit als auch die ungarische Geschichtswissenschaft. […] Unter Einbeziehung dieser Aspekte wird jenen Stadtverwaltungen, die einen öffentlichen Raum nach Miklós Horthy benennen wollen, empfohlen, ihre Entscheidungen so lange aufzuschieben, bis ein geschichtlicher und gesellschaftlicher Konsens über die Beurteilung seiner Person, seiner Politik und seiner Ära entsteht.90

Abrechnung mit der kommunistischen Ära Während die Horthy-Ära weitgehend als goldenes Zeitalter und positiver Referenzpunkt dargestellt wird, brachte aus der Perspektive der gegenwärtigen Regierung die sowjetische Besatzung und die Errichtung einer kommunistischen Herrschaft das wirklich große Leid über die ungarische Nation. Der Antikommunismus, der nicht nur der vierzigjährigen kommunistischen Ära des Landes, sondern auch der gegenwärtigen sozialistischen Partei gilt, gehört zum 89 Vgl. dazu Kovács, Mária M.: Holocaust-Gedenkjahr und Horthy-Rehabilitierung, in: Europäische Rundschau 42 (2014) 1, S. 33–44; Laczó, Ferenc: Caught Between Historical Responsibility and the New Politics of History: On Patterns of Hungarian Holocaust Remembrance, in: Mitroiu (Hg.): Life Writing and Politics of Memory, S. 185–201; Kovács, Éva: Overcoming History through Trauma. The Hungarian Historikerstreit, in: European Review 24 (2016) 4, S. 523–534. 90 Összefoglaló a XX. századi önkényuralmi rendszerekhez köthető elnevezésekkel összefüggő szakmai vizsgálatról [Zusammenfassung über die fachliche Überprüfung der Bezeichnungen in Zusammenhang mit den diktatorischen Regimes des 20. Jahrhunderts], erstellt von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, http://mta.hu/data/dokumentumok/hatteranyagok/akademiai_szabalyozasok/osszefoglalalo__XX._szazadi_onkenyuralmi_rendszerek_b.pdf [30.03.2019], hier zitiert nach Fritz: Die politische Besetzung, S. 56–57.

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Grundkonsens der Regierungspolitik unter Viktor Orbán. Die Abrechnung mit der kommunistischen Geschichte des Landes kommt in Reden, in Museen wie dem Haus des Terrors, in Denkmalinitiativen und auch in der Präambel der neuen ungarischen Verfassung deutlich zum Ausdruck. Aufgrund der unüberschaubaren Fülle an Material zum Thema wird im Folgenden vor allem die Reinterpretation des Volksaufstands von 1956 und Imre Nagys Rolle im Fokus stehen, da beide während der »Wende« von 1989 die wichtigsten historischen Bezugspunkte darstellten. Der Volksaufstand von 1956 gilt gemeinhin als Schlüsselmoment der ungarischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Auch ein Absatz der Präambel hebt seine herausragende Rolle für das heutige Selbstverständnis des Landes hervor. So ist zu lesen: »Wir stimmen mit den Abgeordneten des ersten freien Parlaments überein, […] dass unsere heutige Freiheit unserer Revolution von 1956 entsprungen ist.«91 Die Politik – von links bis rechts – war je nach Agenda in den letzten dreißig Jahren durch eine selektive Deutung und Vereinnahmung der historischen Ereignisse bestrebt, sich zu den einzig wahren Erben der Revolution zu erklären, und hat dabei sehr unterschiedliche Aspekte des Volksaufstands hervorgehoben.92 So spielt die gegenwärtige Regierung herunter, dass dieser vermeintlich antikommunistische Volksaufstand eigentlich als reformkommunistischer Protest gegen das stalinistische System, den Terror und die Stagnation begonnen hatte. Imre Nagy, die hingerichtete Gallionsfigur des Aufstandes, war ein überzeugter Reformkommunist gewesen, der glaubte, durch die Einführung eines Mehrparteiensystems und den Austritt aus dem Warschauer Pakt ließe sich der Kommunismus reformieren. Unter Orbán wird der Aufstand jedoch weitgehend als nationaler Kampf gegen den Kommunismus und als Beweis für den ungarischen Antikommunismus dargestellt.93 Diese Deutung, die auch die historische Rolle des hingerichteten Ministerpräsidenten nicht mehr gelten lässt, tritt unter anderem in den Publikationen Mária Schmidts hervor, die sich äußerst intensiv in die Debatten um das Erbe 91 Magyarország Alaptörvénye [Grundgesetz Ungarns], 2011, S. 10656; Originalwortlaut: »Egyetértünk az első szabad Országgyűlés képviselőivel, […] hogy mai szabadságunk az 1956-os forradalmunkból sarjadt ki.« 92 Vgl. Machos, Csilla: Wem gehört »1956«? Die Auseinandersetzungen der Parteien im postsozialistischen Ungarn um Erbe und Erben der Revolution, in: Petra Bock/Edgar Wolfrum (Hg.): Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerung und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, Göttingen 1999, S. 114–142. 93 Dabei bleibt unerwähnt, dass sich unter jenen Antikommunisten auch viele undemokratische Kräfte befanden. Dazu ausführlich Ungváry: Der Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit, S. 214.

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von »1956« und eine antikommunistische Reinterpretation einbringt. In ihrem Artikel zur Denkmälerlandschaft in Ungarn kritisiert sie, dass die »nach der siegreichen antikommunistischen Revolution von 1989 im Jahr 1994 an die Macht zurückgekehrten Postkommunisten« zwei Jahre später, also im Jahr 1996, auf dem zentral gelegenen Platz der Märtyrer (Vértanúk tere) in unmittelbarer Nähe zum ungarischen Parlament ein Denkmal für Imre Nagy aufstellen ließen (Abb. 2). Ihre Kritik begründet Schmidt damit, dass der hingerichtete Ministerpräsident zwar durch seinen Tod »zum Helden der Revolution« geworden sei, dass er »jedoch in Anbetracht seines Lebenslaufes ohne Zweifel zu den gnadenlosen Gestaltern der Diktatur« gehört habe.94

Abb. 2: Das Ende Dezember 2018 trotz breiter Proteste entfernte Nagy-Denkmal auf dem Budapester Platz der Märtyrer vor dem ungarischen Parlament. In den Monaten zuvor fanden am Denkmal regelmäßig zivilgesellschaftliche Protestaktionen statt (Foto: Julia Richers, ­September 2018).

Ähnliche Argumente wurden im Juni 2017 im ungarischen Parlament ausgetauscht, als es darum ging, ob die bereits erwähnte umfangreiche Rekon­ struktion des Kossuth-Lajos-Platzes nicht auch auf den nahegelegenen Platz der Märtyrer ausgeweitet werden sollte.95 Als Resultat wurde in der Nacht vom 27. auf den 28. Dezember 2018 das beliebte Nagy-Denkmal – trotz breiter Proteste – 94 Schmidt: Denkmälerlandschaft, S. 136. 95 Parlamentsdebatte vom 30. Mai 2017 zum Parlamentsareal als herausragende »nationale Gedenkstätte« (229. Sitzung, 107.–122. Redebeiträge), einsehbar unter: https://www.parlament. hu/orszaggyulesi-naplo-2014–2018 [20.02.2019].

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demontiert und abtransportiert, um es etwas außerhalb des Stadtzentrums auf dem Jászai Mari tér nahe der Margitbrücke wieder aufzustellen. Damit machte man den Platz frei, um eine Kopie des von 1934 bis 1945 dort befindlichen Denkmals für die Nationalen Märtyrer (Nemzeti Vértanúk emlékműve) wieder zu errichten, das an die Opfer des »roten Terror« von 1918/19 erinnerte. Dieses Denkmal war von der konterrevolutionären Organisation Weißes Haus (Fehér Ház) gestiftet worden, die erstmals im August 1919 Bekanntheit erlangte, als sie in einem Putsch die Regierung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Gyula Peidl stürzte. Die Organisation ging aus der Geheimgesellschaft Magyar Társaság (Ungarische Gesellschaft) hervor, die 1916 vom überzeugten Antisemiten András Csilléry gegründet worden war, um die »ungarische Vorherrschaft über den jüdischen Extremismus« zu sichern.96 Angesichts dieses historischen Hintergrunds und der Tatsache, dass die Opferzahlen des »weißen Terrors« jene des »roten Terrors« bei weitem überstiegen, ist die für Mai 2020 geplante, auf zeitgenössischen Fotografien und Dokumenten basierende Rekonstruktion des Märtyrerdenkmals hochproblematisch.97 Der Austausch des Nagy-Denkmals durch das konterrevolutionäre Denkmal für die Nationalen Märtyrer zeigt paradigmatisch, welchen Weg die Geschichtspolitik unter Viktor Orbán seit den 1990er Jahren eingeschlagen hat. Im Juni 1989 waren Imre Nagy und seine Wiederbestattung der Ausgangspunkt von Viktor Orbáns steiler politischer Karriere gewesen. Dreißig Jahre nach der »Wende« lässt er das Denkmal Nagys aus dem Sichtfeld des Parlamentes entfernen. Eine ähnliche Verschiebung und Umwidmung ist derzeit mit der Inkorporierung des renommierten 1956er Instituts (1956-os Intézet) in das von der Orbán-­ Regierung gegründete Geschichtsforschungsinstitut Veritas im Gange.98 Durch 96 Balogh, Eva S.: István Friedrich and the Hungarian Coup d’État of 1919. A Reevaluation, in: Slavic Review 35 (1976) 2, S. 269–286, hier S. 275. 97 Zum Austausch des Nagy-Denkmals durch das Märtyrerdenkmal siehe das Interview mit dem zuständigen Leiter Tamás Wachsler, https://www.valaszonline.hu/2019/01/21/wachsler-tamas-nagy-imre-szobor-nemzeti-vertanuk-emlekmuve [20.02.2019]. Zum »roten« und »weißen Terror« siehe Bodó, Béla: The White Terror. Antisemitic and Political Violence in Hungary, 1919–1921, Abingdon/Oxon/New York 2019; Bodó, Béla: Memory Practices. The Red and White Terrors in Hungary as Remembered after 1990, in: East Central Europe 44 (2017), S. 186–215. 98 Gemäß eigenen Angaben beschäftigt sich das regierungsnahe Institut vornehmlich mit dem »Überdenken und Durchdenken« jener drei Epochen des 20. Jahrhunderts, die »von bestimmender Bedeutung in der Geschichte der ungarischen Nation« seien und die »nicht wenig Diskussionen auslösen und vermutlich niemals ein für alle annehmbares, konsensuelles Ergebnis bringen«. Diese drei Epochen sind die Jahre der Doppelmonarchie von 1867 bis 1918, Trianon als »die größte Tragödie Ungarns im 20. Jahrhundert« sowie die kommunistische

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diese Strategie, die gegen den Willen der Mitarbeitenden des 1956er Instituts durchgesetzt wird, gerät eine Vielzahl regierungskritischer Historikerinnen und Historiker unter Druck. Die Liste unabhängiger historischer Forschungsinstitutionen wird zunehmend kleiner.

Die neuen Koordinaten ungarischer Geschichtspolitik Dreißig Jahre nach der »Wende« wurden die historischen Bezugspunkte, die für Ungarn als identitätsstiftend und wichtig empfunden werden, grundlegend verschoben. Hatte man 1989/90 noch »Europa« und den Liberalismus gefeiert, ist mit der gegenwärtigen Regierung ein Weg eingeschlagen worden, auf dem diese Werte als weitgehend »unungarisch« umgedeutet und stattdessen eine europakritische, rechtskonservative, national(istisch)e, illiberale und antikommunistische Haltung eingenommen wird. Dieser Selbstzuschreibung liegt keine zufällige Ansammlung von Attributen zugrunde, sondern sie spiegelt das historische Vorbild – die Jahre der Eigenstaatlichkeit Ungarns unter Miklós Horthy zwischen 1920 und 1944 – wider, der seiner Politik gerne die gleichen Eigenschaften zuschrieb. Für die Zeit davor und danach wird Ungarn als ewiges Opfer fremder Mächte – namentlich der Osmanen, Habsburger, Nationalsozialisten, der Kommunisten und neuerdings des internationalistischen »homo brüsselius«99 – dargestellt. Das Opfernarrativ ist ein konstantes Leitmotiv der geschichtspolitischen Umdeutung der ungarischen Geschichte. Dazu passt die mittlerweile unüberschaubare Zahl an »Opfer«-Denkmälern, die in Ungarn in den letzten Jahren errichtet worden sind, wobei jene, die an die Opfer des Kommunismus erinnern, jene für die Opfer des Nationalsozialismus bei weitem übersteigen.100 Ära nach 1945. Ziel der Veritas-Mitarbeitenden sei es, mit ihren Forschungsergebnissen eine »Stärkung des ungarischen Identitätsbewusstseins« und die Aufnahme in die Curricula des Unterrichtswesens herbeizuführen. Die Angaben sind der Einstiegsseite der Institutshomepage entnommen: http://www.veritasintezet.hu/de [20.02.2019].  99 Orbán, Viktor: Beszéd az 1956. évi forradalom és szabadságharc 61. évfordulóján [Rede zum 61. Jahrestag der Revolution und des Freiheitskampfes von 1956], 23. Oktober 2017, abrufbar über die offizielle Website des ungarischen Ministerpräsidenten: http://www.miniszterelnok. hu/orban-viktor-unnepi-beszede-az-1956-evi-forradalom-es-szabadsagharc-61-evfordulojan [27.02.2019]. 100 Eine beeindruckend lange Liste führt die Webseite der staatlichen Gulag-Gedenkkommission (Gulág Emlékbizottság), die 2015 eingerichtet wurde und in der sowohl das Veritas-Institut als auch Mária Schmidt als Direktorin des Instituts des 20. Jahrhunderts Einsitz nehmen: http:// www.beszedesmult.hu/helyszinek [30.05.2019].

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Gleichzeitig fehlen Erinnerungsorte und Denkmäler für jene Menschen, die nicht durch »fremde Besatzer«, sondern durch eigene Landsleute und nationale politische Entscheide ihr Leben verloren. So fehlt in Bezug auf die Horthy-Zeit ein Denkmal zum »weißen Terror« oder ein Denkmal, das an die Deportation von Tausenden von Jüdinnen und Juden aus Ungarn und an ihre anschließende Ermordung in Kamjanec-Podilskij (Kamenez-Podolsk) 1941 erinnert. Ebenso fehlen Denkmäler, die insgesamt die aktive Beteiligung Ungarns an der Judenvernichtung zum Gegenstand haben. Die weit intensivere Beschäftigung mit der kommunistischen Ära begründet Mária Schmidt etwa damit, dass die »Nazibesetzung des Landes« nur »knapp ein Jahr lang« gedauert habe und »alle an den Gräueltaten beteiligten […] Täter« verurteilt worden seien, während die »kommunistische, totale Diktatur« fast 45 Jahre in Ungarn gedauert und gewütet habe.101 In dieser Aussage liegt ein Schlüssel zum Verständnis des häufig angeführten Diktaturvergleichs der Orbán-Regierung: Durch Verweis auf die kurze Dauer des aus Nazideutschland importierten Terrors und durch die systematische Verknüpfung der beiden Unrechtsregime und Opfergruppen erscheint der Holocaust bloß als kurzes Kapitel in der langen Leidensgeschichte Ungarns. Gleichzeitig wird den jüdischen Opfern des Holocaust nahezu reflexartig die Zahl der in die Sowjetunion deportierten Ungarn gegenübergestellt. So meinte der Präsident des Gulag-Gedenkkomitees und Minister Zoltán Balog: »Wenn wir darüber nachdenken und uns erinnern, wie viele Menschen 1944 deportiert wurden, sollten wir nicht die ungarischen Bürger vergessen, die sich zwischen 1939 und 1941 in verschiedenen Lagern in der Sowjetunion aufhielten.«102 Subtil unterscheidet Balog in seiner Wortwahl zwischen »ungarischen Bürgern« und anderen – jüdischen – »Menschen«. Mit Aussagen wie diesen, die sich mit dem Ausstellungskonzept des Museums Haus des Terrors decken, geht die Entrechtung, Deportation und Ermordung der ungarischen Jüdinnen und Juden »bis zur Unkenntlichkeit in einer überhöhten nationalen Opfergemeinschaft auf«.103 Obwohl also bewusst eine Reziprozität zwischen den beiden Unrechtsregimen und Opfergruppen propagiert wird, unterliegen 101 Schmidt, Maria: Der Kommunismus, ein Verbrechen ohne Folgen?, in: Renato Cristin (Hg.): Memento Gulag. Zum Gedenken an die Opfer totalitärer Regime, Berlin 2006, S. 91–97, hier S. 91. 102 Balog, Zoltán: Üzen a múlt [Botschaft der Vergangenheit], abrufbar auf der Einstiegsseite der Homepage des Gulag-Gedenkkomitees: http://www.beszedesmult.hu [27.02.2019], Hervorhebung durch die Autorin. Identisch argumentiert das Museum Haus des Terrors, siehe Schmidt (Hg.): Terror Háza, S. 13–14; kritisch dazu Stellung nahm Ungváry: Der Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit, S. 213. 103 Von Puttkamer: Beunruhigend banal, S. 63.

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die jeweiligen Erinnerungskulturen trotzdem einer klaren Separation. Jüdische Schicksale werden in getrennten Institutionen thematisiert; der Kommunismus wird als wesensfremdes Element im ungarischen Volkskörper dargestellt. Augenfällig ist die massive Zentralisierung der Geschichtsinstitutionen auf einen kleinen Kreis von Historikerinnen und Historikern, womit eine beispiellose Monopolisierung der Geschichtsforschung und vermittlung betrieben wird, die fundamental in die ungarische Geschichtslandschaft eingreift. So haben die inflationär neu gegründeten Geschichtsinstitute nicht zu einer Pluralisierung der historischen Forschungsergebnisse, sondern zu einer Zementierung des in diesem Beitrag geschilderten Geschichtsbildes geführt. Damit wurde die Chance verpasst, durch einen Prozess des demokratischen Reibens, das auch alternative wissenschaftliche Deutungen und private Gegenerinnerungen mitberücksichtigt, einen Minimalkonsens über historische Schlüsselereignisse des 20. Jahrhunderts zu finden. Auffällig ist schließlich auch, dass in der gegenwärtigen Geschichtsdarstellung Frauen vollständig inexistent sind, sieht man einmal von den staatlichen Huldigungen der antisemitischen Zwischenkriegsschriftstellerin Cécile Tormay ab.104 Statt auf die Verflechtungsgeschichte zu fokussieren, ist derzeit vor allem eine Rhetorik der Entflechtung – innenpolitisch wie auch gegenüber Westeuropa – festzustellen. Globalisierung, Internationalisierung, Transnationalität, Multikulturalität und gerade auch historische Heterogenität werden als Bedrohung wahrgenommen und einem vermeintlich homogenen »pure nation space« gegenübergestellt.105 In der rhetorischen Abgrenzung von Westeuropa wird die historische Aufgabe Mitteleuropas als letzte Verteidigerin des christ104 So wird Tormay unter anderem auf der Webseite Nemzeti Könyvtár (Nationalbibliothek) der ungarischen Regierung geehrt, siehe https://nemzetikonyvtar.kormany.hu/tormay-cecile [30.05.2019]. Des Weiteren wurde der Schriftstellerin 2012 eine Statue vor dem Szent-Rókus-­ Spital in Budapest gewidmet; 2013 hätte eine Straße nach ihr benannt werden sollen, doch Historiker der Ungarischen Akademie der Wissenschaften legten in ihrer bereits erwähnten Zusammenfassung über die fachliche Überprüfung der Bezeichnungen in Zusammenhang mit den diktatorischen Regimes des 20. Jahrhunderts ihre Bedenken dar. Siehe Összefoglaló a XX. századi önkényuralmi rendszerekhez köthető elnevezésekkel összefüggő szakmai vizsgálatról, http://mta.hu/data/dokumentumok/hatteranyagok/akademiai_szabalyozasok/osszefoglalalo__XX._szazadi_onkenyuralmi_rendszerek_b.pdf [30.03.2019]. 105 Livezeanu, Irina/von Klimó, Árpád: Introduction, in: dies. (Hg.): The Routledge History of East Central Europe since 1700, London/New York 2017, S. 1–26, hier S. 6. Siehe auch: Egry, Gábor: A Fate for a Nation. Concepts of History and the Nation in Hungarian Politics, 1989–2010, in: Michal Kopeček/Piotr Wciślik (Hg.): Thinking through Transition: Liberal Democracy, Authoritarian Pasts, and Intellectual History in East Central Europe after 1989, Budapest/New York 2015, S. 505–524.

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lichen Abendlandes hervorgehoben. Im mitteleuropäischen Bollwerk gegen muslimische Immigranten sind eine Neuinterpretation des antemurale-Narrativs und ein Revival der Visegrád-Allianz zu erkennen. Doch gerade hinsichtlich des mitteleuropäischen Selbstverständnisses sind bemerkenswerte Verschiebungen der historischen Bedeutung und Koordinaten auszumachen. Mitteleuropa, das sich einst vor den vermeintlichen Gefahren aus dem »Osten« zu verteidigen hatte, sieht sich heute vor allem durch die Migrationspolitik und einen linksliberalen Internationalismus aus dem »Westen« bedroht. Dabei hatten gerade der historische Moment von 1989, das zivilgesellschaftliche Aufbegehren gegen ein Unrechtssystem und die Überwindung des Eisernen Vorhangs bewiesen, dass Mitteleuropa als »Mittlerin« und »Brücke« zwischen Ost und West eine historische Rolle in Europa einnehmen könnte.106

106 Zu »1989« als Bezugspunkt siehe jüngst Kovács, Éva: »Talkin’ bout a Revolution«. On the Social Memory of 1989 in Hungary, in: Wlodzimierz Borodziej/Stanislav Holubec/Joachim von Puttkamer (Hg.): From Revolution to Uncertainty. The Year 1990 in Central and Eastern Europe, Abingdon/Oxon/New York 2019, S. 103–116.

Der dramaturgische Kern der rumänischen »­Telerevolution« von 1989 Ulrich Schmid

In Hamlet lässt Shakespeare seinen Protagonisten ein Drama aufführen. Der dänische Prinz instruiert die Schauspieler und definiert als Aufgabe des Theaters, »das Alter und den Körper der Zeit, ihre Form und ihren Druck« (III, 2) auf die Bühne zu bringen. Shakespeare reflektiert hier die poetologischen Grundregeln des Dramas und führt sie seinen Zuschauern in der direkten Rede des Protagonisten vor. Die Geschwindigkeit einzelner Handlungselemente und der daraus resultierende Zeitdruck konstituieren die Tragödie im klassischen Sinn. Dabei spielen nicht nur Fakten eine Rolle, sondern auch das Tempo des Geschehens sowie die unterschiedliche Informiertheit der Akteure über bereits Geschehenes, Befürchtetes oder auch nur fälschlicherweise Angenommenes. Dass Politik viel mit Theatralik zu tun hat, ist ein Gemeinplatz. Kaum je hat aber ein politisches Ereignis auch im dramaturgischen Sinn so tragische Züge angenommen wie der Sturz Ceauşescus im Jahr 1989. Der verblendete König, der die Verbindung zu seinen Untertanen verloren hat; das aufgebrachte Volk, das sich nicht länger hinhalten lässt; der Auftritt des Dichters, der seine mahnende Stimme erhebt, und schließlich die Flucht und der Untergang des Königs – im Ablauf der rumänischen »Revolution« fehlt kein Element einer Shakespeare-­ Tragödie. Ob die Gewaltszenen in Bukarest und in anderen rumänischen Städten tatsächlich als »Revolution« qualifiziert werden können, steht im Folgenden nicht im Vordergrund. Viel entscheidender sind die emotionalen Aufladungen, die sich durch die Zuschreibung einer »revolutionären« Dimension durch die Akteure und die entsprechende öffentliche Wahrnehmung ergeben. Vor allem Ion Iliescu (geboren 1930), der damals die Rolle eines Volkstribuns einnahm, forcierte die Parallele zur Französischen Revolution, indem er in seinen Fernsehansprachen im besetzten Studio das heroische Vokabular von 1789 auf das Jahr 1989 übertrug. Er sprach von »Patrioten«, »Bürgern« und »edlen Menschen« (om de bine).1 Paradoxerweise konnte sich Iliescu dabei auf eine Traditionslinie in der Geschichtspolitik von Ceauşescus System stützen: Die rumänischen Für wertvolle Hinweise bedanke ich mich bei Constantin Ardeleanu und Daniel Ursprung. 1 Gabanyi, Anneli Ute: Systemwechsel in Rumänien. Von der Revolution zur Transformation, München 1998, S. 144 f.

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Revolutionen im 19. Jahrhundert wurden als Wegbereiter des aktuellen Staates gefeiert. Besonders herausgehoben wurde dabei die Rolle des Historikers und Revolutionärs Nicolae Bălcescu (1819–1853), der in seinen Büchern die Volksmassen als historisches Subjekt begründete.2 Eine bittere Ironie lag darin, dass sowohl Ceauşescu als auch Iliescu für sich in Anspruch nahmen, im Namen des revolutionären Volkes zu sprechen. Die Rolle des Fernsehens, das die Ereignisse in Echtzeit übertrug, kann kaum überschätzt werden. Die visuellen Eindrücke waren umso stärker, als die beiden Kanäle des rumänischen Staatsfernsehens gegen Ende der 1980er Jahre ihr tägliches Programm auf zwei Sendestunden reduziert hatten. Neben der propagandistischen Hofberichterstattung gab es folkloristische Darbietungen und manchmal einen Spielfilm. Nicht nur die politische Ordnung, sondern auch die Sehgewohnheiten der Zuschauer wurden durch die mehrstündigen Übertragungen im Dezember 1989 revolutioniert. Die Fernsehkonsumenten, die im ganzen Land gebannt vor den Bildschirmen verharrten, erhielten das Gefühl, Augenzeugen einer Peripetie in der Geschichte zu werden. Dabei ging es genau um das »Alter und den Körper der Zeit, ihre Form und ihren Druck«. Die Zeit selbst wurde gebremst und beschleunigt, bis schließlich die gesamte Ära Ceauşescu in jenem Moment implodierte, als das Diktatorenpaar erschossen wurde. Vilém Flusser (1920–1991) hat darauf hingewiesen, dass im Fall der rumänischen Revolution die Frage, was sich »wirklich« ereignet habe, nicht zielführend sei. »Wirklich« sei nur, was im Bild wirke.3 Das Fernsehen übernahm die Aufgabe, revolutionäres Sprechen im nationalen Publikum zu verbreiten. Deshalb wurde sehr bald das Schlagwort der rumänischen »Telerevolution« geläufig.4 Es ist kein Zufall, dass der Schweizer Regisseur Milo Rau (geboren 1977) auf diesen Stoff aufmerksam wurde und zwanzig Jahre nach der Revolution das Stück Die letzten Tage der Ceauşescus in Bukarest und Berlin inszenierte. Auch Rau bezeichnet das Geschehen als »Telerevolution« und gliedert das Geschehen in drei Akte: Der erste Akt ist das »blutige Vorspiel« in Timişoara und das Auftreten des Diktators, der bei seiner Rede vom Balkon des ZK-Gebäudes am 21. Dezember verstummt. Der zweite Akt zeigt die Flucht des Diktators mit dem Helikopter und die protestierende Menge in Bukarest. Der dritte Akt schließ2 Berindei, Dan: Nicolae Bălcesco, Bucarest 1966, S. 69. 3 Flusser, Vilém: Die Macht des Bildes, in: Hubertus von Amelunxen/Andrei Ujica (Hg.): Television/Revolution. Das Ultimatum des Bildes, Marburg 1990, S. 117–124, 123. 4 Gabanyi: Systemwechsel in Rumänien, S. 45.

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lich umfasst die Aburteilung und die Hinrichtung.5 Milo Rau hat ein genaues Auge für die Wendepunkte der Handlung und für die dramatischen Effekte des Geschehens. Allerdings interessiert er sich eher für die verschiedenen Perspektiven, die in dieser Tragödie vorkommen: der Diktator, der plötzlich seine Ohnmacht anerkennt; die Diktatorengattin, die sich von ihrem Volk verraten sieht; der General, der die Disziplin seiner Untergegebenen sicherstellen muss; der Soldat, der schließlich den Schießbefehl ausführen muss. Mein Erkenntnisinteresse richtet sich jedoch weniger auf die dramaturgische Ausbeutbarkeit der historischen Ereignisse als auf die inneren Kräfte, von denen die rumänische Revolution angetrieben wurde. Es geht mir um eine geschichtsphilosophische Analyse, die bestenfalls auch generalisierbare Einsichten in die Stabilitäts- und Zusammenbruchsbedingungen von autoritären Machtstrukturen erlaubt.

Deutungspotenziale der rumänischen Revolution Nicolae Ceauşescu (1918–1989) hatte in den 1960er Jahren auch unter Intellektuellen großen Zuspruch erhalten. Seine Macht beruhte zunächst darauf, dass er der Bevölkerung glaubhaft Wohlstandsgewinne versprach. Er nahm diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland auf, besuchte die USA und machte Rumänien zum Mitglied des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Dieser »tschechoslowakische« Weg der Annäherung an den Westen und der Reformierung der Planwirtschaft führte dazu, dass Ceauşescu sich im August 1968 weigerte, rumänische Truppen zur Niederschlagung des Prager Frühlings zu entsenden. Allerdings zeigte sich bald, dass aus Ceauşescu kein Dubček werden konnte. Die Machtsicherung durch wirtschaftliche Effizienz und Versorgungssicherheit wurde 1972 durch ein neues repressives Modell abgelöst. Auf einer Reise nach China und Nordkorea hatte sich Ceauşescu von der Kulturrevolution und vom Personenkult beeindruckt gezeigt. Durch eine weitgehende Abschirmung seines Landes und eine totalitäre Innenpolitik gelang es dem Diktator, sich eine scheinbar unantastbare Stellung zu schaffen. Vor dem Hintergrund der absoluten Stagnation und der brutalen Durchsetzung von Ceauşescus Willen zur Macht erscheinen die Ereignisse des Jahres 1989 als unwahrscheinlich. Der rumänische Diktator regierte mit eiserner 5 Rau, Milo: Die letzten Tage der Ceausescus, Berlin 2010, S. 145.

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Faust und erstickte jeden Widerstand bereits im Keim. Umso erstaunlicher war der Zusammenbruch des Machtsystems, der sich auf atemberaubende Weise beschleunigte: Das Herrschaftsgebäude, das in einem Vierteljahrhundert erbaut wurde, stürzte wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Bis heute gibt es eine ganze Reihe von offenen Fragen, die einzelne Ereignisse, aber auch den Ablauf als Ganzen betreffen. War die rumänische Revolution ein Ausbruch des Volkszorns? Oder war sie ein Staatsstreich, der vom sowjetischen oder ungarischen Geheimdienst ausgeführt wurde? Oder war sie schließlich das Ergebnis einer Diversion, die von den kommunistischen Eliten in Rumänien selbst in Szene gesetzt wurde?6 Für alle drei Ansätze gibt es Hinweise, allerdings lässt sich keine der drei Erklärungen vorbehaltslos bestätigen. In der Tat war die rumänische Revolution ein Massenphänomen, das allerdings auf eine bestimmte Organisationsstruktur angewiesen war. Für den Staatsstreich sprechen die vielen gescheiterten Umsturzversuche, die von Moskau nach der rumänischen Kritik an der Niederschlagung des Prager Frühlings initiiert wurden.7 Bereits 1969 hätte die »Operation Dniestr« zu Ceauşescus Sturz führen sollen. Weitere sowjetische Aktionen sind für die Jahre 1971, 1976, 1983, 1984 und 1985 belegt.8 Gegen diese Deutung spricht die Tatsache, dass Michail Gorbačëv (geboren 1931) bereits im Oktober 1989 den sowjetischen Führungsanspruch im sozialistischen Lager explizit aufgegeben hatte. Sein Pressesprecher verwies scherzhaft auf eine »Sinatra-Doktrin«: »I did it my way« – in diesem Sinne könne jedes Land seinen Weg selbst bestimmen.9 Schließlich spricht einiges für eine Palastrevolution. Die wichtigste Rolle spielte hier möglicherweise Ion Iliescu, der eine Gratwanderung zwischen Anpassung und Widerstand absolvierte. Nach einer steilen Karriere im Parteiapparat war er 1971 in Ungnade gefallen und nahm in der Folge unbedeutende administrative Posten ein. Unbestreitbar spielte Iliescu eine wichtige Rolle in der 6 Grosescu, Raluca/Ursachi, Raluca: The Romanian Revolution in Court. What Narratives About 1989?, in: Vladimir Tismaneanu/Bogdan C. Jacob (Hg.): Remembrance, History and Justice. Coming to Terms with Traumatic Pasts in Democratic Societies, Budapest/New York 2015, S. 257–294, 263. 7 Castex, Michel: Un mensonge gros comme le siècle. Roumanie, histoire d’une manipulation, Paris 1990; Portocală, Radu: Autopsie du coup d’état roumain. Au pays du mensonge triumphant, Paris 1990. 8 Gabanyi, Anneli Ute: The Romanian Revolution, in: Wolfgang Mueller/Michael Gehler/ Arnold Suppan (Hg.): The Revolutions of 1989. A Handbook, Wien 2015, S. 199–220, 206 f. 9 Jones, Christopher: Gorbačevs Militärdoktrin und das Ende des Warschauer Paktes, in: Torsten Diedrich/Winfried Heinemann/Christian F. Ostermann (Hg.): Der Warschauer Pakt – Von der Gründung bis zum Zusammenbruch 1955 bis 1991, Berlin 2009, S. 245–272, 257.

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rumänischen Revolution und schien auch in einzelnen Episoden sehr gut auf das Geschehen vorbereitet. Vielleicht gibt es aber auch eine Verbindung zu einer möglichen ausländischen Intervention. In den 1980er Jahren waren Gerüchte im Umlauf, dass Iliescu in einem Perestroika-freundlichen Rumänien der neue Staatschef werden könnte. Iliescus Leibwächter bezeugte überdies, dass Iliescu in der Nacht vom 22. zum 23. Dezember 1989 die sowjetische Botschaft zu einer Militärintervention in Rumänien aufgefordert habe. Iliescu hingegen beteuerte, nicht vor dem 27. Dezember 1989 Kontakt mit den Sowjets gehabt zu haben.10 Bei der analytischen Beschreibung der rumänischen Revolution muss man wohl von einem Mischungsverhältnis geplanter und ungeplanter Aktivitäten ausgehen und einen gewissen Grad an Eigendynamik der Ereignisse einräumen.

Revolutionäres Denken, Handeln und Zuschauen Um das Gewaltpotenzial der rumänischen Revolution zu erklären, lohnt es sich, einen Exkurs in die Revolutionstheorie zu machen. Die anspruchsvollste Revolutionstheorie stammt von Eugen Rosenstock-Huessy (1888–1973). 1931 erschien zum ersten Mal sein geschichtsphilosophisches Werk Die europä­ ischen Revolutionen und der Charakter der Nationen. Aus einer hegelianischen Perspektive vergleicht Rosenstock-Huessy die drei wichtigsten Revolutionen der Neuzeit: Die »Glorious Revolution« in England (1688), die Französische Revolution (1789) und die Russische Revolution (1917). Rosenstock-Huessy weist darauf hin, dass sich in diesen drei historischen Ereignissen das revolutionäre Handeln und das revolutionäre Bewusstsein mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten entwickelt haben. In England sei die Revolution zunächst einfach »passiert« und die erklärende Bewusstseinsarbeit sei erst nachträglich geleistet worden. In Frankreich sei es zu einem explosiven Zusammentreffen von revolutionärem Tun und emanzipatorischem Denken gekommen. In Russland schließlich sei die Theorie klar der Praxis vorausgegangen. Es sei kein Zufall gewesen, dass die russischen Revolutionäre jahrelang über Büchern brüteten, bevor sie zur Tat schritten. Umso schwächer sei denn auch die politische Wirklichkeit der tatsächlichen »Revolution« ausgefallen. Rosenstock-Huessy erlebte die »Revolutionen« des Jahres 1989 nicht mehr. Es ist aber trotzdem fruchtbar, seinen Ansatz in erweiterter Form auf den Zusammenbruch der kommunistischen Systeme anzuwenden. 10 Gabanyi: The Romanian Revolution, S. 199–220, 216.

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Rosenstock-Huessy unterscheidet zwischen »Denken« und »Handeln«. Als zentrales Element kommt bei der rumänischen Revolution das »Zuschauen« hinzu. Die Liveübertragung der sich überschlagenden Ereignisse, gekoppelt mit Cliffhanger-Effekten etwa nach der spektakulären Helikopterflucht des Herrscherpaars, stand im denkbar größten Kontrast zur angehaltenen Zeit der Ceauşescu-Ära. Die Staatsspitze war zuvor in hochritualisierten Szenen präsentiert worden. Das bewegte Bild war eigentlich überflüssig für die Abbildung der statischen und idealtypisch ewigen Herrschaft der Ceauşescus. »Zuschauen« bedeutete dagegen im Dezember 1989 engagierte Teilhabe am revolutionären Geschehen, emotionale Unterstützung der Aufständischen und unmittelbare historische Zeitzeugenschaft. Natürlich spielte »Zuschauen« auch bei den Revolutionen in England, Frankreich und Russland eine Rolle. Allerdings fehlte in diesen historischen Fällen ein ausgebautes Mediensystem, das eine Synchronisierung der eigentlichen Revolution mit der Darstellung der Revolution erlaubt hätte. Für die breite Bevölkerung bedeutete die Revolution deshalb oft nur Chaos und Bürgerkrieg. Die Ideologisierung der Kampfhandlungen für das breite ­Publikum erfolgte erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch intensive Propagandaaktionen. In Anlehnung an Rosenstock-Huessy kann man sagen: Ähnlich wie in der »Glorious Revolution« das revolutionäre Denken hinter dem revolutionären Handeln nachhinkte, so folgte in der Russischen Revolution die Darstellung der Revolution erst mit jahrelanger Verspätung. Ein berühmtes Beispiel bietet die Inszenierung des »Sturms auf das Winterpalais« im Jahr 1920. Der berühmte Theaterregisseur Nikolaj Evrejnov (1879–1953) stellte mit mehr als 10.000 Statisten diese Schlüsselszene der Oktoberrevolution nach.11 1927 drehte Sergej Ėjzenštejn seinen Film Oktjabr’ und prägte damit die visuelle Imagination über das Jahr 1917 im In- und Ausland. In Rumänien kam es im Dezember 1989 zu einer Synchronisierung von revolutionärem Handeln, Denken und Zuschauen. Streng genommen ging es um mehr als ein gleichzeitiges Auftreten dieser Phänomene. Handeln, Denken und Zuschauen beeinflussten sich gegenseitig und schaukelten sich hoch. Im Zentrum stand dabei Ceauşescus Diktatur, die zunächst fatalistisch als unverrückbare Tatsache hingenommen wurde. Genauso wie Rumänien in den späten 1960er Jahren die allgemeine Verhärtung des ideologischen Kurses in Moskaus Satellitenstaaten nicht mitgemacht hatte, schien es nun umgekehrt unwahrscheinlich, dass die allgemeine Aufbruchstimmung in Polen, Ungarn, 11 Arns, Inke/Chubarov, Igor/Sasse, Sylvia (Hg.): Nikolaj Evreinov – »Sturm auf den Winterpalast«, Zürich, Berlin 2017, S. 7.

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Deutschland und der Tschechoslowakei auch auf Rumänien übergreifen könnte. Im öffentlichen Bewusstsein war Rumänien dem Tyrannen im Guten wie im Bösen ausgeliefert.

Entstehungsbedingungen der Proteste Die Stimmung in der rumänischen Bevölkerung im Dezember 1989 glich einem politischen Ökosystem: Entscheidende Parameter hatten sich langsam verändert, bis das System zu einem bestimmten Zeitpunkt kippte. Von außen schien die Herrschaftsstruktur noch intakt zu sein. Damit unterschied sich die Lage in Rumänien grundsätzlich von den Ereignissen in den anderen sozialistischen Ländern. In Polen hatte sich die Proteststimmung bereits seit langem aufgebaut. Die Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność im Jahr 1980 demonstrierte allen Bürgern den ideologischen Bankrott des Staates: Es war unerhört, dass sich in einem sozialistischen Staat, der exklusiv die Interessen der Arbeiter und Bauern zu vertreten beanspruchte, eine vom Staat unabhängige und sogar gegen den Staat gerichtete Gewerkschaft bildete. Die Ausrufung des Kriegsrechts im Dezember 1980 war ein deutliches Zeichen dafür, dass auch die Machtelite sich der prekären Situation bewusst war. Als der Priester Jerzy Popiełuszko (1947–1984) durch den Geheimdienst ermordet wurde, verlor der Staat auch bei loyalen Kommunisten den letzten Kredit. In der Tschechoslowakei und Ungarn waren die Gesellschaften ohnehin für Veränderungen sensibilisiert. Nach den gescheiterten Reformprojekten von 1956 und 1968 waren sowohl die Gesellschaften als auch die Parteieliten in diesen Ländern traumatisiert. In den 1970er und 1980er Jahren befanden sich die Tschechoslowakei und Ungarn im Zustand eines sublimierten Bürgerkriegs: Die Basis und die Elite beobachteten sich gegenseitig mit Argwohn. Der unausgesprochene Gesellschaftsvertrag bestand darin, dass die Bürger auf weitere explizite Forderungen nach einer Liberalisierung verzichteten. Dafür vollzogen aber die herrschenden Schichten genau eine solche Liberalisierung des Systems in homöopathischen Dosen. Auf diese Weise kam es zu einem prekären Gleichgewicht der Kräfte, zu einem zumindest vorläufigen Druckausgleich zwischen Ansprüchen von unten und Leistungen von oben. Noch einmal anders präsentierte sich die Lage in der DDR. Stabilisierend wirkte hier die schichtenübergreifende Überzeugung, dass man durch das sozialistische Gesellschaftssystem aus der historischen Schuld des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust entlassen worden sei. Der Sozialismus und die Herr-

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schaft der SED waren die Raison d’être dieses Staates und mussten deshalb mit allen Mitteln verteidigt werden. Paradoxerweise zerbrach die DDR nicht an der mangelnden ideologischen Überzeugungskraft des Sozialismus, sondern an der unmittelbaren Nachbarschaft zur Bundesrepublik Deutschland. Zwar wurde die bürgerlich-kapitalistische Organisationsform der Bonner Republik im Bewusstsein der DDR-Bevölkerung mit einigem Erfolg diskreditiert, gleichzeitig steigerten sich aber durch die Verbreitung von westlichem Radio und Fernsehen und durch die Ausdehnung von Reiseprivilegien die Konsumwünsche der Bürger.12 In Rumänien gab es kein kirchliches Korrektiv zur Macht wie in Polen, es gab keine Tradition von Aufständen wie in Ungarn oder der Tschechoslowakei, es gab auch keinen unmittelbaren ordnungspolitischen Wettbewerber wie im geteilten Deutschland. Die Grenze zwischen Rumänien und der moldawischen Sowjetrepublik war wirksam geschlossen. Der Austausch zwischen den beiden rumänischsprachigen Staaten wurde auf ein Minimum beschränkt. Die rumänische Revolution entstand aber nicht aus dem Nichts. Es gab eine Reihe von Anzeichen. Bereits am 15. November 1987 kam es in Braşov zu Unruhen, die aber zunächst rein ökonomisch motiviert waren. Ein erstes Zeichen eines genuin politischen Protestes waren mutige Äußerungen des Dichters Mircea Dinescu (geboren 1950), der im August 1988 im rumänischsprachigen Dienst des Moskauer Radios politische Reformen nach dem Vorbild der Perestroika forderte und im März 1989 in der linken Pariser Zeitung Libération die katastrophale Menschenrechtslage kritisierte. Zu einer expliziten Forderung wurde diese Kritik im Brief der sechs – einem anklagenden Dokument, das im BBC World Service am 10. Mai 1989 ausgestrahlt wurde. Die Verfasser gehörten zwar zur Elite der Kommunistischen Partei, hatten aber mit Ceauşescu gebrochen und nahmen im Machtsystem marginale Positionen ein. Es gibt Hinweise darauf, dass Ion Iliescu gebeten wurde, den Brief zu unterzeichnen. Er verzichtete aber darauf.13 Die Verfasser kritisierten die Einschränkung der Bürgerfreiheiten, den Angriff auf die Dörfer, die Zerstörung eines Bukarester Stadtviertels, die prekäre Versorgungssituation und die Beschädigung der internationalen Reputation Rumäniens. Der Brief der sechs war eine Sensation in der homogenisierten ideologischen Kultur Rumäniens. Der Repressionsapparat reagierte umgehend. Die Unterzeichner des Briefs wurden unter Hausarrest gestellt, der Inhalt der Kritik wurde in den Staatsmedien totgeschwiegen. 12 Engel, Ulf/Hadler, Frank/Middell, Matthias (Hg.): 1989 in a Global Perspective, Leipzig 2015. 13 Siani-Davies, Peter: The Romanian Revolution of December 1989, Ithaca/London 2005, S. 27–29, 35 f.

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Immerhin bewies der Brief der sechs, dass bestimmte Dinge überhaupt sagbar wurden und sich damit ein Protestpotenzial entwickeln konnten. Am 15. November 1989 siegte die rumänische Fußballnationalmannschaft in einem WM-Qualifikationsspiel über Dänemark. Anschließend strömten Fans in Timişoara auf die Straßen und riefen: »Nieder mit Ceauşescu!«14 Dieser Vorgang ist bemerkenswert, weil in einer Welle des Patriotismus Ceauşescus Herrschaft als legitime Organisationsform des rumänischen Nationalstaats radikal in Frage gestellt wurde. Staat und Heimat traten in der Wahrnehmung der rumänischen Fußballfans auseinander. Eine viel größere Breitenwirkung entfaltete aber die spektakuläre Flucht der Kunstturnerin Nadia Comăneci (geboren 1961) Ende November 1989. Zuvor hatte das Ceauşescu-Regime Nadia Comănecis sportliche Erfolge für seine eigenen Propagandazwecke ausgeschlachtet. Der rumänischen Bevölkerung wurde Nadia Comăneci als Göttin präsentiert, die für die Überlegenheit des kommunistischen Regimes stand. Ihre abenteuerliche Flucht war nicht nur für den Diktator selbst, sondern auch für die Öffentlichkeit ein Schock. Gerüchteweise hatte Nadia Comăneci ein ausschweifendes Leben in Rumänien geführt. Die Menschen glaubten, dass sie eine Villa, ein Ferienhaus, ein teures Auto sowie exquisite Juwelen besaß und eine Affäre mit Ceauşescus Sohn Nicu hatte. Vor diesem Hintergrund erschien die Flucht des Sportstars besonders bedrohlich für das Ceauşescu-Regime. Die Reaktion der Öffentlichkeit lag auf der Hand: Wenn sogar eine auf fantastische Weise privilegierte Bürgerin wie Nadia Comăneci aus Rumänien floh, wie stand es dann um die Zukunft des Landes? Ceauşescu war außer sich und verstand sehr wohl, was Nadia Comănecis Überlaufen für das Ansehen seiner eigenen Herrschaft bedeutete. Als unmittelbare Maßnahme gliederte er den rumänischen Grenzschutz aus dem Verteidigungsministerium aus und unterstellte ihn dem Innenministerium, das enger an seine eigene Person gebunden war. Als im Dezember 1989 in Timişoara Zehntausende Demonstranten auf die Straßen strömten, war Ceauşescus Herrschaftssystem zwar noch nicht akut bedroht, aber immerhin hatte das allgemeine Unbehagen schon erste Ausdrucksformen gefunden. Nur so kann erklärt werden, dass eine zunächst marginal erscheinende Maßnahme eines totalitären Staates, nämlich die geplante Zwangsversetzung eines ungarisch-protestantischen Pfarrers, eine Massendemonstration auslösen konnte. Sehr schnell ging es in der Affäre um László Tőkés (geboren 1952) nicht mehr um die innere Angelegenheit einer religiö14 Ebd., S. 44.

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sen und ethnischen Minderheit, sondern um die symbolische Beschleunigung der Zeit in einer Episode, die den Unrechtsstaat für jeden Einzelnen erkennbar werden ließ. Katherine Verdery hat im Anschluss an Norman Manea von der »Verstaatlichung« der Zeit unter Ceauşescus Herrschaft gesprochen. Der kommunistische Staat in Rumänien beschlagnahmte die Zeit und verteilte sie willkürlich an die Untertanen weiter. Weil die Menschen sich nicht mehr als Herren ihrer Zeit erfuhren, schwand auch ihre Eigenmotivation und ihr Protestpotenzial. Der traditionell religiös geprägte Jahreskalender wurde durch eine neue Verteilung von Arbeit und Freizeit ersetzt. Die Lebenspläne der Menschen fielen aus dem gewohnten Rhythmus und spiegelten die Erfahrungswirklichkeit der prekären Versorgungslage: Güter des Alltagsbedarfs und Lebensmittel waren über längere Perioden nicht vorhanden, tauchten plötzlich auf und verschwanden wieder.15 Die Revolution stattete die stockende Zeit mit einem neuen teleologischen Sinn aus. Dieses Deutungsangebot galt universell und war nicht auf einzelne Gruppen beschränkt. Deshalb waren auch die ungarischsprachigen rumänischen Bürger bei den Protesten in Timişoara nicht übervertreten. In der Zusammensetzung der Demonstranten spiegelten sich vielmehr die wirklichen Bevölkerungsverhältnisse in Timişoara. Es war allerdings bezeichnend, dass Ceauşescu selbst eine ethnische Interpretation der Ereignisse in Timişoara anbot und von »reaktionären, imperialistischen, irredentistischen und chauvinistischen Kreisen« sprach, die auf eine »territoriale Aufteilung Rumäniens« hinarbeiteten.16 Ohne bewusste oder auch nur fahrlässige Übertreibungen der Opferzahlen und nicht überprüfte Nachrichten in den rumänischsprachigen Sendungen westlicher Medienhäuser hätte die Revolution kaum auf Bukarest übergreifen können. Von mehreren Tausend Opfern in Timişoara war die Rede, bereits Gestorbene wurden aus den Leichenhäusern gezerrt und den Medien als Revolutionstote präsentiert. Erst das soziale Empörungspotenzial, das in diesen Zahlen steckte, ließ die von Ceauşescu selbst initiierte, ursprünglich staatsstützende Massendemonstration vom 21. Dezember 1989 aus dem Ruder laufen und in ihr Gegenteil umschlagen.17 15 Verdery, Katherine: The »Etatization« of Time in Ceauşescu’s Romania, in: dies.: What Was Socialism and What Comes Next, Princeton 1996, S. 39–57. 16 Petrescu, Dragoş: Explaining the Romanian Revolution of 1989. Culture, Structure and Contingency, Bucureşti 2010, S. 412. 17 Daniel Ursprung: Die rumänische Revolution von 1989. Chronologie des Sturzes und des Prozesses gegen Nicolae Ceauşescu und seine Frau Elena. Onlinepublikation auf: http://www. daniel-ursprung.ch/revolution.htm [09.10.2011].

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Erscheinungsformen der zerfallenden und der aufstrebenden Macht Die Tragödie, die sich in den letzten Dezembertagen des Jahres 1989 auf den Straßen der rumänischen Hauptstadt abspielte, hatte viel mit den blinden Kräften der Geschichte zu tun, die sich innerhalb kürzester Zeit gewaltsam entluden. Es gab eine Reihe von Akteuren, die versuchten, das Geschehen in eine bestimmte Richtung zu lenken, dabei aber nur über eine beschränkte Durchsetzungsfähigkeit verfügten und vor allem auch unzureichend über die revolutionäre Gesamtsituation informiert waren. Vor allem nahmen sowohl die Angreifer als auch die Verteidiger ihre Handlungsoptionen nur aus einer verzerrten Perspektive wahr. Von einem kompletten Realitätsverlust geprägt war das Verhalten des Diktators selbst. Noch als die Proteste in Timişoara in vollem Gang waren, brach Ceauşescu zu einer Reise in den Iran auf und betrachtete die Demonstrationen im äußersten Westen des Landes als ein rein polizeiliches Problem. Die rumänische Revolution ist möglicherweise der einzige Umsturz in der Weltgeschichte, in dem sich der Moment des Herrschaftsverlustes auf die Minute genau angeben lässt. Am 21. Dezember 1989 trat Ceauşescu um 12.30 Uhr auf den Balkon der Parteizentrale und begann, eine seiner selbstverherrlichenden Reden zu halten. Als er nach wenigen Sätzen von einem Lärm auf dem Platz unterbrochen wurde, nahm sein Gesicht den Ausdruck totaler Fassungslosigkeit an.18 Die Fernsehkameras übertrugen diesen Moment, schwenkten aber unmittelbar danach auf Anweisung des Regisseurs in den Himmel, um die Selbstentblößung des Diktators nicht abzubilden. Die Fernsehzuschauer bekamen nur einen roten Hintergrund zu sehen. Der Ton blieb allerdings auf Sendung und übertrug die wiederholten hilflosen »Hallo, hallo!«-Rufe des verwirrten Redners. Als Ceauşescu nach dem gespenstischen Unterbruch wieder zu sprechen begann, hatte sich zwar nicht der Inhalt der Rede verändert, aber ihr aussagelogischer Status. Sie war nicht mehr jenes propagandistische Hintergrundrauschen, an das sich die rumänische Bevölkerung gewöhnt hatte, sondern sie nahm den Rang einer blanken Lüge an. Ceauşescu versuchte sich das Wohlwollen der Bevölkerung mit leeren Versprechungen zu erkaufen. Dabei war längst klar, dass es nicht mehr um kleine Verbesserungen, sondern um die radikale Veränderung des Status quo gehen musste. Ceauşescus Rede war umso 18 Lange Zeit war die Quelle dieser Störung unbekannt. Mittlerweile wurden aber neue Ermittlungen aufgenommen. Dabei wurde angekündigt, dass es gelungen sei, die Ursache der Unterbrechung aufzuklären: Stadiu dosarul Revoluţiei, http://www.mpublic.ro/ro/content/c_18-12-2017-11-12 [11.12.2017].

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bemerkenswerter, als sie vor einem gemischten Publikum stattfand. In vorderster Front standen die bezahlten Claqueure, die auf offiziellen Transparenten leere sozialistische Parolen präsentierten. In den hinteren Reihen gärte es. Die Teilnehmer der Massenveranstaltung hielten sich nicht mehr an das offizielle Programm, sondern begannen in Sprechchören ihre eigene Agenda zu artikulieren. Die dramatische Pointe der Situation liegt natürlich darin, dass Ceauşescu plötzlich als König-Lear-Figur erkennbar wurde: Er versuchte, wie gewohnt die Macht zu organisieren, und sah sich plötzlich einem Volkskörper gegenüber, der in seinen Äußerungen ein emotionales Spektrum von Speichelleckerei, Loyalität, Opportunismus, Unzufriedenheit, Widerstand bis hin zu offenem Hass offenbarte. Die Pragmatik von Ceauşescus fataler Rede lässt sich sehr gut in Shakespeares Begriffen des »Alters und des Körpers der Zeit, ihrer Form und ihres Drucks« beschreiben. Die Ausgangssituation entspricht der sich stetig verlangsamenden Zeit der totalitären Diktatur. Der ideologische Anspruch des Regimes verweist auf das sozialistische Glück, das in großen Teilen bereits erreicht ist und allenfalls noch punktweise verbessert werden kann – so etwa in der angekündigten Erhöhung des Mindestlohns von 2000 auf 2200 Lei. Das kommunistische Paradies schließlich wäre nicht mehr auf ein Fortschreiten der Geschichte angewiesen, die Zeit selbst würde zum Stillstand kommen. Die Unterbrechung in Ceauşescus Rede eröffnete eine radikal neue Dimension der Zeit: eine revolutionäre Zeit, in der grundlegende Veränderungen im Staat und in der Gesellschaft möglich sind. Unwillkürlich bewies auch das offizielle Fernsehen die kategoriale Andersartigkeit dieser Zukunftsvision, indem sie auf einen semantischen Nullraum, nämlich den offenen Himmel schwenkte. Dort im Himmel lag die ungewisse Zukunft der rumänischen Revolution – dabei wurde die Ungewissheit noch nicht als schrecklich wahrgenommen, weil in der Wahrnehmung der Bürger alles besser war als der aktuelle Zustand Rumäniens. Zwar schloss sich das utopische Zeitfenster nach wenigen Minuten wieder. Allerdings reichte diese kurze Unterbrechung der sich verlangsamenden offiziellen Zeit, um den Zuschauern von Ceauşescus Herrschaftsspektakels Lust auf eine ganz andere Vorstellung zu machen. Am Morgen des 22. Dezember 1989 beging der Verteidigungsminister Vasile Milea (1927–1989) mutmaßlich Selbstmord. Die genauen Umstände seines Todes sind bis heute unklar. Immer wieder wird behauptet, dass er einem Mord zum Opfer fiel. Die überzeugendste Erklärung lautet, dass er sich wahrscheinlich geweigert hatte, einem Schießbefehl Folge zu leisten.19 Genau diese Deu19 Siani-Davies: The Romanian Revolution, S. 88.

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tung setzte sich schnell in der Öffentlichkeit durch und führte dazu, dass die Armee sich auf die Seite der Demonstranten stellte. Mileas Tod bedeutete in der Dramaturgie des revolutionären Geschehens eine Fermate. In diesem kurzen Moment steigerten sich die Chancen eines grundlegenden und dauerhaften Umschwungs massiv. Es ist schwierig zu entscheiden, inwieweit die Front der nationalen Rettung (FSN), die am Nachmittag des 22. Dezember im revolutionären Geschehen auftauchte, bereits zuvor über organisationale Strukturen verfügt hatte. Jedenfalls setzte sie eine ausgeklügelte Kommunikationsstrategie ein, die aus drei Elementen bestand: Erstens attackierte sie Ceauşescu und seinen Sicherheitsapparat und nicht den Kommunismus als Gesellschaftsordnung. Zweitens verortete sie sich klar auf der Seite des protestierenden »Volks«. Drittens vermied sie jede Diskussion über die eigene politische Legitimation.20 Die »Front« bezeichnete schnell alle Gegner der Revolution (oder alle, die ihr als Gegner der Revolution erschienen) pauschal als »Terroristen«. Bald kursierten die fantastischsten Gerüchte über verschiedene »terroristische« Bedrohungen: Es gebe Pläne zur Sprengung von Staudämmen, giftiges Wasser komme aus den Leitungen, schwangere Frauen und Neugeborene seien erschossen worden. Die Paranoia gipfelte in der Schreckvision, die »Terroristen« seien ehemalige Waisenkinder, die als Zombies erzogen worden seien und ihren Herren bedingungslos gehorchten.21 Natürlich spielte der Inhalt der revolutionären Propaganda kaum eine Rolle. Wichtig war das Empörungspotenzial, das in den sich jagenden Nachrichten steckte. Es ging der Front darum, eine möglichst dramatische Bedrohungslage zu zeichnen, um die eigene Position umso strahlender erscheinen zu lassen. Zusätzlich setzte die Front das kulturelle Kapital von prominenten Kulturträgern ein. Am Nachmittag des 22. Dezembers 1989 traten der Schauspieler Ion Caramitru (geboren 1942) und der Dichter Mircea Dinescu im Fernsehen auf. Sie verkündeten triumphierend die Flucht des Diktators und beriefen sich dabei auf eine mythische Verbindung zwischen Gott und dem rumänischen Volk.22 Caramitru bekreuzigte sich zu Beginn seines Auftritts, und Dinescu reckte seine Faust in die Höhe. Der Auftritt der beiden Redner sollte nicht nur 20 Adamson, Kevin/Florean, Sergiu: Discourse and Power. The FSN and the Mythologisation of the Romanian Revolution, in: Kevin McDermott/Matthew Stibbe (Hg.): The 1989 Revolutions in Central and Eastern Europe. From Communism to Pluralism, Manchester/New York 2013, S. 172–191, 173. 21 Siani-Davies: The Romanian Revolution, S. 159 ff. 22 Ebd., S. 104 f.

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die Sympathien der Bevölkerung, sondern vor allem die Armee auf die Seite der Revolution ziehen. Die Anklänge an eine heroische Romantik waren dabei klar einkalkuliert. Das Einbrechen einer göttlich-revolutionären Zeit in die erstarrte Zeitlosigkeit der Ceauşescu-Herrschaft bedeutete für die Zuschauer einen Aufbruch in eine neue Ära voller Glücksversprechen. Letztlich war auch die in aller Eile vollzogene Verhaftung und Aburteilung des Diktatorenpaars Ceauşescu Teil der heilsgeschichtlichen Kommunikationsstrategie. Weil der finstere Tyrann Ceauşescu und seine verhasste Ehefrau als Inkarnation des Bösen dargestellt wurden, präsentierte sich die Hinrichtung des bereits hilflosen Paares als Heldentat, die den Anspruch des Namens Front der nationalen Rettung einzulösen schien. Auch nach der Exekution wurde die Dämonisierung in den Medien fortgesetzt: Die Herrschaft der Ceauşescus wurde als monströs bezeichnet. Bizarre Details verwiesen auf die krankhafte Selbstsucht des Diktatorenpaars: So wurde berichtet, dass alle Hähne in der Nähe der Landvilla in Snagov geschlachtet worden waren, damit die Ceauşescus ruhig ausschlafen konnten.23 Die Dramaturgie der rumänischen Revolution beruhte auf einem emotionalen Plot, in dem Gut und Böse klar verteilt waren. Außerdem erreichte der Endkampf zwischen dem Tyrannen und seinem Volk ein immer atemberaubenderes Tempo. Die überstürzte Flucht des Diktatorenpaars im H ­ elikopter, die Festsetzung der Ceauşescus in einem Armeestützpunkt in Târgovişte, die Gerichtsverhandlung und schließlich die Erschießung folgten Schlag auf Schlag. Die Dramatik der Ereignisse nahm in den Augen der Zuschauer bald die Wucht einer antiken Tragödie an. Dieser Eindruck hatte vor allem mit der außerordentlichen Fallhöhe des Herrschers zu tun. Nicolae und Elena Ceauşescu legten den Weg vom Olymp des absolutistischen Monarchen bis zum Kasernenhof in einer Provinzstadt in vier Tagen zurück. Das rumänische Publikum konnte den Niedergang des Tyrannen in sorgfältig zensierten Ausschnitten direkt am Bildschirm mitverfolgen. Der letzte Auftritt auf dem Balkon des ZK-Gebäudes der Partei und der von Kugeln durchsiebte Leib des Diktators wurden im Fernsehen gezeigt. Der Sturz des Herrschers war also nicht als abstraktes Wissen in den Köpfen der rumänischen Bürger präsent, sondern konnte in seiner ganzen körperlichen Drastik beobachtet werden.

23 Adamson/Florean: Discourse and Power, S. 172–191, 178.

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Die zwei Körper der politischen Macht Shakespeare wollte »das Alter und den Körper der Zeit, ihre Form und ihren Druck« auf die Bühne bringen. Daniel Ursprung hat gezeigt, wie stark sich die Inszenierung von Ceauşescus Herrschaft am Dekor von mittelalterlichen Vorbildern orientierte.24 Damit ist auch die Vergleichbarkeit von Ceauşescus Herrschaftskörper mit der mittelalterlichen Konzeption der »zwei Körper« des Königs gegeben. Ernst Kantorowicz (1895–1963) hat in seinem Buch The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology (1957) herausgearbeitet, wie der König in der traditionellen Herrschaftskonzeption über zwei Körper verfüge: einen sterblichen Leib und einen unsterblichen Staatskörper. Der sterbliche Körper sichere die Identität des Herrschers, der zweite Körper verbürge den Zusammenhalt des staatlichen Gemeinwesens. Der doppelte Körper des Königs zeige sich vor allem im Moment der Machtübergabe. In aller Deutlichkeit zeige sich der unsterbliche Körper des Königs im paradoxen Ruf: »The King is dead! Long live the King!« Im Fall der rumänischen Revolution wurden beide Körper des Herrschers gleichzeitig zerstört – vor den Augen des zuschauenden Volks. Die Vernichtung des Machtkörpers in beider Gestalt (Leib des Königs und Staatsordnung) stellte dabei ein Faszinosum tremendum dar. Die Herrschaftszeit des Diktators folgte dem Lebensalter des Menschen Nicolae Ceauşescu – beide wiesen zunehmend Zeichen des Zerfalls auf. Gleichzeitig wehrten sich aber sowohl die Herrschaftszeit wie auch das Lebensalter gegen das drohende Ende. Beide Größen traten mit dem Anspruch auf, ewig zu dauern. Die dramatische Grundspannung der rumänischen Revolution ergab sich aus diesem Gegensatz: Auf der einen Seite stand die angehaltene Zeit von Ceauşescus Schreckensregime, auf der anderen Seite drängte die vorwärtsstürmende revolutionäre Zeit, für die jede Änderung besser war als der prekäre Status quo. Das Problem der Revolutionäre bestand darin, dass sie diese beiden abstrakten Zeitkonzeptionen sichtbar machen mussten. Dies gelang in der Direktübertragung des revolutionären Geschehens im Fernsehen. Die Revolution konnte nicht nur »gedacht«, sondern auch »gemacht« und vor allem »gesehen« werden. Der erschossene Körper des Diktators Ceauşescu war gleichzeitig auch der vernichtete Staatskörper seiner Diktatur.

24 Ursprung, Daniel: Herrschaftslegitimation zwischen Tradition und Innovation. Repräsentation und Inszenierung von Herrschaft in der rumänischen Geschichte in der Vormoderne und bei Ceauşescu, Kronstadt 2007, S. 187 ff.

Staatsverfall, Zivilgesellschaft und Zwangsarbeiterentschädigung in der Sowjetukraine Carmen Scheide

Am 16. Juli 1990 erklärte die Sowjetukraine ihre Souveränität, am 1. Dezember 1991 stimmte eine Mehrheit der Ukrainer in einem Unabhängigkeitsreferendum für den Austritt aus der Sowjetunion, die am 25. Dezember 1991 mit dem Einholen der Fahne auf dem Moskauer Kreml lautlos endete. Vorausgegangen war ein durch Michail Gorbačëv seit 1985 angestoßener Reformprozess, der in der Sowjetukraine etwa im Vergleich zu den baltischen Ländern erst relativ spät Wirkung entfaltete. Entscheidend war das ereignisreiche Jahr 1989, an dessen Ende der langjährige Vorsitzende der ukrainischen KP und moskautreue Vladimir Ščerbyc’kyj endlich den Weg für reformorientierte Eliten frei machte. Der Zerfall bestehender Strukturen und Institutionen, Wandel und Neuanfang spiegelten sich auch in vielschichtigen sozialen Prozessen wider, zu denen die Herausbildung unabhängiger Vereinigungen und die Suche nach neuen Identifikationen gehörten. Die »Wende« in den Ländern Osteuropas wurde im Westen als demokratischer Aufbruch wahrgenommen. In den zahlreichen sich neu formierenden Gruppierungen sahen Analytiker den hoffnungsvollen Beginn einer Zivilgesellschaft, die dadurch als sozialpolitisches Konzept eine Wiederbelebung erfuhr.1 Aus der heutigen Perspektive gestalteten sich der Neubeginn und die Transformation weitaus mühsamer. Das Aufkommen einer Zivilgesellschaft erfolgte parallel zu Staatsumbau und Nationsbildung, was zugleich auch ein Aushandlungsprozess über das eigene Selbstverständnis war, wobei Geschichtsbilder eine große Wirkungsmacht entfalteten. Um den Beginn und die Stagnation zivilgesellschaftlichen Engagements zu verstehen, soll hier ein konkretes Beispiel aus der Zentralukraine in den Blick genommen werden, das zugleich die komplexen Interdependenzen zu den genannten Prozessen aufzeigt: die 1990 erfolgte Gründung einer ersten Vereinigung ehemaliger Zwangsarbeiter, die während des Zweiten Weltkriegs in das Deutsche Reich deportiert worden waren und dort Sklavenarbeit in der Industrie, Landwirtschaft, in Betrieben oder Privathaushalten leisten mussten.

1 Rau, Zbigniew (Hg.): The Reemergence of Civil Society in Eastern Europe and the Soviet Union, Boulder, 1991.

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Dadurch werden für die Ukraine wenig erforschte Mobilisierungsprozesse, Akteure und marginalisierte gesellschaftliche Debatten um die Zeit der »Wende« 1989/91 sichtbar. Zugleich ist es ein Beitrag zur Geschichte des ländlichen Raumes, der untererforscht, aber typisch ist. Als theoretische Grundlagen dienen Ausführungen zur Zivilgesellschaft, aber auch allgemeinere Überlegungen zu Gesellschaft und Gemeinschaft. Ein wirkungsmächtiges Konzept von einer »imaginierten Gemeinschaft« stellt die Nation dar, die für Ukrainer und Ukrainerinnen mit zunehmender Desintegration von der Sowjetunion an Attraktivität gewann.2 Nationale Bewegungen galten in der Perestroika zunächst als demokratisierend, da sie einen Gegenentwurf zum bis dahin herrschenden Etatismus bildeten. 1991 hat Mykola Ryabčuk einen kritischen Blick auf die damaligen Entwicklungen geworfen, indem er postuliert hat, die Ablehnung des sowjetischen Top-downModells für verordnete Partizipation sei noch keine durchdachte und antizipierte Grundlage für eine Zivilgesellschaft. Weiter hat er für die gerade im Aufbruch befindliche Zivilgesellschaft den neuen Nationalismus als Gefahr benannt, da er nicht demokratisch sein müsse.3 Daraus lässt sich die These ableiten, dass es für zivilgesellschaftliches Handeln und nationale Bewegungen in der späten Sowjetukraine gemeinsame Ausgangspunkte gab, die im historischen Kontext und der damaligen Stimmung in der Bevölkerung zu suchen sind. Bald kam es zu einer unausgesprochenen Konkurrenz dieser neuen Ideen von Gemeinschaft, die auf bislang marginalisierten oder tabuisierten Identifikationsangeboten beruhten. Während die Zivilgesellschaft schwach entwickelt blieb, erlebte die nationale Bewegung in der unabhängigen Ukraine nach 1991 einen Aufschwung, da neue Geschichtsbilder über die Ukraine als »Opfernation« mehrheitsfähig und dadurch integrativ waren.4 Vorstellungen von der Vergangenheit spielen für Identitätsangebote eine zentrale Rolle, wie es Maurice Halbwachs und Jan Assmann dargelegt haben.5 Der Bezug auf eine gemeinsame Vergangenheit dient der Selbstdefinition und Identitätsvergewisserung. In einer kollektiven Identität drückt sich gesellschaftliche Zuge2 Ryabchuk, Mykola: Civil Society and National Emancipation. The Ukrainian Case, in: Rau (Hg.): Reemergence, S. 95–112. 3 Ebd., S. 101, 103. 4 Jilge, Wilfried: The Politics of History and the Second World War in Post-Communist Ukraine (1986/1991–2004/2005), in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 54 (2006) 1, S. 50–81. 5 Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967, S. 71 f.; Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 52005, S. 39 f., 132 f.

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hörigkeit aus, die Bestandteil eines individuellen Selbstbildes ist. Sie besteht nicht an sich, sondern nur durch die individuelle Identifikation mit den damit verbundenen Vorstellungen. So ist es wenig erstaunlich, dass in Zeiten der neuen Meinungsfreiheit während der Perestroika es gerade Kontroversen über die Vergangenheit waren – und hier besonders den Stalinismus und die Zeit des »Großen Vaterländischen Krieges« –, die zu einer Mobilisierung und Politisierung führten. Es war vermutlich einfacher, sich an Debatten über die Vergangenheit als über Fragen der komplizierten Wirtschaftstransformation zu beteiligen, da viele Menschen eigene Erinnerungen besaßen. Dies konnten eigene Erfahrungen oder Familiengeschichten sein, was auch als kommunikatives Gedächtnis bezeichnet wird. Oft waren es Geschichtsbilder, die von der offiziellen sowjetischen Geschichtspolitik deutlich abwichen und in den Jahren der strengen Zensur in der Öffentlichkeit besser verschwiegen wurden. Vielleicht war es aber gerade die eigene Zeitzeugenschaft, die normale Sowjetbürger und Sowjetbürgerinnen ermächtigte, ihre Stimme zu erheben, sich ein eigenes Urteil zu erlauben oder auch dem Schweigen über ihre eigenen Schicksale ein Ende zu bereiten.6 Die Bedeutung von Geschichte und Erinnerung wird somit auf den verschiedenen Ebenen von Staat, Gesellschaft, Nation und Politik als Kern von Identifikationsangeboten deutlich. Als Material dienen hier Publikationen aus der Zeit, Forschungsliteratur und besonders das umfangreiche Privatarchiv von Wilhelm Waibel mit zahlreichen Briefen und Texten.7 Nach einer Darlegung des Konzepts Zivilgesellschaft wird auf den historischen Kontext der Wendezeit in der Ukraine eingegangen, um dann den Fokus auf das Fallbeispiel einer zivilgesellschaftlichen Initiative in der Zentralukraine zu richten.

6 Siehe dazu die zahlreichen Zuschriften an Memorial (Moskau). 7 Ich danke Wilhelm Waibel für den vollständigen Zugang zu seinem umfangreichen Privatarchiv, das in der Zukunft im Stadtarchiv Singen abgeliefert werden wird. Einzelne wichtige Dokumente befinden sich bereits in der Digitalisierung und werden ebenfalls durch das Stadtarchiv Singen ab Herbst 2019 online zur Verfügung stehen. Im Folgenden abgekürzt mit PA Waibel.

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Zivilgesellschaft In diesem Kapitel erfolgt eine Auseinandersetzung mit dem Konzept der Zivilgesellschaft, das in verschiedenen Disziplinen in einem breiten Spektrum von normativ, analytisch, deskriptiv bis hin zu funktional verwendet wird.8 Oftmals tauchen ähnliche synonyme Begriffe wie NGO (Nichtregierungsorganisation), soziale Bewegung, Verein oder Bürgergesellschaft auf, zudem erfolgt die Betrachtung implizit im Rahmen von Entitäten wie »Gesellschaft« oder »Gemeinschaft«, ohne klare Bezüge oder Abgrenzungen vorzunehmen. Diese diffusen Verwendungen spiegeln sich auch in populären Vorstellungen von Zivilgesellschaft als nicht staatlich, demokratisch, öffentlich, ein Zusammenschluss von Menschen, die gemeinsame Ziele verfolgen und wofür es rechtliche Grund­ lagen der Teilhabe gibt. Der Begriff ist zumeist positiv im Sinne von Partizipation, Pluralismus und Chancengleichheit konnotiert, ohne jedoch kritisch nach Vereinigungen im politisch extremen Spektrum wie nationalistischen Gruppen oder auch Religionsgemeinschaften sowie elitären Verbünden zu fragen, die je nach Betrachtungsweise ebenfalls Zivilgesellschaft sein können. Eine allgemeine Definition findet sich bei Michael Walzer: Civil society is the sphere of uncoerced human association between the individual and the state, in which people undertake collective action for normative and substantive purposes, relatively independent of government and market.9 Die hier genannten Grundelemente – Staat, Wirtschaft, Gesellschaft – werden in einer weiteren Definition nochmals genauer mit dem Bild der Handlungsräume beschrieben: Unter civil society, also Zivil- oder Bürgergesellschaft, wird in der Regel ein gesellschaftlicher Raum, nämlich die plurale Gesamtheit der öffentlichen Assoziationen, Vereinigungen und Zusammenkünfte verstanden, die auf dem freiwilligen Zusammenhandeln der Bürger und Bürgerinnen beruhen. Vereine, Verbände und soziale Bewegungen sind dabei typische Organisations8 Richter, Saskia: Zivilgesellschaft – Überlegungen zu einem interdisziplinären Konzept, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 08.03.2016, http://docupedia.de/zg/Zivilgesellschaft?oldid=125841 Versionen: 1.0 [11.05.2019]. 9 Zitiert in: Edwards, Michael: Introduction. Civil Society and the Geometry of Human Relations, in: ders. (Hg.): The Oxford Handbook of Civil Society, New York 2011, S. 3–13, hier S. 4.

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formen. Diese Vereinigungen sind unabhängig von einem staatlichen Apparat und in der Regel auch unabhängig von wirtschaftlichen Profitinteressen, das heißt, idealtypisch bilden sie eine Sphäre aus, die nicht staatlich ist und nicht auf reinen Marktprinzipien beruht.10 Zwei Erkenntnisse sind zunächst festzuhalten: Die Zielsetzungen der zivilgesellschaftlichen Vereinigungen sind zwar nicht individuell, können aber durchaus partikular und auch entgegen einem je zu definierenden Gemeinwohl sein, was von den Personen abhängt, die auf der Grundlage ihres Wissens und ihrer Möglichkeiten eine Vereinigung bilden. Und es bedarf keiner demokratischen Grundstrukturen für eine Zivilgesellschaft, was im Umkehrschluss heißt, dass es sie auch in Diktaturen oder totalitären Gesellschaften geben kann. Obwohl die Kritik an dem Begriff der Zivilgesellschaft als unscharf, ungenau und gebunden an spezifische Vorannahmen oder historische Zeiten berechtigt und notwendig ist, muss nach den Chancen gefragt werden, die seine Verwendung analytisch sinnvoll machen. In Bezug auf Osteuropa wird die in den 1980er Jahren sich ausweitende Krise des Kommunismus als eine »Revolte der Zivilgesellschaft gegen den Staat« von damaligen Oppositionellen verstanden.11 Als Selbstverortung damaliger Akteure verweist es auf ihr politisches Bewusstsein. Ebenso spiegelt es im Rahmen der genannten drei Elemente Wechselverhältnisse und Aushandlungsprozesse, was zumindest für historische Fragestellungen Einblicke in damalige Szenarien des Wandels ermöglicht. Die Vorstellung und Ausformung gemeinschaftlicher Interessen zwischen den Polen Staat und Individuum lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen und typologisieren.12 Gesellschaften und Kulturen unterliegen einem Wandel, weshalb es auch keine normative Zivilgesellschaft geben kann, sondern sie als ein relationales Konzept verstanden werden muss, das Einblicke in Politikverständnis, Gemeinschafts- und Gesellschaftsentwürfe, Möglichkeiten und Grenzen der Partizipation sowie Ideen des Gemeinwohls ermöglicht. Allfällige Begrifflichkeiten wie NGO, Bürgergesellschaft oder SONGOs13 spiegeln die 10 Adloff, Frank: Zivilgesellschaft, Frankfurt a. M. 2005, S. 8. 11 Ehrenberg, John: The History of Civil Society Ideas, in: Edwards (Hg.): The Oxford Handbook of Civil Society, S. 15–25, hier S. 23. 12 Ebd., S. 15–25. 13 Sozial orientierte NGOs, siehe dazu das Beispiel Russland, wo Fragen der Sozialfürsorge an SONGOs delegiert werden: https://www.bpb.de/internationales/europa/russland/analysen/261073/analyse-diversifizierung-der-sozialen-dienstleistungen-in-russland-gruende-­ fuer-regionale-unterschiede [12.05.2019]

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Aushandlungsprozesse und müssen in ihrem Entstehungskontext betrachtet werden. Wenig Beachtung findet die Frage, in welchem Verhältnis Zivilgesellschaft und Gesellschaft oder Gemeinschaft stehen, wenn man darin keine Synonyme sieht, sondern separate Teile eines Ganzen. Nach Georg Simmel besteht dort Gesellschaft, wo »mehrere Individuen in Wechselwirkung treten«.14 Gesellschaft ist nicht die bloße Summe von verschiedenen Individuen, die nebeneinanderleben, sondern entsteht in einem Prozess, wird durch das Handeln der Individuen, durch ihre Praktiken und Kommunikation gestaltet.15 Weiter unterscheidet Simmel zwei Formen von Gesellschaft: einmal Gesellschaft an sich, als Organisationsform mit einer spezifischen Entstehungsgeschichte, und den Zusammenschluss von Individuen zu einer Gesellschaft mit allen ihren »Beziehungsformen«.16 Innerhalb einer Gesellschaft existieren verschiedene Gemeinschaften oder Gruppen, die sich nochmals durch spezifische Formen der Selbstorganisation unterscheiden. Diese Differenzierung findet sich auch bei Ferdinand Tönnies, der Gemeinschaft als etwas Vertrautes bezeichnet, Gesellschaft hingegen als übergeordnet und dadurch abstrakter.17 Niklas Luhmann spricht von verschiedenen Systemen – konkret vom Sozialsystem – weshalb für ihn Gesellschaft »das umfassende Sozialsystem aller kommunikativ füreinander erreichbaren Handlungen« sei.18 Neben Gesellschafts- und Interaktionssystem existieren in komplexen Gesellschaftsordnungen Organisationen, deren Mitgliedschaft an spezifische Bedingungen geknüpft ist.19 Diese soziologischen Zugänge verwenden nicht den Begriff Zivilgesellschaft, verweisen aber auf starke Differenzierungen innerhalb von Gesellschaften. Zudem lassen sich aus den vorhergehenden Ausführungen zwei Postulate menschlichen Daseins festhalten: Ein Mensch ist zugleich Individuum und Teil eines oder mehrerer Kollektive. Und soziale Gebilde sind eine Grundkonstante der menschlichen Existenz. Wie sahen demzufolge Vorstellungen von Gesellschaft und Gemeinschaft in der Sowjetunion aus, worauf beruhte der Wandel in den 1980er Jahren? 14 15 16 17

Simmel, Georg: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908, S. 5. Ebd., S. 6. Ebd., S. 19. Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirische Culturformen, Leipzig, 1887. 18 Luhmann, Niklas: Moderne Systemtheorien als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse, in: Jürgen Habermas/Niklas Luhmann (Hg.): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt a. M. 1971, S. 7–24. 19 Ebd., S. 12.

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Das sowjetische politische System begann nach der Oktoberrevolution 1917 durch die Bildung von Räten als ein maximal partizipatorisches Experiment, das jedoch spätestens mit der Wende zum Stalinismus Ende der 1920er Jahre scheiterte. Dennoch wurde ein Selbstverständnis der Massenpartizipation sowohl unter der Diktatur Stalins als auch in den Jahrzehnten seit seinem Tod im März 1953 durch verschiedene Massenorganisationen aufrechterhalten. Das Verständnis von Gesellschaft und Politik war jedoch strikt normativ und top-down geregelt, weshalb abweichende Meinungen massiv bekämpft und Personen, die solche vertraten, als »Andersdenkende« (inakomyslennie) bezeichnet wurden. Es gab weder eine garantierte Meinungsfreiheit noch das Recht auf Eigentum, wofür Menschenrechtler wie Ljudmila Alekseeva oder Andrei Sacharov immer wieder eintraten.20 Normale Bürger und Bürgerinnen konnten sich einer staatlichen Kontrolle der öffentlichen Sphäre kaum entziehen, sondern reagierten mit diversen Anpassungsstrategien darauf.21 Es entstand eine Nischengesellschaft, indem zwischen einer öffentlichen, angepassten Haltung und privatem, nonkonformem Handeln getrennt wurde.22 Die engere Bindung an private Netzwerke und eine skeptische Haltung gegenüber sozialen Bewegungen setzten sich auch nach 1991 in den Gesellschaften Osteuropas fort.23 Der Erklärungsansatz von Marc Howard zur Schwäche der Zivilgesellschaft in den postkommunistischen Staaten steht nicht im Widerspruch zu meiner eingangs formulierten These. Nimmt man die Ebene der Gesellschaft als national konstruiert hinzu, muss nach der Attraktivität dieses Identifikationsangebots nach 1991 gefragt werden. Die Idee einer nicht nur politisch und ökonomisch zusammengehörenden Gemeinschaft drückte sich im Begriff des Sowjetvolkes aus, der sich an eine multiethnische Gesellschaft mit einem supranationalen Anspruch richtete, dennoch Züge eines national konstruierten Kollektivs auf einer symbolischen Ebene umfasste. De facto wurden aber nationale Bewegungen bis 1991 massiv unterdrückt. Nach 1991 erlebte die Idee der eigenen Nation in den postsowjetischen Staaten ein Wiedergeburt. Es gibt keine »natürlichen« Nationen, wenngleich immer wieder primordiale Mythen als Legitimation für diese »imaginierten

20 Stephan, Anke: Von der Küche auf den Roten Platz. Lebenswege sowjetischer Dissidentinnen, Zürich 2005. 21 Howard, Marc Morjé: Civil Society in Post-Communist Europe, in: Edwards (Hg.): The Oxford Handbook of Civil Society, S. 134–145, hier S. 137–138. 22 Ebd., S. 138. 23 Ebd., S. 140.

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Gemeinschaften« angeführt werden.24 Um eine Nation abzubilden und vor allem auch nach außen abzugrenzen, bedarf es der symbolischen Ebene: Dazu gehören Zeichen mit einem eindeutigen Wiedererkennungswert wie Fahne, Hymne, Erinnerungsorte oder Sprache, aber besonders auch spezifische Geschichtsbilder, die eine nationale Identifikation auf der Grundlage einer langen, konstruierten historischen Tradition und eines dazugedachten Raumes anbieten. Was im Inneren zu einem Prozess der Vergemeinschaft führen kann, weil die Identifikationsangebote individuell akzeptiert, angeeignet und fortgeschrieben werden, führt aufgrund der Hegemonie dieser Vorstellungen zu Marginalisierungen und einer Desintegration von alternativen Konzepten oder Haltungen.

Grundzüge der Perestroika in der Sowjetukraine Die Veränderungen, Debatten, Radikalisierungen und zunehmenden Probleme in allen Bereichen von Staat und Gesellschaft in den 1980er Jahren und besonders seit dem Amtsantritt von Michail Gorbačëv bilden den historischen Kontext, von dem drei Aspekte hier besonders beleuchtet werden sollen: die Grundzüge der politischen Entwicklung in der Ukraine, soziokulturelle Debatten und Mobilisierungsprozesse. Wenngleich der seit 1972 amtierende Chef der ukrainischen KP, Vladimir Ščerbyc’kyj, dem Reformkurs von Michail Gorbačëv ablehnend gegenüberstand, wirkten sich die angestoßenen Reformprozesse und Diskussionen auch in der Sowjetukraine aus.25 Erst im September 1989 wurde Vladimir Ščerbyc’kyj auf dem Augustplenum der KPdSU des Amtes enthoben und durch einen Vertreter des Reformflügels in der Partei ersetzt, Volodymyr Ivaško.26 Der neue Mann stand auf der Seite von Michail Gorbačëv und wurde von diesem auch protegiert. Ivaško ließ die Organisation Ruch zu und verlangte ebenfalls die Souveränität der Ukraine. Aber bis zu diesem Zeitpunkt regierte Vladimir Ščerbyc’kyj mit eiserner Hand, unterdrückte im Geist der alten sowjetischen Herrschaft jede Form von Opposition oder die Bildung von Volksbewegungen. Er lehnte die Aktivitäten von Ruch strikt ab, was möglicherweise erst zu einer intensiven 24 Langewiesche, Dieter: Nation, Nationalismus, Nationalstaat. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: neue politische literatur (1995) 1, S. 190–236. 25 Haiduk, Joanna: Die Besonderheiten der politischen Transformation in der Ukraine (1985– 1993), in: Wolfdieter Biel (Hg.): Rußland und die Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion, Berlin 1996, S. 181–218, hier S. 185. 26 Haiduk: Besonderheiten.

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Radikalisierung führte. Der Machtzerfall der KP und die Herausbildung unterschiedlicher politischer Gruppierungen war nicht mehr aufzuhalten. Ein weiterer Katalysator für den Unmut und das Aufkommen der nationalen Frage war das Reaktorunglück in Černobyl’ am 26. April 1986. Die abgebrühte Haltung der KP-Führung wurde sichtbar, als trotz hoher Strahlenbelastung Einsatzkräfte von Feuerwehr und Militär nahezu schutzlos in den brennenden Reaktor als »Liquidatoren« geschickt wurden und die Maiparade in Kiew ohne jeglichen Hinweis auf die Gesundheitsgefahr für die Bevölkerung nach Plan durchgezogen wurde. Auch wenn die politische Macht zunächst unangefochten blieb, fanden pa­ral­ lel in der Gesellschaft bzw. innerhalb der Eliten kritische Debatten über die Aufarbeitung des stalinistischen Terrors und der massenhaften Repressionen statt. Sie lösten auch bei ukrainischen Historikerinnen und Historikern Fragen nach den »weißen Flecken« in der »eigenen« Geschichte aus.27 Endlich konnte über die große Hungersnot 1932/33, von der die Ukraine während der Kollektivierung besonders hart betroffen war, auch offiziell geforscht und gesprochen werden.28 In vielen Familien hatte es Opfer gegeben und diese schlimmen Erfahrungen waren im kommunikativen Gedächtnis noch lebendig, konnten aber erst jetzt auch öffentlich benannt werden. Ähnlich verlief es mit der Enttabuisierung der massenhaften Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkriegs, die im Gegensatz zur Hungersnot jedoch einen untergeordneten Stellenwert einnahm.29 Deutlich wird aber, dass die Thematisierung von Erinnerungen des ukrainischen Dorfes auch andere verschwiegene Erfahrungen nun öffentlich darstellbar machte. In späteren Lebensberichten von ehemaligen Zwangsarbeitern wird auf die Erfahrung des Hungers partiell verwiesen. 1986 fand eine wissenschaftliche Konferenz mit dem Titel Die Ukraine unter Stalin statt, kurz darauf erschien das kontrovers diskutierte Buch von Robert Conquest über die Hungersnot.30 Immer wieder kamen Impulse für Geschichtsdebatten auch von der großen ukrainischen Diaspora in Nordamerika, wie etwa die Publikation von Kosyk über spezifische Kriegserfahrungen der Ukraine

27 Solchanyk, Roman (Hg.): Ukraine. From Chernobyl’ to Sovereignty. A Collection of Interviews, London 1992, S. 81. 28 Ebd. Es wird auch auf die Zusammenarbeit mit Memorial und der ukrainischen Diaspora in Kanada verwiesen. 29 Bonwetsch, Bernd: Sowjetische Zwangsarbeiter vor und nach 1945. Ein doppelter Leidensweg, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 41 (1993) 4, S. 532–546, hier S. 543. 30 Conquest, Robert: The Harvest of Sorrow. Soviet Collectivization and the Terror-Famine, New York 1987.

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während der deutschen Besatzungsherrschaft.31 1988 formierte sich in Moskau die Gesellschaft Memorial zur Aufarbeitung des Stalinismus und der sowjetischen Geschichte, was zumindest in interessierten Kreisen unionsweit sehr genau rezipiert wurde.32 Der ukrainische Ableger wurde im März 1989 in Kiew gegründet, ein erstes zentrales und wichtiges Thema war die Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen in Bykivnia, einem Vorort von Kiew.33 Der Streit über die Geschichtsbilder den Zweiten Weltkrieg betreffend spitzte sich bis 1991 weiter zu: Während im Geist der sowjetischen Traditionen die Helden und Veteranen erinnert wurden, feierte das neue nationale ukrainische Geschichtsbild die Helden der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) und bezog sich vor allem auf das ehemalige Galizien.34 Das Spektrum an Themen war breit und 1991 erfolgte endlich auch die Errichtung eines jüdischen Denkmals in Form einer Menorah in Babyn Jar, wenngleich der Holocaust in der Ukraine bis heute nicht ausreichend aufgearbeitet oder angemessen erinnert ist. Neben den kontroversen Debatten über explizit historische Themen beschäftigte die Menschen der rapide sinkende Lebensstandard, das steigende Konsumgüterdefizit und drängende ökologische Probleme. Es wird aus dieser kurzen Schilderung jedoch deutlich, dass die Loslösung von der Moskauer Zentralmacht nicht mehr aufzuhalten war, weshalb die nationale Idee bei dem Referendum 1991 auch viel Zuspruch erhielt. Dazu beigetragen hatte maßgeblich die ukrainische Volksbewegung für die Perestroika, die auch Ruch genannt wird.

Ruch Vom 8. bis 10. September 1989 fand der Gründungskongress der Volksbewegung Ruch in Kiew statt, die sich seit 1988 vornehmlich in der Westukraine, im ehemaligen Galizien, zusammengefunden hatte.35 In Dokumenten aus dieser Zeit 31 Kosyk, Volodymyr: Das Dritte Reich und die Ukrainische Frage. Dokumente 1934–1944, München 1985. 32 Memorial – eine Gesellschaft zur Aufklärung von Verbrechen und Repressionen, in: Osteuropa-Archiv, Mai 1989, S. A230–A237. 33 Atzpodien, Nikolai: Der Tatort Bykivnja. Zeugnis und Erinnerung an den stalinistischen Terror in der Ukrainischen SSR (Unveröffentlichte Masterarbeit Universität Konstanz), Konstanz 2016. 34 Jilge: The Politics of History, S. 58–59. 35 Paniotto, Vladimir: The Ukrainian Movement for Perestroika. »Rukh«. A Sociological Survey, in: Soviet Studies 43 (1991) 1, S. 177–181; Kuratorium geistige Freiheit. Schweiz (Hg.): Dokumente zur Lage in der Ukraine, Bern 1991.

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wird von »informellen Gruppen« gesprochen, was den damaligen restriktiven rechtlichen Rahmen verdeutlicht, zugleich aber auf viele Bottom-up-Initiativen in der ganzen Union verweist.36 Die Aktivisten von Ruch wie Vyačeslav Čornovil oder Ivan Drach galten in der Sowjetukraine als Dissidenten und hatten Verbindungen zum Schriftstellerverband. Am Gründungskongress nahmen 1109 Delegierte teil, darunter 85 Prozent Ukrainer.37 Hauptanliegen waren die nationale Frage, das weitere Schicksal der Ukraine und eine Veränderung der nationalen Symbole, ebenso sehr viel allgemeiner ökologische Fragen und die Sorge um den sinkenden Lebensstandard.38 Am 9. Februar 1990 konnte die Bewegung dann als politische Partei registriert werden und besteht mit verändertem Namen bis heute. Ruch kämpfte für die Unabhängigkeit der Ukraine, indem die nationalen Besonderheiten betont wurden. Ivan Drach führte diesen zentralen Programmpunkt in einer Rede auf dem zweiten Kongress 1990 aus: Wir sind mit einer völligen Unabhängigkeit Russlands von der Ukraine einverstanden. Unsererseits sind wir bereit, den Grossrussen zu vergeben und sie nicht daran zu erinnern, dass es gerade die Ukrainer waren, denen sie Bildung und Kultur, ja sogar ihr Erscheinen in der historischen Arena verdanken.39 Drach propagierte die deutliche Abgrenzung von Russland und suggerierte, dass der Ursprung einer ukrainischen Nation in der Kiewer Rus’ begründet sei, die von den Russen als Beginn der russischen Staatlichkeit betrachtet wird. Bis heute ist die Frage, wem die Kiewer Rus’ »gehört«, ein zentraler Streitpunkt zwischen Russland und der Ukraine, wobei nicht reflektiert wird, dass es historisch damals keine Nationen, sondern nur Fürstenstämme gab. Der jeweilige Geschichtsmythos dient jedoch zur Konstruktion einer kollektiven Identität, als Nachweis einer primordialen Existenz der eigenen Nation. Weiter verwies Drach in seiner Rede auf die Bedeutung der Sprache als Zeichen der nationalen Zugehörigkeit, wobei er die massiven Russifizierungsversuche in der Geschichte der Ukraine kritisierte, zugleich aber die nationalen Helden verehrte.40 Die Idee einer 36 Maljutin, Michail: Die Informellen in der Perestroika. Erfahrungen und Perspektiven, in: Juri Afanassjew (Hg.): Es gibt keine Alternative zu Perestroika. Glasnost, Demokratie, Sozialismus, Moskau 1988, S. 272–293. 37 Paniotto: Ukrainian Movement, S. 177. 38 Ebd., S. 178. 39 Kuratorium geistige Freiheit. Schweiz (Hg.): Dokumente, S. 4. 40 Ebd., S. 10.

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Opfernation wird somit stark gemacht, ebenso die Aufopferung für die Nation, womit Kämpfer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und der UPA wie Stepan Bandera gemeint waren. Weiter kritisierte er die Macht der KP und korrupte Funktionäre, die das Volk ausbeuten und in die Verelendung führen würden.41 Auch hier mündete die massive Kritik in einer Protesthaltung und radikalen Abgrenzung von den bestehenden politischen Verhältnissen. Aus einer sozialen Bewegung entwickelte sich eine politische Gruppierung, die mit klaren Forderungen einen radikalen Umbau forderte. Zeitgleich entstanden auch andere politische Gruppen, die dann bei den ersten Wahlen 1990 um Stimmen warben und sich deutlich in ihren Programmen unterschieden. Die Stimmung war von den aktuellen politischen Debatten über die Souveränität der Ukraine, die Macht der KP und den weiteren Weg der Reformen geprägt, weshalb andere Aspekte zivilgesellschaftlichen Engagements das Nachsehen hatten.42

Die ukrainische Vereinigung ehemaliger Zwangsarbeiter Am 30. Juni 1990 wurde in der zentralukrainischen Kleinstadt Kobeljaki im Gebiet Poltava die Ukrainische Vereinigung ehemaliger Zwangsarbeiter in Deutschland 1941–1945 (Ukrains’ke tovarystvo kolyšnich katoržan u Nimeččyni 1941–1945) gegründet, die im Mai 1992 offiziell registriert wurde. Vorsitzender wurde der Poltaver Journalist Vasil Fedorovič Kotljar (1931–2011), der zuvor bereits im sowjetischen Fond für Barmherzigkeit und Gesundheit (Fond Miloserdija i zdorovja) aktiv gewesen war. Es war die erste Organisation dieser Art in der Sowjetukraine, die sich zu einer juristisch anerkannten Interessengemeinschaft für die Unterstützung der bereits betagten ehemaligen »Ostarbeiter«, die meistens als Jugendliche oder junge Erwachsene während des Zweiten Weltkriegs zur Zwangsarbeit in das Deutsche Reich deportiert worden waren, zusammenschloss.43 Den entscheidenden Impuls hatte ein Bürger aus einer süddeutschen Industriestadt gegeben: Wilhelm Josef Waibel, Jahrgang 1934. In seiner Heimatstadt Singen am Hohentwiel hatte er aufgrund biografischer Erfahrungen das Schicksal der Zwangsarbeiter in der lokalen Rüstungsindustrie und Landwirtschaft während der NS-Zeit aufgearbeitet und dafür zwischen 41 Ebd., S. 12. 42 Kuzio, Taras: Ukraine. Perestroika to Independence, New York 22000, S. 103 f. 43 Vgl. http://www.usva.org.ua/mambo3/index.php?option=com_content&task=view&id=1087 &Itemid=36 [06.01.2019]. Liste der seit 1991 offiziell in der Ukraine sogenannten tätigen Veteranenorganisationen.

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1969 und 1974 und nochmals ab 1984 immer wieder Anfragen an die Herkunftsorte der zahlreichen Ukrainer gestellt, die zwischen 1941 und 1943 vornehmlich aus dem Gebiet Poltava deportiert worden waren.44 Die Briefe blieben in der Zeit des Kalten Krieges unbeantwortet und wurden erst 1989 an den sowjetischen Fond für Barmherzigkeit und Gesundheit in Poltava weitergeleitet, für den sich Vasil Kotljar engagierte.45 Hintergrund war der Wandel in der ukrainischen KP-Führung im Jahr 1989. Jetzt wagten sich auch lokale Funktionäre und Eliten, die den Reformprozess begrüßten, auf die Anfragen aus dem kapitalistischen Ausland eigenständig zu antworten und somit auch das Angebot für internationale Kontakte anzunehmen.46 Der Journalist und Schriftsteller Vasil Kotljar veröffentlichte auf Initiative von Wilhelm Waibel am 16. August 1989 in der ukrainischen Zeitung Zorja Poltavščyna (Abendröte von Poltava) einen Artikel mit der Überschrift: »Niemand ist vergessen, nichts ist vergessen. Ehemalige Zwangsarbeiter aus Singen meldet Euch!« Auf den Apell erfolgten umgehend zahlreiche Reaktionen in Form von Briefen an Kotljar und die Redaktion, woraufhin er Interviews mit ehemaligen Zwangsarbeitern führte.47 Von außen betrachtet verfolgte die kurz darauf neu gegründete zivilgesellschaftliche Vereinigung zwei Ziele: die moralische Anerkennung des Schicksals und Leidens der ehemaligen Zwangsarbeiter, das in der Sowjetunion und auch in West- und Ostdeutschland jahrzehntelag vergessen oder verschwiegen worden war; darüber hinaus aber auch die Einrichtung eines Kontos, um mögliche Entschädigungszahlungen, die infolge von politischen Debatten in der damaligen Bundesrepublik Deutschland erstmals in Aussicht gestellt wurden, an die Alten und Bedürftigen auszahlen zu können. Die Frage der Aufarbeitung des massenhaften Zwangsarbeitereinsatzes während des Zweiten Weltkriegs im Deutschen Reich und auch in den besetzten Gebieten der Sowjetunion ist ebenso wie der Prozess der Entschädigung in den letzten zwanzig Jahren relativ gut dargestellt worden.48 Bislang fehlt eine Geschichte der hier 44 Waibel, Wilhelm: Schatten am Hohentwiel. Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene in Singen, Konstanz 21997. 45 Es gibt keine weiteren Informationen zu dieser Vereinigung. 46 Černyavskyi, Volodymyr: Narodna Dyplomatiya, Poltava 2012 (2. Auflage), S. 21. 47 Stenogramme dieser Interviews finden sich teilweise im Privatarchiv von Wilhelm Waibel. Zeitgleich erlebte auch die 1988 gegründete Gesellschaft Memorial eine Welle von Zuschriften ehemaliger »Ostarbeiter«. Siehe Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.).: Die OstarbeiterInnen. Opfer zweier Diktaturen, Köln 1994. 48 Borggräfe, Henning: Zwangsarbeiterentschädigung. Vom Streit um »vergessene Opfer« zur Selbstaussöhnung der Deutschen, Göttingen 2014; Grinchenko, Gelinada: Ostarbeiters of the Third Reich in Ukrainian and European Public Discourses. Restitution, Recognition,

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erwähnten Organisation, von der nicht bekannt ist, ob sie formal beendet wurde, ebenso Studien zu den damaligen ukrainischen Aktiven, ihren Vorstellungen, Prägungen oder über die Bedeutung der ersten Interessenvereinigung für die marginalisierten Zwangsarbeiter. Diskussionen über die Verbrechen Stalins seit 1985 öffneten das Feld für die Nennung der zahlreichen Opfer und verdrängte, tabuisierte Erfahrungen von Sowjetbürgern und -bürgerinnen. Dazu zählten die Zwangsarbeiter, von denen ein geringer Prozentteil sich 1941/42 freiwillig zum Arbeitseinsatz im Reich gemeldet hatte, nachfolgend die überwältigende Mehrheit jedoch zwangsrekrutiert und zwangsdeportiert worden war.49 Die große Gruppe der Zwangsarbeiter im Deutschen Reich war nochmals in Unterkategorien unterteilt: Am untersten Ende standen die »Ostarbeiter«, die ein entsprechendes Zeichen mit dem Kürzel »Ost« auf ihrer Kleidung tragen mussten, noch weniger Essen als die anderen Zwangsrekrutierten erhielten und keinerlei Rechte besaßen. Aus der Ukraine wurden 2,7 Millionen Zwangsarbeiter verschleppt, aus dem Gebiet Poltava geschätzte 156.000 Personen, davon allein im August 1942 etwa 75.000.50 Die Mehrheit waren Mädchen und Frauen, da die Männer in der Roten Armee dienen mussten. Nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches am 8./9. Mai 1945 waren die zahlreichen Zwangsarbeiter displaced persons und sollten so schnell wie möglich an ihre Herkunftsorte zurückgeführt werden, was für die Sowjetbürger und -bürgerinnen bis Herbst 1945 auch erfolgte. Die deportierten Personen aus der Ukraine kehrten überwiegend in ihre Dörfer oder Kleinstädte zurück, wo es zunächst genaue Befragungen durch den NKVD gab, aber zumindest bei den Frauen keine weiteren Repressalien.51 In den ländlichen Gemeinschaften wusste man über die Zwangsarbeit Bescheid, es wurde nach der Rückkehr aber darüber gegenüber Nachbarn, offiziellen Stellen oder auch Commemoration, in: Julie Fedor et al. (Hg.): War and Memory in Russia, Ukraine and Belarus, London 2017, S. 281–304; Penter, Tanja: Zwischen Misstrauen, Marginalität und Missverständnissen. Zwangsarbeiterentschädigung in Russland, Litauen und Lettland, in: Constantin Goschler (Hg.): Die Entschädigung von NS-Zwangsarbeit am Anfang des 21. Jahrhunderts, Bd. 4. Helden, Opfer, Ostarbeiter. Das Auszahlungsprogramm in der ehemaligen Sowjet­union, Göttingen 2012, S. 194–280. 49 Poljan, Pavel/Zajončkovskaja, Žanna A.: Ostarbeiter in Deutschland und daheim. Ergebnisse einer Fragebogenanalyse, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 41 (1993) 4, S. 547– 561; Grinchenko: Ostarbeiters. 50 Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg/Br. BA MA RW30/177; Scheide, Carmen: »Die im Reich eingesetzten Ostarbeiter stehen in einem Beschäftigungsverhältnis eigener Art« – Das System der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus, in: Britta Panzer/Carmen Scheide (Hg.): 70 Jahre Theresienkapelle – Zwangsarbeit, Gefangenschaft und Gottesdienst, Singen 2017, S. 42–61. 51 Staatsarchiv des Oblast Poltava Fond R-9106.

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in den Familien geschwiegen. Das Schicksal fern der Heimat passte in kein Heldennarrativ über den Einsatz an der Front oder im Hinterland, es war auch kein Akt des Widerstandes gewesen. Im Gegenteil, die Jahre beim deutschen Feind warfen kritische Fragen in der Sowjetunion bis hin zum Vorwurf der Kollaboration auf, weshalb auch individuelle Erinnerungen an »gute Deutsche« erst in späteren Lebensjahren benannt werden konnten.52 Es ist unklar, wie viele Frauen während der Zwangsarbeit schwanger geworden waren. Diejenigen, die nicht zu einer Abtreibung gezwungen worden waren oder ihr Kind aus Verzweiflung töteten, datierten später das Geburtsdatum ihrer Kinder oft um.53 Diese Verschleierungstaktiken funktionierten gut, da es in der Landwirtschaft um keine wichtigen Posten, sondern um dringend notwendige Arbeitskräfte ging und niemand bei problematischen Biografien genauer nachfragte.54 Eine kritische wissenschaftliche Aufarbeitung begann in den 1990er Jahren, 1993 und 1995 erfolgte dann in der Ukraine eine rechtliche Gleichstellung der ehemaligen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen mit Kriegsveteranen.55 Einerseits fand somit eine Anerkennung als Opfer statt, zeitgleich erlebte aber auch das Gedenken an die Hungersnot 1932/33 eine Aufwertung zu einem neuen nationalen Geschichtsbild, das in Analogie zu einem Genozid als Holodomor bezeichnet wurde. Erneut kam es zu einer Marginalisierung der Zwangsarbeiter angesichts einer Hierarchisierung von Opfern.56 Neben den strukturellen Gegebenheiten muss auch nach den Akteuren und ihrer Motivation für ein zivilgesellschaftliches Engagement gefragt werden. Die zentralen Protagonisten, Wilhelm Waibel und Vasil Kotljar, wurden bereits mehrfach erwähnt. Obwohl die beiden Männer in konträren politischen Systemen sozialisiert worden waren und über die soziale Wirklichkeit des jeweils anderen viele Feindklischees wie Antikommunismus oder Faschismus im Kopf hatten, verband sie die grausame Erfahrung des Zweiten Weltkrieges und eine humanistische Grundhaltung. Dies ermöglichte trotz vieler Vorbehalte eben52 Siehe dazu die zahlreichen Beispiele in den Lebensberichten der ehemaligen Zwangsarbeiter im PA Waibel, Interview mit dem ehemaligen Zwangsarbeiter Iwan Wowk Dezember 2014 in Mirhorod. 53 Interview mit W. Waibel, Januar 2014. 54 Diese Aussagen beruhen auf der Auswertung von Selbstzeugnissen ehemaliger Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen im PA Waibel, ebenso auf Oral-History-Interviews im Gebiet Kobeljaki zwischen 2015 und 2018. 55 Poljan/Zajončkovskaja: Ostarbeiter; Grinchenko: Ostarbeiters S. 289; Thonfeld, Christoph: Rehabilitierte Erinnerungen? Individuelle Erfahrungsverarbeitungen und kollektive Repräsentationen von NS-Zwangsarbeit im internationalen Vergleich, Essen 2014, S. 108. 56 Jilge: The Politics of History.

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falls einen Erstkontakt, der sich zu einer späteren Freundschaft entwickelte.57 Vasil Kotljar, im Jahr 1931 in Poltava geboren, erlebte dort auch die deutsche Besatzungsherrschaft zwischen 1941 und 1943: Ich sah die Grausamkeiten der Faschisten, den Verrat eigener Landsleute, sah die Vaterlandsliebe der Poltaver und auch normales menschliches Verhalten der deutschen Soldaten uns gegenüber, die mir nicht selten ein Stück Brot gaben, Süßes und Zucker. 1946–1947 war ich in Deutschland, mit dem Vater, der Militär war, in Thüringen, in Sonneberg. Da habe ich auch einiges gesehen.58 Nach der Ausbildung als Jurist arbeitete Kotljar seit 1961 im Komitee für Radioangelegenheiten, als Journalist und Schriftsteller. In der Zeit der Perestroika übernahm er den Vorsitz des damals neu gegründeten Fonds für Barmherzigkeit und Gesundheit, denn, so Kotljar, »ich war einverstanden, um die Möglichkeit zu haben, Gutes zu tun für leidende Menschen, zu kämpfen mit der Härte und dem Bürokratismus in den Beziehungen zwischen den Menschen, zwischen den Menschen und der Macht«.59 Im Februar 1989 wurde die Gesellschaft Memorial in der Ukraine gegründet,60 jedoch ist unklar, ob Kotljar davon wusste oder Kontakt zu den verschiedenen Stellen von Memorial hatte, was anzunehmen ist. Als mehrfach ausgezeichneter Journalist und mit dem Selbstbild, zur lokalen Elite und Intelligenz zu gehören, verfolgte er sicherlich aufmerksam alle neuen Debatten.61 Sicherlich kannte er durch den Schriftstellerverband auch die beiden Protagonisten der Bewegung Ruch, Drach und Čornovil. Immer wieder betonte Kotljar in Briefen an Waibel den hohen Stellenwert der Nation und das Bewusstsein für nationale Werte, zugleich besaß er eine enge Bindung an seinen Herkunftsort Poltava und die Region Zentralukraine. In einem Gedichtband von 2001 veröffentlichte er seine Verse sowohl auf Ukrainisch und Russisch, womit er verschiedene Identifikationen zeigte, die typisch für die Ukraine waren.62 An vielen Orten in der 57 Interview mit Wilhelm Waibel, Januar 2014. 58 Brief von Kotljar an Waibel vom 23.09.1989, PA Waibel, übersetzt und auf Deutsch geschrieben von Lena Daniljuk. 59 Ebd. 60 Bislang fehlen Forschungen dazu. 61 Der Nachfolger von Vladimir Ščerbyc’kyj, Volodymyr Ivaško (1932–1994) stammte aus Poltava und gehörte zum reformorientierten Flügel der ukrainischen KP. Möglicherweise bestanden Kontakte zwischen ihm und Kotljar. Kuzio: Ukraine, S. 106. 62 Kotlyar, Vasyl: Vdyvlyayus’ u svit. Kremenčuk 2001.

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Ukraine tauchten damals verdrängte Erfahrungen wie etwa die OUN/UPA in der Westukraine oder die große Hungersnot auf und flossen in neue Sichtweisen über die Ukraine als Opfernation ein. Das Engagement für die Zwangsarbeiter aus dem Gebiet Poltava kann auch als Versuch von Kotljar gewertet werden, diese lokalen und regionalen Erinnerungen auf einer nationalen Ebene einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln. Die Umwertung der Geschichte und damit verbundene Bildkorrekturen sind auch bei ihm ersichtlich. In einem Brief an Waibel vom Dezember 1989 reflektierte Kotljar sein eigenes Geschichtsbild bezüglich der ehemaligen Zwangsarbeiter, wobei er zu diesem Zeitpunkt noch von »Sowjetbürgern« sprach: Wir, Sowjetbürger, hatten immer das Mitgefühl mit solchen Menschen [Zwangsarbeitern]. Aber wir vergessen oft, dass sie nicht nur unser Mitgefühl, sondern viel mehr unsere Sorge und unsere Achtung brauchen. Wir ließen diese Menschen außer Acht, wir untersuchten ihre Lebenswege nicht. Wir schenkten ihnen keine einzige Zeile in den Büchern und Zeitungen. Und es gab ja Tausende von Zwangsarbeitern. Allein aus dem Gebiet Poltava waren 156.000 Jungen und Mädchen unter den Zwangsarbeitern. Viele von ihnen waren in Singen, in einer deutschen Stadt […]. In einem Brief bestimmte Herr Waibel seine Stellung. Die Menschen in der Sowjetunion und in der BRD sollten alles tun, um die Beziehungen zwischen den Ländern zu verbessern, damit die ehemaligen Gegner zu Freunden würden, damit sich die jungen Generationen annäherten, damit ein neuer Krieg nicht mehr möglich sei. Und weiter schrieb er: »Ich tue es aus der christlichen Barmherzigkeit und möchte damit die Schuld (aber nicht meine persönliche) vor den Menschen Ihres Landes sühnen, die in meiner Heimat litten und hier starben.«63 Nach einem intensiven Briefwechsel zwischen Waibel, Kotljar und den Verantwortlichen im Rayon Kobeljaki kam es am 30. Juni 1990 zur Gründung der Vereinigung in Kobeljaki mit dem Vorsitzenden Kotljar. In den Statuten wurde festgehalten: Wir erlebten die Jahre der Erniedrigung und der schweren Arbeit in der Gefangenschaft. Wir litten an Hunger und Krankheiten, wir waren unterdrückt und rechtlos. Wir waren Opfer des vom Hitlerfaschismus entfesselten 63 PA Waibel: Brief von Wasil Kotljar an Willi Waibel vom 24.12.1989.

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Abb. 1: Vorstand der Vereinigung ehemaliger Zwangsarbeiter 1991. Die Frau links ist die Übersetzerin Lena Danilyuk, neben ihr Wilhelm Waibel, rechts außen Vasyl Kotljar (Privatarchiv von Wilhelm Waibel).

blutigen Krieges. Aber auch nach der Befreiung sahen wir wenig Barmherzigkeit und Mitgefühl. Auch heute gibt es noch Menschen, die unsere Gefangenschaft als Schande betrachten. Das ist bitter und unrecht.64 Im Juli 1991 reiste Wilhelm Waibel mit einer städtischen Delegation aus Singen nach Kobeljaki, wo er in den Vorstand der Vereinigung gewählt wurde. Zuvor hatte er darum gebeten, dort ehemalige Zwangsarbeiter zu treffen, was auch erfolgte. Bei der Versammlung entschuldigte er sich bei den etwa 500 Anwesenden für das erlittene Leid, weshalb die damals anwesende Journalistin Ludmila Ovdijenko später ein Buch mit dem Titel Wir sind keine Feinde mehr verfasste.65 Auch auf deutscher Seite erfolgte ein Prozess der Versöhnung durch zivilgesellschaftliche Akteure, bevor dann per Gesetzgebung eine Entschädigung und die Gründung der Stiftung Erinnerung – Verantwortung – Zukunft sowie

64 Zitiert in Waibel: Schatten am Hohentwiel, S. 185. 65 Ovdienko, Lyudmyla: My bilše ne vorogi – Wir sind keine Feinde mehr, Poltava 2009.

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Abb. 2: Treffen mit ehemaligen Zwangsarbeitern im Rayon Kobeljaki 1991 (Privatarchiv von Wilhelm Waibel).

die Auszahlung an noch Lebende erfolgte.66 Eine Hauptaufgabe der ukrainischen Vereinigung in den 1990er Jahren war es, Dokumente über den Arbeitseinsatz in Deutschland zu besorgen und entsprechend finanzielle Entschädigungen auszuzahlen. Waibel begab sich über viele Jahre auf die Suche nach Nachweisen über den Aufenthalt in Deutschland, da den ukrainischen Rückkehrern 1945 von den sowjetischen Behörden im Rahmen der Filtration alle offiziellen Dokumente abgenommen worden waren. Aus dem Kontakt entstanden eine Städtepartnerschaft und persönliche Freundschaften. Die Vereinigung ehemaliger Zwangsarbeiter wurde später mit anderen Veteranenorganisationen in der Ukraine zusammengelegt, weitere Forschungen dazu stehen aus.

66 Vgl. https://www.stiftung-evz.de/start.html [01.08.2019]; Grinchenko: Ostarbeiters.

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Ausblick Wenngleich Aufbruch, Reformen und Wandel seit 1985 durch eine reaktionäre Haltung der KP Führung zunächst noch massiv unterbunden wurden, erreichten die kontroversen Debatten auch die Sowjetukraine. Parallel fanden Prozesse der Mobilisierung und Vergemeinschaftung statt, die unterschiedliche Ziele verfolgten, sich ergänzen, aber auch konkurrieren konnten, wobei die Implementierung eines neuen nationalen Gesellschaftsentwurfes starke integrative Kraft für größere Massen ausstrahlte, besser auf die Abgrenzung zum Sowjetsystem reagierte und zugleich leicht zu adaptierende Identifikationen anbot, wohingegen die Vereinigung der Zwangsarbeiter wesentlich kleinere Gemeinschaften umfasste, eine sehr spezifische Zielsetzung hatte und in Bezug auf kollektive Geschichtsbilder Kontroversen evozierte. Die Zwangsarbeitervereinigung ermöglichte es, verschwiegene, marginalisierte lokale Erfahrungen öffentlich zu benennen. Der symbolische Wert einer Anerkennung des Leids war sehr wichtig, ebenso der praktische Nutzen einer kleinen finanziellen Kompensation aus der deutschen Entschädigungsstiftung. Es handelte sich jedoch nicht um eine Gemeinschaft im Sinne einer homogenen Gruppe, da die Erfahrungen, Biografien und sozialen Wirklichkeiten der ehemaligen Zwangsarbeiter viel zu disparat waren und eine Mehrheit auch keine expliziten politischen Ziele verfolgte. Diese hier kurz skizzierte Analyse zu konkurrierenden Vorstellungen von Gemeinschaft in der Ukraine im Wandel um 1991 bedarf in weiteren Forschungsprojekten noch einer kritischen Überprüfung, zeichnet sich aber als ein logischer Erklärungsansatz für die schwache Entwicklung einer Zivilgesellschaft ab. Die Vereinigung der ehemaligen Zwangsarbeiter war eine stark zweckgebundene Interessenvertretung und verfolgte kein politisches, in die Zukunft gerichtetes Programm, wodurch ihr Aktionsradius sehr beschränkt blieb. Anders agierte die Bewegung Ruch mit Ideen einer Befreiung vom quasikolonialen Sowjetimperium. Zudem bot Ruch neue Identifikationsangebote in Form von eigenen Geschichtsbildern an. Diese wirkten für breite Teile integrativ, wodurch national konnotierte Bewegungen um 1991 eine neue Hegemonie erlangten. Vorstellungen einer konkreten Gemeinschaft stehen nicht im Widerspruch zu einer individuellen Zustimmung zu einem spezifischen Gesellschaftsentwurf, was am Fallbeispiel aufgezeigt werden konnte. Es handelt sich in der Theorie vor allem um analytische Kategorien, die in der Wahrnehmung eines Individuums nicht scharf voneinander getrennt sind, sondern sich in seinem Selbstverständnis vermischen und die Grundlage des Selbstbildes ausmachen. Vasyl Kotljar hatte in Bezug auf die Ukraine ein positives nationales Bewusst-

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sein, zugleich war er fest in seiner Region und in seinem Lebensort verwurzelt. In Poltava und Umgebung lagen seine Handlungsfelder, dort konnte er neue Praktiken ausprobieren und entfalten, dort erhielt er soziale Anerkennung und zeigten seine Aktionen Wirkung. Vermutlich wäre all das auf der Unionsebene viel schwieriger gewesen. Es muss davon ausgegangen werden, dass Kotljar viele zeitgenössische politische, kulturelle, historische und soziale Debatten verfolgte und antizipierte. Vermutlich stimmte er auch einer Abgrenzung der Ukraine von Russland zu, wie es Ruch forderte, aber seine Lebenswelt war die Region, hier hatte er seine Netzwerke und Betätigungsfelder. Und die nutzte er als Journalist, Schriftsteller und Mitbegründer einer zivilgesellschaftlichen Organisation. Für die ehemaligen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen war das Dorf oder die ländliche Kleinstadt mit den jeweiligen lokalen Gesellschaften ihre Lebenswelt. Das schließt nicht aus, dass sie sich über aktuelle politische Fragen eine Meinung bildeten, ohne gleich nach eigenen Betätigungsfeldern in der Politik zu suchen. Vermutlich wurden sie vor allem dann aktiv, wenn es um ihre konkreten Interessen wie die symbolische Anerkennung als Opfer oder die unzensierte Darstellbarkeit ihrer durch den Krieg erschütterten Biografien ging. Wilhelm Waibel besaß sehr klare politische Vorstellungen, indem er sich als Erwachsener kritisch mit seiner Begeisterung als Hitlerjunge auseinandersetzte, die mit dem Erlebnis eines heftigen Bombenangriffs auf seine Heimatstadt im Dezember 1944 geendet hatte. Er war in einem katholisch konservativen Milieu aufgewachsen und hatte sich kurze Zeit in der christlich-konservativen Partei CDU engagiert. Jedoch entschied er sich sehr bewusst gegen ein politisches Amt in einer Partei, sondern für ein starkes bürgerschaftliches Engagement, das er in sehr vielen Facetten auch praktizierte. In dieser Form der konkreten Teilhabe liegen mehr Möglichkeiten für Eigensinn oder gezielte Aktionen, zugleich kann ein Individuum sich mit einer Gesellschaft durch Zustimmung identifizieren, wofür die eingangs genannte symbolische Ebene maßgeblich ist. Sicherlich ist es einfacher, mitzumachen – was die Gesellschaft leicht ermöglicht – als selber aktiv zu werden, Verpflichtungen einzugehen, Verantwortung zu übernehmen und Aushandlungsprozesse durchzustehen; Elemente, die mit der Partizipation an der Zivilgesellschaft verbunden sind. Abschließend sei erwähnt, dass die Gründung der Vereinigung, die Knüpfung internationaler Beziehungen – und hier besonders mit dem ehemaligen Feind – wichtige Schritte der Versöhnung sowohl nach innen als auch nach außen waren.

Igel mit Phantomschmerzen Die »Wende« 1989 und die Schweiz Christian Koller

»Gorbatschow hat uns das Feindbild nicht genommen […], er hat dessen Berechtigung vielmehr zunächst einmal voll bestätigt.«1 Autor dieser Zeilen war im Mai 1989 der Militärpublizist Gustav Däniker, pensionierter Stabschef operative Schulung der Schweizer Armee. Er brachte damit zum Ausdruck, dass die Schweizer Sicherheitspolitik für Jahrzehnte auf das Feindbild Moskau fixiert gewesen war, das nun ins Wanken kam. Däniker, seinerzeit Befürworter einer helvetischen Atombewaffnung,2 hatte ein Vierteljahrhundert zuvor an der Landesausstellung in Lausanne den Pavillon zur Landesverteidigung mitkonzipiert.3 Die Fassade des gewaltigen Betonbaus mit 141 Stacheln symbolisierte einen Igel. Die Metaphorik stand sowohl für die bis zu den alteidgenössischen Haufen zurückreichende »Igelstellung« als Formation der Rundumverteidigung als auch besonders für die Vorstellung von der Schweiz insgesamt als einem Stacheltier, das sich bei Gefahr zusammenrollt. Wenige Monate nach Dänikers Statement von 1989 brach der Ostblock zusammen. Der Verlust des ordnungsstiftenden Feindbilds führte zu Phantomschmerzen und der Suche nach Substitution. Als der Schreibende 1991 die Rekrutenschule absolvierte, wurde im Theorieunterricht etwa der – auf der Karte in Schottland verortete – Nordirlandkonflikt als potenzielles Gefahrenmoment für die Schweiz thematisiert, besonders aber die Europäische Gemeinschaft (EG). Der Putsch orthodoxer Kommunisten in Moskau im August führte bei gewissen Kadern für wenige Tage zu nostalgischen Gefühlen, ansonsten war der Kalte Krieg im Waffenplatzrestaurant »Grüner Igel« kaum noch ein Thema.

1 Weltwoche, 04.05.1989. 2 Däniker, Gustav: Nonproliferation – Hoffnung oder Gefahr?, in: Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift 131 (1965), S. 520–523. 3 Däniker, Gustav: Konzept und Entstehung der »Wehrhaften Schweiz«, in: Schweizer Soldat 39 (1964), S. 384 f.; Vallotton, François: Le pavillon de l’Armée. Un caillou dans la chaussure de la Direction?, in: ders. et al. (Hg.): Revisiter l’Expo 64. Acteurs, discours, controverses, Lausanne 2014, S. 68–85.

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Abb. 1: Militärvertreter beim Maskenschnitzer im Jahre 1989: »Was wir im Moment dringend brauchen, verehrter Meister, ist ein neues Feindbild«. Karikatur von Hans Sigg (Schweizerisches Sozialarchiv, F 5055-Ka-012).

Die osteuropäische »Wende« löste also auch im neutralen Kleinstaat fundamentale Verunsicherungs- und Neuorientierungsprozesse aus. Im Folgenden werde ich zunächst die helvetische Episteme des Kalten Kriegs vorstellen, die ab den 1970er Jahren zuweilen als »Igelmentalität« verspottet wurde. Die geistige Verortung in der bipolaren Welt führte zur Herausbildung eines umfassenden Abwehrdispositivs, das bis Ende der 1980er Jahre bestand. Das zweite Kapitel rekonstruiert die Interferenzen zwischen Weltgeschichte und helvetischer Innenpolitik im Herbst 1989, die die Episteme des Kalten Kriegs zum Einsturz brachten und die auf ihr basierenden Institutionen in eine Krise stürzten. Das dritte Kapitel gibt Hinweise auf mentale und strukturelle Adaptionsprozesse wie auch Orientierungsprobleme nach dem Ende des Kalten Kriegs.

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»Wir machen den Igel«: Die helvetischen Episteme des Kalten Kriegs Die Schweiz war am Ende des Zweiten Weltkriegs wegen ihrer wirtschaftlichen Kooperation mit den Achsenmächten isoliert, gliederte sich aber im Übergang zum Kalten Krieg unter Bewahrung der formalen Neutralität wirtschaftlich und ideologisch rasch ins westliche Lager ein. Die Geistige Landesverteidigung der 1930er und 1940er Jahre4 transformierte sich relativ nahtlos zur »zweiten« Geistigen Landesverteidigung des frühen Kalten Kriegs.5 Wie die »erste« zeichnete sich die »zweite« Geistige Landesverteidigung durch ein Zusammenwirken politischer Kräfte aus, die ansonsten das weltanschauliche und tagespolitische Heu keineswegs auf der gleichen Bühne hatten. Der die Zeit prägende Antikommunismus reichte bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zurück, als die »1918er Rechte«, antisozialistische Pressuregroups und paramilitärische Verbände (»Bürgerwehren«), entstanden waren.6 Ihr geistiges Fundament war oftmals auch antisemitisch grundiert: Das internationale Phantasma vom Kommunismus als Instrument einer jüdischen Verschwörung fand sich in der Schweiz in Verwaltung, Diplomatie und Teilen der Presse.7 Exgeneral4 Mooser, Josef: Die »Geistige Landesverteidigung« in den 1930er Jahren. Profile und Kontexte eines vielschichtigen Phänomens in der schweizerischen politischen Kultur in der Zwischenkriegszeit, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 47 (1997), S. 685–708. 5 Neval, Daniel A.: »Mit Atombomben bis nach Moskau«. Gegenseitige Wahrnehmung der Schweiz und des Ostblocks im Kalten Krieg, 1945–1968, Zürich 2003; Bretscher-Spindler, Katharina: Vom heissen zum Kalten Krieg. Vorgeschichte und Geschichte der Schweiz im Kalten Krieg 1943 bis 1968, Zürich 1997; Buomberger, Thomas: Die Schweiz im Kalten Krieg 1945–1990, Baden 2017; Imhof, Kurt: Das Böse. Zur Weltordnung des Kalten Krieges in der Schweiz, in: Jürg Albrecht et al. (Hg.): Expansion der Moderne. Wirtschaftswunder – Kalter Krieg – Avantgarde – Populärkultur, Zürich 2010, S. 81–104; Van Dongen, Luc: La Suisse dans les rets de l’anticommunisme transnational durant la Guerre froide. Réflexions et jalons, in: Sandra Bott et al. (Hg.): Die internationale Schweiz in der Zeit des Kalten Krieges, Basel 2011, S. 17–30; Sidler, Roger: Arnold Künzli. Kalter Krieg und »geistige Landesverteidigung« – eine Fallstudie, Zürich 2006, S. 475–484. 6 Koller, Christian: »Red Scare« in zwei Schwesterrepubliken. Revolutionsfurcht und Antisozialismus im schweizerisch-amerikanischen Vergleich, 1917–1920, in: Hans Rudolf Fuhrer (Hg.): Innere Sicherheit – Ordnungsdienst, Teil II, Zürich 2018, S. 84–114; Thürer, Andreas: Der Schweizerische Vaterländische Verband 1919–1930/31, 3 Bde, Diss. Univ. Basel 2010. 7 Kamis-Müller, Aaron: Antisemitismus in der Schweiz 1900–1930, Zürich 1990, S. 115–119; Koller, Christian: Aufruhr ist unschweizerisch. Fremdenangst und ihre Instrumentalisierung in der Landesstreikzeit, in: Roman Rossfeld et al. (Hg.): Der Landesstreik. Die Schweiz im November 1918, Baden 2018, S. 338–359; ders.: »Eine der sonderbarsten Revolutionen, die die Geschichte kennt«. Die Schweiz und die ungarische Räterepublik, in: ders./Matthias Marschik (Hg.): Die ungarische Räterepublik 1919. Innenansichten – Außenperspektiven – Folgewirkungen, Wien 2018, S. 229–248.

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stabschef Theophil von Sprecher ethnisierte 1927 die sowjetische Nomenklatura als »jüdisch-slavisch-asiatische Sippschaft«.8 Der Militärpublizist Paul de Vallière führte 1926 in der einflussreichen Broschüre Les troubles révolutionnaires en Suisse de 1916 à 1919 den Landesstreik von 1918 auf eine jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung zurück,9 ebenso der von Rechtskreisen um Altbundesrat Jean-Marie Musy und den späteren SS-Obersturmbannführer Franz Riedweg produzierte Film Die Rote Pest (1938)10 und noch 1960 der sich auf De Vallière beziehende Exchef des Nachrichtendienstes Roger Masson.11 Hatte in der Zwischenkriegszeit die gesamte Arbeiterbewegung unter dem Verdacht der Komplizenschaft mit dem Bolschewismus gestanden, der sich in Verschwörungstheorien über den Landesstreik manifestierte,12 so integrierten sich Sozialdemokratie und Gewerkschaften – die um 1950 ihre Gremien von Kommunisten säuberten13 – nun hinreichend in den bürgerlichen Staat, um unter Vorbehalten als Partner der »zweiten« Geistigen Landesverteidigung fungieren zu können. Der antikommunistische Grundkonsens begünstigte die Etablierung konsensueller Ordnungsprinzipien. In der Politik war dies der Grundsatz, alle wichtigen Kräfte in die Regierungsverantwortung einzubinden. In den industriellen Beziehungen ließen tarifvertragliche Regelungen die Streiktätigkeit ab 1950 gegen null sinken. Störungen dieses »Arbeitsfriedens« wurden in

 8 Sprecher von Bernegg, Th[eophil]: Fragen der Schweizerischen Landesverteidigung nach den Erfahrungen der Zeit des Weltkrieges, in: Allgemeine Schweizerische Militärzeitung 73 (1927), S. 225–254, hier 226.  9 [Vallière, Paul de:] Die revolutionären Umtriebe in der Schweiz von 1916–1919, Schaffhausen 1928. 10 La Peste Rouge (1938), https://www.youtube.com/watch?v=z10BWRkRNnU [28.03.2019]. Vgl. Jaeggi, Bruno et al.: Die Rote Pest. Antikommunismus in der Schweiz, in: Film 1 (1975), S. 49–86. 11 Masson, R[oger]: La Suisse face aux deux guerres mondiales ou du général Wille au général Guisan [suite], in: Revue Militaire Suisse 105 (1960), S. 468–476. 12 Artho, Daniel: Der Landesstreik als gescheiterter Revolutionsversuch? Zur Geschichte
eines verhängnisvollen Narrativs, in: Rossfeld (Hg.): Der Landesstreik, S. 412–429; ­Caillat, ­Michel/Fayet, Jean-François: Le mythe de l’ingérence bolchévique dans la Grève générale de novembre 1918. Histoire d’une construction franco-suisse, in: Traverse 25 (2018) 2, S. 213– 229; Koller, Christian: Irrtum, Erkenntnis und Interessen. Die Erinnerung an den schweizerischen Landesstreik zwischen Geschichtswissenschaft und Memorialpolitik, in: conexus 2 (2019) (i. D.). 13 Eisinger, Angelus: Die dynamische Kraft des Fortschritts. Gewerkschaftliche Politik im Spannungsfeld zwischen Vertragspolitik, sozioökonomischem Wandel und technischem Fortschritt. Eine theoriegeleitete Untersuchung der Politik des SMUV im Zeitraum von 1952–1985, Diss. Univ. Zürich 1996, S. 55–59.

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den 1960er und 1970er Jahren oftmals als durch Immigration aus Südeuropa verursachte kommunistische Einflüsse dargestellt.14 Die durch ausgeprägtes Sonderfalldenken gekennzeichnete Abwehrhaltung gegen den Osten mündete in ein umfassendes militärisch-bürokratisches Verteidigungsdispositiv. Im Igelpavillon der Landesausstellung 1964 sahen über 4 Millionen Menschen den martialischen Film Wehrhafte Schweiz, der Oscar-­ Nominationen in den Kategorien »Kurzfilm« und »Live-Action« erhielt, wegen seiner ausländischen Produzenten aber auch Kritik erfuhr.15 Die Schweizer Armee wies mit 625.000 bis 880.000 Soldaten hinter den Streitkräften der Sowjetunion und Jugoslawiens den drittgrößten Mannschaftsbestand in Europa auf.16 Bis in die 1960er Jahre hielt sich der Bundesrat Atomwaffen als Option offen.17 In den frühen 1950er Jahren beschaffte er in einem Geheimdeal mit Belgien und Großbritannien mehrere Tonnen Uran. 1957 forderte der Waffenchef der Fliegertruppen, Divisionär Etienne Primault, Kampfflugzeuge mit der Fähigkeit, »mit Atombomben bis nach Moskau zu fliegen«.18 Ein Jahr darauf hielt der Bundesrat fest, »dass der Armee zur Bewahrung der Unabhängigkeit und zum 14 Spillmann, Moritz: Fremdarbeiter – wilde Streiks – Gewerkschaften. Die wilden Fremdarbeiterstreiks in der Schweiz der frühen 1970er Jahre und ihr Einfluss auf die Gewerkschaftspolitik – oder: vom verlorenen Vertrauen in das helvetische Selbstverständnis, Liz. Univ. Zürich 2005; Koller, Christian: La grève comme phénomène »anti-suisse«. Xénophobie et théories du complot dans les discours anti-grévistes (19e et 20e siècles), in: Cahiers d’histoire du mouvement ouvrier 28 (2012), S. 25–46. 15 Wehrhafte Schweiz (1964), https://www.youtube.com/watch?v=mXWUCmeUF9o [28.03.2019]. Vgl. Aeppli, Felix: Der Film an der Expo 64 in Lausanne oder: Das Jahr Null des neuen Schweizer Films, in: Kunst+Architektur in der Schweiz 45 (1994) 1, S. 60–65; Rüegg, Severin: Das Bild einer wehrhaften Schweiz. Die Darstellung der Nation in den Filmen der Schweizer Armee, in: Kornelia Imesch/Alfred Messerli (Hg.): Mit Klios Augen. Das Bild als historische Quelle, Oberhausen 2013, S. 203–217. 16 Braun, Peter: Von der Reduitstrategie zur Abwehr. Die militärische Landesverteidigung der Schweiz im Kalten Kriege 1945–1966, 2 Bde, Baden 2006. 17 Schweizerisches Sozialarchiv (SozArch), Ar 1.126.11 Sozialdemokratische Partei der Schweiz. Atombewaffnung Akten; SozArch, ZA 45.5*12 Atomwaffen: Atombewaffnung der Schweiz; Ulrich, Albert/Baumann, René: Zur Frage der Atombewaffnung der Schweizer Armee in den fünfziger und sechziger Jahren, Diplomarbeit ETH Zürich 1997; Metzler, Dominique Benjamin: Die Option einer Nuklearbewaffnung für die Schweizer Armee 1945–1969, in: Studien und Quellen 23 (1997), S. 121–169; Wollenmann, Reto: Atomwaffe und Atomsperrvertrag. Die Schweiz auf dem Weg von der nuklearen Option zum Nonproliferationsvertrag (1958–1969), Zürich 2004; Graf, Simon: Atomwaffen spalten die Schweiz. Der mediale Diskurs über die nukleare Option im Rahmen der Atominitiativen 1962 und 1963, Liz. Univ. Zürich 2008; Cerutti, Mauro: Neutralité et sécurité. Le projet atomique suisse 1945–1969, in: Bott: Die internationale Schweiz, S. 47–63; Fischer, Michael: Atomfieber. Eine Geschichte der Atomenergie in der Schweiz, Baden 2019, S. 13–98. 18 Zit. Braun: Von der Reduitstrategie zur Abwehr, S. 774.

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Abb. 2: Der Armeepavillon an der Landesausstellung 1964 symbolisierte einen Igel in Abwehrstellung (Bibliothek ETH Zürich, Com_BC25-004-016).

Schutze unserer Neutralität die wirksamsten Waffen gegeben werden müssen. Dazu gehören Atomwaffen«.19 Zwei atomwaffenkritische Volksinitiativen wurden 1962/63 mit Zweidrittelmehrheiten abgelehnt, in der lateinischen Schweiz allerdings angenommen. Nach Unterzeichnung des Atomsperrvertrags wurde 1969 bei der Generalstabsabteilung ein Arbeitsausschuss für Atomfragen gebildet, der die Schweiz bis 1988 im Status einer atomaren Schwellenmacht hielt. Zur Vorbereitung auf das Überleben im Atomkrieg erfolgte der Ausbau des Zivilschutzes mit Hunderttausenden von Dienstpflichtigen.20 Es entstanden 360.000 Personenschutzräume und 2300 Kollektivschutzanlagen, darunter 1976 19 Erklärung zur Frage der Beschaffung von Atomwaffen für unsere Armee, 11.07.1958, https:// dodis.ch/16065 [17.04.2019]. 20 Meier, Yves/Meier, Martin: Zivilschutz. Ein Grundpfeiler der Schweizer Landesverteidigung im Diskurs, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 60 (2010), S. 212–236; Berger ­Ziauddin, Silvia: Überlebensinsel und Bordell. Zur Ambivalenz des Bunkers im atomaren Zeitalter, in: David Eugster/Sibylle Marti (Hg.): Das Imaginäre des Kalten Krieges. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Ost-West-Konfliktes in Europa, Essen 2015, S. 69–93; dies.: Vom Tasten, Hören, Riechen und Sehen unter Grund. »Sensory Politics« im Angesicht der nuklearen Apokalypse, in: Traverse 22 (2015) 2, S. 131–144.

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in Luzern eine unterirdische Bunkerstadt für 20.000 Menschen mit umfangreicher Infrastruktur, aber gravierenden Konstruktionsmängeln. Auch wurde die Bevölkerung zur Anlegung von Notvorräten angehalten.21 Visuelle Darstellungen zeigten Schutzräume im Innern von Igeln.22 Geheime stay-­behindStrukturen planten den Widerstand nach einer Invasion aus dem Osten.23 In Zellen organisiert, sollten sie Sabotage und Propaganda betreiben und dem Exilbundesrat Nachrichten liefern. Ihre Instruktoren wurden vom britischen Geheimdienst MI6 geschult. Zur Abwehr des »inneren Feinds« entfalteten Staatsschutzorgane des Bundes, der Kantone und teilweise der Gemeinden eine ausufernde Bespitzelungstätigkeit.24 Sie überwachten nicht nur kommunistische Organisationen, sondern ein breites Spektrum von Menschen, die sich politisch, gesellschaftlich oder kulturell exponierten. Ausmaß und Dilettantismus wurden erst zu Ende des Kalten Kriegs bekannt, jedoch gelangten Kostproben sporadisch an die Öffentlichkeit: 1973 führte die Entdeckung einer polizeilichen Abhöranlage am Kongress der trotzkistischen Ligue Marxiste Révolutionnaire zu einem Skandal.25 Zehn Jahre später enthüllte Nationalrat Moritz Leuenberger, dass 1413 Bürgerinnen und Bürger, die gegen Bundesrat Rudolf Friedrich nach dessen Aussage über eine angebliche sowjetische Steuerung der Schweizer Friedensbewegung Strafanzeigen wegen Verleumdung eingereicht hatten, von der Bundesanwaltschaft 21 Marti, Sibylle: Horten für den Ernstfall. Konsum, Kalter Krieg und geistige Landesverteidigung in der Schweiz, 1950–1969, in: Patrick Bernhard et al. (Hg.): Den Kalten Krieg denken. Beiträge zur sozialen Ideengeschichte seit 1945, Essen 2014, S. 207–234 22 »Kinder zeichnen für den Zivilschutz« an der 14. DIDACTA in Basel, in: Zivilschutz 23 (1976), S. 39; Schutzraum Schweiz. Mit dem Zivilschutz zur Notstandsgesellschaft, Bern 1988, S. 20. Vgl. Berger Ziauddin: Überlebensinsel, S. 79–82. 23 Meier, Titus J.: Widerstandsvorbereitungen für den Besetzungsfall. Die Schweiz im Kalten Krieg, Zürich 2018; Cornu, Pierre: Beziehungen zwischen der Organisation P-26 und analogen Organisationen im Ausland (Administrativuntersuchung P-26/GLADIO). Bericht an den Bundesrat, 05.08.1991, https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/52169. pdf [28.03.2019]; Baumann, Jan: Vermisste Akten zur Geheimarmee P 26 – eine Presseschau, in: infoclio, 06.02.2018, https://www.infoclio.ch/de/vermisste-akten-zur-geheimarmee-p-26eine-presseschau [28.03.2019]. 24 Vgl. Kreis, Georg (Hg.): Staatsschutz in der Schweiz. Die Entwicklung von 1935–1990. Eine multidisziplinäre Untersuchung im Auftrage des schweizerischen Bundesrates, Bern 1993; Büschi, Markus: Fichiert und archiviert. Die Staatsschutz-Akten des Bundes 1960–1990, in: Studien und Quellen 24 (1998), S. 319–379; Tanner, Jakob: Staatsschutz im Kalten Krieg. Mit dem Feindbild Moskau den politischen Burgfrieden zementieren, in: Schnüffelstaat Schweiz. Hundert Jahre sind genug, Zürich 1990, S. 36–46; Sandor, Julia: Ein »Aktengebirge so gewaltig …«. Die kommunikativen Aufgaben der Fichen der schweizerischen Bundespolizei, Liz. Univ. Zürich 2012. 25 SozArch, ZA 58.02 C RML-Kongress in Epalinges (1973).

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registriert worden waren.26 1986 wurde die Aufzeichnung einer Antiapartheiddemonstration in St. Gallen mittels Verkehrskameras bekannt.27 Im selben Jahr enttarnte die WochenZeitung (WoZ) den fünf Jahre als Undercover-­ Ermittler in der Zürcher Jugendbewegung tätigen Polizisten Willy Schaffner und beschuldigte ihn, als Agent Provocateur Gewalttaten angezettelt zu haben.28 Und im März 1989 prangerte der Blick die flächendeckende Überwachung von Schweizer Ostblockreisenden an.29 Bereits 1976 legte ein Diebstahl linker Aktivisten im Archiv des »Subversivenjägers«, freisinnigen Politikers und Oberstleutnants Ernst Cincera, der sich in jungen Jahren im Umfeld der kommunistischen Partei der Arbeit (PdA) bewegt hatte, dessen private Spitzelaktivitäten offen. Mit einem Informantennetz aus Studenten und Gymnasiasten, welche Parteien und Jugendgruppen infiltrierten, sammelte er Daten über 3500 Personen und stellte sie Behörden und Privatwirtschaft zur Verfügung.30 Die Enthüllungen führten nebst apologetischen Reaktionen31 zu harscher Kritik und Häme.32 In der Romandie hatte im frühen Kalten Krieg Marc-Edmond Chantres Comité suisse d’action civique ähnliche Aktivitäten entfaltet.33 Auch ein weiteres zentrales Element der culture of secrecy des Kalten Kriegs erfasste die Schweiz: Spionage. International gab es wiederholt Spionageskandale mit weitreichenden politischen Folgen. In Großbritannien zählten dazu die Auf26 Tages-Anzeiger, 15.12.1983; Lengen, Markus: Ein peinlicher Geheimdienstflop. Rudolf Friedrichs Nowosti-Komödie, in: Heinz Looser et al. (Hg.): Die Schweiz und ihre Skandale, Zürich 1995, S. 163–184. 27 Ostschweizer AZ, 25.02.1986. 28 Polli, Tanja: Das Doppelleben des Polizisten Willy S. Erinnerungen an die Zeit, als Zürich brannte, Gockhausen 2016. 29 Blick, 23.03.1989. 30 Vital, Marleina/Uhlmann, Matthias: Ernst Cincera (1928–2004). Antikommunist und privater Staatsschützer – das »cinceristische« Weltbild, Liz. Univ. Bern 2008; Guttmann, Aviva: Ernst Cinceras nichtstaatlicher Staatsschutz im Zeichen von Antisubversion, Gesamtverteidigung und Kaltem Krieg, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 63 (2013), S. 65– 86; Niederberger, Daniela: Staatliche Lizenz zum Spitzeln. Der Cincera-Skandal, in: Looser (Hg.): Die Schweiz, S. 119–130; SozArch, QS 23.1 Staatsschutz, Verfassungsschutz; Berufsverbote: Schweiz: Allg.; SozArch, ZA 23.1*4 Cincera-Archiv und Demokratisches Manifest. 31 Z. B. Herzig, Ernst: Volksdemokratische Manifestationen, in: Schweizer Soldat 52 (1977) 2, S. 2; Cincera/Demokratisches Manifest, in: Nebelspalter 103 (1977) 2, S. 36–38. 32 Z. B. Sigg, Hans: »Melden Sie der Erziehungs-Direktion, die Siamesenkatze des Sekundarlehrers W.K. in B. wäre am späten Nachmittag des 07.10.76 im Garten der russischen Botschaft gesichtet worden«, in: Nebelspalter 102 (1976) 49, S. 59; Gerber, Ernst P.: Schnüffel, schnaffel, schnuff, in: Nebelspalter 102 (1976) 50, S. 13. 33 Sansonnens, Julien: Le Comité suisse d’action civique, 1948–1965. Contribution à une histoire de la répression anticommuniste, Vevey 2012.

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deckung des sowjetischen Maulwurfrings der Cambridge Five in den frühen 1960er Jahren sowie die fast zeitgleiche Profumo-Affäre.34 In der Bundesrepublik wurde 1961 der Leiter der Spionageabwehr des Bundesnachrichtendienstes Hans Felfe als KGB-Maulwurf entlarvt;35 1974 führte die Affäre um »Kanzleramtsspion« Günter Guillaume zum Rücktritt von Willy Brandt.36 Der kulturelle Reflex setzte ab den 1950er Jahren ein, etwa mit den Romanen und Filmen um die Agenten 007 und OSS 117, Alfred Hitchcocks Thrillern Torn Curtain (1966) und Topas (1969) oder den Spionagegeschichten John le Carrés, der 1963 mit The Spy Who Came In from the Cold einen Schlüsselroman des Kalten Kriegs vorlegte und als Referenz an seine Studien an der Universität Bern verschiedentlich Schauplätze in der Schweiz in seine Werke einbaute. Tatsächlich war die Schweiz Ort geheimdienstlicher Aktivitäten: 1948 bis 1977 deckten die Behörden 178 Spionagefälle auf, 124 seitens des Ostblocks.37 Genf als Sitz internationaler Organisationen war nach amerikanischer Ansicht notorisch »spy-clogged«.38 Um 1960 belasteten mehrere Affären mit Verwicklung der Botschaft der ČSSR das Verhältnis zu diesem Land, darunter ein Fall von honey trapping eines Subalternoffiziers durch eine tschechische Agentin.39 1973 wurde ein DDR-Agentenpaar nach sechs Jahren Spionage unter der Identität einer Auslandsschweizerfamilie verhaftet und dann kurz vor Beginn des Guillaume-Prozesses zu je sieben Jahren Zuchthaus verurteilt.40 Der größte Skandal ereignete sich in den späten 1970er Jahren: Nach Hinweisen des CIA wurde 1976 Brigadier Jean-Louis Jeanmaire, Chef des Bundesamts für Luftschutztruppen, verhaftet, der seit den frühen 1960er Jahren sowjetischen Militärattachés klassifizierte Armeedokumente übergeben hatte.41 Die Medien stempel34 Davenport-Hines, Richard: An English Affair. Sex, Class and Power in the Age of ­Profumo, London 2013. 35 Dülffer, Jost: Geheimdienst in der Krise. Der BND in den 1960er-Jahren, Berlin 2018. 36 Michels, Eckard: Guillaume, der Spion. Eine deutsch-deutsche Karriere, Berlin 2013. 37 Schweizerische Bundesanwaltschaft: Spionage. Bedrohung, Abwehr, Ratschläge, 31.03.1978, S. 4, https://dodis.ch/49748 [28.03.2019]. 38 Newsweek, 21.08.1978; Washington Times, 17.03.1987. 39 Notiz für den Departementschef, 20.09.1961, https://dodis.ch/30338 [28.03.2019]; Notiz für Herrn Bundesrat Wahlen, 01.06.1962, https://dodis.ch/30340 [28.03.2019]; Lüönd, Karl: Spionage und Landesverrat in der Schweiz, Bd. 2, Zürich 1977, S. 107 f. 40 Pressemitteilung. Schweizer Familie in der DDR, 13.10.1977, https://dodis.ch/50230 [28.03.2019]; Bischof, Erwin: Verräter und Versager. Wie Stasi-Spione im Kalten Krieg die Schweiz unterwanderten, Bern 2013, S. 43–47. 41 Rauber, Urs: Der Fall Jeanmaire. Memoiren eines »Landesverräters«. Der Ex-Brigadier im Fadenkreuz von Politik und Geheimdiensten, Zürich 1991; Schoch, Jürg: Fall Jeanmaire, Fall Schweiz. Wie Politik und Medien einen »Jahrhundertverräter« fabrizierten, Baden 2006;

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ten ihn nach einer Vorverurteilung durch Bundesrat Kurt Furgler, Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements (EJPD), zum »Verräter des Jahrhunderts«.42 Als Folge wurde der Personaletat der Bundespolizei um 42 Prozent erhöht.43 1977 erhielt Jeanmaire 18 Jahre Zuchthaus. Der freisinnige Nationalrat Karl Flubacher forderte für den »hundsgewöhnlichen Lump« gar die Todesstrafe.44 Nach Ende des Kalten Kriegs wurden starke Zweifel an der Bedeutung Jeanmaires laut. Le Carrés Reportage The Unbearable Peace (1991) warf die Frage auf, ob ein kleiner Spion für einen großen Spion hinter Gitter gegangen war. Ab 1969 arbeitete die Schweiz im Club de Berne mit den Geheimdiensten von neun Nato-Staaten beim Informationsaustausch über Spionage und Terrorismus zusammen.45 In der Logik des Kalten Kriegs lagen auch die ab 1977 intensiv gepflegten Kontakte zu Südafrika, um an dessen im Kampf gegen Guerillas der Nachbarländer gewonnenen Kenntnissen über Ostblockwaffen zu partizipieren.46 Zentrale Figur der chaotischen helvetischen Geheimdienstszene war damals Oberst Albert Bachmann.47 Ursprünglich Mitglied der PdA-­ nahen Freien Jugend, war Bachmann 1948 nach dem von der PdA gefeierten Umsturz in der Tschechoslowakei zum Antikommunismus konvertiert. Ab 1976 befasste er sich »in James-Bond-Manier«48 als Chef des Spezialdienstes der Untergruppe Nachrichtendienst und Abwehr mit stay-behind-Strukturen, dem Aufbau eines Geheimdienstes außerhalb von Armee und Verwaltung für heikle Missionen sowie der Evakuation von Bundesrat und Nationalbankgoldreserven im Besetzungsfall. Seine Karriere endete 1979, als Agent Kurt Schilling bei der Observation von Manövern in Österreich zur Abschätzung von dessen

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Weber, Pascal Daniel: Fall Jeanmaire – Schweizer »Jahrhundertverräter« im Zeichen des Kalten Krieges, Masterarbeit Univ. Zürich 2016; SozArch, ZA 45.7*2 Je Geheimdienste & Spionage: Schweiz: Jean-Louis Jeanmaire. Z. B. Blick, 08.10.1976. Vorkommnisse im EJPD. Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) vom 22. November 1989, in: Bundesblatt 142 (1990) 1, S. 637–878, hier 805. Schoch: Fall Jeanmaire, S. 100 f. Guttmann, Aviva: The Origins of International Counterterrorism. Switzerland at the Fore­ front of Crisis Negotiations, Multilateral Diplomacy and Intelligence Cooperation (1969–1977), Leiden 2018, S. 183–229. Untersuchung über die Kontakte des Schweizer Nachrichtendienstes zu Südafrika zur Zeit des Apartheidregimes. Bericht der Delegation der Geschäftsprüfungskommissionen der Eidgenössischen Räte (GPDel) vom 18. August 2003, in: Bundesblatt 156 (2004), S. 2267–2417; SozArch, Ar 635.50 Kampagne für Entschuldung und Entschädigung im südlichen Afrika. Akten Zusammenarbeit Schweiz–Südafrika. Meier: Widerstandvorbereitungen, S. 198–210. Weichlein, Siegfried: Rezension zu: Meier: Widerstandsvorbereitungen, in: H-Soz-Kult, 10.04.2019, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-29843.

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Widerstandskraft bei einem Angriff aus dem Osten durch sein dilettantisches Verhalten aufflog und dann Bruchstücke von Bachmanns nichtautorisierten, teils neutralitätswidrigen Geheimaktivitäten bekannt wurden.49 Nach seiner Absetzung liefen die stay-behind-Planungen sowie das Projekt eines außerordentlichen Geheimdienstes unter den Decknamen P-26 bzw. P-27 weiter. Einen ertragreichen Fang machte der Schweizer Nachrichtendienst 1982, als bei der Beendigung einer Geiselnahme in der polnischen Botschaft völkerrechtswidrig Geheimakten kopiert wurden. Auf propagandistischer Ebene spielten ab 1947 als private Nachfolgeorganisationen der militärischen Dienststelle Heer und Haus – die dann in den 1950er Jahren reaktiviert wurde – der Schweizerische Aufklärungsdienst (SAD), die Rencontres Suisses und die Coscienza Svizzera eine wichtige Rolle.50 Ihre Aktivitäten umfassten Kurse und Tagungen, die Publikation von Bulletins und Schriften, einen Dokumentations, Vortrags- und Filmdienst, politische Kampagnen sowie bis 1957 eine Spitzelorganisation. Um spezifische Themenfelder kümmerte sich eine Reihe ähnlicher Institutionen, so die Aktion freier Staatsbürger, die Pro Libertate, das Nationale Informationszentrum, die Aktion für freie Meinungsbildung (»Trumpf Buur«), das Institut für politologische Zeitfragen, die Schweizerische Fernseh- und Radiovereinigung (»Hofer-Club«) oder das Institut Glaube in der 2. Welt. Dagegen lösten sich die Bannerträger des rechten Antikommunismus der Zwischenkriegszeit auf, der 1919 als Bürgerwehrdachorganisation entstandene Schweizerische Vaterländische Verband (SVV) 1948 nach einem Nachrichtendienstkorruptionsskandal51 und die 1923 vom Genfer Bürgerwehrführer, SVV-Sekretär und späteren Nationalrat der faschistischen Union Nationale Théodore Aubert gegründete, in den 1930er Jahren massiv von Deutschland und Italien finanzierte Entente internationale anticommuniste um 1950. Einzelne SVV-Sektionen blieben indessen bis in den Kalten Krieg hinein aktiv, im Aargau darüber hinaus bis in die Gegenwart. Hatte der SVV in der Zwischenkriegszeit mit paramilitärischen, rechtsextremen und arbeitgebernahen 49 Angelegenheit Oberst Bachmann. Bericht der Arbeitsgruppe der Geschäftsprüfungskommission an den Nationalrat über ihre zusätzlichen Abklärungen, in: Bundesblatt 133 (1981) 1, S. 491–514; Ahmadi, Markus: Der Oberst und sein geheimes Reich – Die Affäre Bachmann, in: Looser (Hg.): Die Schweiz, S. 131–150; Garbely, Frank/Auchlin, Pascal: Das Umfeld eines Skandals, Zürich 1990, S. 305–339; SozArch, ZA 45.7*2 Ba Geheimdienste & Spionage: Schweiz: Albert (Bert) Bachmann. 50 Perrig, Igor: Geistige Landesverteidigung im Kalten Krieg. Der schweizerische Aufklärungsdienst (SAD) und Heer und Haus 1945–1963, Brig 1993. 51 Zimmermann, Dorothe: Antikommunisten als Staatsschützer. Der Schweizerische Vaterländische Verband, 1930–1948, Zürich 2019.

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Organisationen im Ausland kooperiert,52 so arbeitete der SAD im frühen Kalten Krieg mit dem Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen zusammen.53 Der SAD war eng vernetzt mit dem 1959 bis 1994 bestehenden Schweizerischen Ostinstitut in Bern, das bis zu dreißig Mitarbeiter zählte und auch Militärbehörden und Nachrichtendienst mit Informationen versorgte.54 Sein Leiter Peter Sager hatte 1948 als Student an einer Kundgebung gegen den Umsturz in der Tschechoslowakei ausgerufen: »Was heute vor sich geht, ist nicht mehr die Auseinandersetzung zwischen zwei Systemen, sondern es ist der Kampf des Bösen gegen das Gute«.55 Im selben Jahr begann er den Aufbau der Schweizerischen Osteuropa-Bibliothek. Im internationalen Vergleich eher spät und weniger explizit auf »Feindbeobachtung« ausgerichtet, entstanden universitäre Lehrund Forschungseinrichtungen zu Osteuropa, so 1957 das Osteuropa-Institut in Fribourg und 1971 der Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte in Zürich.56 Das Schulwesen blieb zunächst stark von der Geistigen Landesverteidigung geprägt. Ab Ende der 1960er Jahre gab es daran angesichts einer Pluralisierung der Weltsicht Kritik.57 Ende der 1970er Jahre scheiterte das Projekt eines Lehrplans für Landesverteidigung, wie er in den Ostblockstaaten üblich war. Wirtschaftskontakte zum Ostblock waren unter diesen Prämissen ein heißes Eisen. Ab 1945 bemühte sich die Schweiz um den Ausbau von Beziehungen mit aller Welt, einschließlich den kommunistisch dominierten Staaten. Die Integration ins westliche Handelssystem und amerikanischer Druck führten dazu, dass der Anteil des »Osthandels« am Außenhandel von den späten 1940er Jahren bis 1953 von 8 auf unter 4 Prozent sank. Bundesrat und Wirtschaft hielten aber trotz Boykottkampagnen unter Führung des SAD am »Osthandel« fest. Dessen Volumen nahm mit der Détente ab Mitte der 1960er Jahre wieder 52 Heller, Daniel: Eugen Bircher. Arzt, Militär und Politiker. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte, Zürich 1990, S. 73–75; Thürer: Der Schweizerische Vaterländische Verband, S. 103 f. und Anhang, S. 261 f. 53 Pick, Vincent: Die internationale Vernetzung antikommunistischer Organisationen und ihr Einfluss auf die Westernisierung von Europa während des Kalten Krieges 1947–1963. Die Beziehungen zwischen dem »Schweizerischen Aufklärungsdienst« und dem »Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen«, Liz. Univ. Zürich 2011. 54 Werdt, Christophe von: »Antikommunismus als Antitotalitarismus« – das Schweizerische Ost-Institut, in: Peter Martig (Hg.): Berns moderne Zeiten. Das 19. und 20. Jahrhundert neu entdeckt, Bern 2011, S. 41–45. 55 NZZ, 03.03.1948. 56 Emeliantseva, Ekaterina et al.: Einführung in die Osteuropäische Geschichte, Zürich 2008, S. 22 f. 57 Ritzer, Nadine: Der Kalte Krieg in den Schweizer Schulen. Eine kulturgeschichtliche Analyse, Bern 2015.

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zu und schnellte im folgenden Jahrzehnt nach neuen Wirtschaftsabkommen mit mehreren Ostblockstaaten auf Rekordhöhen. Das Bankgeheimnis brachte mit sich, dass Finanzströme des geheimen DDR-Westhandels von Alexander Schalck-Golodkowski durch die Schweiz flossen.58 Die 1944 von Mitgliedern der 1940 verbotenen KPS sowie Linkssozialisten gegründete PdA wurde rasch zum als »Partei des Auslands« oder auch »Heuchler, Rosstäuscher, Hinterslichtführer, Fötzel, Falschmünzer«59 geschmähten Sündenbock.60 Zunächst fuhr die PdA bei verschiedenen Wahlen zweistellige Resultate ein und schaffte den Einzug in mehrere Stadtregierungen. Mit dem Umsturz in der Tschechoslowakei begann aber der Niedergang: Der bei den Parlamentswahlen 1947 erzielte Stimmenanteil von 5,1 Prozent fiel 1951 auf unter 3 Prozent und ging dann bis 1987 auf 0,8 Prozent zurück. Zunehmend nahm die Splitterpartei sektenhafte Züge an. PdA-Mitglieder waren von Berufsverboten betroffen, etwa durch die bundesrätlichen Weisungen gegen »vertrauensunwürdige Beamte« von 1950 bis 1990. 1951 billigte selbst die Typografengewerkschaft Entlassungen von Kommunisten als »Zerstörung« von »Infektionsherde[n]«.61 1962 wurde sogar Eishockeynationaltrainer Reto Delnon fristlos entlassen, nachdem ein Netzwerk aus Bundesbeamten, dem SAD und der rechten Agentur Schweizerische Politische Korrespondenz seine – passive, aber nie verheimlichte – PdA-Mitgliedschaft skandalisiert hatte.62 Seit 1960 hörte die Bundespolizei Delnons Telefon ab. Ein Eintrag in seiner Karteikarte lautete: »Sein übles Spiel weiss D. geschickt zu tarnen, doch wird er scharf im Auge behalten.«63 Nach der »Enttarnung« erhielt er unter anderem eine Morddrohung, in der er

58 Tarli, Ricardo: Operationsgebiet Schweiz. Die dunklen Geschäfte der Stasi, Zürich 2015, S. 168–194. 59 Sempacher, Sepp: Was sind das für Fötzel und Falschmünzer!, in: Nebelspalter 86 (1960) 5, S. 11. 60 Hauser, Matthias: Feindbild PdA. Antikommunismus in der Schweiz während des Kalten Krieges, Liz. Univ. Zürich 2002; Caillat, Michel et al. (Hg.): Geschichten des Antikommunismus in der Schweiz, Zürich 2009. 61 Arbeitsgruppe für Geschichte der Arbeiterbewegung Zürich (Hg.): Schweizerische Arbeiterbewegung. Dokumente zu Lage, Organisation und Kämpfen der Arbeiter von der Frühindustrialisierung bis zur Gegenwart, Zürich 1975, S. 331. 62 Archiv für Zeitgeschichte, IB SAD-Dokumentation/53 spk: Die Glosse. Kommunisten unter sich, 11.01.1962; ebd., Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement an Herrn Dr. E. Mörgeli, 13.01.1962. 63 Zit. Frischknecht, Jürg: Kalter Krieg auf dem Eisfeld, in: piz 42 (2011/12), S. 54–56, hier 55.

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als »Sau-Kommunist, Dreckseckel, Schmutzfink« beschimpft wurde.64 In der Presse gab es Kontroversen zwischen der Romandie, wo sich auch bürgerliche Blätter hinter Delnon stellten, und der Deutschschweiz.65 Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) meldete offenherzig, Delnon stehe »auf der PdA-Liste der Bundesanwaltschaft«.66 Bis 1967 blieb Delnon auf der »V-Liste« verzeichnet.67 Dabei handelte es sich um Verzeichnisse von »Extremisten in der Armee«, die von 1950 bis 1977 bestanden und zu Spitzenzeiten fast 900 Namen enthielten. Die Verzeichneten waren von wichtigen Armeefunktionen fernzuhalten, im Kriegsfall sollten sie verhaftet werden.68 Der »Fall Delnon« war keineswegs das einzige Beispiel für das Übergreifen der Episteme des Kalten Kriegs auf den Sport.69 Performative Höhepunkte erlebte der helvetische Antikommunismus nach den Einmärschen in Ungarn und der ČSSR. Beide Ereignisse waren von großen Flüchtlingsströmen begleitet. Im Unterschied zu früheren und späteren Fluchtbewegungen zeigten Behörden und große Teile der Bevölkerung eine bedeutende Bereitschaft, Flüchtlinge aus kommunistischen Ländern aufzunehmen, wenn auch diese Willkommenskultur in der Erinnerung dann teil-

64 L’Impartial, 16.01.1962; Schmid, Max: Demokratie von Fall zu Fall. Repression in der Schweiz, Zürich 1976, S. 181. 65 Koller, Christian: Kaviar, Klassenverlust und Kommunistenfurcht. Zum Schweizer Eishockey im Kalten Krieg, in: SportZeiten 15 (2015) 2, S. 7–47, hier 32–40; ders.: Kanadier, Kommerz und Kommunismus. Der Röstigraben im Schweizer Eishockey als kulturhistorisches Prisma der Nachkriegszeit, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 66 (2016), S. 31–48, hier 44–46. 66 NZZ, 19.01.1962. 67 Frischknecht: Kalter Krieg. 68 Bericht der parlamentarischen Untersuchungskommission zur besonderen Klärung von Vorkommnissen von grosser Tragweite im Eidgenössischen Militärdepartement vom 17. November 1990, o. O. u. J. [Bern 1990], S. 144–154. 69 Meier, Marcel et al.: Sportkontakte mit kommunistischen Staaten, Wabern/Bern 1962; Hungerbühler, Christian: Schweizer Sportkontakte mit dem Ostblock im Kalten Krieg, Liz. Univ. Zürich 2011; Quin, Grégory/Tonnerre, Quentin: »Les Suisses n’iront pas à Melbourne pour n’avoir pas trouvé d’avion convenable«. Histoire d’une non-participation olympique (1948–1956), in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 67 (2017), S. 343–360; Brüngger, Christian: Der Kalte Krieg in der Deutschschweizer Sportberichterstattung. Die Olympischen Spiele von 1952, 1956, 1980 und 1984 im Spiegel von NZZ, »Tages-Anzeiger«, »Sport« und »Blick«, Liz. Univ. Zürich 2007; Koller: Kaviar; ders.: Sportlergrüsse nach Moskau. Ein Brief der Gesellschaft Schweiz–UdSSR aus dem frühen Kalten Krieg, in: Traverse 23 (2016) 1, S. 163–172; Geissbühler, Simon: Teilnahme oder Boykott? Der Schweizer Sport, der Kalte Krieg und die Olympischen Spiele 1980 in Moskau, in: ders. (Hg.): Sport und Gesellschaft. Festschrift zum 80. Geburtstag von Ernst Strupler, Bern 1998, S. 65–82.

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weise übertrieben wurde.70 1956 kamen rund 12.000 Ungarn in die Schweiz, nach 1959 1200 Tibeter, nach 1968 12.000 Tschechoslowaken und ab 1975 8200 Vietnamesen. 1956 gab es unzählige Solidaritätskundgebungen und Hilfsaktionen für Ungarn.71 Alle Parteien mit Ausnahme der PdA verurteilten den Einmarsch. Am 20. November läuteten um 11.30 Uhr im ganzen Land die Kirchenglocken, dann folgten drei Schweigeminuten. Die studentische Aktion Niemals vergessen verteilte 15.000 Zünder für Molotowcocktails an die Bevölkerung und organisierte Übungsschießen. Die Presse überbot sich mit antikommunistischer Rhetorik. Der nachmalige Präsident der Sozialdemokratischen Partei Helmut Hubacher schrieb über die »moskauhörige Kadavergehorsamspartei« PdA: Sie würden es verdienen, diese führend tätigen Moskauanhänger, dass man sie öffentlich brandmarken, blossstellen und dem Spott und Hohn preisgeben würde. Das beste, was mit diesem politischen Lumpenpack geschehen könnte, wäre eine direkte Verfrachtung nach Moskau. Sie sind es nicht würdig, den Schweizer Pass und den Schweizer Heimatschein auf sich zu tragen. […] Die korrupten Hauptfunktionäre dieser Partei, die mit russischem Geld gekauft sind und sich dafür mit Leib und Seele Moskau verschrieben haben, bleiben Mitglieder der PdA, um weiterhin Verräter, Spione, Agenten und Söldlinge einer ausländischen Macht zu bleiben. […]. Sie sollen behandelt werden wie die Pest und Cholera, als Seuche in unserem Lande, die vertrieben werden muss.72 Das katholische Vaterland schrieb die Ungarnkrise in die apokalyptische Auseinandersetzung zwischen Gott und Satan ein, etwa in einer Artikelüberschrift Von der göttlichen Freiheit und von der teuflischen Gewalt oder mit der Behauptung, das, »was jetzt in Ungarn geschieht«, könne »nur eine Ausgeburt der Hölle sein«.73 Die NZZ forderte eine Priorisierung der Rüstung vor dem Ausbau des Sozialstaats. Die Budgetpolitik solle »künftig nicht mehr durch die 70 Banki, Christine/Späti, Christoph: Ungaren, Tibeter, Tschechen und Slowaken. Bedingungen ihrer Akzeptanz in der Schweiz der Nachkriegszeit, in: Carsten Goehrke/Werner G. Zimmermann (Hg.): »Zuflucht Schweiz«. Der Umgang mit Asylproblemen im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 1994, S. 369–415. 71 SozArch, KS 32/52b Ungarnaufstand; SozArch, ZA KVH Ungarn; Koller, Christian: Vor 60 Jahren. Die Ungarnkrise und die Schweiz, in: Sozialarchiv Info 5 (2016), S. 12–20. 72 Arbeiterzeitung, 08.11.1956. 73 Vaterland, 05.11.1956 und 10.11.1956.

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Illusion belastet werden, dass man russische Panzer zum Stehen bringen könnte, indem man den AHV-Ausweis schwenkt«.74 Tatsächlich verabschiedeten die eidgenössischen Räte im Dezember 1956 ein Sofortrüstungsprogramm mit Schwerpunkt auf Panzern. Das rechtsliberale Leitmedium publizierte auch einen kaum verbrämten Aufruf seines Inlandredakteurs und freisinnigen Politikers Ernst Bieri zu handgreiflichem Vorgehen gegen den kommunistischen Kunsthistoriker Konrad Farner. Führende Schweizer Kommunisten hätten sich »unbequemen Fragen an der Wohnungstüre und am Telephon« durch Untertauchen entzogen. Vielleicht könne Farner Auskunft geben: »Er […] wohnt in Thalwil an der Mühlebachstrasse 11«.75 Daraufhin drohte ein Mob vor Farners Wohnung mit dem Galgen. Jahrelang schmähten Schilder an der Mühlebachstraße Farner; seine Familie hatte unter massiven Anfeindungen zu leiden. Auch anderswo kam es zu Übergriffen: Nach einer Demonstration in Basel mit 12.000 Teilnehmern zogen 800 Jugendliche vor das PdA-Sekretariat, zertrümmerten die Eingänge und mussten von der Polizei vor einem Sturm auf das Gebäude abgehalten werden. Anschließend versuchten einige, in die Wohnung von PdA-Nationalrat Marino Bodenmann einzudringen. Vor dem PdA-Sekretariat in Zürich gab es eine Bücherverbrennung sowie Aufläufe steinewerfender Jugendlicher, und noch im August 1957 attackierte eine Menschenmenge am Bahnhof Zürich-Enge Rückkehrer von den Weltjugendspielen in Moskau. Ebenfalls 1957 beschloss der Stadtrat von Zürich, »aktive Kommunisten« prinzipiell von der Einbürgerung auszuschließen. Diese geheime Regelung blieb bis 1966 in Kraft.76 Die Reaktionen auf die Zerschlagung des Prager Frühlings waren ähnlich.77 Es gab Kundgebungen in den größeren Städten und Proteste vor der sowjetischen Botschaft. Am 23. August 1968 läuteten bei einer Schweigeminute landesweit die Kirchenglocken. Ein Zürcher Kino setzte aus Russophobie den Film Anna Karenina ab. Noch zweieinhalb Jahre später buhte an der Eishockey-WM in Bern das Publikum bei der Partie Sowjetunion – USA (10:2) die Sbornaja permanent aus und ging während der Siegerehrung die sowjetische Hymne in 74 NZZ, 05.11.1956. 75 NZZ, 13.11.1956. 76 Dütschler, Christian: Das Kreuz mit dem Pass. Die Protokolle der »Schweizermacher«, Zürich 1998, S. 133. 77 SozArch, QS KVC 3: Va Tschechoslowakei. Innenpolitik; SozArch, ZA KVC Tschechoslowakei; Koller, Christian: Vor 50 Jahren. Der Prager Frühling und die Schweiz, in: Sozialarchiv Info 1 (2018), S. 16–27; Kanyar Becker, Helena: Prager Frühling und die Schweiz, 1968– 2008. Ausstellungsdokumentation, Basel 2014.

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einem Pfeifkonzert unter.78 Die Empörung war aber weniger nachhaltig als zwölf Jahre zuvor. Die bipolare Weltsicht hatte sich aufgelockert, und es gab im Umfeld von »’68« auch heftige Kritik an der amerikanischen Intervention in Vietnam. Im Unterschied zu 1956 verurteilten nun auch linksradikale Kräfte wie die Junge Sektion der PdA und Gruppen der Neuen Linken den Einmarsch. Als das EJPD 1969 das von Albert Bachmann mitverfasste »Zivilverteidigungsbuch«, das anhand einer fiktiven Geschichte den Widerstand gegen eine Großmacht thematisierte, an alle Haushalte verteilen ließ, stieß dies auf ein geteiltes Echo, das auch heftige Kritik einschloss.79 Als Mittel gegen eine durch Subversion, Propaganda und Terror vorbereitete Invasion empfahl die Schrift: »Wir machen den Igel.«80 Die durch Landesausstellung und »Zivilverteidigungsbuch« gesteigerte Prominenz des Igels als Symbol helvetischer Abwehrbereitschaft führte in den frühen 1970er Jahren zu pazifistischer Kritik an der »Igelmentalität«,81 die militärische Kreise scharf zurückwiesen.82 Die helvetische Episteme des Kalten Kriegs manifestierte sich also im hegemonialen politisch-medialen Diskurs ebenso wie in die Grenze zur Gewaltbereitschaft erreichendem »Volkszorn« und ließ ein umfassendes militärisch-bürokratisches Verteidigungsdispositiv entstehen, bei dem sich staatliches Handeln und privater Aktivismus oft vermischten. Der antitotalitäre Reflex in der Bevölkerung richtete sich indessen nicht nur gegen den Ostblock und die einheimischen Kommunisten, sondern manifestierte sich umgekehrt auch fast immer dann, wenn sich die Stimmberechtigten zu über den Militärdienst hinausreichenden Eingriffen in Privatsphäre und Freiheitsrechte im Dienst der inneren oder äußeren Sicherheit äußern konnten: 1952 schmetterten 84,5 Prozent den obligatorischen Einbau von Schutzräumen in bestehende Häuser ab. 1957 wurde die weibliche Zivilschutzdienstpflicht knapp abgelehnt und 1978 die Einführung einer Bundessicherheitspolizei (Busipo) mit 56,7 Prozent Nein-Stim78 Tages-Anzeiger, 23.03.1971; Journal de Genève, 29.03.1971. 79 Löffler, Rolf: »Zivilverteidigung« – die Entstehungsgeschichte des »roten Büchleins«, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 54 (2004), S. 173–187; Höchner, Francesca: Zivilverteidigung – ein Normenbuch für die Schweiz, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 54 (2004), S. 188–203; Gollner, Andrea Maria: Das Zivilverteidigungsbuch von 1969 im Spiegel der Zürcher Zeitungen, Bachelorarbeit Univ. Zürich 2017. 80 Bachmann, Albert/Grosjean, Georges: Zivilverteidigung, Aarau 1969, S. 267. 81 Z. B. Braunschweig, Hansjörg: Zur Funktion der Armee in der Gesellschaft, in: Neue Wege 65 (1971), S. 229–235. 82 Z. B. Wildbolz, Hans E.: Unberechenbares Weltgeschehen. Notwendigkeit einer Gesamtstrategie. Auch heute dürfen wir die gefahrenvolle Wirklichkeit nicht übersehen, in: Zivilschutz 18/9 (1971), S. 280 f.; ders.: Europäische Wirtschaftsintegration und Landesverteidigung, in: Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift 138 (1972), S. 589–594.

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men verworfen. Damit setzte sich ein Trend aus der ersten Jahrhunderthälfte fort: 1903 hatten 69 Prozent das »Maulkrattengesetz« abgelehnt, das öffentliche Armeekritik unter Strafe stellen wollte, 1922 und 1934 waren Staatsschutzgesetze an der Urne gescheitert, Ende 1940 wurde trotz der Kriegssituation der obligatorische militärische Vorunterricht abgelehnt. Mit der Multilateralisierung der Weltpolitik in den 1960er Jahren, dem Entstehen neuer politischer Kräfte sowie der aus neulinker, xenophober, ökologischer, feministischer und neoliberaler Warte vorgetragenen Kritik am keynesianischen Wachstums, Wohlfahrts- und Massenkonsummodell, das in der Nachkriegszeit die Gegenposition zum kommunistischen System bildete, mehrten sich zwar ab den späten 1960er Jahren auch in der Deutschschweiz, wie zuvor schon in der Romandie, Stimmen, die aus dem Schwarz-Weiß-Denken der antikommunistischen Episteme ausbrechen wollten und deren führende Repräsentanten etwa als »unheimliche Patrioten« kritisierten.83 Auf den weiteren Ausbau des militärisch-bürokratischen Sicherheitsdispositivs und besonders dessen arkane Komponenten hatte dies aber kaum Rückwirkungen. Vielmehr wurden neue politische Kräfte automatisch auch zu Überwachungsobjekten des Staatsschutzes. Erst in den 1980er Jahren erodierte die Episteme des Kalten Kriegs allmählich. Der eigentliche Schock kam dann im Herbst 1989.

Igel gegen Kuh: Interferenzen von Weltgeschichte und Innenpolitik im Herbst 1989 Dass sich in der zweiten Jahreshälfte 1989 wichtige innenpolitische Ereignisse, die den Kollaps der Episteme des Kalten Kriegs markierten, zeitgleich mit einschneidenden Veränderungen auf dem internationalen Parkett abspielten, war vordergründig Zufall. Der Spin dieser Ereignisse erschließt sich aber nur vor dem Hintergrund der »Wende« im Ostblock. Wichtige Daten waren dabei die halbfreien Wahlen in Polen sowie die symbolische Öffnung des Grenzzauns zwischen Ungarn und Österreich im Juni 1989, der Beginn der Leipziger Montagsdemonstrationen am 4. September, das Ende ungarischer Grenzkontrollen am 10. September, die Ausreiseerlaubnis für die Prager DDR-Flüchtlinge am 30. September, die Absetzung Erich Honeckers am 17. Oktober, die Öffnung der Berliner Mauer am 9. November sowie Sturz und Hinrichtung Nicolae 83 Frischknecht, Jürg et al.: Die unheimlichen Patrioten. Politische Reaktion in der Schweiz. Ein aktuelles Handbuch, Zürich 1979.

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Ceaușescus zu Weihnachten. In der Schweiz fanden derweil von August bis Oktober die umstrittenen »Diamant«-Feiern zum Gedenken an die Generalmobilmachung 1939 statt, im November die Gesamtverteidigungsübung »Dreizack«, am 24. November die Veröffentlichung des Berichts der Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) zum EJPD und zwei Tage darauf die Abstimmung über die Armeeabschaffungsinitiative. Die durch die Reformprozesse im Ostblock seit 1985 und ihre Beschleunigung 1989 verursachten feindimagologischen Phantomschmerzen wurden in den Strukturen des militärisch-administrativen Verteidigungsdispositivs durch verschiedene Strategien vorübergehend zu lindern versucht. Dazu zählten das simple Weitermachen, als ob sich nichts verändere, die Rückschau hinter den Kalten Krieg zurück und die Warnung vor einem bösen Erwachen. Ein sich als einsamer Rufer in der Wüste inszenierender Exponent der letzten Variante war Albert A. Stahel, Dozent für strategische Studien an den Militärschulen der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich mit gutem Draht zu den afghanischen Mudschahedin. Wenige Wochen vor dem Mauerfall stellte ein Buch Stahels die Perestroika als Täuschungsmanöver zur Einlullung und Überrumpelung Westeuropas gemäß der »Indirekten Strategie« des altchinesischen Generals und Philosophen Sun Tzu dar.84 In der Novembernummer einer Militärzeitschrift führte Stahel aus, Gorbačëv stehe in der Linie der sowjetischen Außenpolitik seit 1945 mit den drei Hauptzielen der nuklearen Entwaffnung Westeuropas, um der konventionellen Überlegenheit des Ostens entscheidende Bedeutung zu verleihen, der Ausnützung der technischen Kenntnisse Westeuropas durch vermeintliche Kooperationsbereitschaft sowie der politischen und militärischen Abkoppelung Westeuropas von den USA: Sollten diese drei Ziele dank der Dummheit der westeuropäischen Eliten einmal verwirklicht sein, dann hätten die Westeuropäer nicht nur den Sicherheitsschirm der USA verloren, sondern auch die Abschreckung gegenüber sowjetischen Drohungen und Angriffen. Nach Abschluss einer erfolgreichen Indirekten Strategie dürfte ihnen nur noch die ›friedliche‹ Zusammenarbeit unter der Vorherrschaft der Sowjetunion übrig bleiben.85

84 Stahel, Albert A.: Indirekte Strategie. Der Westen und Gorbatschow, Zürich 1989. 85 Stahel, Albert A.: Perestroika. Die indirekte Strategie Gorbatschows, in: Der Fourier 62 (1989), S. 435–438, hier 438.

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Noch Anfang 1990 beklagte Stahel, Gorbačëv habe mit seinem Charme und der Ablösung der Kommunistischen Parteien in den Satelliten durch »Koalitionsregierungen« […] erreicht, dass unter den Intellektuellen und in den gutbürgerlichen Gesellschaften Westeuropas der Sozialismus wieder hoffähig wird. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer politischen und militärischen Abwehr des Kommunismus ist in Westeuropa wie Schnee an der Sonne geschmolzen.86 Gustav Däniker konzedierte im September 1989 zwar, der Reformprozess berechtige »zu Hoffnungen auf echte Entspannung«. Er bringe aber »vorerst kein wesentliches Plus an Sicherheit«. Zwar scheine es der Osten eilig zu haben, seine überdimensionierte Rüstung abzubauen und damit Geld zu sparen. Er tut es allerdings ohne sein Hauptziel, die Denuklearisierung Westeuropas, aus den Augen zu verlieren. Sogar namhafte einseitige Truppenreduktionen wurden von östlicher Seite propagandistisch geschickt ins Spiel gebracht, auch wenn rasch klar wurde, dass die verbleibenden Bestände noch immer ihr konventionelles Übergewicht gewährleisten […].87 Ein Jahr zuvor hatte Däniker sogar noch geschrieben: […] heute gelingt es überraschend gut, Glasnost und Perestrojka im Westen darzustellen, während im Osten die Diskussion praktisch ausschliesslich mit dem Ziele geführt wird, den Sozialismus im Geiste Lenins und teilweise sogar Stalins neu zu festigen und damit wieder schlagkräftig zu machen.88 Demgegenüber waren die »Diamant«-Feiern nicht zuletzt ein Versuch der offiziellen Schweiz, die Erosion des Schreckbilds der kommunistischen Gefahr durch Aufwertung weiter zurückliegender Bedrohungen überzeitlich zu kompensieren. Damit wurde ungewollt eine geschichtspolitische Pandorabüchse geöffnet, die die Schweiz dann unter Außendruck durch die 1990er Jahre begleiten sollte. 86 Stahel, Albert A.: Die Abstimmung vom 25./26. November 1989 zur Schweiz und der Milizarmee, in: Der Fourier 63 (1990), S. 51. 87 Däniker, Gustav: Vielfältige Zukunftsaufgaben unserer Armee. Sechs Voraussetzungen zu ihrer Bewältigung, in: Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift 155 (1989), S. 539–548. 88 Däniker, Gustav: Der Feldherr Psychologos. Gestern – Heute – Morgen, in: SAMS-Informationen 12 (1988), S. 9 f.

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Doch der Reihe nach: Anfang 1989 wurde dem »Geschichtsladen« in Zürich das Konzept der Gedenkfeierlichkeiten zur Mobilmachung 1939 zugespielt.89 Die Vorstellung der »Übung Diamant« in der WoZ90 führte zu Empörung in linken Kreisen, die darin eine millionenteure staatliche Kampagne gegen die Volksinitiative der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) sahen. In der Frühjahrssession der Eidgenössischen Räte gab es kritische Anfragen, in der Sommersession bewilligte die Parlamentsmehrheit für die Feierlichkeiten aber 6 Millionen Franken. Allein die Wanderausstellung war dem Parlament 2,8 Millionen Franken Steuergelder wert. Die Kontroversen um die »Diamant«-Feiern öffneten die Schleusen für eine Flut wissenschaftlicher und journalistischer Publikationen zur Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Sie ließen eine Diskussion aufleben, die nach Kriegsende virulent gewesen, dann aber im Zeichen des Kalten Kriegs – trotz zum dominierenden Narrativ im Widerspruch stehender Forschungsergebnisse – in der Öffentlichkeit nicht sonderlich präsent war.91 1989 nun gelangten die wissenschaftlichen Kontroversen, ob die Präsenz der Armee oder doch eher wirtschaftliche Kollaboration für die Verschonung der Schweiz vor einer Invasion verantwortlich gewesen sei, schlagartig an die Öffentlichkeit. Jakob Tanner, der fünf Jahre zuvor mit einer finanzsoziologischen Analyse zur Schweiz im Zweiten Weltkrieg promoviert worden war,92 stellte in einem Beitrag für die »Diamant«-kritische Zeitung Klunker einen Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den Achsenmächten und den Gedenkfeiern her: »Die Gnomen, die mit den Nazis glänzende Geschäfte machten, lassen die Kleinen, die gegen die Nazis grosse Entbehrungen auf sich nahmen, feiern, um ihre Kollaboration zu verdrängen.«93 Die von Protesten begleiteten »Diamant«-Feiern erreichten ihren Höhepunkt am 1. September, dem 50. Jahrestag des Kriegsausbruchs, mit einem Festakt des höheren Offizierskorps auf dem Rütli. Im Tagesbefehl sinnierte Korpskommandant Rolf Binder, man höre zurzeit öfters, Geschichte wiederhole sich nicht. Jedoch seien die Lehren der Geschichte seit 89 Chiquet, Simone: Der Anfang einer Auseinandersetzung. Zu den Fakten, Zusammenhängen und Interpretationen in der Debatte um die »Übung Diamant« 1989, in: Studien und Quellen 24 (1998), S. 193–227. 90 WoZ, 17.02.1989. 91 Kreis, Georg: Zurück in den Zweiten Weltkrieg. Zur schweizerischen Zeitgeschichte der 80er Jahre, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 52 (2002), S. 60–68. 92 Tanner, Jakob: Bundeshaushalt, Währung und Kriegswirtschaft. Eine finanzsoziologische Analyse der Schweiz zwischen 1938 und 1953, Zürich 1986. 93 Tanner, Jakob: Feiern zum Verdrängen, einige feierten schon 1940, in: Klunker. Die hochkarätige Zeitung zur Schweiz im Zweiten Weltkrieg, Zürich 1989, S. 6.

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Jahrhunderten die gleichen.94 Am 27. Oktober beschloss ein Bundesratsrapport in Bern die Feiern. Wenige Tage darauf begann in der Ostschweiz die dreiwöchige Gesamtverteidigungsübung »Dreizack 89«.95 Anknüpfend an ein Großmanöver gleichen Namens drei Jahre zuvor gelangten 24.000 Wehrmänner, 21.000 Zivilschützer, 5500 Fahrzeuge, 550 Panzer, 24 Helikopter, 180 Fliegerabwehrgeschütze, 130 Artilleriegeschütze und 1680 Panzerabwehrwaffen zum Einsatz, wobei allerdings teilweise ganze Bataillone tagelang untätig herumstanden. Der Leiter des Manövers, Korpskommandant Josef Feldmann, war wenige Tage zuvor unter Protest aus der Offiziersgesellschaft Bern ausgetreten, nachdem diese gemeinsam mit der GSoA, die in Feldmanns Augen »eine staatsfeindliche Tendenz« aufwies, zu einer Diskussionsversammlung über die Armeeabschaffungsinitiative eingeladen hatte.96 Mitten ins Manöver, dem letzten dieser Art, fiel der Mauerfall. Drei Tage nach Übungsabschluss wurden die Stimmberechtigten zum Entscheid über eine Initiative an die Urnen gerufen, die manche als von »undemokratische[n] Gesellen«97 lancierten »Frontalangriff auf die staatliche Existenz unseres Landes«98 betrachteten. Die GSoA war 1982 von rund einhundert Personen aus dem Umfeld der Jungsozialisten, der Neuen Linken, der Friedensbewegung und Dienstverweigerer sowie der religiös-sozialistischen Bewegung mit dem Ziel der Lancierung einer Armeeabschaffungsinitiative gegründet worden.99 Zu jener Zeit gingen in Westeuropa und Nordamerika Millionen gegen den Nato-Doppelbeschluss auf die Straße. Angesichts einer großen Friedensdemonstration in Bern ließen Armeefreunde 1981 einen bis zum Ende der 1980er Jahre zirkulierenden Aufkleber produzieren mit einem Igel und dem Slogan: »Alle reden vom Frieden – unsere Armee schützt ihn!«100 Selbst mit der Armeeabschaffung sympathisierende Kreise hielten die Möglichkeit, dass die nötigen Unterschriften für die Initiative nicht zusammenkämen, für real und rechneten in einer Abstimmung  94 NZZ, 02./03.09.1989.  95 Zu den Grossübungen im Kalten Krieg: Marti, Sibylle: Den modernen Krieg simulieren. Imagination und Praxis totaler Landesverteidigung in der Schweiz, in: Eugster/Marti (Hg.): Das Imaginäre, S. 243–268.  96 Berner Zeitung, 02.11.1989.  97 Heller, Daniel: Wider die Propagierung politischer Unkultur, in: Der Fourier 63 (1990), S. 95.  98 Gallati, Jean-Pierre: Aufruf zum Urnengang, in: Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift 155 (1989), S. 728 f.  99 SozArch, Ar 452.10.1 Gruppe für eine Schweiz ohne Armee. Akten 1982–1992. 100 Inserat in: Schweizer Soldat + MFD 63 (1988) 11, S. 41.

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mit bestenfalls 15 Prozent Zustimmung.101 1986 wurde die von vielen belächelte, von einigen als gefährliches Vehikel zur Demontage der Schweiz102 oder Beispiel »scheinheiliger Demokratie-Sophistik«103 betrachtete Volksinitiative »Für eine Schweiz ohne Armee und für eine umfassende Friedenspolitik« mit 111.300 gültigen Unterschriften eingereicht. Ende 1987 nahmen überraschend 57,8 Prozent der Abstimmenden die von Bundesbehörden und Armeeleitung bekämpfte Ro­ thenturm-Initiative an, die den Bau eines Waffenplatzes in einem Hochmoorgebiet verhindern wollte. Der unter dem Motto »Armee Ade in Ost & West« geführte Abstimmungskampf der GSoA geriet im Wendejahr 1989 zu einer Generalmobilmachung von Linken, Nonkonformisten, Jungen, aber auch schlicht Militärdienstverdrossenen gegen die Episteme des Kalten Kriegs. 70.000 Personen nahmen an rund 700 GSoA-Veranstaltungen teil. Viele Intellektuelle und Kulturschaffende sympathisierten mit der Initiative. Friedrich Dürrenmatt bezeichnete eine potenzielle Armeeabschaffung als »ungeheuren Akt der Vernunft«, und Max Frisch publizierte den sofort zum Bestseller avancierenden Prosatext Schweiz ohne Armee? Ein Palaver, der am 19. Oktober 1989 als Bühnenadaption im Zürcher Schauspielhaus uraufgeführt wurde und Kritik bürgerlicher Politiker sowie anonyme Schmähungen nach sich zog.104 Am 21. Oktober, vier Tage nach Honeckers Sturz, lockte ein »Stop the Army Festival« auf dem Bundesplatz mit Rockmusik, Politik und einem Auftritt des von der DDR ausgebürgerten Liedermachers Wolf Biermann rund 25.000 Menschen an. Ein Leserbriefschreiber sah dahinter einen »mit Schalmeien – oder Rockkonzert – getarnten hinterhältig schleichenden Umsturzversuch nach altem kommunistischem Muster«.105 Verschiedene hochrangige Vertreter von Politik und Armee wie Altbundesrat Rudolf Friedrich106 oder Divisionär Gustav Däniker bezeichneten die Vorlage als »Existenzfrage« der Schweiz. Letzterer warf sogar die Frage auf, ob die helvetische »Kultur der politischen Auseinandersetzung« mit Beteiligung aller

101 Z. B. Fetz, Anita: Per Initiative nach Utopia?, in: Emanzipation 10 (1984) 6, S. 7. 102 Däniker, Gustav: Nach der Abstimmung, in: Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift 152 (1986), S. 686 f. 103 ASMZ Editorial: »Angst vor dem Volk«, in: Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift 152 (1986), S. 686 f. 104 Frisch, Max: Schweiz ohne Armee? Ein Palaver, Zürich 1989. Vgl. Wihler, Liliane: »Ich dachte, du machst einen Witz. Schweiz ohne Armee!« Max Frisch und die Initiative zur Abschaffung der Armee 1989, Masterarbeit Univ. Zürich 2018. 105 NZZ, 14.11.1989. 106 NZZ, 03.11.1989.

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Abb. 3: Der Abstimmungskampf der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee fokussierte auch auf den Umbruch in Osteuropa (Schweizerisches Sozialarchiv, F_5055-Fb-017).

Standpunkte »auch bei Existenzfragen angebracht« sei.107 Interpretierten vereinzelte Militärspezialisten noch bis 1990 die osteuropäischen Reformprozesse als großangelegte Camouflage, so drehte die NZZ wenige Tage nach dem Mauerfall den Spieß um und argumentierte unter dem Titel Wehrlos, schutzlos, bedeutungslos gerade mit der durch das Ende des Kalten Kriegs anbrechenden Instabilität gegen die Armeeabschaffungsinitiative: Mit Blick auf einen militärischen Konflikt in Europa, so wenig wahrscheinlich er heute sein mag, ist es für die Nato und den Warschaupakt wichtig zu wissen, dass von unserem Territorium keine Gefahr für die eine oder andere Seite ausgeht. Mit einer glaubwürdigen Landesverteidigung erfüllen wir diese Erwartungen und damit eine wichtige stabilisierende Funktion. Gerade vor dem Hintergrund der dramatischen Umwälzungen in Osteuropa ist diese Funktion von Bedeutung, birgt doch die gegenwärtige Entwicklung neben der Aussicht auf eine Entkrampfung erstarrter Strukturen auch Unsicherheit und Unberechenbarkeit in sich.108 Im visuellen Abstimmungskampf standen sich zwei Tiere gegenüber: Die GSoA warb für die Schlachtung der »heiligen Kuh« Schweizer Armee mit dem Motiv stahlbehelmten Hornviehs. Auf Seiten der Armeebefürworter kam trotz erneuerter 107 Schweizerzeit, 17.11.1989. 108 NZZ, 14.11.1989.

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Abb. 4: Eine Igelfamilie empfiehlt die Ablehnung der Armeeabschaffungsinitiative (Schweizerisches Sozialarchiv, F Ob-0001067).

linker Kritik an der »Igelmentalität«109 der altbewährte Igel in verschiedenen Versionen zum Einsatz. Ein abstrahiertes, freundlich lächelndes Stacheltier mit Schweizerkreuz versuchte durch einen rätoromanischen Slogan Sympathiepunkte zu ergattern: »Noss’armada per viver libramain.«110 Daneben strebte in Inseraten und Klebern eine Igelfamilie mit Nein-Zetteln zur Urne und gab den Ratschlag: »Uns schützt die Natur – Dich die Armee! Deshalb: An die Urne!« Der von beiden Seiten intensiv betriebene Abstimmungskampf führte, obwohl über den Ausgang nie Zweifel bestanden, zu einer hohen Stimmbeteiligung von 68,6 Prozent. Gemäß dem Tages-Anzeiger interessierte »die Frage, ob 10, 20 oder gar 30 Prozent der Stimmenden ja zu einer Schweiz ohne Armee sagen«.111 Am Abend des 26. November 1989 jubelten die Verlierer, wäh109 Z. B. Gross, Andreas/Spieler, Willy: Ein Plädoyer für eine Politik gegen den Strom, in: Neue Wege 79 (1985), S. 61–68; Tanner, Jakob: »Bewaffnete Neutralität« und Igelmentalität. Kritik und Perspektiven der Neutralität, in: Andreas Gross et al. (Hg.): Denkanstösse zu einer anstössigen Initiative. SozialdemokratInnen für eine Schweiz ohne Armee, Zürich 1989, S. 91–104. 110 Gegen eine wehrlose Schweiz. Welche Folgen hätte die Armeeabschaffung für unser Land?, in: Schweizer Soldat + MFD 64 (1989) 12, S. 4. 111 Tages-Anzeiger, 13.10.1989.

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Abb. 5: Die Armeeabschaffer warben für die Schlachtung der »heiligen Kuh« (Schweizerisches Sozialarchiv, F_5055-Ka-005).

rend es bei den Gewinnern lange Gesichter gab.112 Die Armeeabschaffungsinitiative war zwar wie erwartet gescheitert. Das Resultat war für das bürgerliche und militärische Establishment aber gleichwohl erschütternd, hatten doch 1.052.218 Bürgerinnen und Bürger, 35,6 Prozent der Abstimmenden, die Initiative gutgeheißen. Als die Stände Genf und Jura sogar Ja-Mehrheiten von 50,4 bzw. 55,5 Prozent meldeten, knallten am nationalen GSoA-Fest in Basel die Champagnerkorken. Die Abstimmungsanalyse zeigte ein deutlich unterschiedliches Stimmverhalten der Generationen:113 Die über 60-Jährigen mit politischer Sozialisation im frühen Kalten Krieg oder noch in der »ersten« Geistigen Landesverteidigung hatten wuchtig mit 87 Prozent verworfen. Demgegenüber stimmten die 20- bis 30-Jährigen, die in der Endphase des Kalten Kriegs sozialisiert worden waren, der Armeeabschaffung zu etwa 60 Prozent zu. Bei den 30- bis 40-Jährigen, deren Sozialisation zum größten Teil in der zweiten Hälfte des Kalten Kriegs und nach 1968 stattgefunden hatte, hielten sich Befürworter und Gegner die 112 Basler Zeitung, 27.11.1989. 113 Longchamp, Claude: Analyse der eidgenössischen Abstimmungen vom 26. November 1989, Bern 1990.

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Waage. Auf Probleme im Dienstbetrieb deutete der Umstand hin, dass 72 Prozent der Soldaten des »Auszugs« (21- bis 32-Jährige) der Initiative zugestimmt hatten. Politologische Studien stuften etwa 20 Prozent der Abstimmenden als »harte« Armeegegner ein, weitere 16 Prozent als »Denkzettel«-Befürworter. Diese Proportionen hatten sich schon vor dem Mauerfall in Umfragen im Juli und September 1989 abgezeichnet.114 Neben der »äußeren« geriet im November 1989 auch die »innere« Sicherheit in den Strudel kontroverser Diskussionen. Auslöser war der Bericht der PUK zum EJPD. Die vom Sozialdemokraten Moritz Leuenberger präsidierte Kommission war im Januar 1989 eingesetzt worden, um im Zusammenhang mit dem skandalbehafteten Rücktritt von Bundesrätin Elisabeth Kopp die Amtsführung des EJPD und der Bundesanwaltschaft zu analysieren, ebenso das Vorgehen der Behörden bei der Bekämpfung von Geldwäscherei und Drogenhandel. Auch sollte sie eventuell festgestellte institutionelle Mängel darlegen.115 Der Bericht enthielt Angaben zu den Umständen von Kopps Rücktritt sowie ihrer Amtsführung, zur Bekämpfung von Geldwäscherei, Drogen- und Waffenhandel, zu Aufgaben und Funktionsweise der Bundesanwaltschaft (unter knapper Erwähnung der »Fälle« Jeanmaire und Bachmann, deren Hintergründe aber ungeklärt blieben) sowie zur Politischen Polizei. Der letzte Abschnitt ließ eine Bombe platzen. Er befasste sich unter anderem mit der Zusammenarbeit zwischen Bundespolizei, kantonalen und militärischen Nachrichtendiensten, mit Methoden der Beschaffung von Informationen sowie deren sachfremder Verwendung. Bezeichnenderweise arbeitete die PUK selber unter konspirationsähnlichen Bedingungen mit personalisierten Sitzungs­einladungen, wechselnden Treffpunkten und einem durch Sicherheitscode, Alarmanlage und Panzerglas geschützten Konferenzraum im Bundeshaus, um eine Abhörung durch die zu untersuchenden Sicherheitsorgane zu verhindern.116 Die Teile des Berichts, die den Umfang der auf 900.000 Karteikarten (»Fichen«) und in zahlreichen Dossiers verschriftlichten Bespitzelungspraktiken skizzierten, die rund 700.000 Menschen und Organisationen erfasst hatten, lösten eine intensive Debatte aus, welche rasch das Label »Fichenskandal« erhielt.117 114 NZZ, 05.01.1990. 115 Vorkommnisse, S. 651 f. 116 Liehr, Dorothee: Skandal und Nation. Politische Deutungskämpfe in der Schweiz 1988– 1991, Marburg 2014, S. 258 f. 117 SozArch, Ar 47.30.1 Archiv Schnüffelstaat Schweiz. Presseartikel 1989–1996; Liehr: Skandal, S. 243–561; Sonderegger, Georg/Dütschler, Christian: Ein PUK-Bericht erschüttert die Schweiz. Der Fichenskandal, in: Looser (Hg.): Die Schweiz, S. 209–218; Messerli, Philippe:

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Die bald allgemein als »Dunkelkammer der Nation«118 bezeichnete Datensammlung erschien als Relikt der systemübergreifenden culture of secrecy des untergegangenen Kalten Kriegs. Der Tages-Anzeiger fühlte sich »fatal an die Praktiken des in der DDR soeben abgehalfterten Staatssicherheitsdienstes« erinnert, die WoZ schrieb von »CH-Stasi« und Der Bund forderte »Glasnost statt Schnüffelstaat«.119 Auch das Volksrecht zog einen Vergleich mit den Vorgängen im Osten: »Das Volk der DDR war fähig, seine Stasi-Polizei zu zerstören. Feiern wir mit den Ostdeutschen, indem wir sie nachahmen.«120 Während die Medien und die Linke die Skandalisierung des »Schnüffelstaats« vorantrieben, versuchten Bundesrat und Teile der bürgerlichen Presse und Parteien zu beschwichtigen. Auch die rechtsbürgerliche Schweizerische Volkspartei (SVP) hielt aber fest, die Bundespolizei gehe von einem »antiquierten Bedrohungsbild« aus,121 und der christdemokratische Nationalrat Edgar Oehler beklagte »Zustände wie im Ostblock«.122 Nur vereinzelt gab es Rückfälle in die Episteme des Kalten Kriegs, etwa wenn der christdemokratische Ständerat Xaver Reichmuth vor den »nun Morgenluft witternden Systemveränderer[n]« warnte.123 Die Dynamik des Skandals führte im März 1990 zur Einsetzung einer zweiten PUK unter Leitung des Christdemokraten Carlo Schmid, die sich unter anderem mit Datenregistraturen im Militärdepartement und geheimen Diensten wie P-26 und P-27 befasste. Ihr Bericht vom November 1990 erwähnte etwa die Fichierung von GSoA-Mitgliedern, Exponenten der Rothenturm-Initiative, Offizieren, die einen Zivildienst befürworteten, Homosexuellen und »Spinnern« sowie einen Fall von 1983, als einem Hauptmann wegen »son appartenance au Parti socialiste« Kommandofunktionen entzogen wurden.124 »Verdächtige Personen« wurden in »ND« (Nachrichtendienst), »Terror/Sabotage«, »Subversion/ Politik«, »Rechtsextrem«, »Verschuldet« und »Abartige Veranlagungen« kategorisiert. Die PUK konstatierte »eine uneinheitliche und inhaltlich teilweise »Wieviel Staatsschutz braucht die Schweiz?« Der Fichenskandal von 1989/90 im Spiegel ausgewählter Schweizer Tageszeitungen, Liz. Univ. Bern 2001; Brügger, Susanne: Interdisziplinäre Skandalforschung. Eine Analyse des Fichenskandals in der Schweiz 1989/90 anhand Deutschschweizer Tages- und Wochenzeitungen, Liz. Univ. Zürich 2006; Friemel, ­Michaela: Von »­Fichen« und »Fischen«. Der politische Verarbeitungsprozess der Staatsschutzaffäre von 1989 bis 1997. Eine Analyse der Wortprotokolle des eidgenössischen Parlaments, Liz. Univ. Basel 2008. 118 Z. B. Der Bund, 25.11.1989; Weltwoche, 30.11.1989; WoZ, 01.12.1989. 119 Tages-Anzeiger, 25.09.1989; WoZ, 01.12.1989; Der Bund, 29.11.1989. 120 Volksrecht, 08.12.1989. 121 Zit. NZZ, 25.11.1989. 122 Zit. Tages-Anzeiger, 29.11.1989. 123 Zit. Tages-Anzeiger, 14.12.1989. 124 Bericht der parlamentarischen Untersuchungskommission zur besonderen Klärung, S. 131–136.

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fragwürdige, ja geradezu diskriminierende Registrierungspraxis« und ortete in der P-26 »potentielle Gefahr für die verfassungsmässige Ordnung«: »Die Gefahr, dass eine Aktivierung ohne oder sogar gegen den Willen der obersten politischen Landesbehörden ausgelöst werden könnte, macht die Organisation zu einem Machtmittel von Personen, die keiner demokratischen Kontrolle unterstehen.«125 Insgesamt gerieten also wesentliche Pfeiler des militärisch-bürokratischen Sicherheitsdispositivs just in jenen Wochen und Monaten unter Beschuss, als der Kalte Krieg definitiv endete. Zwar hatte die GSoA-Initiative eine siebenjährige Vorgeschichte und war die PUK EJPD ursprünglich nicht wegen des Staatsschutzes eingesetzt worden. Erst durch die weltpolitischen Ereignisse von 1989 entwickelte sich aus diesen Vorgängen jedoch eine innenpolitische Dynamik, die das helvetische Selbstverständnis der letzten vier Jahrzehnte grundlegend erschütterte.

Igel auf Orientierungssuche: Helvetische Rekonfigurationen nach der weltpolitischen Wende Die »noch nie dagewesene Skandalisierungskaskade«126 der Jahre 1989/90 hatte weitreichende mentalitätsmäßige und strukturelle Konsequenzen. Die culture of secrecy des Kalten Kriegs brach mit dem Fichenskandal spektakulär zusammen. Mit Beginn der Akteneinsichtnahme der Betroffenen ab Februar 1990 drangen immer neue Details über die Exzesse des Staatsschutzes an die Öffentlichkeit. Am 3. März 1990 tauchte an einer Kundgebung von 35.000 Personen gegen den »Schnüffelstaat« in Bern der von den Montagsdemonstrationen entlehnte Slogan »Wir sind das Volk!« auf.127 Bis Ende März stellten über 300.000 Menschen Gesuche um Akteneinsichtnahme, im folgenden Jahr boykottierten zahlreiche Kulturschaffende die Feierlichkeiten zur angeblich 700-jährigen Existenz der Eidgenossenschaft128 und wurde die Volksinitiative »S.o.S. – Schweiz ohne Schnüffelpolizei« eingereicht. Damit hatte der Protest aber seinen Zenit überschritten und bald machte sich gegenüber dem Staatsschutzthema Gleich125 Ebd., S. 142, 193, 200. Vgl. Wettstein, Wolfgang: Die Enttarnung einer privaten Guerillatruppe. Der Geheimarmeeskandal, in: Looser (Hg.): Die Schweiz, S. 219–236; Matter, Martin: P-26. Die Geheimarmee, die keine war. Wie Politik und Medien die Vorbereitung des Widerstandes skandalisierten, Baden 2012. 126 Tanner, Jakob: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, München 2015, S. 466. 127 NZZ, 05.03.1990. 128 SozArch, Ar 475 Dokumentation Kulturboykott/CH91; Lerch, Fredi/Simmen, Andreas (Hg.): Der leergeglaubte Staat. Kulturboykott. Gegen die 700-Jahr-Feier der Schweiz. Dokumentation einer Debatte, Zürich 1991.

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gültigkeit breit.129 Die Auflage des Kampagnenorgans der Staatsschutzinitiative Fichen-Fritz fiel bis 1998 von 300.000 auf 8000 Exemplare.130 Ein Referendum gegen das 1997 verabschiedete Staatsschutzgesetz kam nicht zustande und die »S. o.S.«-Initiative scheiterte 1998 mit 75,4 Prozent Nein-Stimmen. Die neue Qualität von Überwachungsmöglichkeiten im Zuge der Digitalisierung wurde kaum noch vor dem Hintergrund des analogen »Schnüffelstaats« des Kalten Kriegs diskutiert – zu weit schien dieser in der Vergangenheit zu liegen. Auch die Landesverteidigung erfuhr durch die Vorgänge des Herbsts 1989 grundlegende Veränderungen. Nach der Abstimmung über die Armeeabschaffung hatte der Nebelspalter es treffend auf den Punkt gebracht. Eine Karikatur mit Verteidigungsminister Kaspar Villiger auf einer Kuh konstatierte: »Die Armee gibt’s noch, die ›heilige Kuh‹ nicht mehr.«131 Ab den 1990er Jahren wurde die Armee in einer Kaskade von Reformen radikal verkleinert auf zunächst 400.000 Mann unter Absenkung der Wehrpflicht vom 50. auf das 42. Altersjahr (»Armee 95«), sodann auf maximal 140.000 Aktive und 80.000 Reservisten unter Absenkung der Wehrpflicht auf das 30. Lebensjahr (»Armee XXI«). Parallel dazu wurde der Mannschaftsbestand des Zivilschutzes von 520.000 auf 380.000 und dann 100.000 reduziert. Wie beim Staatsschutz bremsten die nach 1989 eingeleiteten Reformen die grundsätzliche Kritik ab. Die weiteren Initiativen der GSoA konnten nicht mehr an den relativen Erfolg von 1989 anknüpfen: Die Initiative »Für eine Schweiz ohne neue Kampfflugzeuge«, der zunächst gute Chancen eingeräumt worden waren, scheiterte 1993 mit 57,2 Prozent Nein-Stimmen, die zweite Armeeabschaffungsinitiative erlangte 2001 nur noch 21,9 Prozent Zustimmung. Am deutlichsten zeigte sich die gewandelte sicherheitspolitische Mentalität aber beim Umgang mit der Dienstverweigerung.132 Bis zum Ende des Kalten Kriegs wurden in der Schweiz – im Unterschied selbst zur militaristischen DDR – Verweigerer generell kriminalisiert. Seit den 1960er Jahren hatte ihre Zahl stetig zugenommen und 1984 einen Höchststand von 788 Fällen erreicht. Nicht in dieser Statistik enthalten waren diejenigen prospektiven Verweigerer, die man bei der Aushebung erfasst, psychiatrisch untersucht und vorsorglich 129 Kreis, Georg: Staatsschutz im Laufe der Zeit. Von der Skandalisierung zur Gleichgültigkeit. Ein Blick zurück auf die Fichenaffäre vor zwanzig Jahren, in: Digma 9 (2009), S. 54–59. 130 Das Onlinearchiv der Zeitung gegen den Schnüffelstaat, https://fichenfritz.ch [28.03.2019]. 131 [Eisenmann,] Orlando: »Die Armee gibt’s noch, die ›heilige Kuh‹ nicht mehr«, in: Nebelspalter 115 (1989) 49, S. 8. 132 Koller, Christian: Der Lange Weg zum »zivilen Ersatzdienst« in der Schweiz, in: Christian Th. Müller/Dierk Walter (Hg.): Ich dien’ nicht! Wehrdienstverweigerung in der Geschichte, Berlin 2008, S. 227–242.

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Abb. 6: Protest gegen den »Schnüffelstaat« auf dem Bundesplatz in Bern (Schweizerisches Sozialarchiv, F_5032-Fb-0251).

für untauglich erklärt oder dispensiert hatte. Allein 1971 bis 1973 wurden auf diesem Weg 85 Männer ausgesondert.133 Der Militärpsychiater Alfred Stucki teilte 1986 Verweigerer in die Kategorien »Propheten«, »Patienten« und »Parasiten« ein.134 Nebst der Kriminalisierung hatten Verweigerer teilweise auch Konsequenzen im Berufsleben zu tragen. Es war ein offenes Geheimnis, dass im Bildungswesen des Kantons Zürich unter der Ägide von Erziehungsdirektor und Oberst Alfred Gilgen in den 1970er und 1980er Jahren ein Anstellungsverbot für Dienstverweigerer herrschte. Gleiches galt für die Kantonsverwaltung Graubündens.135 Mehrfach hob das Bundesgericht entsprechende Verbote auf.136 Aber auch Beschäftigten in der Privatwirtschaft erwuchsen oft Nachteile.137 133 Gloor, Hans Jakob: Psychiatrische Gründe der Dienstverweigerung vor der Rekrutenschule, in: Schweizerische Zeitschrift für Militär- und Katastrophenmedizin 52 (1975), S. 110–137. 134 Stucki, Alfred: Dienstverweigerer. Prophet, Patient oder Parasit? Frauenfeld 1986. 135 Militärdienstverweigerer zwischen Knast und Berufsverbot. Zur Situation der Militärverweigerer in der Schweiz. Texte und Materialien über Strafvollzug und Repression, Zürich 1987, S. 40–47. 136 Der Spiegel, 19.06.1979; Spescha, Marc: Ohrfeige für Gilgen, in: Virus 34 (1981), S. 14–17. 137 SozArch, KS 35/61 Z3 Dienstverweigerung (1946–1959).

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1977 und 1984 scheiterten Volksinitiativen für die Einführung eines Zivildienstes mit jeweils 63 Prozent Nein-Stimmen.138 Militärkreise argumentierten, es würden damit »Gesellschaftsverweigerer schlechthin legalisiert«, die »allgemeine Wehrpflicht aufgehoben«, was »Selbstaufgabe, Aufgabe der Eigenstaatlichkeit im Rahmen unseres demokratischen Rechtsstaates« bedeute.139 Bezeichnend für den engen Bezug solcher Ansichten zur Episteme des Kalten Kriegs war die 1973 im Nebelspalter geübte Kritik an der Kriminalisierung von Verweigerern in der Sowjetunion. Diese wurzle in der leninistischen Doktrin, »dass unter kommunistischem Einfluss nur gerechte und unter nichtkommunistischem nur ungerechte Kriege geführt werden«.140 Auf spiegelbildliche Argumentationen im eigenen Land ging der Artikel mit keiner Silbe ein. Zu Ende des Kalten Kriegs drehte der Wind radikal: Im Oktober 1990 verabschiedete das Parlament eine Übergangslösung mit der Möglichkeit einer Arbeitsleistung verurteilter Verweigerer aus Gewissensgründen. Schon 1989 hatte Helmut Hubacher aber einen Vorstoß für einen echten Zivildienst eingereicht, 1990/91 folgten mehrere ähnliche Initiativen. Die daraus hervorgegangene Vorlage, die von Bundesrat, Parlament und allen grossen Parteien unterstützt wurde, erzielte 1992 in der Volksabstimmung 82,5 Prozent Zustimmung. Neben der Reform des Sicherheitsdispositivs nach dem Kollaps der Episteme des Kalten Kriegs hatte die »Wende« weitere Konsequenzen für die Schweiz. Es folgte eine Periode der Verunsicherung über die Rolle des Landes in der postbipolaren Welt. Im Dezember 1992 lehnten die Stimmberechtigten bei einer Beteiligung von über 78 Prozent die Teilnahme am Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) mit einer hauchdünnen Mehrheit von 50,3 Prozent ab, stimmten dann aber knapp acht Jahre später den bilateralen Abkommen mit der Europäischen Union, die wesentliche Punkte der EWR-Vorlage wieder aufgriffen, mit Zweidrittelmehrheit zu. Der Beitritt der Schweiz zur UNO, der 1986 noch mit Dreiviertelmehrheit abgeschmettert worden war, erreichte 2002 eine Zustimmung von rund 54 Prozent. Eng mit diesen außenpolitischen Irritationen verknüpft war in den 1990er Jahren der Aufstieg der SVP von einer aus der 1918er Rechten hervorgegangenen Vertretung von Bauern- und Gewerbeinteressen unter Absorption der Antiüberfremdungsbewegung, außenpolitischen Isolationisten, Nostalgiker der beiden Geistigen Landesverteidigungen und Protestwähler zur stärksten politischen 138 SozArch, Ar 201.71 Initiativkomitee für einen echten Zivildienst. 139 Küchler, Simon: Argumentarium gegen die Volksinitiative »Für einen echten Zivildienst auf der Grundlage des Tatbeweises«, in: SAMS-Informationen 7 (1983) 2, S. 24–35, hier 25, 27. 140 Moskauer Einspruch, in: Nebelspalter 99 (1973) 20, S. 5.

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Kraft des Landes. Allerdings kehrte 1991 mit Nationalrat Peter Sager gerade ein vormals führender Vertreter der Episteme des Kalten Kriegs nach 46 Jahren Mitgliedschaft der SVP aus Protest gegen ihren europafeindlichen Kurs den Rücken. Die durch die EWR-Ablehnung verlängerte Wirtschaftskrise der 1990er Jahre führte angesichts des Kollaps staatssozialistischer Ökonomien zu einer intensiven Debatte über »Deregulierung«, wobei die direkte Demokratie aber Exzessen der Privatisierungseuphorie wie im Vereinigten Königreich Grenzen setzte. Insgesamt kamen durch den Umbruch von 1989 damit auch in der Schweiz Prozesse in Gang, deren Endpunkt bis heute nicht absehbar ist.

Fazit Das Beispiel der Schweiz zeigt deutlich, dass die osteuropäische »Wende« und das Ende der bipolaren Weltordnung auch für westliche Staaten einen massiven Einschnitt bedeutete. Zwar hatte in der Schweiz wie anderswo ab den späten 1960er Jahren eine schleichende Erosion der Episteme des Kalten Kriegs eingesetzt. Ein Indikator war die sehr geteilte Aufnahme, die 1969 das »Zivilverteidigungsbuch« erfuhr. In den 1980er Jahren beschleunigte sich dieser Prozess, dennoch waren der mit einer Kaskade von Skandalen einhergehende Kollaps der »Igelmentalität« in der Wendezeit 1989/91 und der daraus resultierende strukturelle Bruch im Sicherheitsdispositiv spektakulär. Die folgenden Reformen, Redimensionierungen und Neukalibrierungen von Armee und Staatsschutz gingen zwar keineswegs so weit, wie es die linken Initianten von GSoA und S. o. S. forderten, unter großer Unsicherheit über die Rolle der Schweiz in der Welt veränderte sich aber das Sicherheitsdispositiv in den 1990er Jahren in einer Art und Weise, die noch Mitte der 1980er Jahre völlig undenkbar gewesen wäre.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Peter Collmer ist Privatdozent für Neuere Allgemeine und Osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der russischen und polnischen Geschichte seit dem 18. Jahrhundert, in den historischen Verflechtungen zwischen West- und Osteuropa und in der Kulturgeschichte des Staates. 2018 erschien von ihm Pop and Politics in Late Soviet Society, Euxeinos, 8/2018 (hg. mit Carmen Scheide). Ekaterina Emeliantseva Koller forscht und lehrt als Förderungsprofessorin des Schweizerischen Nationalfonds zur osteuropäischen Geschichte an der Universität Zürich. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die Geschichte religiöser Grenzgänger im Russländischen Reich des 18. und 19. Jahrhunderts, die Kulturgeschichte des Sports in Russland sowie die späte Sowjetunion. Das aktuelle Forschungsprojekt über das spätsowjetische Dorf untersucht die Dynamiken der spätsowjetischen Gesellschaft aus der Sicht der ländlichen Bevölkerung. Zuletzt von ihr erschienen: Religiöse Grenzgänger im östlichen Europa, Köln 2018; »Negotiating ›Coldness‹: The Natural Environment and Community Cohesion in Cold War Molotovsk-Severodvinsk«, in: Julia Herzberg/Christian Kehrt/Franziska Torma (Hg.): Ice and Snow in the Cold War Histories of Extreme Climatic Environments, New York/Oxford 2018, S. 261–292. Carsten Goehrke war von 1971 bis 2002 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich. In der Lehre behandelte er den gesamten Raum Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas vom Mittelalter bis zur Gegenwart. In der Forschung lag sein Hauptschwerpunkt auf der russischen Geschichte, insbesondere im Bereich der Agrar-, Stadt-, Sozial-, Alltags-, Geschlechter- und Migrationsgeschichte. Einen zweiten Schwerpunkt bildete die vergleichende Geschichte Osteuropas. Zuletzt ist von ihm erschienen: Lebenswelten Sibiriens. Aus Natur und Geschichte des Jenissei-Stromlandes, Zürich 2016. Pavel Kolář ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Konstanz. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der kommunistischen Diktaturen, Historiografiegeschichte, Nationalismus, historische Gewaltforschung. Er ist Autor

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

von Geschichtswissenschaft in Zentraleuropa. Die Universitäten Prag, Wien und Berlin um 1900, Leipzig 2008; Der Poststalinismus. Ideologie und Utopie einer Epoche, Köln 2016; Co byla normalizace? Eseje o pozdním socialismu, Prag 2016 (zusammen mit Michal Pullmann) und Soudruzi a jejich svět. Sociálně myšlenková tvářnost komunismu (erscheint 2019). Zurzeit arbeitet er an einer Monografie über die Geschichte der Todesstrafe nach 1945. Christian Koller ist Direktor des Schweizerischen Sozialarchivs und Titularprofessor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in den Bereichen der Geschichte von Nationalismus und Rassismus, historischer Semantik, Sportgeschichte, sozialen Bewegungen, industriellen Beziehungen, Gewalt- und Militärgeschichte, Geschichte interkultureller Kontakte, Migrationsgeschichte, Selbstzeugnisforschung, Stadtgeschichte und Erinnerungskulturen sowie ausgewählten Fragen der Informationswissenschaft. Zuletzt von ihm erschienen: Der Landesstreik. Die Schweiz im November 1918, Baden 2018 (hg. mit Roman Rossfeld und Brigitte Studer). Nataša Mišković ist Südosteuropahistorikerin an der Universität Basel, wo sie als Förderungsprofessorin des Schweizerischen Nationalfonds das Forschungsprojekt Visuelle Zugänge zur vergleichenden Lebensweltforschung in Jugoslawien und der Türkei, 1920er und 1930er Jahre leitete. Zuvor hatte sie an Universität Zürich zur politischen Freundschaft zwischen Tito, Nehru und Nasser und den Blockfreien geforscht. Zu ihren jüngsten Publikationen zählen der SIBA-Film Zeitgeist (2018), die Wanderausstellung Cities on the Move – Post-Ottoman (2017–2019) und der Band The Non-Aligned Movement and the Cold War. Delhi – Bandung – Belgrade, Abingdon 2017 (hg. mit Nada Boškovska und Harald Fischer-Tiné). Jeronim Perović ist Leiter des Center for Eastern European Studies (CEES) und Titularprofessor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich. Er befasst sich in Lehre und Forschung mit russischer Geschichte und der Geschichte des Balkans vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Zuletzt erschienen: From Conquest to Deportation. The North Caucasus under Russian Rule, New York 2018; (als Hg.:) Cold War Energy. A Transnational History of Soviet Oil and Gas, London 2017. Julia Richers ist Ordinaria für Neueste Allgemeine und Osteuropäische Geschichte am Historischen Institut der Universität Bern. Ihre Schwerpunkte

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in Forschung und Lehre liegen auf der Geschichte Russlands, der Sowjetunion und des Karpatenraums, insbesondere Ungarns und der Karpato-Ukraine. Im Fokus stehen unter anderem die jüdische Geschichte, revolutionäre Bewegungen, der Kalte Krieg sowie die Verflechtungen Schweiz–Osteuropa. Zuletzt von ihr erschienen: Zimmerwald und Kiental. Weltgeschichte auf dem Dorfe, Zürich 2015 (hg. mit Bernard Degen). Carmen Scheide wurde 2016 auf die Dozentur für die Geschichte Osteuropas am Historischen Institut der Universität Bern berufen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind allgemein die Geschichte Osteuropas und hier besonders Russland, die Ukraine und die Sowjetunion. In Forschung und Lehre beschäftigt sie sich mit Erinnerungsfragen, Gender Studies, Zeitgeschichte, osteuropäischen Lebenswelten und verflochtenen Regionalgeschichten. Seit 2018 leitet sie das vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierte Projekt Remembering the Past in the Conflicts of the Present. Civil Society and Contested Histories in the Post-­ Soviet Space (1991–2017). Ulrich Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der osteuropäischen Ideengeschichte, der Ästhetik des Nationalismus und der Polittechnologien. Seit 2011 koordiniert er ein internationales Forschungsprojekt zum Regionalismus in der Ukraine. Zuletzt von ihm erschienen: Ukraine. Contested Nationhood in a European Context, London 2019; De profundis. Vom Scheitern der russischen Revolution, Berlin 2017 (hg. mit Anselm Bühling); Technologien der Seele. Die Verfertigung von Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur, Berlin 2015. Daniel Weiss war von 1982 bis 2014 Ordinarius für Slawische Sprachwissenschaft in Hamburg, München und Zürich. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte umfassen vor allem die Syntax der heutigen russischen Umgangssprache und die Pragmatik des politischen Diskurses in Ost(mittel)europa, insbesondere in Parlamentsdebatten; ein früherer Schwerpunkt galt der Propagandasprache in der Sowjetunion und in Volkspolen. Er leitete fünf größere Forschungsprojekte und ist Autor von über 150 Publikationen und (Mit-)Herausgeber von acht Sammelbänden.