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German Pages 322 Year 1996
ABHANDLUNGEN DES GÖTTINGER ARBEITSKREISES
Band 12
Rußland und die Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion
Duncker & Humblot · Berlin
RUSSLAND UND DIE UKRAINE NACH D E M ZERFALL DER SOWJETUNION
ABHANDLUNGEN
DES G Ö T T I N G E R
ARBEITSKREISES
Herausgegeben vom Göttinger Arbeitskreis
B A N D 12
Rußland und die Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion
Mit Beiträgen von Wolfdieter Bihl, Heinz Brahm, Georg Brunner, Ëvgenij I. Chmelevskij Hermann Clement, Martina Dorner, Franz Golczewski, Roland Götz, Joanna Haiduk Anna-Halja Horbatsch, Leonid Juz'kov t, Bernd Knabe, Galina Luchterhandt Otto Luchterhandt, Bohdan A. Osadczuk-Korab und Aleksej V. Surilov
Duncker & Humblot * Berlin
Die in dieser Reihe veröffentlichten Beiträge geben ausschließlich die Ansichten der Verfasser wieder.
Gedruckt mit Unterstützung der Robert Bosch-Stiftung
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Russland und die Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion / mit Beitr. von Wolfdieter Bihl . . . - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Abhandlungen des Göttinger Arbeitskreises ; Bd. 12) (Veröffentlichung / Göttinger Arbeitskreis ; Nr. 454) ISBN 3-428-08881-6 NE: Bihl, Wolfdieter; Göttinger Arbeitskreis: Abhandlungen des Göttinger . . . ; Göttinger Arbeitskreis: Veröffentlichung
Der Göttinger Arbeitskreis: Veröffentlichung Nr. 454
Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6844 ISBN 3-428-08881-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©
INHALT
Vorwort
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I. Von der Sowjetunion Gorbatschows zu Rußland unter Jelzin Von Gorbatschow zu Jelzin Von Dr. Heinz Brahm, Köln
9
Rußland zwischen Diktatur und Demokratie Von Prof. Dr. Georg Brunner, Köln
19
Die Nachfolgeorganisationen des KGB in Rußland Von Prof. Dr. Otto Luchterhandt, Hamburg
51
Die Parteien und politischen Vereinigungen vor und nach der rußländischen Parlamentswahl Von Dr. Galina Luchterhandt, Bremen
87
Stand und Perspektiven der Wirtschaftsreform in Rußland Von Dr. Roland Götz, Köln
101
Transformation der Sozialstruktur Rußlands Von Dr. Bernd Knabe, Köln
119
II. Die Ukraine als unabhängiger Staat unter Krawtschuk Die historischen und ethnischen Grundlagen der staatlichen Unabhängigkeit der Ukraine Von Prof. Dr. Wolfdieter Bihl, Wien
145
Die Außen- und Innenpolitik der Ukraine in jüngster Zeit Von Prof. Dr. Bohdan A. Osadczuk-Korab, Berlin
163
Die Besonderheiten der politischen Transformation in der Ukraine (1985-1993) Von Joanna Haiduk, Heidelberg
181
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Inhalt
Die zeitgenössische Ukrainische Literatur Strömungen und Probleme Von Dr. Anna-Halja Horbatsch, Reichelsheim Der Weg zu einer neuen Verfassung in der Ukraine als Spiegelbild der politischen Realität in Gesellschaft und Staat Von Prof. Dr. Leonid Juz'kov t , Kiev Die Wirtschaft der Ukraine: Probleme und Tendenzen Von Dr. Hermann Clement, München
219
233
243
Alternativen zur Krisenbewältigung in der Ukraine Von Dr. Evgenij I. Chmelevskij, Kiev
257
Privatisierung des Staatseigentums in der Ukraine: Modell und Praxis Von Prof. Dr.Aleksej V. Surilov, Odessa
265
Nationale Minderheiten in der Ukraine Von Prof. Dr. Franz Golczewski, Hamburg
287
Das Bildungswesen in der unabhängigen Ukraine Von Martina Domer Μ . Α., Bochum
299
Personenregister
315
Mitarbeiterverzeichnis
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VORWORT
Der vorliegende Sammelband enthält die überarbeiteten Referate, die auf der Wissenschaftlichen Jahrestagung des Göttinger Arbeitskreises und der konstituierenden Tagung der Studiengruppe für gegenwartsbezogene Ukraineforschung im April 1994 in Mainz gehalten wurden. Der erste Teil behandelt den Übergang von der Sowjetunion unter Gorbatschow zur Rußländischen Föderation unter Jelzin. In einem Überblick über die stattgefundene Entwicklung weist Dr. Heinz Brahm auf die Unterschiede in den Persönlichkeiten der beiden maßgebenden Politiker und der von ihnen angewandten Methoden hin, die zu einem tiefgehenden Umbruch von weltpolitischem Ausmaße beigetragen haben. Prof. Dr. Georg Brunner stellt in seiner Analyse vorläufig nur die ersten Ansätze zu einer rechtsstaatlichen Demokratie fest. Die Verfassungsentwicklung unter Jelzin hat zu einer Präsidialdemokratie mit deutlichen autoritären Zügen geführt. Daß sich Rußland im Übergangszustand zwischen Diktatur und Demokratie befindet, geht auch aus den Beiträgen von Prof. Dr. Otto Luchterhandt über die russischen Sicherheits- und Rechtsschutzorgane und Frau Dr. Galina Luchterhandt über die nur schwach entwickelten Parteien und politischen Vereinbarungen hervor. Dr. Roland Götz geht auf den Stand und Perspektiven der Wirtschaftsreform, die den Übergang zur Marktwirtschaft zum Ziel hat, ein. Dr. Bernd Knabe behandelt die Transformation der Sozialstruktur Rußlands, die sich auf die künftige politische Entwicklung des Landes wesentlich auswirken wird. Der zweite Teil ist der Ukraine gewidmet, deren Unabhängigkeitserklärung entscheidend zum Zerfall der Sowjetunion und ihrer Umwandlung in die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) geführt hat. In ihm wird, unter Beteiligung ukrainischer Wissenschaftler, hauptsächlich die Entwicklung der Ukraine unter Krawtschuk behandelt. Prof. Dr. Wolfdieter Bihl eröffnet diesen Teil mit einem sachkundigen Überblick über tausend Jahre ukrainische Geschichte. Es folgen die Beiträge von Prof. Dr. Osadczuk-Korab und Frau Joanna Haiduk über die Außen-
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Vorwort
und Innenpolitik und die Besonderheiten der politischen Transformation in jüngster Zeit. Ergänzt werden sie durch den Beitrag von Frau Dr. AnnaHalja Horbatsch über Strömungen und Probleme in der zeitgenössischen ukrainischen Literatur. Prof. Dr. Leonid Juz'kov berichtet als Mitautor der neuen Verfassung der Ukraine über den schwierigen Weg, der zu ihr zurückgelegt werden mußte. Dr. Hermann Clement behandelt die Probleme und Tendenzen in der Wirtschaft der Ukraine, während Dr. Je. I. Chmelevskij auf Alternativen zur Krisenbewältigung in der Ukraine eingeht. Ergänzend weist Prof. Dr. Α . V. Surilov auf die Bedeutung und zugleich die Schwierigkeiten der Privatisierung des Staatseigentums hin. Prof. Dr. Franz Golczewski hat im Rahmen seines Beitrages über nationale Minderheiten in der Ukraine, die Hauptthemen, die auf der Sondertagung behandelt wurden, zusammengefaßt. Den Abschluß bildet der Beitrag von Frau Martina Dorner Μ . Α., der auf die Probleme und neuesten Tendenzen im Bildungswesen näher eingeht. Die Konferenz wurde dank der Förderung durch die Landesregierung Rheinland-Pfalz, den Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und die Robert Bosch-Stiftung ermöglicht. Dafür gebührt ihnen unser Dank.
Göttingen, im März 1996
Die Herausgeber
VON GORBATSCHOW ZU JELZIN Von Heinz Brahm
Den Behauptungen vieler Soziologen zum Trotz spielt die Persönlichkeit in der Geschichte eine große, möglicherweise sogar eine entscheidende Rolle. Ohne Lenin wäre es nicht zur Oktoberrevolution gekommen. Auch ein Trotzkij hätte die Bolschewiki kaum zum Sieg führen können, was dieser im Exil sogar eingeräumt hat. 1 Die Eroberung der Macht durch die Bolschewiki war nur dank Lenins Machtwillen möglich. Sie war also ein Zufall. Der Zusammenbruch des Kommunismus aber war ein Gesetz. Wäre Gorbatschow nicht 1985 Generalsekretär des Z K der KPdSU geworden, so wären die Tage der kommunistischen Partei dennoch gezählt gewesen. Gorbatschow war allem Anschein nach jedoch ein Katalysator, der das Ende des Kommunismus beschleunigte. Er war allerdings angetreten, um die KPdSU von ihren Deformationen zu befreien und schien auch geradezu prädestiniert zu sein, dem sowjetischen Sozialismus ein menschliches Gesicht zu verleihen. Keiner war in der Ahnengalerie der sowjetischen Parteiführer so undogmatisch und unbefangen wie er, keiner menschlich so gewinnend, keiner so sehr um Redlichkeit bemüht und der Gewalt so abgeneigt wie er. Man braucht nur einmal die Sprache Lenins mit allen ihren rüden Ausfällen mit der Gorbatschows zu vergleichen, um zu erkennen, welcher Abstand zwischen diesen beiden Parteiführern liegt. Gorbatschow blieb es dennoch vorbehalten, die KPdSU und die Sowjetunion zu unterminieren, ohne dies jedoch gewollt zu haben. L. Kolakowski hat einmal gesagt, der Sozialismus mit menschlichem Gesicht sei genau so wenig möglich wie ein Krokodil mit menschlichem Gesicht. Die Entwicklung in der Sowjetunion, aber auch in allen anderen osteuropäischen Ländern scheint diese Ansicht zu bestätigen. 1984 hat Alexander Demandt Überlegungen darüber angestellt, was in der Vergangenheit und auch in Zukunft möglich und wahrscheinlich war oder auch ist: "Es gibt einen Bereich von so geringer Wahrscheinlichkeit, daß man im Umgangsdeutsch von einer Unmöglichkeit des Denkbaren spricht. Der Kaiser Caligula konnte, obwohl er es wollte, sein Leibroß namens Incitatus nicht 1
Trotsky's Diary in Exile 1935, Cambridge Mass., 1958, S. 46.
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zum Consul ernennen ... Kein Papst hätte den Atheismus zum Dogma erheben können, kein amerikanischer Präsident kann unter den heute herrschenden Bedingungen die Sklaverei wieder einführen, kein sowjetischer Generalsekretär den Marxismus verurteilen. Derartige Absurditäten zu vermehren ist wenig reizvoll." 2 Das Leben ist oft sehr viel phantastischer als die Vorstellungskraft selbst von Phantasten. Gorbatschow hat nicht ex cathedra den Marxismus-Leninismus verurteilt, aber er hat unfreiwillig dafür gesorgt, daß dieser zuerst von den Medien und dann von der Bevölkerung verurteilt wurde. Die Glasnost war das Säurebad, in dem sich die Partei, die Ideologie, schließlich die Sowjetunion auflösten. Als die vergreiste Führung der KPdSU 1978 den erst 47jährigen Gorbatschow als ZK-Sekretär nach Moskau holte, waren sich die Politbüromitglieder, zum Teil jedenfalls, ziemlich sicher, daß von einem derart jungen Mann keine ernstzunehmende Gefahr für die eigenen machtpolitischen Planspiele ausging. Überraschend schnell wuchs sich jedoch die bald alle Bereiche der Sowjetunion erfassende Krise zu gewaltigen Dimensionen aus. Das militärische Abenteuer in Afghanistan hinterließ in Moskau ein bisher nie gekanntes Gefühl der Demoralisierung. Die Situation wurde nicht zuletzt durch den schnell aufeinanderfolgenden Tod von drei Generalsekretären verschärft. Breshnew starb 1982, Andropow 1984 und Tschernenko 1985. Alle drei Parteiführer waren lange vor ihrem Ableben kaum noch annähernd arbeitsfähig. Da die Sowjetunion seit 1975 von kranken Parteiführern regiert worden war, die allesamt die Krise nicht aufhalten, geschweige denn beseitigen konnten, lief 1985 schließlich die Entscheidung auf den Jüngsten im Politbüro hinaus, auf Gorbatschow. Inzwischen war Gorbatschow lange genug in Moskau und im Zentrum der Macht, um sich die Zügelführung zuzutrauen, aber noch nicht lange genug, um vollkommen vom Parteiapparat verschluckt worden zu sein. Aufgewachsen im Dunstkreis der Partei, war ihm nicht bewußt, wie schlecht es tatsächlich um die Partei und das Land bestellt war. Die meisten Mitglieder des Politbüros waren selbst in so entscheidenden Fragen wie der der Wirtschaft im Zustand der Ignoranz gehalten worden. Als Gorbatschow 1983 von Generalsekretär Andropow Genaueres über den Haushalt und vor allem über das Militärbudget erfahren wollte, wurde ihm dies, weil er offensichtlich immer noch nicht die nötige Reife besaß, abgeschlagen.3 Es ist sicher keine dichterische Freiheit, wenn man hinzufügt, daß auch die geheimen Dossiers von Andropow nicht die volle Wahrheit enthielten, vielleicht nicht einmal die halbe. I m Politbüro trafen aus dem ganzen Land Meldungen und Bilanzen ein, wie
2
Demandt, Α.: Ungeschehene Geschichte, 2. verb. Aufl., Göttingen 1986, S. 46.
3
Gorbacev, M., in: Pravda, 10.12.1990.
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man sie sich an der Spitze wünschte oder wie man sie eben noch verkraften konnte. Das Finanssieren, Frisieren und Fälschen gehörte faktisch zum Handwerk des erfolgreichen Apparatschiks. Die einzelnen beschönigten Bilanzen auf der untersten Ebene summierten sich im Politbüro zu einer solchen Unklarheit, daß dort niemand eine Vorstellung vom Ausmaß der Probleme haben konnte, die das Land bedrängten. 1985 war Gorbatschow, was seine Analyse erschweren mußte, noch ein Leninist, wenn auch ein ausgesprochen lernfähiger. Was auch immer die Wahrnehmung Gorbatschows beeinträchtigte, mindestens fünf Problemkomplexe müssen ihn und seine Mannschaft beunruhigt haben: 1.
Die Räder der Wirtschaft drehten sich zu langsam. Die Produktion der Sowjetunion war meistens beklagenswert schlecht. Der Abstand der Sowjetunion zu den Industrienationen wurde größer, und die Unzufriedenheit der Bevölkerung über das geringe Konsumangebot wuchs.
2.
Es wurde immer spürbarer, daß sich einzelne Städte, ja sogar Republiken, auch Ministerien der Kontrolle durch die Partei entzogen hatten. Der Gosplan beispielsweise schaltete und waltete, wenn man Gorbatschows Worten glauben schenken will, nach Gutdünken.
3.
Die Wirkung der Ideologie ließ immer stärker nach. Allen Wiederbelebungsversuchen am Marxismus-Leninismus blieb der Erfolg versagt und die Bevölkerung verweigerte sich den Mobilisierungsappellen.
4.
Nach der Aufstellung der SS-20-Raketen und der Intervention in Afghanistan war die Außenpolitik Moskaus in eine tiefe Isolierung geraten.
5.
Das Imperium in Osteuropa von Polen bis Bulgarien driftete von Moskau fort, ohne daß man dies verhindern konnte. Die Entstehung der Solidarnosc in Polen war ein deutliches Alarmsignal der heraufkommenden Gefahren.
Es war das Ziel Gorbatschows, die Sowjetunion in einen allseits geachteten, modernen sozialistischen Staat umzugestalten. Er kannte eine Reihe von Defekten in seinem Land, aber er war sich ganz und gar nicht über die Wurzel der Übel im klaren. So konnte er nur experimentieren. Eine Therapie jedoch ohne eindeutige Diagnose mußte die Krankheit nur noch verschlimmern. Gorbatschow begann zwölf ökonomische Reformprogramme, von denen er kein einziges zu Ende führte. 4 Die ersten Maßnahmen konzentrierten sich auf die "Beschleunigung" und den Kampf gegen die Trunksucht, bewirkten außer einer Ernüchterung im Politbüro aber nichts.
4 Goldman, Marshall I.: Yeltsin's Reforms: Gorbachev II, in: Foreign Policy, 88, 1992, S. 76-90, hier S. 77.
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Nachdem sich Gorbatschow davon überzeugt hatte, daß er aus seinem eigenen Parteiapparat nicht mit den Informationen und Ratschlägen versorgt wurde, die er brauchte, wandte er sich über die Köpfe der Funktionäre an die Intelligenz und forderte diese auf, durch Aufklärungsarbeit Licht in das Dunkel der Mißwirtschaft, der Korruption und der Schlamperei zu bringen. Wissenschaftler, die außerhalb der Nomenklatura standen, konnten binnen kürzester Zeit zu hohem Ansehen gelangen. Gorbatschow hatte offensichtlich angenommen, die Glasnost würde sich in bestimmten Grenzen halten. Er mußte jedoch erleben, daß die Intelligenz mit wachsender Engagiertheit ein Tabu nach dem anderen brach. Die Intelligenz, die von Gorbatschow zunächst regelrecht zur Glasnost aufgefordert werden mußte, ließ ihren Patron sehr bald weit hinter sich. Gorbatschow machte zwar gute Miene zum bösen Spiel der Journalisten und Wissenschaftler, aber er verlor als Parteichef infolge der Glasnost immer mehr den Boden unter den Füßen. Die Wahlen zum Kongreß der Volksdeputierten vom März 1989 bewiesen, daß sich die Bevölkerung vor allem in den großen Städten und in einigen Teilrepubliken nicht mehr gängeln ließ. Auch wenn es in der RSFSR nur eine einzige Partei gab, die KPdSU, war das Wahlverhalten der Sowjetbürger beeindruckend. Für Gorbatschow mußte es ein Menetekel sein, daß nicht nur seine Favoriten in den Volkskongreß einziehen konnten, sondern auch Radikalreformer, die weit über seine Ziele hinausgingen. Die Glasnost erfaßte 1989 den parlamentarischen Raum. Von allen Seiten wurde die KPdSU wegen ihrer Versäumnisse, Vergehen und Verbrechen unter Beschüß genommen. Die Sitzungen im Volkskongreß, die vom Fernsehen ausgestrahlt wurden, haben das Ansehen der Kommunisten endgültig untergraben, da offenkundig wurde, daß die Altkommunisten, die wie "Volksfeinde" auf der Anklagebank saßen, auf alle Angriffe nur hilflos reagieren konnten. Die Schwäche der Sowjetunion war so evident, daß 1989 Polen, Ungarn, die D D R , die Tschechoslowakei und Bulgarien aus dem kommunistischen Herrschaftssystem ausbrachen. Im Februar 1990 verzichtete dann die KPdSU unter dem Druck der Verhältnisse auf das Machtmonopol, wie es in Art. 6 der Verfassung verankert war. Die Nationalitäten nutzten die neugewonnene Freiheit, alte Rechnungen mit Nachbarvölkern zu begleichen und sich Schritt für Schritt von Moskau zu lösen. Vergeblich glaubte Gorbatschow den Zerfall der Sowjetunion mit der Überzeugungskraft seiner Worte verhindern zu können. Selbst A . Tschernajew bestätigt, daß Gorbatschow die Sprengkraft der nationalen Bewegungen unterschätzte und Wunschbilder für Realitäten hielt. 5 Ende 1990 setzten
5 Tschernajew, Α.: Die letzten Jahre einer Weltmacht. Der Kreml von innen, Stuttgart 1993, S. 220 ff.
Von Gorbatschow zu Jelzin
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rechte Gruppierungen der KPdSU Gorbatschow mit der Forderung zu, den Unabhängigkeitsbestrebungen der Republiken und den politischen wie gesellschaftlichen Pluralismus notfalls mit Gewalt Einhalt zu gebieten. 1990/91 berief Gorbatschow eine Reihe reformfeindlicher Politiker wie B. Pugo, G. Janajew und W. Pawlow auf zentrale Posten, entweder um diese Kräfte in die Verantwortung einzubinden oder aber um seine Machtbasis auszuweiten. Die sowjetischen Streitkräfte versuchten Anfang 1991 in Litauen und Lettland die Unabhängigkeitsbestrebungen blutig zu unterdrücken, wurden aber wegen des offenen Widerstandes und des negativen Echos im Ausland zurückgezogen. Gorbatschow mußte sich mit der Idee der Dezentralisierung der Union anfreunden. U m den neuen Unionsvertrag zu verhindern, in dem das Zentrum eine relativ schwache Stellung einnehmen sollte, entschied sich eine Gruppe um W. Krjutschkow, D. Jasow, B. Pugo, G. Janajew und W. Pawlow am 19. August 1991 zu einem Putsch, der genau so kläglich zusammenbrach, wie er geplant war. Die Niederlage der Kommunisten war so total, daß kaum jemand zur Verteidigung auftrat, als man die KPdSU verbot. Jelzin wurde die beherrschende Figur auf der russischen Bühne. 6 Er konnte es sich leisten, Gorbatschow vor laufenden Fernsehkameras zu demütigen. Ein neues Kapitel begann. Ende 1991 war die Zeit der Sowjetunion und auch die Gorbatschows zu Ende. Jelzin war Ende 1985 wegen seines Rigorismus und seiner zupackenden Art an die Spitze der Moskauer Parteiorganisation berufen worden 7 , wo er gnadenlos mit der alten Nomenklatura umsprang und sich durch seine Visiten in Geschäften und Betrieben einen persönlichen Eindruck von den Alltagsnöten der Moskauer verschaffte, was ihn in der Bevölkerung populär und in der Nomenklatura verhaßt machte. Bereits 1987 wurde er von Funktionären der KPdSU mit Gorbatschows Billigung zur Abdankung gezwungen. Immerhin bot Gorbatschow Jelzin bald das A m t eines Vorsitzenden der Staatlichen Baubehörde an, wobei er allerdings vorsorglich hinzufügte: "Aber denk daran, in die Politik laß ich dich nicht rein." 8 Jelzin dürfte weniger vom Marxismus-Leninismus geprägt worden sein als Gorbatschow, auch wenn er einmal gesagt hat, er liebe nur zwei Menschen, Lenin und seine Frau. Die Verdrängung aus dem innersten Kreis der Macht hat seine Abkehr vom Leninismus sicher beschleunigt. Ein paar Tage in den USA genügten, um aus ihm einen Vertreter der Marktwirtschaft zu machen. Mit derselben Schnelligkeit verzichtete er bald auf seine antikirchlichen Spitzen und fand sich plötzlich mit einer Kerze in der Hand in Gottesdiensten 6
Zum Biographischen: Solov'ev, V . /Klepikova, E.: Boris El'cin, Moskau 1992.
7
Jelzin, B.: Aufzeichnungen eines Unbequemen, München 1990, S. 130ff.
8
Jelzin, a. a. Ο., S. 229.
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ein. Jelzin erkannte erheblich früher als Gorbatschow, daß man die KPdSU nicht reformieren, sondern nur abwracken konnte. 9 Er hatte vor allem in Moskau erfahren, wie sehr sich die hohen Würdenträger, aber auch die Funktionäre auf mittlerer und unterer Ebene gegen alle weitreichenden Veränderungen zur Wehr setzten. Zugleich war ihm erheblich früher als Gorbatschow bewußt geworden, daß die So\*jetunion in der alten zentralistischen Form nicht aufrechtzuerhalten war. 1989 kehrte er bravourös in die Politik zurück, als er mit fast 90 % der Stimmen in den Kongreß der Volksdeputierten entsandt wurde. Der Rückenwind, den ihm sein Kampf gegen kommunistische Bürokratie einbrachte, überzeugte ihn vom Nutzen der Demokratie, konnte ihn allerdings nicht auch zu einem erfahrenen und tadellosen Demokraten in allen Situationen machen. 1990 trat er demonstrativ aus der KPdSU aus, was ihm in der Bevölkerung neues Prestige einbrachte. I m Juni 1991 wurde er in freien Wahlen zum Präsidenten der RSFSR gewählt. Als er im August 1991 den Putschisten massiv Widerstand leistete, bewies er seine Entschlossenheit und Kaltblütigkeit. In dem Augenblick, in dem er auf einem Panzer eine Ansprache an seine Anhänger vor dem Weißen Haus hielt, wurde er zur Symbolgestalt der neuen Zeit, zu einem Anti-Lenin. Nach dem August 1991 fühlte sich Jelzin so stark, daß er die Unabhängigkeit der baltischen Staaten anerkennen und hinter dem Rücken Gorbatschows die Auflösung der Sowjetunion betreiben konnte. A m Ende des Jahres 1991 wurde die rote Fahne auf dem Regierungsgebäude im Kreml eingeholt. Die Sowjetunion hörte auf zu bestehen. I m Fernsehen sagte Jelzin über sein letztes Treffen mit Gorbatschow: Als wir Abschied voneinander nahmen, hat er mir sein Wort gegeben, daß er sich nicht mehr mit Politik beschäftigen wird, und ich hoffe, ich kann seinem Wort trauen. 10 Rußland umfaßt drei Viertel des Gebietes der früheren Sowjetunion. Die Amputationen des alten Imperiums waren und sind für die meisten Russen bis zum heutigen Tag schmerzhaft. Darüber hinaus mußte Rußland alle die Probleme lösen, die schon die sowjetische Führung unter Gorbatschow nicht hatte lösen können: - Es mußte ein parlamentarisch-demokratisches System schaffen, wozu es einer neuen Verfassung und vitaler Parteien bedurfte. - Es mußte einen geeigneten Weg der Marktwirtschaft finden.
9 Zur Rivalität der beiden Protagonisten im politischen Leben der Sowjetunion: Gorbacev — El'cin: 1.500 dnej politiceskogo protivostojanija, Moskau 1992. 1 0
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.12.1993.
Von Gorbatschow zu Jelzin
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- Es mußte seine Beziehungen zu den ehemaligen Republiken der Sowjetunion, die nun selbständige Staaten waren, klären. - Es mußte mit den Nationalitäten auf dem Boden seines Staates einen Modus vivendi finden. - Schließlich mußte es die Verwüstungen, die der Marxismus-Leninismus in den Köpfen und Seelen der Menschen angerichtet hatte, überwinden. Jelzin stand also vor der Aufgabe, gleich mehrere Wunder zur gleichen Zeit vollbringen zu müssen. Sein Reformkurs wurde jedoch durch das übernommene System, durch die trotz vieler Veränderungen antiquierte Verfassung und schließlich den Volkskongreß behindert, der 1990 gewählt worden war, als die Kommunisten noch die dominierende Kraft waren. Dem vielfachen Widerstand der alten Nomenklatura hatten Jelzin und seine Reformmannschaft wenig entgegenzusetzen. Das Demokratische Rußland, das Jelzin 1990 an die Macht gebracht hatte, war 1992 in sich uneins und war keine große Hilfe mehr. 1 1 Nachdem A . Ruzkojs Pläne, Ministerpräsident zu werden, gescheitert waren, fiel er Jelzin in den Rücken und nannte die jungen Reformer und J. Gaidar "Knaben in rosa Höschen, roten Hemden und gelben Schuhen". 12 Er verkündete zur Freude der Verteidigungsindustrie und der Militärs seine Vorstellung von "Großrußland". Symptomatisch für die Lage war, daß es zwar viele Parteien in Rußland gab, jedoch keine schlagkräftigen demokratischen Organisationen, die den Reformen die nötige Unterstützung hätte geben können. Vor dem Augustputsch von 1991 waren die "Kommunisten Rußlands" noch die stärkste Fraktion im Volkskongreß gewesen, nach dem gescheiterten Coup verteilten sie sich auf die verschiedensten Fraktionen, deren Stärke und Profil sich ständig änderten. Nur ganz geringen Anteil am parlamentarischen Geschehen hatten die neugegründeten Parteien, zu denen sich Ende 1992 nur 5,3 % der Deputierten des Volkskongresses bekannten. 13 Kernpunkt der Auseinandersetzungen auf dem 6. Volkskongreß (April 1992) war die Personalunion der beiden Ämter, die Jelzin innehatte, das Amt des Präsidenten und das des Regierungschefs. Jelzin mußte sich verpflichten, binnen drei Monaten einen Ministeripräsidenten zu ernennen. Entnervt durch das ständige Gezerre im Volkskongreß, ließ er sich dazu hinreißen, diesen "eine große Schwatzbude" zu nennen.
1 1 Rahr, Α.: The First Year of Russian Indépendance, in: R F E / R L Research Report, 1.1.1993, S. 54. 1 2
a. a. O., S. 54.
1 3
Schneider, E., in: "Aufbruch im Osten Europas", München-Wien 1993, S. 111.
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Ärgster Gegenspieler des Präsidenten war R. Chasbulatow, der Vorsitzende des russischen Obersten Sowjet, der das A m t einnahm, von dem aus Jelzin vom Mai 1990 bis Juni 1991 faktisch das Land regiert hatte. Man stritt um die Frage, wo sich das Zentrum der Macht befinden sollte, im Volkskongreß oder im Präsidialamt. Chasbulatow wehrte sich dagegen, daß der Volkskongreß auf rein legislative Funktionen zurückgedrängt wurde. Jelzin steuerte offen auf eine Präsidialdemokratie zu. Durch das "Gleichgewicht der Schwäche" im Volkskongreß gingen wertvolle Monate für den Reformprozeß verloren. A u f dem 8. Außerordentlichen Volkskongreß (März 1993) büßte Jelzin einen Teil seiner Macht ein. Er erzwang jedoch ein Referendum für April 1993, in dem ihm fast 59 % der Wähler das Vertrauen bekundeten, 53 % seine Wirtschaftspolitik guthießen, das aber keine Mehrheit für Neuwahlen brachte. Inzwischen ging es mit der Wirtschaft weiter bergab. Die undurchdachten Reformen führten zu einem Preisschock mit verheerenden Folgen, die Inflation nahm besorgniserregende Formen an. A m 1. September 1993 enthob Jelzin vorübergehend Ruzkoj, seinen Stellvertreter, wegen einer ungeklärten Korruptionsaffäre seines Amtes. A m 21. September erklärte er den Volkskongreß sowie den Obersten Sowjet für aufgelöst, und setzte für Dezember Neuwahlen an. Jelzin war sich bewußt, daß er die Verfassung verletzte, aber er sah keine andere Wahl, da der Volkskongreß seinerseits beliebig die Gesetze verletzte. Daraufhin setzte der Oberste Sowjet Jelzin ab und wählte Ruzkoj zum neuen Präsidenten. Damit war es wie schon so oft in Rußland zu einer offenen Doppelherrschaft gekommen. Jelzin verkündete den Ausnahmezustand und ließ das Weiße Haus, in dem sich Chasbulatow und Ruzkoj mit ihren Anhängern verschanzt hatten, erstürmen. Der zweite Putsch seit 1989 war gescheitert. Die ersten freien Wahlen seit 1917, die am 12. Dezember 1993 stattfanden, brachten dem Präsidenten und den Reformern jedoch nicht die erhoffte Unterstützung. Die Duma ist kaum reformfreundlicher als der unter großem Risiko aufgelöste Oberste Sowjet. Viele der Duma-Abgeordneten, die ein Direktmandat gewonnen hatten, konnten sich nicht einmal auf 30 % der abgegebenen Stimmen stützen. Offensichtlich war Präsident Jelzin nicht auf das Wahlergebnis vorbereitet. Die Stärke der "Liberal-demokratischen Partei Rußlands", die von W. Schirinowskij geführt wird, aber auch das gute Abschneiden der Kommunistischen Partei, der Agrarpartei und der "Bewegung Trauen Rußlands'" zeugten nicht von einem hoffnungsvollen Neuanfang. Schirinowskij ist trotz seiner bedenkenlosen Redelust vielleicht nicht einmal die größte Gefahr, sondern nur das auffälligste Symptom der russischen Krankheit. Er könnte sich durch seine Donquichotterien bald weitgehend unglaubwürdig gemacht
Von Gorbatschow zu Jelzin
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haben. Schlimmer ist das Wählerpotential, das durch das Fehlschlagen der Reformen so aufgebracht ist, daß es Demagogen seine Stimme gibt. Rußland bleibt auf mittlere oder sogar auf lange Sicht ein vulkanischer Boden. Es war sicher keine gute Idee, "Waräger" vom Schlag G. Sachs nach Moskau zu holen und nur eine monetaristische und antiinflationistische Politik zu betreiben. Wenn jedoch nach dem Ausscheiden von J. Gaidar und B. Fjodorow aus der Regierung die Planung der Wirtschaft wieder den Vorzug erhält, sind die Chancen einer ökonomischen Belebung doch eher düster. Es hat den Anschein, daß der militärisch-industrielle Komplex seit dem mißlungenen Putsch vom Oktober 1993 wieder Oberwasser bekommen hat. Auch die Kollektivbauernschaft, gelenkt von der alten Nomenklatur, erwartet mehr Hilfe vom Staat. Schließlich kann auch die aus kommunistischer Zeit stammende, viele Millionen Menschen umfassende Bürokratie die Entwicklung zur Marktwirtschaft und Demokratie auf schwerste behindern. Da auch Recht und Gesetz in Rußland nicht hinreichend respektiert werden — nicht einmal von Jelzin —, gibt es keine Leitplanken, die größere Unfälle auffangen könnten. Vielfach ist auch das Recht noch längst nicht den neuen Gegebenheiten angepaßt. Daß die Duma mit 253 zu 67 Stimmen beschloß, die Putschisten von August 1991 und Oktober 1993 wieder auf freien Fuß zu setzen, spricht eigentlich der Rechtsstaatlichkeit Hohn. Infolge seiner Nuklearwaffen und seiner Armeestärke ist Rußland dazu verurteilt, eine Großmacht zu sein. Es sieht es als sein Anliegen an, die 25 Millionen Russen, die außerhalb seiner Grenzen leben, zu schützen. Die Kosyrew-Doktrin, die die Vormachtstellung Rußlands in den früheren Sowjetrepubliken beansprucht, kann sehr schnell mißbraucht werden. Ende Februar hat Jelzin in seiner Botschaft zur Lage der Nation die Rückkehr zum starken Staat verkündet. Er warnte vor einer Erweiterung der Nato und der Diskriminierung von Russen im Ausland. Vor allem aber gibt es nach mehr als sieben Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft keinen fest verwurzelten demokratischen Grundkonsens in Rußland. I n Krisenzeiten können rasch alle demokratischen Institutionen weggeschwemmt werden. Zwar kann man mit St. Lee sagen "Was hinkt — geht", aber man darf nicht vergessen, daß ein Koloß, wenn er fällt, auch andere zu Boden reißt. Wir wissen nicht, ob Jelzin ein russischer Atatürk wird. Er hatte im Westen nie so viele Sympathisanten wie vor ihm Gorbatschow. Heute steht Gorbatschow nicht mehr auf der Liste der Politiker, die große Popularitätswerte erreichen. Vielleicht übersteigt die Aufgabe, die vor Jelzin steht, seine Kraft. Er hat wie Gorbatschow geglaubt, das Drehbuch seines Landes zu schreiben. Beide mußten oder müssen erkennen, daß sie Personen in einem Film sind, dessen Drehbuch von anderen geschrieben wird und das von Tag zu Tag geändert wird.
2 Rußland / Ukraine
RUSSLAND ZWISCHEN DIKTATUR UND DEMOKRATIE Von Georg Brunner
I. Demokratie auf den ersten Blick? Rußland hat seit dem 12. Juni 1991 einen volksgewählten Staatspräsidenten, verfügt seit dem 12. Dezember 1993 über ein demokratisch gewähltes Parlament und über eine durch Volksentscheid verabschiedete Verfassung, und im ganzen Lande fanden zwischen Dezember 1993 und März 1994 Regionalwahlen und zwischen Dezember 1993 und Juni 1994 Kommunalwahlen statt. I n Anbetracht dieser geballten demokratischen Legitimation russischer Staatsgewalt droht etwa die deutsche Demokratie zu verblassen, wo es zwar seit geraumer Zeit demokratisch gewählte Volksvertretungen auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene gibt, aber die Direktwahl des Bundespräsidenten von einigen politischen Kreisen ebenso vergeblich gefordert wird wie ein Volksentscheid über ein neues oder geändertes Grundgesetz als verfassungsrechtliche Krönung der Wiedervereinigung. Was will man also mehr, um die politische Transformation Rußlands von einer totalitären Diktatur zu einer pluralistischen Demokratie als vollzogen zu betrachten? Einige Wünsche könnte man in der Tat anmelden.
1. Die Legalität der Transformation Man könnte es als wünschenswert betrachten, daß sich die demokratische Systemwende in verfassungsmäßigen Bahnen vollzogen hätte. Dies war jedoch zweifellos nicht der Fall. Grundlagen der Systemwende war eine Serie einseitiger, autoritärer Präsidialerlasse, allen voran der Erlaß Nr. 1400 vom 21. September 1993 "über die schrittweise Verfassungsreform in der Rußländischen Förderation", 1 1 Sobranie Aktov Prezidenta i Pravitel'stva Rossijskoj Federacii (fortan: SAPP RF) 1993, Nr. 39. Art. 3597 = Rossijskaja gazeta (fortan: R. g.) v. 23.9.1993.
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durch den unter anderem - die Geltung der am 12. April 1978 im Geiste des Breznevschen Totalitarismus geschaffene und seither durch zahlreiche autoritär-demokratische Reformen geänderte Verfassung weitgehend ausgesetzt, - die Tätigkeit des amtierenden Parlaments, des im März 1990 allenfalls halbdemokratisch gewählten Kongresses der Volksdeputierten und des von diesem bestellten Obersten Sowjets suspendiert, - dem im Oktober 1991 vom Kongreß der Volksdeputierten bestellten Verfassungsgericht jede Tätigkeit vorübergehend untersagt, - die Staatsgewalt vorerst durch die Exekutive, d. h. den im Juni 1991 vom Volk demokratisch gewählten Staatspräsidenten und die von diesem im Zusammenwirken mit dem Parlament eingesetzte Regierung, übernommen, - für die Übergangszeit ein als Ordnung über die Bundesorgane der Macht in der Übergangsperiode" 2 bezeichnetes provisorisches Organisationsstatut in Kraft gesetzt, - für den 11./12. Dezember 1993 Wahlen zu der Staatsduma als der ersten Kammer der neuen Bundesversammlung ausgeschrieben und - den mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung beschäftigten Gremien die Vorlage eines abgestimmten Verfassungsentwurfs bis zum 12. Dezember 1993 aufgegeben wurde(n). Die hiermit bestimmten grundsätzlichen Vorgaben für den demokratischen Übergang wurden in der Folgezeit durch weitere Präsidialerlasse präzisiert und modifiziert. I m einzelnen erfolgte die Konstitutierung der neuen Verfassungsordnung und ihrer Institutionen nach folgenden Anordnungen: 3 Durch Erlaß Nr. 1633 vom 15. Oktober 19934 wurde zum 12. Dezember 1993 ein Volksentscheid über einen vom Staatspräsidenten vorgelegten Verfassungsentwurf angesetzt. Der Volksentscheid sollte wirksam sein, wenn mehr als die Hälfte der registrierten Wahlberechtigten an der Volksabstimmung teilnehmen, und die Verfassung sollte angenommen
a)
2
SAPP R F 1993, Nr. 39, Art. 3597 = R. g. v. 6.10.1993.
3
Eine nützliche Beschreibung des Vorgangs bietet die Darstellung von S. Avak'jan, Vybory 1993'94 ν Rossijskoj Federacii: pravila i procedury, Moskau 1993. 4 Erlaß Nr. 1633 v. 15.10.1993 "über die Durchführung einer landesweiten Volksabstimmung über den Verfassungsentwurf der Rußländischen Föderation" mit beigefügter "Ordnung über die Durchführung einer landesweiten Volksabstimmung über den Verfassungsentwurf der Rußländischen Föderation am 12. Dezember 1993H (SAPP R F 1993, Nr. 42, Art. 3995 = R. g. v. 19.10.1993).
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sein, wenn mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen für die Verfassung abgegeben werden. b)
Ebenfalls am 12. Dezember 1993 sollten Wahlen zu den beiden Kammern der neuen Bundesversammlung stattfinden, wobei das Wahlrecht durch Präsidialerlasse bestimmt wurde. Die Wahlordnung für die Staatsduma vom 1. Oktober 19935 sah eine Kombination von Mehrheitsund Verhältniswahl nach dem Grabensystem vor: Je die Hälfte der insgesamt 450 Abgeordneten war in Einerwahlkreisen nach der relativen Mehrheitswahl bzw. auf gesamtstaatlicher Ebene nach Bundeslisten nach dem einfachen Wahlzahlverfahren Hare und mit Zuteilung der Restmandate nach der Methode des größten Überrestes zu wählen, wobei für die Berücksichtigung der Listen bei der Mandatsverteilung die 5-%-Sperrklausel galt. Wahlvorschläge konnten von beim Justizministerium registrierten Bundesorganisationen politischer Parteien und Bewegungen sowie deren Wahlbündnissen eingereicht werden; Direktkandidaten in den Einerwahlkreisen konnten auch von mindestens 1 % der Wahlberechtigten des jeweiligen Wahlkreises aufgestellt werden. In Abweichung von der in Art. 95 Abs. 2 des Verfassungsentwurfs vorgesehenen Regelung sollten die je zwei Vertreter der insgesamt 89 Föderationssubjekte im Föderationsrat das erste Mal nicht von der gesetzgebenden bzw. vollziehenden Gewalt des jeweiligen Föderationssubjekts bestellt, sondern von dessen Bevölkerung direkt gewählt werden. Z u diesem Zweck gewährte die Wahlordnung für den Föderationsrat vom 11. Oktober 19936 jedem Wähler zwei Stimmen. Gewählt waren die beiden Bewerber mit den meisten Stimmen. Die Nominierungsberechtigung war in gleicher Weise geregelt wie bei den Wahlen zur Staatsduma, doch wurde das Unterschriftenquorum für unabhängige Kandidaten im Hinblick auf die teilweise wesentlich größeren Wahlkreise bei 2,5-4 Millionen Wahlberechtigten auf 25.000 und bei über 4 Millionen Wahlberechtigten auf 35.000 herabgesetzt. I n allen Fällen war für die Gültigkeit der Wahl eine Mindestbeteiligung von 25 % der Wahlberechtigten des jeweiligen Wahlkreises vorgeschrieben. U m den außerordentlichen Umständen Rechnung zu tragen, unter denen die erste Bundesversammlung gewählt worden ist, hat die neue Verfassung in Ziff. 7 ihrer Schluß- und
^ "Ordnung über die Wahlen der Abgeordneten der Staatsduma im Jahre 1993", bestätigt durch Erlaß Nr. 1557 v. 1.10.1993 (SAPP RF1993, Nr. 41, Art. 3907 = R. g. v. 8.10.1993), geändert durch Erlaß Nr. 1846 v. 6.11.1993 (SAPP R F 1993, Nr. 45, Art. 4333 = R. g. v. 11.11.1993). 6 "Ordnung über die Wahlen zum Föderationsrat der Bundesversammlung der Rußländischen Föderation", bestätigt durch Erlaß Nr. 1626 v. 11.10.1993 (SAPP R F 1993, Nr. 42, Art. 3994 = R. g. v. 19.10.1993), geändert durch Erlaß Nr. 1846 v. 6.11.1993 (SAPP R F 1993, Nr. 45, Art. 4333 = R. g. v. 11.11.1993).
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Übergangsbestimmungen die Legislaturperiode beider Kammern auf zwei Jahre verkürzt. 7 c)
Die Exekutive ist durch die Systemwende in ihrem Bestand nicht angetastet worden. Obwohl Staatspräsident EPcin ursprünglich für den Juni 1994 Präsidentschaftswahlen in Aussicht gestellt hatte, ist in den Schlußund Übergangsbestimmungen der neuen Verfassung schließlich die Regelung getroffen worden, daß der Staatspräsident für die Dauer, für die er gewählt worden ist, d. h. bis zum Juni 1996 im A m t bleibt (Ziff. 3). Desgleichen sollte der bestehende Ministerrat als die Regierung nach neuem Recht weiter amtieren (Ziff. 4), so daß Verfassunggebung und Parlamentswahlen eine neue Regierungsbildung nicht erforderlich gemacht haben.
d) A u f der regionalen Ebene der 89 Föderationssubjekte wurden die Gebietskörperschaften mit Ausnahme der Republiken (also: sechs Gaue, 49 Gebiete, zwei Bundesstädte, ein autonomes Gebiet, zehn autonome Kreise) angewiesen, in der Zeit zwischen Dezember 1993 und März 1994 nach gewissen Richtlinien eigenständig Wahlen zu ihren Volksvertretungen für eine Periode von zwei Jahren durchzuführen, 8 nachdem EPcin den regionalen Sowjets, die die Opposition unterstützt hatten, bereits am 6. Oktober die Selbstauflösung empfohlen und drei Tage später den noch verbliebenen Sowjets die gesetzlich übertragenen Aufgaben entzogen und sie somit praktisch entmachtet hatte. 9 Durch Präsidialanordnung wurde nur der Stadtsowjet von Moskau aufgelöst, und hier bestimmte EPcin selbst, daß die Wahlen zu den beiden regionalen Volksvertretungen der Stadt und des Gebiets Moskau nach einer von ihm erlassenen Wahlordnung am 12. Dezember 1993 stattzufinden hatten. 1 0 Die Parlamente der 21 Republiken blieben verschont, doch wurde ihnen
7 A n sich beträgt die Legislaturperiode der Staatsduma vier Jahre (Art. 96 Abs. 1 Verfassung), während der Föderationsrat ein ständiges Organ ist. 8 Erlaß Nr. 1723 v. 22.10.1993 "über die Grundlagen der Organisation der Staatsgewalt in den Subjekten der Rußländischen Föderation" mit beigefügter "Ordnung über die Grundlagen der Organisation und Tätigkeit der Organe der Staatsmacht der Gaue, der Gebiete, der Städte von bundesweiter Bedeutung, des autonomen Gebiets und der autonomen Kreise der Rußländischen Föderation in der Periode der schrittweisen Verfassungsreform" (SAPP R F 1993, Nr. 43, Art. 4089 = R. g. v. 26.10.1993); "Grundsätze für die Wahlen zu den Vertretungsorganen der Staatsmacht der Gaue, der Gebiete, der Städte von bundesweiter Bedeutung, des autonomen Gebiets und der autonomen Kreise", bestätigt durch Erlaß Nr. 1765 v. 27.10.1993 (SAPP 1993, Nr. 44, Art. 4189 = R. g. v. 30.10.1993). 9 Erlaß Nr. 1617 v. 9.10.1993 "über die Reform der Vertretungsorgane der Macht und der Organe der örtlichen Selbstverwaltung in der Rußländischen Föderation" (SAPP R F 1993, Nr. 41, Art. 3924 = R. g. v. 12.10.1993).
^"Ordnung über die Wahlen zur Moskauer Stadtduma am 12. Dezember 1993" und "Ordnung über die Wahlen zur Moskauer Gebietsduma am 12. Dezember 1993", beide bestätigt durch Erlaß Nr. 1738 v. 24.10.1993 (SAPP R F 1993, Nr. 44, Art. 4187 = R. g. v. 28.10.1993).
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nahegelegt, nach dem Vorbild der übrigen Föderationssubjekte zu verfahren und im gleichen Zeitraum Neuwahlen abzuhalten. 11 e)
Demgegenüber wurden auf der kommunalen Ebene alle Volksvertretungen durch Präsidialerlaß aufgelöst, und zwar auf der unteren Stufe (Dörfer, Siedlungen, kreisangehörige Städte, Stadtbezirke) am 9. Oktober 1 2 und auf der höheren Stufe (Stadt- und Landkreise) am 26. Oktober. 1 3 Hier waren dann in der Zeit zwischen Dezember 1993 und Juni 1994 nach vorgegebenen Rahmenregelungen Neuwahlen durchzuführen. 1 4
Staatspräsident EPcin berief sich zur Rechtfertigung all dieser Maßnahmen auf einige unmaßgebliche Verfassungsbestimmungen und die Ergebnisse des Referendums vom 25. April 1993, in dem das russische Volk ihm das Vertrauen ausgesprochen und sich mit großer Mehrheit für vorzeitige Parlamentswahlen und mit kleiner Mehrheit für vorzeitige Präsidentschaftswahlen ausgesprochen hatte. 1 5 Tatsächlich hatten sie in der damals geltenden Verfassung 16 keinerlei Grundlage. Die Verfassunggebung war ausschließlich dem Kongreß der Volksdeputierten vorbehalten (Art. 104 Abs. 3 Nr. 1), und auch wenn man mit guten Gründen die Zulässigkeit eines Verfassungsreferendums bejahen konnte, so wäre für seine Ausschreibung nur der Oberste Sowjet zuständig gewesen, und zwar auf Beschluß des Kongresses, auf Begehren von einer Million Staatsbürger oder auf Antrag von einem Drittel aller Volksdeputierten (Art. 109 Abs. 1 Nr. 25). Die Auflösung oder Suspendierung aller gewählten Staatsorgane im allgemeinen (Art. 121 6 ) und des Parlaments im besonderen (Art. 1215 Nr. 11 Abs. 3) war dem Staatspräsidenten ausdrücklich untersagt. Deshalb wird man formaljuristisch das Verfassungsgericht auch nicht tadeln können, das noch am Abend des 21. September 1993 unter etwas zwielichtigen Begleitumständen zusammentrat, den Präsidialerlaß Nr. 1400 für verfassungswidrig erklärte und damit die Voraussetzungen für die Einleitung eines Verfahrens der Präsidentenankla-
1 1
Erlaß Nr. 1723 v. 22.10.1993 (Anm. 8).
1 2
Erlaß Nr. 1617 v. 9.10.1993 (Anm. 9).
1 3
Erlaß Nr. 1760 v. 26.10.1993 "über die Reform der örtlichen Selbstverwaltung in der Rußländischen Föderation" (SAPP R F 1993, Nr. 44, Art. 4188 = R. g. v. 29.10.1993). 1 4 "Grundsätze für die Wahlen zu den Organen der örtlichen Selbstverwaltung", bestätigt durch Erlaß Nr. 1797 v. 29.10.1993 (SAPP R F 1993, Nr. 44, Art. 4197 = R. g. v. 3.11.1993). 1 5 Zum Referendum vgl. u. a. Tölz, V./Wishnevsky, J.: Russia after the Referendum, R F E / R L Research Report Nr. 19/1993, S. 1 ff.; Corning, Α.: The Russian Referendum: A n Analysis of Exit Poll Results, R F E / R L Research Report Nr. 19/1993, S. 6 ff.; Slater, W.: No Victors in the Russian Referendum, R F E / R L Research Report Nr. 21/1993, S. 10 ff. 1 6 Die russische Verfassung v. 12.4.1978 wurde fortlaufend, zuletzt am 9.12.1992 geändert. Zur Entwicklung in ihrem Endstadium vgl. Luchterhandt, O.: Die Einführung des Präsidialsystems in der UdSSR und in Rußland, Jahrbuch für Politik 2/1992, S. 273 ff. (303 ff.).
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ge schuf. 17 Dazu kam es dann bekanntlich nicht, da der Kongreß unter der Führung von Chasbulatov den inkriminierten Präsidialerlaß von sich aus für einen Staatsstreich zum Anlaß nahm, der wiederum von Präsident EPcin am 3./4. Oktober mit Waffengewalt niedergeschlagen wurde. Nunmehr beschuldigte EPcin das Verfassungsgericht der Unterstützung verfassungswidriger Gewaltakte, erklärte dessen Entscheidungen wegen unvollständiger Besetzung für unwirksam und verfügte die Einstellung aller verfassungsgerichtlicher Aktivitäten bis zur Verabschiedung einer neuen Verfassung. 18 Trotz all dieser rechtlichen Überlegungen wird man die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der durch Präsidialerlasse herbeigeführten Systemwende aus folgenden Gründen als sinnlos abtun müssen: Der Übergang von einem politischen System zu einem anderen ist — zumindest im juristischen Sinne — ein revolutionärer Vorgang, der in der Verfassung nicht vorgesehen ist. Erst recht gilt dies für einen Übergang von der Diktatur zur Demokratie. Die russische Verfassung von 1978 war in ihrer ursprünglichen Form die Verfassung einer totalitären kommunistischen Einparteidiktatur, die schon in der Gorbacev-Ära durch zahlreiche inkonsistente Reformen zu einem ungenießbaren Normenbrei autoritärer und demokratischer Elemente verformt worden war. Nach dem Scheitern des reaktionären August-Putsches und der Auflösung der Sowjetunion Ende 1991 wurde die Chance zu einer demokratischen Erneuerung der Verfassung verpaßt. Statt dessen verschärfte sich der Machtkampf zwischen dem reformorientierten Präsidenten und dem reformfeindlichen Parlament in einem Maße, daß eine geordnete Staatsführung gar nicht mehr stattfinden konnte. A n einen demokratischen Durchbruch in verfasungsgemäß vorgegebenen Bahnen war unter diesen Umständen nicht zu denken. Er mußte auf extrakonstitutionellem Wege herbeigeführt werden, sollte das russische Volk überhaupt die Gelegenheit erhalten, über sein künftiges Schicksal selbst zu entscheiden.
2. Die Legitimität der Transformation Hat somit die Legitimität Vorrang vor der Legalität, so müßte man sich wünschen, daß die neue Verfassungsordnung die Zustimmung der überwältigenden Mehrheit des russischen Volkes genießt. Zweifel sind leider auch in dieser Hinsicht angebracht. Wie bereits erwähnt, waren für die Annahme der Verfassung eine Abstimmungsbeteiligung von über 50 % und die absolute Mehrheit der abgege1 7 1 8
Gutachten des Verfassungsgerichts v. 21.9.1993 (R. g. v. 23.9.1993).
Erlaß Nr. 1612 v. 7.10.1993 "über das Verfassungsgericht der Rußländischen Föderation" (SAPP R F 1993, Nr. 41, Art. 3921 = R. g. v. 9.10.1993).
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benen Stimmen erforderlich. 19 M i t dieser Regelung senkte EP ein das qualifizierte Mehrheitserfordernis unter das gesetzlich vorgeschriebene Maß, das bei Verfassungsreferenden an sich die absolute Mehrheit aller registrierten Stimmberechtigten betrug. 2 0 Wie sich herausstellen sollte, war dies auch ratsam, da sein Verfassungsentwurf ansonsten am 12. Dezember 1993 nicht die erforderliche Mehrheit erzielt hätte. Das endgültige Abstimmungsergebnis wurde von der Zentralen Wahlkommission in der Tagespresse mit einer Verspätung von fast zwei Wochen nach der Volksabstimmung mit bemerkenswerten Lücken 2 1 und vollständig erst im Februar 1994 in einem für den Normalbürger unzugänglichen Mitteilungsblatt 22 veröffentlicht. Das offizielle Ergebnis lautete: registrierte Abstimmungsberechtigte: ausgegebene Stimmzettel: abgegebene Stimmzettel: ungültige Stimmen: gültige Stimmen: für die Verfassung: gegen die Verfassimg: Abstimmungsbeteiligung: Anteil der Ja-Stimmen:
106.170.835 58.187.755 57.726.872 1.357.909 56.368.963 32.937.630 23.431.333 54,8% 58,43 %
Auffallend an diesem Ergebnis ist folgendes: 1.
U m einen optisch günstigeren Eindruck zu erwecken, wurde die Abstimmungsbeteiligung unter Bezugnahme auf die ausgegebenen Stimmzettel und nicht auf die abgegebenen Stimmzettel bezogen. A u f diese Weise kam man anstelle von 54,37 % auf einen Anteil von 54,81 %.
2.
Die Zahl der Abstimmungsberechtigten wurde in der Tagespresse nicht bekanntgegeben und lag mit 106.170.835 überraschend niedrig, da acht Monate zuvor, bei der Volksabstimmung vom 25. April 1993 107.310.374 Stimmbürger registriert worden waren. 2 3 Wohin in der Zwischenzeit 1,14 Millionen Stimmbürger verschwunden sind, läßt sich nicht aufklären. Die erforderliche Abstimmungsbeteiligung wäre zwar auch bei Zugrundelegung der Zahl vom April 1993 erreicht worden, hätte aber — bei korrekter Bezugnahme auf die abgegebenen Stimmen — nur 53,79 % betragen.
1 9
Erlaß Nr. 1633 v. 15.10.1993 (Anm. 4).
2 0
Art. 35 Abs. 4 Gesetz über das Referendum der RSFSR v. 16.10.1990 (Vedomosti SHezda narodnych deputatov i Verchovnogo Soveta RSFSR [fortan: V S N D i V S RSFSR] 1990, Nr. 21, Art. 230). 2 1 R. g. v. 25.12.1993. Zur ersten Analyse vgl. Slater, W.: Russia's Plebiscite on a New Constitution, R F E / R L Research Report Nr. 3/1994, S. 1 ff. 2 2
Bjulleten' Central'noj Izbiratel'noj Komissii Rossijskoj Federacii Nr. 1/1994, S. 34 ff.
2 3
R. g. v. 6.5.1993.
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Der prozentuale Anteil der für die Verfassung abgegebenen Stimmen von 58,43 % wurde unter Bezugnahme auf die abgegebenen gültigen Stimmen ermittelt. Diese Methode entspricht zwar westlichen Gepflogenheiten, widerspricht aber den maßgebenden Vorschriften des Präsidialerlasses und den überkommenen Grundsätzen der sowjetrussischen Praxis, nach denen auf die abgegebenen Stimmen abzustellen war. Da 2,35 % der abgegebenen Stimmen ungültig waren, hätte der Anteil der Ja-Stimmen ordnungsgemäß mit 57,06 % ausgewiesen werden müssen. Es ist unter diesen Umständen nicht weiter verwunderlich, daß in der russischen Öffentlichkeit die Korrektheit des offiziellen Abstimmungsergebnisses immer wieder angezweifelt und der Verdacht von Manipulationen geäußert wird. 2 4
Wie dem auch sei, die Volksabstimmung ist nur äußerst knapp zugunsten der Verfassung ausgefallen. Noch bedenklicher muß die Tatsache stimmen, daß die neue Verfassung — die Korrektheit des offiziellen Abstimmungsergebnisses unterstellt — lediglich bei 31,02 % des stimmberechtigten russischen Staatsvolks ausdrückliche Zustimmung gefunden hat. Von den 89 Föderationssubjekten stimmten nur 71 mehrheitlich für die Verfassung, wobei die Ablehnungsquote bei den "nicht-russischen" Republiken besonders hoch war (acht von 21) 2 5 Für einen demokratischen Neuanfang ist dies eine reichlich schmale Legitimationsbasis. Z u berücksichtigen ist des weiteren, daß die geltende Verfassung nicht nur beim Volk, sondern auch bei den maßgebenden politischen Kräften relativ geringe Sympathien genießt. Von ihnen setzten sich in der Abstimmungskampagne außer dem radikalreformerischen, zur Unterstützung des Staatspräsidenten gegründeten Wahlbündnis "Wahl Rußlands" (Gajdar) nur die gemäßigt reformerische "Partei der Russischen Einheit und Eintracht" (Sachraj) und ausgerechnet die rechtsradikale "Liberal-Demokratische Partei Rußlands" (Zirinovskij) ausdrücklich für die Annahme des Verfassungsentwurfs ein, während die Kommunisten (Zjuganov), der gemäßigt reformerische Block "Jabloko" (Javlinskij) und die zentristischen Kräfte der "Demokratischen Partei Rußlands" (Travkin) und der "Bürgerunion" (VoPskij) sich gegen den Verfassungsentwurf aussprachen und alle übrigen Kräfte mehr oder weniger deutliche Vorbehalte äußerten. 26
2 4 Tölz, V./Wishnevsky, J.: Election Queries Make Russians Doubt Democratic Process, R F E / R L Research Report Nr. 13/1994, S. 1 ff.(3).
^ Von den 21 Republiken haben sieben Republiken den Verfassungsentwurf abgelehnt, und in der sezessionistischen Republik Tschetschenien konnte die Abstimmung überhaupt nicht durchgeführt werden. Von den 47 "russischen" Föderationssubjekten haben zehn den Verfassungsentwurf abgelehnt. Demgegenüber haben alle elf "nicht-russischen" Autonomien für die Verfassung gestimmt. 2 6
Slater (Anm. 21), S. 3.
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Insgesamt wird man sicherlich nicht sagen können, daß die neue Verfassungsordnung illegitim sei, doch man wird feststellen müssen, daß ihre Legitimität auf schwachen Füßen steht.
3. Die demokratische Substanz des neuen Parlaments Schließlich könnte man sich wünschen, daß im Ergebnis der Systemwende das russische Volk die erste Chance demokratischer Partizipation genutzt und politischen Kräften zu einer parlamentarischen Entscheidungsmacht verholfen hat, deren Gesinnung für eine demokratische Entwicklung bürgt. Obwohl die Antwort nicht eindeutig ausfallen kann, muß auch dieser Wunsch letztlich offenbleiben. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Nach den übereinstimmenden Berichten westlicher Wahlbeobachter wird man zwar davon ausgehen müssen, daß die ersten demokratischen Parlamentswahlen in Rußland bei allen Unzulänglichkeiten im wesentlichen frei und fair über die Bühne gingen. 27 Trotzdem werden in der russischen Öffentlichkeit namentlich aus dem Kreise der enttäuschten Reformkräfte Zweifel an der Ordnungsmäßigkeit der Stimmauszählung und der Korrektheit der offiziellen Wahlergebnisse geäußert. 28 Eine Nahrung finden diese Zweifel wiederum in der späten Bekanntmachung lückenhafter und widersprüchlicher Wahlergebnisse. 29 Zum Teil mag dies an organisatorisch-technischen Mängeln liegen; zum Teil kann der Umstand als Erklärung herangezogen werden, daß sich ein klar konturiertes Parteiensystem auch im Zuge der Wahlen nicht herausgebildet hat. Parteimitgliedschaft, Listenkandidatur und Fraktionszugehörigkeit der einzelnen Abgeordneten stimmen keinesweg überein, so daß
2 7 Vgl. etwa Russia's Parliamentary Election and Constitutional Referendum Decemer 12, 1993: Moscow, Shakhovskoe, Tula, Tver, Vladimir, Krasnodar, Novorossisk, hrsg. von der Commission on Security and Cooperation in Europe, Washington, DC, Januar 1994; Die Wahlen in Rußland — aus der Nähe betrachtet, Osteuropa 1994, S. 454 ff. (mit Berichten über Stawropol von H . - H . Schröder u. H. Timmermann, Irkutsk von R. Götz, Jekaterinburg von E. Schneider und Saratow von B. Knabe). 2 8 2 9
Tölz/Wishnevsky (Anm. 24).
In der Tagespresse wurden nach über zwei Wochen die Namen der am 12.12.1993 gewählten 444 (statt 450) Dumaabgeordneten und 171 (statt 178) Mitglieder des Föderationsrates veröffentlicht. Das offizielle Endergebnis wurde erst im Februar 1994 in dem schwer zugänglichen "Bjulleten' Central'noj Izbiratel'noj Komissii Rossijskoj Federacii" Nr. 1/1994, S. 39 ff., bekanntgemacht und weist Lücken auf. Bei Wiederholungswahlen im März 1994 wurden weitere fünf Dumaabgeordnete und fünf Mitglieder des Föderationsrats gewählt. Als Wahlanalysen siehe Schneider, E.: Das neue russische Parlament, Aktuelle Analysen des BlOst Köln Nr. 58/1993; ders., Die Parlamentsneuwahlen in Rußland vom Dezember 1993, Osteuropa 1994, S. 442 ff.; Tölz, V.: Russia' s Parliamentary Elections: What Happened an Why, R F E / R L Research Report Nr. 2/1994, S. 1 ff.; Slater, W.: Russian Duma Sidelines Extremist Politicians, R F E / R L Research Report Nr. 7/1994, S. 5 ff.; Mikhailovskaia, I./Kuzminskii, E.: Making Sense of the Russian Elections, East European Constitutional Review 1994, Nr. 2, S. 59 ff.
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eine eindeutige Bestimmung der parteipolitischen Zusammensetzung des neuen russischen Parlaments gar nicht möglich ist. Es kommt hinzu, daß die politische Ausrichtung der einzelnen, meist stark personenabhängigen Parteien, Bewegungen, Wahlbündnisse und Fraktionen vielfach ebenfalls nicht klar zu bestimmen ist. Was zunächst die Wahrnehmung der ersten Chance einer demokratischen Parlamentswahl angeht, so ist die Wahlbeteiligung von 54,4 %, die nach den offiziellen Wahlergebnissen errechnet werden kann, gewiß nicht übermäßig. Die erforderliche Wahlbeteiligung von 25 % wurde am 12. Dezember 1993 nur in den Wahlkreisen Tatarstans nicht erreicht, so daß hier am 13. März 1994 erneut Wahlen stattfinden mußten, nachdem der Grund der hohen Wahlabstinenz durch Unterzeichnung eines russisch-tatarischen Staatsvertrags am 15. Februar 1994 beseitig worden war, der die autonomistischen Wünsche nach einer Sonderstellung Tatarstans im Rahmen der Föderation zumindest teilweise befriedigt hat. I n der Republik Tschetschenien, die sich von Rußland praktisch getrennt hat, konnten überhaupt keine Wahlen durchgeführt werden. Ansonsten ist als eine Besonderheit des russischen Wahlrechts zu berücksichtigen, daß bei der Listenwahl die Wähler die Möglichkeit hatten, durch Ankreuzung eines besonderen Kästchens "gegen alle Listen" zu stimmen. Von dieser Möglichkeit machten fast 2,3 Millionen Wähler (ca. 4 %) Gebrauch. W i l l man ihre Gegenstimmen als bewußten Legitimationsentzug deuten und den Nicht-Wählern zuschlagen, so kommt man auf eine Wahlbeteiligung von 52,1 %. Aus den genannten Gründen ist es nicht einfach, die politischen Kräfte zu bestimmen, denen die Wähler zu parlamentarischer Macht verholfen haben. Immerhin ist es im Falle der Staatsduma möglich, die Größenordnungen der maßgebenden politischen Strömungen auszumachen. Z u diesem Zweck sollen in der folgenden Übersicht drei Indikatoren zusammengefaßt werden: 1.
der Stimmenanteil der Listen, nach denen die eine Hälfte der Dumaabgeordneten gewählt wurden;
2.
die Verteilung der Mandate nach der Listenzugehörigkeit der nach Listen gewählten und die Parteizugehörigkeit der direkt gewählten Abgeordneten;
3.
die Fraktions- bzw. Gruppenzugehörigkeit der Abgeordneten, nachdem in der konstituierenden Sitzung der Staatsduma nach heftigen Auseinandersetzungen beschlossen wurde, daß Fraktionen von den einzelnen Listen und ansonsten von 35 Abgeordneten gebildet werden können, während weniger Abgeordnete sich nur zu parlamentarischen Gruppen von einem minderen Status zusammenschließen dürfen.
Nach Auswertung der zur Verfügung stehenden Quellen ergibt sich somit folgendes Bild:
18.3 %
2. Zentristen
3 9.8%
4
3
27 30
23 15
104
73
25.8%
Mandate nach Fraktionen
66
23.2 %
26
156 34.7%
Mandate nach Listen- und Parteizugehörigkeit
Frauen Rußlands (lenSCiny Rossii) 8,1 % 23 Demokratische Partei Rußlands (DPR) 5,5 % 15 Bürgerunion im Namen der Stabilität, der Gerechtigkeit und des Fortschritts 1,9 % Würde und Barmherzigkeit 0,7 % 2 Zukunft Rußlands - Neue Namen 1,3 % 1 Konstruktiv-ökologische Vereinigung "Zeder" 0,8 % "Neue Regionalpolitik" -
44
15,5 % 64 7,9 % 26 6,7 % 19 4,1 % -
Wahl Rußlands (Vybor Rossii) Block Javlinskij - Boldyrev - Lukin (Jabloko) Partei der Rußländischen Einheit und Eintracht (PRES) Rußländische Bewegung Demokratischer Reformen (RDDR) sonstige Parteien "Union des 12. Dezember"
116
34.2 %
1. Demokratische Reformer
Stimmanteile Listenwahl
Politische Strömungen in der Staatsduma
Rußland zwischen Diktatur und Demokratie 29
3
64
2.4%
14
22.3 %
Mandate nach Fraktionen
449 100%
31.0% 11
-
449 100%
139
65
45
17.4 %
1
55
100
Mandate nach Listen- und Parteizugehörigkeit
18.3 %
15.1 % 78
4.2 %
22,9 % -
68
Gegenstimmen 100%
22.9%
-
insgesamt
82
12,4 % 48 8,0% 33 -
20.4 %
5. Unbestimm t
Liberal-demokratische Partei Rußlands (LDPR) sonstige Parteien "Rußländischer Weg"
4. Nationalisten /Rechtsextremisten
Kommunistische Partei der Rußländischen Föderation (KP-RF) Agrarpartei (AP) sonstige Parteien
3. Kommunisten /Linkskonservative
Stimmanteile Listenwahl
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Bei aller gebotenen Vorsicht läßt sich aus dieser Übersicht 3 0 die Schlußfolgerung ableiten, daß nach dem Willen der russischen Wähler die demokratisch orientierten Kräfte in der Staatsduma nur über eine leichte Mehrheit verfügen. Rund 40 % der Abgeordneten gehören neokommunistischlinkskonservativen und nationalistisch-rechtsextremistischen Strömungen an, deren wichtigste Formationen auf der Linken die im Februar 1993 wiedergegründete Kommunistische Partei der Rußländischen Föderation sowie die von landwirtschaftflichen Nomenklaturkadern gleichzeitig gegründete, prokommunistische Agrarpartei und auf der Rechten die im März 1990 entstandene, rechtsextremistische und ganz auf die pathologische Persönlichkeit ihres Führers Ëirinovskij fixierte Liberal-demokratische Partei Rußlands sowie die von sonstigen nationalistischen Abgeordneten gebildete parlamentarische Gruppe "Rußländischer Weg" sind. Beide Extreme begegnen sich in der Befürwortung eines autoritären Systems und der imperialen Idee und bieten somit Anhaltspunkte für ein potentielles nationalbolschewistisches Bündnis 3 1 zur Bekämpfung der demokratischen Institutionen. Für den Föderationsrat lassen sich keine vergleichbaren, zahlenmäßig abgesicherten Aussagen machen, 32 doch kann angenommen werden, daß hier die demokratischen Kräfte eine solidere Mehrheit besitzen, die neokommunistisch-linkskonservativen Kräfte nur eine beachtliche Minderheit darstellen und die Vertreter nationalistisch-rechtsradikaler Strömungen eine Randerscheinung bleiben. 33 Über die im ersten Halbjahr 1994 stattgefundenen Regional- und Kommunalwahlen liegen noch keine statistisch verwertbaren Informationen vor, aber die ersten Anzeichen deuten — ungeachtet aller bedeutsamen regiona-
^ Die Angaben widerspiegeln den Stand vom April 1994 nach den Wiederholungswahlen und betreffen somit 225 Listen- und 224 Direktmandate, insgesamt also 449 Mandate. Sie weichen von den in den bisher erschienenen Wahlanalysen mitgeteilten und untereinander divergierenden Angaben teilweise ab; vgl. etwa Schneider Das neue ... (Anm. 29), S. 4, 6; ders.: Die Parlamentsneuwahlen ... (Anm. 29), S. 450 f.; Tölz (Anm. 29), S. 3; Slater (Anm. 29), S. 6. 3 1 Vgl. hierzu etwa Ignatow, Α.: Das postkommunistische Vakuum und die neue Ideologie, Osteuropa 1993, S. 311 ff. (316 ff.); Fuchs, M.: Die russische Nationalidee als Faktor im politischen Kampf für Reformen, Osteuropa 1993, S. 328 ff., 461 ff. (332 ff.). 3 2 Von den 173 Mitgliedern des Föderationsrats, die am 12.12.1993 gewählt wurden, haben sich nur 28 offiziell zu einer politischen Partei oder Bewegung bekannt. Von ihnen können 15 dem neokommunistisch-linkskonservativen, zwölf dem demokratisch-reformerischen und einer dem zentristischen Lager zugeordnet werden. 3 3 Für einen in diese Richtung weisenden Versuch, eine Zuordnung der Mitglieder des Föderationsrats zu politischen Strömungen anhand sekundärer Indizien vorzunehmen vgl. Tölz, V.: Russia's New Parliament and Yeltsin: Cooperation Prospects, R F E / R L Research Report Nr. 5/1994, S. 1 ff. (5).
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len Differenzen — darauf hin, daß die post- oder neokommunistischen Nomenklaturkader sich gut behauptet haben. 34
IL Die neue Verfassungsordnung auf den zweiten Blick Lassen die mangelnde Legalität und die fragwürdige Legitimität schon auf den ersten Blick manche Zweifel an der demokratischen Natur der Systemwende aufkommen, so kommt es in erhöhtem Maße auf die Frage an, ob wenigstens die neue Verfassung ein demokratisches System institutionalisieren will. U m diese Frage beantworten zu können, sollen im folgenden die wichtigsten Regelungen der ab 25. Dezember 1993 geltenden russischen Verfassung 35 daraufhin untersucht werden, wie sie die Staatsgewalt legitimieren, organisieren und aufteilen.
1. Das Regierungssystem Das Regierungssystem der neuen Verfassung ist ein präsidentiell-parlamentarisches Mischsystem, in dem die Regierung doppelt, d. h. sowohl dem Staatspräsidenten als auch der Staatsduma politisch verantwortlich und die Exekutivgewalt schwerpunktmäßig beim Staatspräsidenten konzentriert ist. Diese Konstruktion entspricht im wesentlichen dem Modell der V. Französischen Republik, aber sie enthält auch Elemente des amerikanischen Präsidentialismus. Die starke Stellung des Präsidenten äußert sich schon darin, daß er unmittelbar vom Volk gewählt wird, wenn auch für die nicht übermäßig lange Amtsperiode von vier Jahren (Art. 81 Abs. 1). Damit verfügt er über die gleiche demokratische Legitimation wie das Parlament. Vor Beendigung seiner regulären Amtszeit kann er nur in einem parlamentarischen Anklageverfahren wegen Hochverrats oder eines sonstigen schweren Verbrechens abgesetzt werden, wobei die verfahrensmäßigen Hürden so hoch angesetzt sind, daß sie praktisch kaum zu überwinden sind (Art. 93): Die Anklageerhebung muß in der Staatsduma von einem Drittel aller Abgeordneten beantragt, von einem besonderen Ausschuß empfohlen und vom Plenum mit 2/3-Mehrheit aller Abgeordneten bechlossen werden; die Stichhaltigkeit der Vorwürfe muß durch ein Gutachten des Obersten Gerichts und die Ord3 4 Teague, E.: Russia's Local Elections Begin, R F E / R L Research Report Nr. 7/1994, S. 1 ff.; auch aufschlußreich: Krindatsch, A. D./Turowskij, R. F.: Die widerspenstigen Regionen, Osteuropa 1993, S. 1124 ff. 3 5
Text offiziell veröffentlicht in: R. g. v. 25.12.1993.
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nungsmäßigkeit des Verfahrens durch ein Gutachten des Verfassungsgerichts bestätigt werden; erst danach kann der Föderationsrat mit 2/3-Mehrheit seiner Mitglieder auf eine Amtsenthebung erkennen. Die Befugnisse des Präsidenten sind so zahl- und umfangreich, daß sie an dieser Stelle nicht eingehend behandelt werden können. Sie umfassen die politische Richtlinienkompetenz, weitreichende Rechtsetzungsbefugnisse, die Schwerpunktbereiche der auswärtigen, der militärischen und der Notstandsgewalt sowie föderative Zuständigkeiten. A u f die Einzelheiten wird erforderlichenfalls noch zurückzukommen sein. Entscheidend ist, daß die Institution der Gegenzeichnung unbekannt ist und folglich der Präsident von den ihm zustehenden Befugnissen aus eigener Machtvollkommenheit, ohne Mitwirkung der Regierung Gebrauch machen kann.Die Regierungsbildung vollzieht sich unter dem bestimmenden Einfluß des Präsidenten. Er ernennt den Regierungschef, bedarf allerdings hierzu der mit absoluter Mehrheit aller Abgeordneten zu erteilenden Zustimmung der Staatsduma (Art. 111). Wird die Zustimmung zum Personalvorschlag des Präsidenten dreimal verweigert, kann er seinen Regierungschef trotzdem ernennen, muß dann aber die Staatsduma auflösen und innerhalb von vier Monaten Neuwahlen ausschreiben. Die Minister werden auf binnen Wochenfrist seit seiner Ernennung zu unterbreitenden Vorschlag des Regierungschefs vom Präsidenten ernannt (Art. 112). Auf diese Weise ist sichergestellt, daß die Staatsduma dem Präsidenten keinen Regierungschef aufzwingen kann, aber bei unüberwindbaren Meinungsverschiedenheiten muß der Präsident einen Konflikt mit dem Parlament riskieren und das Volk als Schiedsrichter anrufen. Ein derartiger Konflikt wäre im Hinblick auf die Zusammensetzung der ersten Staatsduma, deren Mehrheit der bis Ende 1993 betriebenen Reformpolitik EPcins ablehnend gegenübersteht, gleich zu Beginn der demokratischen Ära leicht möglich gewesen, doch ist ihm bereits in der Verfassung vorgebeugt worden. Zunächst einmal stellen Parlamentswahlen — im Gegensatz zu Präsidentschaftswahlen (Art. 116) — keinen Rücktrittsgrund für die Regierung dar, und für den speziellen Fall der Verfassungsgebung vom Dezember 1993 bestimmt Ziff. 4 der Schluß- und Übergangsbestimmungen ausdrücklich, daß die amtierende Regierung bis auf weiteres im A m t bleibt. So konnte EPcin den Konflikt vermeiden, indem er den seit Dezember 1992 amtierenden, i m seinerzeitigen Machtkampf mit dem Parlament als Kompromißkandidaten akzeptierten, zentristischen Regierungschef Cernomyrdin im A m t belassen und auf eine Regierungsneubildung verzichtet hat. Die doppelte Verantwortlichkeit der Regierung ist im Verfassungstext nicht ausdrücklich ausgesprochen, aber sie ergibt sich offenkundig aus den Möglichkeiten von Präsident und Staatsduma, die Amtszeit der Regierung zu beenden. Allerdings sind diese Möglichkeiten sehr ungleich ausgestaltet. Der Präsident kann die Regierung jederzeit entlassen (Art. 83 lit. ν und Art. 117 Abs. 2), wie er auch frei darüber entscheiden kann, ob er ein Rücktrittsge3 Rußland / Ukraine
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such der Regierung annimmt oder ablehnt (Art. 117 Abs. 1). Demgegenüber ist das Mißtrauensvotum, das die Staatsduma mit der absoluten Mehrheit ihrer Mitglieder beschließen kann, eine vergleichsweise stumpfe Waffe mit Bumerangeffekt (Art. 117 Abs. 3). Der Präsident kann ein Mißtrauensvotum zunächst ignorieren; erst wenn die Staatsduma der Regierung innerhalb von drei Monaten wiederholt das Mißtrauen ausspricht, muß er etwas unternehmen und entweder die Regierung entlassen oder die Staatsduma auflösen. Umgekehrt hat die vom Regierungschef zu stellende Vertrauensfrage sofort diesen Entscheidungszwang zur Folge, falls sie nicht mit absoluter Mehrheit bejaht wird: Der Präsident hat sich binnen Wochenfrist zwischen Regierungsentlassung und Parlamentsauflösung zu entscheiden (Art. 117 Abs. 4). In beiden Fällen entfällt allerdings die Alternative der Parlamentsauflösung im ersten Jahr einer parlamentarischen Legislaturperiode (Art. 109 Abs. 3). Im Ergebnis eines Mißtrauensvotums oder einer Vertrauensfrage könnte also die neue Staatsduma im Jahre 1994 nicht aufgelöst werden. Die Möglichkeiten der Parlamentsauflösung sind auf die genannten drei Fälle (gescheiterte Regierungsbildung, Mißtrauensvotum, Vertrauensfrage) beschränkt und unterliegen zudem weiteren Einschränkungen. Eine Parlamentsauflösung ist ausgeschlossen während eines laufenden Verfahrens der Präsidentenanklage (Art. 109 Abs. 4), im Kriegs- oder Ausnahmezustand und innerhalb der letzten sechs Monate der Amtszeit des Präsidenten (Art. 109 Abs. 5). Da die Amtszeit von El'cin im Juni 1996 ausläuft, bedeutet dies, daß ihm nur das Jahr 1995 zum Einsatz dieses Machtmittels zur Verfügung steht. Die Gebiete, auf denen eine noch so starke Exekutive herkömmlicherweise vom Parlament abhängig ist, sind die Rechtsetzung und die Haushaltsbewilligung. Denn für die praktische Durchführung des Regierungsprogramms sind Gesetze und Geld meistens Voraussetzung. Analysiert man das Gesetzgebungsverfahren der neuen russischen Verfassung, so kommt man zu dem Ergebnis, daß in Ermangelung superstabiler parlamentarischer Mehrheitsverhältnisse eine kontinuierliche Gesetzgebungstätigkeit nicht gewährleistet ist. Für einen einfachen Gesetzesbeschluß (Art. 105) ist an sich die absolute Mehrheit sowohl in der Staatsduma als auch im Föderationsrat erforderlich. Verweigert der Föderationsrat die Zustimmung, so kann ein Vermittlungsverfahren eingeleitet werden; mangels Einigung kann die Staatsduma mit einer 2/3-Mehrheit aller Abgeordneten das Gesetz erneut wirksam beschließen. Allerdings muß der Föderationsrat nicht immer ausdrücklich zustimmen. Behandelt er den ihm übersandten Gesetzesbeschluß der Staatsduma nicht innerhalb von zwei Wochen, so gilt seine Zustimmung als erteilt, es sei denn, es handelt sich um Materien, für die die Verfassung dem Föderationsrat eine Befassungspflicht vorschreibt. Z u diesen Materien gehö-
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ren namentlich das Haushaltsgesetz und alle Finanzgesetze. 36 Hat ein Gesetz all diese parlamentarischen Hürden genommen, so gelangt es zum Präsidenten zwecks Ausfertigung und Verkündung. Der Präsident ist aber hierzu nicht verpflichtet, sondern kann innerhalb von 14 Tagen sein Veto einlegen, das nur mit einer 2/3-Mehrheit in beiden Häusern des Parlaments überwunden werden kann (Art. 107 Abs. 3). Noch schwieriger gestaltet sich die Verabschiedung der sog. "Verfassungsgesetze", durch die bestimmte, als besonders wichtig angesehene Materien geregelt werden: 3 7 hier bedarf es für einen Gesetzesbeschluß von vornherein einer 2/3-Mehrheit in der Staatsduma und einer 3/4-Mehrheit im Föderationsrat (Art. 108 Abs. 2). Für eigentliche Verfassungsänderungen werden die Schwierigkeiten weiter gesteigert. 3 8 Bei einem derart beschwerlichen Gesetzgebungsverfahren droht unter den desolaten parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen in Rußland der Gesetzgebungsstillstand. Einen Stillstand der Rechtsetzung hätte dies allerdings nicht zur Folge. Denn in diesem Fall kann die Exekutive praktische die gesamte Rechtsetzungstätigkeit übernehmen. Der Präsident bedarf für seine Erlasse keinerlei Ermächtigung; seine originäre Rechtsetzungsbefugnis steht nur unter Verfassungs- und Gesetzesvorrang (Art. 90 Abs. 3), und sofern eine Materie gesetzlich noch nicht geregelt ist, hat der Präsident plein pouvoir. Demgegenüber kann die Regierung nur Durchführungsverordnungen
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Im einzelnen gilt die Befassungspflicht nach Art. 106 für den Bundeshaushalt, Bundessteuern und -gebühren, Finanz-, Valuta-, Kredit- und Zollregelungen, die Geldemission, die Ratifizierung und Kündigung völkerrechtlicher Verträge, das Grenzregime sowie Krieg und Frieden. 3 7 Im einzelnen sind durch Verfassungsgesetz zu regeln: der Ausnahmezustand (Art. 56 Abs. 1 u. 2, Art. 88), der Kriegszustand (Art. 87 Abs. 3), das Verfahren zur Bildung neuer Föderationssubjekte (Art. 65 Abs. 2) und zur vertraglichen Änderung der Rechtsstellung eines Föderationssubjekts (Art. 66 Abs. 5), das Referendum (Art. 84 lit. ν), die Tätigkeit der Regierung (Art. 114 Abs. 2), die Gerichtsverfassung (Art. 118 Abs. 3), insbesondere Zuständigkeit und Tätigkeit des Verfassungsgerichts, des Obersten Gerichts, des Obersten Arbitragegerichts und aller Bundesgerichte (Art. 128 Abs. 3) und die für qualifizierte Verfassungsänderungen (vgl. Anm. 38) erforderliche Verfassungsversammlung (Art. 135 Abs. 2). 3 8 Es ist zwischen einfacher und qualifizierter Verfassungsänderung zu unterscheiden. Einfache Verfassungsänderungen (Art. 136) betreffen die Vorschriften des Staatsorganisationsrechts und bedürfen über die — auch bei Verfassungsgesetzen erforderliche — 2/3-Mehrheit in der Staatsduma und 3/4-Mehrheit im Föderationsrat hinaus auch der Zustimmung von zwei Dritteln der gesetzgebenden Körperschaften der Föderationssubjekte (gegenwärtig also: 60 von 89). Eine qualifizierte Verfassungsänderung (Art. 135) ist für eine Änderung der Grundlagenbestimmungen, der Grundrechtsartikel und des Verfahrens der Verfassungsänderung vorgesehen und mündet zwangsläufig in einer Verfassunggebung. Hier müssen die Änderungsvorschläge zunächst mit einer 3/5-Mehrheit von beiden Häusern des Parlaments gebilligt werden; dann wird eine Verfassungsversammlung einberufen, die die vorgeschlagenen Änderungen entweder ablehnt oder billigt und einen neuen Verfassungsentwurf ausarbeitet; die neue Verfassung kann schließlich entweder von der Verfassungsversammlung mit 2/3-Mehrheit oder durch Verfassungsreferendum angenommen werden, wobei im letzteren Falle eine Abstimmungsbeteiligung von über 50 % und eine Zustimmung von über 50 % der abgegebenen Stimmen erforderlich sind.
3*
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ohne weiteres erlassen; im übrigen bedarf sie einer besonderen Ermächtigung durch höherrangige Normen, zu denen auch die Präsidialerlasse zählen (Art. 115). In Anbetracht der Wahlergebnisse vom Dezember 1993 hätte man erwarten können, daß sich das Parlament zur Erfüllung seiner Aufgabe als Legislative als unfähig erweisen und Präsident El'cin auf dem Erlaßwege die Rechtsetzungsmaschinerie betreiben würde. Im Rückblick auf die erste Sitzungsperiode des Parlaments, die am 22. Juli 1994 zu Ende ging, wird man feststellen können, daß sich diese Erwartung nur bedingt erfüllt hat. Sie hat sich insofern erfüllt, als die Masse der Rechtsetzung in der Tat nach wie vor von der Exekutive, vornehmlich durch Präsidialerlasse abgewickelt wird. Auf der anderen Seite ist aber das Parlament nicht gänzlich untätig geblieben. Immerhin hat die Staatsduma im A p r i l / M a i mit der Gesetzesproduktion begonnen, und so konnte ihr Vorsitzender I. Rybkin in seiner Schlußansprache mit einigem Stolz feststellen, daß die Staatsduma 46 Gesetze beschlossen habe, von denen allerdings bis Ende der Sitzungsperiode nur elf auch die übrigen Stadien des Gesetzgebungsverfahrens erfolgreich durchlaufen hätten, vom Präsidenten verkündet worden und in Kraft getreten seien. 39 Die eindrucksvolle Zahl von Gesetzesbeschlüssen ist indes zu relativieren, da die meisten Gesetze recht schmalbrüstig sind und politisch belanglose Angelegenheiten betreffen. Aber auch diese Aussage ist wiederum einzuschränken, weil sich unter den verabschiedeten und in Kraft getretenen Gesetzen auch ein Abgeordnetengesetz, 40 der Haushalt für 1994, 41 eine umfangreiche StGB- und StPO-Novelle 4 2 und das äußerst wichtige Verfassungsgerichtsgesetz 43 befinden, auf dessen Problematik noch zurückzukommen sein wird. Das Bemerkenswerteste an der ersten Sitzungsperiode ist, daß sich die parlamentarische Tätigkeit nach den Turbulenzen der ersten Zeit beruhigt hat und es weder zwischen den unterschiedlichen politischen Strömungen innerhalb der beiden Häuser der Bundesversammlung noch im Verhältnis von Parlament und Präsident zu grundsätzlichen Auseinandersetzungen oder gar zu einem Dauerkonflikt gekommen ist. Präsident El'cin hat sich bald nach den Wahlen auf die neuen parlamentarischen Verhältnisse eingestellt, zentri3 9
R. g. V. 26.7.1994.
4 0
Bundesgesetz v. 8.5.1994 "über den Status der Deputierten des Föderationsrats und der Deputierten der Staatsduma der Bundesversammlung der Rußländischen Föderation" (Sobranie Zakonodatel'stva Rossijskoj Federacii [fortan: SZ RF] 1994, Nr. 2, Art. 74 = R. g. v. 12.5.1994). 4 1 Bundesgesetz v. 1.7.1994 "über den Bundeshaushalt für das Jahr 1994" (SZ R F 1994, Nr. 10, Art. 1108 = R. g. v. 6.7.1994). 4 2 Bundesgesetz v. 1.7.1994 "über die Aufnahme von Änderungen und Ergänzungen in das Strafgesetzbuch der RSFSR und in die Strafprozeßordnung der RSFSR" (SZ R F 1994, Nr. 10, Art. 1109 = R. g. v. 7.7.1994). 4 3 Bundesverfassungsgesetz v. 21.7.1994 "über das Verfassungsgericht der Rußländischen Föderation" (SZ R F 1994, Nr. 13, Art. 1447 = R. g. v. 23.7.1994).
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stische Abstriche von seiner Reformpolitik gemacht und sich auf den imperialen Grundkonsens eingelassen, der den gemeinsamen Nenner aller politischen Kräfte im "demokratischen" Rußland zu bilden scheint. 44 A u f der parlamentarischen Seite hat namentlich der Vorsitzende der Staatsduma, der prokommunistische Agrarier I. Rybkin, die Kompromißbereitschaft gefördert. In diesem Sinne ist auch EPcins Bemühungen um einen Gesellschaftsvertrag weitgehender Erfolg beschieden worden, durch den alle maßgebenden politischen und gesellschaftlichen Kräfte zu einem loyalen, verfassungskonformen Zusammenwirken im Interesse der politischen Stabilität verpflichtet werden sollten. Der "Vertrag über die gesellschaftliche Eintracht" ist am 28. April 1994 von 245 Repräsentanten der Exekutive (Staatspräsident und Regierungschef), der Legislative (Vorsitzende der Staatsduma und des Föderationsrats), der Fraktionen und politischen Parteien, 45 der Föderationssubjekte, 46 zahlreicher Interessenverbände und der Kirchen unterzeichnet worden. 4 7 Obgleich seine juristische Substanz recht mager ist, scheint der Vertrag einer gewissen Wirksamkeit nicht zu ermangeln. Die zunehmende Friedlichkeit der Abgeordnenten ist durch die schließliche Ausfertigung und Verkündung des Abgeordnetengesetzes durch EPcin, mit dem sie sich eine Vergütung in Höhe eines Ministergehalts und sonstige ansehnliche Privilegien bewilligt haben, maßgeblich gefördert worden. 4 8 Die starke Stellung des Staatspräsidenten in der neuen russischen Verfassung ist im I n - und Ausland vielfach als undemokratisch und diktaturfördend kritisiert worden. 49 Die Kritiker gehen dabei irrtümlich häufig davon aus,
4 4 Zu dieser Entwicklung vgl. Tölz (Anm. 33); Slater (Anm. 29); ders.: The Diminishing Center of Russian Parliamentary Politics, R F E / R L Research Report Nr. 17/1994, S. 13 ff. Rahr, Α.: The Future of Russian Reforms, R F E / R L Research Report Nr. 5/1994, S. 7 ff.; ders.: Russia's Future: With or without Yeltsin, R F E / R L Research Report Nr. 17/1994, S. 1 ff. 4 5
Von den im Parlament vertretenen Parteien haben die Kommunisten und die Agrarier sowie der Block "Jabloko" den Vertrag nicht unterzeichnet. Allerdings hat sich die dem Block "Jabloko" angehörende Republikanische Partei nicht an die Fraktionsdisziplin gehalten und den Unterzeichnern angeschlossen. 4 6 Außer der aus der Föderation praktisch ausgeschiedenen Republik Tschetschenien haben nur die Parlamentsvorsitzenden der Gebiete Vladimir und Kemerovo die Unterschrift verweigert. 4 7 Text in: R. g. v. 29.4.1994, Vgl. hierzu Tölz, V.: The Civic Accord: Contributing to Russia's Stability?, R F E / R L Research Report Nr. 19/1994, S. 1 ff. 4 8 Als entscheidend stellt dies heraus Siegl, E.: "Die Abgeordneten der Staatsduma sorgen vor allem für sich selbst", Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 25.7.1994, S. 4. 4 9 So etwa Walker, E. W.: Politics of Blame and Presidential Powers in Russia's New Constitution, East European Constitutional Review Nr. 4/1993-1/1994, S. 116 ff.; Holmes, St.: Superpresidentialism and its Problems, ebda., S. 123 ff.; Tölz, V.: Problems in Building Democratic Institutions in Russia, R F E / R L Research Report Nr. 9/1994, S. 1 ff. (3). Ausgewogener demgegenüber Schneider, E.: Der Entwurf der neuen russischen Verfassung, Aktuelle Analysen des BlOst Köln Nr. 55/1993, S. 8 (wenn auch auf S. 4 u. 6 unzuterffend von "Präsidialverfassung" und "Präsidialregime" die Rede ist); Thorson, C : Russia's Draft Constitution, R F E / R L Research Report Nr. 48/1993, S. 9 ff. (15).
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daß die Verfassung ein Präsidialsystem etabliert habe, und übersehen die Eigentümlichkeiten eines präsidentiell-parlamentarischen Mischsystems. Diese bestehen in seiner großen Flexibilität. Die verfassungsrechtliche Position des Parlaments ist zwar relativ schwach, aber doch ausreichend, um einem mehrheits- und damit entscheidungsfähigen Parlament die Erringung einer faktischen Machtposition zu ermöglichen, mit deren Hilfe die parlamentarische Funktionsweise des Regierungssystems herbeigeführt werden kann. Ist hingegen das Parlament auch tatsächlich schwach und entscheidungsunfähig, so führt dies nicht zwangsläufig — wie im parlamentarischen Regierungssystem — zum Zusammenbruch des politischen Systems und damit zur Anarchie, sondern es vollzieht sich automatisch eine Schwerpunktverlagerung des politischen Entscheidungsprozesses auf den Präsidenten. Dies mag eine autoritäre Entwicklung auslösen, deren Risiken sich aus der Persönlichkeit des jeweiligen Präsidenten ergeben. Immerhin ist eine autoritäre Führung im Vergleich zu Chaos und Anarchie die vorzugswürdigere Alternative. Die russische Entwicklung im ersten Halbjahr 1994 zeigt, daß auch eine dritte Alternative denkbar ist: Ähnlich wie in Frankreich, wo sich der sozialistische Präsident Mitterrand in der Zeit vom März 1986 bis M a i 1988 und seit März 1993 erneut auf eine "cohabitation" mit den gaullistischen Premierministern Chirac bzw. Balladur eingelassen hat, hat EPcin seine verfassungsrechtlichen Befugnisse nicht ausgeschöpft, sondern den Weg eines politischen Arrangements eingeschlagen. Ein derartiges Arrangement muß nicht unbedingt staatsmännischem Verantwortungsbewußtsein oder sonst edlen Motiven entspringen, es kann durchaus Ausdruck präsidialer Persönlichkeitsschwäche und persönlichen Vorteilsstrebens der Abgeordneten sein. Damit sind wir auch beim Kernpunkt der Bewertung des russischen Regierungssystems angelangt. Die autoritären Gefahren des gewählten präsidentiell-parlamentarischen Mischsystems sind zwar unübersehbar, aber sie sollten nicht allzu negativ beurteilt werden, weil sie theoretisch die Entscheidungsfähigkeit des politischen Systems zu sichern bestimmt sind und durch ein starkes Parlament kompensiert werden können. Praktisch kommt es auf die Persönlichkeit des jeweiligen Präsidenten, aber auch der einzelnen Abgeordneten an.
2. Die Binnenstruktur
der Exekutive
Neben dem Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative liegt ein zweites immanentes Strukturproblem des präsidentiell-parlamentarischen Mischsystems in der dualistischen Konstruktion der Exekutive. Sie setzt sich aus dem Präsidenten und der Regierung mit dem Regierungschef an der Spitze zusammen. Damit stellt sich als verfasssungsrechtlich zu lösendes
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Problem die Frage nach der Ausgestaltung ihrer gegenseitigen Beziehungen, der exekutivinternen Kompetenzverteilung und der Gewährleistung einer reibungslosen Zusammenarbeit. Sind diese Probleme nicht zufriedenstellend gelöst, so kann es innerhalb der Exekutive zu erheblichen Spannungen und Reibungsverlusten kommen, die der Funktionsfähigkeit des politischen Systems auch dann abträglich sind, wenn das Parlament schwach sein sollte. Nach der verfassungsrechtlichen Konstruktion ist der Präsident der Regierung klar übergeordnet: er beherrscht den Vorgang der Regierungsbildung und kann die Regierung jederzeit entlassen (vgl. oben); er kann in Kabinettssitzungen jederzeit den Vorsitz übernehmen (Art. 83 lit. b); er bestimmt die Richtlinien der Innen- und Außenpolitik (Art. 80 Abs. 3); die Präsidialakte bedürfen keiner Gegenzeichnung. Die Kompetenzen sind zwar nicht eindeutig verteilt, aber es ist ziemlich klar, daß die Außen- und Sicherheitspolitik eine Domäne des Präsidenten sein soll, während die Regierung primär für die Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik zuständig ist. I m übrigen bleibt vieles der politischen Praxis überlassen, in der bereits deutlich sichtbar geworden ist, daß Präsident EPcin als dritten Vorbehaltsbereich die Informationspolitik und namentlich das Rundfunkwesen für sich beansprucht. In der Praxis stößt eine juristisch noch so imposante Präsidialmacht notwendigerweise auf das Hindernis, daß der allgemeine staatliche Verwaltungsapparat kraft Sachzusammenhangs der Regierung unterstellt sein muß und der Regierungschef folglich von Haus aus über einen institutionellen Machtvorteil verfügt. U m diesen zu seinen Gunsten abzubauen, hat EPcin im Laufe seiner Amtszeit verschiedene Vorkehrungen zur institutionellen Absicherung der präsidentiellen Vorbehaltsbereiche ergriffen: a)
I m Juni 1992 ist ein Sicherheitsrat gebildet worden, der dem Präsidenten als ein Gremium der Beratung und Entscheidungsvorbereitung auf dem Gebiete der inneren und äußeren Sicherheit dienen soll. 5 0 Hier ist die im November 1993 verkündete "Militärdoktrin" erarbeitet worden, deren Bestätigimg zu den verfassungsrechtlichen Prärogativen des Präsidenten zählt (Art. 83 lit. ζ). Dem Sicherheitsrat gehören außer dem Präsidenten als Vorsitzendem der Regierungschef und die fachlich zuständigen Ressortchefs an. 5 1 Es ist bemerkenswert, daß EPcin im M a i 1994 auch die
5 0 Rechtsgrundlage: Art. 83 lit. ζ ) Verf.; Art. 13-19 Gesetz v. 5.3.1992 "über die Sicherheit" (VSNDiVS R F 1992, Nr. 15, Art. 769); Erlaß Nr. 547 v. 3.6.1992 "über die Errichtung des Sicherheitsrats der Rußländischen Föderation" mit beigefügter Ordnung (VSNDiVS R F 1992, Nr. 24, Art. 1323). 5 1 Anläßlich der Neubildung des Sicherheitsrats durch Präsidialerlaß v. 31.1.1994 sind die Minister für Äußeres (Kozyrev), Verteidigung (Gracëv), Inneres (Erin), Zivilverteidigung (Sojga), Justiz (Kalmykov) und Nationalitätenangelegenheiten (Sachraj) sowie die Direktoren der Dienste für Auslandsaufklärung (Primakov) und Gegenaufklärung (GoluSko) berufen worden. Später sind noch am 18. April der Oberbefehlshaber der Grenztruppen (Nikolaev)
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Vorsitzenden der Staatsduma und des Föderationsrats in den Sicherheitsrat berufen hat. b)
Parallel zum Regierungsapparat ist ein besonderer Präsidialapparat aufgebaut worden, dessen Herzstück die aus etwa 40 Organisationseinheiten bestehende "Präsidialverwaltung" (Administracija Prezidenta) bildet. 5 2 Während sich der Präsident bei der Schaffung der "Präsidialverwaltung" nunmehr auf eine besondere verfassungsrechtliche Organisationskompetenz berufen kann (Art. 83 lit. i), ist dies bei den zahlreichen Beratungsgremien nicht der Fall, die ihm als Foren der Begegnung mit den Vertretern gesellschaftlich maßgebender Kräfte bei der Beschaffung des wünschenswerten politischen Konsenses auf Sachgebieten behilflich sein sollen, die an sich eher zum Verantwortungsbereich der Regierung gehören. Derartige Gremien sind in jüngerer Zeit beispielsweise für Rechtspolitik, 53 Sozialpolitik, 54 Jugendangelegenheiten,55 die Medien 5 6 und schlechthin für alle politisch relevanten Fragen 5 7 errichtet worden. Im wild wuchernden Präsidialapparat sollen inzwischen 3.500 hauptamtliche Mitarbeiter beschäftigt sein, doch läßt seine Effektivität namentlich im Vergleich zu dem aus rund 1.000 Mitarbeitern bestehenden Verwaltungsapparat des Regierungschefs stark zu wünschen übrig. 5 8 Zwischen beiden Apparaten herrscht naturgemäß Rivalität, die neuerdings durch die Fixierung von Abstimmungsmechanismen bei der Erarbeitung von
und am 23. Mai die Vorsitzenden der Staatsduma (Rybkin) und des Föderationsrats (Sumejko) hinzugekommen. 5 2 Letzte — aber seither mehrfach geänderte — zusammenfassende Regelung: Erlaß Nr. 273 v. 22.2.1993 "über die Vervollkommnung des Systems zur Gewährleistung der Tätigkeit des Präsidenten der Rußländischen Föderation" mit beigefügten Ordnungen (SAPP R F 1993, Nr. 9, Art. 735 = R. g. v. 5.3.1993). Zur Entwicklung des Präsidialapparates vgl. Malek, M: Der Präsident im politischen Kräftefeld Rußlands, Interne Studien und Berichte der Konrad-Adenauer-Stiftung Nr. 71/1994, S. 16 ff.; zu den einzelnen Organisationseinheiten und Funktionsträgern am Jahresanfang 1994 vgl. "Key Officials in the Russian Federation: Executive Branch", R F E / R L Research Report Nr. 9/1994, S. 9 ff. 5 3
Rechtsexpertenrat (Èkspertno-pravovoj sovet), anstelle der Kommission für Gesetzesvorlagen errichtet durch Erlaß Nr. 388 v. 25.2.1994 (SAPP 1994, Nr. 9, Art. 700). 5 4 Rat für Sozialpolitik (Sovet po social'noj politike), errichtet und Ordnung bestätigt durch Erlaß Nr. 1000 v. 19.5.1994 (SZ R F 1994, Nr. 4, Art. 304 = R. g. v. 21.5.1994). 5 5 Rat für Jugendangelegenheiten (Sovet po delam molodëzi), errichtet und Ordnung bestätigt durch Anordnung Nr. 895 v. 10.6.1994 (SZ R F 1994, Nr. 8, Art. 808 = R. g. v. 21.6.1994). 5 6 Gerichtskammer für Informationsstreitigkeiten (Sudebnaja palata po informacionnym sporam), errichtet durch Erlaß Nr. 2335 v. 31.12.1993 (SAPP R F 1994, Nr. 2, Art. 75 = R. g. v. 10.1.1994). 5 7 Gesellschaftliche Kammer (Obséestvennaja palata), errichtet und Ordnung bestätigt durch Anordnung Nr. 78 v. 16.2.1994 (SAPP R F 1994, Nr. 8, Art. 592 = R. g. v. 19.2.1994). 5 8
275).
Aslund, Α.: Rußland in Tschernomyrdins Hand, Europa Archiv 1994, S. 273 ff. (274,
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Gesetzesvorlagen und Regierungsverordnungen — nicht aber von Präsidialerlassen 59 — eingedämmt werden soll. 6 0 c)
Einige Ministerien und oberste Bundesbehörden sind der Anleitungskompetenz des Regierungschefs entzogen und direkt dem Präsidenten unterstellt worden. Ungeachtet der verfassungsrechtlichen Zweifelsfragen bezüglich dieser Präsidialmaßnahme, 61 unterstehen gegenwärtig drei der 23 Ministerien und sieben der 45 Bundesbehörden, die in den präsidentiellen Vorbehaltsbereichen tätig sind, 6 2 EPcin persönlich.
Das hiermit skizzierte Gefüge exekutivinterner Organisationsmaßnahmen vermittelt den Eindruck einer planmäßig vorangetriebenen Expansion der Präsidialmacht zu Lasten der Regierung. Allerdings ist auch hier Vorsicht am Platze. A u f die mangelnde Effizienz des Präsidialapparates ist bereits hingewiesen worden. Es ist deshalb kaum anzunehmen, daß der institutionelle Startvorteil der Regierung wettgemacht werden konnte. Noch entscheidender sind die politischen Auswirkungen der Parlamentswahlen, die den Reformkräften um EPcin keinen Erfolg beschieden und letztlich die Bereitschaft zu einem zentristischen Kompromiß gestärkt haben. Im Bereich der Exekutive ist Regierungschef Cernomyrdin die Schlüsselfigur dieses Kompromisses. So gibt es auch ernstzunehmende Stimmen, die Cernomyrdin als den eigentlichen Wahlsieger betrachten. 63 Tatsache ist jedenfalls, daß die Position des Regierungschefs durch die Wahlen gestärkt worden ist und der Präsident durch die Anpassung seiner Politik an die zentristische Regierungslinie diesem Umstand Rechnung trägt.
5 9 Der Grund für die unterschiedliche Behandlung liegt darin, daß nur bei Gesetzesvorlagen und Regierungsverordnungen Kollisionslagen entstehen können. Das Recht der Gesetzesinitiative steht sowohl dem Präsidenten als auch der Regierung zu (Art. 104 Abs. 1 Verf), wobei finanzerhebliche Gesetzesvorlagen nur mit einer Stellungnahme der Regierung in die Staatsduma eingebracht werden können (Art. 104 Abs. 3). Regierungsverordnungen können vom Präsidenten wegen Verfassungs-, Gesetz- und Erlaßwidrigkeit aufgehoben werden (Art. 115 Abs. 3). Da demgegenüber die Präsidialerlasse im Range über den Regierungsverordnungen stehen, besteht bei ihnen — jedenfalls rein juristisch — kein Abstimmungsbedarf. 6 0 Erlaß Nr. 1185 v. 10.6.1994 "über die Gewährleistung des Zusammenwirkens des Präsidenten der Rußländischen Föderation und der Regierung der Rußländischen Föderation" (SZ RF 1994, Nr. 7, Art. 697 = R. g. v. 21.6.1994); "Vorläufige Ordnung über die Tätigkeit der Regierung der Rußländischen Föderation bei Gesetzesvorlagen", bestätigt durch Regierungsverordnung Nr. 733 v. 19.6.1994 (SZ R F 1994, Nr. 9, Art. 1019 = R. g. v. 28.6.1994). 6 1 Erlaß Nr. 66 v. 10.1.1994 "über die Struktur der Bundesorgane der Exekutivgewalt" (SAPP R F 1994, Nr. 3, Art. 190 = R. g. v. 11.1.1994). 6 2 Es handelt sich um das Außenministerium, das Verteidigungsministerium, das Oberkommando der Grenztruppen, den Dienst für Außenaufklärung, den Dienst für Gegenaufklärung, die Hauptverwaltung für den Schutz der Rußländischen Föderation, die Bundesagentur für Regierungsbeziehungen und Information, den Bundesdienst für Rundfunk und Fernsehen sowie den Staatlichen Archivdienst. 6 3 So prononciert Âslund (Anm. 58), S. 275 f; in diesem Sinne auch Rahr, Α.: The Russian Leadership: Changes in the Executive Branch, R F E / R L Research Report Nr. 9/1994, S. 8; ders.: Russia's Future ... (Anm. 44), S. 6.
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3. Das Verfassungsgericht Sind die Verhältnisse zwischen Exekutive und Parlament sowie innerhalb der Exekutive labil und autoritären Gefährdungen ausgesetzt, so kommt es maßgeblich auf die Existenz einer dritten Staatsgewalt an, die für die rechtsstaatliche Einhegung der politischen Entwicklungen Sorge tragen kann. In der Tat wurde in Rußland Ende 1991 in Gestalt der Verfassungsgerichts eine derartige Einrichtung geschaffen, 64 doch sind die mit ihm gemachten Erfahrungen nicht sonderlich ermutigend gewesen. Seinen ursprünglich guten Ruf hat das russische Verfassungsgericht in den Machtkämpfen zwischen Präsident und Parlament weitgehend ruiniert, indem sich seine konservative Mehrheit unter der Führung des ehrgeizigen Präsidenten Zor'kin im Kulminationsjahr 1993 zunehmend auf die Seite des reaktionären Volkskongresses stellte. 65 Seine unglückselige Parteinahme für das Parlament am 21. September veranlaßte dann EPcin dazu, die Tätigkeit des Verfassungsgerichts bis zur Verabschiedung der neuen Verfassung zu untersagen. 66 Mit dem Inkrafttreten der Verfassung am 25. Dezember 1993 entstand eine juristisch undurchsichtige Lage, deren Klärung in weite Ferne gerückt zu sein schien. Die neue Verfassung hat die Einrichtung des Verfassungsgerichts beibehalten, aber die Zahl der Verfassungsrichter von 15 auf 19 erhöht und die Zuständigkeiten des Verfassungsgerichts geringfügig geändert und beschnitten (Art. 125) 6 7 Die Frage, ob das alte Verfassungsgericht auf der neuen verfassungsrechtlichen Grundlage fortbestehen oder durch ein neues Verfassungsgericht ersetzt werden sollte, war nach dem Verfassungstext nicht klar zu beantworten. Immerhin enthielt Ziff. 5 Abs. 2 der Schluß- und Übergangsbestimmungen die für alle Richter generell geltende Übergangsregelung, daß sie ihr A m t für die Zeit ausüben, für die sie gewählt worden sind. Der Kongreß der Volksdeputierten hatte am 30. Oktober 1991 nach dem damals geltenden Recht nur 13 der 15 Verfassungsrichter auf unbe-
6 4 Rechtsgrundlagen: Art. 165 Abs. 1 und Art. 1651 der Verfassung von 1978, eingefügt durch Verfassungsänderungsgesetze v. 24.5.1991 (VSNDiVS RSFSR 1991, Nr. 22, Art. 776) bzw. v. 21.4.1992 (VSNDiVS R F 1992, Nr. 20, Art. 1084); Gesetz "über das Verfassungsgericht der RSFSR" v. 6.5.1991 in der durch den Kongreß bestätigten Fassung v. 12.7.1991 (VSNDiVS RSFSR 1991, Nr. 30, Art. 1016). Vgl. hierzu Schweisfurth, Th.: Der Start der Verfassungsgerichtsbarkeit in Rußland, Europäische Grundrechts-Zeitschrift 1992, S. 281 ff.; Sharlet, R.: The Russian Constitutional Court: The First Term, Post-Soviet Affairs 1993, Nr. 1, S. 1 ff.; Luchterhandt, Ο.: Vom Verfassungskomitee der UdSSR zum Verfassungsgericht Rußlands, Archiv des öffentlichen Rechts 1993, S. 237 ff. (249 ff.). 6 5 Zur Rolle des Verfassungsgerichts im Machtkampf vgl. Sharlet, R.: Russian Constitutional Crisis: Law and Politics under Yel'tsin, Post-Soviet Affairs 1993, Nr. 4, S. 314 ff. (323 ff.). 6 6 6 7
Vgl. den in Anm. 18 zitierten Präsidialerlaß.
Der Zuständigkeit des Verfassungsgerichts ist namentlich das Parteiverbot entzogen worden.
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stimmte Zeit, d. h. bis zur Erreichung des 65. Lebensjahres, 68 gewählt; für zwei weitere Richter vermochte EPcin, dem das Vorschlagsrecht zustand, im Kongreß die erforderliche absolute Mehrheit nicht zu erreichen. Diese Rechtsgrundlage war inzwischen entfallen, da EPcin anläßlich des Inkrafttretens der neuen Verfassung das Verfassungsgerichtsgesetz von 1991 als im Widerspruch zur Verfassung stehend für unwirksam erklärte. 69 So stand das Verfassungsgericht ohne Rechtsgrundlage da, und es war zudem zweifelhaft, ob es angesichts der auf 19 erhöhten Mitgliederzahl mit 13 Verfassungsrichtern, von denen zwei vorübergehend von ihrem A m t suspendiert wurden, 7 0 überhaupt vorschriftsmäßig besetzt und damit funktionsfähig war. Schließlich setzte sich die Auffassung durch, daß die 13 Verfassungsrichter ihr A m t (und ihre Bezüge) im Hinblick auf Ziff. 5 Abs. 2 der Schluß- und Übergangsbestimmungen der Verfassung beibehalten, aber bis auf weiteres nicht ausüben würden. Für das praktische Wiederaufleben der Verfassungsgerichtsbarkeit war somit Voraussetzung, daß das neue Parlament mit 2/3-Mehrheit in der Staatsduma und mit 3/4-Mehrheit im Föderationsrat ein neues Verfassungsgesetz über das Verfassungsgericht verabschiedet und der Föderationsrat auf Vorschlag des Staatspräsidenten mit absoluter Mehrheit die fehlenden sechs Verfassungsrichter wählt. Unter den im neuen Parlament obwaltenden, schwer kalkulierbaren, aber für den Staatspräsidenten jedenfalls ungünstigen Mehrheitsverhältnissen konnte zunächst kaum damit gerechnet werden, daß diese Voraussetzungen bald erfüllt würden. Erstaunlicherweise ist es aber anders gekommen. Nachdem Parlament, Präsident und Regierungschef sich praktisch arrangiert hatten, beschloß die Staatsduma am 24. Juni 1994 das erforderliche neue Verfassungsgerichtsgesetz, dem der Föderationsrat am 12. Juli zustimmte und das am 21. Juli vom Präsidenten ausgefertigt wurde. 7 1 In den Übergangsbestimmungen des Verfassungsgerichtsgesetzes ist vorgesehen, daß die 13 vorhandenen Verfassungsrichter für die Zeit, für die sie gewählt worden sind, im A m t bleiben (Ziff. 4 ) 7 2 und die volle Besetzung des Gerichts innerhalb von 30 Tagen seit Inkrafttreten des Gesetzes herbeizuführen ist. Präsident und Föderationsrat
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Art. 15 Abs. 2 VerfGG 1991 (Anm. 64).
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Anlage 2 Ziff. 16 zum Erlaß Nr. 2288 v. 24.12.1993 "über Maßnahmen zur Anpassung der Gesetzgebung der Rußländischen Föderation an die Verfassung der Rußländischen Föderation" (SAPP R F 1993, Nr. 52, Art. 5086 = R. g. v. 14.1.1994). 7 0 Die Verfassungsrichter Zor'kin, der nach dem Oktoberputsch von seinem Amt als Präsident zurückgetreten war, und Lucin wurden durch Beschluß des Verfassungsgerichts am 1.12.1993 von ihrem Amt suspendiert. Lucin wurde am 14.1. und Zor'kin am 25.1.1994 wieder in das Richteramt eingesetzt. 7 1 Bundesverfassungsgesetz v. 21.7.1994 "über das Verfassungsgericht der Rußländischen Föderation" (SZ R F 1994, Nr. 13, Art. 1447 = R. g. v. 23.7.1994). 7 2 Dies dürfte die Erreichung des 65. Lebensjahres sein (Art. 15 Abs. 2 VerfGG 1991), obwohl Art. 12 Abs. 1 VerfGG 1994 die Altersgrenze auf 70 Jahre erhöht, die ursprünglich im übrigen unbefristete Amtszeit aber auf zwölf Jahre beschränkt hat.
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sind somit aufgefordert, bis Ablauf des 22. August 1994 sechs neue Verfassungsrichter zu bestellen. 73 Wird dieser Gesetzesauftrag zumindest teilweise erfüllt, 7 4 so kann das Verfassungsgericht seine Tätigkeit erneut aufnehmen und als rechtsstaatlich-ausgleichender Faktor seinen Beitrag zur Funktionstüchtigkeit des politischen Systems leisten. Wie immer, wird es auch hier auf die Personen der Verfassungsrichter ankommen, die aus den unglücklichen Erfahrungen des Jahres 1993 hoffentlich gelernt haben werden.
4. Föderalismus und kommunale Selbstverwaltung Neben der horizontalen Gewaltenteilung in die gesetzgebende, vollziehende und rechtsprechende Gewalt (Art. 10) soll in Rußland in Gestalt des Föderalismus und der kommunalen Selbstverwaltung auch eine die Dezentralisierung der Staatsgewalt bewirkende vertikale Gewaltenteilung Platz greifen. Die neuen Strukturen zeichnen sich vorerst nur schemenhaft ab, und die gegenwärtige Problematik ist so komplex, daß sie an dieser Stelle nicht adäquat behandelt werden kann. Es mögen deshalb einige Bemerkungen genügen. Die heftigen Streitigkeiten um die künftige Gestalt des russischen Föderalismus sind in der Verfassung keiner abschließenden Lösung zugeführt worden. Fest steht nur, daß die Föderation vorerst aus 89 "Föderationssubjekten" unterschiedlicher Bezeichnung bestehen soll, die auf der überkommenen Territorialeinteilung beruhen. I m Zuge der regionalen Autonomiebestrebungen verlangten von den 32 nominell nicht-russischen Gebietseinheiten (21 Republiken, ein autonomes Gebiet, zehn autonome Kreise), in deren Mehrzahl sich die Titularnation allerdings in der Minderheit befindet, namentlich die Republiken eine Vorzugsstellung. Hiergegen opponierten die immer selbstbewußter auftretenden 57 russischen Gebietseinheiten (sechs Gaue, 49 Gebiete, Moskau, St. Petersburg). Die Verfassung scheint den Forderungen der russischen Gebietseinheiten auf den ersten Blick Rechnung getragen zu haben, indem sie den Republiken das in allen Verfassungsentwürfen enthaltene, privilegierende Adjektiv "souverän" vorenthalten hat und die "Gleichberechtigung" aller Föderationssubjekte proklamiert (Art. 5 Abs. 1 u. 4). Auch die bundesstaatliche Kompetenzordnung mit ausschließlichen Bundeszuständigkeiten (Art. 71), konkurrierenden Zuständigkeiten (Art. 72) und einer Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Föderationssubjekte (Art. 73) ist für alle Föderationssubjekte gleich. Allerdings deutet 7 3 Die Verfassungsrichter werden auf Vorschlag des Staatspräsidenten vom Föderationsrat mit absoluter Mehrheit gewählt (Art. 128 Abs. 1 Verf). 7 4 Nach Art. 4 Abs. 2 VerfGG 1994 kann das Verfassungsgericht seine Tätigkeit aufnehmen, wenn drei Viertel der Richter bestellt sind. Hiernach würden schon 15 Richter genügen.
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die Verfassung mit der Kennzeichnung der Republiken als "Staaten", die im Gegensatz zu den "Satzungen" der übrigen Föderationssubjekte über eine "Verfassung" verfügen (Art. 5 Abs. 2), gewisse Statusunterschiede an, die auf vertraglichem Wege vertieft werden können. Indem sie es zuläßt, daß die Rechtsstellung einzelner Föderationssubjekte durch Sonderverträge mit der Föderation in Abweichung von der verfassungsmäßigen Kompetenzordnung geregelt wird (Art. 66 Abs. 5), öffnet sie den Weg für einen asymmetrischen Föderalismus, der von Tatarstan als erstem beschritten worden ist. 7 5 Diesem Beispiel dürften weitere Föderationssubjekte folgen. Der Bedarf ist so groß, daß der Präsident im Juli 1994 eine besondere Kommission zur Vorbereitung entsprechender Sonderverträge ins Leben gerufen hat. 7 6 Das größte Problem des russischen Föderalismus besteht darin, daß eine bundesstaatliche Finanzverfassung vorerst gar nicht existiert. Die Verfassung hat die Thematik vollständig ausgespart, und die praktische Durchsetzung der einfachgesetzlichen Regelungen über die Steuergesetzgebungsbefugnisse und den vertikalen Finanzausgleich 77 scheitert an den Mängeln der Finanzverwaltung und anderen Unzulänglichkeiten. 78 Bestimmender Faktor der Finanzzuweisungen ist das Durchsetzungsvermögen der einzelnen Föderationssubjekte. Die kommunale Selbstverwaltung ist in der neuen Verfassung eindeutig garantiert, doch ist ihre nähere Ausgestaltung (Art. 130-133) konturlos geblieben. Die noch zuvor verabschiedete Kommunalordnung 79 ist durch die spätere Entwicklung teilweise überholt worden und bedarf einer dringenden Novellierung.
7 5 Vertrag zwischen der Rußländischen Föderation und der Republik Tatarstan v. 15.2.1994 "über die Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche und die gegenseitige Übertragung von Befugnissen zwischen den Organen der Staatsgewalt der Rußländischen Föderation und den Organen der Staatsgewalt der Republik Tatarstan" (R. g. v. 17.2.1994). 7 6 Erlaß Nr. 1499 v. 20.7.1994 "über die Bildung einer Kommission beim Präsidenten der Rußländischen Föderation zur Vorbereitung von Verträgen über die Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche und Befugnisse zwischen den Bundesorganen der Staatsgewalt und den Organen der Staatsgewalt der Subjekte der Rußländischen Föderation" (SZ R F 1994, Nr. 13, Art. 1475 = R. g. v. 23.7.1994).
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