Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit [Reprint 2010 ed.] 9783110239638, 9783484365254

This volume assembles the papers presented at an international interdisciplinary symposium at the University of Marburg

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German Pages 833 [836] Year 1995

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Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit [Reprint 2010 ed.]
 9783110239638, 9783484365254

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FRÜHE NEUZEIT Band 25 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Jörg Jochen Berns, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt

Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit Herausgegeben von Jörg Jochen Berns und Thomas Rahn

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1995

Die Deutsche Bibliothek-OP-Einheitsaufnahme Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und früher Neuzeit / hrsg. von Jörg Jochen Berns und Thomas Rahn. - Tübingen : Niemeyer, 1995 (Frühe Neuzeit ; Bd. 25} NE: Berns, Jörg Jochen [Hrsg.]; GT ISBN 3-484-36525-0

ISSN 0934-5531

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1995 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten Buchbänder: Heinr. Koch, Tübingen

Inhalt

Vorwort Wolfgang Weber (Augsburg) J.B, von Rohrs Ceremoniel-Wissenschaffi (1728/29) im Kontext der frühneuzeitlichen Sozialdisziplinierung ,

IX

l

Volker Bauer (Hannover) Zeremoniell und Ökonomie, Der Diskurs über die Hofökonomie in Zeremonialwissenschaft, Kamerali smus und Hausväterliteratur in Deutschland 1700-1780

21

Andreas Gestrich (Stuttgart) Höfisches Zeremoniell und sinnliches Volk. Die Rechtfertigung des Hofzeremoniells im 17. und frühen 18, Jahrhundert

57

Thomas Rahn (Marburg) Psychologie des Zeremoniells. Affekttheorie und -pragrnatik in der Zeremoniellwissenschaft des 18, Jahrhunderts

74

Markus Bauer (Marburg) Das große Nein -Zum Zeremoniell der Resignation

99

Gottfried Kerscher (München) Das maüorquinische Zeremoniell am päpstlichen Hof. Comederuni cum papa rex maioricarum

125

Christina Hofrnann-Randall (Erlangen) Die Herkunft und Tradierung des Burgundischen Hofzeremoniells ,

150

Jörg Jochen Berns (Marburg) Luthers Papstkritik als Zeremoniellkritik. Zur Bedeutung des päpstlichen Zeremoniells für das fürstliche Hofzeremoniell der Frühen Neuzeit

157

Paulette Chone (Nancy) Presence, presentation et representation dans les planches de la Pompe funebre de Charles III (\ 608) et leurs legendes

174

VI

Inhalt

Jill Bepler (Wolfenbüttel) Ansichten eines Staatsbegräbnisses, Funeralwerke und Diarien als Quelle zeremonieller Praxis

183

Georg Braungart (Regensburg) Die höfische Rede im zeremoniellen Ablauf: Fremdkörper oder Kern?

198

Jörn Bockrnann (München) Zeremoniell, Anti-Zeremoniell und Pseudo-Zeremoniell in der Neidhart-Tradition oder Nochmals der Veilchenschwank

209

Wolfgang Neuber (Wien) Ästhetik als Technologie des fürstlichen Selbst. Caspar Stielers Rudolstädter Festspiel Der Vermeinte Printz (1665) und das Zeremoniell

250

Uta Löwenstein (Marburg) Voraussetzungen und Grundlagen von Tafelzeremonietl und Zeremonientafel

266

Claudia Schnitzer (Dresden) Königreiche - Wirtschaften - Bauernhochzeiten. Zeremonielltragende und -unterwandernde Spielformen höfischer Maskerade

280

Birgit Franke (Marburg) Alttestamentliche Tapisserie und Zeremoniell am burgundischen Hof

332

Wolfgang Brassat (Bochum) Monumentaler Rapport des Zeremoniells. Charles Le B runs Tenture de l'fiistoire du Roy

353

Friedrich Polleroß (Wien) Des abwesenden Prinzen Porträt. Zeremonielldarstellung im Bildnis und Btldnisgebrauch im Zeremoniell

382

Ulrich Schütte (Marburg) Höfisches Zeremoniell und sakraler Kult in der Architektur des 17. und 18. Jahrhunderts. Ansätze zu einem strukturellen Vergleich

410

Inhalt

VII

Ursula Brossette (Konz) Die Einholung Gottes und der Heiligen. Zur Zeremonialisierung des transzendenten Geschehens bei Konsekrationen und Translationendes 17. und 18. Jahrhunderts

432

Cornelia Jöchner (Marburg) Barockgarten und zeremonielle Bewegung. Die Möglichkeiten der Alee couverte. Oder: Wie arrangiert man ein incognito im Garten?

471

Wolfgang Wüst (Augsburg) Von Rang und Gang. Titulatur- und Zeremonienstreit im reichsstädtisch-fürstenstaatlichen Umfeld Augsburgs

484

Andrea Sommer-Mathis (Wien) Theatntm und Ceremoniale. Rang- und Sitzordnungen bei theatralischen Veranstaltungen am Wiener Kaiserhof im 17. und 18, Jahrhundert

511

Joachim Ott (Marburg)

Vom Zeichencharakter der Herrscherkrone. Krönungszeremoniell und Krönungsbild im Mittelalter: Der Mainzer Ordo und das Sakramentar Heinrichs II. Manfred Beetz (Halle) Überlebtes Welttheater. Goethes autobiographische Darstellung der Wahl und Krönung Josephs II. in Frankfurt/M. 1764

534

572

Rolf Haaser (Gießen) Das Zeremoniell der beiden letzten deutsch-römischen Kaiserkrönungen in Frankfurt am Main und seine Rezeption zwischen Spätaufklärung und Frühromantik

600

Günter Oesterle (Gießen) Die Kaiserkrönung Napoleons. Eine ästhetische und ideologische Instrumentalisierung

632

Jörg Jochen Berns / Thomas Rahn Zeremoniell und Ästhetik

650

Abbildungsverzeichnis

667

Abbildungen

679

Personenregister

797

Vorwort

Dieser Band versammelt die überarbeiteten Fassungen von Vorträgen, die im Rahmen eines Symposions vom 31. März bis 3. April 1993 in der PhilippsUniversität Marburg gehalten wurden. Der Bettrag von Volker Bauer wurde zur Ergänzung aufgenommen. Das Konzept des Symposions wurde von Mitgliedern des Marburger DFG-Graduiertenkollegs 'Kunst im Kontext' entwickelt und unter Aufzählung der folgenden "Themenkomplexe und Problemfelder" in Fachorganen der Frühneuzeitforschung ausgeschrieben:

I

ZeremoniellbegrifFund zeremoniellbenachbarte Zeichenreglements:

Begriffliche Ritus/Ritual, Zeremoniell Rhetorik) tekturtheorie

(bzw. inhaltliche) Abgrenzung/Öffnung des Zeremoniellbegriffs gegenüber Liturgie, repraesentatio, decorum, aptum, Kult, Etikette, Policey u.a.m. im Lichte zeitgenössischer Zeichenregelungen (z.B. Zeremoniell und Zeremoniellerhebliche Kunstbestimmungen (Poetik, Musiktheorie, Archiu.a.m.).

II Ethische (anthropologische, psychohistorische) Aspekte: Affektdisziplinierung und -medialisierung im Zeremoniell: Ausstellbarkeit bestimmter Affekte oder 'natürlicher' Handlungen (z.B. im Trauerzeremoniell, im Hochzeitszeremoniell) in normierten Zeichenhandlungen - simulatio/dissimulatio von Affekten im Zeremoniell - Konfliktmöglichkeiten zwischen 'natürlichem' Affektanspruch und Zeremoniell (zeremoniell geregelte Interaktion zwischen verschiedemangigen Verwandten, Sexualpartnern, Freunden etc.) - Strategien der Sinnenaffizierung und Hierarchie der Sinne im Zeremoniell - Psychologische Axiomatik der Zeremoniellkritik.

III Zeitdimensionen: zeremonielle Regulierbarkeit von Alltag und Fest: Differenz zwischen alltäglichem Zeremonien und zeremoniellem Modus der ästhetischen Herausgehobenheit des höfischen Festes - Plötzlichkeit/Unberechenbarkeit bestimmter Fest-Casus - Maxime der Einmaligkeit/Unwiederbringlichkeit/Ephemerität versus Wiederholung des Irnmergleichen/Immerwährendheit bei der Inszenierung von Herrschersakralität - Zeremoniell als Arbeit, Divertissement als Zeremonietlentlastung qua Spiel - Zeremonie! laufhebende Spielräume, zeremoniellfreie Räume - Verhältnis von Sakralisierung und Blasphemisierung: Zeremonielldestruktion als spezielle Festform, Karneval als Zeremoniellparodie, Bildersturm als Zeremoniellblasphemie.

Vorwort

IV Raumdimensionen: Begrenzung und Entgrenzung des Zeremoniells: Geltungsbereiche verschiedener Zeremonielle - Energetische Raumstruktur des Zeremoniells: Verhältnis von Zeremoniell-Mitte und Zeremoniell-Peripherie - Bestimmung der zeremoniellen Mitte durch Eurozentrismus und Rom-Zentrierung der christlichen Kultur Nichtchristliche Zeremonielle in Europa (keltische, germanische, slawische Zeremoniellrcstc; jüdisches Zeremoniell u.a.) - Verstehbarkeit nichteuropäischer/nichtchristlicher Zeremonielle: Zeremoniellrnitte und Exotismus, Reisen als Modus von Zeremoniellerfahrung - Räumliche (visuel)e, akustische, haptische) Erfahrbarmachung sozialer Ordnung im Medium des Zeremoniells - Perspektive(n) zeremoniellen Handelns: Hierarchieprobleme der Zentralperspektive, Konzentrizität, Linearität, Leserichtungen bei Sitzordnungen, Schreiteordnungen, Grußordnungen (in Thronsaal, Kirche, Theater usw.) - Zeremonielle Okkupation von Landschafts-, Stadt-, Palast-, Kirchenräumen durch emblematische, heraldische, mnemonische, akustische u.a. Umwidmungen - Verhältnis nichtirdischer Zeremoniellräume (Himmels- und Höllenzeremonielle) zum Raum höfischen Zeremoniells - NichtzeremoniaHsierbare Räume.

V Casus höfischen Zeremoniells und Sonderzeremonieile: Kasuistik des höfischen Zeremoniells; Unterscheidungsmöglichkeiten von familiärdynastischen, staatlichen, militärischen und kirchlichen Zeremoniellanlässen - Familiärdynastische Anlässe: Tod/Bestattung und Trauerzeremoniell, Hochzeit (Werbungs-, Verlobungs-, Einholungs-, Trauungszeremoniell)t Geburt/Taufe (Geburtstagszeremoniell) - Staatliche Anlässe: Krönung, Huldigung, Landtag, Reichstag, Staatsbesuch, Diplomatie (Zeremoniell der Stellvertretung), Kriegserklärung, Friedensschluß - Krieg als Modus der Zeremoniellzerstörung - Verhältnis von militärischer und verwaltungsamtlicher Hierarchie und deren Repräsentationsformen - Sonderzeremonielle: Besucherzeremonielle, Ordens- und Universitätszeremonielle, Korporationszeremonielle, Landnahme- und Kapitulationszeremonielle, Straf- und Hinrichtungszeremonielle u.a.m.

VI Zeremonielle Funktion höfischer Kunstpraxis in verschiedenen Bereichen: Höfische Architektur als zeremonielle Topik: Funktionsteiligkeit verschiedener Kompartimente - Öffentlichkeit (Zugänglichkeit, Aussteilbarkeit) und Privatheit (Arkancharakter, Zeremoniellentnommenheit) der verschiedenen architektonischen Räume Garten und Park: Zeremonialisierung der elementaren Natur - Definitorisches Verhältnis von Gebäude- und Landschaftsarchitektur Kasuistik höfischer Kunstpraxis: Casualpoesie, Casualrhetorik, casual bedingte Kleiderwechsel, Casual musik, Casual theater etc. Theater; Zeremoniell als Strukturelement/Konfliktmodus dramatischer Handlung Choreographie und Bühnenformen als Zeremoniellmodi (in Trionfo, Ballett, Oper, Feuerwerk u.a.m.). Musik als zeremonielles Signalement: Bedeutung der Instrumente (Trompete, Pauke, Orgel, Dudelsack etc.) und deren aptum - Ordnungswert bestimmter Tonarten, Rhythmen, Klangfarben usw. Bildkünste als Reflektoren und Einübungsmedien höfischen Zeremonialhandelns; Wortkünste (Poesie und Rhetorik) als Reflektoren und Einübungsmedien höfischen Zeremoniells (z.B. poetische und rhetorische Akzentuierung bestimmter zeremonieller Akte, Zeremonielldarstellung im höfisch-historischen Roman); Totalitätsanspruch zeremonieller

Vorwort

XI

Regelung für die höfische Kunstpraxis - artes-System und Zeremonien - Analogisierbarkeil aller Praxisbereiche höfischer Kunstübung - Synästhesieproblem - Fest als 11 Gesamtkunst we rk".

VII Zerernonielltheoretische und zeremonielldidaktische Literatur: Gattungen und Genera der Zeremonielliteratur - Juristische, philosophische und theologische Zeremoniell-Legitimationen und deren Kritik - Zeremonielltopische Beschreibungsmuster - Zeremoniellgeschichtliche Darstellungen: Fall Sammlungen, partielle Aspekte (HofOrdnungen, Festordnungen, Krönungsordnungen, Turtiierordnungen usw.), Diplomatenberichte, Zeitungen, Briefe, Hofmemoiren - Didaktische Literatur; Hofmeisterlehren, Komplimentierkünste, Klugheitslehren, Apodemiken, Briefsteller, Kanzleilehren, Anstandsliteratur, u.dgl.rn. - Zeremonielldidaktik an Ritterakadernien, Hohen Schulen, Universitäten - Fürstenspiegel, Fürstentestamente - Zeremoniellkritik als Luxuskritik und Herrschaftskritik.

VIII Zeremoniellgeschichte: Geschichte der Hofkultur als Geschichte des höfischen Zeremoniells von der Antike bis zum Ende der Frühen Neuzeit - Zeitlos verbindliche Zeremoniellelemente - Zeremonielletappen und Zeremoniellinien (Verhältnis von byzantinischem, altjüdischem, römischem, burgundischem, spanischem und "teutschem" Zeremoniell) - Zeremonielle Leithöfe und Zeremoniellrivalität - Zeremonieüwanderung und -Übertragung - Das absolutistische Hofzeremoniell als Erbe des Episkopalzeremoniells - Nationale Eigenheiten - Konfessionelle Unterschiede - Geschichte zeremonieller Hofämter - Fortleben höfischer Zeremonieüformen in sozialistisch und demokratisch verfaßten Gesellschaften - Zeremonielltranslationen - Zeremoniellgeschichte einzelner Dynastien und Höfe Exemplarische Studien zu Zeremoniellwechseln, Zeremoniellstreiten, Zeremoniellabwehr.

Dieser zur Vorverständigung markierte Problemrahmen wurde durch das reale Symposion natürlich nicht gleichmäßig gefüllt. In manchen Beiträgen wurde er überschritten, in anderen korrigiert. Insgesamt aber wurde hier ein interdisziplinäres Thema, das in der Forschung der vergangenen Jahrzehnte mehr und mehr an Bedeutung gewonnen hat, interdisziplinär angegangen: So lassen sich die vorliegenden Beiträge dem Studienschwerpunkt ihrer Autorinnen und Autoren nach grob folgenden Fachrichtungen zurechnen: der Kunstgeschichte zehn Betträge, der germanistischen Literaturwissenschaft ebenfalls zehn und der Geschichte fünf Beiträge. (Ein musikhistorischer Beitrag konnte leider nicht für die Drucklegung überarbeitet werden,) Elf Beiträge dieses Bandes wurden von Mitgliedern des Graduiertenkollegs verfaßt, die übrigen fünfzehn Beiträge von Gästen (V. Bauer, Beetz, Bepler, Bockmann, Chone, Gestrich, Haaser, Hofmann-Randall, Löwenstein, Neuber, Oesterle, Polleroß, Sommer-Mathis, Weber, Wüst). Wir denken, daß unser Graduiertenkolleg auch mit dieser seiner zweiten Symposionsveranstaltung und dem vorliegenden Bande seine Leistungsfähigkeit unter Beweis stellt. Den Herausgebern bleibt die schöne Pflicht, namens des Kollegs allen jenen Dank zu sagen, die die Durchführung des Symposions und der Druck-

Vorwort

legung ermöglicht haben: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat die Tagung finanziert; Herr Dr. Dirk Barth, der Direktor der Universitätsbibliothek Marburg, hat für die Tagung den Vortragsraum seines Hauses zur Verfügung gestellt; Frau Petra Niehaus besorgte Texterfassung und Layout und half bei der redaktionellen Arbeit; Frau Bärbel Schnitzer wirkte beim Korrekturlesen und bei der Registererstellung mit. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlages und den Herausgebern der Reihe Frühe Neuzeit ist zu danken, daß das Buch in diesem würdigen Rahmen erscheinen kann. Unsere freundschaftliche Reverenz allen jenen, die dieses dicke Buch zusammengedacht und erschrieben haben.

Marburg, im April 1995

J.J.B., Th.R.

Wolfgang Weber Zeremoniell und Disziplin J.B. von Rohrs Ceremoniel-Wissenschaffi (1728/29) im Kontext der frühneuzeitlichen Sozialdisziplinienmg

Die gegenwärtige fachhistorische Frühneuzeitforschung steht, soweit sie sich übergreifenden Deutungsperspektiven zuordnet, mehr oder weniger direkt im Banne von drei großen Modemisierungstheorien: der Rationalisierungstheorie Max Webers, der Zivilisationstheorie von Norbert Elias und der Sozialdi sziplinierungstheorie Gerhard Oestreichs,1 Vom Zeremoniell als einem bedeutsamen historischen Phänomen hinreichend Kenntnis genommen oder es gar als Modernisierungselement aufgefaßt hat jedoch nur eine dieser Theorien. In der Sicht Max Webers muß das Zeremoniell eher als Modernisierungshemmnis erscheinen, weil es den Perspektiven moderner ökonomischer und politischer Rationalität zu widerstreben scheint. In das Konzept der Sozialdisziplinierung in der Version G. Oestreichs wurde das Zeremoniell vermutlich deshalb nicht aufgenommen, da es sich bei ihm jedenfalls im vorherrschenden Verständnis nicht um ein konsequent über Befehl und Gesetz von oben nach unten durchgesetztes staatliches Gestaltungsprinzip handelt.2 Lediglich N. Elias identifizierte Zeremoniell und Etikette als Modernisterungsinstanzen, wobei er diesen Funktionszusammenhang allerdings wesentlich auf den Hof und auf den durch den Hof erfaßten Adel bezog. Deshalb verharren die bislang vorliegenden Zeremoniellstudien vornehmlich auf dieser analytischen Ebene. Und daher verwundert auch kaum, daß die zahlreichsten einschlägigen Untersuchungen in denjenigen Ländern entstanden sind, die in Vgl. aus den einschlägigen Darstellungen Arthur Bogner: Zivilisation und Rationalisierung. Die Zivilisationstheorie Max Webers, Norbert Elias' und der Frankfurter Schule itn Vergleich. Opladen 1989; Winfried Schulze: Gerhard Oestreichs Begriff der "Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit". In; Zeitschrift für Historische Forschung 14 (1987). S. 265-305; Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Hg. von Christoph Sachße und Florian Tennstedt. Frankfurt a.M. 1986, und Markus Reisenleitner: Die Bedeutung der Werke und Theorie Norbert Elias' für die Erforschung der Frühen Neuzeit, In: Friihneuzeit-Info l (1991), S. 47-57, ferner: Der unendliche Prozeß der Zivilisation. Zur Kultursoziologie der Moderne und Norbert Elias. Hg. von Helmut Kuzmics und Ino Mörth. Frankfurt a.M. 1991, und Ralf Baumgart: Norbert Elias zur Einführung. Hamburg 1991. Zur Ergänzung dieser Konzeption herrschaftlich-staatlicher Disziplinierung von oben durch die Annahme sozio-ökonomi scher Diszipliniemng von unten bzw. entsprechender Selbstdisziplinierung vgl. den o.a. Sammelband: Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung (wie Anm. I), besonders den Beitrag von Stefan Breuer,

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Wolfgang Weber

der Frühen Neuzeit über europa- oder gar weltweit bedeutsame Höfe verfugten, während sich die deutsche (außerösterreichische) Geschichtswissenschaft mangels derartiger historischer Voraussetzungen einigermaßen zurückhält.3 Demgegenüber hat unlängst Monika Schlechte die These aufgestellt, daß das frühneuzeitliche Zeremoniell durchaus als umfassendes "Mittel der Disziplinierung" aufgefaßt werden müsse, welches auf die "Integration aller Mitglieder der Gesellschaft" gezielt habe. Sie hat diese im Hinblick auf die Zeremonielltheorie Julius Bernhard von Rohrs formulierte Annahme allerdings nicht näher ausgeführt,4 Der vorliegende Beitrag setzt an dieser Stelle ein. Er bleibt wesentlich auf der politisch-ideengeschichtltchen Ebene und unternimmt drei methodische Operationen: (I) eine genauere Rekonstruktion des ideengeschichtlichen Kontextes der Ceremoniel-Wissemchafft Rohrs; (II) eine Analyse der Intentionen sowie der herrschaftlichen und disziplinierenden Aspekte dieses Entwurfs, und (III) auf dieser Grundlage eine knapp zusammenfassende neue Einschätzung. 3

Vgl. beispielsweise die internationalen Beiträge in den Sammelbänden: Rituals of Royalty. Power and Ceremonial in Tradtional Societies. Ed. by David Cannadine and Simon Price. Cambridge 1987, und: Princes, Patronage and the Nobility. The Court at the Beginning of the Modern Age. Ed. by Ronald G. Asch and Adolf M. Birke. Oxford 1991, ferner: Rituale, ceremoniale, etichetta. A cura di S. Bertelli e G. Grifo. Milano 1985, für Frankreich: Jean-Francois Solnon: La Cour de France, Paris 1987, und für England als Fallstudien ganz im Sinne Elias': The Mental World of the Jacobean Court. Ed. by Linda Levy Peck, New York 1991. Von den wenigen deutschen Studien zu deutschen Fällen sind zu nennen: Karin Plodeck: Hofstruktur und Hofzeremoniell in Brandenburg-Ansbach vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Zur Rolle des Herrschaftskultes im absolutistischen Gesellschafts- und Herrschaftsystem. Ansbach 1972, und jetzt: Rainer Briining: Herrschaft und Öffentlichkeit in den Herzogtümern Bremen und Verden unter der Regierung Karls XII, von Schweden 1697-1712. Stade 1992. Im neuesten übergreifenden hofgeschichtlichen Beitrag in deutscher Sprache (Albert Cremer: Der Strukturwandel des Hofes in der Frühen Neuzeit. In; Frühe Neuzeit Frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen. Hg. von Rudolf Vierhaus und Mitarbeitern des Max-Planck-Instituts für Geschichte. Göttingen 1992. S. 75-89) kommt das Zeremoniell im Text überhaupt nicht vor, Nichtsdestotrotz vorliegende Einzelstudien zu einschlägigen deutschen Sachverhalten beschränken sich auf die (für alle weiterführenden Überlegungen unverzichtbare) penible Rekonstruktion der Zeremonielle einzelner Höfe und Herrscher. Ein Beispiel für eine gelungene deutsche Untersuchung eines außerdeutschen Falls: Christina Hofmann: Das spanische Hofzeremoniell von 1500-1700, Frankfurt a.M. u.a. 1981. Die meisten übrigen deutschen Beiträge haben kunst- oder literaturgeschichtliche Hintergründe, vgl, z.B. Hubert Ch. Ehalt: Ausdrucksformen absolutistischer Herrschaft. Der Wiener Hof im 17. und 18. Jahrhundert. Wien 1980, oder Magdalena Hawlik-van de Water: Der schöne Tod. Zeremonialstrukturen des Wiener Hofes bei Tod und Begräbnis zwischen 1640 und 1740. Wien u.a. 1989, sowie (vgl, diesen Sammelband) die Beiträge von Jörg Jochen Berns. " M, Schlechte: Nachwort. In: Julius Bernhard von Rohr: Einleitung zur CeremonielWissenschafft Der Grossen Herren. Ndr, der Ausgabe Berlin 1733, Weinheim 1990 [künftig; Rohr II}. S. 3-49, hier S. 8.

Zeremoniell und Disziplin

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I

Der sächsische Gutsbesitzersohn, Gesandtschaftskavalier, Domherr und merseburgische Verwaltungsbeamte Julius Bernhard von Rohr (1688-1742) bezeichnete sich selbst als Schüler Christian Wolffs (1679-1754) und wurde bereits 1738 in der offiziösen Geschichte der Wölfischen Schule aus der Feder Günther Ludovicis als solcher anerkannt,5 In seiner Autobiographie erwähnt der Meister seinen Schüler indessen nicht.6 Außerdem belegt eine Analyse der expliziten Belege in den beiden Zeremoniell werken Rohrs eine durchaus breiter gestreute Ideenrezeption.7 Nimmt man die Einflüsse hinzu, welche übrige Werke Rohrs erkennen lassen,8 so zeigt sich noch deutlicher, daß der philosophisch im ganzen zweifellos zweitrangige Vielschreiber eher der vorherrschenden wissenschaftlich-ideellen Konfiguration seiner Zeit im allgemeinen als einer bestimmten Richtung innerhalb dieser Konfiguration zuzuordnen ist. Auf diese Weise lösen sich auch die zumindest latenten Widersprüche, die in der Nennung weiterer großer Philosophen als angebliche Lehrer durch Rohr angelegt sind, nämlich Christian Thomasius (1655-1728)

Vgl. den Artikel zu Rohr im Zedlerschen Universallexikon {nachgedruckt in; Rohr II, Anhang. S, 55-72), der auf autobiographischem Material beruht, sowie G. Ludovici; Ausführiicher Entwurff einer vollständigen Historic der Wölfischen Philosophie. Zum Gebrauche seiner Zuhörer. Teil III. Leipzig 1738 (nachgedruckt in: J.B, von Rohr. Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaffi der Privat-Personen. Ndr. der Ausgabe Berlin 1728. Leipzig 1989 [künftig: Rohr I], Anhang, S. 56-68, hier S. 64f. u.ö.). In der Literatur sind diese Einschätzungen ungeprüft übernommen worden, vgi. Schlechte: Nachwort (wie Anm. 4). S. 12, sowie Gotthardt Frühsorge: Nachwort. In: Rohr I. Anhang. S. 3-54, hier S. 12 und 19. Dagegen erwähnt Irmintraud Richarz (Oikos, Haus und Haushalt. Ursprung und Geschichte der Haushaltsökonomik. Göttingen 1991. S. 181-187) lediglich, daß sich Rohr u.a. mit der Philosophie Wolffs befaßt habe (S. 182) - offenkundig, um ihr Fehlurteil zu stützen, daß Rohr "einer der interessantesten Exponenten des deutschen Geisteslebens seiner Zeit" gewesen sei (ebd.). Christian Wolffs eigene Lebensbeschreibung. In; Heinrich Wuttke: Christian Wolff. Leipzig 1841. S. 107-208. Schlechte: Nachwort (wie Anm. 4). S. 15-17 u.ö., hat die Rezeption auch spanischer Hofklugheitsautoren des 16 Jahrhunderts herausgearbeitet. Hinzu kommen Autoren der französischen Manierlichkeits- und Zivilitätsliteratur, Vertreter des deutschen Luthertums einschließlich Luther selbst, Repräsentanten der christlichen Policeylehre, Verfasser von Hofmeister- bzw. Hofmanntraktaten und ähnliche mehr. Relevant sind die unmittelbar vor und parallel zu den Zeremoniellschriften verfaßten Werke, vgl. die Bibliographie im Zedler-Artikel (wie Anm. 5) und im Artikel zu Rohr in Christian Gottlieb Jöchers Allgemeines Gelehrtenlexikon. 7. Ergänzungsband. Leipzig 1897. Sp. 303-305, Herangezogen werden dort (vgl. für die benutzten Titel im einzelnen die vorliegenden Ausführungen weiter unten) vornehmlich Francis Bacon, Christian Thomasius, Luther, Seckendorff und weitere Autoren dieses Umfeldes. Rohrs Vielschreiberei auf gängigen Gebieten setzte 1712 ein, nach dem Tode des Vaters, der den Verlust eines Einkommens aus väterlichem Gut nach sich zog, mit der Folge erzwungenen Rückzugs aus dem Universitätsleben.

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Wolfgang Weber

und Ehrenfned Walther von Tschirnhaus (l651-l70S), 9 Rohr wählte nach Belieben aus und kompilierte oder komponierte neu. Gerade dieses Verfahren macht ihn aus einer bestimmten Erkenntnisperspektive wertvoll - nicht oder zumindest zunächst nicht als hervorragend schöpferischen Autor, sondern als Zeitzeugen und Popularisierer. Der bestimmende Wissenschafts- und Ideentypus am Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts im norddeutsch-protestantischen Raum war die eklektische Philosophie als eigenständige Übergangsphase zwischen Späthumanismus und Frühaufklärung. Ihre aus der vorliegenden Perspektive wesentlichen Grundzüge lassen sich mit Horst Dreitzel wie folgt zusammenfassen,10 Die wissenschaftstheoretische Prämisse bestand darin, steh in seinem Denken nicht an ein spezifisches, auf eine bestimmte gelehrte Autorität zentriertes philosophisches System zu halten, sondern auf der Basis einer skeptischen Erkenntnistheorie seine Argumente frei, lediglich nach Maßgabe ihrer praktischen Plausibilität und Nützlichkeit, auszuwählen. Worum es ging, war also nicht Erkenntnis um der Wissenschaft willen, sondern Erkenntnis zur Verbesserung gesellschaftlicher und individueller Praxis, Die eklektische Philosophie verdankte ihre Eigenart damit wesentlich der Fortentwicklung des praktisch-politischen und ethischen Denkens. Sie war ein genuin pragmatischer Denktyp; bezeichnenderweise geht ihr Name auf den neustoizistischen Philologen, Ffistoriker, Philosophen und bedeutensten Politikdenker des ausgehenden 16, Jahrhunderts, den Niederländer Justus Lipsius (15471606) zurück,11 Wogegen sie sich wandte, war der Aristotelismus, den sie methodisch und inhaltlich mit Fiilfe einer sowohl öffentlich-politischen als auch privat-individuellen Konzeption der Staatsräson, Elementen des Neustoizismus, erneuerter christlicher Auffassungen einschließlich von Teilen des Pietismus und Aneigungen des neuen naturwissenschaftlichen Denkens besonders in Form des Baconismus zersetzte.12 Das frühe Schlüsselwerk

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S. die Nachweise nach Anm. 5. Thomasius und E.W. von Tschimhaus sind in den Zeremonie 11 Schriften nur gelegentlich zitiert. Aus der Literatur zu ihnen sei genannt: Christian Thomasius, Interpretationen zu Werk und Wirkung. Hg. von Werner Schneiders. Hamburg 1989 (grandlegend, mit ausfuhrlicher Bibliographie S. 335355, aber ohne systematischen Bezug zu Rohr), und Iris Künzel: Die Stellung der Ethik E . W . von Tschirnhaus' im Verhältnis zur Metaphysik Descartes' und Spinozas. Wroclaw 1989, und jetzt C.A, van Peursen: E.W. von Tschimhaus and the Ars tnveniendi, In: Journal of the History of Ideas 54 (1993). S. 395-410. Tschirnhaus beeinflußte bereits Wolff. H. Dreitzel; Zu Entwicklung und Eigenart der "eklektischen Philosophie". In: Zeitschrift für Historische Forschung 18 (1991). S. 281-334. Dreitzel: Entwicklung und Eigenart (wie Anm. 10). S. 282 u.a., vgl, zum Werk und zur Bedeutung des J, Lipsius Gerhard Oestreich: Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius (1547-1606). Hg. von Nicolette Mout. Göttingen 1989, und Wolfgang Weber: Prudentia gubematoria. Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17, Jahrhunderts. Tübingen 1992. Passini. Vgl. hierzu auch Horst Dreitzel: Der Aristotelismus in der politischen Philosophie Deutschlands im 17, Jahrhundert. In: Aristotelismus und Renaissance. In memoriam

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waren die Elementa philosophiae practicae des Jenenser Philosophen und Theologen Johann Franz Budde (Budd[a]eus, 1667-1729), die zwischen 1697 und 1727 nicht weniger als zehnmal aufgelegt und unter dem programmatischen Titel Klugheit zu leben und zu herrschen rasch verdeutscht wurden.13 Budde war der wichtigste Lehrer des Christian Thomasius. Von der zweiten wichtigen Erweiterung der Elementa, nämlich derjenigen durch Nikolaus Gundling (1671-1729), führt eine weitere Spur zu Rohr: Er wurde zeitweilig verdächtigt, von Gundling abgeschrieben zu haben.14 Den Elementa Buddes ist die endgültige Transformation der Begriffe Politik und Staatsräson im Sinne der eklektischen Philosophie wesentlich zu verdanken. Politik wurde von einer Kennzeichnung des Denkens und Handelns im Kontext von Gemeinwohl und Staat zu einem Begriff öffentlicher und privater Klugheit. Staatsräson wurde zur Räson jeglichen Standes und Zustandes, also zur Standesräson in ständisch-sozialer und berufsständischer Hinsicht, zur Sippenräson, zur Familienräson und zur Räson der Stabilisierung und Verbesserung des individuellen Standes. Auf diese Weise öffnete sich der Weg zum individuellen Eudaimonismus und schließlich zum individuellen Utilitarismus, jedoch in dieser Phase noch ohne vollständige Freisetzung des individuellen Eigenutzes. Vielmehr sollten in der Perspektive der eklektischen Philosophie die Beibehaltung der praktischen Nonnen des Christentums und des Naturrechts sowie damit verknüpft Gefühls- und Vernunftmaßstäbe harmonischen Ausgleich und objektive Berechenbarkeit der verschiedenen Standesinteressen und -klugheiten garantieren. Damit sind auch diejenigen Aspekte aufgegriffen, die Rohr von Wolff und Tschimhaus eher trennen: die christlich-lutherische und lebenspraktische Tendenz gegenüber dem string enter säkularisierenden Rationalismus und der neuen rationalistischen Systembildung.15 Intentionale Aussagen, die es erlauben, genau hierin, in der freien Entwicklung einer unmittelbar nützlichen und dennoch christlich-moralisch gemäßigten, vernünftigen, auf die verschiedenen sozialen Gemeinschaften und je länger desto deutlicher das Individuum abgestellten Welt-Klugheit Rohrs durchgehendes, eigentliches Anliegen zu sehen, finden sich genug. Rohr polemisiert gegen jegliche Schulfüchserei und speziell die aristotelische Tradition. 16 Er nimmt für sich selbstbewußt eigene Urteilsfähigkeit in Anspruch:

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Charles B. Schmitt Hg. von Eckart Keßler u.a. Wiesbaden 1988. S, 163-192 mit weiteren Nachweisen, Dreitzet: Entwicklung und Eigenart (wie Anm. 10). S. 293f. und 324-330; Weber. Pmdentia gubernatoria (wie Anm. 11). S, 154f, u.ö. J,B. von Rohr. In: Zedlers Universallexikon (wie Anm. 5). S. 63; Ludovici: Entwurff {wie Anm. 5). S. 64f, Dreitzel: Entwicklung und Eigenart (wie Anm. 10). S. 331-335, Dreitzel versucht Wolffs spezifische Position noch dadurch für die eklektische Philosophie zu reklamieren, indem er ihn zu einem systematischen Eklektiker erklärt. Rohr: Einleitung zu der Klugheit zu leben, Oder Anweisung, wie ein Mensch zu Beförderung seiner zeitlichen Glückseligkeit seine Actiones vemünffiig anstellen soll (1715). Leipzig: Johann Christian Martini H 730. S. 93f. u.ö., hier und z.B. S. 183

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"Ich nehme nicht leichtlich die Effata der gelehrtesten Leute, der großen Staats-Ministers, ja auch sogar derer Priester ohne Untersuchung und Prüfung an."17 Dennoch bleibt er bewußter Lutheraner,18 ohne in sterile Orthodoxie oder lebensfeindlichen Pietismus zu verfallen, sondern in Kenntnis und Anerkennung nur schwer überwindbarer menschlicher Schwächen und voll Hoffnung, durch vernünftige Reflexion des jeweils wahren Interesses kluges, der "Wohlanständigkeit" und dem "Wohlstand" nützliches Verhalten einsichtig machen und durchsetzen zu können,19 Der "vernünffiige und gläubige Christ" - denn unvernünftige "Leute, die keine Religion haben, werden niemals ihr Glück in der Welt machen" - hält sich an dasjenige, was "zu seiner eigenen und seines Nächsten wahrer Glückseligkeit" beiträgt,20 Er "macht sich alle Umstände zu Nutze, denen er

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verbunden mit einem ausdrücklichen Plädoyer für die alternative Lektüre Bacons; Rohr; Einleitung zu der Staats-KJugheit, Oder: Wie christliche und weise Regenten zur Beförderung ihrer eigenen und ihres Landes Glückseligkeit ihre Unterthanen zu beherrschen pflegen. Leipzig: J. Chr. Martini 1718. S. 16f., mit Verwerfung aber auch von Descartes und übriger neuer und alter Scholastici; Rohr I, S, 75f; Rohr II, Vorrede. S. [4a]f. u.ö.; vgl. auch Dreitzel: Aristotelismits in der politischen Philosophie (wie Anm, 12). S. 188. Anm, 44, Rohr: Unterricht der Kunst der Menschen Gemüther zu erforschen. Leipzig: J. Chr. Martini 1713 (benutzt: 2. Auflage ebd. 1715), Vorrede. S. [C2aJ; vgl, femer Rohr: Klugheit zu leben (wie Anm. 16), Vorrede o.S., S. 13, 104, 116 ("glaube ihm [dem Lehrer] nicht auf seine Autorität, sondern streich' seine Sätze auf dem Probierstein der gesunden Vernunft"), S. 192 u.ö. Vgl. neben Rohr: Altes und Neues von dem Gebrauch des Weines, Oder des seligen Johannes Matthesii [...] Predigt von dem zuläßigen Gebrauch des Weines. Coburg: Johann Georg Steinmarck 1738, passim, die verstreuten Zitierungen Luthers und die gelegentlichen Ausfalle gegen den römischen Katholizismus im gesamten Werk. "Wohlanständigkeit" und "Wohlstand" werden parallel gebraucht, vgl. insbesondere Rohr I, z.B. Vorrede. S. [2a], S. 6 (mit Bezug auf Thomasius), S. 23, 191, 496 u.Ö., oder Rohr II, S, If. u.ö, Für eine genauere Erörterung ist jedoch schon Rohr: Klugheit zu leben (wie Anm. 16). Cap. XXVIII: Von den Regeln des Wohlstands. S. 586-606, heranzuziehen. Es geht um eine Konzeption, die Anstand im heutigen Sinne mit wohlverstandenem Eigeninteresse verbindet, vgl. auch Rohr I. S. 582: "Die Notwendigkeit und der Nutzen muß [sie!] dem Wohlstand vorgehen, wenn er nicht zugleich damit kan vereiniget werden." Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, daß G. Frühsorge (Prolegomena einer Zeremonialwissenschaft in sittengeschichtlicher Absicht. In: Euphorien 86 (1992). S. 355-361) zwar in seiner Auffassung völlig recht hat, daß das frühneuzeitliche Zeremoniell "in erster Linie als ein Gegenstand der Sittenlehre und erst in zweiter, systemanalytischer Absicht als Korpus der Mittel repräsentativer Machtpolitik betrachtet werden kann" (S. 356; s. aber die explizite MachtOrientierung bei Rohr H). Er greift jedoch entschieden zu kurz, wenn er diese moralisch-philosophische Dimension vor allem als "tiefgreifende ästhetische Formierung des in diese [verschiedenen zeremoniellrelevanten] Kulturen eingebundenen Menschen" begreift (S. 358). Der ästhetische Aspekt ist einbezogen, jedoch nur insofern, als er, wie im gesamten 18. Jahrhundert vorherrschend, unmittelbar auf den sittlichen und vernünftigen bezogen wird: das Sittliche - zugleich das Christliche - und das Vernünftige ist zugleich unweigerlich das Schöne, das eine ohne das andere nicht denkbar. Rohr I. S. 267, 248 und 50 (Zitate).

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auf eine unvermeidliche Weise unterworfen wird".21 Wie er dies unternimmt - "nach geschehener reifflicher Überlegung, seine Handlungen nach einem gewissen Maaß [zu] determiniren" -, ist Thema von Rohrs Einleitung zu der Klugheit zu leben, Oder Anweisung, wie ein Mensch zu Beförderung seiner zeitlichen Glückseligkeit seine Actiones vernünfftig anstellen soll,22 Die innere Logik der Rohrschen Schriften tritt hervor: Der Unterricht von der Kunst der Menschen Gemüther zu erforschen (1713) soll die Fähigkeit jedes Individuums steigern, gute, vernünftige und nützliche Freundschaften zu gewinnen und gefährliche Feindschaften zu vermeiden, also die jeweiligen Beziehungen "zu meiner Absicht [zu] disponiren und also glücklich fort [zu] kommen".23 Die Einleitung zu der Klugheit zu leben möchte jedem vernünftigen und christlichen Menschen eine allgemeine "Geschicklichkeit" vermitteln, "seine Sachen, zu Beförderung seiner Glückseligkeit, auf das allerbeste und vollkommenste anzustellen".24 Die ökonomischen Schriften greifen die hau such-wirtschaftlichen Aspekte dieser Lebens- und Standesverbesserung auf.25 Als Germanus Constans befaßt sich Rohr 1717 mit einem noch elementareren Aspekt der 'zeitlichen Glückseligkeit' des (an dieser Stelle als wie üblich männlich erkennbaren) Individuums, nämlich Liebe und Ehe.26 Die Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafß Der Pnvat-Personen (1728) möchte in erster Linie dem vernünftigen Menschen in Gestalt des jungen Hofmanns Anleitung zur Lebensbewältigung und -Verbesserung am und um den Hof verschaffen. Die Herausgabe der Predigt des Luthergefährten Johannes Mathesius über den rechten Weingenuß (1738) gibt nicht Anweisung zum klugen Verhalten in einem bestimmten Lebensbereich, sondern zu einem alltäglichen Lebensaspekt, offenkundig nicht zuletzt aus persönlicher Erfahrung. Noch 1740, zwei Jahre vor dem Tod des Autors, steht die theologische Schrift Phyto-Theologia, Oder vernunfft- und schriftgemäßer Versuch, wie aus dem Reich der Gewächse die Allmacht, Weisheit, Güte und Gerechtigkeit des großen Schöpfers und Erhalters aller Dinge von den " 22

Rohr I. S. 399.

Rohr I. S. 400 (Zitat); Rohr: Klugheit zu leben (wie Anm. 16).

" Rohr: Unterricht (wie Anm. 17), S. 11. 24 Rohr; Klugheit zu leben (wie Anm. 16). S. 4. 2i Richarz: Oikos (wie Anm. 5). S. 183f. 26

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Germamis Constans: Neuer Moralischer Tractat von der Liebe gegen die Personen ändern Geschlechts, darinnen {...] die Regeln der Klugheit, so bey Liebes-Affairen vorzukommen pflegen, vorgestellet werden. Leipzig: J. Chr. Martini 1717. Rohr: Altes und Neues (wie Anm. 18), vgl, besonders die Vorrede und S. 82-91. Ein weiteres, von Rohr selbst angegebenes Publikationsmotiv ist hier kirchlicher Natur: Rohr möchte mit der Rückerinnemng an die Position eines intimen Luthergefahrten gegen Orthodoxie und Pietismus die lebenspraktische Aufgeschlossenheit des originalen Luther(tums) unterstreichen und damit zur Vermeidung weiterer Spaltungen im Luthertum seiner Zeit beitragen. Interessant ist, daß Rohr in diesem Zusammenhang sogar sehr weit geht, um die "Sünde Loths und seiner Töchter" zu entschuldigen: Sie "wußten" in einer außerordentlichen Situation "nicht, was sie taten" (ebd. S. 106f. [Kommentar auf der unteren Seitenhälfte]).

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Menschen erkannt [...] werden möge direkt in lebenspraktischem Zusammenhang. Die Auftragsarbeit des Verlegers möchte nicht nur psychologische Hilfe zur Erlangung wahrer christlicher Gemütsruhe leisten, sondern vermittelt auch wertvollste wissenschaftliche und praktische Elemente der Pflanzenkunde.28 Die übrigen Schriften Rohrs unternehmen im wesentlichen nichts anderes, als die lebenspraktischen Ratschläge des Autors jetzt an die Herrschaftsträger, die für die gemeine Wohlfahrt Verantwortlichen, zu richten und entsprechend staatlich-öffentlich zu adaptieren: 1718 die Einleitung zur Staats-Klugheit, die einschlägigen Schriften zur Oeconomia publica (statt zur Privat-Qeconomia), 1729 die Einleitung zur Ceremonial-Wissenschafft Der Großen Herren, usw. Bereits 1713 kündigte Rohr übrigens ein alle seine Bemühungen krönendes AbschJußwerk an, seine Grundliche und zum Nutzen des menschlichen Lebens eingerichtete Weli-Weißheit23 Zur Publikation dieses Werkes ist es nicht gekommen. Wäre sie erfolgt, hätte sich die Forschung möglicherweise leichter damit getan, die eigentliche Intention Rohrs zu erkennen, nämlich nichts anderes vorzulegen als eine mit Hilfe Wolffs im Ansatz auf neue Weise verwissenschaftlichte Version der eklektischen Klugheit zu leben und zu herrschen.

II

Im Falle der Beschäftigung Rohrs mit dem Zeremoniell erstreckt sich der Einfluß Wolffs allerdings nicht lediglich auf die Idee und das Konzept, "die zur Lehre des Wohlstands und Cerernoniel-Wesens gehörigen Anmerckungen [...] so viel als möglich in forme einer Wissenschafft zu bringen", d.h. in systematisch aufeinander bezogene "allgemeine Reguln und Lehr-S ätze" zu fassen, die "sichere Anleitung [zu] ertheilen" in der Lage sind.30 Vielmehr 28

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Erschienen Frankfurt und Leipzig; Michael Blochberger 1740, vgl, die Vorrede. Dieser Schrift Rohrs ging 1739 im gleichen Verlag voraus Friedrich Christian Leßer: InsectoTheologia, Oder wie man durch Betrachtung derer Insecten zur Erkenntnis und Bewunderung der Allmacht, Weißheit, der Güte und Gerechtigkeit des großen Gottes gelangen könne. Erneut versuchte Rohr übrigens dieses vermutlich von William Desham (Astro-Theologia, zuerst 1669[?J) stammende Konzept publizistisch-wirtschaftlich auszuschlachten: Am Ende der Vorrede (S, f5b]) kündigt er die Abfassung auch einer Minero-Theologia an, -Rohrs Phyto-Theologia befaßt sich u.a. (Kap, 4-7} mit dem Austausch von Pflanzen zwischen den Kontinenten, darunter Tabak, Kartoffeln usw., sowie den bestimmten Pflanzen zugeschriebenen medizinischen und (kritisch) mythischen Heilkräften. Rohr: Unterricht (wie Anm. 17). S, 285f. Vgl. die Untertitel der beiden Werke: (Rohr I: Einleitung [...], welche die allgemeinen Regeln [...] insonderheit dem Wohlstand nach von einem teutschen Cavalier in Obacht zu nehmen, vorträgt; Rohr II: Einleitung [.,.], die [...] die meisten Ceremoniel-Handlungen {.,.] vorträgt, soviel als möglich in allgemeine Regen und Lehrsätze einschlüßl), sowie Rohr I, Vorrede an den Leser, S. [4a] (erstes Zitat), S. 2-4, 18f.; Rohr II, Vorrede S, [2a]f. und [5b]f. In Rohr II. Vorrede S. [2a] auch der Hinweis auf die Anregung durch Christian Wolff: Vemünfftige Gedancken von der Menschen Thun

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greift Rohr auch Wolffs umfassenden Zeremonie- bzw. Zeremoniellbegriff auf. Zeremonie sind bei Wolff alle äußeren Zeichen, die auf die menschlichen Sinne einwirken und Prozesse der Einbildung und der Vernunft auslösen. Ihre moralische Relevanz ergibt sich aus ihrer Wirkung, nämlich ob sie fruchtbare, d.h. "zur Vollkommenheit unseres innerlichen und äußerlichen Zustandes nützliche" oder unnütze bzw. gefährliche Gedanken und Intentionen hervorbringen.31 "Vemünfftige" Zeremonien bilden somit unerläßliche Mittel zur menschlichen Vervollkommnung. "Unnütze Ceremonien, die ein bloßes SpielWerck sind, oder gar auch das [vernünftige] Vorhaben hindern, ja aus einem Irrthume herrühren", sind hingegen als schädlich zu verwerfen.32 "Eine besondere Wissenschafft von den Ceremonien" hätte dementsprechend zum Programm, sowohl Anleitung zur Erkenntnis der nützlichen Zeremonien als auch Regeln zur optimalen Anwendung und Nutzung dieser Zeremonien zur Verfügung zu stellen. Sie wäre "die Kunst", seine "freyen Handlungen" mit Hilfe der nützlichen Zeichen "vernünfftig zu regieren".33 Schon in diesem Ansatz steckt ein umfassendes Programm der Selbstdisziplinierung, wie Wolff anschaulich beschreibt: 1. Wenn man frühe erwachet, soll man bedencken, was den Tag über nothwendig zu Ihun ist, und was durch dessen Veranlassung sonst etwa noch vorfallen kann, 2. Hierauf soll man sich bemühen zu untersuchen, was eine jede von diesen Handlungen zur Vollkommenheit unseres innerlichen und äußerlichen Zustandes beytragen, oder auch wie sie selbiger nachtheilig seyn kann. 3. Wenn man schlaffen gehen will, soll man sich auf alles besinnen, was man den Tag über gethan und unterlassen hat, und endlich 4, untersuchen, wie viel wir dadurch zu Erhaltung unserer letzten Absicht beygetragen. Wenn man diese Arbeit unausgesetzt forttreibet, so wird sich die verlangte Gewohnheit bald geben.34 Entscheidend ist nun, daß Rohr dieses Konzept konkretisiert und damit zugleich verengt und erweitert. Statt von der Ceremonie spricht Rohr vom Ceremoniel. Das heißt, er benutzt eine zu einem spezifischeren Verständnis tendierende Kategorie. Worauf er sich konzentriert, sind die institutionalisierten, ausdrücklichen Zeichensysteme. In Verbindung damit, daß er seine Schriften bevorzugt an den Jungadel adressiert, richten sich seine Bemühungen demzufolge auf das staatlich-höfische und das kirchliche Zeremoniell. Diese Perspektive wiederum erlaubt es ihm, leicht auch herrschaftliche Aspekte des Zeremoniells zu thematisieren. Anders formuliert: In Wolffs Konzept kommt die Ceremonie lediglich als Element der Klugheit zu leben zur Sprache. Rohr hingegen bewahrt bzw. erschließt sich die Möglichkeit, das und Lassen (1. Auflage 1712). Kap. III. Paragraph 179 [richtig: Paragraph 176- 179, s.u.], 31 Chr. Wolff: Vemünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseligkeit. Ndr. der Ausgabe Frankfurt und Leipzig 1733. Hildesheim und New York 1976. S, 105, 32 Wolff: Vemünfftige Gedancken (wie Anm. 31). S. 107 und 108. 33 Ebd. S. 109. 3 " Ebd. S. 1051

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Zeremoniell auch in seiner Bedeutung für die Klugheit zu herrschen darzustellen. Aus dieser Doppelperspektive erwächst die Nachdrücklichkeit des Disziplinierungsaspekts im Entwurf Rohrs. Im ersten Werk, der Ceremoniel-Wissenschafft Der Privat-Personen, steht die privat-individuelle und daher die Perspektive der vernünftigen Selbstdisziplinierung im Vordergrund. Die Ceremoiüel-Wissenschafft lehret, wie man bey einem oder dem anderen, so in die äusserlichen Sinnen fällt, sich einer besondem Pflicht erinnern, und überhaupt seine Handlungen nach den Umständen der Oerter, Personen und Zeiten so einrichten soH, wie sie sich zur Sache schicken, und nach dem Urtheil der meisten oder vornehmsten vor wohlanständig gehalten werden.35

Wie bei Wolff werden also zwei Ziele miteinander kombiniert: der moralischvernünftig-aufklärende Zweck, zu lehren, "was" an empirisch gegebenen Zeremonien "vernünfftig oder unvemüniRig, tugendhaft oder lasterhafft" sei, und der praktisch-kluge Zweck, zu vermitteln, "was bey den äusserlichen Handlungen zu beobachten, damit man sich den Willen derer, mit denen man umzugehen hat, und sonderlich der höhern, gleichförmig und gefällig erweise".36 Dabei ist die Ausgangsbasis der Argumentation in Übereinstimmung mit den Prämissen der eklektischen Philosophie jedoch durchaus praktisch-realistisch. Rohr anerkennt anthropologisch-skeptisch die bloße "Opinion", die "Mode", die Vorlieben und Neigungen der Mehrheit der Menschen (oder eigentlich: der meinungsbildenden Minderheit) als realitätsprägende, deshalb anerkennungsbedürftige und Anpassung erfordernde Bestimmungsfaktoren.37 Er verzichtet darauf, die Abweichungen dieser Meinungen und Tendenzen von der christlichen Tugendlehre näher auszuloten, zu kritisieren und normativ zu überwinden, Stattdessen ist er bereit, in Kombination von Ansätzen der Tugendlehre, der Politikwissenschaft und der Zerernoniellkunde eine kritische Lehre vernünftiger, erfolgreicher äußerer Anpassung zu entwickeln und konzeptionell und sprachlich möglichst praxisnah zu fassen. Die primäre Perspektive dieser Ceremoniel-Wissenschaffi ist demzufolge vernünftige und kluge Selbstdisziplinierung, die Einübung reflektierten, bewußten, taktisch geschickten, akzeptablen, redlichen, akzeptierten, die eigenen Chancen optimierenden Auftretens und Verhaltens, ein 36

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Röhrt. S. i.

Ebd. S, 2.

Ebd. Vorrede, S. [lajf. und Kap. II: Von der Mode. S. 33-54. Die Vorrede an den Leser konstatiert nüchtern: "Nachdem sich die Galanterien, die Moden und WeltManieren bey der heutigen Welt fast über die göttlichen und natürlichen Rechte erheben wollen, und ein grosser Theil der Menschen sich mehr befleissiget, seine Handlungen nach dem Wohlstand und dem gefallen der Höhern einzurichten, als den Sätzen der Tugend-Lehre Folge zu leisten, so ist auch kein Wunder, daß so viel Autores [..,] sich angelegen sein lassen, mancherley hieher gehörige Schrifften auszuarbeiten". Diese Schriften seien jedoch noch wenig praxisgerecht, und zwar zumal für den jungen deutschen Kavalier; deshalb fühlt sich Rohr aufgerufen, seinerseits einen entsprechenden Versuch zu unternehmen.

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fundamentales individuell-soziales Modemisierungsprogramm, exemplifiziert und realisiert an allen, besonders aber den durch Zeremoniell bestimmten, $fl einem jungen, aufstrebenden Adeligen begegnenden Lebenssituationen. Gelehrt bzw. gelernt werden sollen die "manierliche Geberdung des Gesichts und Stellung des Leibes", die richtige Kleidung, "kluge Conversation, manierlicher Umgang, Dantzen, Briefschreiben, Complimens, Titulaturen"39 sowohl "bey [den] Höfen, als auch bey den geistl. [sie!] Handlungen [...], bey Visiten, Assembleen, Spielen, Umgang mit Dames, Gastereyen, Divertissements, Ausmeublirung der Zimmer, [...] Equipage u.s.w.".40 Angezielt wird aber nicht ein "affectirtes Wesen",41 wie es durch "allzu scrupulösfes] und allzu ceremonieusfes]" Verhalten entsteht;42 Es ist zwar gut, daß ein Mensch über seinen Respect halte, er muß aber auch nicht eben als Ober-Meister in Complimenten bekannt zu werden trachten; es ist wohl an dem, daß, wenn ein Mensch gantz ohne alle Ceremonien seyn, und nur durch Tugend und Geschicklichkeit emporkommen wolte, er einen gar außerordentlichen Grad dazu vonnöthen haben würde. Allein, so wenig man sogleich dieser Ursachen halber die äusserliche Höflichkeit zu verachten hat, so wenig muß man hingegen darinnen affectiren,43 Ferner gilt, daß "ein vernünfftiger Mensch" verpflichtet ist, seine Handlungen nicht allein nach den vernünffligen Reguln des Wohlstandes und des Hof-Ceremoniels einzurichten, sondern auch nach den Willen und denen hergebrachten Sitten der gemeinsten und geringsten Leute I...]. Ja er ist bißweilen genöthiget, manche Privat-Gebräuche den Maximen des Hof-Ceremoniels und manches einfältige und unvemünfltige Wesen, denen vemünfftigen vorzuziehen.4'1 Denn ungeachtet der Tatsache, daß es sich bei der Ceremoniel-Wissenschafft Rohrs auch um eine moralische Wissenschaft handelt, die eindeutig zu unterscheiden und danach zu handeln lehrt, "welche Handlung unsere wahre Glückseligkeit auf eine vollkommnere Art befördert",45 kommt es entscheidend doch auf den Erfolg an, den man durch seine Anpassung erzielen kann.

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Rohr I. S. 4f, (zum Verhältnis zu Tugendlehre und Politik) und Vorrede. S. [7a}f. (Adressierung der Schrift nicht an den lernunfähigen oder denjenigen jungen Herrn, der nicht mehr zu lernen braucht, sondern an den ebenso lernwilligen wie noch lernbedürftigen). : " Rohr I. Vorrede, S. [3a]. 40 Ebd. Titelseite (aus dem Untertitel). 41 Ebd. S. 26. 41 Ebd. 43 Ebd. S. 27, 44 Ebd. S. 29, '" Ebd. S. 30. Oberste Priorität nimmt nach den an dieser Stelle genannten Maßstäben Gottes Gebot ein.

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Wolfgang Weber Durch eine gemeine Beobachtung der eingeführten Ceremonien und angenommenen Gebräuche, befördert man manches Stück seiner zeitlichen Glückseligkeit; man erlanget hiedurch die Liebe und Hochachtung derer, bey denen man sich aufhält, und macht sich einen guten Nahmen, man wird vor einen klugen, manierlichen, gefälligen Menschen angesehen. Sind es höhere, deren Liebe wir theilhafftig worden, so kan man durch die Geschicklichkeit oder Willigkeit [!], die man bey denen Ceremonien erwiesen, öffters sein gantz zeitliches Gluck machen; sind es geringere, so haben wird doch den Nutzen davon zu erwarten, daß sie uns bey Gelegenheit eine oder die andere Gefälligkeit und Liebes-Dienste erzeigen, die uns ebenfalls angenehm sind,46

Auf diese Weise kommt es zu einem eigenartigen Nebeneinander von Hofbzw. Zeremoniellkritik im Namen christlicher Vernunft und gleichzeitiger Warnung davor, sich vor denjenigen, "die größtenteils unsere zeitliche Glückseligkeit befördern und zerstöhren können", kritisch zu exponieren.47 Rohrs Lösungsangebot ist lutherisch: gegen die Stimme Gottes im Menschen, das Gewissen, darf keinesfalls verstoßen werden, hier finden Anpassung und Kritikverzicht absolute Schranken, In Umständen, die "in Ansehung der göttlichen Gesetze gleichgültig", indifferent sind, ist aber "Respect vor [den] Landes-Herrschafften", also Unterwerfung unter den obrigkeitlichen Willen, die einzig richtige, vom Gewissen nicht nur zugelassene, sondern sogar vorgeschriebene Lösung.48 Welche Verhaltensrezepte Rohr im einzelnen vorträgt, kann hier nur exemplarisch skizziert werden. Im Hinblick auf das Gesicht "beruhet es zwar nicht in der Macht eines Menschen, sein Gesicht zu ändern, sondern er muß die Augen, den Mund, die Nase und die gantze Stellung seines Gesichtes behalten, wie sie ihm Gott geschaffen, es mag ändern Leuten gefallen oder nicht; jedoch kan man durch die Bemühung eine und die andere Geberde ändern, und durch öfftere Wiederhohlung eine die uns erstlich fremde und schwehr war, so angewöhnen, daß sie uns mit der Zeit eigentümlich wird".49 "Ein junger Mensch muß sich" dementsprechend "bemühen, die Falten seines Gesichts, soviel als möglich, so einzurichten, daß andere Leute nach der Beschaffenheit ihrer Urtheile, die sie insgemein zu fällen gewohnt sind, gütig davon urtheilen mögen".50

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Ebd. S. 29. Ebd. S. 31; zur Hofkritik i.e, S. vgl. vor allem S. 201-244. Ebd. S. 3 If. Im übrigen sind wie o.a. die "Opinion11 der Mitmenschen und das eigene wohlverstandene Interesse, welches in "wahre[r] Gemüths-Ruhe und Zufriedenheit" gipfelt, entscheidend (S. 32f.). "Diejenigen, die ändern Gesetze vorschreiben, können nicht wohl vertragen, wenn ihnen andere Lebens-Regeln vorschreiben, noch weniger aber leiden, wenn man über ihre Handlungen critisirt" (S. 23). Ihre "ungebundene Freiheit, darinnen sie sich befinden, [macht] sie noch viel fähiger, denn ihre Unterthanen, in den Irrthümern zu verharren" (S. 24). Es lohnt sich daher weder für Rohr, "ihre lasterhaften Handlungen aufzuzeichnen" (ebd.), noch ist dem Höfling zu empfehlen, sie zu geißeln. Rohr I. S. 190. Ebd. S. 189.

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Gefragt ist generell ein "freyes" bzw. "favorables" Gesicht.51 Es soll kein "stetswährend Lächeln" zeigen, aber "auch nicht betrübt, finster und saturnisch", d.h. melancholisch sein,52 Vielmehr soll es "in gute[r] humeur" sein, "und bey allen Fällen und Gesellschaften eine gute Contenance zu halten wissen",53 Diese Ausstrahlung ist auf natürliche Weise zu veranstalten; sie darf nicht affektiert, als "gewaltsame Nachahmung", dargeboten werden: "Gegen einem [sie!] großen Minister, dem etwas Hohes aus den Augen leuchtet, haben die Leute wegen seiner gravitaetischen Mine, eine Ehrfurcht, und hingegen den ändern, der ihm bey seiner geringen Bedienung nachthun will, halten sie vor einen Phantasten,"54 Dem Postulat, "sich angelegen seyn zu lassen, diejenigen Minen anzunehmen, die sich vor seine Umstände, und nach seiner Lebens-Art schicken, oder dem Willen seiner Obern und Vorgesetzten gemäß sind", entspricht die Forderung nach Verheimlichung aller wahren Gefühle: Man lerne den im Hertzen verborgen liegenden Affect, und der sich gerne in den Zügen des Gesichts zu äußern pflegt, künstlich verbergen, und solche Minen an sich zu nehmen, die ihm entgegen gesetzt. Die Feinde blicke man mit freundlichen Geberden an, und denen Frauenzimmer, vor die man in seinem Hertzen Passion heget, begegne man kaltsinnig, damit andere nicht klug aus uns werden. Diese Reguln gehören zu der Vorstellungs-Kunst, die allenthalben, insonderheit aber an den Höfen, so gar sehr nötig ist.55 Verstellung bzw. umgekehrt die von Rohr 1713 behandelte Kunst der Menschen Gemüther zu erforschen sind also generelle gesellschaftliche Verhaltensmaximen, keinesfalls auf den Hof beschränkte Überlebensregeln. "Die Geberden [...] stehen eher in unserer Gewalt." Auch sie "muß man nach denen Umständen der Zeit, des Ortes, und der Personen, bey denen man sich aufhält, weißlich zu lencken und 201 verändern wissen".55 Wie im Falle des Gesichtsausdrucks ist Üben vor dem Spiegel in der eigenen Kammer anempfohlen. Das Lachen hat stets mäßig zu bleiben; arn lauten Lachen "erkennet man insonderheit das Land-Frauenzimmer".57 Die Bewegungen der Hände dürfen weder affektiert oder pedantisch noch ungeschickt-unkontrolliert sein. Auch in der Art des Gehens ist die richtige, den Umständen entsprechende Weise zu beachten. Zur angenehmen Miene und dem favorablen Körperverhalten hat das angepaßte Sprechen zu treten. Zu lernen sind die Modellierung der Stimmhöhe und Lautstärke, der optimale Sprechstil einschließlich der Kunst, an der richtigen Stelle Komplimente einfließen zu Ebd. S, 184 und 189. Ebd. S. 184. n Ebd. 54 Ebd. S. 186. 55 Ebd. S. 191, Rohr entwickelt hier praktisch eine Gegenstrategie zu den von ihm (in: Kunst der Menschen Gemüther zu erforschen) entwickelten Durchschauungstechniken. 56 Ebd. S. 190. " Ebd. S. 196 '

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lassen, sich kurz zu fassen, durch längere Ausführungen zu glänzen oder besser zu schweigen.38 Auch in der Kleidung ist eine gewisse Anpassung an die Mode unvermeidlich, weil eine völlige Verweigerung in allgemeine Verachtung und Verspottung fuhren würde. Nach Rohr besteht sogar eine religiöse Verpflichtung dazu, "eine unschuldige und zuläßige Mode" mitzumachen. Als ein Christ muß er {der Mensch] sich bemühen, seinen Nächsten zu gefallen, im Guten und zur Besserung. [.,.] Er muß seinen Nächsten keinen Anlaß geben zum Ärgerniß, und alle Gelegenheit vermeyden, daß der Nächste nicht in sündliche Beurtheilung seiner Handlungen verfalle, als welches unfehlbar geschehen würde, wenn er sich bey einer und der ändern indifferenten äußerlichen Handlung von ändern Leuten gantz und gar absondern wolle.53 Ein vernunfftiger Mensch giebet der allgemeinen Opinion [sogar] auch so viel nach, daß er bißweilen bey dem Mode-Wesen {.,.] einen kleinen Irrthum der Wahrheit, und etwas unvollkommners dem vollkommnern vorziehet. Er läßt, wiewohl ungerne, manche gute und nützliche Mode fahren, und beliebet davor eine andere, die nicht so nützlich, nicht so leicht nicht so bequem, nicht so wohlfeil und nicht so wohl anständig, bloß darum, weil er denjenigen folgen muß, an deren Gnade, Freundschafft und Hochachtung ihm gar viel gelegen, oder in deren Händen ein guter Theil seiner äußerlichen Glückseligkeit beruhet.60

Problematischer ist das Titel- und Rangwesen.61 Selbstverständlich, jeder verfugt über das Recht, mit dem jeweils eigenen, seinem Stand und Erwerbszweig entspringenden Titel angesprochen zu werden. Wer sich gesellschaftlich anpassen will, um sein Interesse zu fordern, wird darüberhinaus gerne bereit sein, je nach den Umständen auch weitere Ehrenprädikate zuzugestehen. Der Zeremonielltheoretiker Rohr registriert jedoch eine ausgeprägte Titel- und Prädikatssucht, die aus unzulässigem Ehrgeiz und verwerflichem Eigennutz entstanden ist und sich als Nachahmung der Höheren durch die Geringeren durch die gesamte Ständegesellschaft hindurchzieht. Diese Titelsucht ist zu verwerfen, weil sie ein gesellschaftlichmoralisches Grundproblem verschärft, nämlich den mangelnden Zusammenhang von Tugend und Leistung mit äußerlicher Ehre und gesellschaftlichem Aufstieg. Der Junkersohn Rohr vertritt an dieser Stelle ein bürgerliches Leistungs- und Erwerbsprinzip. Vor Erwerb eines Amtes bzw. eines mit diesem Amt verbundenen Titels soll jeder selbstkritisch seine Eignung dafür prüfen, einschließlich seiner finanziellen Befähigung zu einer entsprechenden Lebensführung. Und konsequent erweise muß derjenige Angehörige des adeligen Standes und entsprechende Titelträger, der "nicht mehr in der Lage ist, einen adeligen Stand zu fuhren", im Notfall "Amt, Gradus academicos, Verrichtungen" zu seinem Lebensunterhalt wählen, "die biß anhero unter dem ·'"

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Vgl. ebd. besonders S. 140-178 und 194f.

Ebd. S, 53. Ebd. S. 53f. Ebd. S. 54-139,

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Adel nicht Mode gewesen, und man bürgerliche zu nennen pflegt".62 Obwohl es auf der einen Seite also nicht angeraten ist, sich der Tendenz der Welt zur Aneignung immer höherer Titel zu entziehen, hat man im Hinblick auf seinen Erwerb, die Sicherung seiner materiellen Basis, realistisch und redlich zu bleiben. Hier gilt, daß "man niemals schuldig [ist], den [sie!] Wahn der Leute zu folgen, wenn er uns an unserer Glückseligkeit und Vollkommenheit hinderlich".63 "Bey Beurtheilung der bürgerlichen Verrichtungen, bürgerlichen Dignitäten und Ämter, stecken greuliche Irrthümer, die aus Unwissenheit, aus einer törichten Mode-Sucht und aus Hochmuth ihren Ursprung herleiten."64 Viele bürgerliche Verrichtungen sind in Wirklichkeit der "GrundStein" für adelige Würde61 - kein Zweifel, hier muß sich auch Rohr selbst verteidigen, dessen Vater das familiäre Gut verlor und den Sohn dadurch in den Verwaltungsdienst und die Schriftstellerei trieb.66 Ambivalenz kennzeichnet ebenso den Umgang mit den Rängen und den Vorrechten, die aus dem Rang fließen. Der vernünftige Mensch gesteht allen Personen Vorrang z.B. bei festlichen Aufzügen, in Sitzordnungen usw. zu, wenn diese aufgrund ihres Standes, ihrer besonderen sozialen Bedeutung für einen selbst (Freunde, Verwandte, Gönner) oder ihrer Verdienste besondere Ehrerbietung erwarten dürfen. Er gewährt diese Vorzüge klugerweise auch denjenigen, die "auf eine oder die andere Weise, durch sich oder die Ihrigen, unserem Glück einen gar merklichen Abbruch thun könnten oder würden, wenn wir in weitläufige Irrungen mit ihnen gerathen selten".67 Schließlich wird er sich ohne Disput auch problematischen öffentlichen Rangordnungen fugen, um dem etwa anwesenden Pöbel keinen An] aß und kein Beispiel der Aufsässigkeit zu bieten. Diese "feine äußerliche Zucht"68 bedeutet jedoch keine Aufgabe des Rechts zur Kritik an der mangelnden Übereinstimmung der empirischen Rangordnungen mit der idealen Verteilung der Ränge nach Verdienst und Tugend, Wie ist es aber dann dem Vernünftigen möglich, in einer Welt, die "mehrentheils auf äusserlich Wesen, auf Reichthum, auf eine kostbare Lebens-Art, und vornehmlich aufpressen und SaufFen"69 sieht, zu überleben? 62 63

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Ebd. S, 90. Ebd. S. 93f. Der Autor fährt fort: "Es ist besser, sich durch Wissenschaften, Gelehrsamkeit und Geschicklichkeit, so mancher Unwissende bürgerlich nennen möchte, ein Stück Geld zu erwerben, und dabey sein notdürffiig Auskommen zu haben, als seinen Juncker zu machen, und bey der Armuth und Unwissenheit bey ändern, das GnadenBrod zu speisen, [oder] [...] als ein Cavalier de Fortune, und wie ein inutile terrae pondus in der Welt zu leben11. Ebd. S. 94. Ebd. S. 95. Ebd. Vgl. oben Anm. 8. Rohr I. S. 120. Vgl. auch die weitere Beobachtung S. 115f.; "Je schlechter der Rang bey einigen Leuten, je sorgfältiger sind sie in dessen Bewahrung und Verteidigung, und je schärffer in dessen Abforderung". Ebd. S. 111. Ebd. S. 127,

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Die Antwort heißt erneut Selbstdisziplinierung und weitestmögliche Anpassung, im Extremfall Rückzug in die Weltabgeschiedenheit bzw., im Fall des verstoßenen Höflings, die Auswanderung an einen fremden Hof. Heuchelei, Schmeichelei, der Verzicht auf Widerlegung falscher Anschuldigung und Widerstand gegen unverdiente Zurücksetzung sind also unabdingbar; "alles dieses ist mehr als zu wahr, allein es ist eine allgemeine Comoedie, wo man auf dem Theatro der Welt, wenn einen die Reyhe trifft, nicht umhin kan, seine Person so gut zu spielen, als möglich."70 Diese Perspektive, eine durch Zeichen, Zeremonielle und Rituale hierarchisch strukturierte und explizierte, geordnete, Anpassung fordernde und freilich nicht durchweg erfolgreiche Nutzungsmöglichkeiten bietende Welt, führt zur zweiten hier wenigstens kurz zu beleuchtenden Perspektive Rohrs, nämlich derjenigen der Herrschaft. Rohrs Ceremoniel-Wissenschafft Der Grossen Herren ist vor allem Herrschaftswissenschaft, Wissenschaft der Herrschaft, Wissenschaft für die Herrschaft, Die wichtigste Vorentscheidung dieses Zusammenhangs ist bereits gefallen: Das Zeremonialwesen gehört, wie wir gesehen haben, grundsätzlich zu den christlich indifferenten Dingen, den Adiaphora. Wir, die Untertanen, sind aber "im Gewissen verbunden, in allem demjenigen, was nicht wider Gott ist, ihnen [den hohen Landes-Obrigkeiten] Gehorsam zu leisten11.71 Das heißt, im Zeremoniell ist den Obrigkeiten ebenso grundsätzlich Gehorsam zu erweisen, und umgekehrt können die Obrigkeiten das Zeremoniell mit höchster Legitimität als Herrschaftsmittel zum Einsatz bringen. Das Staats-Ceremoniel schreibet den äusserlichen Handlungen der Regenten, oder derer, die ihre Personen vorstellen, eine gewisse Weise der Wohlanständigkeit vor, damit sie hierdurch ihre Ehre und Ansehen bey ihren Unterthanen und Bedienten, bey ihren [...] Anverwandten und bey ändern Mitregenten entweder erhalten, oder noch vermehren und vergrössem. Die Staats-Ceremoniel-Wissenschafft reguliret die Handlungen der grossen Herren, die sie in Ansehung ihrer selbst, ihrer Familie und ihrer Unterthanen vornehmen, und setzet auch dem, womit sie andere Fürsten oder ihre Gesandten beehren, eine gewisse Ziel und Maaße.13

In dieser Ausgangsdefinition scheint das staatliche Zeremoniell der Disposition der Machthaber zunächst weitgehend entzogen. Es ist in seinen Grundzügen historisch vorgegeben, stützt sich letztlich auf einen normativen 70

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Ebd. S. 143. Vgl. die ausfuhrliche Erörterung der Notwendigkeit für den "disgracirten" (S. 134) Höfling, sich auf indirekte Versuche zur Verbesserung seines Schicksals zu beschränken, in Geduld zu wappnen ("Der Hof kann nicht vertragen, wenn man stürmt, tobt, lästert und poltert [...], eine Herrschafft hat allezeit Mittel und Wege, einem mißvergnügten Hof-Mann, ihre schwere Hand empfinden zu lassen, oder seiner wohl gantz und gar loß zu werden"; S. 133), oder "sein Glück anders wo" zu suchen: "Das Vaterland ist allenthalben wo man seyn sol" (S. 137). Im Kapitel "Vom Gottesdienste" (Rohr I. S. 245-278) betont Rohr in Übereinstimmung mit Luther die Äußerlichkeit allen Zeremoniells im Hinblick auf die jenseitige Glückseligkeit. Rohrl. S. 31. Rohr H. S. If.

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Konsens der Vernünftigen, vor welchem es sich auch zu bewähren hat, unterliegt dabei kritischer Regulierung sogar durch eine einschlägige Wissenschaft, und bindet nicht zuletzt auch die Regenten selbst. Tatsächlich treten diese limitierenden und kritischen Aspekte jedoch im folgenden immer stärker in den Hintergrund. Sie werden zu funktionalen und systemoptimierenden Faktoren, insbesondere, weil Rohr im Hinblick auf die Masse der Untertanen eine strikt herrschaftsorientierte Position vertritt. Die "vemünffiigen" Zeremonien sind diejenigen, die "den Unterthanen [..,] eine besondere Ehrfurcht und Ehrerbietung gegen ihre Landes-Herrn" verschaffen.73 Sollen die Unterthanen die Majestät des Königs erkennen, so müssen sie begreiffen, daß bey ihm die höchste Gewalt und Macht sey, und demnach müssen sie ihre Handlungen dergestalt einrichten, damit sie Anlaß nehmen, seine Macht und Gewalt daraus zu erkennen. Der gemeine Mann, welcher bloß an den äußerlichen Sinnen hangt, und die Verminflt wenig gebraucht, kann sich nicht allein vorstellen, was die Majestät des Königs ist, aber durch die Dinge, so in die Augen fallen, und seine übrigen Sinnen rühren, bekommt er einen klaren Begriff von seiner Majestät, Macht und Gewalt,74

Indem Rohr sich an dieser Stelle ausdrücklich auf Wolff bezieht, macht er deutlich, daß auch er dem Grunddilemma der deutschen eklektischen Philosophie und der deutschen Aufklärung verhaftet bleibt: daß die Furcht vor dem Pöbel größer ist als der obrigkeitskritische und innovative Impuls, und damit im Zweifelsfall Unterordnung eher empfohlen wird als couragierte Kritik. Rohr macht diesen Zusammenhang durchaus explizit. Wenn die Bedeutung bestimmter Zeremonielle nicht einsichtig ist, "so müssen sie [diejenigen, die über dieses Problem kritisch nachdenken] doch nicht gleich Schlüssen, daß sie keine Bedeutung habe [n]", d.h., sie müssen ihnen im Interesse der Herrschaftsordnung dennoch Gehorsam leisten.75 Reformen nach dem Maßstab der Vernunft z.B. bei zeremoniellen Rangordnungen wären vielfach notwendig; "doch diese Arbeit würde gar verhaßt und unangenehm seyn, auch sehr schlechten Nutzen haben, es würde deswegen doch alles bleiben wie es zuvor gewesen". Mit anderen Worten, es ist auf alle derartigen Versuche von vornherein zu verzichten,76 Die wie im gesamten Werk üblich in Form einer Tatsachenfeststellung vorgebrachte Aufforderung an die Untertanen, vorauseilende Gehorsams- und Zuneigungsbekundungen an die Obrigkeit abzugeben - "Devote Unterthanen thun aus einem eigenen und freywilligen Triebe mehr, als von ihnen könte gefordert werden" - bezieht sich auch auf Ebd. S. 2. Zur Unterscheidung völkerrechtlich abgesicherter, als FundamentaJgesetze eines Landes verfestigter und - im Gegensalz dazu - von den Herrschenden frei gestaltbarer Zeremonielle vgl. die Erörterungen S, 6f. 7 " Ebd. S. 2. 75

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Ebd. S, 4, Ebd. S. 270. Vgl. auch S. 322f. zur Verpflichtung des Pastors, der einem verstorbenen Fürsten eine Leichenrede hält, zwar "was unrecht" war im Leben des Fürsten, "nicht zu Recht und Tugend [zu] machen", aber doch "sein Werck [...] aus schuldiger Danckbarkeit gegen Gott, und hertzlicher Liebe gegen die hohe Obrigkeit (zu) preisen".

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die selbsternannten Hochburgen der Vernunft, die Universitäten.77 Zwar ist richtig, daß die einen Feste (Divertissements), "die an den Europäischen Höfen angestellet werden, unschuldiger, und den göttlichen und natürlichen Rechten nach zuläßiger [sind], als die ändern".78 Rohr plädiert dennoch dafür, "die mit einigen Unkosten vorgenommene Ergötzlichkeiten, die man bey ihren Unterthanen mit allem Recht zu mißbilligen hätte, einem grossen Herren [nicht] zu verdencken".79 Denn diese Erquickungen sind nicht nur angesichts der Bürde der Herrschaft notwendiger Ausgleich und unverzichtbares Standesmerkmal, Es geht vielmehr auch um "politische Absichten, [.,.] die Liebe der Höhern und des Pöbels [zu] erlangen, weil die Gemüther der Menschen bey dergleichen Lustbarkeiten, die den äusserlichen Sinnen schmeicheln, am ehesten gelencket werden können",80 Besondere Bedeutung kommt dabei naturgemäß kostenlosem Eß- und Trinkgenuß zu, "weil der größte Theil des Pöbels in Belustigung des Geschmacks, und in Fressen und Sauffen sein Vergnügen findet".81 Wenn also die Zeremonielle "zur Etablirung der völligen Subordinationen"82 dienen, kommt es auf die Staats- und herrschaftsrationale Ausnutzung der fürstlichen Zeremoniellkompetenzen an. Welche Techniken und Perspektiven zieht Rohr hierbei explizit oder implizit in Betracht? Ohne auch hier auf Einzelheiten eingehen zu können: Es geht um die Errichtung einer speziellen Zeremoniellverwaltung und die Einstellung von Zeremoniellbeamten; die geschickte Distanzierung, Isolierung, Selektion und Einbindung der Gleichgestellten, Untertanen und Fremden durch vielfaltige, hochkomplexe Zeremoniellvorschriften; den Einsatz des Zeremoniells zur Verstärkung

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Ebd. S. 726f. Veranstaltet werden (sollen) akademische Festfeiern zu Ehren des Landesherrn; "eine [weitere] gewisse Art der Devotion" (S. 728) ist die untertänige Bitte an den jungen Prinzen, das (Ehren-)Rektorat der Universität zu übernehmen. Die von Rohr ersehnten devoten Unterthanen "übergeben", sofern sie Stadtbewohner sind, "nicht allein, dem Ceremoniel nach, die Schlüssel zu ihren Thoren, sondern auch zugleich mit ihren Hertzen, und die Schlüssel zu allen ihren Schätzen, wenn es ihre Herrschaften verlangen" (S. 726f.). "Bey den Land-Tags-Bewilligungen erzeiget sich ihre Liebe und Zuneigung gegen ihre Herrschafft so deutlich, als bey einer anderen Gelegenheit. Sie sind willig und bereit, diejenigen Summen Geldes und Praestationen, so die Landes-Herren ihnen abfordern, zu versprechen und abzutragen, weil sie sattsam versichert sind, daß sie zu nichts anders angewendet werden, als zu demjenigen, was das Heyl und die Wohlfarth des Landes und der Unterthanen unumgänglich erfordern. [,..] Sollen einige Fundamental-Gesetze des Reichs, oder die Verfassung des Landes, das Pouvoir der Landes-Herren in einen oder dem ändern Stück einschräncken und ihnen die Hände binden, so gehen sie bißweilen von diesen Grand-Gesetzen in etwas ab, aus besonderen Vertrauen zu deren liebreichen und weisen Regierung, und ertheilen ihnen in manchen Puncten mehr Macht und Autorität, als ihre Vorfahren gehabt" (S. 730f). Ebd. S, 733, Ebd. S. 732. Ebd. S. 733f. Ebd. S, 734.

Ebd. S. 16.

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von systemkonformem Ehrgeiz und Karrierestreben; die Bestärkung der Devotion der Untertanen durch Einfuhrung neuer Zeremonielle bzw., noch effizienter, Veranlassung der Untertanen, untereinander um raffinierteste Gehorsamsbekundungen gegenüber der Obrigkeit zu wetteifern; die Demonstration herrschaftlicher Verfügung selbst über die Zeit, indem man durch Zeremonielle "auf gewisse Maaße die Nacht in Tag und den Tag in Nacht verwandelt";83 die demonstrative, willkürliche Gewährung von Gnade und Ungnade mit Hilfe des Zeremoniells und plakativ im Zeremoniell; die an Zeit und Umstände angepaßte Demonstration von Luxus oder Bescheidenheit; den Erwerb der Volksgunst durch Anpassung an die Kleidungs- und sonstigen Gewohnheiten des Volkes; die "besondere Politique" der Fürsten, sich abends in den Residenzstädten oder auf dem Lande unters Volk zu mischen und dessen Auffassungen und Verhalten heimlich "aus[zu]kundtschaffien";84 die regelmäßige, effektvoll inszenierte Abhaltung von Audienzen; demonstrative persönliche Einweihung von Gebäuden, Straßen und Brücken; die Errichtung von Statuen der Herrscher an zentralen Stellen des Landes; das Herumfuhren der jungen Prinzen oder Prinzessinnen im Land und die Zurschaustellung frischgeborener Fürstenkinder zur Erzeugung sentimentaler Loyalität usw. 83

III In knappster Zusammenfassung unserer Befunde lassen sich damit folgende abschließende Feststellungen treffen: 1. J.B. von Rohrs Ceremoniel-Wissenschafß zielt als praktische KJugheitswissenschaft auf die Integration aller Mitglieder einer gesellschaftlichstaatlichen Ordnung, wenngleich das von ihr angesprochene Individuum wie in der gesamten politischen Ideengeschichte der Frühen Neuzeit ausschließlich männlichen Geschlechts und vergleichsweise jung ist,86 Zeremoniell konnte (und kann) dementsprechend tatsächlich als gesamtgesell -

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Ebd, S. 18f. "' Ebd. S, 33. 85 Eine systematische Analyse dieser Herrschaftstechniken fehlt bisher; ich beabsichtige, sie an anderer Stelle zu liefern. 86 Genau genommen, entwirft Rohr zunächst Lebensbewältigungsstrategien für Männer, die in einer saturierten und abweisenden Welt (zu Beginn des 18. Jahrhunderts sind die demographischen Lücken wieder aufgefüllt, welche das 17. Jahrhundert schlug; die lukrativen Positionen des Staates sind vielfach an bürgerliche Juristen vergeben, die im Laufe des 18. Jahrhunderts wieder zurückgedrängt werden) gegen harte Konkurrenz erst noch ihr Auskommen suchen müssen. Vermutlich gerade im Hinblick auf diese besondere Situation fällt es ihm vergleichsweise leicht, die Verfolgung des Eigennutzes von hemmenden Vorschriften weitgehend zu befreien.

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schaftliches Integrationsinstmment aufgefaßt werden. Die eingangszitierte Vermutung von Monika Schlechte erfährt also Bestätigung.87 2. Die angestrebte Integration des Individuums in eine gegebene gesellschaftlich-staatliche Ordnung wird von Rohr jedoch in höchst modern anmutender Weise als komplexer Prozeß von individueller Selbst- und herrschaftlicher Fremdbestimmung gedacht und dadurch unzweifelhaft in seiner Effizienz erheblich gesteigert. 3. Rohrs Ceremoniel-Wissenschqfft liefert damit nicht nur einen unschätzbaren intentional en Quellenbeleg für alle diejenigen herrschaftlichdisziplinierenden Funktionen des Zeremoniells, die Norbert Eh'as und seine Anhänger im Kontext des Hofes Systemanalysen zu rekonstruieren im Begriff sind. Vielmehr geht dieser Entwurf über Elias hinaus, indem er auch der (gesamtgesellschaftlich angelegten) Sozialdisziptinierungstheorie Oestreichs zurechenbare Elemente aufweist und selbst das (ebenfalls umfassend gedachte) Rationalisierungskonzept Max Webers unterstützt: Nicht nur entspringen viele Formen des Zeremoniells gezieltem Herrschaftskalkül, sondern auch der Umgang der Betroffenen mit diesen Formen erfolgt vielfach rational und verstärkte die Tendenz zu rationalem Verhalten. 4. Soweit bisher erkennbar, fand Rohrs Entwurf außerhalb Deutschlands nirgendwo ein Äquivalent. Wir haben damit eine neue Bestätigung für einen historischen Sachverhalt vor uns, der bisher oft übersehen wird: In der Mitte Europas, im Reich, vollzog sich die gesellschaftlich-politische Entwicklung zur Moderne zwar deutlich langsamer als an der westlichen europäischen Peripherie. Die sich überlappenden, vielfältigen Einflüsse aus allen Teilen Europas führten jedoch zu einer äußerst reichen Ideenproduktion, in der europäische Ansätze bisweilen so verdichtet zu werden vermochten, daß die Rezeption nahezu zur originären Leistung gesteigert werden konnte.

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S. oben. Systematische Erörterungen zur gesamtgesellschaftlichen Repräsentationsund Integrationsfunktion des Staatszeremoiüells finden sich z.B. bei Jürgen Hartmann: StaatszeremonieU. Köln u.a. 1988. Kap. I. Grundlagen des Staatszeremoniells, S. 170.

Volker Bauer

Zeremoniell und Ökonomie Der Diskurs über die Hofökonomie in ZeremonialWissenschaft, Kameralismus und Hausväterliteratur in Deutschland 1700- 17801

In Gustav Friedrich Wilhelm Großmanns Schauspie! Nicht mehr als sechs Schüsseln aus dem Jahre 1780 kommt es zu einem Konflikt zwischen zwei Ehegatten. Das Paar streitet über die Anzahl der Schüsseln, die für ein Mahl mit adligen Gästen gereicht werden müssen. Während der Ehemann, der bürgerliche Hofrat Reinhard, meint, sechs Schüsseln seien genug, besteht seine adlige Gemahlin, die er laut Ehevertrag mit "Ihr Gnaden" anzureden hat, auf deren achtzehn. Als die Frau nachgibt, entspinnt sich folgender Versöhnungsdialog: Hofrath R, Du wolltest dein verdammtes steifes Cereinoniel zum Teufel werfen? Eines deutschen Mannes deutsches Weib seyn, auf Du und Du? Hofräthinn. Das will ich, von ganzer Seele will ich est Hofrath R. Schlag ein! und laß uns bey bürgerlichen Sitten und sechs bezahlten Schüsseln glücklicher seyn, als Ihro Hochwohlgebornen Gnaden bey sechszehn Ahnen und achtzehn geborgten Schüsseln,2

Schon diese kurze Passage verdeutlicht, daß es hier nicht einfach um die mehr oder weniger üppige Bewirtung adliger Gäste geht. Vielmehr verbirgt sich hinter der Entscheidung für sechs oder 18 Schüsseln die grundsätzliche Frage danach, ob die familiäre Geselligkeit des Paares eher dem bürgerlichen oder dem aristokratischen Modell folgt. Über das Problem der Sparsamkeit und der Wirtschaftsgesinnung hinaus werden auch Umgangsformen zur Sprache gebracht; offensichtlich sind Infbrmalität und Sparsamkeit einerseits und Zeremonialität und Neigung zu conspicuous consumption andererseits miteinan-

Der vorliegende Aufsatz entspringt nicht der hier dokumentierten Tagung, sondern einem Vortrag im Rahmen des Marburger Graduiertenkollegs 'Kunst im Kontext'. Er geht zurück auf die Thesen meiner Dissertation Cameralism and Court. The German Discourse on Court Economy in the 18th Century, die ich am 11. Oktober 1993 vor einer Jury am Europäischen Hochschulinstitut Florenz verteidigt habe. Ich danke den Herausgebern dieses Tagungsbandes ganz besonders für die Aufnahme meines verspäteten Beitrags. Gustav Friedrich Wilhelm Großmann: Nicht mehr als sechs Schüsseln. Ein Familiengemälde in fünf Aufzügen. o.O, 1782. S. 26.

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der verknüpft. Letztlich wird in dem Drama also um den Primat einer ökonomischen oder einer repräsentativen Rationalität gerungen. Mutatis mutandis findet sich eine ähnliche Konstellation wie bei den Reinhards im Reich des 18. Jahrhunderts auch auf einer ungleich folgenschwereren Ebene, nämlich im Gefüge seiner Fürstenstaaten. Auch dort gab es zwei gegensätzliche Positionen, was die Maßstäbe wirtschaftlichen Handels angeht. Auf der einen Seite standen Fürst und Hof. Ihre gesellschaftliche raison d'etre bildete die Repräsentation politischer Herrschaft und sozialer Überlegenheit mithilfe demonstrativen Konsums. Dies geschah ohne Rücksicht auf finanzielle Voraussetzungen und wirtschaftliche Folgen, d.h. durch die Verletzung der uns geläufigen Regeln ökonomischen Handelns.3 Auf der anderen Seite war die jeweilige territoriale Finanzverwaltung bemüht, gerade durch die Anwendung dieser Regeln Geld heranzuschaffen oder einzusparen. Dabei stellte der Bedarf des Hofes nur einen unter mehreren Ausgabeposten dar und nicht unbedingt den mit höchster Priorität. In den Worten von Norbert Elias gestaltete sich die problematische Beziehung dieser beiden Gruppen, die dennoch funktional aufeinander angewiesen waren, dergestalt, daß die Personen in der an Machtchancen reicheren, übergeordneten Position an die Verfolgung einer durch den Primat von Rang und Status bestimmten Ausgabestrategie gebunden waren, die Personen in der an Machtchancen ärmeren, untergeordneten Position dagegen, soweit es bei ihrer relativ machtärmeren Position möglich war, an die Verfolgung einer durch die Einnahmen ihres Herrn und Meisters bestimmten Ausgäbest rategie,"

Als Illustration für diesen Gegensatz mag die Krönung des bayerischen Kurfürsten Karl Albrecht zum Kaiser Karl VII. 1742 in Frankfurt genügen. Als sie stattfand, war der Wittelsbacher bereits militärisch geschlagen und auch politisch am Ende; dennoch wurde das einschlägige Zeremoniell ohne finanzielle Kompromisse durchgeführt, und Karl selbst stellte zufrieden fest: Alles ist darüber einig, daß keine Krönung jemals herrlicher und glänzender war als die meine, der Luxus und die Verschwendung, die sich an allem und jedem kundtaten, überstiegen alle Vorstellung,5

Vgl, dazu folgende klassische Studien; Thorstein Veblen: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen. Köln u. Berlin 1958; Werner Sombart; Luxus und Kapitalismus. München u, Leipzig 1922; Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen 1976. S. 651; Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Frankfurt a.M. 1983, S, 63ff. Georges Bataille: Kommunismus und Sozialismus, S. 258f. In: Ders.: Das theoretische Werk, Bd. I. Die Aufhebung der Ökonomie. München 1975. S. 237-288. Elias: Die höfische Gesellschaft (wie Anm. 3). S, 425. Karl Theodor Heigel (Hg.): Das Tagebuch Kaiser Karl's VII. aus der Zeit des österreichischen Erbfolgekriegs, München 1883. S, XVIII u. 51.

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Als der Kaiser dies in sein Tagebuch notierte, hatte er sämtliche Ressourcen seiner Machtbasis Bayern an seine Kriegsgegner verloren, und man kann sich leicht ausmalen, wie diese Bemerkung in den Ohren eines seiner Finanzbeamten geklungen haben mag, der sich an den Regeln der zeitgenössischen kameralistischen Finanzwissenschaft orientierte. Sie wurden u.a. postuliert in Georg Heinrich Zinckes Grund=Riß einer Einleitung zu denen CameralWissenschaffien, dessen erster Band ausgerechnet im Jahr der Kaiserkrönung Karls publiziert wurde. Zincke formulierte beispielsweise die folgende lakonische Maxime. "Die Ausgabe muß schlechterdings nicht die Einnahme übersteigen. " Den zentralen, sozusagen natürlichen Schauplatz, auf dem beide Auffassungen aufeinandertrafen, bildete die höfische Sphäre selbst, d.h. jener Bereich der im 18, Jahrhundert Hqföconomie genannt wurde. Er wurde etwa im 15, Band der Deutschen Encyclopädie von 1790 definiert als jener Zweig der Staatswirthschaft, welcher sich mit der Verwaltung derjenigen Summe abgiebt, die zur Unterhaltung der fürstlichen Familie, und ihrer hohen Hofdienerschaft bestimmt ist. 7

Hofökonomie war im Deutschland des 18. Jahrhunderts eine delikate Materie, da mit dem wirtschaftlichen Verhalten der höfischen Gesellschaft ein Kern ihres Selbstverständnisses berührt wurde. Zudem wurden unter diesem Stichwort die finanziellen und ökonomischen Kosten des Hoflebens diskutiert, während sein Nutzen eher auf politisch-repräsentativem Terrain lag. Indem die Debatte um die Hofökonomie also die negativen Folgen höfischer Repräsentation in den Blick nahm, war sie mehr als eine rein technische Diskussion unter Experten über die angemessene Verwaltung fürstlicher Haushalte. Sie war vielmehr ein durchaus heikles Unterfangen, das auf den Konflikt zwischen der höfischen Rationalität und Wirtschaftsgesinnung und der kameralistischen Rationalität der Finanzwissenschaftler und -beamten hinauslief, Damit warf der hofökonomische Diskurs zugleich auch die noch grundsätzlichere Frage nach der Legitimität der höfischen Gesellschaft überhaupt auf, so daß er einen Zugang zu jenem fundamentalen gesellschaftlichen Transformationsprozeß öffnet, in dessen Verlauf die Kategorien der höfischen zunehmend von denen der bürgerlichen Gesellschaft in Frage gestellt und schließlich weitgehend verdrängt wurden. Um diesen Diskurs über die Hofokonomie im Deutschland des 18. Jahrhunderts soll es im folgenden gehen. Dazu wird zunächst (I) sein realgeschichtliches Substrat, also die Rolle des Hofes und das Gewicht der Hofökonomie, kurz skizziert. Danach werden die einzelnen an der hofökonomischen Debatte beteiligten Subdiskurse dargestellt: (II) die Zerernonialwissenschaft, 6

Georg Heinrich Zincke: Grund=Riß einer Einleitung zu denen Cameral-Wissenschafften. 2 Teile. Leipzig 1742/43, Teil II. S. 349. Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real=Wörterbuch aller Künste und Wissenschafflen. Bd. 15, Frankfurt a,M, 1790. S. 844.

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(III) der Kameralismus und (IV) die Hausväterliieratur. Anschließend wird dann (V) vertieft auf das Verhältnis zwischen der zeremonial- und der kameralwissenschaftlichen Auffassung vom Hof eingegangen, bevor endlich (VI) zusammenfassend die diachrone Entwicklung des hofokonomischen Diskurses umrissen wird.

Aufgrund der extrem kompetitiven Struktur der dezentralen höfischen Gesellschaft des Reiches (Winterling)8 und der im europäischen Rahmen prekären völkerrechtlichen Lage der deutschen Fürstenstaaten, deren Herrscher zwar über die Landeshoheit, nicht aber die volle Souveränität verfugten, ergab sich gerade für letztere die spezielle Notwendigkeit, ihren fürstlichen Rang überzeugend zu dokumentieren. Die Territorialherren standen unter dem Zwang, ihre Zugehörigkeit zum deutschen Fürsten- oder gar zum europäischen Herrscherstand sichtbar nachzuweisen. Als ein solcher Beleg diente das Hofleben im allgemeinen und das Zeremoniell im besonderen,9 welches in der Frühen Neuzeit zum wichtigsten Handlungsmodus der höfischen Gesellschaft geworden war und diese Bedeutung, wenn auch mit Abstrichen, bis ans Ende des 18. Jahrhunderts behielt.10 Es war für seine Hauptaufgabe, die Verdeutlichung von fürstlichem Rang, insofern gut gerüstet, als es ein Zeichensystem bildete, das überhaupt auf die Darstellung sozialer Unterschiede zielte,11 Das Zeremoniell zeigte soziale Aloys Winterling; Der Hof der Kurfürsten von Köln, Eine Fallstudie zur Bedeutung "absolutistischer" Hofhaltung, Bonn 1986. S. 153. Eberhard Sträub: Repraesentatio maiestatis oder churbayerische Freudenfeste. Die höfischen Feste in der Münchner Residenz vom 16, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. München 1969. S. 8; Winterling: Hof der Kurfürsten von Köln (wie Anm. 8). S. 153ff. Volker Bauer: Die höfische Gesellschaft in Deutschland von der Mitte des 17, bis zum Ausgang des 18, Jahrhunderts. Versuch einer Typologie. Tübingen 1993. S. 122f. Zur Bedeutung des Zeremoniells Elias: Die höfische Gesellschaft (wie Anm, 3), bes. S. 157f.; Jürgen von Kruedener: Die Rolle des Hofes im Absolutismus. Stuttgart 1973. S. 60ff; Hubert Christian Ehalt: Zur Funktion des Zeremoniells im Absolutismus. In: August Bück u.a. (Hg.): Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Vorträge und Referate gehalten anläßlich des Kongresses des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Renaissanceforschung und des Internationalen Arbeitskreises für Barockliteratur in der Herzog August Bibliothek vom 4. bis zum 8. September 1979, Hamburg 1982. Bd. II. S. 411-420; William Roosen: Early Modern Diplomatie Ceremonial: A Systems Approach, In: Journal of Modem History 52 (1980). S. 452-476, Zum Zeichencharakter des Zeremoniells vgl. bes. Julius Bernhard von Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft Der Privat-Personen. Berlin 1728 (Ndr. Leipzig 1990). S. 7 u. Ders.: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft Der großen Herren. Berlin 1733 (Ndr. Leipzig 1990). S, 2f; dazu auch Schmitt-Sasse: Ein Zeichen, das an Pflicht erinnert. Kommunikationsvorstellungen in J,B, v. Rohrs "Einleitungen zur Ceremoniel-Wissenschafft". In; Alain Montandon (Hg.): Über die deutsche Höflichkeit.

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mithilfe spatialer Distinktion an, d.h. durch räumliche Distanz. In diesem Verstand kann man es als ein Mittel analoger Kommunikation im Sinne etwa Bernd Thums betrachten.12 Entscheidend ist, daß die durchgehende Zeremoniatisierung des Hoflebens, die im Reich besonders in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einsetzte,1' die einzelnen fürstlichen Haushalte zum sakralen Raum machte, wobei die Betonung gleichermaßen auf dem sakralen wie dem räumlichen Aspekt Hegt. Durch das Zeremoniell und die damit verbundenen Rangordnungen avancierten die hausväterlich geprägten Hofhalte des 16. und frühen 17. Jahrhunderts zu strikt hierarchisierten und disziplinierten Personenverbänden, die die exzeptionelle Position von Fürst und Hofgesellschaft im Raum darstellten.14 Doch erschöpfte sich die Funktion des Zeremoniells nicht allein in der spatialen Repräsentation sozialer Ungleichheit und politischer Herrschaft. Gleichzeitig bildete die zeremonielle Ordnung ein Abbild der kosmischen Ordnung überhaupt; der zeremoniaüsierte Hof reproduzierte also nicht nur das soziale, sondern auch das physische Universum in verkleinertem Maßstab.15 Er leistete damit die, wie man es in Ausdehnung des Terminus der analogen Kommunikation nennen könnte, analoge Repräsentation der Ordnung der Welt. Hier sei nur in Parenthese kurz erläutert, daß der entsprechende Gegenbegriff der digitalen Repräsentation demgegenüber das Verfahren im modernen Parlamentarismus adäquat zu beschreiben vermag. Dort wird die zu repräsentierende Größe, das Volk oder die Nation, in einzelne Einheiten zerlegt, deren individuelle Voten sämtlich das gleiche Gewicht besitzen und die gemeinsam die Zusammensetzung der repräsentativen Körperschaft bestimmen. Zurück zur analogen Repräsentation: Indem der Hof über das Zeremoniell die kosmische Ordnung der Schöpfung widerspiegelte, wurde er nicht nur

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Entwicklung der Kommunikationsvorsteliungen in den Schriften über Umgangsformen in den deutschsprachigen Ländern. Bern 1991. S. 61-99. Bernd Thum; Öffentlichkeit und Kommunikation im Mittelalter. Zur Herstellung von Öffentlichkeit im Bezugsfeld elementarer Kommunikationsformen im 13. Jahrhundert. In: Hedda Ragotzky u.a. (Hg,): Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen. Tübingen 1990. S. 65-87, hier S. 76ff. Vgl. als Fallstudien z.B. Karin Plodeck: Hofstruktur und Hofzeremoniell in Brandenburg-Ansbach vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Zur Rolle des Herrschaftskultes im absolutistischen Gesellschafts- und Herrschaftssystem, Ansbach 1972 u, Hubert Christian Ehalt: Ausdrucksformen absolutistischer Herrschaft. Der Wiener Hof im 17. und 18. Jahrhundert. München 1980. Zum räumlichen Charakter des Zeremoniells: Gotthardt Frühsorge: Vom Hof des Kaisers zum "Kaiserhof', Über das Ende des Ceremoniells als gesellschaftliches Ordnungsmuster. In: Euphorion 78 (1984). S. 237-265, hier bcs, S. 243 u. 250 u. Ders.; Der Hof, der Raum, die Bewegung, Gedanken zur Neubewertung des europäischen Hofzeremoniells. In: Ebd. 82 (1988). S. 424-429, Vgl. dazu etwa auch Wilfried Bamer Barockrhetorik, Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 118.

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sakralisiert, sondern er übersetzte diesen seinen sakralen Charakter zugleich in räumliche Kategorien, also in sichtbare Form. Die Sakralisierung des Hoflebens und ihre simultane spatiale Darstellung verlieh der fürstlichen Herrschaft ihre Legitimation. Besonders augenfällig wurde diese Funktion des Zeremoniells, wo sie ihren steingewordenen Ausdruck fand, in den Schloßbauten des 17, und 18. Jahrhunderts mitsamt ihren Parkanlagen Die räumliche Organisation dieser Paläste entsprach so sehr den Anforderungen des jeweiligen Zeremoniells, daß man die Korrespondenz zwischen architektonischer und zeremonieller Ordnung16 gar als Newtonsches Prinzip der Hofgeschichte (David Starkey)17 bezeichnet hat, Freilich kostete es viel Geld, den physischen Raum mit Schlössern, Parks, Statuen etc. und den sozialen Raum mit repräsentativem und zeremoniell gebändigtem Hofpersonal auszustatten: Analoge Repräsentation mußte in einer digitalen Einheit, eben in Geld, bezahlt werden. Leider sind die Ausgaben der deutschen Fürstenstaaten für die höfische Repräsentation nur in Ausnahmefällen exakt zu beziffern, und diese Zahlen erlauben keinerlei Verallgemeinerungen, Es läßt sich jedoch - und dies gilt wohl über das Reich hinaus - die Faustregel aufstellen, daß der Anteil der Hofkosten an den gesamten Staatsausgaben umso höher ausfiel, je bescheidener die finanziellen Ressourcen der betreffenden politischen Einheit waren. Daher dürften gerade die zahllosen kleineren und mittleren deutschen Territorien häufig weit mehr als die ansonsten in Europa als Höchstgrenze anzusehenden 10% ihrer Ausgaben für den höfischen Bedarf aufgewendet haben. Eine Schätzung für die Fürstenstaaten des Reiches im ausgehenden 18. Jahrhundert geht von relativen Hofkosten in der Durchschnittshöhe von 23% aus.18 Im Einzelfall muß man jedoch sicher starke Schwankungen um diesen Mittelwert herum annehmen, wenn man etwa allein auf die höfische Anomalie Preußens verweist.15 Die ökonomischen Konsequenzen der Hofausgaben in den einzelnen Territorien sind aufgrund des gegenwärtigen Forschungsstandes kaum abzu'" 17

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Vgl, dazu Hugh Murray Baillie: Etiquette and the Planning of the State Apartments in Baroque Palaces. In: Archaelogia or Misecellaneous Tracts Related to Antiquity 101 (1967). S. 169-199. David Starkey: Introduction. In: Ders. (Hg.): The English Court from The Wars of the Roses to the Civil War. London u. New York 1987. S, 1-24, hier S, 2. Dagegen wurden 38% für militärische, 25% für zivile Zwecke und 18% für den Schuldendienst augewendet: Friedrich Wilhelm Henning: Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands. Band I. Deutsche Wirtschafts- und Sozial geschiente im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Paderborn 1991, S. 909f. Vgl. etwa Baden, wo in den Jahren 1769-1771 63% und 1789-1797 48% der Staatsausgaben vom Hof verbraucht wurden: Hans-Peter Ullmann: Staatsschulden und Reformpolitik, Die Entstehung öffentlicher Schulden in Bayern und Baden 17801820. Göttingen 1986. S. 254f; zu Preußen Johannes Klinisch: HofJtultur und höfische Gesellschaft in Brandenburg-Preußen im Zeitalter des Absolutismus. In: August Bück u.a. (Hg.): Europäische Hofkultur (wie Anm. 10), Bd. III. S. 735-744,

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schätzen.20 Tatsächlich bestehen starke Kontraste zwischen dem Optimismus Werner Sombarts, der in seinem berühmten Werk Luxus und Kapitalismus (Erstausgabe 1912) den höfischen Konsum zum Keim des modernen Kapitalismus erklärt,21 und der Darstellung in der nicht minder klassischen Studie Das große Welttheater aus der Feder Richard Alewyns, der ausfuhrt: Da ist ein kleines Land, ihm wird die ganze Steuerkraft aus den Adern gepumpt, um ein Schloß von Ausmaßen zu errichten, die der Wahnwitz diktiert zu haben scheint, einen Park anzulegen mit Marmorbildern und Wasserkünsten, eine Oper zu unterhalten mit kostspieligen italienischen Kastraten und Primadonnen, mit Orchester und Ballett, Dekorationen und Maschinen, um eine Mätresse auszustatten und dieser Feste zu geben, über die der Mercure Galant berichten und ganz Europa erstaunen machen wird. Ein paar Jahre oder Jahrzehnte, und das Land ist von der unnatürlichen Anstrengung erschöpft, vielleicht für Generationen. Es sinkt zurück, von Schulden erdrückt. Die Oper ist geschlossen, die fremden Sänger sind entlassen, die Schlösser verfallen, die Gärten verwildern. Die fürstliche Tafel ist wieder karg, der Adel speist zu Hause. Der Schwärm der Gäste hat sich an den Nachbarhof verzogen, wo für die nächsten Jahre die große Welt sich ein Stelldichein gibt. Bis eines Tages das Land sich erholt hat oder neue Geldquellen fündig geworden sind und ein jünger Fürst den Thron besteigt, dem Ehrgeiz oder Leichtsinn keine Ruhe lassen, bis wiederum die Ersparnisse eines strengeren Regiments in Jubel und Trubel vergeudet sind. Das ist das Schicksal aller mittleren, kleineren und kleinsten Höfe des Rokoko.22 Bis heute ist es schwer zu entscheiden, ob eher die Entwicklungsperspektive Sombarts oder das zyklische Auf und Ab Alewyns die Situation in der Mehrzahl der deutschen Territorien angemessen beschreibt. Unabhängig davon kann man allerdings davon ausgehen, daß die Hofausgaben eine Umverteilung finanzieller Mittel bewirkten, und zwar auf der territorialen wie auf der residenzstädtischen Ebene. 20

21 22

Zu verschiedenen Aspekten der Hofökonomie vgl, v.a. folgende Arbeiten; Peter Claus Hartmann; Monarch, Hofgesellschaft und höfische Ökonomie. Wirtschaft und Gesellschaft in neuzeitlichen Residenzen. In: Kurt Andermann (Hg.): Residenzen: Aspekte hauptstädtischer Zentralität von der frühen Neuzeit bis zum Ende der Monarchie. Sigmaringen 1992. S. 73-82; Ulrich Christian Pallach: Materielle Kultur und Mentalitäten im 18. Jahrhundert: wirtschaftliche Entwicklung und politisch-sozialer Funktionswandel des Luxus in Frankreich und im Alten Reich am Ausgang des Ancien rigime. München 1987; Michael Stürmer: Handwerk und höfische Kultur: europäische Möbelkunst im 18. Jahrhundert. München 1982; Wolfgang Wüst: Alltag an einem süddeutschen Fürstenhof. Augsburger und Dillinger Hofleben im Spiegel der Rechnungsbücher. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 85 (1992), S. 101-132; außerdem Erhard Naake: Der Einfluß des Hofes auf die politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung der Stadt Weimar vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Mitte des 18, Jahrhunderts, In: Residenzstädte und ihre Bedeutung im Territorialstaat des 17. und 18. Jahrhunderts. Vorträge des Kolloqiums vom 22. und 23, Juni 1990 im Spiegelsaal der Forschungs- und Landesbibliothek Gotha Schloß Friedenstein. Gotha 1991. S. 91-98. Sombart: Luxus und Kapitalismus (wie Arun. 3). Richard Alewyn: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste. München 1985. S. 8.

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Steuern und Abgaben wurden im gesamten Territorium erhoben, der Hofkonsum dürfte jedoch, soweit er überhaupt innerhalb der Landesgrenzen getätigt wurde, in erster Linie dem hauptstädtischen Handel und Gewerbe zugute gekommen sein. Im Rahmen der Residenzstädte haben wohl wiederum nur bestimmte soziale Gruppen wirklich von der Anwesenheit und dem Konsumverhalten des Hofes profitiert. Dies ist neben dem Hofpersonal selbst insbesondere die privilegierte Hofhandwerkerschaft gewesen, die oft von kommunalen Lasten und zünftischen Beschränkungen eximiert und so konkurrierende Meister in ihrer Branche zu verdrängen in der Lage war. Dies legt zumindest Herms Bahls Fallstudie über die Residenz Ansbach nahe, das zu den am gründlichsten untersuchten Beispielen gehört.23 Die greifbarste Wirkung des Hofkonsums auf die dortige sozioökonomische Struktur bestand jedenfalls in verstärkter sozialer Polarisierung. Außerdem ist darauf hinzuweisen, daß die wirtschaftliche Abhängigkeit sowohl einzelner Betriebe als auch ganzer Residenzstädte von höfischem Bedarf durchaus fatale Nachteile bringen konnte. So war die Anschaffimg und besonders auch die prompte Bezahlung von Gütern des Hofhandwerks häufig genug allein von Willen und Laune des fürstlichen Auftraggebers oder Käufers abhängig.24 Noch desaströser waren die Folgen für eine gesamte vormalige Residenzstadt, die so etwas wie eine hofokonomische Monokultur ausgebildet hatte und dann vom Fürsten und seiner Hofgesellschaft verlassen wurde, wie es im Jahr 1753 Wolfenbüttel zugunsten von Braunschweig25 und ein Vierteljahrhundert später Mannheim zugunsten von München widerfuhr.26 Schließlich ist ein gewisses Maß an Skepsis sogar dort angebracht, wo es nicht nur um den wirtschaftlichen Effekt des Hoflebens geht, sondern auch um seinen politischen Nutzen. Ein geeignetes Beispiel bildet das Braunschweig-Wolfenbüttel unter Karl I. (1735-1780). Er hatte durch exorbitante Hofkosten, die sowohl den Staatshaushalt als auch die Wirtschaftskraft des kleinen Territoriums weit überforderten, seinem Herzogtum bis Ende der 1760er Jahre eine gigantische Schuldenlast von 11 Millionen Talern beschert.27 Der einzige Weg zur finanziellen Sanierung bestand darin, die Stände einzuberufen, die daraufhin in den Jahren 1768-1770 zum ersten Mal seit 1682 wieder tagten. Die jahrelangen Verhandlungen mit dem Landtag

24 25

26 27

Herms Bahl: Ansbach. Strukturanalyse einer Residenz vom Ende des 30jährigen Krieges bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Ansbach 1974, bes. S. 346ff. Stürmer: Handwerk und höfische Kultur (wie Anm. 20). S. 236f. Klaus-Walther Ohnesorge; Die Bevölkerungsentwicklung in der Stadt Wolfenbüttel und ihre Ursachen in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts (1750-1790), In; Braunschweigisches Jahrbuch 61 (1980). S. 37-53; Wolfgang Meibeyer: Bevölkerungs- und sozialgeographische Differenzierung der Stadt Braunschweig um die Mitte des 18. Jahrhunderts. In; Ebd. 47 (1966). S. 125-157. Jürgen Voss: Mannheim, Residenz der Kurfürsten von der Pfalz. In: Kurt Andermann (Hg.): Residenzen (wie Anm. 20). S. 323-336. WaJter Achilles: Die steuerliche Belastung der braunschweigischen Landwirtschaft und ihr Beitrag zu den Staatseinnahmen im 17. und 18. Jahrhundert. Hildesheim 1972. S. 194ff.

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führten zwar dazu, daß er neuen Steuern zustimmte und einen Teil der Schulden übernahm;28 dennoch war seine Einberufung ein schwerer Schlag für das absolutistische Regiment des Herzogs. Das Wolfenbütteler Hofleben legitimierte und stabilisierte die Position des Landesherren also mitnichten; stattdessen schwächte es sie in letzter Instanz. In politisch-leghimatorischer Hinsicht war der höfische Aufwand mithin zumindest in diesem Fall disfunktional. Genau dieser mögliche Widerspruch - der in Braunschweig-Wolfenbüttel faktisch auftrat - zwischen der erstrebten politisch-repräsentativen Funktion des Hofes und seiner über den Umweg der Hofbkonomie potentiell kontraproduktiven Wirkung, genau dieser Widerspruch war es, der den hofökonomischen Diskurs im Deutschland des 18. Jahrhunderts antrieb.

II

Die eine, gewissermaßen positive Seite dieses Zusammenhangs, also Nutzen und Berechtigung des Hoflebens, wurde im Rahmen der sogenannten Zeremoniahvissenschafi29 abgehandelt - ein weiterer Beweis für die große Bedeutung des Zeremoniells an den Höfen des Untersuchungszeitraums. Das Korpus der für den zeremonialwissenschaftlichen Diskurs konstitutiven Schriften ist vergleichsweise klein, es besteht im wesentlichen aus neun Texten von insgesamt sieben Autoren; zu nennen sind: 1. Friedrich Wilhelm von Winterfelds Teuische und Ceremonial- Politico (2 Bde., 1700 und 1702),30 2. Gottfried Stieves Europäisches Hoff=Ceremoniel (Erstausgabe 1715),31 3, Johann Christian Lünigs Theatrum Ceremoniale Historico-Politicum, Oder Historisch^ und Politischer Schau-Platz Aller Ceremonien (2 bzw. 3 Bde., 1719/20),32 4. Julius Bernhard von Rohrs Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft Der Privat-Personen (Erstausgabe 1728) und seine 28 29

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Wilhelm Schmidt: Der braunschweigische Landtag von 1768 bis 1770. In: Jahrbuch des Geschiehsvereins für das Herzogtum Braunschweig 11 (1912). S. 78- 115. Zur Zeremonialwissenschaft vgl. Jörg Jochen Berns: Der nackte Monaich und die nackte Wahrheit. Auskünfte der deutschen Zeitungs- und Zeremonialschriften des späten , und frühen 18. Jahrhunderts. In: Elger Blühm u.a. (Hg.): Hof, Staat und Gesellschaft in der Literatur des 17. Jahrhunderts. Amsterdam 1982 (= Daphnis (1982)). S. 315-350, hier S. 333ff.; Georg Braungart: Hofberedsamkeit. Studien zur Praxis höfisch-politischer Rede im deutschen TerritorialabsoJutismus. Tübingen 1988. S. 24.ff; Gotthardt Frühsorge: Nachwort. In: Rohr: Ceremoniel-Wissenschafft Der Privat-Personen (wie Anm. 11); Ders.: Prolegomena zu einer Zeremonialwissenschaft in sittengeschichtlicher Absicht. In: Euphorien 86 (1992). S. 355-361; Jürgen Hartmann: Staatszeremoniell. Köln 1988. S. Iff.; Monika Schlechte: Nachwort. In: Rohr: Ceremoniel-Wissenschafft Der großen Herren (wie Anm. 11); Sctunitt-Sasse: Ein Zeichen, das an Pflicht erinnert (wie Anm. 11). Friedrich Wilhelm von Winterfeld: Teutsche und Ceremontal-Potitica. 2 Bde. Frankfurt a.M. u. Leipzig 1700 u. 1702. Gottfried Stieve: Europäisches Hoff=Ceremoniel. Leipzig 1715, Johann Christian Lünig: Theatrum Ceremoniale Historico-Polilicum, Oder Historische und Politischer Schau=Platz aller Ceremonien. 3 Bde. Leipzig 1719/20.

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Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafß Der großen Herren (Erstausgabe I729),33 5. Friedrich Carl Mosers Teutsches Hof=Recht (2 Bde., Erstausgabe 1754/5S),34 6. Johann Philipp Carrachs Grundsätze und Anmerkungen zur Käntnis des Teutschen Hofrechts (1755 und 1757)3S sowie 7. Johann Jakob Mosers Versuch des neuesten Europäischen Ceremoniels und sein Vom Ceremoniel (beide 1778),36 Die durch diese Werke gebildete Gattung besitzt außerhalb des Reiches keine Parallele, vergleichbar ist allenfalls Jean Rousset de Missys Ceremonial diplomatique des cours de {'Europe (1739), das sich freilich eng an Lünigs Theatrum Ceremonials anlehnt.37 Auch die deutsche Sonderentwicklung der ZeremonialWissenschaft ist wiederum zu erklären mit der spezifischen, nämlichen dezentralen Struktur der höfischen Gesellschaß des Reiches. Denn diese konzentrierte sich nicht - wie in England, Frankreich oder Spanien - an einem monopolistischen Hof, sondern sie konstituierte sich lediglich als Interaktions- und Kommunikationszusammenhang zwischen den zahlreichen territorialen Höfen. Diese höfische Öffentlichkeit war damit an den interhöfischen Verkehr und die Nachrichtenübermittlung gebunden, als Medien spielen z.B. Fürstenvisiten, diplomatische Missionen, Korrespondenzen und Hofkalender eine Rolle.38 Die allmähliche Verstetigung und Verdichtung dieses Netzes machte es notwendig, die verschiedenen höfischen Traditionen der Territorien, vor allem ihre zeremoniellen Vorschriften und Rangordnungen zwar nicht zu vereinheitlichen, sie aber doch miteinander kompatibel zu machen. So mußte etwa eine Charge eines fremden Hofes in die eigene Rangordnung eingegliedert werden, um Klarheit darüber zu gewinnen, wer als ebenbürtiger, niedrigerer oder höherer Ansprechpartner zu gelten hatte. Außerdem war die zeremonielle Behandlung eines auswärtigen Höflings, Gesandten oder Fürsten an dessen Heimathof zu erwidern und ihrerseits zeremoniell zu kommentieren. Auch dafür bedurfte es eines überregionalen, interhöfischen Maß stabs, den die Zeremonialwissenschaft bereitstellte. Sie war damit zur Abstraktion vom Einzelfall gleichsam gezwungen und bildete so eine Theorie des Zeremoniells aus, während die entsprechenden Schriften anderer Länder bei seiner Geschichte stehenblieben. 33 34 35

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37

8

Hier folgende Ausgaben benutzt: wie Anm. 11. Friedrich Carl Moser: Teutsches Hof=Recht. 2 Bde. Frankfurt a.M. u. Leipzig 1754/55. Johann Philipp Carrach: Grundsätze und Anmerkungen zur Käntnis des Teutschen Hofrechts. In: Wöchentliche Haltische Anzeigen 1755. Sp. 807-81, 823-832, 844853, u, 1757, Sp. 457-472, 473-486, 489-499, 505-516, 521-538. Johann Jakob Moser: Versuch des neuesten Europäischen Ceremoniels (Versuch des neuesten Europäischen Völkerrechts. Bd. II). Frankfurt a.M. 1778 u. Ders.: Vom Ceremoniel (Beyträge zu dem Neuesten Europäischen Völkerrecht. Bd. II). o. O. 1778. Jean Rousset de Missy: Le ceremonial diplomatique des cours de TEurope (Supplement au Corps universel diplomatique du droit des gens. Bde. 4 u, 5). Amsterdam u. Den Haag 1739. Avertissement. Winterling: Hof der Kurfürsten von Köln (wie Anm. 8), S. 158.

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Tatsächlich gingen sämtliche oben erwähnten zeremonialwissenschaftlichen Schriften, abgesehen von Winterfelds Ceremonial-Politica, über die bloß kasuistische Sammlung von Beschreibungen einzelner Zeremonien hinaus. Sie enthielten vielmehr stets auch mehr oder minder ausgedehnte Reflektionen über Definition, Klassifikation, Funktion und Legitimation des Zeremoniells, wodurch sich die Zeremonial Wissenschaft schließlich zu einer integralen Wissenschafft des Hof=Wesem (Friedrich Carl Moser)39 erweiterte. Dabei verwiesen die Autoren stets auf die Arbeiten ihrer jeweiligen Vorgänger, so daß sich eine diskursive Kette von Zitaten und Kommentaren bildete: Johann Jakob Moser nennt immerhin alle Werke von Stieve bis zu seinem Sohn Friedrich Carl,40 Carrach41 und Friedrich Carl Moser42 erwähnen sämtliche ihrer Vorläufer, Rohr geht auf Lünig und Stieve ein,43 letzterer taucht auch bei Lünig auf,44 und auch Stieve fuhrt zu guter Letzt Winterfeld auf 45 In diesem Zusammenhang ist es besonders interessant, wen denn nun der Ahnherr dieses Genres, Wmterfeld selbst, zitiert. Tatsächlich werden in der Ceremonial-Politica lediglich zwei Werke explizit genannt, zum einen Johann Christoph Beckmanns Syntagma Dignitatwn von 169646 und Johann Christoph Wagenseils Direktorium Aulicwn von 1687.47 Das Syntagma ist ein typisches Werk der deutschen Zeremonialliteratur des 17. Jahrhunderts. Es besteht aus 20 akademischen Disputationen in lateinischer Sprache über die zeremoniellen Rechte vor allem der Könige, aber auch anderer weltlicher und geistlicher Fürsten und Herren, wobei vor allem jene Aspekte berücksichtigt werden, die man als Staatszeremoniell bezeichnen kann, also etwa Wahl, Krönung, Abdankung usw. Beckmann geht dabei vom Standpunkt des Staatsrechts aus, das Zeremonien gehört bei ihm eindeutig in den akademischen Kontext des ius publicum. Bei Wagenseils Directorium handelt es sich dagegen um ein Werk der zu dieser Zeit blühenden Anstandsliteratur,48 die ''

40

''

Friedrich Carl Moser: Teutsches Hofrecht (wie Anm. 34). Bd. I. Vorbericht. Johann Jakob Moser: Versuch (wie Anm. 36). S. 2ff,

Carrach: Grundsätze und Anmerkungen (wie Anm. 35). Sp. 809 u. 486. Friedrich Carl Moser: Teutsches Hofrecht (wie Anm. 34), Bd. I. S. 14ff. 4 Rohr: Ceremoniel-Wissenschafft Der großen Herren (wie Anm. 11). Vorrede. §§ l u. 3f. " ! Lünig: Theatrum Ceremoniale (wie Anm. 32). Bd. I, An den Leser. 4i Stieve: Europäisches Hoff=Ceremoniel (wie Anm. 31). Vorbericht, "" Johann Christoph Beckmann: Syntagma Dignitatum Illustrium, Civilium, Sacramm, Equestrium. Frankfurt a.M. u. Leipzig 1696; zit. in Winterfeld: Ceremonial-Politica (wie Anm. 30). Bd. I, S. 708 u. 718, 47 Johann Christoph Wagenseil: Directorium Aulicum De Ratione status. In Aulis Imperatorum, Regum, Pricipum, aliarumque Personaruin Illustrium observanda. Den Haag 1687; zit, in Wmterfeld: Ceremonial-Politica (wie Anm, 30), Vorrede u, S. 924 u. 928f. "'"' Dazu Manfred Beetz: Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachiaum. Stuttgart 1990. 41

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das anständige Benehmen, die Regeln der "Höfflichkeit"49 lehrt. Bezeichnenderweise bedient es sich dabei wenigstens zum Teil der deutschen Sprache, Winterfelds Innovation bestand also in der Kombination der beiden Stränge. Er verband die staatsrechtliche Zeremonial- mit der Höflichkeitsliteratur seiner Zeit und brachte so eine neue Form der Zeremonialwissenschaft hervor, die bis hin zu Johann Jakob Mosers Beiträgen durchaus auch für private "Liebhaber" populär war,50 Winterfeld hatte - freilich lediglich implizit - den Bereich des Zeremoniells als Feld definiert, in dem sich, um die zeitgenössische Terminologie im Anschluß an Thomasius zu gebrauchen,51 die Gebote des iustum und des decorum überschnitten.52 Damit hatte Winterfeld zwar entscheidende Züge der Zeremonialwissenschaft auch für seine Nachfolger festgelegt, jedoch ohne deren theoretischen Ehrgeiz. Für die Autoren nach ihm war die von Winterfeld vorgenommene, jedoch nicht explizit diskutierte Verortung des Zeremoniells im Spannungsfeld von Staatsrecht und Anstand (in der Sprache der Zeit meist Wohlstand, Wohlanständigkeii) ein Quell stetigen Theoretisierens. Tatsächlich bildete es den eigentlichen Motor für die innere Weiterentwicklung der Zeremonialwissenschaft von Stieve bis zu Carrach. Schließlich waren damit grundsätzliche Fragen verknüpft, etwa die nach der Verbindlichkeit und darüber hinaus auch nach der Legitimität des Zeremoniells und damit letztlich der höfischen Gesellschaft insgesamt. Schon bei Stieve wird die ungeklärte Position des Zeremoniells relativ zu iustum und decorum zum Anlaß einer abstrakten Definition und einer Erörterung seines Ursprungs. Er sieht es als eine unter den Souverains, oder ihnen gleichenden Personen, ex Pacto, Consvetudine, Possesione eingeführte Ordnung [...], nach welcher sie sich, derer Gesandten und Abgesandten bei Zusammenkünfften zu achten haben, damit keinem zu viel noch zu wenig geschehe. Anschließend stellt er klar:

19 50 51

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Wagenseil; Directorium Auticum (wie Anm. 47), S. 7. Johann Jakob Moser: Versuch (wie Anm. 36). Vorrede. Christian Thomasius: Grund=Lehren Des Natur= Und Völcker=Rechts, Halle 1709, bes. S, 116ff; zu Thomasius tfecon/w-Konzeption vgl. außerdem Manfred Beetz: Ein neuentdeckter Lehrer der Conduite. Thomasius in der Geschichte der Gesellschaftsethik, In: Werner Schneiders (Hg,): Christian Thomasius 1655-1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung. Hamburg 1989. S. 197-222 u. Karl Heinz Göttert: Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie. München 1988, bes. S. 93ff. Vgl, z.B. auch Sebastian Jakob Jungendres: Kurzer Entwurf von der Wolanständigkeit, oder dem Decoro. Nürnberg 1720.

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Der Ursprung solchen Ceremoniels ist nicht, wie etwan bey den Complimenlisten, die Höflichkeit, denn diese hat keine Leges, sondern vielmehr die aus einer grössem Dignitat {...] herrührende Superbia, welcher man die Qualitäten Juris zugeeignet.53 Auch Rohr hatte, bevor er seine theoretisch gesättigte Version der Zeremonialwissenschaft in der Moralphilosophie Christian Wolffs verankerte, noch angenommen, das Zeremoniell stelle ein "Stück des Juris Publici" dar.54 Schließlich scheint die Differenzierung von Recht und Anstand auch im Teutschen Hof=Recht Friedrich Carl Mosers auf, wenn er das von ihm dargestellte Feld des Hofrechts im weiteren Sinne in zwei eng verflochtene Bereiche, in das eigentliche Hof=Recht und das Hqf=CeremonieI unterteilt. Regelt ersteres vorzugsweise Rechte, Pflichten, Hierarchien und Kompetenzen des Hofpersonals, so betrifft letzteres jene Dinge, die "zur Pracht, Ansehen, Glantz und Respekt des Hofs" beitragen.M Tatsächlich könnte man diese Unterscheidung cum grano salis mit der von iustum und decorum gleichsetzen. Die Verwandlung, oder besser; Aufhebung, der ZeremonialWissenschaft in das Hofrecht, wie sie neben Friedrich Carl Moser auch Carrach betrieben hat, ist ein ganz entscheidendes Datum ihrer Geschichte, Denn zum einen bietet der Begriff des Hofrechts, der ja über den des Zeremoniells weit hinausgeht, mehr Anschlußstellen für eine wirklich umfassende Wissenschafft des HofWesens, für die die beiden erwähnten Autoren sogar akademische Würden forderten.56 Zum anderen zeigt sich in dieser Entwicklung bereits eine gewisse Abwertung des Zeremoniells, das zum weniger wichtigen Teil des Hofrechts mutierte. Damit umfaßte das Hofrecht allerdings weiterhin Elemente, deren Verbindlichkeit unterhalb der juristischen Ebene liegt, und so blieb die Stellung der Beschäftigung mit dem Zeremoniell gegenüber dem Staatsrecht klärungsbedürftig. So fuhrt der 1781 publizierte fünfte Band der Deutschen Encyklopädie aus: Die Staatsceremonieiwissenschaft ist zwar vom Staatsrecht allerdings sehr verschieden; indessen haben doch die, welche vom letztern [...] Unterricht ertheilten, wenn sie die aus Staatsgeschäften entstehenden Rechte und Verbindlichkeiten abhandelten, zugleich von der Ceremonielwissenschaft so viel beygebracht, als zur besseren Einsicht und Beurtheilung der Staatsgeschafte nöthig war.57 Auf der anderen Seite gab es auch Stimmen, die das höfische Zeremoniell vollständig in den Bereich des decorums integrierten. Der anonyme Autor der

53

Sticve: Europäisches Hoff=Ceremoniel (wie Anm. 31). S. 2f. ' Rohr; Ceremoniel-Wissenschaft Der großen Herren (wie Anm. 11). Vorrede. § 1. 55 Friedrich Carl Moser: Teutsches Hof=Recht (wie Anm. 34). Bd. I. S. 8. 56 Ebd. Bd. I. Vorbericht; Carrach: Grundsätze und Anmerkungen (wie Anm. 35), Sp. 832. 57 Deutsche Encyclopädie (wie Anm. 7). Bd. 5. Frankfurt a.M. 81. S. 406.

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Wahren Grund=Reguln einer Staats=Wissenschaß aus dem Jahre 1748 etwa definierte wie folgt: Durch disen publiquen Wohlstand verstehen wir nichts anders, als das bey Hofe gebräuchliche Ceremoniel.58 Die Zeremonialwissenschaftler selbst begnügten sich freilich nicht damit, Hofleben und -zeremoniell mit dem pauschalen Verweis auf das Staatsrecht oder das fürstliche decorum zu legitimieren. Sie hatten zwei spezifischere Rechtfertigungen zu bieten. Das erste Argument bildet einen lows classicus (Holenstein)59 der Zeremonialwissenschaft, der sich auch in der Deutschen Politik Christian Wolffs (Erstausgabe 1721) findet. Er betont, Hof und Zeremoniell seien notwendig, um insbesondere den einfachen, ungebildeten Untertanen die politische und soziale Stellung (Macht und Gewalt) des Fürsten sinnlich vor Augen zu führen. 60 Die gleiche Begründung findet sich explizit auch bei Lünig, Rohr61 und Carrach. Letzterer bemerkte mit Blick auf die Fürsten: Nichts ist auch vernünftiger und billiger, als die äusserlichen in die Augen fallenden Zeichen sotaner wesentlichen und bestgegründeten Vorzüge, ja eben dise Merkmale der Hoheit sind eines der bequemsten, ich wil selbst sagen der unentberlichsten Mittel, denenienigen Leuten, die aus Mangel der Wissenschaft und Penetration, oder aus einem innerlichen Stolz die Grosse der Macht und Würde des Standes solcher hohen Personen nicht gehörig einsehen, erhabenere Sentimens zur Beobachtung der nötigen Maximen einer tifen Erfurcht einzudruken.62 Hier ist die politische Funktion des Hoflebens klar ausgesprochen: Es dient der den Sinnen zugänglichen Repräsentation der fürstlichen Herrschaft und hat insofern legitimitätsstiftenden Charakter. Das zweite, noch fundamentalere Argument liest sich in den Worten Lünigs wie folgt: GRosse Herren, wie sie das Bildniß des Allmächtigen auf Erden an sich tragen, also sollen sie auch demselben, so viel möglich, durchgehends ähnlich zu werden suchen. Nun ist GOTT ein GOTT der Ordnung, welche sich in allen erschaffenen Dingen vollkommen erweiset [...], Je ähnlicher nun diejenigen, so sein Bildniß hier auf Erden

ss 59

60 61 62

Wahre Grund=Reguln einer Staats=Wissenschaft, Leipzig u. Köthen 1748, S, 148. Holenstein: Huldigung und Herrschaftszeremoniell im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung. In: Klaus Gerteis (Hg.): Zum Wandel von Zeremoniell und Gesellschaftsritualen in der Zeit der Aufklärung. Hamburg 1992. (= Aufklärung. Bd. 6, Heft 2). S. 21-46, hier S. 32, Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen. Hildesheim u. New York 1975, S. 504. Lünig: Theatrum Ceremoniale (wie Anm. 32). Bd. I, S, 5; Rohr: Ceremoniel-Wissenschaften Der großen Herren (wie Anm, 11), S. 2. Carrach: Grundsätze und Anmerkungen (wie Anm. 35). Sp. 523.

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tragen wollen, demselben zu sein begehren, je ordentlicher müssen sie an sich selbst und in ihren Verrichtungen seyn,0

Eben deshalb muß ihre unmittelbare Umgebung, der Hof, ordentlich, d.h. zeremoniell reguliert sein. Hiermit ist in Reinkultur das Grundprinzip der analogen Repräsentation ausgesprochen: Der zeremonialisierte Hof bildete in sich die ganze Weltordnung ab. Dadurch wurde die Rolle des Fürsten in Hof und Territorium mit der Gottes in der gesamten Schöpfung parallelisiert und so erneut gerechtfertigt.64 Gleichzeitig muß man jedoch konstatieren, daß die innere Entwicklung der Zeremonialwissenscnaft schon Symptome für die Krise der analogen Repräsentation aufwies. Zum einen war das Zeremoniell auf die Überwältigung der Rezipienten, auf den Eklat hin angelegt. In dem Moment, in dem die Botschaft des Zeremoniells nur über eine akademische Wissenschaft zu entschlüsseln war, hatte es indes einen Großteil seiner sinnlichen Evidenz bereits verloren.65 Die Existenz einer Zeremomalwissenschafi offenbart also den Niedergang der Selbstverständlichkeit zeremonieller Ordnung und Akte, Zum anderen wird die von Wolff, Lünig, Rohr und Carrach angeführte politische Funktion der höfisch-zeremoniellen Repräsentation ausdrücklich auf die ungebildeten Untertanen eingeschränkt. Der eigentliche Adressat des Zeremoniells wird bei diesen Autoren mal als "der gemeine Mann, welcher bloß an den Sinnen hanget, und die Vernunffl wenig gebrauchen kan",66 mal als "Pöbel"67 ohne "Wissenschaft und Penetration"68 bezeichnet. Damit enthalten diese Stellen neben einer Apologie des Hoflebens zugleich eine subtile Hofkritik, indem das Zeremoniell als billiger Trick für das gemeine Volk stigmatisiert wird, während die gelehrte Elite diesen Verblendungszusammenhang zu durchschauen vermag.69 Verschärft wurde diese Abwertung überdies durch die Entwicklung der Zeremonialwissenschaft zum Hofrecht. Dabei handelt es sich um einen Abstraktionsprozeß, in dessen Verlauf die unmittelbare Verbindung zwischen sozialem Rang und zeremoniellem Zeichen gekappt wurde. Das Zeremoniell als Medium analoger Kommunikation löste sich dabei auf. Braungart bemerkt zu Friedrich Carl Mosers Teutschem Hof=Recht\ "Der rechtliche Sachverhalt wird hier [...] abstrakt gefaßt [...] und von äußeren Formen prinzipiell unabhängig,"10 Parallel dazu gewinnt der Hof an Autonomie gegenüber dem Fürsten. Er ist nicht mehr nur der Ort zeremonieller Handlungen, die sich "·

Lünig: Theatrum Ceremoniale (wie Anm. 32). Bd. I. S. 292. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Stieve: Europäisches Hoff=Ceremoniel (wie Anm. 31). S. 3. 65 Dazu auch Berns: Der nackte Monarch (wie Anm. 29). S. 34If, Wolff: Vernünfftige Gedanken (wie Anm. 60), S. 504; vgl. auch Rohr: CeremonielWissenschaft Der großen Herren (wie Anm. 11). S, 2. 67 Lünig: Theatrum Ceremoniale (wie Anm. 32). Bd. I, S. 5, "* Carrach: Grundsätze und Anmerkungen (wie Anm. 35). Sp. 523. 69 Winterling: Hof der Kurfürsten von Köln (wie Anm. 8). S. 4ff. 70

Braungart: Hofberedsamkeit (wie Anm. 29). S. 25.

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allein um die Person des Herrschers drehen, sondern eine durch das Hofrecht regulierte Institution eigenen Rechts.71 Konsequenterweise enthält das Teutsche Hof=Recht denn auch Kapitel, die nicht allein nach bestimmten zeremoniellen Anlässen gegliedert sind, sondern funktional definierte Gegenstände abhandeln, z.B. die Hof^PoHcey oder d\eliof=0economie12 Ebenfalls in diesen Kontext gehört schließlich die zunehmende Unterscheidung von Hof und Staat, Die klassische Zeremonialwissenschaft von Winterfeld bis Rohr hatte von ihr noch keine Kenntnis genommen, sie sprach ohne konsequente Trennung vom Hof- wie vom Staatszeremoniell. Friedrich Carl Moser differenzierte dann strikt zwischen beiden Bereichen. Für ihn unterschied sich das Staats- insofern vom Hofzeremoniell, als es, wie etwa "Wahl= und Crönungs=Solennitäten, Huldigungen, Landes=Feyerlichkeiten, das Gesandtschaffts=Ceremoniel Gebräuche enthält, welche den Hof, als Hof, in seiner inneren Verfassung nicht berühren, obgleich die an Hof befindliche Personen an selbigem Antheil nehmen."73 Carrach war noch entschiedener. Er definierte das Staatsrecht und das Hofrecht als zwei separate Sphären, in denen dementsprechend die Position des Fürsten grundverschieden ist, indem der Staat auf die ganze Verknüpfung der bürgerlichen Gesellschaft sich gründet, oder vielmer in der richtigsten Bedeutung mit diser einerlei ist, und in den wesentlichen Stüken sonder Absicht auf die Würde des Monarchen bestehet; dahingegen die blosse Hofhaltung mer auf den persönlichen Vorzügen als auf der Landeshoheit eines Herrn oder einer Dame beruhet.74

Hof und Staat stehen also in unterschiedlicher juristischer Beziehung zu Person und Rang des Fürsten, und so ist eine Grundvoraussetzung für die analoge Repräsentation des Staates durch den Hof nicht mehr gegeben. Diese Gesichtspunkte machen deutlich, inwieweit die Zeremonialwissenschaft selbst, besonders in der Form des Hofrechts, ein Symptom oder gar Faktor der Entzauberung des Zeremoniells darstellte. Der Endpunkt der Gattung war mit den beiden einschlägigen Werken Johann Jakob Moser aus dem Jahre 1778 erreicht. Zwar stellten auch sie sich, wie die Zitiertechnik beweist, in die von Winterfeld begründete Tradition, doch war in ihnen die Zeremonialwissenschaft nur ein relativ unwichtiger Appendix des Völkerrechts75 und damit letzlich wieder das, was sie vor Winterfeld darstellte, ein Nebenfach des öffentlichen Rechts, das allenfalls Experten interessierte. Dies zeigen auch zwei Texte aus dem Jahre 1784. Damals erschien Christian Gotthelf Ahnerts Lehrbegriff der Wissenschaften, Erfordernisse und Rechte der Gesandten, dessen zweiter Band auf über 600 Seiten allein 71

Ebd. S. 26. Friedrich Carl Moser: Teutsches Hof=Recht (wie Anm. 34). Bd. I. S. 109-142 bzw. 143-192. 73 Ebd. Bd. I. S. 10. 7 " Carrach: Grundsätze und Anmerkungen (wie Anm. 35). Sp, 812f,, vgl. auch Sp. 852. 75 Johann Jakob Moser: Versuch (wie Anm. 36). Vorrede.

71

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von Rangfragen und Zeremoniell handelt,76 und dies in enger Anlehung an Lünigs und Johann Jakob Mosers Beiträge77 In Ahnerts Fall waren jedoch zeremonielle Kenntnisse lediglich noch ein Teil des professionellen Expertenwissens der Diplomaten, auf deren Ausbildung sein Werk zielte- Außerhalb des Kreises der Fachleute wurde dieses Thema kaum mehr ernstgenommen. So veröffentlichte die Zeitschrift Litteratur und Völkerkunde im selben Jahr einen Artikel von Johann Wilhelm Archenholz mit dem Titel Beytrag zur neuesten Geschichte des deutschen Hof^Ceremoniels. Anstatt jedoch das hier diskutierte Genre fortzuschreiben, erzählte Archenholz vielmehr eine sarkastische Anekdote, die die Lächerlichkeit und mangelnde Akzeptanz des Zeremoniells in den 1780er Jahre bloßstellte.7* Offensichtlich war dieser Gegenstand zu diesem Zeitpunkt entweder nur für berufliche Fachleute interessant oder simpler Anlaß zur Belustigung. Für eine eigenständige Wissenschaft gab er nicht mehr genug her.

III

Hatte die Zeremonialwissenschaft versucht, Nutzen und Berechtigung des Hoflebens aufzuzeigen, so wurden die sich aus ihm ergebenden Belastungen vor allem im Rahmen der Kameralwissenschaft des 18. Jahrhunderts79 thematisiert, Der Kameralismus war nicht einfach jene Form der politischen Ökonomie, der für das frühneuzeitliche Deutschland charakteristisch war, sondern darüber hinaus auch eine umfassende Verwaltungslehre für seine Fürstenstaaten. Er bildete die diskursive Antwort auf ihren wachsenden Finanzbedarf, den der Ausbau eines sich langsam bürokratisierenden Verwaltungsapparates, eines stehenden Heeres und ortsfester Residenzen und Höfe erförderte.80 Damit akzeptierte er im Prinzip stets den Rahmen der territorialstaatlichen Ordnung und mithin die Legitimität fürstlicher Herrschaft. Andererseits aber führte der im 17. Jahrhundert allmählich entstehende Kanon kameralistischen Wissens dazu, daß sich bestimmte Grundsätze 76

77 78 79

80

Christian Gotthelf Ahnert: Lehrbegriff der Wissenschaften, Erfordernisse und Rechte der Gesandten. 2 Bde, Dresden 1784. Bd. II. Ebd. Bd. I. Vorrede. Johann Wilhelm Archenholz: Beytrag zur neuesten Geschichte des deutschen Hof=Ceremoniels. In: Litteratur und Völkerkunde 5 (1784). S. 71-73, Zum Kameralismus vgl. statt zahlreicher älterer Beitrüge Erhard Dittrich: Die deutschen und österreichischen Kameralisten. Darmstadt 1974; Jutta Bruckner: Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht. Ein Beitrag zur Geschichte der Politischen Wissenschaft im Deutschland des späten 17, und des frühen 18. Jahrhunderts. München 1977 u. v.a, Keith Tribe: Governing Economy. The Reformation of German Economic Discourse 1750-1840. Cambridge 1988. Michel Stolleis: Pecunia Nervus Rerum. Zur Staalsfinanzierung in der frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 1983. S. 68ff,; die detaillierte Darstellung eines Einzelfalts z.B. bei Manfred Rauh: Verwaltung, Stände und Finanzen, Studien zu Staatsaufbau und Staatsenrwickiung Bayerns unter dem späteren Absolutismus. München 1988.

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herausbildeten, anhand derer politische Entscheidungen und administrative Maßnahmen beurteilt werden konnten. Somit trat zumindest in der Theorie neben den Willen des Fürsten das Expertenwissen der Kameralisten. Diese definierten sich nicht nur als zunehmend unentbehrliche funktionale Elite, sondern analysierten schließlich Staat und Gesellschaft insgesamt nach funktionalen Gesichtspunkten, Dies wird besonders deutlich in Johann Joachim Bechers einflußreichem Politische Discurs, Von den eigentlichen Ursachen / deß Auff= und Abnehmern der Stadt l Länder und Republiken, der nach seiner Erstausgabe im Jahre 1668 bis 1759 noch fünf weitere Auflagen erlebte. Becher geht in seinem Werk nicht mehr von einer rechtlich fixierten Ständeordnung aus. Er bestimmt vielmehr die "Civil societal" als "eine Volckreiche Nahrhaffte Gemeind,"81 deren Wohlergehen auf dem reibungslosen Zusammenspiel der drei sie konstituierenden, funktional definierten und funktional voneinander abhängigen Stände basiert, dem "Bauren=, Handwercks= und Kauffmanns=Stand".82 Die "Obrigkeit" wird als die "Diener" der "Gemeind" vorgestellt, die keine produktive Arbeit leisten, sondern den institutionellen Rahmen für die Kooperation der drei Stände bereitstellen. Die Anzahl dieser Diener, zu denen Becher etwa Geistliche, Gelehrte, medizinische Berufe und Soldaten zählt, ist daher "nach der Gemeind zu proportioniren"f d.h. nach ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.83 Der Politische Discurs ist insofern paradigmatisch für die Konzeption der Kameralisten insgesamt, die besonders dann im 18. Jahrhundert eher von der gesellschaftlichen Funktion der einzelnen sozialen Gruppen als von ihren rechtlichen Privilegien ausgingen.84 Es war eine logische Konsequenz dieses Ansatzes, auch den Hof, sein Personal und seine finanzielle Ausstattung einer solchen Untersuchung seines Beitrags zum Wohl und zum Funktionieren der "Civil societal" zu unterwerfen.ss Tatsächlich taucht der Hof als ein Element der Darstellung schon in der älteren, vorakademischen Literatur des KameraHsmus auf, und zwar nicht

81

Johann Joachim Becher; Politische Discurs. Von den eigentlichen Ursachen / deß Auff= und Atmehmens der Stadt / Länder und Republiken, Frankfurt a.M 1688. S. 1. 82 Ebd. S. Sf. u. bes. 11. " Ebd. S, 4f. 84 Vgl. dazu Stolleis: Pecunia Nervus Rerum (wie Anm, 80), S. 10Iff,; Wolf-Hagen Krauth: Wirtschaftsstruktur und Semantik. Wissenssoziologische Studien zum wirtschaftlichen Denken in Deutschland zwischen dem 13, und 17. Jahrhundert. Berlin 1984. S. 148f u. bes. Mack Walker: Rights and Functions: The Social Categories of Eighteenth-Century German Jurists and Cameralists. In: Journal of Modern History 50 (1978). S. 234-251. 85 Zum Anteil eines funktionalen Verständnisses von Staat und Gesellschaft an der Radikalisierung der Hofkritik des 18. Jahrhunderts Werner Nell: Zum Begriff "Kritik der höfischen Gesellschaft" in der deutschen Literatur des 18, Jahrhunderts. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 10 (1985). S. 170-194, bes. S. I79ff.

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allein bei Becher,86 sondern auch bei Veit Ludwig von Seckendorff,87 Philipp Wilhelm von Hornigkg8 und Wilhelm von Schröder.89 Allerdings hat bei ihnen der wirtschaftliche Aspekt des Hoflebens noch keinen festen systematischen Ort, Es ist überdies bezeichnend, daß der Begriff Hofökonomie noch bis ins frühe 18. Jahrhundert hinein nicht wie im obigen Zitat aus der Deutschen Encyclopädie das finanzielle und ökonomische Management des Hofes bezeichnet. Er bildet nämlich bis in die 1730er Jahre hinein lediglich ein Synonym für den Terminus Cameral-Oeconomie,90 der sozusagen die Betriebswirtschaft der fürstlichen Domänen und Finanzen meint, während der volkswirtschaftliche Blick auf das Territorium als Lanäes-Oeconomie gefaßt wird 91 Seinen spezifischen, auf den Hof eingeschränkten Sinn bekommt der Begriff Hofökonomie erst im zweiten Drittel des 18, Jahrhunderts, als die KameralWissenschaften bereits an einigen Universitäten gelehrt wurden. Die Akademisierung des Kamerali smus hatte eine wachsende Produktion entsprechender Lehrbücher zur Folge,92 die sich zunehmend aufeinander bezogen, sich gegenseitig zitierten und kritisierten oder fortschrieben, Die Kameral Wissenschaften entwickelten eine diskursive Struktur (Tribe), die gewisse Gemeinsamkeiten in Fragestellung und Herangehensweise hervorbrachte.93 Sie betrafen auch die innere Strukturierung des kameralistischen Wissens, das von den meisten zeitgenössischen Autoren in drei Teile geschieden wurde.94 Es umfaßte 1. die Ökonomische, 2. die Polizei- und 3. die Finanzwissenschaft, letztere noch einmal unterteilt in die Lehre von den Staatseinnahmen und den -ausgaben. Innerhalb dieser Gliederung fand seit Georg Heinrich Zinckes erfolgreichem Gnind=Riß einer Einleitung zu denen Cameral-Wissenschafften (1742/43) auch die Hofökonomie ihren festen systematischen Platz. Sie wurde stets im finanzwissenschaftüchen Kontext diskutiert, und zwar dort, wo es um die öffentlichen Ausgaben ging. Diese Positionierung hatte beträchtliche theoretische Konsequenzen. Denn der Hof wurde so in der Tat °t: Becher: Politische Diskurs (wie Anm. 81), z.B. S. 35 u. 213f. B7 Veit Ludwig von SeckendorfT: Teutscher Fürsten=Staat. Jena 1737, bes. S. 586-658. 88 Philipp Wilhem von Hornigk: Oesterreieh über Altes, wann es nur will. Frankfurt a,M, u. Leipzig 1750. Z.B. S. 119f. 89 Wilhelm von Schröder: Fürstliche Schatz= und Rentkammer. Königsberg u. Leipzig 1752. Z.B. S. 23, 35 u. 46. 90 In diesem Sinn etwa bei Heinrich Bode (Hg.): Fürstliche Macht=Kunst oder Unerschöpfliche Gold=Grube / Wordurch ein Fürst sich kan mächtig und seine Unterthanen reich machen. Halle 1702. S, 47; Martin Hassen: Entwurff eines Politischen Special=Collegii. Wittenberg 1714, S. 18. 91 Vgl. z.B. Hornigk: Oesterreieh über Alles (wie Anm. 88). S. 4 u. 185. 92 Zur kameralistischen Produktion insgesamt Magdalene Humpert: Bibliographie der Kamera]Wissenschaften, Köln 1937, 93 Tribe: Governing Economy (wie Anm. 79). S. 42, 94 VgL etwa Johann Christian Christoph Rüdiger: Ueber die systematische Theorie der Cameralwissenschaften. S, 22ff.

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lediglich als Kostenfaktor analysiert, und dies geschah im Rahmen jenes Feldes der KameralWissenschaften, das den funktionalen Gesichtspunkt besonders betonte. Bei der finanzwissenschaftliche Behandlung der Staatsausgaben herrschte ein striktes Nützlichkeitskalkül. Jeder einzelne Posten war auf seine Utilität hinsichtlich der Macht und Prosperität des jeweiligen Territoriums zu beurteilen, wobei eben nicht nur das Interesse allein des Fürsten, sondern auch die Glückseligkeit der Untertanen zu berücksichtigen war. An dieser Elle wurde auch der höfische Aufwand gemessen, so daß nun die kameralistische, wenn man so will die wirtschaftliche, Legitimität des Hofes auf dem Prüfstand war. Die Kameralisten stellten entsprechende Regeln auf, die als Richtschnur für die Ausgabenpolitik dienen sollten. So schrieben sie etwa vor, daß die Reihenfolge der Staatsausgaben vom Grad der Nützlichkeit ihrer Zwecke abhängen müsse, Zincke stellte beispielsweise eine Prioritätenliste auf, die vom Notwendigen über das Nützliche und Bequeme bis hin zum Schädlichen reichte, welches auf jeden Fall zu unterlassen war.9i Eine andere seiner finanzpolitischen Maximen untersagte das Tätigen von Staatsausgaben im Ausland, da der resultierende Geldabfluß ökonomischen Schaden anrichte und so "der Staat [,..] ärmer" würde,96 Selbst diese vergleichsweise simplen, ja trivialen Regeln wurden jedoch außer Kraft gesetzt, sobald der Hof ins Spiel kam. Zwar räumt Zincke ein, daß alle übrige Hof= und Cammer= Ausgaben nicht bestritten werden können, ohne diejenigen Ausgaben, welche zu allererst zur Gründung, Erhaltung und Vermehrung und Verwaltung aller Einkünfte und Ausgaben notwendig sind, d.h. vor allem der Finanzverwaltung selbst und der Infrastruktur zugute kämen,97 dennoch münzt er ihre finanztheoretische Priorität nicht in eine finanzpolitische um. Vielmehr relativiert er bereits 60 Seiten und ein Kapitel später diese Erkenntnis zum Vorteil jener Hofkosten, die der standesgemäßen Unterhaltung der fürstlichen Familie dienen. Zu ihren Gunsten müsse man notfalls, so Zincke, lieber alle anderen Ausgaben, ja sogar viele von denen im vorigen Cap. betrachteten [...] unterlassen oder einschränken. Dies ist eine Universal-Regel.98 Ähnliches geschieht mit der Bemerkung über die ins Ausland abfließenden Aufwendungen. Die wirtschaftlichen Einwände dagegen werden mit folgendem Hinweis beiseite gewischt:

95 96 97 98

Zincke: Einleitung zu den Cameral-Wissenschaften (wie Anm. 6). Teil II. S. 348. Ebd. Teil II. S. 367. Ebd. Teil II. S. 379. Ebd. Teil II. S. 439.

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Endlich aber erfodert auch [„.] das decomm publicum oder der bey Regenten [,..] höchst nötliige Wohlstand, daß er nicht alle Ausgaben directs ins Land fließen lassen könne."

Bei beiden Anlässen verliert jeweils ein Prinzip der kameralistischen Finanzwissenschaft, das im ersten Fall die finanzielle Leistungsfähigkeit des Staates selbst erhalten sollte und im zweiten Fall handelsbilanztheoretischen Einsichten entsprang, seine Gültigkeit, wenn die Hofausgaben berührt werden. Der Zielkonflikt zwischen den Erfordernissen höfischer Repräsentation und der Applikation kameralistischer Grundsätze wurde also auf Kosten der Finanzwissenschaft gelöst, die so an Kohärenz einbüßte. Unter diesen Umständen waren praktische Lösungsvorschläge der Kameralisten hinsichtlich der ineffizienten Wirtschaftsverwaltung der Höfe selten und reichlich vage. Zudem gelang es Zincke ebensowenig wie anderen Kameralisten, die höfische Repräsentation ökonomisch zu legitimieren. Zwar existieren einzelne Hinweise darauf, daß die Hofausgaben Beschäftigung schaffen und die Zirkulation des Geldes fordern können, doch bleiben solche Andeutungen nur isoliertes Nebenprodukt der in erster Linie klassifikatorischen Erfassung sämtlicher Hofkosten. Eine überzeugende wirtschaftliche Rechtfertigung der Hofkosten aus eigener theoretischer Anstrengung findet sich in keinem der großen kameralwissenschaftlichen Lehrbücher. Stattdessen wird der höfische Aufwand mithilfe gänzlich anderer, zum Teil vertrauter Argumente begründet. Zunächst unterstreichen die Kameralisten oft, daß im Bereich des Hofes der Wille des Fürsten, sein Geschmack und seine Vorlieben schließlich allein entscheiden.100 Damit verneinten die Kameralisten ihre eigene Kompetenz für ein Feld, das ihres Sachverstandes besonders bedurft hätte, und überließen es einem aus ihrer Sicht externen Faktor, nämlich in letzter Instanz den Maßstäben der höfischen Gesellschaft selbst. Diese ging freilich vom Prinzip der Ausgabe-Wirtschaft (Sombart) aus,101 während die Kameralisten den Primat der Einnahme vertraten. Daneben findet sich bei Zincke außerdem eine zentrale Argumentationsfigur der Zeremonialwissenschaft. So bemerkt er in seinen Anfangsgründen der Cameralwissenschaft von 1755 zur Notwendigkeit einer glänzenden Hofhaltung:

'' Zincke: Anfangsgründe der Cameralwissenschaft, worinne dessen Grundriß weiter ausgefuhret und verbessert wird. 2 Teile. Leipzig 1755. Teil II. S. 1308; vgl. auch dasselbe Argument bei Johann Heinrich Gottlob von Justi: Staatswirthschaft oder Systematische Abhandlung aller Oekonomischen und Cameral=Wissenschaften, die zur Regierung eines Landes erfodert werden. 2 Teile, Leipzig 1758. Teil II. S. 482ff. 100 Zincke: Einleitung zu den Cameral-Wissenschaften (wie Anm. 6). Teil II. S, 464 u, bes. Ders.: Anfangsgrunde der Cameralwissenschaft (wie Anm. 99). Teil II. S. 1422. 101 Werner Sombart: Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, München u. Leipzig 1913. S. 11.

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Volker Bauer Das Ansehen eines Regentens und dererjenigen, die unter ihm die Regierung in Händen haben, erfordern solches, damit die sinnlichen Menschen seines hohen Ranges und seiner Macht durch sinnliche Dinge erinnert {...] werden 1OT

Diese Passage entspricht bis in die Wortwahl hinein dem zeremonialwissenschaftlichen Kerngedanken, wie ihn Lünig, Rohr und Carrach ausgesprochen haben, die ebenso wie Zincke auf die legitimitätsstiftende Funktion des Hoflebens hinauswollten, Schließlich wiederholten auch die Kameralisten die geläufige, aber dennoch problematische Begründung, das spezifische decorum eines Fürsten erfordere ein gewisses Niveau höfischen Aufwandes.103 Die Schwierigkeit lag darin, daß man über die recht allgemeine Feststellung hinaus, der Wohlstand habe slandesmäßig zu sein,104 zu keinem verbindlichen Maßstab fand. Als etwa Johann Heinrich Jung-Stilling in seinem Lehrbuch der Finanz-Wissenschaft (1789) diesen Ausdruck gebrauchte,10S monierte ein Rezensent dieses Werks zu Recht, dies sei eine reine Leerformel, da sie den relativen, historisch veränderlichen Charakter des Begriffs übersehe.106 Tatsächlich war noch nicht einmal ausgemacht, inwieweit ein Landesherr überhaupt dem decorum unterworfen war, da ihm in seinem Territorium niemand ebenbürtig war. Zedlers Universal-Lexicon konstatiert jedenfalls 1748, daß ein Potentat in seinem Lande keinen Wohlstand zu beobachten habe, indem er nicht nur daselbst niemanden, als seines gleichen hat, weil auch seine Gemahlin und Printzen seine, obwohl die höchsten Unterthanen sind; sondern auch eben nicht nöthig hat, sich durch dieses Mittet eine Gunst zu erwerben.101 Die Kameralisten waren also offenbar weder in der Lage, den Hof anhand der von ihnen selbst entwickelten finanzwissenschaftlichen Prämissen zu beurteilen, noch gar eine eigenständige kameralistische Rechtfertigung für ihn zu entwickeln. Vielmehr machten sie dafür Anleihen bei der Zeremonialwissenschaft. Die spezifisch kameralistische RationaHtät wurde also auf dem Feld der Hofökonomie suspendiert; dort behielt die höfische RationaHtät ihre Geltung, wie sich im zeremonialwissenschaftlichen Diskurs gespiegelt hatte. Es gab freilich auch wenige bemerkenswerte Ausnahmen, etwa in einer Textstelle in Johann Heinrich Gottlob von Justis Staalswirlhschaft (Erstausgabe 1755), Obwohl Justi gerade auch in seinen hofokonomischen Passa-

102 103 IW 105 106 107

Zincke: Anfangsgründe der Cameralwissenschaft (wie Anm. 99). Teil II. S. 1441; vgl. auch Justi: Staatswirthschaft (wie Anm. 99). Teil II. S. 582. Vgl. z.B. Zincke: Ebd. Teil II. S. 208 o. Justi: Ebd. Teil II. S. 570ff. u. 579. Justi. Ebd. Teil II. S. 571; Zincke. Ebd. Teil II. S. 1431. Johann-Heinrich Jung-Stilling: Lehrbuch der Finanz=Wissenschaft. Leipzig 1789. S, 20. Rezension von Johann Heinrich Jung-Stilling: Lehrbuch (wie Anm. 105). S. 230f, In: Allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 92. l, Stück. 1790. S. 230-235. Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. Bd. 58. Leipzig u. Halle 1748. S. 87.

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gen108 dem Vorbild Zinckes folgte, lehnte er doch einmal explizit das decorum-Argument ab, nämlich dort wo er von "Kleidung u. Juwelen für die fürstlichen Personen" handelt: Man kann die Wohlanständigkeit und die hohe Würde des Regenten in diesen Dingen nicht ganz aufler Augen setzen. Allein, man fängt nunmehro von selbst an den Grundsatz anzunehmen, daß der Stand des Regenten dergestalt erhaben ist, daß er dieses äußerlichen Schimmers, wenigstens täglich, gar nicht bedarf.109

Noch interessanter ist Johann Christoph Erich von Springers An einen leuischen Hofmarschall aus dem Jahre 1774, welches eines der wenigen Bücher ist, die sich ausschließlich mit der Hofbkonomie auseinandersetzen. Es ist insofern besonders hervorzuheben, als es im Unterschied zu den allermeisten anderen kameralistischen Lehrbüchern einen konkreten Lösungsversuch für das Problem der wirtschaftlichen Verwaltung des Hofes vorschlägt, Springer empfiehlt ein radikal marktwirtschaftliches Vorgehen, Der Hof solle sämtliche Küchengärten, Werkstätten und sonstige Eigenbetriebe aufgeben, da "der eigennützige Misbrauch und die Vervortheilung der Bedienten" einen ständigen Produktivitätsnachteil gegenüber Privatunternehmungen mit sich brächten. 110 Daher dürfe der Hof allein als Konsument am Marktgeschehen teilnehmen, zumal so auch die produzierenden Untertanen am meisten profitierten, "denn der Hof muß nie Commerz treiben, wenn es irgend möglich ist, das Commerz einem Privato zu überlassen".111 Damit hat Springer den Anspruch der Kameralisten, den Hof unter wirtschaftlichem Blickwinkel zu betrachten, am radikalsten durchgeführt. Seine Kollegen sind dagegen davor zurückgeschreckt, die logische Konsequenz aus ihrem funktionalen Ansatz auch für den Hof zu ziehen. So hielten die Kameralwissenschaften selbst um den Preis eines logischen Bruchs am Primat der Hofrepräsentation und des -Zeremoniells über die Hofökonomie fest.

IV

Neben den zeremonial- und kameralwissenschaftlichen Beiträgen griff ein weiterer Diskurs in die Debatte um die Hofökonomie ein. Diesen Strang bildete die Oikonomik 112 irn traditionell aristotelischen Verständnis als jener Teil der praktischen Philosophie, der sich mit der richtigen Führung eines

108 1:3 no

m 112

Justi: Staatswirthschaft (wie Anm. 99). Teil II. S. 560-586. Ebd. Teil II. S. 564. Johann Christoph Erich von Springer: An einen teutschen Hof marschall, Riga u. Leipzig 1774. S. 128. Vgl. auch S. 76, 78ff., 84f, 90, 92ff. Ebd. S. 90. Die Schreibweise Oikonomik und oikonomisch wird hier gewählt, um zu verdeutlichen, daß es hier nicht um den modernen WirtschaftsbegrifT geht, sondern um die traditionelle Haushaltungskunst.

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Haushalts befaßt,113 Es handelt sich bei ihr also nicht um eine Lehre vom Markt, sondern eine Lehre vom Hause (Brunner),114 das als weitgehend autonome Einheit von Produktion und Konsumtion gedacht wurde, deren Leitung dem Hausvater oblag. Von ihm leitet sich auch die Bezeichnung für die deutsche frühneuzeitliche Variante der Oikonomik ab, die als Hausväterlitemtur bezeichnet wird. Sie wurde durch Johann Colers Oeconomia ruralis et domestica (Erstausgabe 1593) begründet, der die oikonomische Konzeption an die spezifischen deutschen Umstände anpaßte und in seinem Werk das entsprechende agronomische Wissen mit einer generellen ethischen Reflektion über den Haushalt verband.115 Diese Kombination ist ein entscheidendes Merkmal der Hausväterliteratur insgesamt, die neben praktisch-technischen Fragen der Landwirtschaft immer auch die richtige innere Ordnung des Haushalts diskutierte, um Gluck und Gedeihen der Hausgenossenschaft sicherzustellen. Sie analysierte zu diesem Zweck besonders auch die drei unterschiedlichen Arten von Beziehungen innerhalb der strikten häuslichen Hierarchie: Wir finden aber hie drey Arten von Gesellschaften / die Erste zwischen Ehemann und Eheweibe / die Andere zwischen Eltern und Kindern / die Dritte unter Herschafften und denen Untergebenen.116

Die oikonomische Ordnung beschreibt also einen hierarchischen Herrschaftsverband mit festgelegten sozialen Rollen, und dieses Modell ist dann auch auf die politische und religiöse Sphäre ausgedehnt worden: Ebenso wie der Hausvater seine häusliche, regierte der Fürst seine Landes- und Gott die gesamte Weltoikonomie. Für Wolf Helmhard von Hohberg, Verfasser der berühmten Georgica Curiosa von 1682, war "GOtt der oberste Schöpfer / Erhalter und Hausvatter Himmels und der Erden", mit anderen Worten der "Welt=Oeconomia", 117 Zusammen mit den Werken Colers und Hohbergs muß ein weiterer Beitrag zu den Höhepunkten der Gattung gezählt werden, nämlich Franz Philipp 113

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117

Grundlegend immer noch Otto Brunner: Das "Ganze Haus" und die alteuropäische "Ökonomik". In: Ders.: Neue Wege der Sozialgeschichte. Vorträge und Aufsätze. Göttingen 1956. S. 33-61 u, 225-230; vgl. daneben zur Geschichte der Oikonomik Sabine Krüger; Zum Verständnis der Oeconomica Konrads von Megenberg. Griechische Ursprünge der spätmittelalterlichen Lehre vom Haus. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 20 (1964), S. 475-561 u. Irmintraut Richarz: Oikos, Haus und Haushalt. Ursprung und Geschichte der Haushaltsökonomik. Göttingen 1991. Otto Brunner: Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612-1688. Salzburg 1959. S, 245. Johann Coler: Oeconomia ruralis et domestica. Frankfurt a.M. 1680. Franz Philipp Florinus: Oeconomus prudens et legalis. Oder Allgemeiner Kluger und Rechts=verständiger Haus=Vatter, Frankfurt a.M. u. Leipzig 1722. Teil I. S. 12. Wolf Helmhard von Hohberg; Georgica Curiosa, Das ist: Umständlicher Bericht und klarer Unterricht Von dem Adelichen Land= und Feld=Leben. Nürnberg 1682, Zuschrift.

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Florinus'm Oeconomus prudens et legalis. Oder Allgemeiner Kluger und Rechts=verständiger Haus=Vatfer von 1702.119 Auch er präsentiert, wenn auch besonders elaboriert, das gesamte für die ordentliche Führung eines Haushalts erforderliche Wissen, ist darüber hinaus aber besonders interessant, weil er im Jahre 1719 eine Fortsetzung erfuhr, die schon 1702 mit folgendem Satz angekündigt worden war: Wir haben in diesem Ersten den allgemeinen KJug= und Rechts=verständigen

Haus=Vatter fürstellig gemacht / und daher werden wir mit unsem Gedancken / im ändern Theil / höher steigen und einen Hof betrachten.120 Das Versprechen wurde unter dem Titel Oeconomus prudens et legalis con(inuatus. Oder Grosser Herren Stands Und Adelicher Haus = Vatter121 eingelöst. Der Aufbau dieses Werks122 ist weitgehend parallel zu dem seines Vorgängers, allerdings betrachtet es die Oeconomie des Hofs anstelle der gemeinen Oeconomie™ Florinus fuhrt aus: Es kan aber der Hoff vornehmlich auf dreyerley Arth betrachtet werden / auf moralisch / auf politische / und auf oeconoinische Arth,'24

Letztere Perspektive beherrscht insbesondere die Abteilung "Von Einrichtung Eines Fürstlichen HofF=Staats",t25 in der die Wichtigkeit der Ordnung hervorgehoben wird: Wie nun die Ordnung gleichsam die Seele aller Politisch3 und Moralischen Dinge ist / [...]; Also erfordert insonderheit die Hofhaltung / um ihrer Weitläufftig= und Kostbarkeit willen / eine gute Ordnung und Aufsicht.126 Hier klingt bereits an, daß an einem ordentlich geführten Hof keinerlei Verschwendung zu dulden ist und "ein erleuchteter und vernünfftiger Fürst seinen Staat nach denen Einkünfften regutiren [...] müsse".127 Unmäßigkeit und Unordnung sind vor allem auch deshalb zu vermeiden, weil der Zustand des Hofes den des ganzen Landes mitbestimmt,128 Die für Florinus so zentrale höfische Ordnung wird zum einen durch die Rang- und Hofordnungen garan-

119 120 121 122 123 124 125 126 127 128

Zur Verfasserfrage des Florinus Gotthardt Friihsorge: "Oeconomie des Hofes", Zur politischen Funktion der Vaterrolle des Fürsten im Oeconomus prudens et legalis des Franz Philipp Florinus, In: Elger Blühm u.a. (Hg.): Hof, Staat und Gesellschaft (wie Anm. 29). S. 41-48, hier S. 42, Anm. 4. Zit. als Florinus: Oeconomus prudens et legalis (wie Anm. 116). Teil I, Florinus. Ebd. Teil I. Vorrede. 7it. als Florinus: Oeconomus prudens et legalis (wie Anm. 116). Teil II, Vgl. dazu Frühsorge: "Oeconomie des Hofes" (wie Anm. 118). Florinus: Oeconomus prudens et legalis (wie Anm. 116). Teil II. Vorrede. Ebd. Teil II, S, 44f Ebd. Teil II. S. 43-220. EM. Teil II. S. 107. Ebd. Teil II. S. 45, Vgl. auch S. 74 If. Ebd. Teil II. S. 44,

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tiert,129 zum anderen durch das Zeremoniell, dem er ebenfalls ein umfangreiches separates Kapitel widmet.130 Dort zitiert er auch die einschlägigen Beiträge zur Wissenschafft des Ceremoniels, der "Hof=Metaphysic",m darunter auch Winterfeld und Stieve.132 Entscheidend ist für die Darstellung des Hofes in der Fortsetzung zum Oecomus prüdem et legalis die Reichweite des dort verwendeten Hofbegriffs. Anders als der Kameralist Seckendorff, der in seinem Teutschen Fürstensiaai (Erstausgabe 1656) den Hofstaat unter Ausschluß der Verwaltungsbehörden definiert als die gantze bestellung der aemter und dienste, auch die verschaffimg dessen, was in einem fürstl, Hof vor den Landes=Herrn, dessen Gemahlin, Kinder, und die allerseits dabey unentbehrliche bedienten erfordert wird,133 bezieht Florinus auch den gesamten administrativen und militärischen Apparat in den Hof ein. Seine "Eintheilung des Hoffes" umfaßt "Geistliche Hoffbedienungen", den "Hoff=Staat selbst" sowie den "Regierungs=, Kriegs=" und "Cammer=Staat".13

Kernpten 1668. ORDO PROCESSION!S [unpaginiert] - SAECULUM NOSTRUM In Illuminatione vultus tui. Psal. 89.v.8. Unser Erstes JubeI=Jahr Der in Mitten deß Feuers Erleuchten / aber wunderbahr unbeschädigten höltzernen Bildnuß Der Heiligen Groß=Mutter ANNAE, So in dem Jahr 1729. [...) mit einer herrlichen Translation dreyer HH. Römischen Märtyrer / [...] und durch eine solemne Octav celebriert worden. In dem uhralten Löbl. Stiffl und Closter Gotteszell [...]. Druck Straubing 1730. S. 17-19. - Der Neue Himmel zu Diessen (wie Anm. 57). S. 4-6. Beschreibung Der dreyfachen, am Sonntag der Heiligsten Dreyfaltigkeit, als am 5, Juni i des 1746. Jahrs, eingefallenen / biß Mittwoch den 8, ejusdem inclusive fortgesetzten, und auf das herrlichste celebrirten SOLEMNltät. In: Vier auserleßene Lob= und Ehren=Predigen / Bey eines 600, Jährigen Jubel=Fest dreyfach celebrierten Solemnität [,..] Des Nunmehro 600. Jahr beständig unter dem Heil, und Befreyten Cisterzer=0rden stehenden Closters Alderspach {,..]. Hof bei Regensburg 1747. S, 39-62, hier S. 56-60. Beschreibung Der dreyfachen [...] Solemnität (wie Anm. 86). S. 60. S. hierzu bes. die Prozessionsordnung in: Die {.,,) Herrlichkeit Der Eichstättischen Kirch (wie Anm. 49). S. 10-27; 186f. Achttägiger Jubel (wie Anm. 65). S. 20 mit Kupferstich der Prozessionsordnung. Beschreibung der Triumphwagen ebd. S, 20- 32,

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Procession mit allen Creutz=Fahnen / Labans, Ferculis &c, sich so lang und breit der grosse Vor=Hof zu beyden Seiten gestellet / daß die ankommende heilige Märtyrer Marius, Caelestinus, und Felicissimus mitten hindurch / und also Sig=reich unter der dritten Triumph=Porten bey währendem Schiessen / Glocken= Orgl= Paucken= und Trompeten=Schal] in die Stüffl=Kirchen wurden einbeglaitet / und bis zu dem Chor=Altar fortgetragen / allwo Ihro Hochwürden und Gnaden Herr Praelat von Au das allgemeine Danck= und Lob=Gesang Te Deum laudamus angestimmet / welches die lieblichere / längere / Majestätische Music unter dreymahl untermängten Lösung deß Geschützes fortgesetzt / und vollendet. Inzwischen aber wurden die heilige Leiber SS. Marii und Caelestini, auch andere Reliquien auf ihre zugewidmete AJtär ehrenbietigist gebracht / beygesetzt / und inthronisiert,90 Es folgte das Hochamt, das vorn Auer Prälaten mit "Bischöfflichen Ceremonien" gehalten wurde. Wie man die Einholung in die Kirche inszenierte, so stellte man sich auch den Einzug der christlichen Märtyrer in den Himmel vor. So zeigt der zur Zeit der Translation entstandene Freskenzyklus in Ranshofen (von Christoph Lehrl, 1699), der Leben und Martyrium des Ortsheiligen Pankratius illustriert, im letzten Fresko dessen glorreiche Himmelfahrt in einem von Engeln gezogenen Triumphwagen (Abb. 97).91 Indem die Märtyrerleiber das Spalier stehende Volk und Militär und die eigens zu diesem Anlaß errichteten Ehrenpforten92 passieren, nimmt ihr Zug den Charakter eines Triumphzugs an. Dienten Triumphbögen in der Barockzeit meist der Ehrung eines in die Stadt einziehenden Fürsten, eines siegreich aus der Schlacht heimkehrenden Feldherren93 oder auch als ephemerer Schmuck der Marsch-Route für die Cavalcade bei der Zeremonie des Papst-

"" Ebd. S, 33. Zur Ikonographie des sakralen Triumphzugs s, Corpus Rubenianum. Hg. von Ludwig Burchardt. Part 2. Vol. 1/2: The Eucharist Series. Brüssel 1978; bes. Bd. 2,1. S. 165212 (mit etlichen Abb. in Bd. 2,2); Ausstellungskatalog L'Effimero Barocco. Strutture della festa nella Roma del '600. Hg. v. Maurizio Fagiolo dell'Arco u. S. Carandini. 2 Bde. Rom 1978/79 (= Bibliotheca di Storia dell'Arte, 10/11); Hammerstein: Musik der Engel (wie Anm. 22). S. 831 92 Auf die genaue Gestaltung und das ikonographische wie emblemaüsche Programm der Triumphpforten, das aufler dem Martyrium und Triumph der neu transferierten Heiligen meist die Stiftungs- und Klostergeschichte zum Gegenstand hat, kann in diesem Zusammenhang nicht explizit eingegangen werden. Zu den ephemeren Dekorationen des Translationsprozessionswegs s. Achennann: Die Katakombenheiligen (wie Anm. 55). S. 102-113. - Ephemere Trauerdekorationen wurden für die Reliquien nie errichtet, denn diese sollten ja als von Gott verklärte, ewig lebende und triumphierende Sieger über den Tod verherrlicht werden. 93 Vgl. Rohr: Ceremoniel-Wissenschaffi Der großen Herren (wie Anm. 13). S. 611-613. - Ein solcher Triumphbogen mit politisch-propagandistischer Absicht (Apotheose des Fürsten und seiner Taten) wurde beispielsweise 1683 in München für den siegreich aus den Türkenkriegen heimkehrenden Kurfürsten Max Emanuel errichtet. Hans Martin von Erffa: Ehrenpforte, In: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte (RDK), Bd. 4, Stuttgart 1958. Sp. 1443-1504, hier Sp. 1472, 1484. 91

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Possess,94 so boten sie sich auch zur Apotheose der christlichen Märtyrer geradezu an, denn diese zogen ja als standhafte, siegreiche Kämpfer für den wahren Glauben in die Kirche ein und nahmen diese als neue Schutzherren in Besitz. Wie die detaillierten Beschreibungen des figürlichen und emblematischen Schmucks in den Festberichten zeigt, legte man besonderen Wert darauf, daß die Katakombenheiligen, über deren Vita ja nichts bekannt war, als glorreiche, triumphierende Sieger über Heidentum, Tod und alle irdischen und teuflischen Versuchungen verherrlicht wurden - ebenso wie durch die personifizierende Art ihrer Fassung, ihren 'lebenden1 Auftritt in der Prozession und in Salutationsspielen und die anschauliche Schilderung ihres Martyriums in den Festpredigten,93 Die ephemeren Dekorationen, die den Prozessionsbzw. Einzugsweg schmückten, zeigten daher - wie die Triumphpforte aus Raitenhaslach - in freier Erfindung die Hinmetzelung der Märtyrer und den himmlischen 'Lohn1 für ihre Treue zum christlichen Glauben (Abb, 98: in den Himmel aufgenommen, auf Wolken thronend und von göttlichem Glanz beschienen, wird der Märtyrerfamilie von einem Engel der Siegeskranz

"'

Im 17. und 18. Jh. war die Zeremonie der Possessio, der päpstlichen Besitzergreifung vom Lateran und damit vom Bistum Rom, "die unmittelbare Macht- und Autoritätsentfaltung des neugekrönten Papstes; er war die Inthronisation auf dem römischen Bischofsstuhl; und er wai die Besitznahme der Souveränität im Kirchenstaat". Hans Martin von Erffa; Die Ehrenpforten für den Possess der Päpste im 17. und 18, Jahrhundert. In: Festschr. f. Harald Keller Darmstadt 1963, S. 335-370, mit etlichen Abb., hier S, 335. Das Papstzeremoniell, das die Doppelposition des Papstes als geistiges Haupt der Kirche und als souveräner Fürst des Kirchenstaates betont, weist Parallelen auf zum Einholungszeremoniell des Heiligen, dem als Ortsheiligem und Schutzpatron eine ähnliche Aufgabe zukommt, - Zur Ehrenpforte beim Papstpossess vgl. auch Ders.: Ehrenpforte (wie Anm, 93). Sp. 145If. u. 1479; L'Effimero Barocco (wie Anm, 91). 2 Bde. Das Zeremoniell des Papst-Possess mit Zugordnung, ephemeren Dekorationen (Ehrenpforten usw.) und zeremoniellen Akten (Schlüsselübergabe; Präsentation der fünf Bücher Mose durch die Juden etc.) beschreiben Lünig: Theatrum Ceremoniale (wie Anm. 1). Bd. 2. S. 200-202; Zedler: UNIVERSAL LEXICON (wie Anm. 12). Bd. 26. Sp. 13f. Im Vergleich zu jenen Katakomben hei l igen, die namenlos gehoben wurden und nachträglich getauft werden mußten, war man in Raitenhaslach mit der römischen Märtyrerfamilie mit bekanntem Namen und Adelswappen in einer vergleichsweise besseren Ausgangssituation. Trotzdem ist erstaunlich, welche Phantasie man aufwandte, um den Heiligen mehr 'Leben1 zu verleihen: Der Festredner Gerardus Kraus erfindet in seiner Oktavpredigt frei die christlichen Tugenden, durch die sich die Märtyrerfamilie ausgezeichnet habe, und schildert voll rhetorischer Raffinesse in wortreichen Metaphern und Vergleichen das Martyrium der Familie, über das eigentlich nichts bekannt ist; ebenso verfährt Johann Michael Rottmayer bei der Gestaltung der Altaiblätter mit den Darstellungen ihres Martyriums. Gerardus Kraus: Achte Predig / Wunderlicher Kampff und rühmlicher Sig Der heiligen Märtyrer AUSANII deß Vatters / CONCORDIAE der Mutter / und FORTUN AT AE Deß Töchterleins (...]. In: Glorwürdiges Sechstes Jubel=Jahr (wie Anm. 78). S. 213-246, - Vgl. auch Krausen: Verehrung (wie Anm. 60). S. 41 u, 44.

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gereicht)96 und betonten - wie die Ehrenpforte in Ranshofen - in ihrem ikonographi sehen Programm allgemeine Märtyrertugenden, wie: Stärke, Standhaftigkeit, Treue zum Glauben, Weisheit usw, (Abb. 99). In Ranshofen wurden anläßlich der Festoktav drei Triumphpforten errichtet, die im Festbericht durch Kupferstiche illustriert und genau beschrieben sind. Die erste, 54 Schuh hohe und 32 breite Triumphpforte wurde am Fuß des Berges unterhalb des Klosters aufgestellt "und denen Heiligen allda herrlichist einziehenden Obsigeren Mario, Caelestino, und Felicissimo gewidmet" 91 Sie zeigte zur Ortsseite im oberen Bereich die beiden glorreichen Märtyrer Marius und Caelestinus in romanisierender Legionärskleidung mit Lorbeerkränzen, Heiligenschein und Märtyrerpalmen unter einem Baldachin stehend, die Bekrönung der Pforte bildete die auf einem geflügelten Pferd über verschiedenen Märtyrerwerkzeugen aufsteigende Personifikation der Fama. Zweck dieser Aufbauten sind nicht allein die Delectatio der Festbesucher und die Förderung ihrer Andacht. Die Anlage solcher ephemerer Dekorationen ist auch als Versuch zu werten, den gesamten Raum in und um die Klosterkirche mit einem Zeichensystem zu durchziehen und zu gliedern, das den Besucher quasi zum Abschreiten anleitet und ihm die zeremonielle Bewegung durch den Raum vorgibt. Gewöhnlich wurden eine bis drei Triumphpforten aufgestellt, die am Tor des Klosterbezirks, am Eingang zum Kirchhof und unmittelbar vor dem Kirchenportal standen, also an zeremoniellen Schlüsselpositionen. Dazwischen konnte ein System von Galerien aus bemalten, emblembesetzten, sich perspektivisch verjüngenden Pyramiden oder emblembesetzten Baumalleen aus Zypressen oder Maien angelegt sein, das Blick und Gang der Besucher auf die Pforte lenkte.98 Bemerkenswerterweise steht diejenige Triumphpforte, die dem überführten Heiligen gewidmet ist, zumeist auf der Klostergrenze, wohl um seine Schutzfunktion zu versinnbildlichen." Die beiden anderen, kleineren Triumphpforten waren in der Regel den Stiftern und Wohltätern des Klosters, der Klostergeschichte oder dem Kirchenpatron gewidmet. In Rottenbuch wurde 1710 anläßlich der Einsetzung der beiden kostbar gefaßten hl Leiber Innocentius und Clemens, um "solche Heilige Leiber zu seiner Zeit recht herrlich und kostbahr zuempfangen", eine den gesamten Klosterhof durchziehende ephemere Dekoration aus einer Triumphpforte (vor dem Kirchenportal) und kleineren Bögen, Pyramiden und Baumalleen geschaffen. Unter den üblichen akustischen Signalen und Absingen des Hymnus"Rex glorose Martyrum" zog die Prozession durch diese Dekoration in die "

Glorwürdiges Sechstes Jubel=Jahr (wie Anm. 78), Kupferstich nach S, 88.

'

Acht=tägiger Jubel (wie Anm. 65). S. 8, Beschreibung der Triumphpforte ebd. S. 812; Kupferstiche nach S. 8 und nach S, 10. Beschreibung der beiden anderen Pforten ebd. S. 12- 18 mit Kupfern nach den S. 12 u, 16.

98 99

S. z.B. Tausendjähriges Jubel=Fest (wie Anm. 72). S. 301-318. Weiteres Beispiel neben Ranshofen und Raitenhaslach; Aldersbach, wo 1747 diejenige Triumphpforte, die dem Märtyrer Valerius gewidmet war, vor dem Klostertor stand. Beschreibung Der dreifachen {...] SOLEMNItät (wie Anm. 86). S. 43f.

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Kirche, "sambt einem grossen gantz neu hierzu bereiteten mit 3, Pferdt neben einander bespannten Triumph=Wagen / auf welchen die 2. Heiligen Innocentius und Clemens siegreich hereinzogen".100 In Eichstätt, wo nicht nur das fürstliche Hochstift die Dekoration des Prozessionswegs für die Translation des hl. Willibald organisierte, sondern hierzu auch die übrigen Klöster, die Bruderschaften und den Stadtrat heranzog,101 durchzog die Dekoration des Prozessionswegs sogar die gesamte Stadt mit einem den Raum organisierenden System von Symbolen, Zahlen und Allegorien, das nicht nur die Tugenden und den Ruhm des hl. Willibald versinnbildlichte, sondern Eichstätt für die Dauer des Festes in ein Abbild des himmlischen Jerusalems verwandeln sollte.102 Die Begrüßung und Einholung der Heiligengebeine wurde mit denselben Akten vollzogen, die auch den Empfang hoher geistlicher wie weltlicher Gäste eines Klosters auszeichneten. Das Einholungszeremoniell der Klöster sah vor, daß Abt und Mönche dem Gast in feierlichen Gewändern und mit liturgischem Gerät in einer Prozession entgegenzogen, ihn ehrfurchtig durch Vemeigung bzw. Kniefall, Friedenskuß, Inzensation und Begrüßungsgedicht begrüßten und ihn unter Gesang und Glockengeläut zum Gebet in die Kirche geleiteten.103 In den barocken Quellen wird außerdem immer wieder die symbolische Übergabe der Kirchen- bzw. Abteischlüssel an den Landesherrn erwähnt,104 )0

° Stamm= und Blut=rothes Rothenbuech (wie Anm. 56). Sechster Absatz. Von den Heiligen Leiberen Innocentij & dementis [unpaginiert]. 101 Die [...) Herrlichkeit Der Eichstättischen Kirch (wie Anm. 49). S. 8f. 102 Anhängiger Bericht, und kurtz=verfasste Beschreibung Über die Währender SAECULAR-OCTAV Errichtete Triumph=Pforten, Daran ersehnen Sinnreichen Affixionen, Theatralischen Sing=Spihl [,,.]. Mit eigener Paginierung in; Die {.,.] Herrlichkeit Der Eichstättischen Kirch (wie Anm. 49). S. 12-54. 103 S. hierzu Peter Willmes: Der 'Herrscher'-Adventus im Kloster des Frühmittelaltes, München 1976 (= Münstersche Mittelalter-Schriften 22). S. 158-175. Diese Ehrung des Gastes durch ein Empfangszeremoniell, das sich aus dem antiken Staatszeremoniell und biblischen Vorbildern ableiten läßt, sieht bereits die Regel des hl. Benedikt von Nursia (Kap. 53; 6. Jh.) vor; diese Einholung und Begrüßung jeden Gastes bestand noch in der frühen Neuzeit als zeremonielle Ehrung hoher Herrscher mit geringen Modifikationen. "In analoger Weise versteht die Gemeinschaft, die Reliquien einholt, diese als sicheren Hinweis auf die Anwesenheit des oder der betreffenden Heiligen zumindest zum Zeitpunkt des Einzugs." (Ebd. S. 107.) 1M Beispiele; Am 10. Oktober 1784 wurde Kurfürst Karl Theodor, der zur Jagd nach Fürstenfeldbruck kam, vom Fürstenfelder Abt und Konvent an der KJosterjurisdiktionsgrenze empfangen, wo der Abt ihm persönlich im Rahmen des Begrüßungszeremoniells den Abteischlüssei überreichte. Gerard Führer: Chronicon Fürstenfeldense Von Entstehung dieses klo.si.ers an, bis zu ihrer Auflößung im Jahre 1802 (BStB Cgm 3920). S. 249, § 315. Auch dem zur Weihe der Wallfahrtskirche VierzehnheiUgen angereisten Fürstbischof Adam Friedrich von Seinsheim wurden 1772 bei der Begrüßung die Abteischlüssel präsentiert (s. Anm. 29). - Die Präsentation der Stadt- bzw. Kirchenschlüssel an den Landesherrn als Bestandteil des Empfangs- wie auch des Huldigungszeremoniells nennt Rohr: Ceremoniel-Wissenschafft Der großen Herren (wie Anm. 13), S, 614 u. 662, Auch bei der Zeremonie des Papstpossess wurden dem neuen

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Um der Fiktion der Ankunft und des Empfangs eines Himmelsfürsten und seiner Inbesitznahme der Schutzgewalt im Klosterbereich noch mehr Realität zu verleihen, wurde sogar dieser zeremonielle Akt der Schlüsselübergabe inszeniert. Im Salutationsspiel anläßlich der Translation des Katakombenheiligen Blasius nach Rheinau (1647) machte die Prozession nach dem Einzug in die Kirche auf ihrem Weg zum Hochaltar an fünf Stationen halt, und es wurde eine Begrüßungsszene eingeschoben, in der kostümierte Genien und Ortsheilige den neuen Gast begrüßten und ihm huldigten. Beim zweiten Halt zogen Petrus und Paulus dem Märtyrer entgegen und begrüßten ihn mit der Übergabe der Schlüssel und des Schwertes. In dem vom Petrus-Darsteller gesprochenen Text wird sein Attribut, die Himmelsschlüssel, als Schlüssel der Rheinauer Kirche uminterpretiert und dem neuen Heiligen mit der Übergabe zugleich die Befehlgewalt in diesem Haus überlassen, womit sich die Bitte um Schutz verbindet.105 Für den Katakombenheiligen reagierte im Spiel stellvertretend eine andere, als sein Schutzengel kostümierte Person. Auch andernorts läßt sich das Bemühen nachweisen, die Märtyrer mit allgemein bekannten, zeremoniellen Akten zu begrüßen und sie im Empfangsund Inthronisationszeremoniell als Personen auftreten zu lassen, um sie als ewig lebende, triumphierende Himmelsfürsten faßbarer zu machen. Ein Indiz hierfür ist die Tatsache, daß die Begrüßung zwischen den 'alten' Ortsheiligen und dem 'neuen' Schutzpatron der Kirche, die sich zunächst in der Begegnung von Reliquien und Standbildern in der abstrakten Form einer scena mulct vollzog, zunehmend dramatisiert und zu schauspielerischen Einlagen ausgeweitet wurde, in denen anfangs nur Schutzengel oder Genien, ab ca. 1650 dann die Heiligen selbst, von verkleideten Schauspielern dargestellt, agierten.10'' Diese Salutationsspiele, die während der Translationsprozessionen aufgeführt wurden, sind deutlich zu unterscheiden von den übrigen geistlichen Theateraufführungen, wie sie im Rahmen kirchlicher Feste stattfanden. Der wesentliche Unterschied besteht darin, daß die historisch

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Papst nach seiner Inthronisation, Einkleidung und Krönung die Schlüssel der Stadt Rom sowie der Lateranskirche präsenüert. Vgl. die Beschreibung bei Lünig: Theatrum Ceremoniale (wie Anm, 1), Bd. 2, S. 202. "Am ietzo (..,] seindt aufgezogen die vornernbste Patronen des Gottshaus unnd grüeßen den Marter Heyligen: St. Petrus zwar mit Übergab der Schlüßlen, St. Paulus aber des Schwertes, die selben gemein und mit ihnen zuo gebrauchen in Schutz und Schirm des Gottshaus: St, Petrus; Wan man ein lieben Gast empfanget, Die Schlüssel gibt man Ihm zuo handt: Den gwalt im Haus gibt man ihm all, Das er schaff und beith, was ihm g'fall. Dis Gottshaus Schlüssel ich bewahr, Gibs dir Basilij Martyr dar. Mit mir soll du sie haben gmein, Wollest nur gern hie bei uns sein, Helfen ausschließen all unfahl, Aufschießen aber den Himmelssahl." - Spieltext in; Historia Translationis S, Basilij (unpaginiert; Stiftsarchiv Einsiedeln, Rheinauer Archiv, R 45), zit. nach Achermann (wie Anm, 55). S. 197. Legner: Präsenz des Heiltums (wie Anm, 61). S. 123-125; Achermann: Die Katakombenheiligen (wie Anm, 55), S, 14If. Zu den im folgenden besprochenen Salutationsspielen vgl. Achermann. S. 184-218; Liebhart: Katakombenheilige (wie Anm. 77). S, 489-491,

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orientierten Theateraufführungen, die zumeist die Geschichte des Klosters oder eine Heiligenlegende allegorisch umsetzen,107 in erster Linie "zu einiger Unterhaltung der anwesenden hohen Gästen",108 also der Delectatio dienen, wogegen die Salutationsspiele als Versuch zu werten sind, den im Hier und Jetzt stattfindenden Begrüßungs- und Empfangsvorgang (Empfangsrede, Schlüsselpräsentation usw.) in Szene zu setzen, somit das Zeremoniell selbst ersetzen und sich folglich auf einer ganz anderen Realitätsebene abspielen. Einen Eindruck von der Inszenierung solch eines Saiutationsspiels vermittelt das Wettinger Translationsbild, das im unteren Teil die ephemere Dekoration einer Prozessionsstation von 1652 zeigt (Abb. 100), In der Mitte ist das kapellenartig ausgezierte Zelt zu sehen, in dem die Reliquien der Heiligen Marianus und Gertulius aufgebahrt und verehrt wurden. Links saßen unter einer triumphbogenartigen Laubendekoration die höchsten geistlichen Würdenträger (vier Prälaten und ein päpstlicher Nuntius, dem der zentrale Platz unter einem Baldachin zukam) eine Stufe erhöht auf Armsesseln, mit bestem Blick auf die gegenüber errichtete Bühnendekoration, Unter dem mittleren Bogen der Bühnenrückwand stand der 16 Werkschuh hohe Triumphwagen, der auch in der Prozession mitgefühlt wurde. Besetzt mit den Figuren der Ecclesia und der unter einem Baldachin thronenden Maria Marisstella, wurde er von Personifikationen der Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe gezogen.109 Agierten im Wettinger Salutationsspiel noch die Schutzengel der überführten Heiligen und des Klosters, so wurde in Irsee 1668 bei der Translation des Katakombenheiligen Eugenius, eines zum Christentum bekehrten afrikanischen Königs, der 262 in Rom enthauptet worden war, ein Salutationsspiel inszeniert, in dem die Orts- und Ordensheiligen und eine Personifikation des Benediktinerklosters den neuen Märtyrer selbst begrüßten und in die Kirche eingeleiteten. Im Festbericht heißt es, man wolle dem . Eugenius Märtyrer / König in Africa / [...] drey sonderbare Triumph=Läger auffschlagen / ehe vnd zuvor wir ihme in vnserem Gottshauß die völlige Possession ertheilen",110 Diese drei Triumphlager meinen die einzelnen Bühnen und Akte des Singspiels, das sich auf drei Prozessionsstationen verteilte. Wurden an 107

Beispiele für derartige Unterhaltungskomödien: In Rottenbuch wurde 1660 "ein überaus schöne Comödie" gehalten, in der "das Leben und Martyr der zwey Heiligen Primi und Feliciani sehr anmüthig repraesentieret worden". Stamm- und Blut=rothes Rothenbuech (wie Anm. 65). Anderter Absatz, Von denen zwey Heiligen Leiberen Primi & Feliciani. [unpaginiertj. - Im Rahmen der Festoktav von Gotteszell führte man eine Komödie mit dem Titel "Das Durch die wüttende Flammen verhörgt= und zerstörte Aber Durch die vilvermögende Gnaden der Heiligen Groß=Mutter ANNAE Wiedemmb Erquickt und erfrischte Stifft und Closter Gotteszetl [,..]" auf, "damit noch mehr Volck herzugezogen wurde". SAECULUM NOSTRUM (wie Anm. 86). S. 17; Anhang nach S. 300 [unpaginiert]. 1113 S. Tausendjähriges Jubel=Fest (wie Anm. 72). S. 334. "" Zu diesem Stich s. Achermann; Die Katakombenheiligen (wie Anm. 55). S. 106- 108 mit Tafel 10. 110 TRIA CASTRA (wie Anm. 86). Zuschriffl (unpaginiert].

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den ersten beiden Triumphzelten die Trauer Kloster Irsees über die im Dreißigjährigen Krieg erlittenen Schäden und die Freude über die Ankunft des von Gott gesandten hl. Eugenius und seines fürstlichen Gefolges vorgestellt, war das dritte, prächtiger gezierte Triumphzelt betitelt: "YRsee fuhrt den H. Eugenium in die Possession, welcher auch von den heiligen Patron bewillkombt / vnd in die Kirchen eingeführt," Der Irsee-Darsteller übergab dem Märtyrer die Gewalt im Kloster mit den Worten: "Nun setz dich bey 0 trewer Freund! Kirch / Closter / jetzt dein aigen seynd", Nach der Begrüßung durch die Kirchenpatrone Maria, Petrus, Paulus, Benedikt und Scholastika zog der hl. Eugenius in die Kirche ein, mit den Worten: "Hab mirs [das Kloster] erwöhlt da will ich wohnen" und "Nun tritt ich in possession, In der Kirch suche meinen Thron", Es folgte eine Schutzerklärung des neuen Patrons für die Gemeinde, wie sie auch mit dem profanen Inthronisationszeremoniell verbunden war. Der Rottenbucher Festbericht erwähnt diese Form der Begrüßung des neuen Heiligen durch ein Salutationsspiel für verschiedene Reliquientranslationen in die Augustiner-Chorherrenstiftskirche Rottenbuch oder in die inkorporierte Wallfahrtskirche auf dem Hohenpeißenberg. Exemplarisch sei das Singspiel zur Einholung der Märtyrer Wenceslaus und Gaudentius auf den Hohenpeißenberg zitiert, dessen Akte sich auf verschiedene Prozessionsstationen verteilten. Auf einem Theatrum, dessen Dekoration sich während der Aktion von einer Wildnis zu einer Ehrendekoration mit Triumphbögen wandelte, erfolgte nach Ankunft der Einholungsprozession bei den auf einem Feldaltar aufgebarten Märtyrern ein Singspiel, in dem der Genius S. Clara, als Abgesandte des hl. Herzen Jesu und Maria von Hohenpeißenberg, ein "Einladungs=Gesänglein an die zwey neuen Heiligen ablegte, welches von den 2. Geniis der neuen Heiligen annehmlich beantwortet wurde". Bei der Ankunft der Prozession am Theatrum vor der Wallfahrtskirche wurde eine weitere Vorstellung gegeben. Nachdem nun die zwey Heilige Leiber auf 2. zierlich bereiteten Tischen abgelegt und alles zum Stillschweigen ermähnet worden / wurde eine stündige Begrüssungs= Action gehalten / in welcher weilen mitten darinn auch 8. Heilige Märtyrer von Rothenbuech ankommen / die neue Heiligen von Peisenberg zu begrüssen ein ewiger Bundt und Vereinigung zwischen Rothenbuech und Peisenberg aufgerichtet wurde / mit Genemhaltung und Bekräftigung JESU und MAR1AE, die auch ihren beständigen Schutz beyden Orthen zusagten und versprachen / worauff ein allgemeiner Freuden=Schall mit allen Actoribus 25. an der Zahl / wie auch mit allen Instrumenten Paucken und Trompeten sambt auch Abfeurung der Böllern diser Action das End gemacht wurde / alsdann die Procession seinen Fortgang durch die gantze Alee biß zur Kirchen nähme / die Heilige Leiber in ihre Altar deß H. Creutz und Aufferstehung Christi eingesetzet / und so dann das Lob= und Freudenvolle Te Deum abgesungen wurd.''' 1

' ' Stamm= und Blut^rothes Rothenbuech (wie Anm. 56). Eilfter Absatz. Von der Translation der H.H. Leiber Wenceslai und Gaudentij auf dem hohen Peisenberg [unpaginiert], - Weitere Salutationsspiele nennen der sechste, neunte und zehnte Absatz dieses Festberichts. - S, auch Maria=Alto=Münster (wie Anm. 57), Vorred

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Der Hang, die Heiligen im Empfangs- und Inthronisationszeremoniell als Personen auftreten und agieren zu lassen, wurde im Laufe des späten 17. und im 18. Jh. zunehmend größer. Beispielhaft hierfür soll abschließend die Inthronisation des mariarüschen Gnadenbildes bei seiner Überfuhrung in die neuerbaute Wallfahrtskirche Marienberg im Jahr 1764 angeführt werden. Für die Zeit des Kirchenneubaus, den der Festbericht damit legitimiert, daß "die Gnaden=Mutter von Maria^Berg stat ihrer gar zu eingeschranckt, und wegen hohen Alter zum Fall sich neigender Wohnung eine neu= und ansehnlichere schon lange Zeit zu wünschen schiene",112 wurden die Reliquien und das Gnadenbild der Gottesmutter Maria am 12, Mai 1761 in der Pfortenkapelle St. Georg des benachbarten KJosters Raitenhaslach überfuhrt, die unterdessen für die Pfarrlichen Verrichtungen, Gottesdienste und Andachten genutzt wurde.113 Nach einer Predigt und dem Hochamt in Pontißcalibm, "bey unsäglicher Menge Volcks, unter Paucken= und Trompeten^Schall feyerlichst abgesungen", wurde anschließend, "da schon alles, und auch Maria auf ihren zubereitten Ehren=Gerüst, auf die Abreiß wartheten, die Einladung zum bevorstehenden Wohnsitz in abgesungenen Strophen [...] durch den Genium des Klosters gemacht", woraufhin "in einer besonders ansehnlichen Procession" die Überführung erfolgte, Nach der Fertigstellung und der Einsegnung der neuen Wallfahrtskirche wurden am 30.9.1764 die Reliquien und das Gnadenbild der Gottesmutter Maria in einer Triumphprozession in die neue Wohnstatt der Heiligen überfuhrt. Der Konvent verfugte sich mit brennenden Wachskerzen zum Hochaltar der Klosterkirche Raitenhaslach, "vor dessen Antrit die mit Gold und Edelgesteinen kostbar heraus geschmückte Leiber der HH. Blutzeugen VincentÜ und Felicis [..,] auf prächtig gezierten Ehren=Gerüsten ihre Übersetzung erwarteten"; das Gnadenbild der Gottesmutter stand in dem St. Georgs-Kirchlein in besonders prächtigem Kleiderschmuck zum Abzug bereit. Unter dem Gesang der Antiphon "Die Leiber der Heiligen" etc. zog man zur Pfortenkapelle. Vor dem St. Georgs-Kirchlein fand ein deutschsprachiges Singspiel statt, in welchem der antikisierend kostümierte Schutzgeist des Klosters Raitenhaslach das Gnadenbild bzw. die Gottesmutter zum Übergang in ihre neue Wohnung einlud, woraufhin jene durch ihren Genius Marianus ihre Zustimmung erteilen ließ. Die Prozession, die außer dem Gnadenbild auch einen Triumphwagen mitführte, zog unter dem Gesang des 131. Psalmes: "Erhebe die O HErr! in deine Wohnung", Glockengeläut, Pauken- und Trompetenschall, Geschützdonner und Abbetung des Rosenkranzes "zu der

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[impaginiert]. Der Festbericht enthält auch einen gleichfalls unpaginierten Abdruck des Salutationsspiels; hieraus die folgenden Zitate. Marianischer Berg (wie Anm. 28). S, 31. - Die Legiünation eines Neubaus oder der Barockisierung der Kirche als Verschönerung des Wohnsitzes eines Heiligen ist ein beliebter Topos in den Festberichten, etwa auch in dem aus Gotteszell. SAECULUM NOSTRUM (wie Anm. 27) S. 15. Vgl. Marianischer Berg (wie Anm. 28). S. 31 f.

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neu erbauten Marianischen Burg"114 (Abb. 101). Nach dem Einzug in die Kirche vollzog sich die Inthronisation des marianischen Gnadenbildes auf den Hochaltar, die die Figur mittels einer Hebemaschine von selbst zu bewerkstelligen schien: Als aber der bestirnte Ort erreichet worden, sihe, da öfhete sich eine Anrnuths-volle Scene, welche vermögend wäre nicht nur fromme Hertzen mit süssen Regungen, sondern auch die Augen vieler Anwesenden mit Thränen zu überschitten. Es hatte nämlich eine Meisters=Hand ein Mechanisches Werck hergestellt, kraft welchem sie das Gnaden=Büd mit solcher Geschicklichkeit in die Höhe getrieben, und in Mitte des Altars auf die vorbereite Erd=Kugel hingesetzet hat, daß es von selbsten sich hinauf zu schwingen schiene, und hierdurch in den Zusehern die zärtlichste Anmuthungen erweckte; sonderbar, als sie durch ihren Genius abermal in Musikalischen Strophen allen wahren Pfleg=Kinderen Mütterlichen Schutz, und allzeitigen Beystand versprochen hat.115

Der Einsatz der Hebemechanik ermöglichte eine Inszenierung ihrer Inthronisation: Die Gottesmutter setzte sich eigenmächtig auf den Thron, sie agierte scheinbar selbst. Wie stark profane Elemente in den Heiligenkult eindringen, belegt das Beispiel Ranshofen, wo man im Rahmen der Jubeloktav zu Ehren des Ortsheiligen Pankratius sogar ein Feuerwerk als "FreüdenFeyr und gebührendes Danckopfer" veranstaltete, das anderthalb Stunden dauerte und von Trompeten, Pauken, Böllerschüssen und Gewehrsalven begleitet wurde: "Unter währendem Brennen schwebten die Wörter Vivat S.M. Pancratins in stäts scheinenden Flammen" (Abb, 102).'16

Sakrales Zeremoniell als Argumentationsmittel der Glaubenspropaganda Die Konsekrations- wie auch die Translationsfeierlichkeiten sollten beim gläubigen Publikum die Vorstellung evozieren, Gott bzw. seine Heiligen zögen mit Vollzug der Zeremonien in die Kirche als ihre irdische Residenz ein. Da die transzendenten Vorgänge, nämlich das persönliche Herabsteigen Gottes an den ihm neu geweihten Ort und die Inthronisation Gottes und der Heiligen, für den Gläubigen nur schwer vorstellbar, keinesfalls aber sinnlich wahrnehmbar waren, wurden sie in ein komplexes System von Zeremonien eingebunden und damit visualisiert, Das Zeremoniell dient der Verherrlichung Gottes und seiner Heiligen, in die das Volk bewußt einbezogen wird (und in die es sich einbinden läßt). Wenn das Allerheiligste in einer Prozession mit aufwendigem Geleit unter 114

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Ebd. S, 70f. Zur Prozessionsordnung s, ebd. S. 71-74. Ebd. S. 74f. Acht=tagiger Jubel (wie Anm. 65). S. 36 mit Kupferstich nach S. 34. Das Privileg des Anzündens der Schnur oblag einem der hohen Gäste, dem Vornbacher Prälaten.

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Ursula Drosselte

einem Baldachin umhergetragen oder auf dem Hochaltar - dem göttlichen Gnadenthron - zur allgemeinen Verehrung ausgesetzt wird, oder wenn die Abdecktafeln von den Schreinen mit den Märtyrerleibern entfernt werden, um einen unmittelbaren Kontakt zum Katakombenheiligen zu ermöglichen, so ist dies, bedenkt man das Bild von der Kirche als irdischer Residenz Gottes bzw. eines Himmelsfursten, vergleichbar mit dem Einzug und der Audienz im Thronsaal eines weltlichen Herrschers, dem das Volk seine Bitten vorbringt und den es verehrt. Für die Ehrung der einziehenden Majestät Gottes während der Kirchweihe bestand eine uralte, auf alttestamentarische Vorbilder zurückverweisende Tradition, so daß eine sinnliche Vergegenwärtigung der Einholung des Königs aller Könige nicht angemessen erschien. Dies untersagte bereits das Gebot, sich kein Bild von Gott zu machen. Vollzog das göttliche Empfangszeremoniell sich deshalb verhältnismäßig abstrakt, so ermöglichten es hingegen die neuen Objekte ganzleibiger Katakombenheiliger - freilich unter Bezugnahme auf alttestamentarische Vorbilder1" -, für das transzendente Geschehen ihrer Überführung und Inthronisation eine neue zeremonielle Form zu schaffen, die die bis dahin übliche Gestaltung der Reliquientranslationen im Sinne eines Einholungszeremoniells deutlich erweitert. Insbesondere die lebensnahe Fassung der Skelette und die Inszenierung eines Empfangs- und Begrüßungszeremoniells, in dem kostümierte Personen für die Heiligen agierten und reagierten, wie es das Zeremoniell erforderte, verliehen der Fiktion des Empfangs eines Himmelsfursten einen hohen Realitätsgrad. Das Konsekrationszeremoniell blieb in seiner räumlichen Stuktur, den zeremoniellen Handtungen und den Verhaltensmustern der 'Diener' Gottes den traditionellen Formen der Herrscherverehrung verbunden und hat ohne wesentliche Veränderungen bis in die heutige Zeit Gültigkeit behalten. Bei den Translationsfeierlichkeiten zeigt sich hingegen besonders in den ephemeren Dekorationen, den Triumphwagen und der Inszenierung von Salutationsspielen ein Eindringen des zeitgenössischen profanen Empfangszeremoniells in die sakralen Riten und eine kaum mehr zu überbietende Steigerung des sinnenfälligen, materiellen Aspekts der Heiligenverehrung, die das Zeremoniell als persuasives Argumentationsmaterial einsetzt. Analog zum Aufwand an dekorativer Prachtentfaltung bei der Innendekoration der Barockkirchen wird auch das Gepränge der Kirchen-Zeremonien als überaus nützliches Instrument angesehen, um den sinnlich orientierten Durchschnittsrezipienten zu Andacht und Ehrfurcht vor Gott anzuregen. Der Jesuit Nakatenus rechtfertigt die Zeremonien der katholischen Kirche unter Berufung auf die Beschlüsse des Konzils von Trient damit, daß "der Mensch von Naturen also beschaffen ist, daß er nicht leichtlich ohn äusserliche Hülf zur Betrachtung göttlicher Ding erhoben wird".118 Diese religionspäda1 7

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Die wichtigsten Bibelstellen, die von katholischer Seite zur Rechtfertigung der Reliquienverehrung herangezogen wurden, sind angeführt bei Achermann (wie Anm. 55), S. 289, Anm. 216, Nakatenus: PaIm=Gärtlein (wie Anm. 52). S. 391,

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gogische Zielsetzung wird auch in der ersten Würzburger Predigt explizit genannt; Zwar, so wird eingestanden, solle die Andacht der Gläubigen von innen, also aus dem Geiste erwachsen, es sei jedoch auch bekannt, was bey denen aus Leib und Seel gefügten Menschen die äusserliche in die Sinnen fallende vorwüriFe für grossen Eindruck auf die Seel machen, und wie das menschliche Gemüth durch derley sinnliche Merckrnalen so fertig werde, zur besseren Erkanntnuß GQttes und dessen Herrlichkeit sich zu erschwingen, wann die Augen [...] in dessen Dienstleistungen eine nach allen Klafften erhobene Zierd, Ordnung und Majestät beobachtein].119 Dabei richtet sich die persuasive Absicht dieses Gepränges nicht nur an die Katholiken, denen es die Richtigkeit ihrer Konfessionszugehörigkeit bestätigt, sondern will auch die Reformierten für den katholischen Glauben zurückgewinnen, die diesem Prunk kritisch gegenüberstehen und deren Gottesdienst folglich durch eine eher antirituelle Stuktur gekennzeichnet ist,120 So ver119

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Die Lieb zur Zierd Des Hauß GOTTES (wie Anm. 7). S. 25. - Ähnlich argumentiert auch Lünig, wenn er im Hinblick auf den Nutzen des Zeremoniells darüber reflektiert, daß bei den meisten Menschen, vornehmlich aber dem Pöbel, "solche Dinge, welche die Sinnen kützeln und in die Augen fallen", mehr als Witz und Verstand vermögen. Lünig: Theatrum Ceremoniale (wie Anm, 1). Bd, 1. 1719. S, 5. Da die protestantische Kirche die Heiligenverehrung als "Menschentand" und "verwerffliche Abgötterey" ablehnt - Heinrich Leuchter: Skeletophanos. ZU, nach Legner: Präsenz des Heiltums (wie Anm. 61). S, 39-41 - entfällt das Translationszeremonien für Katakombenheilige ebenso wie das der Reliquien bei der Kirchweihe, Zu den Katakombenheiligen als Gegenstand des Streits zwischen Katholiken und Reformierten s. Achermann: Die Katakombenheiligen (wie Anm. 55). S. 44 u. 288294; Angenendt: Kult der Reliquien (wie Anm. 60). S. 20; Legner: Präsenz des Heiltums (wie Anm. 61). S. 35-44 (dort auch Auszug aus den Beschlüssen und Glaubensregeln des hochheiligen allgemeinen Concils zu Trient unier den Päpsten Paul III., Julius III. und Pius IV.). Wie sich eine protestantische Kirchweihe vollzog, schildert der Bericht zur Einweihung der Ludwigsburger Schloßkapelle im Jahr 1723. Auch die Reformierten beziehen sich auf das Vorbild der Salomonischen Tempelweihe, greifen jedoch andere Bestandteile des Weihezeremoniells heraus. Auf die Zeremonien der Architektur- und Altarweihe (Riten des Umschreitens, Inzensierens, Saibens usw., Reliquientranslation, erstes Meßopfer), die der aittestamentarische Bericht schildert, wird verzichtet; diese werden im Festbericht sogar explizit als wirkungsloser Aberglaube kritisiert (S. 5f.). Da Gott der protestantischen Lehre zufolge nicht im Altarsakrament leiblich präsent ist, muß auch der Ort Kirche nicht explizit geheiligt werden. Stattdessen erfolgt die Einweihung durch das Hineintragen der Kirchenbücher (Bibel, Konfessionsbuch und Kirchenordnung) und der heiligen Gefäße (Taufbecken, verschiedene Kannen, Ziborium, Paiene und Kelch), Intonierung des Te Deum, Verlesung des 8. Cap. aus dem l. Buch der Könige sowie - gemäß dem Primat des Wortes in der evangelischen Konfession - einer Predigt, Der von dem Geist Gottes hoch=belobte und hoch=gepriesene Gottesdienst wahrer Christen [.,.] Ais Der Durchlauchtigste Fürst und Herr, HERR Eberhard Ludwig, Regierender Hertzog zu Würtemberg und Tock, [...] Die von Grund auf neu=erbaute Hof= und Schloß=CAPELL zu Ludwigsburg Christ=Evangelisch einzuseegnen gnädigst befohlen: Den 31. Octobr. 1723. in einer Predigt vorgestellet / Von Eberhard Friderich Hiemer [..,]. Stuttgart [o.J.l, bes. S. 3-9.

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Ursula Brossette

merken einige Festberichte nicht ohne Stolz, bei der Feierlichkeit seien auch etliche Lutheraner als Publikum zugegen gewesen;121 der Verfasser des Altomünsterer Festberichts von 1730 versteht die Festoktav anläßlich des tausendjährigen Klosterbestehens sogar als bewußte Gegenveranstaltung zum 200jährigen Jubelfest der "in erkanntliehen Irrthumb wandlenden lieben Herren Nachtbaren", der Augsburger Protestanten: Sollte doch / auß Gelegenheit deß Maria=Alto=Münsterischen zehenden Saeculi, nur ein eintziger in dem neu und falschen Lutheranismo wandlender Christ erleuchtet seyn / oder noch erleuchtet werden / so hat selber forderist der Göttlichen Barmhertzigkeit / nachgehends auch einer Hochlöbl, Landschafft in Bayrn / und guten Freunden zu dancken / als welche hiesigen Closter [,..] mit den zeitlichen Mitl zu disen 1000.jährigen Jubel=Fest an die Hand gegangen / und beygetragen haben.122 Im Festhalten an den aufwendigen zeremoniellen Akten, wie sie das Pontiflkale Romanian vorschreibt, zeigt sich das Bestreben der Katholischen Kirche, biblische und frühchristliche Traditionen weiterzuführen (es wird beispielsweise auf die Anweisung Mose verwiesen, die Zeremonien zu halten).123 Damit verbindet sich auch ein gegenreformatorischer Anspruch auf die Richtigkeit dieser Zeremonien. Was die Partei der Reformierten als Äußerlichkeit kritisiert, setzt die Katholische Kirche bewußt zur Demonstration einer ungebrochenen Tradition und zu ihrer eigenen, institutionellen Selbstbestätigung ein.

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Vgl. z.B. Die [...] Herrlichkeit Der Eichstättischen Kirch (wie Anm, 49). S. 166. Hauptattraktion für die gegnerische Partei scheinen die Triumphpforten gewesen zu sein, die deshalb gezielt zur Glaubenspropaganda eingesetzt wurden; In Obermeldingeti, wo man den hundertsten Jahrestag der Wiederbesiedelung des seit 1549 von den Reformierten genutzten Gotteshauses durch die Dominikaner feierte, hatten die errichteten Triumphpforten den Sieg und Triumph der katholischen Kirche über die "ex spuma Cerberi gebohme Schwärmerey Lutheri" zum Gegenstand, ein Programm, das nicht nur der Selbstbestätigung der Katholiken diente, sondern sich auch an die anwesenden Reformierten richtete. Höchst=schuldig vollbrachtes Jubel= Lob= und Danck=Fest (...] in dem löblichen Closter und Gottes=Hauß Ober=Medlingen [...] 1751 [.,,}. Augsburg 1752. Vorläuffiger Bericht an den günstigen Leser u. Weiterer Bericht, Von denen Zubereitungen aufgerichteten Triumphpforten {...]. [beide unpaginiert, vor S. 1]. Maria=AUo= Münster (wie Anm, 57), Vorred [unpaginiert], Exodus 18,20 ist der Erklärung der Riten aus Vierzennheiligen vorangestellt. Die bey Einweyhung eines neuen Tempels vorkommende [,..] Kirchen=Ceremonien (wie Anm. 14); s. auch Bauer: Kirchweihpredigt (wie Anm. 48). S. 115. Zur Ableitung der kirchlichen Zeremonien aus biblischen Vorbildern s. auch Lünig: Theatrum Ceremoniale (wie Anm, 1). Bd. 2. S. 289.

Cornelia Jöchner

Barockgarten und zeremonielle Bewegung Die Möglichkeiten der Alee couverte. Oder: Wie arrangiert man ein incognito im Garten?

Am 16. Jun. 1698. kam die Moscovitische Groß=Ge$andtschaffi, [...] worunter Ihre Czaarische Maj. selbsten incognito befindlich waren, an dem Kayserlichen Hofe zu Wien an. [,..] Diese Gesandtschaffl ward mit aller Ehren=Bezeugung daselbst empfangen, und von dem Kayser Leopolde, so wohl bey den Ankunffts= als Abschieds^ Audienzen sehr magnifique [...] tractiret. Hierauf Hessen Ihre Czaar. Maj. Dero heimliche Anwesenheit [...} wissen, und zugleich Ansuchung thun, eine und andere geheime Unterredung, jedoch ohne Ceremonien, und bloß als eine privat=Person bey Kayserl. Maj. als Dero damahligen Alliierten und Bundsgenossen, zu erlangen. Dem Kayser war dieses Ansuchen sehr angenehm, und verordnete deßwegen sogleich den Böhmischen Vice-Hof-CantzJer, Grafen Tzernini {,..] zu einem Commissario [...]. Hierauf begab sich erwehnter Graf Tzernini folgendes Tages nemlich am 19. dito in einer Kayser], nur mit zwey Pferden bespannten Carosse zu Ihrer Czaar. Maj. in den Königseckischen Garten nach Kuntendorff, [...] allwo das Quartier der Moscovitischen GroÖ=Gesandtschaffl war. Sobald er von Kayserl. Maj. wegen an Ihre Czaar. Maj. das Compliment abgeleget hatte, setzten sich Dieselbe so gleich nebst Mr. le Fort zu dem Herrn Grafen in die Carosse, der Dollmetscher aber fuhr in einer ändern Carosse hinten nach, und nahmen also ihren Weg nach der Kayserl. Favorite oder Lust=Hause zu, und fuhren daselbst zum hintern Thore hinein, damit im Kayserlichen Hof=Lager kein Aufsehen werden, und der Czaar incognito, wie er es verlanget hatte, bleiben möchte. Sobald Sie allhier angelanget und abgestiegen waren, führte der Herr Graf Ihre Czaar. Maj, in den grossen zur Favorite gehörigen Lust=Garten hinein. Der Grofl=Gesandte, Mr. le Fort, und der Dolmetscher folgten auch in den Garten nach. In diesem gieng der Kayser Leopoldus in der Alee couverte quasi spatzieren, und hatte hinter sich seinen Ober=Cammerer, den Grafen von Wallenstein, so ein Böhme war, und also den genium der Moscovitischen Sprache verstünde, dann seinen Ober=Dolmetscher und andere mehr. Sobald Ihre Czaar, Maj. der Kayserlichen Maj. ansichtig wurden, nahete Sie sich zu Deroselben mit einem tieffen Reverenz und entblösten Haupte, und legten ein gantz submisses Compliment ab [...], Der Kayser nöthigte hierauf den Czaar sich auch, gleich wie er that, zu bedecken, allein der Czaar wolle es nicht thun, sondern blieb allezeit unbedeckt, und bezeugte mit vieler Submission, daß er nur incognito und als ein particulierer Printz zum Kayser gekommen, und deßwegen nahm der Kayser seinen Hut auch wieder ab, gab Ihm auch die Courtisie [sie!]: Eure Durchläuchtigkeit und Liebdcn, und begegnete Demselben

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Cornelia Jöchner mit aller Kayserlichen Müdigkeit und Höfligkeit, also daß er diesen grossen Fürsten nach einer langen Unterredung, mit aller Vergnüglichkeit wieder von sich ließ.1

Das Zitat stammt aus einem Text, den Johann Christian Lünig im ersten Band des Theatrum Ceremoniale (1719) unter folgendem Titel publiziert hat: Nachricht von der Visite so Ihre Ciaarische Majestät, als Sie sich bey Dero Groß=Ge$andtschafft zu Wien incognito au/hielten, bey Kayser Leopoldo abgelegt, de Anno 1698. Die Reise des russischen Zaren Peter I. nach Westeuropa 1697/98 war für die europäischen Nachrichtenblätter spektakulär. Während der gesamten Dauer der Reise, zwischen März 1697 bis August 1698, erschienen über die verschiedenen Stationen der Reise zahlreiche relaüones2 Der sommerliche Aufenthalt 1698 beim Kaiser in Wien war dabei ein Höhepunkt, der die europäischen Höfe besonders beschäftigen mußte und daher gut dokumentiert ist. Über die uns interessierende Visite in der Favorita berichten neben der von Lünig publizierten Nachricht verschiedene andere Quellen, sie sind in Form von Zeitungen und Herrscherchroniken greifbar.3 Zu erwähnen sind hier auch die Zeremonialakten des Kaiserhofes, die den Zarenbesuch in Wien in allen Stationen protokollieren.4 Ausgangspunkt der folgenden Analyse sind zwei sich widersprechende Berichte über die erste Visite des Zaren im kaiserlichen Lustschloß Favorita. Johann Christian Lünig: Theatrum Ceremoniale [...]. Bd. I. Leipzig 1719. S. 156-157, Die Nachricht wurde übernommen von Friedrich Carl von Moser: Teutsches Hof=Recht |...]. Bd. I. Frankfurt/Leipzig 1754. S. 272-273. Zur Resonanz der Zarenreise in den europäischen Zeitungen siehe Peter der Große in Westeuropa. Die Große Gesandtschaft 1697-1698. Katalog der Ausstellung "Schätze aus dem Kreml - Peter der Große in Westeuropa", Hg. vom Übersee-Museum Bremen. Bremen 1991. Unter den überregionalen Medien berichtet: Theatri Europaei Continuati Funffzehender Theil [...]. 1696-1700 (1707). S, 471-472. örtliche Berichte sind: Leipziger Extraordinar=Zeiiung (IV, Stück der 26. Woche) am 2. Juli 1698. S. 415-416, und die Braunschweiger Freytags=Ord: Beylage/ Zur Wöchentlichen Post=Zeitung (Nr. 27/Anno 1698). Beide Artikel wurden freundlicherweise durch die Deutsche Presseforschung, Universität Bremen, zugänglich gemacht; ein Teil des Berichts der Leipziger Extraordinar=Zeitung abgedruckt in Peter der Große in Westeuropa (wie Anm. 2). Der Bericht über die Zarenvisite in der Favorita ging auch in die Biographie Kaiser Leopolds ein: E. G. Rink: Leopolds des Grossen Rom, Kaysers wunderwürdiges Leben und Thaten. Köln 1713. S. 1293-1294. Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Zeremonialprotokoll Bd. 5 (1692-1699), fol. 420v-423r ("Privat Entreveüe zwischen Ihro Kay. Mtt. und dem Czaar in der Favoritta."), sowie Ältere Zeremonialia A. (18) 1695-1698, fol. 43-52 ("Private Entrevue zwischen KS. Leopold I. und Zar Peter von Rußland in der Favorita."). Für die Bildproduktion war die incogttito-Begegnung im Garten der Favorita kein Thema - im Unterschied zu der Wirischaß, die den Höhepunkt des Zarenbesuches ausmachte und im Historisch Politischen Kalender von 1698 abgebildet wurde. Dies ist kein Einzelfall; Herrscherbegegriungen, Spaziergange oder auch Zusammentreffen von Diplomaten im Garten wurden selten bildlich dargestellt. Salomon Kleiners Zeichnungen, etwa vierzig Jahre nach der Begegnung im Garten der Favorita entstanden, liefern für die in den Quellen angesprochenen Orte keine Informationen,

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Der Besuch findet unter den Bedingungen des incognito statt, einem reduzierten Modus von Zeremoniell. Mir geht es um folgende Frage: Welche Rolle spielt die Räumlichkeit beim Vollzug einer bestimmten zeremoniellen Handlung? Kunstwissenschaftliche Untersuchungen von Architekturen, in denen ein Zeremoniell stattfindet, verwenden häufig Begriffe wie 'Kulisse', 'Rahmen' oder 'Schauplatz'. Diese Bezeichnungen erwecken den Eindruck, als ob das Zeremoniell in einer architektonischen Hülle stecke, in der es dann nur noch seinen Verlauf zu nehmen brauchte. Eine engere Verbindung, eine Verzahnung zwischen Architektur und zeremonieller Handlung wird meist dann gesehen, wenn eine Ausstattung mit Bildern im Spiel ist. Seltener aber werden die formalen Eigenschaften von Architektur und die Sukzession des Zeremoniells als ein strukturelles Verhältnis untersucht.5 Tatsächlich handelt es sich beim höfischen Zeremoniell des 17. Jahrhunderts um eine sehr umfassende Rezeption von Architektur, die mit dem weitgehend statischen Betrachten etwa eines Bildes nicht gleichzusetzen ist, Die Körperbewegung ist dabei zwar nicht das einzige, aber doch ein sehr wichtiges Moment, das zu berücksichtigen ist, wenn Zeremoniell als Rezeptionsbedingung höfischer Architektur gelten soll. Dies bedeutet zunächst, die Erkenntnisse der kunstwissenschaftlichen Rezeptionsästhetik für die Architekturforschung produktiv zu machen.6 Mit diesem Ansatz erscheinen dann die Grundsätze einer architektonischen Raumwissenschaft verknüpfbar, die im Strukturieren von Raum die Voraussetzung für Sozialität überhaupt sieht.7 Auf unsere Fragestellung bezogen heißt dies; Wie rezipiert das Zeremoniell die formalen Qualitäten höfischer Architektur, und wie konstituiert sich darüber eine höfische Gesellschaft? Für den höfischen Barockgarten ergeben sich hier aber noch weitere Fragen: Inwieweit spielt das Zeremoniell im Garten überhaupt eine Rolle, sind Vgl, den Beitrag von Ulrich Schütte in diesem Band. Einen ähnlichen Vorschlag macht auch der thesenhafte Aufsatz von Gotthardt Frühsorge, in dem er an "vergessene Maßeinheiten historischer Raumerfassung" erinnert und die Ausdehnung in den Raum als aristokratisches Paradigma erkennt (im Unterschied zur bürgerlichen Extension von Zeit): Gotthardt Frühsorge: Der Hof, der Raum, die Bewegung. Gedanken zur Neubewertung des europäischen Hof Zeremonie! Is. In: Euphorien 82 (1988). S. 424-429. Wolfgang Kemp deutet dies an, wenn er ein integrales Verständnis von Rezeption für das "Abschreiten eines Gebäudes, einer urbanistischen Situation, eines Gartens" fordert, das den dabei entstehenden synästhetischen Effekt berücksichtigt und nicht nur von einem betrachtenden Auge ausgeht: Der Betrachter ist im Bild, Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik. Hg. von Wolfgang Kemp. Köln 1985, Erweiterte und bibliographisch auf den neuesten Sland gebrachte Neuausgabe. Berlin 1992. S, 52. Juliette Hanson u. Bill Hillier: The social logic of space. Cambridge u.a. 1984. Diese Architekturtheorie arbeitet mit mathematischen Beschreibungsmodellen, die in der Kunstwissenschaft nicht verwendet werden können. Wichtiger sind hier die Ausführungen zur Raumtheorie allgemein sowie die Grundannahme, daß Raum soziale Beziehungen hervorbringt. Weiterentwickelt in: Bill Hillier u. Alan Penn: Visible Colleges: Structure and Randomness in the Place of Discovery. In: Science in Context. 4. Nr. I (1991). S. 23-49.

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die Nonnen des Zeremoniells nicht auf das Innere der Gebäude zugeschnitten? Die Analyse eines konkreten Ereignisses eröffnet die aussichtsreichste Möglichkeit, hier zu präziseren Kenntnissen zu gelangen. Dabei zeigen die folgenden Beispiele, daß man sich vor der Verallgemeinerung hüten muß, den höfischen Garten als generell zeremoniell/reien Raum zu kennzeichnen. Freilich findet auch nicht jede Art von Zeremoniell im Garten statt: Trotz der vielfältigen Verknüpfung des Gartens mit der SchJoßarchitektur, trotz jener Bereiche, die wie Innenräume gestaltet sind, kann ein Schloßgarten nicht mit dem Schloßgebäude gleichgesetzt werden, Audienzen und Staatsernpfänge wird man im Garten vergeblich suchen; hierfür gibt es die festgelegte Folge des Appartements. Doch stößt man sehr häufig auf Nachrichten, daß im Rahmen von Staatsbesuchen auch die Gärten in Augenschein genommen wurden. Die Frage ist also, unter welchen Bedingungen und wie sich die Bewegung des Herrscherkörpers durch den Garten vollzog. Völlig frei von Reglement und Präzedenzen? Und inwiefern macht sich hier die spezifische Architektur des Barockgartens bemerkbar, sind es andere Bewegungen als im Innenraum? Wenn Julius Bernhard von Rohr den Garten in seiner Ceremoniel=Wissenschafft den divertissements zuschlägt, so gilt der Garten als Teil des höfischen Zeremoniells.8 Das divertissement übernimmt im Rahmen des Zeremoniells die Aufgabe, das Vergnügen und die Rekreation zu regeln. Auswirkungen sind zu sehen, wenn etwa bei Theateraufführungen oder Festen im Garten dieselben Sitzordnungen gelten wie im Innenraum.9 Schwieriger ist die Beurteilung von Bewegung im Garten; allen voran der Spaziergang, der als ein wichtiges höfisches divertissement galt,10 Anders als 8

Julius Bernhard von Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft Der großen Herren {,..]. Hg. und kommentiert von Monika Schlechte. Leipzig 1990. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1733. S. 87-89 (VII. Kapitel: "Von Schloß= und Zimmer=Ceremoruellen", Paragraphen 52-56). Ders.: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaffi Der Privat-Personen. Hg. und kommentiert von Gotthardt Frühsorge. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1728, S. 513-514 (XI. Kapitel: "Von Divertissemens, Comoedien/ Opern, Music, und ändern dergleichen.", Paragraphen 40-43). Für die Gartenkunstforschung war Zeremoniell bislang ein Thema, wenn sie es mit Festen im Garten zu tun hatte. Die meisten europäischen Gartenfeste berücksichtigt Rudolf Meyer: Hecken- und Gartentheater in Deutschland im XVII. und XVII. Jahrhundert. Emsdetten 1934 (= Die Schaubühne. Quellen und Forschungen zur Theatergeschichte. Hg. von Carl Niessen. Bd. 6). Eine neuere Veröffentlichung zu Lustbarkeiten auf dem Wasser: Heidrun Kurz: Barocke Prunk- und Lustschiffe am kurfürstlichen Hof zu München. München 1993 (= Miscellanea Bavarica Monacensia. Dissertationen zur Bayerischen Landes- und Münchner Stadtgeschichte. Bd. 163. Neue Schriftenreihe des Stadtarchivs München). 1 ° Franklin Hamilton Hazlehurst hat bisher als einziger den Versuch unternommen, die optischen Wirkungen beim Durchschreiten des Garten von Versailles wissenschaftlich auszuwerten: Franklin Hamilton Hazlehurst: Gardens of Illusion. The Genius of Andre Le Nostre. Nashville (Tennessee) 1980. S. vor allem die S. 132-147. Weil der Autor die raffinierte Anlage des Gartens von Versailles einseitig als Leistung Le Nostres ("genius") und als bauliche Ausführung optischer Traktate betrachtet, wurde das Buch

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im Innenraum verlangt der Spaziergang die absichtslose Bewegung durch den Raum. In den Fmuenzimmer-Gesprächssptelen läßt Harsdörffer zwei Indianer den Spaziergang zweier Spanier betrachten. Die "Barbaren", der "Verstandesübungen nicht fähig", seien durch die Betrachtung "beide närrisch worden", da die Spanier "ohne Ursache an einem Orte hin und wider giengen/ und doch noch dar noch dorten etwas schafften".11 Die Bewegung des Körpers beim Spaziergang dient nur der recreatio, sie ist zweckffei und daher Lust. Diese angerichtete Bewegung durch den Raum vollzieht sich im Garten aber nicht beliebig, sondern nach den Wegen, Ereignissen, formalen Gestaltungen, die die Gartenarchitektur setzt. Wenn sich zwei Herrscher beim Spaziergang in einem solchen Raum begegnen sollten, so ist die Frage, wie die Absichtslosigkeit der Bewegung vorn Raum hergestellt und durch das Zeremoniell beantwortet werden kann.

Das incognito als zeremonieller Modus Die persönliche Zusammenkunft zweier Souveräne war eine hohe Aufgabe des Staats^Ceremomelsn Befand sich der Fürst als ranghöchster Repräsentant seines Hauses und Territoriums in Gegenwart anderer Regenten, so machte das Zeremoniell als Zeichensystem seinen Status im Vergleich zu diesen anderen sichtbar. In Zeiten politischer Neuordnungen konnte dies von einiger Brisanz sein, daher wird über Präzedenzstreitigkeiten auf internationaler Bühne häufig berichtet.13 Neben dem zeremoniellen Staatsempfang gab es aber unter bestimmten Umständen auch die Möglichkeit, eine Zusammenkunft zweier Herrscher mit geringerem Aufwand stattfinden zu lassen,14 Die Theoretiker nennen das incognito als Möglichkeit, einen realen Rangvergleich gar nicht erst stattfinden zu lassen, und wollen dadurch Präze-

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kritisiert; siehe hierzu die Rezensionen von Gerald Weber, In: Kunstchronik (1982). S. 171- 182) sowie von Guy Walton. In: The Art Bulletin 64 {September 1982). Nr. 3. S. 517-518, Der berühmte Gartenfiihrer von Ludwig XIV. zielt auf das Zeigen des Gartens ab, gibt jedoch genaue Anweisungen für die Bewegung des Körpers; publiziert in: Maniere de montier les jardins de Versailles par Louis XIV. Paris 1982, Der König ließ diesen Laufplan in verschiedenen Spaziergängen erproben, siehe hierzu Thomas Hedin: Versailles and theMerewre Galant: The Promenade of the Siamese Ambassadors. In: Gazette des Beaux-Arts 4 (1992). S. 149-172. Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer-Gesprächsspiele. Hg. von Irmgard Böttcher. Tübingen 1968. Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1644. IV. Teil. S. 356. Rohr: Ceremoniel-Wissenschafft (wie Arm 8) handelt von Visiten und persönlichen Zusammenkünften im zweiten Kapitel des zweiten Teils ("Von dem Ceremoniel der grossen Herren/ in Ansehung ihrer Mit=Regenten"). Lünig: Theatrum Ceremoniale (wie Anrn. 1). S, 8-9; Rohr: Ceremoniel-Wissenschaffi (wie Anm. 8). S, 16-18; sowie Moser: Hof=Recht (wie Anm. I). S. 32-42. Entsprechendes galt auch für andere Standespersonen.

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denzschwierigkeiten von vorneherein ausschalten.IS Dabei bleibt die Person des hohen Reisenden nicht wirklich unerkannt; das incognito betrifft lediglich den Rang als Souverän seines Landes, Vor allem auf Reisen wurde diese Form immer häufiger angewandt, da der Verzicht auf Einzüge, Staatsempfänge und Solennitäten ein zügigeres Fortkommen gewährte. Zar Peter I. hatte für seine Reise durch Westeuropa den Status eines moscowiti sehen Prinzen gewählt und galt damit als ein Mitglied der Großen Gesandtschaft. Bei Lünig heißt es, die Gesandtschaft sei "mit aller Ehren=Bezeugung" empfangen worden. Erst danach ließ der Zar seine "heimliche Anwesenheit" kundtun und bat um die "eine und andere geheime Unterredung, jedoch ohne Ceremonien, und bloß als eine prival=Person". Der Kaiser kam dem Wunsch nach, die erste Begegnung der beiden Herrscher fand drei Tage später statt.16 Obwohl der Zar als "privat=Person" und nicht als Fürst seines Landes erscheinen möchte, erscheint an dieser Stelle des Textes sein eigentliches Besuchsziel: Peter I. wird als ehemaliger kaiserlicher Verbündeter im Krieg gegen das Osmanische Reich genannt, und genau eine Fortsetzung dieses Krieges versucht der russische Regent in Wien durchzusetzen - erfolglos, Berichte über zeremonielle Ereignisse wurden meist verfaßt, um sich, am eigenen Hof oder andernorts, bei späteren Gelegenheiten orientieren zu können. Insofern steht für einen solchen Text die Bewältigung des zeremoniellen casus und dessen besondere Konstellation im Vordergrund. Der Rang der beteiligten Personen, der zeremonielle Gegenstand und die zeitliche Sukzession des Ereignisses sind die bestimmenden Textkriterien. Dabei können Orte und Architekturen durchaus vorkommen, doch erschöpfen sich die Angaben meist in der Benennung. Ergiebiger kann ein Zeremonialprotokoll sein, weil hier unter Umständen der verfugbare Raum für den Ablauf eines Zeremoniells geplant werden mußte. Für den bei Lünig abgedruckten Bericht über den Besuch des Zaren in Wien ist der Schauplatz der Begegnung nur mittelbar von Interesse. Warum gerade der Garten gewählt wurde, warum die Begegnung während eines Spaziergangs in der Allee stattfindet, sagt die Nachricht nicht. Mit diesen Fragen müssen wir über die Quelle hinausgehen.

Die barocke Gartenallee Der französische Gartentheoretiker Dezallier d'Argenville vergleicht in seinem einflußreichen Traktat La Theorie ei la Pratique du Jardinage (1709) die 15

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Lünig; Theatmm Ceremoniale (wie Anm. 1). Bd. I. S. 145; Rohr: Ceremoniel-Wissenschaft (wie Anm. 8). S. 358; Moser: Hof=Recht (wie Anm. 1). Bd. I. S. 265-273. Zum incognito vgl. den Beitrag von Claudia Schnitzer in diesem Band. Aufgrund der auch im 17. Jahrhundert noch währenden unterschiedlichen (julianischen oder gregorianischen) Kalenderrechnung wird das Datum sowohl mit dem 19. Juni (Lünig) als auch mit dein 29. Juni (Zcremonialakten) angegeben.

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Alleen des Gartens mit den Straßen der Stadt, Wenn dieser Vergleich von der Theorie der Stadtplanung im späteren 18, Jahrhundert aufgenommen wird,17 so hatte sie mittlerweile in hundertfacher Anwendung gelernt, was der wichtigste Theoretiker des Barockgartens noch definitorisch ausführt geometrisch geführte Alleen sind sowohl Verkehrswege als auch Sichtschneisen durch den Raum: "Sie führen einen bequemlich von einem Ort zum ändern/ und sind gleichsam Wegweiser, welche einen durch den gantzen Garten führen".18 Die Doppelfunktion der barocken Gartenallee als der kürzesten Wegeverbindung zwischen zwei Punkten und gleichermaßen als visuelle Schiene durch den Raum hat für die Wahrnehmung und Körperbewegung des Menschen erhebliche Konsequenzen. In den geradlinigen Alleen besaß der formale Garten des 17. und frühen 18. Jahrhunderts ein Erschließungssystem, bei dem das Auge dem Körper über weite Strecken vorausgeht und der Körper genau dieselben Strecken nachvollzieht. Der barocke Garten kalkulierte für die Begehung ein ausgeklügeltes Gradationssystem an Voraussehbarkeiten, dagegen setzte der Englische Landschaftsgarten des 18. Jahrhunderts mit seinen gewundenen Wegen die Erfahrung, daß das Gesehene nicht unbedingt vom Körper nachvollzogen werden kann zumindest dann, wenn er auf den vorgesehenen Wegen bleibt,19 Dezallier d'Argenvilie hat völlig recht - die Praxis, Wege in geometrischen Formen zu errichten, stammt aus dem Städtebau. Papst Sixtus V. hatte zu Ende des 16, Jahrhunderts mit dem Bau neuer, geradlinig geführter Straßen durch Rom begonnen. Die sieben Pilgerkirchen der Stadt sollten dadurch miteinander verbunden werden, gleichzeitig aber war eine eigenständige Lenkung der immer zahlreicher werdenden Pilgerströme gewünscht; "Sixtus V. wollte diese Stätten durch gerade Straßen miteinander verbinden, die Blickachsen durch die Stadt legten. Der Pilger suchte sich seinen Weg, indem er diesen Blickachsen folgte. Um die Bewegung zum Element der Wahrnehmung einer solchen als Blickachse fungierenden Straße 17

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"Wenden wir doch diese Ideen praktisch an und planen wir unsere Städte nach dem Vorbild unserer Parkanlagen. Es geht nur dämm, das Stadtgebiet zu vermessen und dort im gleichen Stil zu verfahren, so daß aus den Wegen unsere Straßen und aus den Kreuzungen unsere Plätze werden." Marc-Antoine Laugier: Das Manifest des Klassizismus (Deutsche Übersetzung von: Essai sur l'architecture. Paris 1753). Zürich/München 1989. S. 177, Die mannigfachen Möglichkeiten der Achse alsLeitinstrument der Bewegung durch den städtischen Raum wie durch den Garten und die Landschaft analysiert Spiro Kostof: Das Gesicht der Stadt. Geschichte städtischer Vielfalt. Frankfurt 1992. S. 240-274, zur zeremoniellen Achse s. S. 271. Ein kurzer Überblick über die Anwendung der Perspektive in der Architektur unter geistesgeschichtlichen Gesichtspunkten: Leonardo Benevolo: Fixierte Unendlichkeit, Die Erfindung der Perspektive in der Architektur. Frankfurt/New York 1993. Alexandre le Blond (= Antoine Joseph Dczailier d'Argenvilie): Die Gärtnerey {...]. Leipzig 1986, Nachdruck der Ausgabe Augsburg 1731. S, 66. Frühsorge: Der Hof (wie Anna. 5). S. 429, spricht dem Barockgarten ein räumlich definiertes Ordnungssystem zu, dem Englischen Landschaftsgarten dagegen den Faktor Zeit als Kategorie des Erlebens.

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zu machen, mußte ein Fluchtpunkt gesetzt werden."20 In Rom fand man dafür den Obelisken. Diese Nadeln aus Stein, wie Richard Sennett sie nennt, sind geeignet, perspektivisches Sehen im Raum zu erzeugen: "Der Grund dafür ist die Spitze des Obelisken: sie markiert einen Punkt im Raum. Das entfernte Auge beendet seine Reise, auf der es der von dem Stein angegebenen Richtung gefolgt ist, indem es entweder den von der Kugel definierten Punkt oder den immateriellen, aber dennoch nicht unsichtbaren Punkt unmittelbar über der Spitze des Obelisken in den Blick nimmt."21 In die Terminologie des Barockgartens übersetzt, heißt die Nadel aus Stein: point de vue ~ 'Blickpunkt' in Form eines Postaments, einer Skulptur oder eines Pavillons. Kern der neuzeitlichen Raumplanung war die Anwendung der Perspektive auf große Gebäudekomplexe wie Paläste oder Gärten, Stadtteile und ganze Städte. Im Schloßbau ist die Enfilade das wichtigste Ergebnis eines perspektivischen Umgangs mit dem Innenraum. Was den Außenraum anlangte, war es angesichts gewachsener Stadtstrukturen schon schwieriger. Regelmäßige Komplexe wie Idealstädte oder auch nur Straßenachsen wurden zwar häufig geplant, weitaus seltener aber verwirklicht. Für die großflächige Anwendung der Perspektive im Außenraum mußte der Garten mit seinem leicht veränderbaren Pflanzenmaterial als ein Versuchsfeld erscheinen. Aus dem geometrischen Garten wurde im Laufe des 17. Jahrhunderts ein architektonisch vielgliedriger Raum, für den die Achse das zentrale Erschließungsinstrument war - als Wasserkanal, breiter Weg, Baumreihe oder in der Kombination von allen dreien. Die Alee couverte vereinigt die Vorzüge von Allee und Laubengang; ein größerer Weg, eine Achse durch den Garten, jedoch nach oben geschlossen mit einer Decke aus zusammengewachsenen Baumwipfeln oder Hecken. Die Alee couvertet so Dezallier d'Argenville, lasse den Himmel nicht sehen, und die Sonnenstrahlen könnten nicht durch das Blattwerk dringen. Sie sei daher besonders annehmlich bei großer Hitze, "dieweil man darinnen auch zur Mittags=Zeit in kühlem Schatten gehen kan".22 Die Bedeckung verändert die Allee. Aus einem seitlich abgeschlossenen Weg wird ein Innenraum, der nach vome und hinten aufgeschnitten ist - eine Passage, durch die man hindurchschreitet. Dabei ändern sich auch die visuellen Eigenschaften der Allee, In der vertikalen Betrachtung der Alee couverte, also beispielsweise beim Spaziergang, steigert sich der normale Sogeffekt der Achse noch: Der Blick wird nicht nur in den Tiefenraum hineingezogen, er verschwindet darin.

20

Richard Sennett: Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds. Frankfurt 1991. S. 199.

21

Sennett: Civitas (wie Anm. 20). S, 199. Dezallier d'Argenville: Die Gärtnerey (wie Anm. 18), S. 66.

22

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Zwang zum Zufall: das Arrangement in der Alee convene Kehren wir zu Lünig zurück: Juni 1698 - die Begegnung der beiden Potentaten findet im kühlen Gang der Alee convene statt. Die Ankunft des russischen Zaren war entsprechend den Bedingungen des incognito erfolgt, man hatte die hintere Toreinfahrt genommen. Während der Zar in den Garten gefuhrt wird, ist Leopold bereits vor Ort. Das Arrangement war ideal gewählt, das incognito erfolgte mit denkbar geringem Aufwand. Der Kaiser wartet noch nicht einmal aktiv, er unterbricht nur eine andere Tätigkeit, den Spaziergang. Trotz der scheinbaren Zufälligkeit aber war alles ohnehin nur eine Frage der zeremoniellen Verabredung, Dies verrät der Text, wenn es heißt, Kaiser Leopold sei "quasi" spazieren gegangen. Die Modalitäten des Zusammentreffens im Favorita-Garten werden durch Absprachen geregelt, die Eigenart des Treffens aber ist bedingt durch den Garten, genauer: sie wird produziert durch die räumlichen Gegebenheiten der Alee couverte. Der Kaiser kann sich bei dieser Visite im Garten anders bewegen als bei einem i'wcogw;7o-Empfang im Innenraum, er geht spazieren. Doch findet dieser Spaziergang in einem Raum statt, der einem Innenraum schon sehr ähnlich ist: Die Alee couverte mit ihren zusammengewachsenen Baumgipfeln ist fast eine Galerie. Der Unterschied zu einer Galerie im Schloßinneren liegt darin, daß die Alee couverte vorne und hinten geöffnet ist. Daher können die visuellen Eigenschaften der Alee couverte die Lenkung des Begrüßungszeremoniells übernehmen, wie es kein Innenraum und keine Absprache vermag. Der Vorgang ist folgender: Schon die nach oben offene Barockallee ist ein Blickkanal für das Auge, dem es sich nicht entziehen kann. Man darf sich dabei nicht nur links und rechts eine Reihe von Bäumen vorstellen. Eine voll ausgebildete große Allee besteht aus einer dichten, halbhohen Hecke, erst dahinter ragen dann hohe Bäume empor, oft noch in doppelter Reihe stehend. So entstehen in sich abgestufte Wände, die den Weg seitlich völlig abschließen. Den Sogeffekt der normalen Baumallee für das Auge verstärkt die Alee couverte noch durch die Decke der zusammengewachsenen Baumwipfel. Bewegt sich der Zar auf die Alee couverte zu, so wird sein Blick in diesen grünen Tunnel regelrecht hineingezogen. Lünigs Nachricht macht daraus einen unbestimmten Moment des Sehens: "Sobald Ihre Czaar. Maj. der Kayserlichen Maj. ansichtig wurden, nahete Sie sich zu Deroseiben mit einem tieffen Reverenz [.,.]." Tatsächlich aber muß die Alee couverte für den hinzutretenden Zaren wie ein großer, viereckiger Guckkasten erscheinen. Der ringsum aus Weg und Blattgrün verlaufende Rahmen situiert den Zaren als Betrachter, das Arrangement aber macht ihn zum Akteur: Die visuellen Eigenschaften der Alee couverte übernehmen die Lenkung des Körpers, wie es besser keine zeremonielle Absprache vermag. Die Figur des Kaisers, in der Allee auf- und abgehend, wirkt als point de vue, die ihn den Raum der Alee couverte betreten läßt. Diese Form der Allee erweist sich damit als idealer Raum für eine solch gezielt durchgerührte, zufallige Begegnung. Die besondere opti-

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sehe Kraft der Alee couverte bewirkt einen Zwang zum Handeln, der die scheinbare Absichtslosigkeit des kaiserlichen Spazierganges konterkariert. Der Zufall muß hier stattfinden. Bedarf an zusätzlicher Choreographie: das incognito in der Galerie Und doch hat sich die Zusammenkunft der beiden Herrscher wahrscheinlich anders zugetragen. Übereinstimmend mit zwei Zeitungsblättern und dem Theatrum Europaeum verzeichnen die Wiener Zeremonialakten, daß der russische Gast zwar in den Garten der Favorita einfuhr, das Treffen dann aber in den Innenräumen des Schlosses stattgefunden hat.23 Eine Skizze in den Akten24 zeigt auf schematische Weise die Örtlichkeit und den zeremoniellen Handlungsablauf. Sie belegt aber nur teilweise, was das Protokoll aussagt:25 Der Zar kam über eine "heimliche Stiege"26 in die Galerie der Favorita, einen längsrechteckigen Saal mit neun Fensterachsen. Die beiden Herrscher traten aus diagonal gegenüberliegenden Türen, wobei der Zar der Zeichnung nach einen längeren Weg hatte als der Kaiser. Treffpunkt war Zeichnung ein "Tischl", das, vom Kaiser aus gesehen, unweit des vierten Fensters zum Garten stand. Dagegen sagt das Protokoll ausdrücklich, der Zar sei von der "mitte der gallerie bey dem funfften fenster" empfangen worden. Dieser Widerspruch kann nicht geklärt werden, spricht aber von den Möglichkeiten zeremonieller Rauminszenierung; Der Skizze nach hätte der Zar einen längeren Weg gehabt, hingegen würde die paritätische Aufteilung der Wegstrecke, wie sie der Protokolltext vorgibt, die beiden Souveräne gleichwertiger behandeln.27 Wie auch immer - der Skizze nach standen sich Zar und Kaiser an einer Ecke des Tisches schräg gegenüber, der Kaiser weiter im Raum, der Zar dem Tisch zu. Dahinter befand sich als Dolmetscher Monsieur Le Fort, der Erste Gesandte des Zaren. Mit etwas Abstand folgten zur Wand hin, ebenfalls schlägstehend, eine Reihe von drei Moskowitern; parallel dazu standen frei 23

24 2i 16

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Zur Architektur und zum Garten der Favorita Johann Schwarz: Die kaiserliche Sommerresidenz Favorita auf der Wieden in Wien 1615- 1746. Wien/Prag 1898, Schwarz thematisiert auch in breitem Umfang die höfische Kultur der Feste. Zum zeremoniellen Status der Favorita mit Hinweisen auf die neuere Literatur Christian Benedik: Zeremonielle Abläufe in habsburgischen Residenzen um 1700. Die Wiener Hofburg und die Favorita auf der Wieden, In; Wiener Geschichtsblätter 46. H. 4 (1991). S. 171-178 sowie: Erich Schlöss: Die Favorita auf der Wieden um 1700. In: Ebd. S, 162-170. Zeremonialprotokoll Bd. 5 (1692- 1699) (wie Anm. 4). Fol. 423 r. "Privat Entreveüe zwischen Ihre Kay. Mtt. und dem Czaar in der Favoritta." Zeremonialprotokoll Bd. 5 (1692- 1699) (wie Anm. 4), Theatrum Europaeum (wie Anm. 3). 15. Teil. S. 472. Eine Rekonstruktionszeichnung der Zimmeranordnung im ersten Obergeschoß der Favorita bei; Schlöss (wie Anm. 23). S. 167. Über eine ungleiche Wegstrecke (2/3 - Zar; 1/3 - Kaiser) berichtet auch die Leipziger Zeitung (wie Artm. 3).

Ba rockg arten and terem onielle Beweg ung

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im Raum fünf kaiserliche Minister, Nach der Unterredung ging der Kaiser in seine Zimmer zurück, der Zar nahm die Treppe nach unten und "ginge hernacher in den garten zum Teichtl, führe hin und her in der Gondola, und so dan den Weg wieder nach Hauß, den er kommen wäre".28 Die dispositive Leistung des Innenraums für das Zeremoniell erweist sich am Beispiel der Galerie als gar nicht so eindeutig, wie man vielleicht annehmen würde. Denn die Vorzüge der Galerie liegen in ihrer flexiblen Nutzung. Zu Ende des 17. Jahrhunderts verfügt der Raumtypus der Galerie bereits über eine sehr lange Tradition, die vom einfachen ausgemalten Gewölbegang nach dem Vorbild einer Laube über den freskierten Saal hin zur Gemäldegalerie reicht.29 So beherbergte auch die Galerie der Favorita einen Teil der kaiserlichen Sammlungen, diente aber gleichzeitig als Speisesaal bei Festlichkeiten. Im Falle der Zarenvi site wurde dieser Raum genutzt für eine Begegnung, die nicht den vollen zeremoniellen Aufwand eines Staatsempfangs haben sollte: das incognito. Ein großer Empfang hätte ansonsten in der Ratsstube stattgefunden, einem zum Thronsaal in der Hofburg analog ausgestatteten Raum. Die Galerie in der Favorita war ein Verbindungsraum zwischen der Ratsstube und dem Theater,30 Galerie im Schloßinneren und Allee im Garten sind sich sehr ähnlich beides im eigentlichen Wortsinn transitorische Räume -,31 gemacht für das Abschreiten und Durchwandeln. Allein die Aliee aber ermöglicht durch den räumlichen Kontext des Gartens eine höhere Bewegungsfreiheit; Im Garten herrscht zwischen den verschiedenen Räumen grundsätzlich Durchlässigkeit, im Schloßinneren dagegen sind in Form von Türen, Portalen und Wachen Schranken zu überwinden und längst nicht alle Bereiche zugänglich. Daher bedarf der zeremonielle Weg im Gebäudeinneren der Festlegung durch die Skizze und einer zusätzlichen Markierung durch Mobiliar. Unter diesen Bedingungen soll die Begegnung zwischen Kaiser und Zar von jeder Gefahr des Zufalls befreit werden. Für eine solche Ordnung der Bewegung eignen sich die regelmäßigen, symmetrischen Strukturen der Galerie.32

28 29

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"Privat Entreveüe zwischen Ihro Kay, Mtt. und dem Czaar in der Favoritta," Zeremonialprotokoll Bd, 5 {1692-1699) (wie Anm. 4), Fol. 422v. Die verschiedenen Traditionsünien der Galerie diskutieren Volker Hoffmanns Rezension des Buches von Wolfram Prinz (Die Entstehung der Galerie in Frankreich und Italien. Berlin 1970). In: Architcctura. Zeitschrift für Geschichte der Architektur l (1971), S. 102-112, sowie die Antwort von Frank Büttner {ebd. 2 (1971). S. 75-80). Benedik: Zeremonielle Abläufe (wie Anm, 23), Zum Moment der Transitorik in der Barockarchitektur Hans Rose: Spätbarock. Studien zur Geschichte des Profanbaues in den Jahren 1660- 1760. München 1922. S. 6-7. Hillier und Penn bezeichnen die räumliche Festlegung eines Ereignisses durch Ritual oder Zeremoniell als "long-model event", das notwendig ist, um Raum durch die Herstellung bestimmter, nicht alltäglicher Beziehungen zu ordnen. Im Unterschied dazu fuhren sie das "short-model event" an, das, beispielsweise als Party, gerade die zufällige Beziehung herstellt, dazu aber ungeordneten und daher viel Raum benötigt: Visible Colleges (wie Anm. 7). S. 26-27.

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Die Allee als zeremonieller Weg und Wegweiser: das Treffen zwischen dem Zar und dem römischen König Eine andere Begegnung des Zaren in Wien fand wohl tatsächlich in einer Allee statt. Das Zeremonialprotokoll vermerkt für den 8. Juli 1698 ein Teffen zwischen dem russischen Gast und dem Sohn des Kaisers, Joseph L, der den Titel des römischen Königs fuhrt. Ort ist die Hauptallee im Auegarten, draußen in der Leopoldstadt.33 Zar und König sollen einander in der "grossen allee" begegnen, "welche auff= oder mit dem Thüre des gartengebäus correspondert",34 Diese achsiale Korrespondenz erwähnt das Protokoll, weil sich von dort aus der russische Gast in Bewegung setzen wird, sobald der römische König als Gastgeber die Allee betreten hat. In der Mitte der Allee münden drei Gänge ein - der genaue Ort des Treffens, Als der Zar vom Gartengebäude aus seinen Weg durch die Allee beginnt, bemerkt man, daß dieser den Kopf nicht bedeckt hat Da zieht auch der König den Hut, und nun gehen die beiden als gleichrangige Fürsten aufeinander zu, Erinnern wir uns an die Beschreibung bei Lünig über das FavoritaTreffen: Dort weilt der Kaiser beim Spaziergang in der Alee convene und unterbricht diesen gewissermaßen nur, um den Zaren zu begrüßen. Das Protokoll der Begegnung im Auegarten ist hier deutlicher und kann zeigen, auf welche Weise die visuelle Wirkung der Allee-Architektur für das Zeremoniell direkt eingesetzt wird. Diese Beschreibung dokumentiert daher, was für den Text bei Lünig rekonstruiert werden mußte: Daß der optische Kanal der Gartenallee benutzt wird, um die zeremonielle Bewegung der Herrscherkörper überhaupt in Gang zu setzen. Dem Weg der beiden Fürsten, die nun über die Hauptallee aufeinander zugehen, droht aber nicht Beliebigkeit wie beim Gang durch die Galerie. Die Möglichkeiten der Allee als Geh- und als Sehachse sind gleichermaßen beteiligt und gewähren einen zielgerichteten Ablauf der Begrüßung, Verlangte die unverbindliche Räumlichkeit der Galerie einen festgelegten Zeremonialweg und die Auszeichnung des Treffpunktes, so übernimmt die Allee bei der Begegnung im Auegarten beide Funktionen: Sie ist zeremonieller Weg und Wegweiser zürn Zeremoniell.

Resümee Sei es, daß der Verfasser der bei Lünig publizierten Nachricht die Begegnung im Auegarten verwendet hat, um seine Version vom Besuch des Zaren in der Favorita zu liefern, sei es, daß er sich auf eine ähnliche Zusammenkunft stützte. Für unsere Fragestellung sind drei Ergebnisse der Analyse wichtig: 1.) auf welche Weise die räumlichen und visuellen Eigenschaften der Gartenallee für die Inszenierung eines zeremoniellen casus fungieren können; " "Ihro Mtt. der Römischer König und der Czar sehen sich in augarten." ZeremonialproM

tokoll Bd. 5 (1692- 1699) (wie Anm, 4), Fol. 425v-427r. Ebd. Fol. 425v.

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2.) daß das zeremonielle Subjekt den Raum nur zum Teil durch vorher festgelegte Bewegungsabläufe durchmißt. Es hängt auch von der Eindeutigkeit und visuellen Beschaffenheit der jeweiligen Architektur ab, inwieweit vorherige Absprachen getroffen werden müssen oder ein Raum noch zusätzlich ausgestattet wird; 3.) ist die Achse nicht von ungefähr zum bestimmenden Element barocker Raumkunst geworden. Als visuelles Lenkungssystem eignete sie sich nicht nur für städtische Komplexe. Die Achse mußte für eine höfische Ästhetik von höchstem Interesse sein, für die Bewegung durch den Raum eine neue Qualität hatte. Das Zeremoniell setzte für die Mobilisierung des höfischen Körpers Normen - um wieviel wirkungsvoller aber konnte eine Lenkung sein, wenn sie als architektonische Form über die Augen wahrgenommen wurde und diese die Bewegung des Körpers auslöste? Die zunehmende Kenntnis über die Anwendungsmöglichkeiten der Perspektive auf den gebauten Raum ließ im , Jahrhundert ein völlig neues Architektursystem entstehen, über das Heinrich Wölfflm sagte, es erkenne neben seiner Wirklichkeit für den Körper auch eine Wirklichkeit für das Auge an.3i Der Barockgarten ist dafür das beste Beispiel, wenn zeremonielle Bewegung durch den visuellen Rigorismus einer Allee hervorgerufen wird.

Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegrifie, Das Problem der StilentwickJung in der neueren Kunst München '1915. Basel/Stuttgart ]61979. S. 9l.

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Von Rang und Gang Titulatur- und Zeremonienstreit im reichstädtischfiirstenstaatlichen Umfeld Augsburgs

l Die innerstädtische Rangordnung Das städteinterne Ranggefüge, das ein Ergebnis des zähen Ringens zwischen zünftischen und oligarchischen Verfassungsetementen bis in das Zeitalter der Konfessionali sierung bildete, wurde in der Frühneuzeit zusehends durch äußere Einwirkungen des Reichs und der Fürstenstaaten erschüttert.1 Die Karolinische Regimentsordnung von 1548,2 das Instmmentwn Pads Osnabrugense3 von 1648 und die bisher von der Forschung kaum beachteten zahllosen bi- und multilateralen Rang- und Titulaturverträge zwischen urbanen und ständestaatlichen Gemeinwesen griffen tief auch in das innerstädtische zeremonielle Ordnungsgefuge ein, so daß im 17. und 18, Jahrhundert in den Reichsstädten ein Dauerkonflikt um Sitzordnungen, Grußformeln, Präzedenzrechte und Titulaturen vor, während und nach den Ratsversammlungen entbrannte. So wurde es 1735 in Augsburg nötig, daß die uralte und der allhiesigen regiments form gemesse gewohnheil doch dahin moderirt [würde]: daß hinkünffiig den 7 rathspersonen von der gemeindt zwar das praedicat herr in der rathstuben, zum unterschied der 3 höchern ordinum, nicht zu geben; iedoch dem aufruffung von dem h. rathschreiber stando geschehen solle. Am Wahltag aber im Obern Saal solle die rathsverwandte von der gemeind von dem rathsdiener mit dem praedicat herr beehret werden, und soll auch der lezte senator von der gemeindt nicht schuldig seyn, einem jeden h. rathsverwandten, wann er zur rathstube hinaus gehen

Peter Eitel: Die oberschwäbischen Reichsstädte im Zeitalter der Zunftherrschaft. Untersuchungen zu ihrer politischen und sozialen Struktur unter bes. Berücksichtigung der Städte Lindau, Memmingen, Ravensburg und Überlingen. Stuttgart 1970; Wolfgang Wüst: Bürgertum, Handel (Wirtschaft) sowie wirtschaftliche und politische Außenbeziehungen der Reichsstadt, In: Geschichte der Stadt Kempten, Hg. v, Volker Dotterweich u.a. Kempten 1989. S. 202-222; Wolfgang Reinhard: Konfession und Konfessionalisierung in Europa, In: Bekenntnis und Geschichte. Die Confessio Augustana im historischen Zusammenhang (Schriften d. phil, Fakultäten d. Universität Augsburg 20). Hg. v. W. Reinhard. München 1981. S. 165- 189. Vgl, außerdem zürn Wechselspiel von Konfession und Stadtpatriziat Katarina SiehBurens: Oligarchie, Konfession und Politik im 16. Jahrhundert. Zur sozialen Verflechtung der Augsburger Bürgermeister und Stadtpfleger 1518-1618 (Schriften d. phil. Fakultäten d. Universität Augsburg 29). München 1986. Konrad Müller (Bearb.): Instrumenta Pacis Westphalice, Bern 1975.

Von Rang und Gang

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will, die thür aufzutlmen, sondern allein denen h. Stattpflegern, h. ambtsburgermeistern und h. geheimben.4

Nicht nur die Stellung der Kaufleute und Gemeinen blieb in den Ratsgremien umstritten, auch Stadtvögte und Ratskonsulenten waren in die reichsstädtische Rangordnung einzubeziehen, So teilte die Reichsstadt Nürnberg dem Augsburger Rat 1682 mit, daß dort die herren raths consulenten, so auch den raths habit zu tragen pflegen, von altersher so wollen privatim, bey gastereyen und zusamenkunfften alß auch nach denen alten burgermaistem vnd hingegen vor denen jüngeren consulibus und ändern rathspersohnen, ohngeachtet dieselbe sambtlichen auß dem patriziat bestehen, und also in medio corpory senatus, ihren rang und gang zu nemmen pflegen und daßentwegen einige difficultät oder irrung sich [...] eraignet habe.5

In Augsburg folgten Ratskonsulenten und Reichsstadtvogt nach den Ratssessionen immediate nach denn h. rat Iisverwandten auß der mehrern gesellschafft, iedoch noch vor dem ändern von der kauffleuth Stuben vndt der gemeindt (ausser allein wan deren ein burgermaister im wurckhlichen ambt sein würdt) nicht weniger vor dem gantzen gericht, auch denen ybrigen statt officieren vndt bedienten ohne vnderschidt [...] den gang und rang haben sollen.6

Die innerstädtische Rangordnung nahm bis Ende des IS. Jahrhunderts häufig skurrile Züge an, so als Ratskonsulent Franz Anton v. Chrismar 1788 während eines sonntäglichen Opfergangs zu St. Sebastian von Senatoren aus der Kaufmannschaft abgedrängt worden war. Dies führte zu einem geharnischten Protest aller sechs Augsburger Ratskonsulenten mit aufwendigem gutachterlichem Rückgriff auf das Reichsrecht (judicatus Caesaris) von 1694,7 Schwierig wurde es freilich auch, wenn zwei städtische Funktionsträger gleichgestellt waren, wie dies zwischen Ratskonsulenten und Stadtvogt zutraf Ein Dekret verfugte, daß

StadtA Augsburg: Reichsstadt, Rat, Titulaturstreit (Dekret vom 30.6.1735). Nach der Regimentsordnung von 154S umfaßte der Große Rat 300 Personen (44 Patrizier, 36 Mehrer, 80 Kaufleute, 140 v.d. Gemeinde), während der Innere Rat zunächst auf 41 Mitglieder (31 Patrizier, 3 Mehrer, l Kaufmann, 6 v.d. Gemeinde) reduziert wurde und 1555 auf 45 Personen erweitert wurde, wobei jetzt der Gemeinde sieben Stimmen zufielen. StadtA Augsburg: Reichsstadt, Rat, Titulaturstreit (Schreiben des Geheimen Rats der Stadt Nürnberg vom 28.4.1682). StadtA Augsburg: Reichsstadt, Rat, Titualturstreit (Raü'ones von 1682, Beilage D). StadtA Augsburg: Reichsstadt, Rat, Titulaturstreit (Protestschreiben an den Geheimen Rat vom 9.2,1788). Der Augsburger Ratskonsulent zeichnete sich ansonsten durch eine scharfsinnige juristische Gelehrsamkeit aus: Franz Anton v. Chrismar: Nothwendige Beleuchtung und Nachtrag zu der Staatsgeschichte der Markgrafschaft Burgau, welche unlängst Herr Joseph Edler von Sartori [...] herausgegeben hat. Augsburg 1788.

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Wolfgang Wüst sie beede thail daß ranges halber miteinander gleich gehalten werden, vnd in einer dem anderen nach der zeit, wie er in seinem officio angestanden, vor- oder nachgehe. Sie aber inßgesambt vnd sonderheitlich immediate nach denen rathsvenvandten auß der mehrera gesellschafft iedoch noch vor denen anderen von der khauffleuth stuben vnd der gemeindt [...] den gang vnd rang haben sollen.8

Selbst die kleinlichsten zeremoniellen Regelungen in den frühneuzeitlichen Ballungsräumen krankten aber an ständischen, gerichtlichen und konfessionellen Sonderrechten und Unwägbarkeiten innerhalb der Stadtgrenzen. In einem Ratsgutachten von 1706 heißt es dann auch: daß eß solichen ranges halber auch allhier nicht aller dinges seine allgemaine richtigkhait habe, und wie derselbe von vnderschidlichen vnderschidlich praetendieret wird, also zumahl sowohl bey beyden religions-thailen selbst, alß auch wegen der hier sich befindenden jurisdictionen, defl Hochstüffls, St. Ulrichs, herren Graffen Fugger, und anderer zwischen dero und hiesiger statt consiliarys und beambten, so dann denen doctoribus juris et medicinae kheine durchgehende uniformität oder gewiser rang observieret werde, dessentwegen in zwiweilen ganze ordines von solemnen, actibus und publicis runcüorübus zur vermaidung besorglicher collision entweder gar wechk und zu hauß bleiben oder durch außfindung anderer temperamenten zur salviemtig ihrer habenden praetentionen die concurrenz vmbzuegehen trachten.9

Konfessionelle Elemente beeinflußten beispielsweise auch das Urteil hinzugezogener Schlichter im Streit der Ratskonsulenten gegen die Kaufleutestube. Im Gutachten Graf Paul Fuggers v, Kirchberg-Weißenhorn hieß es: daß VTIS von der zeit, da wir vns von vilen Jahren hero biß ad annum 1682 in der statt Augspurg aufgehalten, gar wohl wissent seye, daß die iederweilige drey rathsverwandte von kauffleuthen, in öffentlichen zusamenkunfften und actibus vor denen, besonders catholischen rathsconsulenten, {..,] niemahls den Vorgang oder praecedenz gehabt oder gesucht haben.10

Paritätischer Konfessionsstand und die Möglichkeit ein- und dasselbe Amt aus unterschiedlichen ständischen Korporationen (Patriziat, Mehrer der Gesellschaft, Kaufleutestube/Gemeinde) anzusteuern, brachten zusätzliche Probleme in die urbane Rangordnung, Die Festschreibung der Parität11 für ::

'

StadtA Augsburg: Reichsstadt, Rat, Titulaturstreit (Gutachten vom 25.10.1685). StadtA Augsburg: Reichsstadt, Rat, Titulaturstreit (Gutachten der Deputierten der Reichsstadt Nürnberg vom 26.6.1706), 10 StadtA Augsburg: Reichsstadt, Rat, Titulaturstreit (Attestatum Graf Paul Fuggers vom 21.6.1686). " Paul Warmbrunn: Evangelische Kirche und Kultur in der Reichsstadt. In: Geschichte der Stadt Kempten (wie Artm. 1). S. 273-289; Volker Donerweich; Zwei Konfessionen in einer Stadt. Das Zusammenleben von Katholiken und Protestanten in den paritätischen Reichsstädten Augsburg, Biberach, Ravensburg und Dinkelsbühl von 1548 bis 1648 {Veröffentlichungen d. Instituts f. europäische Geschichte Mainz, Abtl. abendländ. Religionsgeschichte 111). Wiesbaden 1983; Etienne Francois: Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648-1806 (= Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 33). Sigrnaringen 1991. 9

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die Reichstädte Augsburg, Biberbach, Dinkelsbühl und Ravensburg brachte in diesen Städten auch zeremoniell-verfassungsrechtliche Implikationen, wenn z.B. die katholischen Ratskonsulenten in Augsburg rangmäßig vor der Kaufmannschaft gingen, während die evangelischen Konsulenten dem protestantischen Ratsvertreter Dr. Marx Voit12 als einem altmeritirten advocato causae Augustanae Confessionis addictorum, so doch gemeiner statt rathsconsulent propter diversam religionem reformatam nit sein könden, honoris ergo [den Vortritt gewährten], vnd der hinwidemmb denen khauffleuthen im rath gewichen.15

Wurde schließlich ein Angehöriger der Kaufleutestube in das Bürgermeisteramt gewählt, so hatte auch diese "burgermaisterstell ihren behörigen vorzug auch vor denen rathsverwandten deß patriziats; alß dann allein habe, wann ein dergleichen burgermaister in seiner vier monatlicher ambtierung" stünde.

2 Beziehungen zwischen geistlichen Territorien und Reichsstädten Außenpolitische Kontakte zwischen. Reichsstädten und Fürstenstaaten blieben in der Barockzeit durch das titulatorische Kompensationsbemühen städtischer Räte belastet Wie in kaum einer politischen Angelegenheit suchten in dieser Frage die oberdeutschen Patriziate den Austausch mit anderen Reichsstädten, um eine Angleichung innerhalb der Städtekurie vor dem Reichstag zu erwirken. So berichtete der Nürnberger Rat 1624 den Augsburger Stadtpflegern, daß ettliche vnser benachbarte fürstliche beampie vnd andere vom adel mit den praedicatis edel vnnd vest, so dem herkommen nach, ihnen bißhero von vnnß gegeben worden, nit mehr zufrieden, sondern höher tituliert sein wollen, zumahlen weilen dieser zeit die praedicata fast allenthalben gestiegen.'4

Vorbild war dabei sicherlich auch die inflatorische Entwicklung der Adelsund Beamtenprädikate in den Fürstenstaaten - katholischer und evangelischer Provenienz. Sie manifestierte sich auch in der raschen Druckfolge polizeistaatlicher Rangreglements.I!

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Zur Rolle Voits im paritätischen Augsburg vgl, Bernd Roeck: Eine Stadt in Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte der Reichsstadt Augsburg zwischen Kalenderstreit und Parität (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 37). 2 Teilbde. Götüngen 1989, hier; S. 957, 972. StadtA Augsburg: Reichsstadt, Rat, Titulaturstreit (Gutachten vom 25,10,1685). StadtA Augsburg: Reichsstadt, Ceremonialia, Nr. 18 (Schreiben vom 5.1.1624). So ließ beispielsweise Herzog Eberhard Ludwig v. Württemberg innerhalb von nur 15 Jahren eine weitgehend geänderte Neuauflage seiner Titulaturvorschriften in Druck gehen: Vgl, Hochfürstlich-Wurtternbergisch.es Rang-Reglement von 1718 und HochFürstlich- Würtembergisches Erneuertes Rang-Reglement von 1733 (Universitäts-

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Der Augsburger Rat stellte sogar einen Zusammenhang zwischen Preissteigerungen und dem Bedürfnis nach ständischer Elitisierung her: weilen ettliche jar hero alle Sachen, wie auch die titul gestigen, vnd bey disen schweren theuren zeiten, beruerte titulatur [edel vnd vest] vnnd newen leuthen, so gemaine, vordem, das die allten vom adel vnd herren beambte höcher titulirt sein oder die schreiben nit annemmen wollen.' 6

Die städtische Eitelkeit in Sachen Anrede und förmlicher Titulatur ging so weit, daß selbst wirtschaftliche Interessen kurzfristig in den Hintergrund gedrängt wurden. Freilich grollten manche Fürstenstaaten über derartige Ansinnen und konterten durch Handelsbeschränkungen, So konnte 1695 ein Augsburger Kaufmann nicht das erzstißisch-salzburgische Territorium passieren, da sein inlercessionsschreiben nicht die fürstlichen CourtoisieNormen erfüllte. Die Augsburger Bürgermeister hielten dagegen, daß nun aber mehr höchstgedachten heim ertzbischoff wir niemal bißhero bey der unterschrifft einige submission ertheilt, mithin dieses ein unvermuthel neuerliches ansinnen ist, alß haben wür dienlich ermeßen, mit euer fürsicht, {...] zu communiciren [... und] außzufragen, ob und welchen von denen geist- und weltlichen fursten und ständten (außer denen herren churfürsten) euer fürsieht, etc. bißhero die courtoisie im zuschreiben beygeleget haben? Damit wir auß hiernach allenfalls achten und eines theils zu praejudiz anderer erbarn reichsstädt nichts neuerliches einführen.'7

Das Erzstift Salzburg blieb kein Ausnahrnefall, denn 1763 hatte der Mainzer Hofratspräsident in Absprache mit seinem Kurfürsten einen Augsburger Geleitsbrief verworfen, nachdem dort "die gewöhnliche titulatur abgeändert und nur dem hochwürdigsten fürsten und herrn, an statt zweymahl heim heim befindlich seye."18 Aufklärerische, antiständische Einsichten, wie sie im benachbarten Kurfürstentum Bayern kursierten, blieben in den kleineren Fürstenstaaten und in den Reichsstädten weitgehend ungehört. Dort gab der Hofrat unter Kurfürst Max III. Joseph (1745- 1777)19 folgende Weisung sowohl an seine kurbayerischen als auch an die hofmärkischen Administrationen:

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bibliothek Augsburg, Oettingen-Wallerstein- Bestand, 02/XII,3.2,42 angeb. 26 bzw. 36). StadtA Augsburg: Reichsstadt, Ceremonialia, Nr. 18 (Schreiben vom 3.2,1624), StadtA Augsburg: Reichsstadt, Ceremonialia, Nr. 18 (Schreiben vom 20.4.1695). StadtA Augsburg: Reichsstadt, Ceremonialia, Nr. 18 (Protestnote des Mainzer Hofrats und der Geheimen Kanzlei vom 22.8.1763). Vgl. zu den Einflüssen der Aufklärung in Wissenschaft und Gesellschaft Ludwig Hamrncrmayer: Die Aufklärung in Wissenschaft und Gesellschaft, In: Handbuch der Bayerischen Geschichte. Bd. 2: Das Alte Bayern. Der Territorialstaat vom Ausgang des 12. Jahrhunderts bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Begr. v. Max Spindler, Hg, v, Andreas Kraus. München 1988. S. 1135-1197; Andreas Kraus: Geschichte Bayerns, Von den Anfangen bis zur Gegenwart, München 1983. S. 341-359; Max Spindler: Der Ruf des barocken Bayern. In: HJb 74 (1955). S. 319-341; Hans Graßl:

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als theils gegen anderer unserer ständen beamte aus ungeziemendem hochmuth und vanität eine zeithero öfters wegen eines von dem anderen erfoderenden allerhand eitlen praedicats und titulaturen verscheydentliche zwisügkeiten entstanden, worunter nicht nur mehrfältig unser höchster dienst gehemmet, sondern auch die partheyen in vielweg zu leyden kommen, welche wir femershin zu gedulden nicht gedenken, sondern alles ernsts abgestellt wissen wollen. Als befehlen wir hiemit gnädigst, daß künftighin alle unsere pfleg- und land-gerichts-, dann casten-, maut-, salz-, brau- und all übrige aemter, da eines mit dem anderen in amtssachen, es seye malefiz-, civil- oder cammeral-weesen, mittels erlassung herkömmlich-förmlichen verschlossenen amts-schreiben zu correspondiren hat, sich nicht der bisherigen personaltitulaturen gegen einander zu gebrauchen, sondern am platz des titels allwegen das amt [...] anzusetzen.20 Die Säkularisation forcierte diese Richtung nochmals entscheidend, als im Zuge einer Entfeudalisierung mit dem Ende der Verflechtungen zwischen Reichskirche und Reichsadel auch ein Revirement der althergebrachten Titulaturen eingeleitet wurde. So schlug beispielsweise der Hofrat des Kurfürstentums Baden,21 obwohl 1803 der dynastische Aufstieg von der Markgrafschaft zum Kurstaat eben erst vollzogen und zum Großherzogtum schon greifbar nahegerückt war, der Reichsstadt Augsburg vor, "bei nächster correspondenz mit auswärtigen neufurstlichen und gräflichen regierungen, reichsstädtischen magistraten [und] auch ritterdirectorien" in Anrede und Text nur noch von "hochgeehrten herren" zu sprechen und bei der Unterschrift auf alle Submissionsformeln zu verzichten. Die fürstliche Kanzlei zu Karlsruhe hatte sich unter französischem Einfluß losgesagt von "den jezigen zeiten nicht mehr anpaßenden alten steifen canzleUceremoniels,"22 Die Antwort der Reichsstädte blieb infolge der einsetzenden Mediatisierung23 darauf allerdings aus. Ähnliches bahnte sich offenbar auch in anderen Fürstenstaaten noch früher an, wenn Julius Bernhard v. Rohr mit zahlreichen Beispielen belegte, daß einige

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Aufbruch zur Romantik. Bayerns Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte 1765 bis 1785. München 1968. Stadt A Augsburg: Reichsstadt, Ceremonialia, Nr. 18 (Mandat mit der Unterschrift des Hofratssekretärs Franz Carl Piendl vom 16, l .1764). Elisabeth Fehrenbach; Die territoriale Neuordnung des Südwestens. In: Die Geschichte Baden-Württembergs. Hg. v. R. Rinker/W. Setzier. Stuttgart 1986. S. 211-219; Erwin Amdt: Vom markgräflichen Patrimonialstaat zum großherzoglichenVerfassungsstaat Baden. Ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte Badens zu Beginn des 19, Jahrhunderts mit Berücksichtigung der Verhältnisse in Bayern und Württemberg. In; Zeitschrift f. d, Geschichte d. Oberrheins 101 (1953). S. 157-264, 436-531; Eberhard Weis: Der Einfluß der Französischen Revolution und des Empire auf die Reformen in den süddeutschen Staaten. In; Francia l (1973). S. 569-583. Stadt A Augsburg; Reichsstadt, Ceremonialia, Nr. 18 (Schreiben der markgraflichen Kanzlei zu Karlsruhe vom 15,7.1803). Peter Fassl: Konfession, Wirtschaft und Politik. Von der Reichsstadt zur Industriestadt Augsburg 1750-1850 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 32). Sigmaringen 1988; Karl Haupt: Die Vereinigung der Reichsstadt Augsburg mit Bayern (Historische Forschungen und Quellen 6), München/Freising 1923.

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fursten oder fiirstinnen, entweder aus grosser demuth, zu der sie, ihrer hoheit unbeschadet, ihren tugendhaften naturell nach geeignet sind oder aus besonderer liebe, womit sie diese oder jene person von geringer dignitaet distinguiren wollen, von denjenigen ehrenbezeugungen, die andre zu leisten schuldig und willig wären, ein grosses nachlassen.24

2. l Anrede und Amtstitel Unsere "Hebe getrewe" Unverständnis seitens der reichsstädtisch-augsburgisehen Rats rief die Ergänzung der Courtoisieformel und der Anrede um ein zweideutiges "liebe getrewe" hervor, wenn der städtische Kanzlist bereits im Jahr 1600 vor dem hochstiftiseh-augsburgischen Kanzler in der Dülinger Residenz25 argwöhnt: Nun vemimb ich sovil, das gleichwol herren pfleger vnd gehayme rhäte allhie, wovon etlich bay iren fürstlich gnaden vnd dem loblichen süfft Augspurg lehen haben, für sich selbsten als vasallj vnd privati, ab dem wort {getrewe], wann inen sonderbar zugeschriben würde, nit bedenkhens trüegen; demnach aber iren fürstlich gnaden schreiben an herren pfleger vnnd gehayme nit als vasallos oder privates, sondern alls magistratum, capita oder membra senatus sambtlich abgangen [.,. soll dies] vnnderlassen vnd alain [vnnsern lieben besondern] geschriben werden.26 Dies verletzte nach Ansicht des Rats den Status einer Reichsstadt, die "allein der Rom. Kay. Mayt. gelobt vnd geschworn, auch dem reich zuegethan vnd ein siandt desselben seye."27 Das Augsburger Fürsibssium setzte sich hiermit nicht nur in Gegensatz zu politisch mächtigeren Anrainern wie Vorderösterreich2S oder Kurbayern,29 die auf eine derartige Anrede verzichteten, obwohl ^ Julius Bernhard v. Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaffi Der großen Herren, Die in vier besondern Theilen Die meisten Ceremoniel-Handlungen/ so die Europäischen Puissancen überhaupt/ und die Teutschen Landes-Fürsten insonderheit [.,.} zu beobachten pflegen [,.,]. Berlin 1733. Nachdruck. Hg. v. Monika Schlechte. Leipzig u, Weinheim 1990. S, 9. 15 Wolfgang Wüst: Die Residenz zu Dillingen. Höfischer Lebens- und Wohnstil im Spiegel barocker Schloßinventare. In: Jahrbuch d, Histor. Vereins Dillingen 89 (1987), S. 147-212. 16 StadtA Augsburg, Reichsstadt, Beziehungen zu Bischof und Domkapitel, Akt 8 y, Nr. 31 (Entwurf des expedierten Schreibens Adam Schillers an Albert Fabri vom 10.6.1600). 27 StadtA Augsburg: Reichsstadt, Beziehungen zu Bischof und Domkapitel, Akt 8 y, Nr. 31 (Rapularvom 18.5.1600). 28 Franz Quarthai: Landstände und landständisches Steuerwesen in Schwäbisch Österreich (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 16). Stuttgart 1980; Franz Quarthai/Georg Wieland/Birgit Dürr: Die Behördenorganisation Vorderösterreichs von 1753 bis 1805 und die Beamten in Verwaltung, Justiz und Unterrichtswesen. Bühl 1977; Eugen Stemmler: Zur Geschichte der Behördenorganisation und der Archive in Vorderösterreich. In: ZWLG 11 (1952). S. 189-206, Das Formular Vorder- und Oberösterreichs (Regierung zu Innsbruck) lautete 1738 für die Reichsstadt Augsburg:

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das städtische Patriziat auch dort in Lehensabhängigkeit stand, sondern bediente sich der umstrittenen Titulatur auch im Umgang mit der evangelischlutherischen Ratshälfte im paritätisch geordneten Gemeinwesen,30 Noch im Jahr 1600 richtete der Augsburger Stadtpfleger und einflußreiche Humanist Marcus/Marx Welser (l 558-1614)31 ein Protestschreiben an die hochstiftische Regierung, in der er sich gegen die Adresse "dem ersamen vnsern lieben getrewen Marxen Welser" verwahrt, "so ich doch von ir fürstlich] g[nadenj nichts zue lehen trage vnd sy mir auch vor der zeit tut änderst als vnnsern lieben besonderen zue schreiben gepflegt" hätte.52 Der Streit mit dem Hochstift konnte während der Regierungszeit Kardinal Otto Truchseß v. Waldburgs (1543-1573)33 nicht beigelegt werden, da der furstbischöfliche Hofrat zu Dillingen sich zuversichtlich gab, "daß diß kein übersehen oder fürsezlichst newerung, sondern bey allen regierenden heim jederzeit also erblich herkhomnien vnnd gehallten worden ist."34 Die Reichsstadt holte darauf bei anderen Reichsstädten des Hl. Römischen Reichs Vergleichstitulaturen ein und überschritt in ihrer gekränkten reichsständischen Eitelkeit auch selbst diese Grenzen, wenn es z.B. 1766 aus den "von der canzley der republique Bern eingelangte schreiben" erwog, den Passus "rath deß Standes und der Stadt Bern" auch in Augsburg einzuführen.35 Die wichtigeren mitteleuropäischen Reichsstädte hatten keineswegs zwangsläufig in ihrer außenpolitischen Korrespondenz vereinheitlichte zeremonielle Schemata, sondern diese waren Ergebnis mühsamer bilateraler Vorarbeiten, die vor

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"edlgestreng, edlvest, ehrsamb, firsichtig und weis, lieb und gut freind [...]". Vgl. StadtA Augsburg: Reichsstadt, Rat, Titulaturstreit (Titulaturbeschrieb der o.ö. Regierung zu Innsbruck vom 21,5,1738), Wolfgang Wüst: Kurbayern und seine westlichen Nachbarn. Reichsstadt und Hochstift Augsburg im Spiegel der diplomatischen Korrespondenz. In: ZBLG 55 (1992). S, 255-278. Peter Fassl: Konfession und Politik. Zur Geschichte der Paritat im 18. und 19. Jahrhundert in Augsburg. In: JVAB 22 (1988). S. 55-74. Vgl. neuerdings Etienne Francois: Die unsichtbare Grenze, Protestanten und Katholiken in Augsburg 16481806 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 33). Augsburg 1991, Markus Völkel: Marcus Welser und die Augsburger Baukunst der Hollzeit. Einige skeptische Anmerkungen. In: Elias Holl und das Augsburger Rathaus. Hg. v. W: Baer/H. W. Kruft/B. Roeck. Augsburg 1985. S. 126-134. StadtA Augsburg: Reichsstadt, Beziehungen zu Bischof und Domkapitel, Akt 8 y, Nr. 31 (Schreiben an Dr. Adam Schiller). Friedrich Zoepfl: Das Bistum Augsburg und seine Bischöfe im Reformationsjahrhundert (Geschichte des Bistums Augsburg und seiner Bischöfe 2), Augsburg 1969. S. 173-464. StadtA Augsburg: Reichsstadt, Beziehungen zu Bischof und Domkapitel, Akt 8 y, Nr. 31 (Schreiben vom 26.5.1600). 1766 lautete die Adresse für Bern; "[...] denen wohlgebornen und wohlmögenden, unseren besonders lieben und guten freunden, auch wegen des fürstenthums Neuchatel verbündeten und ewig verbürgten, herren Schultheißen und rath deß Standes und der Stadt Bern" (Abschrift eines Schreibens des Preußenkönigs Friedrich II. durch die Bemer Stadtkanzlei, Korrespondenz vom 26.6.1766), Vgl, StadtA Augsburg: Reichsstadt, Ceremonialia, Nr. 18.

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dem Hintergrund einer zunehmenden merkantilen, konfessionellen und politischen Konkurrenz zwischen Stadt und Fürstenstaat zu bewerten sind.36 Beispielsweise einigten sich 1742 die Reichsstädte Augsburg und Frankfurt/M, statt der bisher üblichen "alt fränkischen titulatur" künftig eine erweiterte gemeinschaftliche Fassung37 gegenseitig anzuerkennen. Auch in der Korrespondenz mit der Reichsstadt Regensburg, die infolge der Verbindungen zum "Ewigen Reichstag" und zu den kaiserlichen Prinzipalkommissären ("unser herr principal") besonders intensiv gepflegt wurde, spielt dies 1747 eine Rolle. Das Regensburger Schultheißenamt wurde von der Reichsstadt Augsburg gebeten, künftig dem Magistrat den Titel "hochedelgebohrn und hochweiß sowohl in rubro als in nigro"38 zu verleihen. Bisher pflegte Regensburg die Augsburger Stadtpfleger und Bürgermeister, dem alten Stü entsprechend, als "fürsichtige, ehrsame und weise" Herren zu bezeichnen. Die Titulaturen wurden schließlich, "nachderne solche seit einigen jähren durchgehende gestiegen", beidseitig erhöht.39 Die Reichsstädte waren auch nicht beteiligt, als 1712 geistliche und weltliche Fürstentümer vereinbarten, ihre Titulaturen wechselseitig zu vereinfachen. In den deutschen Hochstiften stand künftig statt "hochwürdig und hochgebohren" ein "hochwürdigster" mit dem Zusatz "durchlauchtigst" für Bischöfe aus fürstlichen Häusern, Der Augsburger Fürstbischof Joseph v. Hessen-Darmstadt ( 40-1768),40 während dessen Amtszeit die zeremoniellen Konflikte mit der Augsburger Bürgerschaft kulminierten, bestand gegenüber der Stadt auch auf die von weltlichen Fürstenstaaten zugestandene Anrede: "dem hochwürdigsten, durchlauchtigsten fürsten und heim, heim Joseph, bischoffen zu Augspurg, des Heiligen Römischen Reichs fürsten [,..]" bzw. auf die französische Version "a son altesse reverendissime e serenissime monseigneur Joseph, eveque d'Augsbourg, prince du Saint Empire f...]."41 36

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1)1

Vg!. hierzu u.a. Georg Schmidt: Der Städtetag in der Reichsverfassung. Eine Untersuchung zur korporativen Politik der freien und Reichsstädte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Stuttgart 1984; Heinz Schilling: Die politische Elite nordwestdeutscher Städte in den religiösen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts. In: Stadtbürgertum und Adel, Studien zur Sozialgeschichte der Reformation in England und Deutschland. Hg. v. Wolfgang J. Mommsen. Stuttgart 1979. S. 235-307. Sie lautete: "denen hochedelgebohrnen, gestrengen, edlen, vesten, ehrsamen, fürsichtigen, hoch- und wohl weisen herm [...]". Vgl. StadtA Augsburg: Reichsstadt, Ceremonialia, Nr. 18 (Protokoll vom 9.11.1742). Sowohl bei Privilegierungen/Fastanlässen als auch in der alltäglichen Korrespondenz. StadtA Augsburg: Reichsstadt, Ceremonialia, Nr. 18 (Mitteilung vom 9.5.1747). Vgl. Wolfgang Wüst: Joseph (I.) Ignaz Philipp, Landgraf von Hessen Darmstadt 1699-1768, In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben. Bd. 14. Hg, v. W. Haberl, Weißenhora 1993. S. 123- 147. Johann Christian Lünig: THEATRUM CEREMONIALE HISTORICO-POLITICUM, Oder Historisch- und Politischer Schau-Platz des Europäischen CantzleyCEREMONIELS, Wie Kayser/ Könige/ Chur- und Fürsten/ Grafen und Herren/ Dann Freye Republiquen/ Reichs- Staats- Kriegs- und andere Geist- und Weltliche/ hohe und niedere Collegia [,,.] heutiges Tages einander in Briefen tractiren. [...] Leipzig 1720. S. 12; Ders,: Neu verbessertes und ansehnlich vermehrtes Titular Buch mit einer Vor-

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Die Anrede 'wohledelgebohrne, wohledle1 Die Reichsstadt Augsburg versagte sich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts Planen, die Titulatur für Hofkavalüere und hohe Beamte in adeligen Stiftsterritorien von den Gepflogenheiten in städtischen Titulaturbüchern zu trennen. 1732 führte hierzu der Geheime Rat der Stadt gegenüber dem Fürststift Kempten aus: Es werden aber unsere hochgeehrtes! und hochgeehrte herren aus der in diesem schreiben und dessen überschriffl ersehen können, daß dessen ungeachtet, die titulatur dergestalten eingerichtet worden, wie von hieraus dermahlen geist- und weltliche reichs cavaliiers und andere fürstliche räthe honoriert zu werden pflegen. WoIIöbl. statt Ulm und andere statte exempla mögen uns zu keiner praejudJcierlichen neuerung um so weniger vermögen, als ja reichskündig ist, daß der hiesige Geheime Rath völlig, der Innere [Rath] aber rnehrentheils aus unralt adelichen geschlechtera bestehet, welchen ein mehrers nicht wirdt zugemuthet werden können. Hingegen aber auch uns wenigst mit dem praedicat hochedelgebohren zu beehren belieben wird.42

Die Unterlassung der alten Titulatur bei der Adressierung stiftischer Hofratsund Regierungsgremien seitens der Stadt führte ebenfalls zu scharfen Protesten in den Fürstenstaaten, die 1733 der hochstiftisch-augsburgische Kanzler und Hofratsvizepräsident Johann Georg v. Sartori symptomatisch so formulierte hatte: Die Stadt möge künftig die adäquate Titulatur beachten, "damit nit widrigen fals das freündt nachbahrliche correspondieren [...] auffzuheben bemüssiget werden mögte [...] vnd göttliche protection vns allerseits erlassende beharren,"43

Das Ortsprädikat 'in unserer Stadt Augspurg' Tiefgreifende Unstimmigkeiten in den bilateralen Beziehungen von Stadt und Stift erwuchsen aus der Gewohnheit der Augsburger Fürstbischöfe, nach der Verlegung der bischöflichen Hauptresidenz und der Zentralämter im 15716. Jahrhundert neben "vnserer residenz-statt Dillingen"44 weiterhin auch von "vnserer Stadt Augspurg" zu sprechen. Anlaß bot ein gedrucktes Mandat von Fürstbischof Joseph Ignaz Philipp v, Hessen-Darmstadt zur Revitalisierung von Kirchenpfründen, nachdem der Fürstbischof 1765 nicht ohne grossen schaden und nachtheil der catholischen religion, auch grosser aergemus, und stoß der uncatholischen in unserer Stadt Augspurg diesen sonst so ansehnlichen gottesdienst, und des catholischen volcks sehr beeiferte tägliche andacht nicht

rede von dem uralten reichs gräflichen Hause von Giech, begleitet von D. Gottlob August Jenichen, Leipzig 1750. S. 32-42. StadtA Augsburg: Reichsstadt, Ceremonialia, Nr. 18 (Post Scriptum vorn 4.9.1732), StadtA Augsburg: Reichsstadt, Ceremonialia, Nr. 18 (Fürstenschreiben vom 11.5.1733). StaatsA Augsburg: Hochstift Augsburg, NA. Akten 3049. Nr. 33.

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anders als mit groestem hertzenJeyd unterbleiben und untergehen anzusehen gezwungen wurden.45 Nicht nur, daß in der verbalen Intention dieses hochstiftischen Mandats die konfessionelle Parität ins Ungleichgewicht zu fallen drohte, es drückte auch den verfassungsmäßigen Rang einer Reichsstadt auf die Stufe einer landsässigen Residenzstadt. So verwunderte es nicht, daß der Rat "wider oben erwehnten ausdruck feyerlichst zu protestiren und wie wir allezeit gewohnet sind, wo es immer thunlich, das widrige nach dem mildernden verstand zu interpretiren, als wollen wir auch dießfalls sothane expression einstweilen [..,] negieren".46

2.2 Asymmetrie der Titel Das Grundleihe und Lehensakt-Formular Mißverständnisse und Bösartigkeiten im beiderseitigen Korrespondenzstil beschränkten sich nicht nur auf Mandate und Dekrete, sondern sind gerade im Schriftgut der nachgeordneten Behörden zu finden. So sollte noch kurz vor der Säkularisation47 des Hochstifts ein Titulaturdisputation entstehen, nachdem ein städtischer Bürger48 als bischöflicher Zinslehenträger in einer wenig bedeutenden Gartenlandparzelle einen vom Formular abweichenden Lehenrevers im hochstiftischen Rentamt hinterlegt hatte, einen Revers ausstellte, worinnen gegen allen anstand, schuldigen respekt und den ehevor allzeit in derley briefen üblichen styl, mit einer in öffentlichen Instrumenten von bürgerlichen personen gegen den erhabenen fiirstenstand beleidigenden schnödigkeit plattweg, so oft es die gelegenheit giebt, der werten 'einem herrn bischofen' ohne allen titl oder courtoisie sich zu gebrauchen für gut gefunden wird."9 Die ungewöhnliche Stilisierung wurde städtischerseits als Folge einer "Unschicklichkeit" im Kanzleipersonal begründet, doch beharrte die Stadtkanzlei darauf, daß auch der umstrittene Revers "buchstäblich nach dem alten ausgestellt, wobey die courtoisie oder titulatur gänzlich wie zuvor blieb."30

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StadtA Augsburg; Reichsstadt, Beziehungen zu Bischof und Domkapitel, Akt 8 y, Nr. 31 (Mandat vom 13.5,1765), StadtA Augsburg; Reichsstadt, Beziehungen zu Bischof und Domkapitel, Akt 8 y, Nr. 31 (Konzept vom 23,6.1765). Alfons Maria Scheglmann: Geschichte der Säkularisation im rechtsrheinischen Bayern. Bd. 3/1. Regensburg 1906; StaatsA Augsburg: Hochstift Augsburg, NA. Akt 1123, Der Gärtnermeister Sebastian Brommer. StadtA Augsburg; Reichsstadt, Beziehungen zu Bischof und Domkapitel, Akt 8 y, Nr. 31 (Beschwerde des hochstiftischen Rentamts vom 29. 10, 1794). StadtA Augsburg: Reichsstadt, Beziehungen zu Bischof und Domkapitel, Akt 8 y, Nr. 31.

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Die gerichtliche, politische und diplomatische Korrespondenz Die Reichsstadt Augsburg legte sich nach dem Vorbild anderer Reichsstädte differenzierte Titulaturbücher an, über deren ältere Ursprünge wir nur geringe Kenntnisse haben, 51 Die Stadt bediente sich einer abgestuften Courtoisie, je nach dem Rang des Ausstellers. Die Geheimen Räte und die Ratskonsulenten, die ihrerseits in einen lang anhaltenden Präzedenzstreit involviert waren, standen an der Spitze einer reichsstädtischen Hierarchie, die ihrerseits aber mit der Tendenz zu egalisierenden "formularien" festlegte, wie "wir unß in unseren schreiben an die herren geistlich und weltliche chur- und andere fursten, wie auch gräffliche Standes personen gebrauchen in reichs stattischem gutem vertrawen",52 Schloß die salutalio für Kurfürsten im 17. Jahrhundert noch ein "durchleüchtigster churfiirst und herr, euer churfürstl. durchleücht. seyen unßere unterthänigste willigste dienste mit allem fleiß zuvor bereithf gnädigster herr etc." ein, so lehnte sich die Anrede der benachbarten Augsburger Fürstbischöfe bzw. der hochsiißischen Landesregierung Mitte des 17, Jahrhunderts deutlicher am reichsstädtischen Formular" an: Denen wohlgebohrnen,M wohledlen, gestrengen, hochgelehrten und vesten, der hochfürst], durchlaucht Sigismundi Francisci erzherzogens zu Österreich (Augsburger Fürstbischof: 1646/1654-1665] etc. dero fiirstl. hochstüfft Augspurg herren praesidenten, canzler und rälhen etc.55

Der Geheime Rat der Stadt bediente sieh in seiner Korrespondenz mit der hochstiftischen Regierung zu Dillingen zudem eines sehr gekürzten Formulars, nämlich statt "ewer wohlgebohren und unserer hochgeehrtest, auch hochgeehrten herren" nur "hochgeehrte herren", und statt "dienstbereitwillig und ergebenste pfleger, bürgermaister und rath der statt [.,,]" in der subscripiio lediglich "dienstbereitwillige" Geheime Räte,56 Die Stadt folgte

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Im Gegensatz zur Situation in den deutschen Territorialstaaten liegen zwar auch für die oberdeutschen Reichsstädte zahlreiche Untersuchungen zur Rolle der städtischen Oberschicht vor, doch konzentrierten sich ihre Verfasser weder auf oligarchische Anredeformeln noch auf etwaige Veränderungen innerhalb der urbanen Zeremonial- und Rangordnung: Peter Eitel: Die oberschwäbischen Reichsstädte im Zeitalter der Zunftherrschaft Untersuchungen zu ihrer politischen und sozialen Struktur unter bes. Berücksichtigung der Städte Lindau, Memmingen, Ravensburg und Überlingen, Stuttgart 1970; Katarina Sieh-Burens: Oligarchie (wie Anm. 2). StadtA Augsburg: Reichsstadt, Ceremonialia, Nr, 18 {Konzept vorn 9.6,1695). Im 17. und 18. Jahrhundert lautete dies: "Woledlc, gestrenge, edle, veste, ehrnveste, fürsichtige, ersame, hoch- und wohl weyse, herren stattpfleger, bürgermaister vnnd räthe, diser lobl. deß heyl. röm. reichs statt Augsspurg, gebüettende, großg[nädige] vnnd hochgeehrte herren." Vgl. StadtA Augsburg: Reichsstadt, Theater, Nr. 22/4 (Petition an den Rat vom 3.10.1665). Gestrichen: "hochwohlgebohrenen". StadtA Augsburg: Reichsstadt, Ceremonialia, Nr. 18 ("Titul an die hochfürstl. Augspurg, Regierung zu Dillingen"), StadtA Augsburg: Reichsstadt, CeremoniaJia, Nr. 18.

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im 18. Jahrhundert nicht mehr dem Formular ihrer eigenen Titulaturbücher, da nach reichsstädtischem Empfinden das Hochstift Augsburg einseitig eigene Titulaturen verbessert hatte. Protest formierte sich, als "gesamten raths sich um so viel weniger mit dero annoch nach dem alten stylo anhero gebrauchenden so geringer titulatur begnügen lassen", zumal der Geheime Rat vollständig und der Große/Innere Rat mehrheitlich aus "uhralten reichs-adel, auch anderen gelehrten und angesehenen persohnen bestehet, aus welchen die beede [.,.] statt-pfleger auch wirckhliche kay, räthe sind."57 Die Stadt konnte dabei auf eine hofierende Anrede durch das Kurfürstentum Bayern und das Fürststift Eltwangeif* verweisen, in denen 1731/33 sich folgende Titulatur niedergeschlagen hatte: "denen wohledelgebohrnen, wohledl [gestrengen, hochgelehrt], fursichtig, [ersamb] und [wohl]weisen herrn pflegern, gehaimben, burgermeistern und rath der [..,]".i9 Das Fürstentum Pfalz Neuburg adressierte das städtische Patriziat hingegen aber mindernd mit "hoch- und wohlgebohren", worauf die reichsstädtischen Deputierten "zum titulaturweesen" das Augsburger Hochstift warnten, wenn man sich hochstüfft, seits ratione ü'tulaturae nach der churfurstl, pfalz, regierung zu Neuburg regulieren werde, so wäre hierauf zu remonstrieren, daß diese eine churfurstl, formliche und nicht substituierte, jene aber nur eine fUrstl, regierung seye, man also disseits pro future eine bessere resolution und gebung des tituls hoch- und wohledelgebohrne etc. erwärtigen {wolle}.60 Erst 1739 sollte dieser Streit zwischen Hochstift und Reichsstadt Augsburg beigelegt werden, als der bischöfliche Rentmeister Bartholomäus Höfler der Stadt eine geänderte Anrede vorlegte: "hoch- vndt wohledlgebohren, wohledle, gestrenge vndt vöste, sonderst geliebte, auch vill vndt hochgeehrte herren [,..]".61 Die Reichsstadt adressierte ihrerseits die hochstiftische Landesregierung fortan wieder cum pleno titulo , der sich eng an das hochstiftische Formular anlehnte.62 Das Augsburger Domkapitel blieb bei diesem Streit nicht unbehelligt, denn dort wurde traditionsgemäß streng auf adelige Exklusivität mittels der Aufschwörprozedur geachtet, und gegenüber der Reichsstadt blieb das Verhältnis der Domdignitäten und Domkapitulare infolge ihrer ablehnenden Haltung gegen städtisch-bürgerliche Domkapitularaspiranten bis zur Säku57

Stadt A Augsburg: Reichsstadt, Ceremonialia, Nr, 18 ("Protections Erlassung" vom 16.7.1733). 58 Volker Press: Ellwangen, Fürststift im Reich des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Ellwanger Jahrbuch 30 (1983/84) 1985. S. 7-30, 5 * Die Klammern ergänzen jeweils Textzusätze der kurbayerischen bzw. der ellwangischen Kanzlei. 60 StadtA Augsburg; Reichsstadt, Ceremonialia, Nr. 18 {Konzept der Deputierten zum Titulaturwesen vom 28.5.1734). Sl StadtA Augsburg; Reichsstadt, Ceremonialia, Nr. 18 (Titulaturvorschläge vom 5,6.1739), 62 "Hoch- vndt wohlgebohrne, hoch- vndt wohledl gebohrne, gestreng, vndt hochgelehrte, gnädig auch hochgeehrte herren".

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larisation belastet.*53 Domdekan und Dompropst richteten 1737 an den Augsburger Rat dann auch eine Protestnote, in der sie die Hoffnung ausdrückten, daß die Räte künftig keinesfalls "von der vorigen titulatur vnd von alter observanz abgehen mögen, dahero dann anmit diße vnß vnanständige änderung, wie billich, ändern, vnd hier negste remedur gewärthigen" mögen.64 Dabei hatte die Stadt in den Ausfertigungen für das Domkapitel nur Nuancen verändert, da man sich seit 1734 statt der Titel "gnädig, auch hochvnd vilgeehrte herren" bzw. im Kontext statt "ewr hochwürden und gnaden, auch vnßerer hoch- vnd vilgeehrten herren" einer vereinheitlichten Version bediente: "gnädig, auch hochgeehrtest, hoch- vnd vilgeehrte herren11.65 Der Protest des Domkapitels blieb zugleich auch mit der Drohung verknüpft, daß die Domkanzlei sich künftig statt der Courtoisie "woledlgebohrne" Stadtpfleger wieder der vor 1730 gebräuchlichen "woledlgestrengen" Herren bedienen werde. Das Augsburger Hochstift hatte sich dagegen bereits 1602 des Beiworts "wohlgebohren" gegenüber den reichsstädtischen Stadtpflegem und Geheimen Räten bedient,66 so daß das Augsburger Domkapitel offenbar gegenüber reichsstädtischen Gremien im 17. Jahrhundert noch größere Titulaturvorbehalte hegte, als dies für andere geistliche Fürstenstaaten zutraf. Die Korrespondenz der Reichsstadt mit den schwäbischen Reichsklöstern blieb zwar mit Ausnahme des im Stadtgebiet liegenden benediktinischen Reichsstißs St. Ulrich and Afra61 nicht von territorialen Auseinandersetzungen überlagert, dennoch kam es auch im Umgang mit den ostschwäbischen Reichsprälaten zu titulatorischen Konflikten. Die Reichsklöster St. Ulrich und Afra, Elchingen, Irsee, Ochsenhausen, Roggenburg, Salmansweiler, Ursberg, Weingarten und Wettenhansen bestehen 1746 auf einer Titelverbesserung. Die Reichsstadt sollte fortan als salutatio "hochwürdiger herr reichs-praelat, hochgeehrtester herr [...]" und in coniextu ei subscriptjone "euer hochwürden und gnaden" schreiben, während die städtische Kanzlei bisher sich flir die reichsprälatische Titulatur mit einem "hochwürdiger, geistlicher und hochgeehrter herr" begnügt hatte. Freilich wurde wiederum observiert, wie die prälatischen Prokuraturen ihrerseits die 63

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Vgl. Wolfgang Wüst: Augsburger Bürgerschaft, Domkapitel und Fürstbischöfe im 17. und 18. Jahrhundert; geistlich-weltliche Allianz oder politisch-ständischer Gegensatz? In: Stadt und Bischof. Südwestdt. Arbeitskreis f. Stadtgeschichte 24. Sigmaringen 1988. S. 66-% StadtA Augsburg; Reichsstadt, Ceremonialia, Nr, 18 (Schreiben vom 29.5.1737). Ebd. Laut einer Zusammenstellung extrahierter Titulaturen für die Zeit von 1658 bis 1737, vgl. StadtA Augsburg; Reichsstadt, Ceremonialia, Nr. 18. Wilhelm Liebhart: Die Reichsabtei Sankt Ulrich und Afra zu Augsburg (1006-1803), Studien zur Klostergeschichte mit besonderer Berücksichtigung von Besitz und Herrschaft (Historischer AÜas v. Bayern, Teil Schwaben 1/2). St. Ottilien 1982; Wolfgang Wüst: Geistliche und weltliche Staatlichkeit in Ostschwaben, Ergebnisse der Historischen Atlasforschung. In: Land und Reich. Stamm und Nation, Probleme und Perspektiven bayerischer Geschichte. Festschrift für Max Spindler zum 90. Geburtstag. Bd. 1. Hg. von Andreas Kraus. München 1984. S. 55-68.

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städtische Oligarchie adressierten. Dabei gab es durchaus Unterschiede, wobei die Äbte von St. Ulrich und Afra, die ihre reichsunmittelbare Stellung gegenüber Stadt und Bischof lange hatten erstreiten bzw. erkaufen müssen, sich mit einem "wohledlgebohrne, gestrenge, edel, veste, auch ehrnveste, fürsichtige, ersame, hoch- und wohlweise herren" zufriedenstellten, während der Abt von Ochsenhausen und der Prälat zu Ursberg ein "hochedlgebohrn" hinzusetzten,6*

2.3 Complimentierung und Empfange Die reichsstädtischen Deputierten "zum titulatur-weeßen" bzw. "zur complimentierung" - die Zeremonienmeister in der Bürgerschaft - arbeiteten in der Frühen Neuzeit intensiv auch an einer schriftlichen Ausarbeitung dessen, was für Stadtpfleger, Bürgermeister, Geheime Räte und Ratskonsulenten eine praktikable Handhabung im Umgang mit auswärtigen geistlichen und weltlichen Würdenträgem bedeuten konnte. Die Zeremonienbücher blieben hierarchisch geordnet, wobei aber nur die oberen Heerschilde der Lehenspyramide Aufnahme fanden. Die reichsstädtische Grußformel für Päpste umfaßte ein "sanctissime pater. potentissime princeps.", das Ehrengeschenk beim Papstbesuch Pius' VI. 1782 in Augsburg69 bestand aus je einem Faß Rhein-, Mosel- und Neckarwein, aus einer Flasche Burgunder, zwanzig Schaff Hafer sowie je drei Zubern Aale und Forellen zu je zwölf Pfund. Das städtisch-hochstiftische Ehrengeleit boten zwei "cavallerie compagnien", eine achtspännige Staatskarosse mit Fürstbischof und Kurfürst Clemens Wenzeslaus, der Quartier- und Logierungsstab (Obriststallmeister, städtische Einspänner, päpstliche Kuriere), Prozessionsführer aus dem Dom, die Konvente der Kapuzinerf Franziskaner, Dominikaner, Augustinerchorherrenstifte (Hl. Kreuz und St. Georg), Benediktiner (St. Ulrich und Afra), der Kollegiatstifte, die Seminaristen aus Pfaffenhausen, das Domkapitel und die bischöfliche Hofdienerschaft. Hinter der päpstlichen Karosse hatten schließlich bischöfliche Leibgarde und Hofkavaliere, der katholische Teil des Magistrats und der Kaufmannschaft und bürgerliche Ehrenkompagnien Aufstellung bezogen. Kardinale und päpstliche Nuntien mußten durch je zwei Ratsmitglieder und -konsulenten empfangen werden, während Bischöfe von zwei Ratsherren und einem Ratskonsulenten komplimentiert wurden. Während einer Bischofs- oder Koadjutorenwahl ordnete der Rat für den anwesenden kaiserlichen Kommissär einen Offizier mit zwanzig Mann "unter das thor, wo er ein- und auspaßiert", und eine Wachgarde ab, die die "honneurs mit rührung des spiels" bewerkstelligten, sowie je zwei Ratsherren 68

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Die Beispiele wurden aus den Jahren 1731 für St. Ulrich und Afra bzw. 1722 und 1736 für Ursberg und Ochsenhausen zusammengestellt. Vgl. StadtA Augsburg; Reichsstadt, Ceremonialia, Nr. 18, Wolfgang Wüst: Palatium episcopate Augustani, Ein Beitrag zum hochstiftischen Hofund Verwaltungswesen im 17. und 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch d. Vereins f. Augsburger Bistumsgeschichte 19 (1985). S. 46-61, hier: S. 59f.

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und Konsulenten, Das Gastgeschenk bestand noch aus je acht Kannen Rhein-, Mosel-, Muskat- und Neckarweines sowie acht Schaff Hafer.70 Der neuerwählte Bischof oder Koadjutor wurde bei seinem Antrittsbesuch nach kurfürstlichem Ritual71 empfangen, am furstbischöflichen Namensfest gratulierten zwei Ratsherren und ein Konsulent, zu Neujahr nur jeweils ein Repräsentant, der im einen Jahr aus dem katholischen und im anderen Jahr aus dem evangelischen Ratsteil erwählt wurde. Auch für Besucher am fürstbischöflichen Hof zu Augsburg wappnete sich die Reichsstadt durch festgelegte Begrüßungsriten, wobei kurfürstliche und kurprinzische Gemahlinnen "mit einem vergoldeten mundservis oder einer toilette von fl 500-600, andere furstinnen von fl 400, 300, 200 beschenkt" wurden. Hierzu berief man eigene "complimentierungs-deputationen", denen nur Patrizier angehörten, wobei bei Kurfürsten die Geheimen Räte, bei anderen Reichsfürsten und Bischöfen ältere Ratsherren aus dem Bau-, Zeug-, Steuer- und Proviantamt, bei nachgeordneten Potentaten die jüngeren Ratsherren und schließlich bei kreisausschreibenden Fürsten72 die jeweiligen Reichs- oder Kreisdeputierten der Stadt Berücksichtigung fanden. Gewählte Domdigniiäre, allen voran Domdekane und Dompröpste, wurden nach Notifikation seitens der Stadt ebenfalls durch einen Ratskonsulenten und zwei Ratsherren begrüßt, während die Äbte von St. Ulrich und Afra durch die beiden jüngsten Konsulenten und die Prälaten/Pröpste von St. Georg, Hl. Kreuz, St, Moritz, St. Peter nur durch den Stadtsekretär empfangen wurden. Die Äbtissin des adeligen Damenstifls St. Stephan konnte die Ehrenbezeugung von einem Ratskonsulenten entgegennehmen, während Ordensgeneräle keine erhielten.73 Außergewöhnliche Ereignisse, zumal wenn es sich um "fremde" Standespersonen handelte, erforderten eine flexible Handhabung der reichsstädtischen Zeremoniells. Als 1781 die kgl, sardische Prinzessin Antonia aus dem savoyardischen Herzogshaus auf dem Weg zu ihrer Vermählung mit dem kursächsischen Prinzen in Augsburg Quartier bezogen hatte, war der Empfang nach "kuhrfurstlichem typo" ausgerichtet, und das Ehrengeschenk bestand aus einer vergoldeten "toilette" für die Reise. Irn Theater waren für den abendlichen Empfang die Logen neu gepolstert und tapeziert, und im Liebert'schen Saal spielte auf städtische Kosten das Münchner Hoforchester. Als 1770 die habsburgische Erzherzogin Marie Antoinette auf ihrer Brautreise zum französischem Königshof Augsburg passierte, sprengte der Empfang alle bisherigen

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S tadt A Augsburg: Reichsstadt, Ceremonialia, Nr. 18 (Ceremoniala Augustaita, S. l f.). Je zwei Vertreter des Rats und der Konsulenten empfingen ihn, um die Ehrengeschenke aus je einem Faß Mosel- oder Rheinwein, einem Faß Khngenberger Rotwein, zwei Zuber Forellen, einem Zuber Aale und zehn Schaff Hafer zu überreichen. Im Schwäbischen Reichskreis übten diese Funktion die Herzöge v. Württemberg und die Fürstbischöfe v. Konstanz aus. StadtA Augsburg: Reichsstadt, Ceremoniaiia, Nr. 18 (Ceremonialia Atigustana, S. 4f.).

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Standards.74 Beispielsweise wurden drei Wallanlagen mit je 364 Kanonen zum Salutschuß besetzt, aus den vierzehn bürgerlichen Kompagnien selektierte man eine eigene 200köpfige "ehrencompagnie", deren Mitglieder sich auf eigene Kosten in blau-gelbe Westen mit blauem Unterfutter und schwarzen Gamaschen75 einzukleiden hatten, und das Gastgeschenk bestand aus einem silbernen bzw. hochkarätig vergoldeten, mit emblematischen Figuren und Zeichnungen ausgezierten "surtout und dejeuner"-Tafelservice im Wert von 2361 Gulden, während z.B. das Antrittsgeschenk für Kurfürst und Fürstbischof Clemens Wenzeslaus v. Sachsen76 im Vorjahr 1769 lediglich einem Gegenwert von 791 fl, 54 Kr. entsprach.77 Gastgeschenke und Complimentierungen zählten zum unverzichtbaren Bestandteil frühneuzeitlicher Diplomatie. In den reichsstädtischen und furstenstaatlichen Administrationen richtete sich die Besoldungshöhe der Beamtenschaft nach dem Gegenwert eingegangener Waren, Nachdem aber "bishero wegen vor hiesiger Stadt beschenkten hohen herrschaften gegebenen douceurs allerley inconvenienzen sich ergeben" hatten, sah sich der Rat 1782 veranlaßt, einen Verteilungsschlüssel festzusetzen,78 Künftig sollten in Augsburg von allen eingegangenen "douceurs" die Hälfte an die drei Ratsdiener verteilt werden, während der andere Teil zu je sechs Anteilen an die Einspänner und an den Proviantamtsschreiber, zu je vier Teilen an die Weinzieher, Kommesser, Fischer, Scharwächter, "so die fische tragen", und an die Bediensteten der Stadtdeputierten sowie schließlich zu je zwei Anteilen an den Gassier, Fischerknecht, und an den Kutscher gezahlt wurde. Unterschiedliche Verteilerschlüssel lagen für die Fälle vor, wenn Schenkungen in Gold, Silber oder Geld bzw. in Hafer und Wein anfielen. Jetzt profitierten auch Stadtgarde und Schwäbisches Kreiskontingent von der Verteilung.

3 Titulaturbücher Titulaturbücher galten seit der Antike als unverzichtbare Hilfsmittel für städtische und territorialstaatliche Kanzleien gleichermaßen; ja, sie zählten 74

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Für den hochstiftisch-augsburgischen Empfang in der Residenz vgl. StaatsA Augsburg: Hochstift Augsburg, MüB, Lit. 288 ("Der Empfang und das Nachtlager der Erzherzogin Antonia von Österreich, erwählte Dauphine, in der bischöflichen Residenz zu Augsburg"), Im Unterschied zur Bürgergarde mit gelbem Unterfutter und weißen Gamaschen. Wolfgang Wüst: Klemens Wenzeslaus von Sachsen (1739-1812). In: Biographisch Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 3. Herzberg 1991, Sp. 1574-1576; Ders.: Fürstbischöfliche Amts- und Staatsführung im Hochstift Augsburg unter Clemens Wenzeslaus von Sachsen, 1768-1803. In: Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch Schwabens, Bd. 3. Sigmaringen 1985. S. 129-147. Stadt A Augsburg: Reichsstadt, Cereinonialia, Nr. 18 (Ceremonialia Augustana, S. 30f). Stadt A Augsburg: Reichsstadt, Ceremonialia, Nr, 18 (Ceremonialia Augustana, S. 103ff.}.

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auch zu den frühesten Druckwerken, womit auch ihre Bedeutung für die Korrespondenz im Spätmittelalter und der Frühneuzeit außer Frage steht. Für die Reichsstadt Augsburg sind Inkunabelausgaben für die Jahre 1488/89 überliefert, womit hier fast zeitgleich zu dem als Erstdruck geltenden Formularbüchlein des Nürnberger Druckers Marx Ayrer79 die Druckaufträge der Kanzleien eingingen. Freilich hatten die Inkunabeln handschriftliche Vorläufer, die wie jene für Augsburg 1440 überlieferte Titulatur-Sammlung80 häufig auch in den Schreibstuben der intra muros situierten Klöster und Stifte81 entstanden waren. In diesem Zusammenhang ist auch das unter dem reformeifngen Augsburger Bischof Friedrich II. Graf v. Zollern (1486-1505) 1486/87 im bischöflichen Vikariat angelegte und fortlaufend ergänzte Formelbuch zu erwähnen, das gleichzeitig auch als Sammlung wichtiger hochstiftischer und domkapitlischer Mandate konzipiert worden war.82 Das kanzleimäßige Titulaturwesen, das in seiner programmatischen Bedeutung Teil des städtischen und höfischen Zeremoniells blieb, war bis zum Ende des Ancien Regime großen Veränderungen unterworfen, die sich in einer inflatorischen Entwicklung der Adels- und Bürgerprädikate äußerten, Julius Bernhard v. Rohr kommentierte dies in seiner Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaß der Privat Personen bereits 1728 nachhaltig: Die Titul sind nicht allein von ein paar Seculis, sondern auch nur von ein 50. Jahren her gewattig gestiegen, vor zwey biß dreyhundert Jahren waren die Chur-Fürstlichen und Fürstlichen Princ[e]sinnen mit dem Titul der Fräulein zu frieden und bey unsrer Zeit fangen manche von den adelichen ledigen Frauenzimmer an das Maul zu rampffen, wenn man sie Fräulein schlecht weg nennt, und nicht das Ehren-Beywort Gnädig hinzufügt, oder sie gerne ihren Ehrgeitz zu sättigen, und den Kützel ihrer Ohren zu vergnügen, mit Ihro Gnaden, Gnädig Fräulein, betitulirt.83

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Stadt- und Staatsbibliothek Augsburg (= StStBi Augsburg): 8° Ink, 39/9 (Titelbüchlein, Max Ayrer. Nürnberg 1487, Hg, v. O. Clemen). Der Orginaltitel heißt: "In disem puchlein vint man wie man/ einen yeglichen deutschen fürsten vnd herren schreiben soll fitter vnd/ knechten steten vnd gaystlichenn [,.]", StStBi Augsburg: 2° Cod. S (Stettensammlung) 250, fol. 157ff.: "das sind vorred vnd yeglichs pillichkait ee/ man anhept ze sagen des ersten von/ den gaisüichen primo papam hailiger/ vater vnd genädigister herr kardinalen Patriarchen/ oder ertzpischoffen Erwirdigester hochwirdigister/ in got vater vnd genädiger herr Bischofen/ Erwirdiger oder hochwirdiger genädiger herr/ ainem geinffelten appt Erwirdiger in got vater vnd/ genädiger oder lieber herr (...)", Zur politischen und gesellschaftlichen Stellung der geistlichen Immunitäten in der Stadt grundlegend Rolf Kießling: Bürgerliche Gesellschaft und Kirche in Augsburg im Spätmittelalter, Ein Beitrag zur Strukturanalyse der oberdeutschen Reichsstadt (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 19). Augsburg 1971. Staats A Augsburg: Hochsüft Augsburg, Muß, Lit. 445. Vgl auch Friedrich Zoepfl: Kleine Mitteilungen (Entstehungsgeschichte der Wiegendrucke). In: Zentralblatt f. Bibliothekswesen 59 (1942). S. 503-507. Julius Bernhard von Rohr: Einleitung zur CEREMONIEL-Wissenschaffi der Privatpersonen/ Welche Die allgemeinen regeln/ die bey der Mode, den Titulaturen/ dem Range/ den Comptimens, den Geberden, und bey Höfen überhaupt [...] von einem jun-

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Hanns Hubert Hofmann konnte an fränkischen Beispielen eindrucksvoll nachweisen, daß die Pejoration der Titel keineswegs nur auf eitle Damenzirkel zu Hof im 17.718. Jahrhundert beschränkt blieb Beinhalteten die älteren Titelbücher meist nur ein Grundgerüst für Adresse, Intitulatio, Eingangs- und SchJußformular, so wuchs diese Literaturgattung zu voluminösen Nachschlagewerken in der Frühneuzeit heran. In einem 1546 im Augsburger Offizin Valentin Othmars gedrucktem Kanzleibuch sollte dieser Vorgang bereits im Titel angesprochen werden: Ain kurtz for/ mular vnd cantzleybüch/ lin, darinn begriffen wiert, wie/ man ainen yegklichen, was stands,/ würde, eeren, vnd wescn er ist, schrei/ ben soll, Vorhin in druck verfasset, vnd/ yetzunder auff das newe mit fleiß ü/ bersehen, vnd an vil Ottern mit neu/ wen formularien teütscher/ sendbrieffe gebesseret.85

Sehr umfangreich konnten aber Mitte des 16. Jahrhunderts auch Titel- und Kanzleibücher sein, die weder einer städtischen noch einer fürstenstaatlichen Tradition zuzuordnen sind. Das kaufmännische Kanzleiwesen, dessen Erfolg von einem lebendigen Erfahrungsaustausch oberdeutscher Fernhandelsfirmen mit der internationalen Handelswelt in Italien, Spanien, Frankreich, den Niederlanden, Ungarn oder außereuropäischen Territorien abhing, hatte mit erstaunlicher Präzision Geschäftspartner in allen ständischen Positionen und geographischen Breiten erfaßt. Ein eindrucksvolles Beispiel liegt uns hierfür in dem urn 1541 verfaßten Titulaturbuch Anton Fuggers vor,86 das neben der andernorts auch üblichen Reihe territorialer Repräsentanten und Fürsten vor allem die Titulaturen der Handelsagenten, Faktoren und Kaufleute auflistete, Im 18. Jahrhundert hatte die Ausdifferenzierung der Titulaturen und das geographische Umfeld der reichsstädtischen und fürstenstaatlichen Korrespondenz, wie es sich in den Registern zu den Kanzleibüchern wiederfindet, seinen Höhepunkt überschritten. Am Beispiel des ostschwäbischen Klosters/ Reichsslifls Qltobeuren*1 das sich erst 1710 aus der Schirmvogtei der Augsburger Fürstbischöfe zu lösen vermochte, aber ohne im Schwäbischen Reichs-

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gen teutschen Cavalier in Obacht zu nehmen [..,], Berlin 1728. Nachdruck. Hg. v. Gotthardt Frühsorge. Leipzig u. Weinheim 1990. S. 56f. Hanns Hubert Hofmann: Serenissimus, Ein fürstliches Prädikat in fünfzehn Jahrhunderten. In: Historisches Jahrbuch 80 (1961). S. 240-251. StStBi Augsburg: 8° Ink. 39/9. Der Titel lehnte sich eng an ein 1529 in Leipzig gedrucktes "kantzley büchleyn" an, das Jacob Thanner verlegt hatte. ÜB Heidelberg; Codex Pal. germ, 654; Götz Frhr. v. Pölnitz; Das Titelbuch des Anton Fugger. Eine Studie zur Geschichte des kaufmännischen Kanzleiwesens. In; AZ 50/51 (1955). S. 409-427. Vgl. zur Biographie Anton Fuggers (1493-1560): Götz Frhr. v, Pölnitz/Hermann Kellenbenz (für Bd. 3/ ): Anton Fugger. Bde. l (1453-1535), 2/1 (1536-1543), 2/II (1544-1548), 3/1 (1548-1554), 3/II (1555-1560) (Studien zur Fugger-Geschichte6, 8, 11, 13, 20). Tübingen 1958-1986. Vgl. u.a, Peter Blickle: Memmingen, In; Historischer Atlas v, Bayern, Teil Schwaben 1/4. München 1967. S. 61-185.

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prälatenkollegium Sitz und Stimme zu erhalten,88 soll dies verdeutlicht werden. Für 1732/33 Hegen somit mit den Titulaturbüchern89 Abt Ruperts von Ottobeuren Zeugnisse vor, die uns exakten Aufschluß über das erstaunliche politisch-höfische Umfeld eines mittelgroßen Klosterterritoriums im Schwäbischen Reichskreis geben.90 Demnach korrespondierten Abt Rupert und sein Konvent mit dem Wiener und Innsbrucker Hof, dem Reichshofrat und dem Reichskammergericht, den geistlichen Kurfürsten von Mainz, Köln und Trier, mit den Pfalzgrafen bei Rhein, Vorderösterreich/Markgrafschaft Burgau, Kurbayern und Pfalz Neuburg, mit den kreisausschreibenden Fürsten des Schwäbischen Reichskreises in Meersburg/Konstanz und Stuttgart, mit den Fürsibisiümern/Erzsiiften Augsburg, Chur, Freising, Konstanz, Salzburg, und Würzburg, den Domkapiteln zu Augsburg, Fulda, Konstanz und Salzburg, mit den gefürsteten Abteien in Kempten, mit reichsunmittelbaren und landsüssigen Klöstern und Stiften der näheren und weiteren Umgebung, Es waren dies: St. Georg, Hl. Kreuz, St. Ulrich und Afra sowie St. Stephan in Augsburg; Baindt, Benediktbeuren, St. Blasien, Buchau, Buxheim, Dießen am Ammersee, Hl. Kreuz Donauwörth, St. Mang zu Füssen, Fultenbach, Edelstetten, Elchingen, Ettal, St. Gallen, Gengenbach, Glottweig, Gutenzell bei Biberach a.d. Riß, Heggbach bei Biberach, Holzen, Irsee, Kais-/Kaisersheim, Kühbach bei Aichach, Lambach, Lindau, Mariaberg bei Sigmaringen, Mehrerau, Melk, Mönchsdeggingen im Ries, Neresheim, Niederaltaich bei Deggendorf, Obermarchtal, Ochsenhausen, St. Peter in Salzburg, St. Peter im Schwarzwald, Petershausen bei Konstanz, Rheinau, Roggenburg, Roth/Rot a.d. Rot, Rottenbuch, Salmansweiler, Schussenried, Seeon, Söflingen, Tegernsee, St, Trudpert im Schwarzwald, Ursberg, Urspring, St. Georg in Villingen, Wald, Waldsee, Weingarten, Weissenau, Wengen, Wessobrunn, Wettenhausen, Wiblingen und Zwiefalten. Sie korrespondierten außerdem mit den Herzogs-, Fürsten- und Grafenhäusern Colloredo, Fürstenberg (Residenz Donaueschingen), HohenzollernSigmaringen, Königsegg-Rothenfels, v. Lothringen, Montfort, OettingenWallerstein, zu Pfeffers, Starhemberg, Trauner, Waldburg-Wolfegg-Waldsee zu Kißlegg, Waldburg-Zeil, den Freiherren Schönau, v. Stain, Sumerau, Ramschwag, Reichlin zu Meldegg, mit den Fuggerherrschaften zu Baben:r

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Armgard v. Reden-Dohna: Prestige und Politik. Ein KonfliktfaJ) zwischen Reichsverfassung und Territorialinteresse, In: Deutschland und Europa in der Neuzeit. Festschrift f. Karl Otmar Frhr, v, Arelin z. 65. Geburtstag. Stuttgart 1988. S. 259-276; Dies.: Reichsstandschaft und Klosterherrschaft, Die Schwäbischen Reichsprälaten im Zeitalter des Barock. Wiesbaden 1982. StaatsA Augsburg: Kloster Ottobeuren, Lit. 616 und 617 (Titulaturbücher von 1732 und 1733). Vgl. Adolf Laufs: Der Schwäbische Kreis. Studien über Einungswesen und Reichsverfassung im deutschen Südwesten zu Beginn der Neuzeit (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF 16). Aalen 1971; James Allen Vann; The Swabian Kreis. Institutional growth in the Holy Roman Empire, 1648- 1715 (Studies of representative and parliamentary institutions 48), Brüssel 1975; Karl Siegfried Bader: Der Schwäbische Kreis. In: Ulm und Oberschwaben 37 (1964). S. 9-24.

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hausen, Boos, Dietenheim, Kirchheim, Nordendorf und Weißenhorn, mit dem Ritterschaftsdirektonum des Kantons Donau in Ehingen, mit den Adelsherrschaffen in Hohenems, Illertissen, auf der Kronburg bei Memmingen, Oberhausen (Scheer v. Schwarzenburg), mit den Reichsstädten Augsburg, Biberach a.d. Riß, Donauwörth, Frankfurt/M., Isny, Kaufbeuren, Kempten, Leutkirch, Lindau, Memmingen, Nördlingen, Ravensburg, Regensburg, Ulm und Wangen.91 Die schwäbischen Titulaturbücher standen unter dem Einfluß der in der Reichsstadt Augsburg verbreiteten Frühdrucke. So dürften auch die Ottobeurer Titulaturbücher cum grano salis im Kanzleigebrauch anderer Vertreter der Sttevia Sacra vom 16. bis zum 18. Jahrhundert Anwendung gefunden haben dürfen. Sie verdeutlichen das immense geographische Umfeld in der Korrespondenz auch kleinerer Landesfursten im Alten Reich, womit die Struktur des polyzentrischen Reichskörpers im deutschen Südwesten abermals klare Konturen annimmt. Außerhalb der schematischen Anlage von alphabetisch geordneten Registern in den Zeremonien- und Kanzleibücher tritt uns aber dort auch die Notwendigkeit nicht nur einer standesgemäßen, sondern auch einer möglichst individuell gehaltenen Anrede des Korrespondenzpartners vor Augen, Zugleich sind Titulaturbücher auch ein Schlüssel zur inneren Rangordnung und politisch-kirchlichen Bewertung auswärtiger Reichs- und Landstände. Für Ottobeuren tritt uns diese Quellengattung in der Klosterüberlieferung erstmals ca. 1544 entgegen.92 Die Äbte des Benediktinerklosters, deren relativ geschlossenes Territorium an das Kemptner Fürststift, die Reichsstadt Memmingen, die bayerische Herrschaft Mindelheim und das ebenfalls benediktinische Reichsstift in Irsee93 grenzte, pflegten, folgt man der Reihenfolge der Einträge in einem seit ca. 1600 stets aktualisierten Kanzleibuch,94 insbesondere enge Kontakte zu den Reichsbehörden und zu den Mitgliedern der ober- und niederschwäbischen Benediktinerkongregationen sowie zur Salzburger Benediktineruniversität. Die zeremonielle Abstufung blieb auch innerhalb dieser ersten Gruppe gewahrt. So adressierte man zu Beginn des 17. Jahrhunderts den Souverän des Hl. Römischen Reichs Deutscher Nation mit "allerdurchleüchtigsten, großmechtigstenn fürsten vnnd StaalsA Augsburg: Kloster Ottobeuren, Lit. 616. StaalsA Augsburg: Kloster Ottobeuren, Lit. 614 {Titularbuch der Kanzlei des Stifts Ottobeuren, angelegt ca. 1544, l Bd, in Holzdeckel). Dieses Titularbuch wurde vermutlich nach einem reichstädt. augsburgischen Vorbild angelegt, gedacht für den Gebrauch in der Ottobeurer Akademie (1543-1545), die dann aber nach Elchingen verlegt wurde, wo sie 1547 aufgelöst wurde. Das Reichstift Irsee. Vom Benediktinerkloster zum Bildungszentrum, Beiträge zu Geschichte, Kunst und Kultur (Beiträge zur Landeskunde von Schwaben 7). Hg. v. Hans Frei, Weißenhorn 1981. Darin insbesondere Aegidius Kolb: Das Reichstift Irsee in der Schwäbischen Benediktinerkongregation 1699-1802. S, 76-93. StaatsA Augsburg: Kloster Ottobeuren, Lit. 615 (Titularbuch der stiftischen Kanzlei von 1621 (?)). Das Titularbuch wurde in ein stiftisches Rechnungsbuch eingeschrieben und hat sicherlich ein früheres als das im Archivrepertorium angegebene Entstehungsjahr.

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herren [...) meinem allergnedigsten fürsten vnd Herrn", den österreichischen Erzherzog zu Innsbruck mit "hochwürdigisten, durchleuchtigsten fürsten vnd heim [.,.] meinem gnedigisten fürsten vnnd herrn", den Salzburger Erzbischof mit "hochwürdigisten fürsten vnd herrn [...] erzbischoffen [,..] vnd deß stuelß zur Rohm legaten [...] meinem genedigisten fürsten vnd heim", während der Abt zu Kempten noch mit "hochwürdigen fürsten vnnd heim [...]" tituliert wurde, jenen zu Ochsenhausen95 mit "dem ehrwürdigen in gott geistlichen herrn [...] meinem sonders geliebten herrn vnnd freundt", den Abt zu Salmansweiler mit "ehrwürdigen vnnd gaistlichen herrn [,.,] meinem besonders lieben lieben herrn vnnd nachbarn", die Reichserbtruchsessen zu Waldburg als "dem wolgebornen herrn [...] deß Hayl, Rom. Reichs erbtruckssessen, freyherren zu Waltburg [...] meinem insonders lieben herrn vnd nachpahren" und schließlich die reichstädtischen Stadtpfleger zu Augsburg abgestuft als "den edlen, wolgebornen, vesten, fürsichtigen vnd weisen herren [...] vnsem sonders lieben herren vnd gueten freunden'1.96 Gerade die reichsstädtische Titulierung erfuhr künftig Aufwertung, wenn Ottobeuren Mitte des 18. Jahrhunderts die städtische Oligarchie in Kaufbeuren mit "denen wohledl und hochgelehrten, edlvösten, ehrenvösten, fürsichtig und wohlweisen herrn burgermaistern und rath des Hayl. Rom. Reichs Statt Kauffbeuren etc. Meinen besonders vill- und geehrten, auch lieben herrn nachbaren [...]" adressierte.97 Zeremonielle Graduierungen blieben auch im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts festgeschrieben, obwohl die Kanzlei des Ottobeurer Reichsstiftes der allgemeinen Inflationierung der Prädikate und Ehrentitel Rechnung tragen mußte und dabei vor allem die im Heerschild des Reichslehenhofs tiefer gestellten Stände bevorteilte. Abt und Konvent betitulierten die Augshurger Fürstbischöfe trotz des Streits um die Klostervogtei während der Regierungszeit Alexander Sigmunds von Pfalz Neuburg (1690-1737) hervorgehoben gegenüber den anderen geistlichen Territorialfürsten in Ostschwaben mit "dem hochwürdigsten durch! euchtigsten reichs fürsten, und herren herrn Alexandra Sigismundo, bischoffen zu Augspurg, pfalzgraffen bey Rhein, in Bayern, zu Jülich, Cleve, und Berg, herzogen, graffen zu Veldenz [...];"9S die Fürsfäbte im benachbarten Kempten dagegen mit "dem hochwürdigsten fürsten, und Herren, herren Anselmo," Engelberte/00 Honorio,101 des Hayl, Rom. Reichs fürsten, und abbten, des hochfürstl. 95

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Elmar Gruber; Geschichte des Klosters Ochsenhausen. Von den Anfangen bis zum Ende des 16, Jahrhunderts. Tübingen 1956; Franz Quarthai: Die Benediktinerklöster in Baden Württemberg (Germania Benedictina 5). Augsburg 1975. S. 146-160. StaatsA Augsburg: Kloster Ottobeuren, Lit. 616, fol l-5v StaatsA Augsburg: Kloster Ottobeuren, Lit. 616, fol. 200. StaatsA Augsburg: Kloster Ottobeuren, Lit. 616, fol. II. Gestrichen, Anselm (Fürstbischof Anselm v, Reiehlin Meldeg) 1728-1747. Vgl. Geschichte der Stadt Kempten (wie Anm, 1). Darin insbesondere Volker Dotterweich: Das Fürstsüftund die katholische Reform in der Barockzeit. S. 257-273. Gestrichen. Engelbert (Fürstabt Engelbert v. Syrgenstein) 1747- 1760. Fürstabt Honorius Roth v. Schreckenstein, 1760-1785.

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hochadel. reichs102 stüffts Kempten, ihro May, der Rom. Kayserin erzmarchallen etc. Meinem gnädigen fursten und herren. [...]." Die ebenfalls zur niederschwäbischen Benediktinerkongregation zählenden Klöster Fultenbach und Irsee unterschieden sich in der Anrede nicht, obwohl Irsee Reichsstift und Fultenbach zu den landsässigen Klöstern des Hochstifts Augsburg zählte. Lediglich die Nähe Irsees zu Ottobeuren sollte dort ihren Niederschlag finden: "dem hochwürdigen herren Bernardo,103 abbten des löbl, reichs stüffts und gottshaußes Yrrßee. Meinem insonders hochgeehrten heim nachbaren [,.,]" stand ein "dem hochwürdigen herren Michaeli, abbten des löbl. stüffts und gottshaußes Fultenbach, Meinen insonders hochgeehrten herren [.,.]" gegenüber.104 Klöster und Stifte nichtbenediktinischer Ordensregeln blieben aber nicht benachteiligt; im Gegenteil, es wurde dort vor allem in den Adelsstiften auch dem persönlichen Stand des jeweiligen Dekans oder Propstes Rechnung getragen. So blieb die Anrede bei den bürgerlichen Augustinerchorherren im Stift St. Georg zu Augsburg ein "dem hochwürdigen herren Melchiori,10i Joachimo,106 Josepho,107 infülierten probsten des löbl. stüffts und gottshaußes St. Georgen in des Hayl, Rom. Reichs Statt Augspurg etc. Meinem insonders hochgeehrtesten herren. [...]," Dagegen liest sich die zeitgleiche Titulatur für das Kollegiatsliß Si. Moritz in Augsburg folgendermaßen: "dem hochwürdigen wohlgebohrnen heim Joan Bapt. de Bassi, S r. päpstl. Heiligkeit praelateo domestico, dann Sr, churfürstl. gnaden zu Maynz auch hochfürstl, Augspurg. geheimen rath, unnd des löbl. collegiat stüffts ad S. Maurizium in Augspurg decano etc. Meinem insonders hochgeehrten herren [...]."1M Subtile ständische Differenzierungen und zeremonielle Feinanalysen sind für Ostschwaben im Kanzleibereich geistlicher Territorien zwar erst für das 18. Jahrhundert dokumentiert, doch liegen mit dem ca. zwei Jahrhunderte vor dem Ottobeurer Beispiel in einer weltlichen Herrschaft bzw. in einem Handelskontor entstanden Anschriften- und Titelbuch Anton Fuggers Zeugnisse vor, die diese Entwicklung bereits für das Konfessionalisierungszeitalter belegen. Um 1541 unterscheidet man in der Kanzlei des 1526 in den Reichsgrafenstand erhobenen, noch in Augsburg residierenden Leiters der Fuggerschen Handelsgesellschaft z.B. im Schriftverkehr mit deutschen Domkapiteln zwischen "thumbherren vom adel", "thumbherren vnnd doctores", "doctores der hailigen schrift" und "thumbherren in gemain". Es wurden 102 I0i

Gestrichen.

Bernhard Beck (1731-I765). Zum Lebensbild vgl. Walter Pötzl: Der Irseer Konvent und seine Äbte in der Neuzeit (1501-1802). In: Das Reichsstift Irsee. Weißenhorn 1981. S. 17-75, hier: S. 49-53. iw StaatsA Augsburg: Kloster Qttobeuren, Lit. 616, fot, 42, 76. 105 Gestrichen. Propst Melchior Voetter, 1714-1739. Vgl. Finnin Lindner: Monasticon episcopatus Augustani antiqui. Verzeichnisse der Äbte, Pröpste und Äbtissinnen der Klöster der alten Diözese Augsburg, Bregenz 1913. S. 2-5. 106 Gestrichen. Propst Joachim Waybl, 1739-1756. "' Gestrichen. Propst Joseph I. Khuen, 1756-1768. ios StaatsA Augsburg: Kloster Ottobeuren, Lit. 616, fol. 44, 86.

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demnach nie alle Domherren als "erwurdige, wolgeborne herren" bezeichnet, wenn Feinabstimmungen zwischen "gunstigen", "lieben", "gunstig lieben", "edlen vnnd hochgelerten" oder "erwurdigen vnnd hochgelehrten" Kapitularen festzustellen sind.109 Auch findet sich unter den "titel vnd vberschrifften den personen gaistlichess [bzw. weltliches110] stands gehörig", die im übrigen mit der posthurnen Streichung verstorbener Titelträger immer aktualisiert worden waren, eine strenge kirchliche, politische und gesellschaftliche Hierarchie, Papst,111 Kardinale, die geistlichen Kurfürsten, Erzbischöfe und Bischöfe eröffneten naturgemäß den zeremoniellen Reigen, doch kennzeichnet innerhalb der größeren letzten Gruppe eine Individualisierung und feine Differenzierung in der Anrede gerade den erfolgreich operierenden, sich subtiler Methoden bedienenden Handels- und Geschäftsmann - eine Komponente, die im Titulaturbuch Abt Ruperts von Ottobeuren nicht vorrangig blieb. Titulaturen für Bischöfe paßten sich in der Fugger-Kanzlei selbstverständlich dem jeweiligen lateinischen oder deutschen Formular an, unterschieden sich nach Herkunft und Geburtsstand des Amtsträgers - "so gebom fursten seind", "durchleuchtig", "hochgeboren" oder nur "hochwürdig" -, nach persönlichen Ämtern der Bischöfe - "Statthalter" u.a. - oder durch die Beigabe des Familiennamens. So fehlen zwar meist die Familienbezeichnungen, wenn Christoph v. Stadion112 beispielsweise als Bischof von Augsburg bezeichnet wurde, doch findet sich beim Merseburger Bischof ein "Vicentio von Schleinitz" als Namenszusatz.113

4 Zusammenfassung Im "Theatrum ceremoniale"114 fanden frühneuzeitliche Juristen, ähnlich wie mancherorts beim territoralisierten Streit um Landeshoheit (ius superioritatis territorialis) und Herrschaftsrechte, auf der personifizierten Ebene der Präzedenz und der Titulaturen ein reiches Betätigungfeld. Unzählige Prozeßakten, die sowohl von der neueren landesgeschichtlichen als auch von der frühneuzeitlichen Forschung115 nur in Ansätzen erkannt und bearbeitet wurden, vermitteln ein beredtes Bild von der Ernsthaftigkeit dieser Fragen auch 109 : 10 :i!

112

113

'~' '

1 5

Götz Frhr. v. Pölnitz: Das Titelbuch des Anton Fugger (wie Anm, 86). S. 420. Die Titulaturen flir den weltlichen Stand folgten im zweiten Teil der Handschrift. Papst Paul III. wurde dort mit "sanctissimo in Christo patri ac domino [...] summo Romanoque pontifkj domino suo turn dignissimo, tum clementissimo" tituliert. Friedrich Zoepfl: Bischof Christoph von Stadion 1517-1543. In: Das Bistum Augsburg und seine Bischöfe im Reformationsjahrhundert (Geschichte des Bistums Augsburg und seiner Bischöfe 2). Augsburg 1969. S. l - 172. Götz Frhr. v. Pölnitz: Das Titelbuch des Anton Fugger (wie Anm. 86), S. 418. Lünig: Theatrum Ceremonials (wie Anm, 41), Das von der Görtinger Akademie der Wissenschaften initiierte Projekt Residenzenforschung im Spätmittelalter (und der Frühneuzeit) wird beispielsweise sicherlich dazu beitragen, unseren Kenntnisstand zum Zeremonienwesen auch regional zu vertiefen.

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außerhalb der höfischen Gesellschaft,116 wobei die Brisanz des Themas nicht nur auf das absolutistische Zeitalter beschränkt blieb. Unser Kenntnisstand stützt sich dabei weiterhin auf die aber zum Teil sehr umfänglichen Deduktionen und Traktate117 des späten 16, bis frühen 18, Jahrhunderts, während in der modernen Rechtsgeschichte diey'wra ceremonialia weitgehend unbeachtet blieben. Allenfalls die Kunstgeschichte118 beschritt unter der Fragestellung der Zeremoniells als 'monumentaler Poesie1 zu Hofe neue methodische Wege; innovative Ansätze sind auch durch die internationalen Hof- und Residenzenforschungsprojekte zu erwarten,119 Sie alle aber vermochten auch nicht annähernd den in Bibliotheken und Archiven ruhenden Schatz der 'Ceremoniel-Wissenschafflen'120 zu heben. Eine günstigeres Forschungsbild zeichnet sich allerdings in den strukturell mit unserer Themenstellung eng verwobenen P olicey-Wissenschaften ab - Jörg Jochen Berns u.a. haben darauf hingewiesen,121 Aber auch dort scheint die Rechtsgeschichte in Fortschreibung der Jacob Grimm'schen Sammlungen122 und neuerdings verstärkt auch die sozialund wirtschaftsgeschichtliche Forschung Polizeiordnungen und Weistümer weniger als Quelle außerhöfische Zeremonienfragen zu nutzen, als vielmehr unter den Gesichtspunkten von Rechtspflege, Dorfverfassung und Territorialisierung auszuwerten. Zeremoniell, höfisches Gepräge und Titulatur- bzw. Präzedenzprivilegien blieben nicht nur sichtbare Zeichen gesellschaftlicher Statusfragen nach außen, sondern sie konnten auch innerhalb ein und derselben Dynastie, ja innerhalb einer Familie eine Rolle spielen. So mußten beispielsweise die Land1 4

' Rohr: Ceremoniel-Wissenschafft der großen Herren (wie Amn. 24), Vgl. an zusätzlichen Titeln, die an anderer Stelle in den Anmerkungen keine Erwähnung fanden: Friedrich Carl v. Moser: Kleine Schriften zur Erläuterung des Staatsund Völkerrechts, wie auch des Hof- und Canzley Ceremoniels. 10 Bde. Frankfurt/Main 1751-1763; Ders.: Teutsches Hof-Recht in zwölf Büchern. Frankfurt/Main und Leipzig 1754ff.; Ders,: Ober Regenten, Regierung und Ministers: Schutt zur Wege Besserung des kommenden Jahrhunderts. Frankfurt/Main 1784. Nachdruck Königstein/Ts. 1979, 118 Vgl. mit der Nennung der entsprechenden weiterführenden Sekundärliteratur neuerdings die Regensburger Habilitationsschrift von Karl Möseneder; Zeremoniell und monumentale Poesie. Die "entree solennelle" Ludwigs XIV. 1660 in Paris. Berlin 1983, 115 Rituale, ceremoniale, etichetta. Hg, v. Sergio BertelU. Mailand 1985; Ders.: Le corti italiane de! rinascimento. Mailand 1985; Vorträge und Forschungen zur Residenzenfrage (Residenzenforschung 1). Hg, v, Peter Johanek. Sigmaringen 1990; Kurt Ulrich Jäschke: Nichtkönigliche Residenzen im spätmittelalterlichen England {Residenzenforschung 2), Sigmaringen 1990. 120 Vgl. die auch im Neudruck zugänglichen Werke von Rohrs, die oben {Anm. 24 und 83) bereits aufgeführt wurden, 121 Jörg Jochen Berns: Die Festkultur der deutschen Höfe zwischen 1580 und 1730. Eine Problemskizze in typologischer Absicht. In: GRM 65 (1984), S. 295-311. 122 Weisthümer, 7 Bde. Hg. v, Jacob Grimm unter Mitarbeit v. E.Fr.J. Dronke/H. Beyer/R. Schröder. Göttingen 1840-1878; Deutsche Rechtsaiterthümer. Hg. v. Andreas HeusIcr/Rudolf Hübner. 4. verm. Ausgabe Leipzig 1899. Neudrucke Leipzig 1922; Darmstadt 1974, 117

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grafen v. Hessen-Kassel 1712 einen Streit um die Rangfolge zwischen den fränkischen Markgraftümern Ansbach und Bayreuth schlichten, der nach der dortigen Landesteilung von 1603 entstanden war. Der Kompetenzstreit zwischen den gefürsteten protestantischen Hohenzollernlinien zu Ansbach und Bayreuth konnte schließlich dahingehend geschlichtet werden, daß nach 1712 die Präzedenz nach den Sitzungen des Fränkischen Reichskreisdirektoriums alternierend alle drei Jahre zwischen den Regenten beider Linien wechselte. Im Kreiskonvent sollte aber jeweils der ältere Principal Vortritt haben - ein Regelung, die auch für die nachgeordneten Minister und Beamte aus den Fürstentümern Anwendung fand.123 In den gemischt-konfessionellen Territorien des Reichs, wie sie uns in den paritätischen Reichsstädten entgegentreten, sollten Titulatur- und Zeremonienstreit durch Konfessionsgegensätze zusätzlich belastet werden. Die Konfliktebene hinterließ aber dort, wo eine bikonfessionelle städtische Gesellschaft den Alltag zu meistern hatte, und sich die Konfessionszugehörigkeit auch in nicht 'theologischen' Bereichen (Berufswahl, Namensgebung, Ehegattenwahl u.a.) äußerte, wahrscheinlich für die zeremoniellen Fragen keine so nachhaltende Wirkung als in jenen Kreisen, in denen sich theoretisierende Vertreter der Reichskonfessionen gegenübersaßen. So beschäftigte sich der Regensburger Reichstag 1667, 1668, 1705 und 1716 mit Bedenken der Augsburger Konfessionsstände, das Epitheton "heilig" aus den Titulaturbüchern zu streichen. An die Stelle "ihrer päbstlichen heiligkeit" rückte der "der stuhl zu Rom" und aus der Dreiheit "sanctae sedis Romanae" sollte das "sanctae" getilgt werden. Der Einwand der katholischen Reichsstände lautete dagegen bezeichnend: "ein bioser titul afficire weder gewissen noch religion, sey nicht dispositive zu verstehen, noch von der importanz, daß deßhalber [es sich lohnt], die reichs-negotia aufzuhalten".124 Reichsabschiede zeichneten sich danach durch die Unter- oder Nebeneinandersetzung zweier Titulaturen aus, die den Konfessionsparteien Genüge leisteten und deren Beachtung das kurmainzische Direktorium zu garantieren hatte, Zeremonielle Fragen und Weichenstellungen spielten demnach sowohl in der Reichs- als auch in der Territorialgeschichte mittlerer, kleiner und kleinster Größe eine Rolle, die weit mehr war als das, was die Hofhistoriker des 17. und 18. Jahrhunderts darin zu sehen glaubten. Wenn Gottfried Stieve 1723 darin einen "beygefugten Unterricht" erkannte, was ein legatus ä Later[an]e, nuncius apostolicus, ambassadeur, envoye, plenipotentatus, commissarius, resident, agent, secretarius, deputatus, consul so wohl seiner würde als seinem amte nach sey und wie es rait derersclben character, creditjv, instruction, passeport, quartiere, inviolabilität, Immunität, reception, magnificentz, titulatur etc. beschaffen 123

124

Gottfried Stieve: Europäisches Hof-Ceremoniel, in welchem Nachricht gegeben wird, was es für eine Beschaffenheit habe mit der Praerogativa und dem aus selbiger fliessenden Ceremoniel [.,.]. Leipzig 1715 (Ausgabe Leipzig 1723). Cap, I. S. 7. Lünig: Theatram Ceremoniale (wie Anm. 41), S, 34.

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sei, nannte er nur die halbe Wahrheit.125 Zeremonielle Kenntnisse waren mehr als nur Schlüssel zur höfischen Diplomatie im Ancien Regime, sie zählten zur Identitätsfindung fürstenstaatticher wie reichsstädtischer Territorien gleichermaßen. Es bleibt unbestritten, daß die wissenschafit der hof-gebräuche" nützlich war, um "bey vorkommenden fällen einer nöthigen erscheinung bey hof und in dem umgang mit grossen sich mit anstandigkeit, freymüthigkeit und hof-gesezmäßig zu betragen, im gegentheil aber nicht durch Unwissenheit und Unvorsichtigkeit ändern zum höhn und gelächter zu werden,125

aber Zeremoniell hatte auch viel zu tun mit der Selbstwertbestimmung frühneuzeitlicher Staaten. Nur taten sich die Reichsstädte hierbei infolge ihrer egalisierenden Verfassungsstruktur ("stadtrepubliquen") nach innen und der großen wirtschaftlichen bzw. demographischen Unterschiede innerhalb der Städtekurie nach außen schwerer als viele Fürstenstaaten. Zu groß waren die ökonomischen Gegensätze, als daß sich das zeremonielle Gepräge großer Handelsmetropolen wie Augsburg oder Nürnberg auch in 'kümmerstädtischen1 Schattengebilden hätte durchsetzen lassen. Zu letzteren zählten zweifelsohne die Reichsstädte Aalen, Bopfmgen, Buchhorn, Gengenbach, Giengen, Isny, Leutkirch, Offenburg, Pfüllendorf (!), Wangen, Weil, Wimpfen oder Zeü am Hammersbach, die alle um das Jahr 1800 weniger als 2000 Einwohner vorzuweisen hatten und deren Stadtgebiet sogar durch das Raster des Staats- und Adresshandbuches im Schwäbischen Reichskreis fiel, das eine Mindestgröße von einer deutschen Quadratmeile voraussetzte.

12i 126

Stieve: Europäisches Hof-Ceremoniel (wie Anm. 123). Titelblatt. Moser Teutsches Hof-Recht (wie Anm. 117). Bd. 1. S. 14.

Andrea Sommer-Mathis Theatrum und Ceremoniale Rang- und Sitzordnungen bei theatralischen Veranstaltungen am Wiener Kaiserhof im 17. und 18. Jahrhundert

So verlockend es erscheint, den Titel von Johann Christian Lünigs Sammlung höfischer Zeremonien und Feste1 als Ausgangspunkt der Überlegungen zum Thema Theater und Zeremoniell am Wiener Hof zu nehmen, so irreführend erweist er sich bei näherer Betrachtung. Einzelne Abschnitte von Lünigs Kompendium geben zwar auch Hinweise auf die Handhabung des Zeremoniells am Kaiserhof, doch kaum Beispiele seiner Umsetzung im Bereich des Theaters. Assoziiert man heute mit dem Begriff Theater1 ausschließlich das Gebäude bzw. die darin gegebene Veranstaltung, so bedeutete im Barockzeitalter 'theatrum' ganz allgemein den Ort, an dem es etwas zu schauen gab. Das konnte konkret ein Podium für eine theatralische Aufführung sein, aber auch ein Gerüst für ein Autodafe, Daneben wurde 'theatrum' immer häufiger in übertragenem Sinne verwendet; es entstanden Begriffe wie "Kriegs-1 oder 'Friedenstheater', 'Staats-' oder 'Welttheater', und das Wort 'theatrum' war in der Titulatur von Büchern nahezu jeder Disziplin zu finden. Erst im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erhielt Theater' seinen heutigen, eingeengten Bedeutungsumfang.2 Aber auch wenn man die Perspektive auf dieses kleinere semantische Umfeld beschränkt, sollte man sich die im Vergleich zur Gegenwart wesentlich größere Vielfalt an theatralischen Möglichkeiten im Barockzeitalter bewußt machen. Die zeitgenössischen Quellen sprechen daher auch von 'Lustbarkeiten' und 'Divertissemens', von 'Spectaceln1 und 'Festen1; darunter ließen sich nicht nur Opern, Komödien und Tragödien subsumieren, sondern auch Turniere und Roßballette, Feuerwerke und Illuminationen, Bauernwirtschaften und Maskeraden - kurz alles, was ein 'Schau-Spiel' bot, was sich an Theatralischem im weitesten Sinne 'anschauen' und bestaunen ließ. Es ist insoferne von Bedeutung, diese Vielfalt theatralischer Dernonstrationsformen in der Frühen Neuzeit hervorzuheben, als ihre unterschiedliche Qualität die Struktur der Festveranstaltungen und damit auch die Gestaltung von Spiel- und Zuschauerort entscheidend beeinflußte. Trionfi, Feuerwerke 1

2

Johann Christian Lüiiig: Theatrum Ceremoniale Historico-Politicum, [.,.]. 2 Bde. Leipzig; Moritz Georg Weidmann 1719. Vgl. Thomas Kirchner: Der Theaterbegriff des Barocks. In: Maske und Kothurn 31 (1985). S. 131-140.

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und Illuminationen fanden ebenso im Freien statt wie Turniere und Roßballette; aber auch Opern, Ballette und Schäferspiele konnten nicht nur in geschlossenen Räumen, sondern auch in Gärten veranstaltet werden. Die wichtigsten Spiel orte des Kaiserhofes waren Säle und Gärten der Hofburg und der kaiserlichen Lustschlösser in Wien und Umgebung (vgl. die Abb. 107-108). Theater wurde aber auch in Linz, Preßburg, Regensburg oder Augsburg gespielt, wenn sich der Kaiser mit seinem Hofstaat gerade dort aufhielt.3 Die unterschiedlichen Auffiihrungsorte bestimmten die Möglichkeiten des Zutritts, die Zusammensetzung und die zeremonielle Anordnung des Publikums ebenso wie die Gestaltung des für die Zuschauer vorgesehenen Platzes. So vielfältig wie die Schauplätze waren auch die Anlässe, zu denen Theater gespielt wurde, Bis zur Regierungszeit Leopolds I. (bis 1657) fanden am Kaiserhof nur gelegentlich theatralische Veranstaltungen statt; danach wurden sie zur ständigen Einrichtung. Neben einmaligen dynastischen Ereignissen - wie Geburten, Hochzeiten oder Krönungen - feierte man nun auch regelmäßig Geburt s- oder Namenstage von Mitgliedern der kaiserlichen Familie; der Fasching wurde zur Hauptfestzeit im Jahreskreis.4 Die musikalischen Interessen und Begabungen der Habsburger ließen bald das Musikdrama zur wichtigsten Veranstaltungsart am Kaiserhof werden, wobei die Anlässe Art und Umfang der Werke bestimmten: Mehraktige Opern zu den Geburts- und Namenstagen gehörten meist dem Kaiser, seltener der Kaiserin; die im Rang Tieferstehenden und die Kinder mußten sich mit kleineren musikalischen Werken begnügen. Gemeinsani war all den höfischen Festen, die man zu diesen verschiedenen Anlässen gab, ihre innere Zweckbestimmung: Sie dienten der Huldigung an das Kaiserhaus und unterstrichen die Idealität des jeweiligen Herrschers. Nicht erst die sozialhistorische Literatur unseres Jahrhunderts* hat auf den hohen Repräsentationscharakter des absolutistischen Zeitalters hingewiesen. Schon die Zeitgenossen Lünig und Rohr erkannten, daß die Vorstellung von

Vgl. Herbert Seifert: Die Oper am Wiener Kaiserhof im 17. Jahrhundert, Tutzing 1985 (= Wiener Veröffentlichungen zur Musikgeschichte 25). S. 387-427. Erich Schlöss: Die Favorita auf der Wieden um 1700. In; Wiener Geschichtsblätter 46 (1991). S. 162-170. Christian Benedik: Zeremonielle Abläufe in habsburgischen Residenzen um 1700. Die Wiener Hofburg und die Favorita auf der Wieden. In: Ebd. S, 171-178, Vgl. Johann Basilius Küchelbecker: Allerneueste Nachricht vom Römisch=Kayserl, Hofe (...]. 2. verm. und verb. Aufl. Hannover: Johann Jacob Förster 1732. S. 249-267. Vgl. u.a. Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, Neuwied/Berlin 1969 (= Soziologische Texte 54). Jürgen von Kruedener: Die Rolle des Hofes im Absolutismus. Stuttgart 1973 (= Forschungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 19). Hubert Christian Ehalt: Ausdrucksformen absolutistischer Herrschaft. Der Wiener Hof im 17. und 18. Jahrhundert. Wien 1980 (= Sozial- und Wirtschaftshistorische Studien 14), Volker Bauer: Die höfische Gesellschaft in Deutschland von der Mitte des 17. bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts. Tübingen 1992 {= Frühe Neuzeit 12).

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der göttlichen Autorität des Herrschers allein nicht genügte, wenn sie nicht durch sinnfällige Darstellung ihre Bestätigung fand. Johann Christian Lünig stellt dies bereits auf den ersten Seiten seines Kompendiums klar: Grosse Herren sind zwar sterbliche Menschen, wie andere Menschen; Weil sie aber GOTT selbst über andre in dieser Zeitlichkeit erhoben, und zu seinen Stadthaltern auf Erden gemacht, also daß sie von der Heil, Schlifft in solchem Verstande gar Götter genennet werden, so haben sie freylich Ursache, sich durch allerhand euserliche Marquen vor ändern Menschen zu distinguiren, um sich dadurch bey ihren Unterthanen in desto grössern Respect und Ansehn zu setzen. Denn die meisten Menschen, vornehmlich aber der Pöbel, sind von solcher Beschaffenheit, daß bey ihnen die sinnliche Empfmd=und Einbildung mehr, aJs Witz und Verstand vermögen, und sie daher durch solche Dinge, welche die Sinnen kützeln und in die Augen fallen, mehr, als durch die bündig=und deutlichsten Motiven commoviret werden. [.,.] Und aus dieser Raison haben sich die frömsten Könige unter dem Volcke GOttes nicht enthalten, ihren Hofhaltungen durch angeordnete Ceremonien und prächtige Solennitäten ein Ansehen zu machen.6

Auch Julius Bernhard von Rohr argumentiert in ganz ähnlicher Weise: Sollen die Unterthanen die Majestät des Königes erkennen, so müssen sie begreiffen, daß bey ihm die höchste Gewalt und Macht seyt und demnach müssen sie ihre Handlungen dergestalt einrichten, damit sie Anlaß nehmen, seine Macht und Gewalt daraus zu erkennen. Der gemeine Mann, welcher bloß an den äusserlichen Sinnen hangt, und die Vernunffl wenig gebrauchet, kan sich nicht allezeit recht vorstellen, was die Majestät des Königes ist, aber durch die Dinge, so in die Augen fallen, und seine übrigen Sinnen rühren, bekommt er einen klaren Begriff von seiner Majestät, Macht und Gewalt.1

Die äußeren Zeichen der Majestät - und dazu gehörten in besonderem Maße die höfischen Feste - sollten die Untertanen zur Einsicht in die Ordnung fuhren, in der sie lebten, zur Ehrfurcht vor ihr und zur Erkenntnis, was ihren Anteil und damit auch ihren Rang in dieser Ordnung ausmachte.8 Der HerrLünig; Theatrum Ceremoniale (wie Anm. 1. Bd. I, S, 5. Julius Bernhard von Rohr: Einleitung der Ceremoniel-Wissenschaffi Der großen Herren, [...]. 2. Aufl. Berlin: Johann Andreas Rüdiger 1733. S. 2. Von der Idee der Repräsentation war die gesamte höfische Gesellschaftsordnung erfaßt. Nirgends wird dies deutlicher als in Calderons Großem Welttheater. Die Vorstellung der Welt als Bühne und des Lebens als Schauspiel hat sich im Gefolge von Calderon als Topos etabliert, der bis in die Gegenwart immer wieder zur Erklärung des Phänomens der höfischen Festkultur bemüht wurde. Eine Urrüegung der Schauspielmetapher auf das kirchliche Zeremoniell am Wiener Hof findet sich bei Elisabeth Koväcs: Kirchliches Zeremoniell am Wiener Hof des 18. Jahrhunderts im Wandel von Mentalität und Gesellschaft. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 32 (1979). S. 109-142. Literatur zum höfischen Fest u.a.: Richard Alewyn/Karl Sälzle: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste in Dokument und Deutung. Hamburg 1959. Margarete Baur-Heinhold: Theater des Barock. Festliches Bühnenspiel im 17. und 18. Jahrhundert. München 1966. Eberhard Sträub: Repraesentatio Majestatis oder churbayerische Freudenfeste, Die höfischen Feste in der Münchner

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scher an oberster Stelle der Gesellschaftspyramide fungierte dabei als Vermittler zwischen göttlicher und irdischer Sphäre; auf ihn war alles ausgerichtet, und von ihm aus erfolgte die Abstufung nach unten: je geringer die Distanz zum Herrscher, desto höher der Rang einer Person. Diese Vorstellung fand ihre unmittelbare Umsetzung in den Sitz- und Rangordnungen, die auch für den Theaterbereich durch das Hofzeremoniell festgelegt waren. Das sogenannte 'Spanische Hofzeremoniell' war zwar schon um die Mitte des 16. Jahrhunderts in ganz Europa bekannt, wurde aber erst hundert Jahre später auch am Wiener Hof kodifiziert. Seine volle Entfaltung und Adaptierung an die Wiener Verhältnisse9 fand es unter den drei Barockkaisern Leopold I., Joseph I und Karl VI.;10 die 80 Jahre ihrer Regierungszeit (1657- 1740) entsprechen auch der Blütezeit des höfischen Theaters in Wien, Die wachsende Bedeutung des Zeremoniells spiegelt sich auch in der Quellenlage; ab 1652 wurden alle zeremoniell bedeutsamen Abläufe des Wiener Hoflebens detailliert protokolliert, während aus der Zeit davor nur einzelne Aktenkonvolute erhalten blieben, die aber für das Thema nicht von Interesse sind. Die Zeremonialprotokolle und die sogenannten 'Älteren Zeremonialakten' gehören zum Bestand des Obersthofmeisteramtes im Haus-,

r

10

Residenz vom 16, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. München 1969 (= Miscellanea Bavarica Monacensia 14 bzw. Neue Schriftenreihe des Stadtarchivs München 31). Hubert Ch. Ehalt; Zur Funktion des Zeremoniells im Absolutismus. In: Europäische Hofkultur im 16. und 17, Jahrhundert. Bd. II. Hamburg 1981 (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 9), S, 411-419. Lüm'g spricht von der "Wienerischen Etiquette" und unterscheidet sie vom Spanischen Hofzeremoniell, Lünig: Theatrum Ceremoniale (wie Aiun, 1). Bd. l, S. 299: "Dieses weiß man wohl, daß die Wienerische Etiquette bey weitem nicht so strenge, als die Spanische ist; {...}." Vgl. Küchelbeckcr: Allerneueste Nachricht (wie Anm. 4). S. 382ff.; "Dahero wird sich niemand wundern, daß der Römisch=Kayserl,Hof, und das an demselben gewöhnliche Ceremoniel biß jetzo nach Spanischer Art eingerichtet, jedoch in vielen Stücken vernünfftig temperiret ist, also, daß es der allerhöchsten Grandezza der Kayserlichen Majestät gar wohl anstehet, und den Splendeur des Kayserüchen Hofs um sehr viel vermehret." - Friderich Carl von Moser: Teutsches Hof=Recht, [...] Bd. I. Frankfurt und Leipzig: Johann Benjamin Andrea 1754. S. 46: "Man hatte zwar zu Wien vorlängst ein Temperament dardurch zu treffen gesucht, da man ein gedoppeltes Ceremoniel statuirte; das eine, so das Burg=Ceremoniel heißt, beobachtete man, wann der Hof in der Kayserlichen Residenz oder Burg zu Wien sich aufhielt, und ist solches nach dem alten Burgundisch= und nachmals Spanischen Fuß eingerichtet. Das andere oder Campagne=Ceremoniel wird beobachtet, wann der Kayserliche Hof auf dem Land, z.E. zu Laxenburg oder der Favorite sich befindet, so dem heutigen freyen Ceremoniel der übrigen Europäischen Höfe näher kommen sollte." Vgl. Lünig: Theatrum Ceremoniale (wie Anm. 1). Bd. I. S, 6: "Am Kayserlichen Hofe war man zu Zeiten des grossen Kaysers Leopoldi in der Etiquete, oder Ceremoniel, so singulier und pointilleux, als an keinem Hofe in Europa. Höchstgemeldter Kayser ließ allemahl in demselben eine solche accuratesse spühren, daß es zum genausten muste beobachtet werden. So accurat aber als Kayser Leopoldus in diesem Stücke war, so übertrafif ihn doch in selbigem sein Sohn und Nachfolger, Kayser Josephus; denn es ist wohl niemahls weniger in dem Ceremoniel am Wienerischen Hofe vergeben worden, als zu seiner Zeit und währender seiner Regierung."

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Hof- und Staatsarchiv in Wien. Das Obersthofmeisteramt war als wichtigste Behörde am Wiener Hof für alle Agenden der Verwaltung zuständig, die nicht ausdrücklich in die Kompetenz eines anderen Hofstabes fielen - unter anderem auch für den Theater- und Musikbetrieb. Als höchster Beamter war der Obersthofmeister für den reibungslosen Ablauf des höfischen Lebens und die Einhaltung der zeremoniellen Vorschriften verantwortlich. Er hatte dem Kaiser Vorschläge zu unterbreiten, wie die höfischen Festtage begangen werden sollten, ob und was für eine theatralische Veranstaltung dafür vorzubereiten sei und wie die Zuschauer dabei zu placieren wären. Man unterschied im Prinzip zwei Gruppen von höfischen Festen: die großen öffentlichen Auffuhrungen, zu denen der gesamte Hofstaat, der hohe und der niedere Adel, die Geistlichkeit, die Botschafter und Gesandten sowie andere bedeutende ausländische Gäste Zutritt hatten, und die sogenannten 'Kammerfeste'11 für einen engeren, oft engsten Zuschauerkreis. Diese Beschränkung auf eine kleine, exklusive Personengruppe hatte nicht immer nur mit den Dimensionen des jeweiligen Spielortes oder dem Charakter der Festveranstaltung zu tun, sondern diente auch häufig dazu, zeremoniellen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, die sich durch den Besuch eines hohen ausländischen Gastes oder die Hoftrauer nach dem Tod von Mitgliedern oder nahen Verwandten des Kaiserhauses stellen konnten. Der Zutritt zu den Festveranstaltungen wurde ebenso streng überwacht wie die Einhaltung der Sitzordnung. Immer wieder entstanden Streitigkeiten wegen Fragen des Vortritts, aus denen man oft nur mit Spitzfindigkeiten einen Ausweg fand. Besonders beliebt war dabei das Inkognito, das im Theater die gleiche Bedeutung und Funktion hatte wie im täglichen Hofleben; Durch das Ablegen ihres Ranges galt die jeweilige Person als nicht anwesend, was man noch dadurch unterstrich, daß man sie in einer Loge, die manchmal sogar mit Vorhängen ausgestattet war, abseits von den anderen Zuschauern placierte. Das Hofzeremoniell regelte aber nicht nur die Anordnung der Sitzplätze, sondern auch ihre Beschaffenheit, es bestimmte, wem ein Sessel mit und wem einer ohne Lehne zustand und wer mit einem Platz auf einer der Bänke vorlieb nehmen mußte. Auch Material und Farbe der Stoffe, mit denen die Sitzgelegenheiten bezogen waren, gaben über den Rang der Zuschauer Auskunft, ebenso, ob sie auf einem Podest sitzen durften, ob ein Teppich unter dem StuhJ ausgebreitet oder ein Baldachin darüber angebracht werden sollte.12

12

Vgl. Moser: Teutsches Hof=Recht (wie Anm. 9), S. 486: "An dem Kayserlichen oder vilmehr Wiener Hof sind von je her die Cammer=Feste gewöhnlich, an denen eigentlich nur die hohe Herrschafft und die allervornehmste Personen des Hofs Theil nehmen. Bey disen Cammer=Festen werden auch wohl von jungem Adel, deme zuweilen so gar die hohe Familie des Regenten sich beygesellt, Schauspiele gehalten." Vgl. Franz Hadamowsky: Barocktheater am Wiener Kaiserhof. Mit einem Spielplan (1625-1740), In: Jahrbuch der Gesellschaft für Wiener Theaterforschung 1951/52 (Wien 1955). S. 24.

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Einige konkrete Beispiele mögen das Skizzierte illustrieren: Im Fasching 1653 residierte der kaiserliche Hof in Regensburg, um dort am Reichstag teilzunehmen und Ferdinand IV., Sohn Kaiser Ferdinands III., zum Römischen König krönen zu lassen.13 Die zu diesem Zeitpunkt in Wien bereits traditionellen Faschingsbelustigungen Oper und Wirtschaft durften auch in Regensburg nicht fehlen. Zu der Hofwirtschaft am 20. Februar luden Kaiser und Kaiserin als Wirtsleute zum Fest; die übrigen Rollen wurden wie üblich ausgelost, doch scheint man dem Zufall etwas nachgeholfen zu haben, denn Ferdinand IV., der Kandidat für die römisch-deutsche Königswürde, erschien als "alter Teutscher", Auch die Kurfürsten nahmen an der Festveranstaltung teil, die drei geistlichen von Trier, Mainz und Köln allerdings nicht in Verkleidung, sondern nur als Zuschauer; als solche saßen sie, gleich neben dem "alten Teutschen", am oberen Ende der Tafel dem Wirtspaar gegenüber und repräsentierten - im Gegensatz zu allen anderen - ihren tatsächlichen Rang,14 Vier Tage später fand in Regensburg die Aufführung der Oper 'Uinganno d'amore115 statt, für die der kaiserliche Hofarchitekt Giovanni Bumacini eigens ein hölzernes Theater errichtet hatte. lfi Die Anordnung und Gestaltung der Sitzplätze im Zuschauerraum17 wurden erstmals im Zeremonialprotokoll schriftlich festgehalten und hatten für die folgenden Jahrzehnte Modellcharakter: Der Kaiser saß mit seiner Frau im Parterre auf Lehnstühlen, die auf einem mit rotem Samt bedeckten Podest in der Mitte gegenüber der BühnenÖffnung standen. Die Zentralperspektive, kennzeichnend für die Operndekorationen des 17. und zum Teil noch 18. Jahrhunderts, ließ den Herrscher mit seinem Platz genau gegenüber dem Brennpunkt zum 'idealen1 oder zumindest eindeutig bevorzugten Betrachter des Bühnengeschehens werden; alle anderen Zuschauer mußten, entsprechend ihrem niedrigeren Rang, Verzerrungen der Perspektive in Kauf nehmen.18

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Vgl. zum politischen Hintergrund und zu den Festlichkeiten im Zusammenhang mit der Krönung Ferdinands IV. in Regensburg Claudia Böhm: Theatralia anläßlich der Krönungen in der österreichischen Linie der Casa d'Austria (1627-1764). Phil, Diss. Wien 1986, S. 201-239. 20. Feb. 1653 Hofwirtschaft in Regensburg. In: Haus-, Hof- und Staatsarchiv {HHStA), Ältere Zeremonialakten (Ält.ZA). Kart. 4. Unfol. und Zeremonialprotokoll (Zer.Prot.). I . S , 120-130. 'L'inganno d'amore1: Libretto von Benedetto Ferrari, Musik von Antonio Bertali, Ballette von Santo Ventura, Bühnenbilder von Giovanni Bumacini. Dieses Theater wurde bereits im Herbst 1653 wieder abgebrochen, per Schiff nach Wien geschickt und im Arsenal aufbewahrt. Sitzordnung bei der Theateraufflihrung in Regensburg am 24. Februar 1653. In: HHStA, Ält.ZA 4. Unfol. und Zer.Prot. 1. S. 130-134. Vgl. zur Problematik des zentralperspektivischen Illusionstheaters: Jörg Jochen Berns: Die Festkultur der deutschen Hofe zwischen 1580 und 1730. Eine Problemskizze in typologischer Absicht. In: Germanisch-romanische Monatsschrift N.F. 34 (1984). H, 3. S, 307-309.

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Der Thronfolger Ferdinand IV. saß in einer Reihe mit dem Kurfürsten von Trier und dem Pfalzgrafenpaar bei Rhein auf der rechten Seite unterhalb des Podests des Kaiserpaares; auf der linken nahmen die beiden Kurfürsten von Mainz und Köln Platz, Etwas zurückversetzte Bänke rechts und links waren für die übrigen geistlichen und die weltlichen Würdenträger bestimmt, weitere Bänke für die Hofdamen, die beiden Obersthofmeister des Kaisers und des neuen Römischen Königs sowie die Minister und Kavaliere der anwesenden hohen Herren. Um zeremoniellen Problemen aus dem Weg zu gehen, hatte man rechts und links vom Eingang in den Saal zwei sogenannte 'Cabinets' eingerichtet - Logen, von denen aus die beiden Schwestern des Pfalzgrafen respektive Schwester und Tochter des Herzogs von Württemberg das theatralische Geschehen inkognito verfolgen konnten, ohne Gefahr zu laufen, in unliebsame Präzedenzstreitigkeiten mit anderen verwickelt zu werden. Bei der Hofwirtschaft hatte sich dieses Problem nicht gestellt, weil dabei alle durch die Verkleidung ihren tatsächlichen Rang abgelegt hatten, um einen anderen zu repräsentieren. Als unlösbar erwies sich jedoch die Frage des Vortritts hinsichtlich des päpstlichen Nuntius, des spanischen Botschafters und der Gesandten der Kurfürsten; man verzichtete daher auch von vornherein auf die sonst übliche formelle Einladung der Diplomaten.19 Die beiden Erstgenannten besuchten inkognito die Generalprobe,20 der Spanier erschien sogar noch ein zweites Mal zur Wiederholung der Oper.21 Die Diplomaten hatten demnach keine 1

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VgJ. Lünig: Theatrum Ceremoniale (wie Anm. I). Bd. I. S. 385: "[...] bey Crönungen, Beylagern, Huldigungen, Tauff=Actibus, Turnieren, RJtter=Ordens=Festen, Geburths= und Nahmens=Tägen, solennen Processionen und ändern Festen. Bey alten diesen Functionen pflegt der Souverain des Abends die Ambassadeurs invitiren zu lassen, und diese Einladung geschieht auf folgende Weise: Wenn es in einem Königreich ist, so werden alle Ambassadeurs insgemein zu der bevorstehenden Solennität von dem Ceremonien=Meister, oder demjenigen, der seine Stelle vertritt, im Nahmen des Königs gebeten. Deßgleichen wiederfährt auch denen Envoyis derer Könige, Churfürsten und freyen Republiquen; hingegen werden die Envoyes und Residenten derer Fürsten nur von dem Unter=Ceremonien=Meisier, oder dem, der seine Stelle vertritt, im Nahmen des Ober=Cammer=Herrn, oder eines ändern hohen Hof=Ministri, der an der Anordnung des Festins Theil hat, eingeladen," Bericht des Cavaliere Girolamo Giustinian vom 5. März 1653 aus Prag nach Venedig. In: Seifert: Oper (wie Anm. 3). S, 639; "Alia comedia in musica fatta rappresentar solennemente dalla Maestä dell'Imperaiore non furon invitati ne intervennero ne Monsignor Nuncio, ne l'Ambasciatore di Spagna ne gli Ambasciatori de gli Elettori per le pretensioni di precedenza; soli gli Elettori, e Prencipi d'Imperio, essendosi il Nuncio et Ambasciatore di Spagna portato ambedue incogniti a vederne solamente la pruova," Diese Wiederholung stellt ein für diese Zeit ungewöhnliches Ereignis dar, weil derartige Festveranstaltungen im 17. Jahrhundert üblicherweise nur einmal gegeben wurden; noch erstaunlicher ist allerdings die Tatsache, daß diese zweite Aufführung bereits in die Fastenzeit fiel; man faßte sogar noch eine weitere Reprise nach Ostem ins Auge. Vgl. Bericht des Abate Felice Marchetti vom 3. März 1653 aus Regensburg nach Florenz. In: Seifert: Oper (wie Anm. 3). S. 639: "Hieri sera fu di nuouo rapresentata la cornmedia in Musica alia quäle concorse gran quantita di populo e ui

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Gelegenheit, bei dieser Aufführung auch ihren gesellschaftlichen Rang zu repräsentieren, was bei höfischen Opern in Anwesenheit des Kaisers oft mehr Bedeutung hatte als die Festveranstaltung selbst.22 Wie oben angedeutet, signalisierten - neben der Anordnung der Sitzplätze im Zuschauerraum - auch Farbe und Material der Stoffe, mit denen die Stühle bezogen waren, die hierarchische Abstufung innerhalb der höfischen Gesellschaftspyramide. Während die Sessel des Kaiserpaares mit gelbgoldenem Brokat überzogen waren, hatte man dem Thronfolger einen rotgoldenen Stoff zugedacht. Die weltlichen und geistlichen Kurfürsten sowie alle anderen, die auf Bänken Platz genommen hatten, mußten mit rotem Samt vorlieb nehmen. Auf dieses Modell von 1653 griff man noch 36 Jahre später zurück, als man 1689 in Augsburg den Namenstag Kaiser Leopolds I. mit einer Opernaufführung23 feierte und dazu selbstverständlich auch die Kurfürsten einladen wollte - sie waren ja für die bevorstehende Wahl des Thronfolgers Joseph zum Römischen König maßgeblich verantwortlich. Da manche von ihnen noch nicht ihren offiziellen Einzug in die Stadt gehalten und daher ihren Rang noch nicht repräsentiert hatten, entschloß man sich, die Vorstellung zu einem 'Kammerfest' zu erklären, obwohl, wie bei einer öffentlichen Opernauffuhrung, der gesamte Hofstaat daran teilnahm. Durch diese formale Finte ermöglichte man allen Kurfürsten - auch den noch nicht 'öffentlichen' - den Zutritt, ohne den Ausweg des Inkognito beanspruchen und sie in eine Loge verbannen zu müssen. Eine solche Loge wurde in Augsburg zwar nicht für die Kurfürsten, aber - nach dem Muster von 1653 - für die kurpfälzischen Prinzen und Prinzessinnen vorbereitet. Durch deren Inkognito wollte man Präzedenzfragen aus dem Wege gehen, die sich bei einem 'echten1 Kammerfest gar nicht hätten stellen dürfen. Auch bei der Sitzordnung und Bestuhlung hielt man sich an das Beispiel von 1653: Das Kaiserpaar saß wieder auf mit goldgelbem Brokat bezogenen Sesseln erhöht auf einem Podest; der Thronfolger Joseph L, der selbst auch als Tänzer am Schlußballett teilnahm, unterhalb auf einem rotgolden bezo-

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interuennero pure li signori Elettori Palatino Ambasciatore di Spagna Dame et altri Caualieri e potrebbe essere anche ehe di nuouo si rapresentasse doppo Pasqua, se fosse uero quello ehe si uocifera, ehe fosse per portarsi in questa Cittä la Maesta deH'Irnperatrice Eleonore Vedoua per assistere come si dice al parto di Sua Maesta la Imperatrice Regnante." Das Theatrum Europaeum berichtet auch davon, daß zu der Opernaufführung nicht nur die üblichen exklusiv-höfischen Gäste, sondern mittels eigener "Pileten" auch zahlreiche Bürger zugelassen wurden; davon ist in den Zeremonialakten jedoch keine Rede. Vgl. Theatrum Europaeum. Bd. VII, Frankfurt am Main 1670. S. 343. *I1 Telemaco overo II valore coronato': Libretto von Ottavio Malvezzi, Musik von Antonio Draghi, Ballettmusik von Anton Andreas Schmelzer, Ballett von Domenico Ventura; Aufführung am 21. November 1689 in einem Saal des Fuggerischen Hauses in Augsburg. Vgl. zum politischen Hintergrund und zu den Festlichkeiten im Zusammenhang mit der Krönung Josephs I. in Augsburg Böhm: Theatralia anläßlich der Krönungen (wie Anm. 13). S, 329-373, zu 1 Telemaco' bes. S. 343-357.

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genen Stuhl in einer Linie mit dem Kaiserpaar und auf beiden Seiten von ihm die Kurfürsten, 24 Die gestaffelte Anordnung der Sitzgelegenheiten samt unterschiedlicher Färb- und Formgebung läßt sich bei öffentlichen Festauffiihrungen bis ins 18. Jahrhundert beobachten - ein letztes Mal im Jahre 1744 bei der Hochzeitsoper für Erzherzogin Maria Magdalena, Schwester Maria Theresias.25 Noch einmal spiegelte die Sitzordnung die hierarchische Struktur der höfischen Gesellschaftsordnung: Maria Theresia, Maria Magdalena, Franz Stephan und der Bräutigam, Prinz Carl von Lothringen, saßen nebeneinander auf einem Podest, das mit einem türkischen Teppich bedeckt war; die Stühle hatten alle bis auf den des Bräutigams Rücken- und Armlehnen - Prinz Carl mußte sich mit einem Sessel mit Rückenlehne begnügen.26 Bei der ersten Wiederholungsvorstellung der Oper, an der wieder der gesamte kaiserliche Hof teilnahm, wünschte Franz Stephan von Lothringen, nicht mehr traditionsgemäß im Parterre zu sitzen, wie er dies bisher bei den öffentlichen Festopern getan hatte, sondern in einer Loge in der Galerie, die Maria Theresia auch prompt für ihn adaptieren ließ. Der Obersthofmeister Fürst Johann Josef Khevenhüller-Metsch hielt diese einschneidende Neuerung in seinem Tagebuch fest: [...] weilten dem Herzog ungelegen war, so lang im Parterre - wo nach alter Gewohnheit der Hoff zuzusehen pflegt - zu sitzen, so befahle die Königin, daß mann auf der einen Gallerie vorwärts eine Logi zurichten solle, zu welcher der Herzog nach Belieben zu und abgehen kunte.27

Der hier dokumentierte Rückzug aus dem Parterre in eine erhöhte Loge erfolgte am Wiener Hof erstaunlich spät, denn bereits im Jahre 1700 hatte Francesco Galli-Bibiena beim Urnbau des Großen Tanz- oder 'Comoedi'Saales in der Wiener Hofburg gegenüber der Bühne oberhalb des Eingangs

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Vgl. Brief des Obersthofmeisters an den Kaiser vom 14, November 1689. In: HHStA, Ält.ZA 16. Unfol. und Protokoll der Hofkonferenz vom 19, November 1689, In: HHSlA, Zer. Prot. 4. Fol. 407r-410r. Tpermestra': Libretto von Pietro Metastasio, Musik von Johann Adolph Hasse und Luca Predieri, Ballettmusik von Ignatz Holtzbauer, Ballette von Franz Hilverding, Bühnenbilder von Giuseppe Galli-Bibiena; Aufführung am 8. Januar 1744, Wiederholungsvorstellungen am 18. und 25. Januar 1744. Vgl. HHStA, Zer.Prot.19. S. 374 f, Harald Kunz: Höfisches Theater in Wien zur Zeit der Maria Theresia. Phil. Diss. Wien 1954. S, 20. Johann Josef Fürst von Khevenhüller-Metsch: Aus der Zeit Maria Theresias. Tagebuch. 1742-76, Bd. I (1742-44). Wien 1907. S. 205 (Eintragung vom 18. Januar 1744). Elisabeth Großegger: Theater, Feste und Feiern zur Zeit Maria Theresias 1742-1776. Nach den Tagebucheintragungen des Fürsten Johann Joseph Khevenhüller-Metsch, Obersthofmeister der Kaiserin. Wien 1987 (= Sitzungsberichte der phil.-hist Klasse der österreichischen Akademie der Wissenschaften 476), S. 24f.

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auch zwei große Hoflogen vorgesehen.28 Derartige Fürstenlogen etablierten sich im Laufe des 18. Jahrhunderts als markantestes Merkmal der europäischen Hoftheater.29 Dies stand im Zusammenhang mit der Auflösung der bis dahin geltenden strengen Zentralperspektive und der dadurch verursachten Veränderung des Blickwinkels der Zuschauer. Diagonalachsen und -fluchten, wie sie von der Bühnenbildnerfamilie Galli-Bibiena in die Dekorationskunst eingeführt wurden, täuschten neue Raumtiefen vor, die von einem erhöhten Platz im Rang wesentlich besser einsichtig waren als aus dem Parterre, Dennoch nahm die Kaiserfamilie bei großen Festopernvorstellungen weiterhin auf den traditionellen Thronsesseln im Parterre Platz. Einen ersten Schritt in Richtung einer Lockerung dieses am Wiener Hof für den Theaterbereich geltenden Zeremoniells tat offenbar erst Franz Stephan von Lothringen im Jahre 1744. Mit seinem Wunsch nach einem eigenen Logenplatz signalisierte er, daß ihm nicht mehr in erster Linie an höfischer Selbstdarstellung und Repräsentierung seines Ranges gelegen war, sondern daran, sich freier und ungezwungener bewegen zu können. Die Hofloge gegenüber der Bühne hätte ihm zwar eine bessere Perspektive auf das theatralische Geschehen gewährt, doch nicht die Freiheit, während der Aufführung "nach Belieben zu und ab[zu]gehen". Die Formulierung "auf der einen Gallerie vorwärts" deutet daher auch eher auf eine Loge nahe der Bühne hin als auf die offizielle Fürstenloge. Die Distanzierung des Herrschers durch seine Placierung in einer Loge erwies sich aber auch deshalb als notwendig, weil Maria Theresia 1741 den höfischen Opernbetrieb verpachtet hatte, wodurch das Theater auch einem zahlenden bürgerlichen Publikum geöffnet wurde. Der Monarch wurde somit bewußt von seinen Untertanen abgesondert, was ihm jedoch andererseits die Möglichkeit verschaffte, sich selbst freier bewegen zu können. Die dritte Vorstellung der Hochzeitsoper von 1744 war zugleich auch die letzte im Großen Hofopernhaus überhaupt; es wurde vier Jahre später für B all Veranstaltungen als Großer Redoutensaal30 adaptiert. Oper wurde in Hinkunft in dem zum Theater umgebauten ehemaligen Hofballhaus gespielt, das jedoch von allem Anfang an nicht nur für die exklusiven höfischen Besucher, sondern vor allem für die zahlende Allgemeinheit bestimmt war,31 28

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Vgl. Seifert: Oper (wie Anm. 3). S. 397 und Abb. 14. Franz Hadamowsky: Wien. Theatergeschichte von den Anfängen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. (= Geschichte der Stadt Wien III). Wien/München 1988. S. 144. Vgl. Susanne Schrader: Architektur der barocken Hoftheater in Deutschland. München 1988 (= Beiträge zur Kunstwissenschaft.21). Die Redoutensäle wurden am 27. November 1992 durch einen Großbrand in der Hofburg schwer beschädigt. Vgl, Christian Benedik: Die Redoutensäle, Kontinuität und Vergänglichkeit (Eine Ausstellung des Kulturkreises Looshaus und der Graphischen Sammlung Albertina, Looshaus, 13. Mai bis 3. Juli 1993). Wien 1993. Vgl. zu Zutritt und Sitzordnungen im höfischen Theater in Wien zur Zeit Maria Theresias Elisabeth Großegger: Theater, Feste, Feiern und ihr Publikum zur Zeit Maria Theresias 1742-1776. Nach den Tagebucheintragungen des Fürsten Johann Joseph

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Anders als bei den öffentlichen FestaufEihrungen behielt die kaiserliche Familie bei den 'Kammerfesten' auch noch zu Zeiten Maria Theresias ihren Sitzplatz vorne im Parterre. Diese Veranstaltungen gaben auf Grund der Exklusivität des zugelassenen Publikums immer wieder Anlaß zu Streitigkeiten. Auch dazu wieder einige symptomatische Betspiele aus den Zeremonialakten: Die erste Frau Kaiser Leopolds I., die spanische Infantin Margarita Teresa, Keß am Wiener Hofe spanische Komödien nach dem Vorbild ihrer Heimat aufführen - Veranstaltungen privaten Charakters, also 'echte' 'Kammerkomödien', die meist in den Gemächern der Kaiserin stattfanden. Bei einer solchen Aufführung im Februar 1670 kam es zu einem Konflikt zwischen der Obersthofmeisterin der Kaiserin, Gräfin Erill, und dem spanischen Botschafter, Marques de los Batbases, Der Diplomat war verärgert, weil die 'Camarera Mayor' weder ihn noch seine Frau zu der Komödienaufführung eingeladen hatte, und sein Ärger steigerte sich, als er erfahren mußte, daß die Gemahlin des Oberstkämmerers Fürst Dietrichstein der Vorstellung beigewohnt hatte. Gräfin Erill informierte Balbases zwar, daß niemand eingeladen worden war, weil die Komödie "von keiner consideration, und die Comoedianten nur von Leinwath und Papier gekleydet gewesen"32 seien, und Fürst Dietrichstein klärte den Botschafter darüber auf, daß seine Frau aus freien Stücken und ohne formelle Einladung erschienen sei - was im übrigen auch Balbases und seiner Frau freigestanden wäre. Dennoch beharrte der spanische Diplomat auf seinem Vorrecht, nicht nur an allen öffentlichen, sondern auch an den intimen 'Kammerfesten' des Kaiserhofes teilnehmen zu dürfen,33 und lehnte es aus Protest wegen der Nichtbeachtung dieses Privilegs ab, bei den theatralischen Veranstaltungen der folgenden Tage - einer Oper34 und einer Wirtschaft - zu erscheinen. Dem Obersthofmeister, der als oberste Instanz nach dem Kaiser für die Lösung dieses zeremoniellen Problems herangezogen wurde, gelang es schließlich, den aufgeregten Botschafter zu beruhigen Man schrieb zwar die Empfindlichkeit des Spaniers einer persönlichen Aversion gegen Gräfin Erill zu, bemerkte aber auch, daß man es nicht für richtig halte, wenn er zu allen 'Kammerfesten' geladen werde.

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Khevenhüller-Metsch, Obersthofmeister der Kaiserin Maria Theresia. In: Maske und Kothurn 31 (1985). S. 149- 172. 19. Oktober 1669 - 8. Februar 1670. Verhandlungen über Differenzen der "Camarera Mayor" der Kaiserin Margarita Teresa und Vorschläge zur Abgrenzung ihres Wirkungskreises. In: HHStA, Ält.ZA 8. Unfol. Vgl. Lünig: Theatrum Ceremoniale (wie Anm. 1). Bd. I. S. 449f.: "Eines Ambassadeurs am Kayserl. Hofe Privilegia und Praerogativen sind unter ändern folgende: [.,.\ 7). Daß er bey publiquen Festen des Hofes zugegen ist, und seinen angewiesenen Ort habe, auch den Cammcr=Festen incognito beywohne, item wenn ein Tournier gehalten wird, nebst den ersten Kayserl.Ministris Commissarius und Richter darüber ist, wer praemia davon trägt." 'Le Risa di Democrito1: Libretto von Nicolö Miitato, Musik von Antonio Draghi, Ballettmusik von Johann Heinrich Schmelzer, Ballette von Santo Ventura, Bühnenbilder von Lodovico Ottavio Burnacini; Aufführung am 17. Februar 1670.

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Solche und ähnliche Streitigkeiten mit und wegen diplomatischen Vertretern waren die Hauptthemen der umfangreichen Korrespondenz des Obersthofmeisteramtes. Die Botschafter verteidigten ihre tatsächlichen oder angemaßten Rechte, und die zuständigen Hofbeamten versuchten, einerseits den Regeln des jeweils geltenden Hoizeremoniells gerecht zu werden und andererseits die Diplomaten nicht zu vergrämen. Als direkten Repräsentanten ihrer Fürsten schuldete man ihnen den gleichen Respekt und die gleichen Ehrenbezeugungen wie denen, die sie vertraten.35 Umgekehrt waren auch sie zu einem ihrem Amte und Range entsprechenden würdigen Verhalten verpflichtet, das - ebenso wie bei den Herrschern - auch mit äußerer, ins Auge fallender Prachtentfaltung und damit auch dem Erscheinen bei höfischen Festveranstaltungen verbunden war. Vor allen Dingen soll ein Ambassadeur das Dscur hie vor Augen haben, und dasjenige mit ersinnlichstem Fleiß TU bewerkstelligen suchen, warum er an diesen oder jenen Hof geschicket worden; denn ein Ambassadeur wird deßwegen von seinem Principalen an einem ändern Hofe mit grossen Kosten unterhalten, nicht aber in seinem Cabinet Verse zu machen, sich mit einer Courtisanin im Bette zu divertiren, oder den Stein der Weisen hinter einem Schmeltz=Ofen zu suchen, wie bißweilen zu geschehen pfleget, Vornehmlich aber soll er sich bemühen, sich mit einem inodesten Majestätischen Staat und honorablen Gefolg in allen öffentlichen Functionen, die an dem Hofe, wo er sich befindet, gehalten werden, sehen zu lassen, und dabey den Rang seines hohen Principalen zu behaupten, z.E. bey Crönungen, Beylagern, Huldigungen, Tauff=Actibus, Turnieren, Ritter=Ordens=Festen, Geburths= und Nahmens=Tägen, solennen Processionen und ändern Festen. [...} Seine Pracht muß er erweisen in seiner Wohnung, Tafel, Domestiquen, Equipage &c. Denn weil ein Ambassadeur die Person seines Principalen vorstellen, seine Hoheit und Reichthum ausserhalb Landes zeigen, und ihn bey den Ausländern in grossen Credit setzen soll; so kan es nicht anders seyn, als daß er sich sehr prächtig aufführen muß: Denn dadurch erwirbt sich ein Potentate nicht geringes Ansehen und Hochachtung bey frembden Nationen, indem insgemein dergleichen äusserliche Pracht eher in die Augen, als in den Verstand fällt, und sonderlich den Pöbel in die Gedancken setzet, ein dergleichen Ambassadeur, welcher mit properen Carossen, kostbahren Libereyen, herrlicher Equipage und ändern Dingen mehr pranget, sey von einem Potentaten gesendet, unter dessen Regierung die Unterthanen so gesegnet und glücklich, als zu den Zeiten Salomonis leben müsten, 36

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Vgl. Lünig: Theatram Ceremoniale (wie Anm. 1). Bd. I. S. 368: "Weil grosse Herren in der Welt nicht allemahl selbst in Person zusammen kommen können, sie aber dennoch gar viel mit einander zu negotiiren haben, so hat ihnen die Nothwendigkeit an die Hand gegeben, sich dißfalls gewisser Leute zu bedienen, die ihre Personen bey ändern Höfen oder in loco tertio praesentiren, in ihrem Nahmen handeln und schliessen, auch das Interesse ihres Staats auf alle Weise beobachten müssen. [...] Ein Ambassadeur ist mit dem Charactere repraesentatitio versehen, und stellet die Person seines Principalen vor, dahero muß ihm auch bey dem Einzüge, in denen Visiten, bey der Audienz und ändern Gelegenheiten eben so viel Ehre und Respect erwiesen werden, als wenn sein hoher Principal selbst zugegen wäre." Vgl. Lünig: Theatrum Ceremoniale (wie Anm, 1). Bd. I. S. 384- 386.

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Gerade die spanischen Diplomaten am Kaiserhof gaben immer wieder Anlaß zu Streit und langwierigen Diskussionen, weil sie auf ihren Sonderstatus als 'embaj adores de famüia' pochten. Durch die zahlreichen familiären Bande zwischen den beiden Linien der 'Casa de Austria1 genossen sie auch noch zu einem Zeitpunkt, als man sich mehr und mehr an anderen, vor allem deutschen Höfen um potentielle Heiratskandidaten für die erzherzoglichen Kinder umsah, gewisse Privilegien, zu denen auch der Zutritt zu allen Festveranstaltungen des Kaiserhauses gehörte - also auch zu den privaten Kamrnerkornödien, Dies konnte dann zu Schwierigkeiten fuhren, wenn man auch anderen befreundeten oder verwandten Fürsten, die dem spanischen König rangmäßig nachgereiht waren, den Theaterbesuch ermöglichen wollte. Das war etwa im Januar 1684 der Fall, als man zum Geburtstag der Kaiserin eine kleine einaktige Oper37 in ihrem Privatgemach aufrührte. Zu der Vorstellung wollte auch Herzog Karl V. von Lothringen38 eingeladen werden, der aber nur dann 'öffentlich', also in Darstellung seines Ranges, daran teilnehmen konnte, wenn der Repräsentant der spanischen Krone nicht erschien. Da man diesen aber nicht ausladen wollte bzw. konnte, fand man folgende Lösung: Man gab die Oper an zwei aufeinanderfolgenden Tagen, beide Male in Anwesenheit des Kaiserpaares, und lud einmal den spanischen Botschafter und einmal den Herzog von Lothringen dazu ein.39 Soviel erfährt man zu diesem Fall aus den Akten, mehr noch aus einem Brief des venezianischen Botschafters an den Dogen, Er berichtete, daß auch er und der päpstliche Nuntius zu dieser Veranstaltung eingeladen gewesen seien, allerdings nur inkognito hätten erscheinen dürfen, was ihnen angesichts der Tatsache, daß ihr spanischer Kollege an prominenter Stelle unter den Hofdamen placiert wurde, ungehörig und ihrem Rang abträglich erschien. Beide zogen es daher vor, überhaupt nicht zu kommen, und entschuldigten ihr Nichterscheinen damit, daß sie Post zu erledigen hatten - Post, in der sie eilig von diesem Vorfall berichteten.40 37

'Gli Elogii': Libretto von Nicolo Minato, Musik von Antonio Draghi und Kaiser Leopold I., Ballettmusik von Anton Andreas Schmelzer; Aufführung am 16. Januar 1684 im Schloß von Linz, wohin der Kaiser wegen der Türkenbelagerung in Wien geflüchtet war. 38 Herzog Karl V, von Lothringen, seit 1678 Ehemann von Erzherzogin Eleonore, der verwitweten Königin von Polen. 14. Januar 1684 - 11. Juli 1685, Briefwechsel betr. Forderung des spanischen Botschafters Marque's de Borgomanero d'Este um den Vortritt vor dem Herzog von Lothringen. In; HHStA, Ält.ZA 14. Unfol. '" Bericht des Domenico Contarini vom 23. Januar 1684 aus Linz an den Dogen Marcantonio Giustinian nach Venedig. In: Seifert: Oper (wie Anm, 3). S. 795f: "Domenica Irascorsa successe un caso in Corte dell'Imperatore, ehe venne a ferire direttamente l'intentione dell'Imperatrice Vedova; et e, ehe recitandosi nella Ritirata, certa compositione per solennizzare il giorno Natalitio della Regnante, benche translatato, et essendovi solito esservi ammesso TAmbasciator Cattolico, come della Casa, sedendo fra le Cameriere Maggiori, tento il Duca di Lorena d'intervenirvi, escludendo in conseguenza il Ministro; E l'Ambasciatore fece sapere a! Maggiordomo, ch'era pronto a farsi indisposto, e nello stesso tempo attravarsi sano, per incontrar in tal occasione il gusto

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Ein Jahr später (1685) gab es neuerlich zeremonielle Probleme zwischen dem spanischen Botschafter und dem lothringischen Feldherrn, Zwar hatte der Kaiser angesichts der durch den Türkenkrieg angespannten wirtschaftlichen Lage angeordnet, von größeren Festveranstaltungen abzusehen, aber ganz wollte man auf die üblichen Faschingsvergnügungen doch nicht verzichten.41 Die Auffahrung einer kleinen Oper42 durch die Hofkavaliere brachte den spanischen Botschafter insofern in Schwierigkeiten, als ihn die Anwesenheit Karls V von Lothringen wiederum an seinem öffentlichen Erscheinen hinderte; er besuchte die Vorstellung ja nicht als Privatperson, sondern als Vertreter des Königs von Spanien, der einem einfachen Herzog natürlich rangmäßig weit überlegen war. Der Obersthofmeister schlug dem Botschafter als Ausweg aus dem Dilemma vor, er solle zwar eine offizielle Einladung erhalten, diese aber nicht annehmen, sondern vorgeben, aus Krankheitsgründen verhindert zu sein. Da der spanische Diplomat aber bereits die Teilnahme an allen bisherigen Veranstaltungen unter dem Vorwand einer Indisposition abgesagt hatte, um zeremoniellen Zwistigkeiten aus dem Weg zu gehen, sah er sich nicht in der Lage, auch jetzt wieder zu diesem Hilfsmittel zu greifen. Wenn er nicht wenigstens bei einer privaten Hofveranstaltung erschiene, würde er als Repräsentant seines Souveräns völlig unglaubwürdig werden und Gefahr laufen, seinen Rang und seine Privilegien am Kaiserhof einzubüßen, die ihn vor allen anderen Botschaftern auszeichneten.43 Die Sache wurde wieder diplomatisch (in doppeltem Wortsinn)

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della Maestä Sua; Ma l'Imperatore non volendo alteration! in sua Corte, ordino la Calla, e ehe fosse invitato l'Ambasciatore, non ostante le replicate premure di Lorena, portatc dal Conte Ferrari Maggiordomo della Regina, in suo nome, ehe in fine e per ultimo non volse Cesare piu senüre; Da ehe il Duca poco contento prese pretesto d'andare ad una divotione ad Ebersperg, per non star in Corte, e vi si ricondusse 11 giorno seguente, in cui fu di nuovo, cort il suo intervento rappresentata. II Nuntio et il Veneto ftirono invitati ma incognito; e parendoci indecorso, mentre il Cattolico se ne stava publico, et in posto cospicuo fra le Dame, ehe noi dovessimo con poca onorevolezza, star appartati, si scuso il Cardinale et io col pretesto di haver il dispaccio, come era vero, da spedire." Bericht des Marchese Giovanni Battista Pucci vom 18. Februar 1685 nach Florenz. In; Seifert: Oper (wie Anm. 3). S. 798: "Affinche i diuertimenti Carneualeschi non raffreddino in qualche parte l'applicazione alle disposizioni, e prouedimenti della guerra, sono state con editto Cesareo tnterdette le Maschere, et ogn'altra publica festa, e trattenimento, tenendosi solo ä Corte negl'appartamenti deH'Imperatrice Vedoua alia presenza di tutte le loro Maesta tutti i lunedi sera vna fioritissim'Accademia, doue moltissimi Caualieri Alemanni, e Italiani daiuio saggio della viuezza de loro ingegni con ta lettura di uarie cornposizioni tutti nel proprio Idioma," Vgl, auch Bericht dess. vom 25. Februar 1685 und Bericht des Domenico Contarini vom 25. Februar 1685 an den Dogen Marcantonio Giustinian nach Venedig. Ebd. S. 799. 'L'Anfitrione' mit dem Prolog 'Le Nozze di Mercurio': Libretto von Nicolo Minato, Musik von Antonio Draghi, Ballettmusik von Anton Andreas Schmelzer; Aufführung am 1. März 1685. Brief des spanischen Botschafters an Fürst Dietrichsteirt vom 28. Feb. I685. In: HHStA, Alt,ZA 14. Unfol.: "Seflor mio. Herreziuido el papel de V.E. en que me dize V.E. hauer entendido que ei seftor Duque de Lorena es quien hace hazer la fiesta de

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beigelegt: Der Herzog von Lothringen versprach, diese Aufführung nicht zu besuchen, während der spanische Botschafter sich von allen anderen Festen dieses Karnevals fernhalten wollte, obwohl er steh dazu, wie üblich, als offiziell eingeladen betrachten konnte.44 manana, sobre que me pregunta V.E. que expidiente se podria tomar para salir del embarazo, que hauiendo de continuar en todos los diuerti mien tos de este Carnaual Causara poco gusto en ellos, y me dize V.E. tambien que le pareziera que yo pudiera finginne malo y salbar mi prerrogatiua con vn villette de V.E,, en que V.E, por parte de Su Mag,d Ces," me combidase, A que Respondo a V.E. que quando los dias pasados se hico vna Comedia, me detube en casa muchos dias con pretesto de enfermo, por no embarazar y salbar el punto del grado con que el Rey mi S. r me a mandado de mantenerme en esta Imperial corte. Despues Creyendo que S.M.Ces." me haria la honrra que tan benignamente ä siempre continuado ä mis antecesores, no he pensado de poderme allar en el embarazo en que oy en dia me allo, y por consequenzia no he podido tampoco meditar expidientes que no fuesen afectados, y que bastantemente pudiesen encubrir lo que benia a perder mi representation, de modo que estando el dia de oy bueno y sano a Dios gracias, y biendolo toda la Corte, fuera rediculo en ella si en vn momento me diera por enfermo solo para declarar que moria la prerrogatiua, sobre todos tan estimada de embaxador preuilegiado de la Casa; y asi yo no se como mantener lo que el Rcy mi sefior ä dexado a mi Cuydado, y como al mesmo tiempo encontrar el gusto de la seftora Emperatriz Eleonor de perder por el Duque de Lorena mi mayor prerrogatiua, y ya que su Mag.d me la a quitado en su quarto, no hauiendo me jamas comb i dado a las academias q. regularmente se hacen todas las semanas en el, sera menester rendirse a quien puede mas perdiendolas tambien en el quarto del seflor Emperador, pero esto np sera de mi consentimienio, por que no quiero ser cargado en Espafla de que yo haya admitido de perder el mas estimable grado que tiene el Embaxador de aquella Corte en esta; La esclusion de todas las fiestas en vn Carnabal entero a la bista de los embaxadores y de toda la corte que ya igualmente repara en ello, es vna declarazion tan positiua que ä nadie se puede encubrir ni a mi dexar de Causarme vn justisimo sentimiento de ber que yo haya de ser el primero que haya de perder la joya mas apreciada que adornaua aqui al Embaxador de Espafla; si a lo menos ä vna fiesta particular hubiese yo asistido, todo hubiera quedado remediado, pero £ ninguna, esto dexa la matheria tan descubierta y liana que no puedo dexar de confesar de hauerlo todo perdido sin hauerlo merezido, por que pido a Dios por testigo del zelo con que he procurado semi r ä S.M.Ces.' a cuyos decretos yo me rindo y rendire siempre, pues con ellos tendre mi descargo, aunque siempre bendre a quedar mal por hauerse hecho con migo lo que no solo no se a efecutado con ninguno de mis antecesores, pero tampoco yntentado, y äcauo diciendo ä V.E. como amigo niio, que soy desgraciado, pero sin Culpa por que en quanto a seruir a estas Magestades ninguno de mis antecesores me ä hecho bentaxa, de que entre ötros pido a V.E. por testigo, y quedo rogando a Dios guarde a V.E. muchos afios como deseo." Eine ähnliche Regelung traf man auch 1687, als man den spanischen Botschafter Marques de Borgomanero ersuchte, die Aufführung der Namenstagsoper für die Kaiserin ('La Vittoria della Fortezza': Libretto von Nicolö Minato, Musik von Antonio Draghi und Leopold I,; Aufführung am 22, Juli 1687 auf der Bellaria) nicht zu besuchen, weil man den Herzog von Mantua dazu einladen wollte, der aJs Verwandter des Kaiserhauses bei Hof logierte. Der Diplomat machte - obwohl er beteuerte, dem Kaiser immer zu Diensten sein zu wollen - zunächst Schwierigkeiten und verlangte vom Obersthofmeister ein Schieiben, aus dem hervorging, daß er zu der Veranstaltung formell eingeladen sei, und man ihn keineswegs in seinen angestammten Vorrechten beschneiden wolle, daß er jedoch für diesmal dem Herzog von Mantua den Vortritt lassen

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Ein anderer Vertreter der spanischen Krone, Marques de Borgomanero, war Auslöser für einen langwierigen Disput um die Sitzordnung bei einer Theateraufführung des Jahres 1694. Der Diplomat wollte nicht zulassen, daß sich die Fürsten Schwarzenberg und Montecuccoli zu ihm und den Hofdamen auf die erste Bank setzten, weil dieser Platz angeblich ausschließlich ihm zustünde.45 Der Obersthofmeister des Kaisers, Fürst Liechtenstein, klärte den Spanier zwar darüber auf, daß es dem Fürsten Schwarzenberg in seiner Funktion als Obersthofrneister der Kaiserin durchaus gestattet sei, auf der ersten Bank Platz zu nehmen, und der Kaiser auch dem Fürsten Montecuccoli dieses Privileg aus besonderen Gründen zugestanden habe; doch der spanische Botschafter pochte auf sein angemaßtes Vorrecht und drohte, die Vorstellung zu verlassen, sollte man dies nicht respektieren. Um weiteren Ärger zu vermeiden, gaben die beiden Fürsten nach und zogen sich auf andere Bänke zurück. Für den Diplomaten war aber die Angelegenheit keineswegs erledigt, sondern er insistierte auch dem Kaiser gegenüber auf seinem Anspruch. Der Obersthofmeister riet dem Herrscher, sich nicht den Wünschen des Botschafters zu beugen, weil es nicht angehe, daß dieser darüber entscheide, wer auf der ersten Bank Platz nehme und wer nicht.46 Ein halbes Jahr später wurde das strittige Thema nochmals aufgegriffen. Diesmal ersuchte Fürst Montecuccoli, man möge ihm das Privileg, auf der ersten Bank bei den Hofdamen sitzen zu dürfen, nicht wieder entziehen, weil das seiner Würde und damit auch seinem Rang abträglich sei. Außerdem wußte er durch einen Informanten im Hause des spanischen Botschafters, daß dessen Anspruch keineswegs gerechtfertigt sei, weil sein Vorgänger, auf den er sich stets berufen hatte, ein solches Privileg niemals genossen habe; mangels eines vorangehenden Beispiels erledige sich somit sein Anspruch von

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möge. Mit einem entsprechenden Brief des Obersthofmeisters zufriedengestellt, schützte Marquds de Borgomanero eine Indisposition vor und entschuldigte damit sein Fembleiben von der Oper. Vgl, Kopie eines Schreibens des Fürsten Ferdinand Schwarzenberg an Marques de Borgomanero vom 22. Juli 1687. In: HHStA, Ält.ZA 15. Unfol. und HHStA, Zer Prot. 4, Fol. 22Örv: "weillen er Herzog gleichwollen ex Austriaca Natus, vndt 2.Kayserin, so sich in daß Hauß Österreich vermählet, auß seinen Hauß geweßen, vnd allso da Parente tractirt, welches er auch mit grossen danckh acceptirt, vnd ihme Hirauf in der retirada audienz vnd Bey der Taffei /:wan man bey Ihro Mayestät der Kayserin gegessen ein sessel mit saithen Lahnen gegeben worden:/ Hingegen hat er Bey den essen wo die Cavallieri gedienet, auf der Jagt, Bey der grossen Music in gardten, vnd Bey der Comödie auf Ihro Kayserlichen Mayestäi Nahmens Tag, in der Bellaria nur einen sessel ohne seithen Lahnen gehabt, vnd Hinter Ihro Mayestät gesessen," Vgl. Lünig: Theatrum Ceremoniale (wie Anm. 1), Bd. I. S, 458: "VII. Einige Observationes über gewisse Puncte des Kayserl.Hof^Ceremoniels. [,..] 3. Bäncke in publicis Conventibus, als Comoedien ec. Auf der 1. sitzen die Ambassadeurs, auf der 2. die vornehmsten Hof=Bedienten, auf der 3, die Envoyes." Bericht des Obersthofmeisters an den Kaiser vom 1. Mai 1694, In: HHStA, ÄU.ZA 17. Unfol. und Zer. Prol. 5. Fol. 141 r- 144r.

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selbst.47 Das Privileg, auf der Bank der Hofdamen zu sitzen, hatte er somit nur seiner Stellung als 'Domestico della Casa', als Mitglied des kaiserlichen Haushalts, zu verdanken, nicht aber seinem Rang als Botschafter,48 Schließlich wurde die ganze Angelegenheit protokolliert; der Kaiser ließ Borgomanero nochmals mitteilen, daß er persönlich dem Fürsten Montecuccoli den Platz auf der ersten Bank zugestanden habe, worauf der spanische Diplomat neuerlich drohte, bei der Vorstellung nicht zu erscheinen. Als Montecuccoli dies erfuhr, griff er kalmierend ein; bevor der Kaiser mit dem spanischen Hof Schwierigkeiten bekäme, wolle er sich lieber auf eine andere Bank setzen, was er bei der Namenstagsoper rur Leopold I,49 auch tatsächlich praktizierte. Den Fürsten Schwarzenberg als Obersthofmeister der Kaiserin mußte der Spanier auf Befehl des Kaisers wohl oder übel auf seiner Bank tolerieren. Die Sitzordnung auf den vorderen Bänken hatte bereits 1671 einen heiklen Streit zwischen dem französischen Gesandten Jacques Bretel de Gremonville und dem Obersthoftneister Fürst Lobkowitz verursacht. Als Gremonville bei einer Opernaufführung50 in der zweiten Bank bei den Vertretern der obersten Hofamter Platz nehmen wollte, verjagte ihn Lobkowitz mit rüden Worten, nach Aussage einiger sogar mit einer Ohrfeige.51 Da der Gesandte aber glaubhaft versicherte, der Fürst habe ihn zu einer Unterredung in diese Bank bestellt, mußte sich Lobkowitz bei Gremonville und dem König

Brief des Fürsten Montecuccoli an den Qbcrsthoftneister vom 17. November 1694 mit zwei Beilagen vom 9. September und 12. November 1694. In; HHStA, Ält.ZA 17. Unfol. '' Brief des Obersthofmeisters an Kaiser Leopold I. vom 18, November 1694, In; HHStA, Ält.ZA 17. Unfol. und Zer.Prot.5. Fol. 170r- 17Iv. '" 'Pelopida Tebano in Tessaglia': Libretto von Nicolo Minato, Musik von Antonio Draghi, BaUettmusik von Johann Joseph Hoffer, Ballett von Domenico Ventura, Bühnenbilder von Lodovico Ottavio Burnacini; Auffiihning am 25. November 1694 im Kleinen Hoftheater, Der venezianische Botschafter berichtet anläßlich dieser Aufführung von den zeremoniellen Schwierigkeiten, in die er durch die Bitte des Botschafters von Savoyen, seine Frau in der Botschafterloge unterzubringen, geraten war. - Vgl. Bericht des Alessandio Zen vom 27. November 1694 an den Dogen Silvestro Valiero nach Venedig. In: Seifert: Oper (wie Anns. 3), S. 832-834. 50 'La Prosperiti di Elia Sejano': Libretto von Nicolo Minato, Musik von Antonio Draghi und Kaiser Leopold I., Ballettmusik von Johann Heinrich Schmelzer, Ballette von Santo Ventura, Bühnenbilder von Lodovico Ottavio Burnacini; Aufführung am 9. Juni 1671 im Großen Hoftheater. 51 Lünig: Theatrum Ceremoniale (wie Anm. 1). Bd. I. S. 458: "VII. Einige Observations über gewisse Puncte des Kayserl.Hof=Cercmoniels [...] 3. Bäncke in publicis Conventibus, als Comoedien ec. Auf der 1. sitzen die Ambassadeurs, auf der 2. die vornehmsten Hof=Bedienten, auf der 3. die Envoyes. Dahero entstund der Streit zwischen Lobkowitz und Gremonville, als dieser von der ändern nicht weichen wolte, daß ihn Lobkowitz abtrieb, also: andate via, sete coglione. Andere sagen, Lobkowitz habe eine Ohrfeige dazu gethan. Nol dico, non Thavendo visto, E sarebbe stato un Eccesso dt Liberalität

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von Frankreich, den er durch seinen Repräsentanten beleidigt hatte, förmlich entschuldigen.52 Bis zum Beginn des Spanischen Erbfolgekrieges entsandte der französische Hof keine Botschafter, sondern sogenannte 'Envoyes' oder "Residenten', Gesandte zweiter Ordnung, an den Wiener Hof.53 Dadurch sollten 51

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Bericht des Marino Zorzi vom 13. Juni 1671 an den Dogen Domenico Contarini nach Venedig. In: Seifert: Oper (wie Annt, 3). S. 738f.: "Venne I'lmperatore lunedl in Vienna per celebrar il giorno seguente suo Nataliüo, [,..] Un Opera in Musica si recitö il doppo pranso. Nacque accidente, ehe merita per la curiosita, et forse per le consequenze la notitia dell'Eccellentissimo Senate, Cremonuille entro nel Teatro qualche spatio avanti, ehe Sua Maestä comparisce, Egli si pose sopra il primo Banco, dietro quelle de Regij Ambasciatori; Nel medesimo sede il Prencipe di Locoviz Maggiordhuomo maggiore, et li principal! Ministri secondo l'ordine loro. Quando il Prencipe entro nel Banco vedendo Cremonuille, se li altero subito il sangue; stante l'amarezze passatte ogni causa e sufficiente a produrre commotioni; Li disse ehe ii Luoco era per loro, poi cominciö ad allargarsi con maniera di sdegno, et d'offesa verso Cremonuille; si puo dire ch'jnvece d'essersi ritirato scasciassc. Da lui provato l'aggravio s'accese parimente l'animo suo, esprimendo parole, ehe davano a eonoscere la sua agitatione, et l'estremo disgusto; si pose a seder in un banco vicino, per brevissimo tempo; osservando poco distante il Conte di Chinisech (recte: Königsegg). Vice Cancellier d'Imperio li disse, ehe Jo chiamava in testimonio dell'affronto fattoli dal Prencipe, Viene inoltre asserito, ehe mostrasse un piccolo Ritratto del suo Re, ehe tiene circondato da Diamanti ligato ad un braccio, esprimendosi ehe quello vendicherebbe il suo torto; Poi si levo impetuosamente, continuando sempre con voce confuse parole, et concetti iniiammati, et ardenti; Universalmente s'afferma, ehe in qualche distanza guardand'il Prencipe, con il dito lo minacciasse. II Prencipe accorgendosi s'alzo in piedi, et Ii disse due volte ch'era chiaramente un minchione. Cremonuille caminando non si sä, se habbia inteso; Certo , ch'in lontananza arrivarono le parole, Egli uscl dal Teatro, et non succede inconveniente peggiore; Nel moversi Cremonuille per partire passo appresso gl'Ambasciatori; lo essendo l'ultimo et il piu vicino al fatto indi non e dubbio, et sentij meglio degli altri; [...] Nell'ultima opera, ehe fu per la Regina di Spagna, ritrovandosi in molto favore appresso Locoviz non s'abbado, et l'introdusse; Lo poso in vicinanza del Banco delli Consiglieri di Stato, et in tutto lo spatio, ehe si recito sede appresso il Prencipe, ehe di continue discorse con lui con stiaordinario osservabile longhezza." Bericht dess. vom 20. Juni 1671, Ebd. S. 739f.: "{...] Greinonuille [...] II motiuo d'essersi posto nel luoco stesso hauere riceuuto la mattina nell'Anticamera dell'Imperatore dal Prencipe di Locouiz medesimo col mezzo del Camerier Maggiore hauere insinuate, la necessita, e prermira di comunicarli negotij important!; [...] hebbe in risposto ehe si ritrovasse il dopo pranso alia Comedia, dove si sarebbero visli con comodita, et tempo di discorrere; [...] Non piacque a Sua Maestä ad ogni modo la circostanz'essentiale, ehe per concerto con il Prencipe di Locoviz di discorrer in occasione della comedia publichi di essersi porto nel Banco, [...] il Prencipe J,..| non sofrirä, ehe aperisca d'haver accordato di parlarli nel publico Teatro in occasione si cospicua." Vgl. Lünig; Theatrum Ceremoniale (wie Anin. 1). Bd, I. S. 368-370: "I. Discours von der Eintheilung derer Gesandten, auch ihren Juribus und Privilegiis insgemein. {...] da giebt es Ordinair- und Extraordinair-Ambassadeurs, Ordinair- und ExtraordinairEnvoyes, Residenten, Agenten u.d.g. [...] Ein Ambassadeur ist mit dem Characters repraesentatitio versehen, und stellet die Person seines Principalen vor, dahero muß ihm auch bey dem Einzüge, in denen Visiten, bey der Audienz und ändern

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vor allem Rangstreitigkeiten mit den diplomatischen Vertretern Spaniens vermieden werden, die man auf Grund der Rivalität zwischen Habsburgern und Bourbonen berechtigt befürchtete.54 Da die 'Envoyes1 den Botschaftern rangmäßig nachgereiht waren, führte dies dazu, daß den französischen Gesandten auch in Fragen des Zutritts und der Sitzordnung bei theatralischen Veranstaltungen weniger Vorrechte eingeräumt wurden als ihren im Botschafterrang stehenden Kollegen."

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Gelegenheiten eben so viel Ehre und Respect erwiesen werden, als wenn sein hoher Principal selbst zugegen wäre. (...) Auf die Ambassadeurs folgen die Envoyes; diese sind nur bloß im Charactere, und dem daraus fliessenden Ceremoniel von denen Ambassadeurs unterschieden; Denn ein Ambassadeur hat einen Characterem repraesentatitium, ein Envoye aber nicht; und aus diesem Charactere entstehet nun der Unterscheid im Ceremoniel, daß man einen Ambassadeur mit grössern Ehrenbezeugungen, als einen Envoye annimmt. [...] Was übrigens die Verrichtungen derer Ambassadeurs und Envoyes betrifft, so kan ein Envoye eben das, was ein Ambassadeur, verrichten, und wenn sie gleich kein so ansehnliches Ceremoniel haben, als die Ambassadeurs, so sind sie doch manchmahl in ihrer Aufführung, Qvartier und Tafel eben so propre, ja wohl properrer, als mancher Ambassadeur. [,,.] Auf die Envoye"s folgen die Residenten, welches zwar auch Personae publicae, aber ohne Rang sind, und kein Ceremoniel, wohl aber die Inviolabilitat und Immunität praetendiren können. [..,] Ausser denen Residenten pflegen auch grosse Herren Agenten, und zwar gleiche bey gleichen, höhere bey geringern, und geringere bey hohem zu halten. Diese haben keinen Characterem, bekommen auch kein Creditiv, sondern nur Recommendations=Schreiben und eine offene Vollmacht von ihren Principalen." Vgl. Lünig: Theatrum Ceremoniale (wie Anm, 1). Bd. I. S, 450-452: "III. Nachricht von dem Ceremoniel, welches der Kayserl.Hof gegen auswärtiger Puissances publiques Ministres beobachtet, iitgleichen von demjenigen, so diese unter einander selbst am Kayserl.Hofe observiren. [.,.] Die Ministri primi gradus, Ambassadeurs, Gesandten, Botschaffter und Oratores, so an dem Kayserl.Hofe von vielen Jahren her sich eingefunden, seyn gewesen I). Die Nuntii des Päbstl.Hofes, als welche bey allen Catholischen Puissancen inter Ministros primi ordinis gerechnet werden, insonderheit weil insgemein ihren Vollmachten die Clausul beygefüget wird, cum potestate Legati a Latere. 2). Die Spanischen und Portugiesischen, die Savoyischen und Veneüanischen, zuweilen auch Czaarischen Ambassadeurs oder Botschaffter. Die übrigen gecrönten Häupter senden nur Envoyes anhero, und suchet insonderheit Franckreich hierdurch die Verdrießlichkeit der Competenz mit Spanien zu vermeiden, indem es leicht zu praesumiren, daß man an dem Kayserl.Hofe allezeit vor die Spanische Praerogativen sich favorable bezeugen werde, wie solches genungsam aus dem, was bey voriger Kayserl.Maj, piissim.Mem. Lebenszeiten mit dem Gremonville passiret, abzunehmen. [,..] Nota: Mit den Weibern der Herren Gesandten wird am Kayserlichen Hofe gar kein Ceremoniel observiret, [...]" Ebd. S. 27f: "Unter die practicablesten Mittel seinen Vorzug zu behaupten wird gezehlet (...) 6. Wenn man an den Ort, wo der Gegentheil, der uin die Praecedenz mit uns streitet, Ambassadeurs hat, und versichert ist, daß diesen im Rang vor uns werde favorisiret werden, zu Vermeidung allen Nachtheils, nur Residenten und Agenten schicket, wie es die Cron=Franckreich biß zu Anfang des Spanischen Successions^ Kriegs jederzeit am Kayserl.Hofe practicirct." Vgl. Lünig: Theatrum Ceremoniaie (wie Anm. 1). Bd. 1. S. 452: "Am Kayserl.Hof ist das Ceremoniale vor die Ambassadeurs einerley, sie mögen Extraordinaires oder Ordinaires seyn. An keinem Hofe in der Welt geschiehet denen Ambassadeurs so viel Ehre und grosse Distinction als an dem Kayserlichen; hingegen denen Envoyes an keinem

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Daß man am Kaiserhof gerade die französischen Ansprüche in zeremoniellen Dingen sehr ernst nahm und vorsichtig taktierte, um den König von Frankreich nicht zu vergrämen, zeigt eine Kontroverse um den Zutritt zu einem 'Kammerfest' im Jahre 1699. Dieser Streit, der in die politisch überaus brisante Zeit zwischen dem Frieden von Rijswijk (1697) und dem Beginn des Spanischen Erbfolgekrieges (1701) fiel, war wegen seiner möglichen Konsequenzen so bedeutsam, daß er nicht nur in den Zeremonialakten und -protokollen des Obersthofmeisteramtes56 seinen Niederschlag fand, sondern auch in den Zeremonialbüchern Lünigs," Stieves58 und Mosersi9 mehr oder weniger ausführlich abgehandelt wurde. Am 28. Januar 1699 feierte man die Verlobung von König Joseph I. mit Prinzessin Amalie Wilhelmine von Braunschweig-Lüneburg. Erzherzog Karl veranstaltete aus diesem Anlaß für seinen Bruder eine Serenata mit anschließender festlicher Tafel und Tanz, Dazu erschienen die kaiserlichen und königlichen Majestäten, alle erzherzoglichen Kinder, der päpstliche Nuntius und der venezianische Botschafter, Die beiden Diplomaten waren allerdings nicht offiziell dazu eingeladen worden, sondern hatten selbst angefragt, ob sie kommen dürften. Im Anschluß an die Tafel wurde bis drei Uhr früh im großen Saal getanzt. Bei der Tanzveranstaltung handelte es sich um ein echtes 'Kammerfest', zu dem nur die kaiserlichen Minister und Kämmerer zugelassen waren. Die Botschafter genossen das Privileg, aus eigens für sie eingerichteten Logen inkognito dem festlichen Treiben zuschauen zu dürfen. Noch bevor das Fest anfing, fanden sich auch der französische Gesandte Marquis de Villars und sein niederländischer Kollege Hoop dort ein, die aber als einfache 'Envoyes' zu einem solchen Privatfest keinen Zutritt hatten. Der Obersthofmeister Erzherzog Karls, Fürst Liechtenstein, versuchte sie daher zu entfernen, doch gelang es ihnen, sich an einem Wachorgan vorbei in den Festsaal

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Hof weniger. Die Ursache ist, daß an keinem Hofe so viel Envoyis sind, als an dem Kayserlichen, weil so viele grosse und kleine Fürsten, weltliche und geistliche, so gar gefürstete Aebte, Praelaten, Aebtißinnen und Grafen aus dem Reich, auch Deputirte von der immediaten Ritterschaffl, und von Reichs=Städten am Kayserl. so viel zu negotiiren haben, und eines jedweden auch kleinen Fürstens Abgesandter nicht weniger, als eines grossen und mächtigen Fürstens seyn will, auch der geistlichen Fürsten Abgesandten der weltlichen ihren vorzugehen praetendiren, und sonst der Kayserl. Hof gar zu offt und gar zu sehr embarassiret seyn würde, wenn er nicht fast alles Ceremoniale, Rang und dergleichen ratione Ministrorum secundi ordinis abgeschaflet hätte', doch werden gleichwohl der Könige und Churfürsten, auch mächtiger Fürsten Envoyes sonsten genung distinguiret und ändern vorgezogen, obgleich das Ceremoniale einerley ist, wie dann diese auch die gröste Figur machen," 28. Januar 1699 Konflikt zwischen dem Fürsten Liechtenstein und dem französischen Gesandten Villars sowie dem niederländischen Gesandten Hoop wegen des Zutritts zum Verlobungsfest von Joseph 1. In; HHStA, Ält.ZA 19. Unfol, und Zer.Prot.5, Fol. 546v-548v. Vgl. Lünig: Theatmm Ceremoniale (wie Arun. 1). Bd. I. S. 433 f. Vgl. Gottfried Stieve: Europäisches Hof=Ceremoniel, [...j. 2. verm. Aufl. Leipzig: Johann Friedrich Gleditsch jun. 1723, S. 276f (Fußnote). Vgl. Moser: Teutsches Hof=Recht (wie Anm. 9). S. 486-491.

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hineinzuschmuggeln. Auf die neuerliche Bitte des Obersthofineisters, sich zurückzuziehen, protestierte Villars, er könne ebenso gut wie jeder andere Botschafter an dem Fest teilnehmen. Erst als Liechtenstein ihn an seine Pflichten Erzherzog Karl gegenüber erinnerte, bei dem er noch nicht einmal seine Antrittsaudtenz absolviert hatte, gab der französische Gesandte nach und entfernte sich. Der Holländer hingegen blieb noch ein wenig bei der Tür stehen und bat Liechtenstein, ihn noch einmal in den Saal hineinzulassen, damit er die Festdekorationen bewundem könne, was er als einziges Motiv seines Kommens vorgab. Er versprach, sich zurückzuziehen, sobald der Kaiser erschiene, blieb dann aber aus Neugierde so lange, bis er Joseph L tanzen sah. Bis zu diesem Punkt schildert das Zeremonialprotokoll den Ablauf der Kontroverse, doch damit war die Sache keineswegs bereinigt, denn Marquis de Villars erstattete dem französischen König Bericht davon und erhielt die Order, sich nicht nur vorn Kaiserhof fernzuhalten, sondern auch eine förmliche Entschuldigung vom Fürsten Liechtenstein zu fordern. Der Kaiser wollte die Angelegenheit gerne friedlich beilegen, um die Friedensverhandlungen mit den Franzosen nicht zu beeinträchtigen, und man überlegte in mehreren Hofkonferenzen, wie man den französischen Gesandten zufriedenstellen könnte, Zwei Möglichkeiten wurden erwogen: Entweder wollte man ein zweites Fest beim Erzherzog veranstalten und Villars dazu einladen, oder Fürst Liechtenstein sollte an einem dritten Ort wie zufällig mit ihm zusammentreffen und sich bei dieser Gelegenheit entschuldigen. Villars verlangte jedoch eine förmliche Entschuldigung in seinem Hause, die bis zum 26. April erfolgen sollte; andernfalls müsse er unweigerlich sofort abreisen. Er überzog den Termin zwar um drei Tage, machte dann aber Anstalten, tatsächlich abzureisen. Um einen Eklat und dessen Folgen zu vermeiden, griffen der päpstliche Nuntius, der spanische, savoyische und venezianische Botschafter vermittelnd ein, und die Sache konnte noch am selben Abend durch ihr diplomatisches Geschick beigelegt werden. Es wurde vereinbart, daß die Schwester des Fürsten von Liechtenstein diesen zu einem Spielabend einladen sollte, wodurch der französische Gesandte, der in ihrem Hause wohnte, Gelegenheit hatte, wie zufällig mit Liechtenstein zusammenzutreffen und seine Entschuldigung entgegenzunehmen. Damit war den Forderungen beider Parteien Genüge getan: Marquis de Villars konnte seinem König berichten, daß der Fürst ihm den gebührenden Respekt bezeugt habe, und dieser mußte sich nicht zu einer förmlichen Visite herablassen. Wie bedeutsam die Beilegung eines solchen zeremoniellen Konflikts war, geht daraus hervor, daß man ernsthaft zumindest eine Verzögerung der Verhandlungen mit Frankreich, wenn nicht sogar neue kriegerische Auseinandersetzungen befürchtete.60 So konnte man erleichtert aufatmen, als der fran60

Vgl. Lünig: Theatrum Ceremoniale {wie Anm. 1). Bd. I. S. 434: "Jedermann war hierauf wegen dieses Vergleichs vergnügt: Denn ob wohl deßwegen kein neuer Krieg wäre zu besorgen gewesen, so wäre doch vielleicht die Frantzösische Executio Pacis dadurch gehemmet, wenigstens die bißherige Tergiversation coloriret worden, welches doch

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zösische Gesandte wieder an den Kaiserhof kam, um im Namen seines Königs zur inzwischen vollzogenen Vermählung Josephs I. zu gratulieren. Seine Audienz bei Erzherzog Karl verzögerte sich allerdings bis zum März des folgenden Jahres, weil man sich auch dabei über das Zeremoniell nicht einigen konnte. Hier setzte sich schließlich der Kaiserhof durch: Marquis de Villars mußte die Audienz entblößten Hauptes absolvieren, obwohl er gefordert hatte, seinen Hut gleichzeitig mit dem Erzherzog aufsetzen zu dürfen; dies stand aber wiederum nur den Botschaftern zu, nicht aber dem französischen Gesandten als einem 'Minister secundi ordinis'. Dem heutigen Leser dieser Quellen mögen derartige Befürchtungen übertrieben, all die angedeuteten zeremoniellen Zwistigkeiten kleinlich und unbedeutend erscheinen, doch der barocke Mensch, der sich über seinen Rang in der höfischen Gesellschaftsordnung definierte, wurde in seinem innersten Selbstverständnis erschüttert, wenn man diesen Rang nicht respektierte. Ein Wandel in dieser Bewußtseinshaltung zeichnete sich erst mit dem Eindringen der Ideen der Aufklärung ab, Maria Theresia war noch von der unerschütterlichen, von Gott gewollten Herrschaft ihres Hauses überzeugt und reagierte empfindlich auf Rangverletzungen; ihr Sohn Joseph II. hingegen legitimierte seine absolute Macht mit dem Hinweis auf seine Funktion als 'erster Diener des Volkes1; auch die Herrscher waren nur Menschen, deren Ausnahmestellung nicht mehr durch ihren göttlichen Auftrag, sondern nur durch ihre rastlose Tätigkeit für das Wohl der Untertanen gerechtfertigt war. Mit der Säkularisierung des Herrscherbildes mußte auch die bis dahin verbindliche ständische Pyramide in sich zusammenfallen. Anlaß zu allerhand Widerwärtigkeiten hätte geben können. Jedoch sind etliche in den Gedancken gestanden, daß es besser gewesen; wenn man des Französischen Ministri am Kayserlichen Hof auf eine Zeitlang Joß worden, wei] die damahligen Conjuncturen keine Spione haben wollen. Aber diejenigen, welche so bedachtsam raisoniren, wissen nicht, wie groß die Menge der Frantzösischen Spionen in Wien ist." und Moser: Teutsches Hof^Recht (wie Anm. 9). S. 490: "II est certain, que les Cours de Vienne & de France, elevees dans cette ancienne Jalousie qui excitoit entre elles des guerres presque continuelles depuis Charle quint & Francois I. n'avoient pas eu pour premier objet de se reunir sincerement dans la circonstance de la mort prochaine du Roi d'Espagne. Chacun de son cöte" avoit cherche ä se faire des alliances apres la paix de Riswic, & 1'Angleterre & la Hollande etoient les premieres auxquelles on s'otoit addresse. Ces puissances avoient un si grand interSt ä ne souffrir jamais la reunion des deux Maisons, qu'elles les flattoient egatement d'entrer dans leur parti. La Cour de Vienne, qui venoit de soutenir une longue guerre de concert & liguee avec elles, n'avoit pas obtenu dans la paix les conditions qu'elle desiroit. Elle continua la guerre encore un an. Le sujet qu'elle en avoit etoit que ces deux Puissances avoient conclu une paix particuliore; ce qui avoit determine le Comte Kinsky au dessein de reunir les Maisons de France & d'Autriche. Projet deja forme par le Comte de Stratman, & qui auroit aussi glorieux qu'utile a ces deux grandes Maisons, s'il avoit pu reussir, Mais elles avoient de si fortes raisons de cacher ce dessein, & 3e Sr.Hoop Ministre d'Angleterre & de Hollande si attentif ä le pe"n£trer, que 1'on ne pouvoit tenir trop secrettes les plus legores demarches. C'est aussi ce qui fit trainer si longtems l'accomodement de l'affaire, qui eloignoit le Marquis de Villars du Palais de l'Eflipereur."

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Der gesellschaftliche Umstrukturierungsprozeß, den Joseph II. gemäß dieser neuen Bewußtseinshaltung einleitete, manifestierte sich zuerst in zeremoniellen Veränderungen: die höfische Tracht, das sogenannte 'spanische Mantelkleid', wurde abgeschafft; sämtliche dynastischen Geburts- und Namenstage, die man bisher mit öffentlichem Kirchgang und Festvorstellungen gefeiert hatte, wurden auf einen großen Galatag, den Neujahrstag, konzentriert; die großen repräsentativen Feste wurden eingestellt, die zeremoniellen Vorschriften gelockert. In einem Theater, das nicht mehr der höfischen Repräsentation diente, sondern mehr und mehr als Ort der bürgerlichen Erziehung und bildungsgemäßen Unterhaltung verstanden wurde, das einer immer größer werdenden, zahlenden Allgemeinheit geöffnet wurde, verloren auch Rang- und Sitzordnungen ihren Sinn,

Joachim Ott

Vom Zeichencharakter der Herrscherkrone Krönungszeremoniell und Krönungsbild im Mittelalter: Der Mainzer Ordo und das Sakramentar Heinrichs 11.

l Das Zeremoniale Karls V. und die ersten Ansätze zur Illustration des Krönungszeremoniells im hohen Mittelalter Am 22. Februar 1530, zwei Tage vor seiner Kaiserkrönung, wurde der Habsburger Karl V. durch Papst Clemens VII. mit der 'Eisernen Krone' der lombardischen Königsherrschaft und weiteren Insignien investiert. Ort dieser nicht Öffentlichen Handlung war die Kapelle des Palazzo Comunale in Bologna, der in diesen Tagen als päpstlicher Palast diente. Im Zusammenhang mit dem Ereignis der Königskrönung entstand damals ein Zeremoniale, das einzelne Handlungsschritte der Einsetzungszeremonie und die dabei jeweils feierlich gesprochenen Formeln in einer schmuckvollen Buchausfertigung präsentiert. Der Codex ist vermutlich in Rom hergestellt worden und befindet sich heute in der Vatikanischen Bibliothek unter der Signatur Cod. Borg. Lat. 420.' Bei der Lektüre der Texte im Zeremoniale muß zunächst zweierlei auffallen: Zum einen wirkt das Geschriebene wie eine Art historischer Bericht, weil die einzelnen Handlungsschritte des Zeremoniells sprachlich in der Vergangenheitsform dargestellt, also als bereits vollzogen vorgeführt werden. Aus diesem Grund könnte das Buch erst nach der Bologneser Königskrönung Karls V, entstanden sein.2 Zum anderen kodifiziert die Handschrift nur einen Teil der am 22. Februar tatsächlich gesprochenen Gebete und getätigten Handlungsschritte, wie aus dem Vergleich mit der genauen Schilderung des Ereignisses von der Hand des päpstlichen Zeremonienmeisters Biagio da Cesena ersichtlich wird. Die dort beschriebene Salbung etwa wird im Zere-

Die Handschrift ist als Faksimile mit Kommentarband publiziert: Das Krönungszeremoniale Kaiser Karls V. Codex Borgianus Latinus 420. Bearb. v. Bernhard Schiminelpfennig und Giovanni Morello. Zürich 1989 (Codices e Vaticanis selecti quam simillime expressi iussu loannis Pauli PP II cortsilio et opera curatorum Bibliothecae Vaticanae, Vol. LXXVII). Darin Bernhard Schimmel pfennig; Historische Einführung, S. 11-49 (zu den Ereignissen der Investitur von 1530); Giovanni Morello: Kodikologie. S. 51 - 58, vermutet die Entstehung der Handschrift in Rom (S. 53). Schimmelpfennig: Einführung (wie Anm, 1). S. 31f. Vgl. dagegen unten, Anm. 7.

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moniale nur im Nebensatz abgetan, anderes gar nicht erwähnt.3 Die Konzeption des Krönungsbuches wirft also im einzelnen einige Fragen auf, seine in formaler Hinsicht maßgebliche Vorlage allerdings läßt sich unschwer bestimmen. Im allgemeinen ist es der Quellengattung der seit dem frühen Mittelalter in verschiedenen Varianten und an verschiedenen Orten immer wieder aufgeschriebenen sogenannten Kronungsordines zuzuordnen, die sich alternierend aus Handlungsanweisungen und Gebetstexten zusammensetzen und somit als schriftlicher Leitfaden für die jeweils beteiligten Akteure den Ablauf der kirchlichen Investiturzeremonie von Herrschern fixieren.4 Im besonderen aber lassen sich die Gebetsformeln im Zeremoruale von 1530 so gut wie gänzlich auf ein bestimmtes Urbild zurückführen: Zum großen Teil stellen sie eine neuerliche Abschrift jener zuvor über Jahrhunderte hinweg tradierten Orationen dar, die um 960 in Mainz für den sogenannten Mainzer Ordo für die Krönung des deutschen Königs kompiliert wurden und deren Wurzeln wiederum teilweise in eine noch frühere Zeit reichen.5 Auch die Kronformel im Zeremoniale weicht in ihrem Wortlaut und damit auch in ihrer Aussage bis auf ein - wenn auch bezeichnendes - Detail nicht von der alten Tradition ab.6 Dazu Schimmel pfennig: Einführung (wie Anni, 1). S. 30-43; Diario des Biagio Martinelli da Cesena: Rom, Bibliotheca Apostolica Vaticana, Cod, Vat. Lat 12276, bes. cap. 221-228. Zu den Kronungsordines vgl. etwa die kommentierte Edition von Reinhard Elze: Die Ordines für die Weihe und Krönung des Kaisers und der Kaiserin (Ordines coronationis imperialis), Monumenta Germaniae Historica (im folgenden: MGH) Font. iur. Germ. ant. in us. schol. 9. Hannover 1960, Der Mainzer Ordo ist als Bestandteil des Pontificals Romano-Germanicum überliefen: Le pontifical Romano-Germanique du dixieme siede, Le texte. Hg, v. Cyrille Vogel und Reinhard Elze. Bd. 1. Citta del Vaticano 1963 (Studi e Testi 226), hier Nr. LXXH. S, 246-261 (Ordo ad regem benedicendwn quando novas a clero et popuh sublimatur in regnum). Vgl. Forschungsbericht und inhaltliche Besprechung von Percy Ernst Schramm: Der Ablauf der deutschen Königsweihe nach dem "Mainzer Ordo" (um 960). In: Ders.: Kaiser, Könige und Päpste. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte des Mittelalters. 4 Bde, Stuttgart 1968-1971, hier Bd. 3. S. 59-107 (für diese Studie im folgenden verwendet: Bd. 1. 1968: Betträge zur allgemeinen Geschichte. Erster Teil: Von der Spätantike bis zum Tode Karls des Großen (814). Bd, 3. 1969: Beiträge zur allgemeinen Geschichte. Dritter Teil: Vom 10. bis zum 13. Jahrhundert. Bd. 4,2. 1971: Beiträge zur allgemeinen Geschichte. Vierter Teil, 2. Hälfte: Zur Geschichte von Süd-, Südost- und Osteuropa. Zusammenfassende Betrachtungen). Der Anfangssatz der Formel lautet hier; "Accipe coronam regni Lombardie in nomine Pa+tris et Fi+lii et Spiritus+Sancti, quam [etc.]," Text in: Krönungszeremoniale Kaiser Karls V. (wie Anm. 1). S. 46f. Der über die Mittlerstellung des geistlichen Coronators Auskunft erteilende Zusatz über die unwürdigen Hände der Bischöfe im entsprechenden Text des Mainzer Ordo ("quae licet ab indigrtis episcopomm tarnen manibus capiti tuo imponitur [etc.}," vgl. Anm, 41) fehlt zwar in der Kronformel des Zeremoniale, wird dort aber in der entsprechenden Passage der Schwertformel ("Accipe gladium desuper sumptum per nostras manus licet indignas [etc.]" Krönungszeremoniale Kaiser Karls V. S, 46) gleichwohl beibehalten. Nachweise fiir die außergewöhnliche Verbreitung der Mainzer Kronformel in vielen Staaten Europas bis ins 20. Jh. versammelt

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Der in großformatiger Schrift auf 20 Blätter großzügig verteilte Text des Cod. Borg. Lat. 420 ist im allgemeinen durch relativ einfache Initialen gegliedert. Die Doppelseite fol. 3v-4r (Abb. 109) fällt dagegen aufgrund ihrer reichen, teilweise illusionistischen Ausschmückung besonders ins Auge. Hier wird unübersehbar Papst Clemens VIL gerühmt, dessen Name dreimal und dessen Wappen zweimal erscheint, begleitet von Devisen. Vollends zur Geltung kommt Clemens schließlich in der Miniatur auf dem rechten Blatt (fol. 4r, Abb. 110), die dort den Anfangsbuchstaben ' vom Beginn der Formel zur Ringübergabe - "[AJccipe Regie dtgnitatis Anulum" etc. - ersetzt. Zu sehen ist der Moment, in dem Papst Clemens VII. Karl V. die Tiiserne Krone' aufsetzt, entsprechend der Überschrift gegenüber auf fol. 3V: "CORONATIO FERREA". Zeugen der Handlung sind vier Kardinale, mehrere Bischöfe und vier weltliche Personen, deren Anwesenheit sich in genau dieser Anzahl auch historisch für die Zeremonie vom 22. Februar 1530 nachweisen läßt. 7 Die Gewichtung der beiden Protagonisten ist überdeutlich: Dem würdevoll thronenden Papst als Coronator gilt die Ehrerbietung des Malers, nicht dem demütig knienden König, der sicher nicht zufällig von der Massigkeit und dem vorgeschobenen Knie eines der Kardinale beinahe erdrückt wird und dessen Name auf der Doppelseite nirgendwo zu finden ist. Das Bild ist das einzige in der Handschrift, und es bietet zudem einen inhaltlichen Bezug zum Text, wenngleich es nicht an der ihm eigentlich gebührenden Stelle, d. h, vor der Kronforrnel, positioniert worden ist. Jedenfalls kam es hier darauf an, den Krönungsakt, so wie er in der Realität stattfinden sollte bzw. stattgefunden hatte, anschaulich vorzuführen - wenn auch mit tendenziöser Ausrichtung. Insgesamt betrachtet wird in diesem Krönungsbuch, das man besser 'Zeremoniale Clemens' VII,', nicht 'Zeremoniale Karls V.', nennen sollte, das kirchliche Zeremoniell mit seinen Handlungsträgern und seinem architektonischen Bezug in einer Einheit von Orifo-Text und begleitendem Bild zugleich literarisch und optisch nachvollziehbar gemacht. Ein solches Bemühen um die - mehr oder weniger - an der zeremoniellen Realität orientierte Verbildlichung einer Krönungszeremonie war der Kunst des abendländischen Kulturraumes im frühen und hohen Mittelalter lange Zeit fremd. Erst aus dem 12. Jahrhundert sind vereinzelte Herrscherkrönungsdarstellungen greifbar, auf denen zu sehen ist, wie etwa der Papst dem Kaiser die jetzt Jürgen Petersohn; "Echte" und "falsche" Insignien im deutschen Krönungsbrauch des Mittelalters? Kritik eines Forschungsstereotyps. Stuttgart 1993 (Sitzungsber. d. wiss. Gesellsch. an d. Joh. Wolfg. Goethe-Univ. Frankfurt a.M. Bd. 30. Nr, 3). Hier S. 89. Morello: Kodikologie (wie Anm. 1). S. 56f. Morello kann sich, im Gegensatz zu Schimmelpfermig: Einführung (wie Anm. 2), eine nachträgliche Anfertigung der Handschrift nicht vorstellen: "Da das Manuskript aber eine bestimmte Zeit vor dem Ereignis der Krönung selbst geschrieben und mit der Miniatur versehen worden ist, lassen sich in den in der Miniatur dargestellten Figuren wohl kaum die tatsächlich bei der Krönung anwesenden Personen erkennen, auch wenn die Zahl seltsamerweise übereinstimmt." (S. 56).

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Krone aufsetzt,8 Diese Bilder sind jedoch - im Gegensatz zu den Herrscherkrönungsbüdem der karolingi sehen und der ottonisch-frühsalischen Zeit nicht einem kirchlichen Zusammenhang zuzuordnen. Sie sind etwa in panegyrischen Chroniken zu finden und sind teilweise kein Produkt einer königlichen oder kaiserlichen Auftraggeberschaft. Das aufgrund der mit ihm verbundenen Streitigkeiten bekannteste unter diesen Darstellungen war geradezu ein 'politisches' Bild. Papst Innozenz H. hatte zwischen 1135 und 1143 auf einem Wandgemälde im Lateranpalast in Rom bildlich darstellen lassen, wie er den deutschen Herrscher Lothar III. zum Kaiser krönt, und diesen vor allem vermittels einer tendenziösen, in der Zeile "Post homo fit papae sumit quo dante coronam" mündenden Beischrift zum 'Mann des Papstes' degradiert. Vor dem Hintergrund der nach wie vor aktuellen Auseinandersetzungen um die gegenseitige Position von regnum und sacerdotium war das Kirchenoberhaupt damit einen Schritt zu weit gegangen. Der später beim Anblick des Gemäldes und seiner Beischrift erboste Kaiser Friedrich l. Barbarossa lieferte sich darüber eine ernste Auseinandersetzung mit Papst Hadrian IV., forderte mehrfach die Zerstörung des Streitobjektes und konnte wohl immerhin die Tilgung der Beischrift erreichen.9 Krönung Heinrichs VI. durch Papst Coelestin III. im Über ad honorem Augusti des Petrus de Ebulo. Ende 12. Jh. Bern. Burgerbibliothek. Cod. 120. Fol. 105r (12r). Gerhart B, Ladner: Die Papstbildnisse des Altertums und des Mittelalters. 3 Bde. Citta del Vaticano 1941-1984, hier Bd. 2. 1970. S. 46-52. Taf. VIII. Übergabe von Herrschaftszeichen an Heinrich V. durch Papst Paschalis II. in einer früheren Fassung der von Ekkehard von Aura fortgeführten Kaiserchronik, Überliefert in Cambridge. Corpus Christi College. Ms. 373. Fol. 83r (1113-1114). Percy Ernst Schramm: Die deutschen Kaiser und Könige in Bildern ihrer Zeit, München 2 1983. S. 250. Nr. 184, Zu einer verkürzten Darstellung der Salbung und Krönung eines Herrschers durch einen Bischof auf dem heute verlorenen sogenannten Hincmar-Grabmal in Reims, St.Remi, die vielleicht mit der Einsetzung von Philipp, dem Sohn des französischen Königs Ludwig VI., durch den Erzbischof von Reims im Jahr 1129 in Zusammenhang zu bringen ist, vgl, Richard Hamann-MacLean: Die Reimser Denkmale des französischen Königtums im 12. Jahrhundert: St.-Remi als Grabkirche im frühen und hohen Mittel alter. In: Beiträge zur Bildung der französischen Nation im Früh- und Hochmittelalter. Hg. v, Helmut Beumann. Sigmaringen 1983 (Nationes. Historische und philologische Untersuchungen zur Entstehung der europäischen Nationen im Mittelalter 4). S. 93-259, bes. S. 201-254. Die Vita des hl. Edmund aus Bury St. Edmunds von ca. 1130 in New York. Pierpont Morgan Library. Ms. M. 736 stellt das einzige Beispiel dafür dar, daß ein - allerdings langst verstorbener und heiliger König sowohl in der 'historischen' Situation seiner irdischen Krönung durch geistliche Würdenträger (fol. 8V) als auch seiner späteren himmlischen Krönung durch Engel {fol. 22v) gezeigt wird. Vgl. dazu Cynthia Hahn: Peregrinaüo et Natio. The Illustrated Life of Edmund. King and Martyr. In: Gesta 30 (1991). S. 119- 139, Fig. 4. 19 (Lit.). Eine umfangreiche Denkmälersammlung zur Ikonographie des mittelalterlichen Herrscherkrönungsbildes bietet Nikolaus Gussone: "Krönung". In: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 2. 1970. Sp. 661-671. Ladner: Papstbildnisse (wie Anm. 8). Bd. 2, 1970. S. 17-22; Schramm: Kaiser und Könige in Bildern (wie Anm. 8), S. 256. Nr. 198, hier jeweils die Quellen und weitere Literatur,

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Betrachtet man den erhaltenen Denkmälerbestand der Zeit vor dem 12. Jahrhundert, so finden sich lediglich zwei künstlerisch relativ einfache Buchillustrationen, die ausnahmsweise den zeremoniellen Handlungsschritt der Kronenvergabe 'realistisch1 abbilden: Im Sakramentar des Bischofs Warmund von Ivrea aus der Zeit um 999-1001 ist eine Miniatur enthalten, auf der zu sehen ist, wie ein Bischof einem Herrscher eine große Reifenkrone auf das Haupt senkt. Die Szene spielt sich vor einem Altar in Anwesenheit weiterer Geistlicher ab.10 Auf einer Zeichnung in einem Pontifikale in Schaffhausen, das neuerdings in die Mitte des 11. Jahrhunderts datiert wird und entgegen früherer Ansicht nicht in Schaffhausen entstanden ist, berühren zwei Erzbischöfe die Krone und das Szepter eines in ihrer Mitte stehenden Herrschers - gemeint ist die Investitur mit diesen Herrschaftszeichen (Abb. 111).11 Es ist 10

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Sakramentar des Warmund. Ivrea. Biblioteca Capitolare. Ms. LXXXVI. Fol. 2r; Robert Deshman: Otto III. and the Warmund Sacramentary: A Study in Political Theology. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 34 (1971). S. l -15. Zu beachten ist, daß sich in derselben Handschrift - allerdings nicht mehr dem Ordo, sondern dem eigentlichen Sakramentar, hier der missa pro regibus zugehörig - eine Miniatur befindet, die Maria im Segensgestus und mit einem Szepter in der Hand gegenüber dem sich vor ihr verbeugenden Kaiser Otto III. zeigt (fol. 16lr). Vgl. zum Sakramentar, seinem Auftraggeber und den Miniaturen zuletzt Adriano Peroni; II ruolo della committenza vescovile alle soglie del mille: il caso di Warmondo di Ivrea. In: Committenti e produzione artisticoletteraria neü'alto medioevo occidentale. Spoleto 1992 (Settimane di studio del centre italiano di studi sull'alto medioevo 39). S. 243-271, bes. fig. l, 3. Pontifikale mit einer Abschrift des Mainzer Königskrönungsordo, mittel/stidostdeutsch. Schaflhausen, Stadtbibliothek, Ministerialbibliothek. Min, 94. Fol. 29r; Schramm: Kaiser und Könige in Bildern (wie Anm. 8). S. 237. Nr. 165; Konrad und Margarete Weidemann: Katalogbeitrag "Pontifikale mit Krönungsordo", In: Das Reich der Salier 1024-1125. Ausstellungskatalog. Sigmaringen 1992. S. 421 u, 424 (Raum 14, Vitrine 2) (Lit); Rolf Lauer: Katalogbeitrag "Schaffhauser Pontifikale". In: Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen. Ausstellungskatalog. Hg, v, Michael Brandt und Arne Eggebrecht. 2 Bde. Hildesheim/Mainz 1993, hier Bd. 2. S. 176- 178. Nr. IV-28, hier zur neuen Lokalisierung und Datierung des Pontifikale (auf der Basis eines dem Autor vorab zur Verfügung gestellten Textes für den Katalog der mittelalterlichen Handschriften der Ministerialbibliothek Schaffhausen, der bei Beendigung meines Beitrags noch nicht erschienen ist). - Eine Sequenz des Teppichs von Bayeux (letztes Viertel 11. Jh.), Bayeux, Musee de la Reine Mathilde, spielt auf eine Krönungshandlung an, die zwischen zwei Ereignissen zu denken ist: Nach dem Tod König Edwards des Bekenners (1066) wird dessen Nachfolger Harald die englische corona regis angeboten, unter der er im folgenden Bild bereits thront, angetan mit weiteren Insignien, zu denen ihm noch das Schwert gereicht wird; David J. Bernstein: The Mystery of the Bayeux Tapestry, London 1986, bes. S. 117-123, Pl. 70 und XXXI. - Den Mainzer Ordo enthält nochmals ein späteres Pontifikale in Engelberg, Stiftsbibliothek, Cod. 54, das in die Zeit des späten 12. und frühen 13. Jahrhunderts datiert wird. Der Beginn der ersten Oratio des Ordo-Textes ("Omnipotens semper deus" etc.) wird durch eine 0-Initiale markiert, in die - in Anknüpfung an die Tradition der beiden früheren Bilder - die Investitur des Königs mit Krone und Szepter durch zwei ihn flankierende Bischöfe gemalt ist (fol. 19V); Scriptoria medii aevi helvetica. Denkmäler schweizerischer Schreibkunst des Mittelalters. Hg. von A. Bruckner. Bd. VIII: Schreibschulen der Diözese Konstanz,

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jedoch ersichtlich, daß es sich weder bei dem einen noch bei dem anderen Bild um die Wiedergabe eines historischen Ereignisses, also der realiter vollzogenen Krönung eines bestimmten Herrschers handelt. Beide Illustrationen sind Bestandteil eines den Mainzer Ordo kopierenden Krönungsordo, der jeweils in die Handschriften integriert ist. Anders als später im Zeremoniale von 1530, in dem ein Ordo mit einem an den konkreten historischen Anlaß erinnernden Krönungsbild verbunden ist, dienen die beiden frühen Bilder der Illustration einer beliebig wiederholbaren Situation: Sie führen visuell vor, was während einer Herrscherkrönungszeremonie zu geschehen habe. Insofern sind sie hinsichtlich ihrer Intention und hinsichtlich der mit ihnen verbundenen Textgattung nicht mit den üblichen mittelalterlichen Herrscherkrönungsbil· dern vor dem 12. Jahrhundert vergleichbar. Diese wurden in der Regel von Königen und Kaisern in Auftrag gegeben, die hier ihre himmlische Krönung durch die göttliche Hand, Christus, Heilige oder Engel ins Bild setzen ließen. Die Beobachtung, daß sich die Zeichnung im Schaf/hausener Pontißkale (Abb. 111) von diesen Herrscherkrönungsbildem deutlich unterscheidet, weil sie nicht den himmlischen, sondern den irdischen Coronator vorführt, hat in der Forschung zu bemerkenswerten Interpretationen geführt: "Nichts kann daher den Wandel der Weltordnung, der sich in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts im Kampf zwischen Kaiser und Papst vollzog, besser anzeigen" als dieses Bild (Florentine Mütherich), das "eine programmatische Bekundung von der neuen Auffassung über die Herkunft und Verleihung des Herrscheramtes" und daher wohl "für den neu zu bildenden Schatz des Gegenkönigs gedacht gewesen" sei (Konrad und Margarete Weidemann). Der Mut zu solchen Konstruktionen, die diese recht einfache Zeichnung gleichsam als politisches Paradedenkmal auf den Schild heben, ist gänzlich motiviert durch die Annahme einer Entstehung der Handschrift in Schaffhausen selbst, also in einem irn Investiturstreit auf der Seite des Papstes stehenden Kloster. Eine politische Bewertung des Bildes erledigt sich aber zum einen schon dann von selbst, wenn man der in der Forschung jüngst vorgeschlagenen Lokalisierung des Buches in einen ganz anderen Kontext folgen möchte. Zum anderen steht dieses Bild - und genauso ja auch bereits die lange vor dem Ausbruch des Investitur Streits entstandene Krönungsminiatur im Warmund-Sakramentar mit seinem rein illustrativen Charakter wie gesagt ohnehin in einem gänzlich anderen Sinnzusammenhang als die 'himmlischen1 Krönungsbilder. Eine Gegenthese wäre außerdem die Meinung von Rolf Lauer, der angesichts der Zeichnungen im Schaffhausener Pontifikale und anderer Miniaturen jetzt wieder - in Anknüpfung an entsprechende Mutmaßungen in seiner Dissertation - die Existenz einer "Bildfolge zum Mainzer Krönungsordo" geltend machen möchte, "die wohl um 960 im Kloster St. Alban zu Mainz entstanden ist und die entscheidenden [sie!] Einfluß auf zahlreiche [sie!] Herrscherbilder des ausgehenden 10. und 11. Jahrhunderts hatte". Die von Lauer Stift Engelberg. Genf 1950. S. 120f. mit Taf. XXXVII; Schramm: Kaiser und Könige in Bildern (wie Anm. 8). S. 237.

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verglichenen, recht verstreuten Bilder bleiben m. E. jedoch auch ohne ein solches konstruiertes 'Zwischenglied1 je für sich erklärbar. Zumindest ist das Ansinnen des Autors nicht akzeptabel, seine Spekulation - mehr kann in der Regel aus solchen Bildvergleichen nicht erwachsen - als gesichert zu suggerieren (etwa durch Worte wie "wahrscheinlich" - "bestätigt" - "kann kaum gezweifelt werden").12 Die beiden der spezifischen Quellengattung der Ordines zugehörigen Illustrationen im Warmund-Sakramentar und im Schaffhausener Pontißkale werden gerade dann in ihrer Ausnahmeposition erkennbar, wenn man sie neben diejenigen eben bereits erwähnten Bilder stellt, die den irdischen Herrscher mit seinem himmlischen Coronator zusammenbringen. Diesen Objekten sind die nun folgenden Ausführungen gewidmet, wobei es hier nicht darum gehen kann, die zahlreich vorhandenen Beispiele zu benennen, die erstmals bereits im 4. Jahrhundert und in der Folge sowohl im byzantinischen als auch im abendländischen Kulturbereich im Rahmen einer christlich geprägten Herrscherkunst zu finden sind. Das Blickfeld soll hier auf das westliche Herrschertum des frühen und hohen Mittelalters beschränkt bleiben, und ein ausgewähltes Denkmal muß exemplarisch für den gesamten Bestand stehen: Anhand der Krönungsminiatur im Sakramentar Heinrichs II. wird es weiter unten um die ikonographische Gestaltung und die intentionale Ausrichtung solcher Bilder gehen. Zuvor ist der Versuch zu unternehmen, ihrer Ikonographie über die Beschreibung und Interpretation des früh- und hochmittelalterlichen Herrscherkrönungszeremoniells näher zu kommen, um schließlich den Sinnbezug zwischen zeremonieller Handlung und künstlerisch-ästhetischer Reflexion dieser Handlung einschätzen zu können.

2 Intention und Ablauf des mittelalterlichen Herrscherkrönungszeremoniells Den Beginn der Herrschaft eines deutschen Königs oder Kaisers signalisiert seit dem frühen Mittelalter ein Zeremoniell, das aus mehreren, in Räumen unterschiedlicher Wertigkeit stattfindenden Sinneinheiten besteht. Zumeist im Anschluß an eine 'weltliche1 Wahl wird die Einsetzung des Regenten in sein Amt gewöhnlich mit einer in kirchlichem Raum und von kirchlichen Würden-

Florentine Mütherich". Das Evangeliar Heinrichs des Löwen und die Tradition des mittelalterlichen Henscherbildes. In: Das Evangeliar Heinrichs des Löwen und das mittelalterliche Herrscherbild. Hg. v. Horst Fuhrmann/Florentine Mütherich. München 1986. S. 25-34, hier S, 29; Weidemann: Pomifikale (wie Arm 11); Lauer: Schaffhauser Ponüfikale (wie Anm, 11). Zitate S. 178 und 176; vgl. zuvor Ders,; Studien zur ottonischen Mainzer Buchmalerei. Phil. Diss. Bonn 1987, hier bes. S. 81, 88-92. Lauers Meinung ist jüngst unkritisch übernommen worden von Kuder: Bischof Ulrich (wie Anm, 45). S. 419f. mit Anm. 26.

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trägem zelebrierten Zeremonie vollzogen und damit sakral legitimiert." Das Abstraktum 'Herrschaft' wird einer von Gott auserwählten und auf Erden zuvor gewählten Person übertragen und durch sie weitergetragen. Im Moment der kirchlichen Einsetzung des neuen Regenten offenbart sich die Relation, die gemäß christlicher Anschauung ursprünglich zwischen Göttlichkeit und irdischer Herrschaft im allgemeinen und zwischen Gott und dem jeweils aktuellen Herrscher speziell besteht. In erster Linie wird diese Relation erfahrbar durch die personale Präsenz des Herrschers, der als irdischer Stellvertreter Gottes bzw. Christi handeln wird. In zweiter Linie wird sie sichtbar gemacht durch eine festgelegte Verknüpfung von zeichenhaften Handlungen, die den am Zeremoniell Beteiligten sinnfällig vorgeführt werden: Dazu gehört vor allem die Salbung des Herrschers, die eine im allgemeinen nicht wiederholbare Handlung ohne permanent sichtbares Resultat ist, dann die Verleihung von Gegenständen wie Schwert, Armreif, Pallium, Ring, Szepter und Krone an den künftigen Regierungsträger sowie dessen Thronsetzung - alles wiederholbare Handlungen unter Verwendung permanent sichtbarer, zeichenhafter Attribute. Der Ablauf der kirchlichen Herrschererhebung im westlichen Kulturraum ist seit dem 9, Jahrhundert in den Krönungsordines kodifiziert, deren Texte sich - wie gesagt - aus Anweisungen für die vorgesehenen einzelnen Handlungsschritte der Zeremonie und dem Wortlaut der dabei jeweils zu sprechenden Orationen zusammensetzen. Diese Textquellen sind von großem historischen Wert, da sie in verschiedenen Varianten den idealen Ablauf des Zeremoniells für die Krönung von König und Königin, von Kaiser und Kaiserin grundlegend bestimmen und den nachfolgenden Generationen weitervermitteln. Die Tradierung der Ordines weit über das Mittelalter hinaus bezeichnet zusätzlich ihren Stellenwert. Allerdings muß unklar bleiben, inwieweit diesen schriftlichen Richtlinien, zumindest im frühen und hohen Mittelalter, Folge geleistet wurde bzw. welche Modifikationen im Rahmen der jeweiligen historischen Anlässe möglich waren. Die mit den Krönungsordines befaßte Forschung hat sich dazu mehrfach geäußert.14 Nach dem Mainzer Königs13

Aus der umfangreichen Literatur hierzu seien genannt: Eduard Eichraann; Die Kaiserkrönung im Abendland. 2 Bde. Würzburg 1942; Percy Ernst Schramm: Die Königskrönungen der deutschen Herrscher von 961 bis um 1050. In: Ders.: Kaiser, Könige und Päpste {wie Anm. 5), hier Bd. 3, S. 108-134; Carlrichard Brühl; Kronen und Krönungsbrauch im frühen und hohen Mittelalter. In: Historische Zeitschrift 234 (1982). S. 1-31, wieder veröffentl. in: Ders,: Aus Mittelalter und Diplomatik. Gesammelle Aufsätze. 2 Bde. Hildesheim u. a. 1989. Bd. 2. S. 413-443; Reinhard Elze: Le consacrazioni regie. In: Segni e rili nella chiesa aJtomedievale occidentale. Spoleto 1987 (Settimane di studio del centre italiano di studi sull'alto medioevo 33). S. 43-55. : * Vgl. die vorstehende Anm. und Anm. 4. Percy Ernst Schramm bezeichnet den Mainzer Ordo von ca. 960 als "Norm für alle Eventualitäten", wobei damit zu rechnen sei, "daß er entsprechend den jeweiligen Gegebenheiten gelegentlich abgeändert wurde und ihn ein 'Gewohnheitsrecht1 begleitete, das von Fall zu Fall gewichtiger wurde". Schramm: Ablauf der deutschen Königsweihe (wie Anm, 5). S. 80 und 62.

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krönungsordo von ca. 960, der in großen Teilen schließlich auch Eingang fand in das Zeremoniale von 1530, ergibt sich jedenfalls für den Ablauf der Königserhebung folgendes Handlungsmuster:1* Der Kandidat schreitet aus seinem Gemach und wird, zur Rechten und zur Linken jeweils gestützt von einem mit Heiligenreliquien ausgestatteten Bischof sowie in Begleitung von Klerikern, die das Evangelium, zwei Kreuze und Weihrauchfässer vorantragen, in einer feierlichen Prozession und unter Gesängen zur Kirche geleitet. Nach einem Gebet des Erzbischofs an der Tür der Kirche geht die Prozession in die Kirche hinein bis zum Eingang des Chores, Auch diese und die folgenden Handlungen werden stets von Antiphonen und Gebeten begleitet. Vor dem Chor legt der Kandidat, der nun als designatus princeps bezeichnet wird, Pallium und Waffen nieder und wird, von den Händen der Bischöfe geleitet, in den Chor hinein bis zu den Stufen des Altars geführt, wo er mit ausgebreiteten Armen auf dem mit Teppichen ausgelegten Boden niederfällt und in dieser als Allusion auf das Kreuz zu verstehenden Körperhaltung liegenbleibt. Auch die Bischöfe und Priester warten, vor dem Altar liegend, die anschließende Litanei ab. Es folgt die Aufrichtung und Befragung des zukünftigen Königs, der sich zu gerechter und gläubiger Regentschaft sowie zur Verteidigung der Kirchen, deren Vertreter und des ihm untergebenen Volkes durch ein dreifaches "volo" verpflichtet. Einer zustimmenden Akklamation des umstehenden Klerus1 und Volkes schließen sich mehrere Orationen an, in denen um den Segen Gottes und um ein gerechtes Leben in friedvoller, siegreicher Regierung für den nun bereits mit rex noster betitelten Fürsten gebeten wird. Hierbei geht es auch um die alttestamentlichen Vorbilder des Königs: Abraham, Moses, Josua, David, Salomo. Darauf wird der König vom Erzbischof auf Kopf, Brust, Schultern und Armgelenken gesalbt. Nach einer Reihe von Gebeten erfolgt anschließend sukzessive die wiederum von Orationen begleitete Verleihung von Schwert, Armreifen, Pallium, Ring, Szepter, Stab (alles durch die Bischöfe) und Krone (durch den Erzbischof). Die Benediktion auf den neuen König mit einem fünffachen "Amen" setzt ein, bevor er dann vom Altar zum Thron geleitet wird, wo er zu sitzen kommt und den Anwesenden den Friedenskuß erteilt. Danach folgen unter Glockengeläut die Gratulation durch den Klerus und das Te Deutn. Anschließend zelebriert der Erzbischof das Meßopfer, womit das eigentliche Ereignis der kirchlichen Feier stattfindet.

3 Das signum Krone in mittelalterlicher Auslegung und im Krömingsordo - die Wiener Reichskrone Die traditionell vereinbarte Bedeutung der an den neuen Regenten verliehenen Zeichen ist wichtig für das Verständnis der geistigen Intention des mittelalterlichen Herrscherkrönungszeremoniells. Wenn hier im folgenden der i5

Dazu ausführlich ebd. S. 62- 79; Vogel/Elze: Le pontifical (wie Anm. 5). S. 246-259.

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Versuch unternommen werden soll, diese Bedeutung am Beispiel des Zeichens 'Krone' exemplarisch zu untersuchen, so ist damit auch die Absicht verbunden, jene theologisch-teieologisehen Anschauungen aufzuzeigen, die im Verlauf der Erhebungsfeierlichkeiten jeweils mit bestimmten Gegenständen signalisiert und in Gebetsformeln vermittelt wurden. Gerade diese Anschauungen nämlich sind es, die die traditionell zumeist realienkundlich bzw. rechtshistorisch orientierte Insignienforschung nicht selten vernachlässigt und gelegentlich sogar belächelt hat, wie weiter unten erkennbar werden wird. Zunächst: Der in den mittelalterlichen Krönungsordines vermittelte geistige Sinngehalt des Gegenstands 'Krone' und des Zeremoniells der Krönung sollte mit Hilfe eines geeigneten terminologischen Werkzeugs erfaßt werden. Hierbei ist es ratsam, sich derjenigen Wortbildungen zu bedienen, die man auch im Mittelalter gewählt hat oder gewählt hätte. Die Begriffe 'Symbol' bzw. 'Symbolik' sind für die Kennzeichnung von Sinnbildern des mittelalterlichen Herrschertums aufgrund ihres nicht zuletzt in der Neuzeit erweiterten und schließlich völlig diffusen Aussagewertes problematisch. Aus dieser Erwägung heraus hat Percy Ernst Schramm hier den Terminus 'Herrschaftszeichen1 eingeführt, l6 Diese Begrifflichkeit öffnet allerdings einen komplexen Bereich - nicht nur - der mittelalterlichen Geistesgeschichte, denn die geistige Auseinandersetzung mit Zeichen blickt auf eine lange Tradition zurück, die bis in die Antike reicht.17 Maßgeblich für den mittelalterlichen ZeichenbegrifF, für das Verständnis des Zeichens (signwri) irn Verhältnis zur Sache (res), ist die Zeichentheorie des Augustinus,18 Percy Ernst Schramm: Schluß. In: Ders.: Herrschaftszeichen und Staatssymbolik. Beiträge zu ihrer Geschichte vom 3. bis zum 16. Jahrhundert. 3 Bde. Stuttgart 195456 (Schriften der MGH XIII, 1-3). Nachträge München 1978, hier Band 3. 1956. S. 1064- 1090, bes. S. 1076-1079; ebs. Ders.: Zur wissenschaftlichen Terminologie: Vorschläge zu einer Überprüfung der 'Zunftsprache', In: Ders,: Kaiser, Könige und Päpste. 1968-1971 (wie Anm. 5). Bd. 1. S. 19-29, hier S. 21f; vgl. Dcrs,: Das Gmndproblem dieser Sammlung: Die 'Herrschaftszeichen1, die 'Staatssymbolik' und die 'Staatspräsentation' des Mittelalters. Ebd. Bd. 1. S. 30-58, hier S. 38: Die 'Herrschaftszeichen' "zeigten, machten sinnfällig für Gebildete und Ungebildete, für Einheimische und Fremde, daß der mit ihnen Geschmückte der Herrscher war". Vgl. Ders,: Die Erforschung der mittelalterlichen "Symbole": Wege und Methoden. Ebd. Bd. 4,2. S. 665-677, hier S. 672f Zur Zeichenlehie seit der Antike vgl. nur Eugenio Coseriu: Die Geschichte der Sprachphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Eine Übersicht. Teil I: Von der Antike bis Leipniz, Tübingen 21975. Vor allem in: De doctrina Christiana (um 396/97-426). Hg. v. Joseph Martin (Corpus Christianorum Series Latina 32). Turnhout 1962. S. 1-167. Zum ZeichenbegrifT des Augustinus und dessen Tradierung im Mittelalter Jonan Chydenius: The Theory of Medieval Symbolism, Helsingfors 1960 (Societas Scientiarum Fennica. Commentationes Humanarum Litterarum 27, 2); vgl. B.D. Jackson: The Theory of Signs in St. Augustine's De doctrina Christiana. In: Revue des etudes augustiniennes 15 (1969). S. 9-49; eine anschauliche Zusammenfassung der augustinischen Zeichenlchre bringt Ulrich Wienbruch: "signum", "significatio" und "illuminatio" bei Augustin. In: Der Begriff der Repraesentatio im Mittelalter. Stellvertretung, Symbol, Zeichen, Bild. Hg.

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Augustinus versteht unter einem signum etwas, das einen Betrachter, der es sinnlich wahrnimmt, auf etwas anderes verweist.19 Die Voraussetzung für die sinnliche Wahrnehmung ist der Umstand, daß sich das signum von seiner Umgebung in besonderem Maße, also sinnfällig, abhebt. Es ist seiner Natur nach in einer Weise sinnfällig, daß es nicht bloß einen ephemeren Reiz ausübt, sondern die Aufmerksamkeit des Betrachters so auf sich lenkt, daß bei diesem ein weitergehender Erkenntnisprozeß ausgelöst wird. Dieser Erkenntnisprozeß führt den Wahrnehmenden dazu, das vermittels des signum Repräsentierte, nämlich das Bezeichnete (signißcatio bzw, signißcatus) zu reflektieren und sich eine bleibende Vorstellung davon zu verschaffen. Damit der Betrachter diesen Schritt vom Zeichen zum Bezeichneten vollziehen kann, ist es allerdings notwendig, daß er die Bedeutungsdimension des Bezeichneten bereits zuvor zumindest einigermaßen kennt. Dieser Bekanntheitsgrad ergibt sich aus der Eigenschaft der wahrgenommenen Zeichen, die wahlweise 'natürlich1 (signa naturalid} sind und daher von sich aus auf etwas verweisen oder durch kommunikative Vereinbarungen als Zeichen definiert werden (signa data, die weiter zu unterteilen sind in 'eigentliche' und 'übertragene1 Zeichen, signa propria und signa translatd). Die christliche Pointe der aus antiken Zeichentheorien entwickelten Lehre des Augustinus ist schließlich die Auffassung, daß sowohl die Zeichen von Gott gegeben sind als auch die Erkenntnis des Bezeichneten im Sinne einer Erleuchtung (illwninaiio) von Gott gelenkt wird. Die Scholastiker Honorius August odunensis (tätig in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts) und Sicardus von Cremona (um 1155-1215) lassen in ihre hochmittelalterliche Gelehrsamkeit diese Ergebnisse Augustins sowie entsprechende Erkenntnisse von Autoren späterer Jahrhunderte einfließen. Beide erläutern unter anderem auch das mittelalterliche Verständnis der Krone als Zeichen: Honorius in seinem Kompendium Gemma Animae (erstes Drittel 12. Jahrhundert) und Sicardus in seinem Werk Mitrale (um 1200), das der Schrift des Honorius oftmals wörtlich folgt. Beide Traktate enthalten eine Deutung der Herrscherkrone bzw. des Herrscherdiadems.20 Außerdem wird hier wie dort eine auf traditionellen exegetischen Erkenntnissen basierende21 Ausle-

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v. Albert Zimmermann. Berlin/New York 1971 (Miscellanea Mediaevalia 8). S. 7693. Die folgende Zusammenfassung wichtiger Faktoren der ZeichenJehre des Augustinus nach Wienbruch, ebd., bes. S. 78f. Hier auch die entsprechenden Quellennachweise, Honorius Augustodunensis: Gemma Animae. l, 224 {De corona imperatoris ei Augtisti); 225 (De diademate regwn). Patrologiae cursus completus, series Latina. Hg, v. Jacques-Paul Migne (im folgenden: PL), hier Bd. 172, Paris 1895. Sp. 612 AB; Sicardus von Cremona: Mitrale. II. 6 (De regalibus insignibus). PL 213. Paris 1855. Sp. 82 B-D. Zu den beiden Autoren Hartmul Freytag: Honorius. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hg. v. Kurt Ruh u. a. Bd. 4. Berlin/New York 1983. Sp. 122-132; Cn. Lefebvre: Sicard de Cromone. In: Dictionnaire de droit canonique. Hg. v. R. Naz. Bd. 7. Paris 1965. Sp. 1008-1011. Die Bedeutung der über dem Altar aufgehängten corona hatte bereits Beda Venerabilis erläutert: De tabemaculo, z.B. Lib. I. Cap. 6 (Auslegung der Ausstattung des Schaubrottisches, hier zu Exod. 25, 24f): "Vel certe corona aurea labio mensae domtni

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gung der corona in ecclesia, also der kirchlichen Hängekrone bzw. des kirchlichen Kronleuchters nach dem vierfachen Schriftsinn - mit der historischen, der allegorischen, der tropologischen und der anagogischen Sinnebene durchgeführt. 22 Krone und Kronleuchter werden hier im Sinne Augustins als signum vorgestellt. Schramm hat nie seine Skepsis angesichts dieser Passagen im Werk des Honorius und des Sicardus, aber auch etwa hinsichtlich der sinngemäß vergleichbaren Gebetsformeln im Mainzer Ordo zu verbergen gesucht. In seinen Publikationen sind hierzu Worte wie "freies Spiel der Phantasie", "herbeigezerrte Deutung, Wendung in das Flachmoralische" zu finden, auch eine Abwertung der Autoren solchen "Buchwissens" als "Phantasten und Spintisierer".23 Derartige Prädikate eines Wissenschaftlers vom Format Schramms mögen einiges dazu beigetragen haben, daß die Herrschaftszei-

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apponitur cum in verbis sacrae scripturae discimus egredientes e came animas ad aeterna in caelis praemia esse recipiendas, et super iilam aureola altera superadditur corona cum in eadem scriptura repperitur quod eis sublimior in fine saecuii gloria in corporum quoque immortalium receptione servetur." Hg. v. D. Hurst. (Corpus Christianorum Series Latina 119A). Turnhout 1969. S. 24; vgl, außerdem Petrus Cellensis (1115 - 1183): Tractatus de tabernaculo, z.B. Lib. I b. Cap. 3 (zu Exod. 25, 24f): "per circuitum est corona aurea, cum in conspectu tuo semper proponitur vita aeterna et omnes anfractus temporalis vitae cogis infra tnetas aeternae gloriae". Hg. v. G. de Martel (Corpus Christianorum Continuatio Medievalis 54). Turnhout 1983. S. 199. Honorius: Gemma Animae (wie Anm. 20). I, 133 (De corona in ecciesid); 141 (De corona). PL 172. 586 C und 588 BC; Sicardus: Mitrale (wie Anm, 20), I, 13 (De utensilibus ecclesiae). PL 213. 44-56. hier 51 BC, Vgl, die Erläuterungen zum vierfachen Schriftsinn bei Sicardus: Mitrale I, 13, PL 213. 47 A - 48 A: "quadriformis est expositio sacrae scripturae: exponitur enim historialiter, allegorice, tropologice, anagogice" (47A). Zur Methode der Auslegung nach dem vierfachen Schriftsinn und ihren Modifikationen vgl. Christel Meier: Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der AllegorieForschung, Mit besonderer Berücksichtigung der Mischformen. In: Frühmittelalterliche Studien 10 (1976). S. 1-69 (mit weiterer Lit.). Außerdem Friedrich Ohly: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 21983, darin vor allem Einleitung. S. IX-XXXIV; Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter. S. 1-31; Probleme der mittelalterlichen Bedeutungsforschung und das Taubenbild des Hugo de Folieto. S. 32-92. "Was Scholastiker wie Honorius Augustodunensis im 12. und der ihn ausschreibende Sicardus von Cremona im 13. Jahrhundert über die Insignien vermerken, ist nicht abgelesen von der Wirklichkeit, sondern Buchwissen, [...] freies Spiel der Phantasie", Percy Ernst Schramm: Einleitung. In: Ders.: Herrschaftszeichen und Staatssymbolik (wie Anm. 16). Bd. 1. 1954. S. 1-21, hier S. 6; "schon seit dem Mittelalter ist es ja so, daß Phantasten und Spintisierer sich gern mit dem Auslegen der 'Symbole' abgeben", Ders,: Erforschung der mittelalterlichen "Symbole" (wie Anm. 16), S. 667. Und über den Mainzer Ordo von ca. 960; "herbeigezerrte Deutung, Wendung in das Flachnioralische, Sprünge zwischen den Gedankengliedem lassen sich bereits in den Mainzer Formeln erkennen", Ders.: Ablauf der deutschen Königsweihe (wie Anm. 5). S. 78f. Vgl. auch die - aus dem Nachlaß stammende, handschriftliche - Bewertung der Kronformel des Mainzer Ordo von Fritz Kern: Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter. Zur Entwicklungsgeschichte der Monarchie, Darmstadt 21954. S. 83. Anm. 173: "Dabei ist viel liturgische, zeremoniöse Spielerei, aber doch auch mehr."

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chenforschung in vielem noch immer hinter der mit der Untersuchung allegorischer Sichtweisen beschäftigten sogenannten Mittelalterlichen Bedeutungsforschung herhinkt. 24 Schramm selbst hat hier bereits einen Schritt getan, indem er den gerade aus "Buchwissen" herzuleitenden Gedanken von der "Mitherrschaft im Himmel" in einer bis heute nicht systematisch erweiterten Sammlung entsprechender Quellenbelege verfolgt hat.2i Natürlich ist eine prinzipielle Vorsicht bei der Bewertung 'allegorisierender' Quellen angeraten. Jedoch gehört gerade der heute oftmals nicht unmittelbar nachvollziehbare, theologische Theoreme erläuternde Umgang mit zeichenhaften Gegenständen zum Grundverständnis mittelalterlichen Geisteslebens, was im folgenden am Beispiel der Krone nochmals zu verdeutlichen ist. Sowohl in der Gemma Animae des Honorius Augustodunensis als auch im Mitrale des Sicardus von Cremona stehen die Deutungen der Herrscherkrone einerseits und des Kronleuchters andererseits in getrennten Zusammenhängen. Gleichwohl offenbaren ihre Ergebnisse die Austauschbarkeit beider Gegenstände in Bezug auf ihre Signifikanz. Man muß hier zu dem bemerkenswerten Schluß gelangen, daß ein theologisch versierter mittelalterlicher Betrachter keine Schwierigkeiten damit gehabt haben dürfte, die Herrscherkrone, die ja oftmals auch an eine Kirche gestiftet und dort zur Hängekrone umgearbeitet wurde,26 und den kirchlichen Kronleuchter auf derselben geistigen Zeichenebene zu sehen. Dies wird deutlich bei einer Betrachtung der von Honorius und Sicardus vorgenommenen Deutung der kirchlichen Hängekrone, von der ausgehend der Zeichencharakter der Herrscherkrone - gemäß der Aussage beider Autoren und über diese hinaus - bestimmt werden kann.27 24

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Schon Friedrich Ohly meinte, die "Herrschaftszeichenforschung" habe "der Allegorese ihrer Gegenstände aber auch wenig Interesse" geschenkt. Ohly: Einleitung (wie Anm, 22). S. XXII, zur "Bedeutungsforschung" vgl. etwa die Angaben in Anm, 22. Percy Ernst Schramm: "Mitherrschaft im Himmel": Ein Topos des Herrscherkults in christlicher Einkleidung. In: Polychronion. Festschr, Franz Dölger. Hg. v. Peter Wirth. Heidelberg 1966, S, 480-485; erweiterte Fassung in Ders.: Kaiser, Könige und Päpste (wie Anm. 5), hier Bd. I. S. 79-85. Dazu ausfuhrlich Hans-Dietrich Kahl: Weihekrone und Herrscherkrone. Studien zur Entstehungsgeschichte mittelalterlicher Symbolhandlungen mit Kronen. Masch. Phil. Habil. Gießen 1964; Percy Ernst Schramm: Herrschaftszeichen: gestiftet, verschenkt, verkauft, verpfändet. In: Nachr. der Akad. d. Wissensch. in Go'ttingen. 1. Phil.-Hist. Kl. Nr. 5 (1957). S, 162-226. Vgl, zum Folgenden die Auslegung der Herrscherkrone bzw. des Herrscherdiadems bei Honorius: Gemma Animae (wie Anm, 20), I, 224f: "Corona imperatoris est circulus orbis. Portat ergo Augustus coronam, quia dedarat se regere mundi rnonarchiam. Corona quoque dicitur victoria, unde et victores coronabantur, et Augusti victores orbis dicebantur, Arcus super coronam curvatur, eo quod Oceanus mundum dividere narratur.f...] corona [monet] ut sie vivat, quatenus a Rege regum coronam vitae accipiat. Jcap. 225] Diadema autem regum designat regni ambitum, et omnes qui in agone contendebant diadema accipiebant. Innuit ergo regibus diadema, quod si pro iustitia certaverint, cum rege omnium coronati regnabunt," PL 172, 612 AB; Sicardus: Mitrale (wie Anm. 20). II. 13: "corona JestJ circulus mundi, diadema praemium pravü [.,.] in corona [monetur] ut mundum regat, in diademate, ut sie in agone contendat, quod

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Die corona ist laut Honorius und Sicardus aus drei Gründen in der Kirche aufgehängt: Zuerst deshalb, weil sie die Kirche schmückt und mit ihren Kerzen erleuchtet. Im Schmuck- und Nützlichkeitscharakter des Gegenstandes erschließt sich sein Buchstaben- oder historischer Sinn (sensus litteralis). Ein entsprechender Sinn läßt sich für die Herrscherkrone nur eingeschränkt definieren. Sie vermittelt zwar den sinnfälligen Eindruck eines Kopfschmucks, ist aber nicht eigentlich nützlich, etwa als Schutz gegen die Witterung. Honorius und Sicardus beschränken sich demnach bei ihrer Betrachtung der Herrscherkrone zunächst auf deren Verweischarakter als 'Herrschaftszeichen': Wer sich mit ihr - dem Sinnbild des Erdkreises - schmückt, zeigt seinen Anspruch auf die irdische Herrschaft an. Grundsätzlich gilt also: Die Königs- oder Kaiserkrone hat zunächst als 'Herrschaftszeichen' im wörtlichen Sinne zu gelten, als Gegenstand, der optisch und haptisch signalisiert, daß der mit ihr Ausgestattete den Rang eines Herrschers einnimmt. Folgt man mit beiden Autoren der 'klassischen' Variante des Modells vom vierfachen Schriftsinn und läßt dessen spätere Modifikationen außer acht,28 so erhebt sich über dem reinen Buchstabensinn einer Sache deren geistiger Sinn (sensus spiriiualis), der in der Regel die allegorisch-heilsgeschichtliche, die tropologisch-moralische und die anagogisch-eschatologische Dimension umfaßt. Honorius und Sicardus übergehen bei ihrer Deutung sowohl der Hängekrone als auch der Herrscherkrone allerdings die allegorisch-heilsgeschichtliche Sinnebene, die für sie offenbar auf diese zeichenhaften Gegenstände nicht anwendbar ist. Den zweiten Grund für die Aufhängung der corona in ecclesia und damit den tropologisch-moralischen Sinn der Krone sehen beide Autoren darin, daß ihre sichtbare Erscheinung der Ermahnung und Verheißung dient: Sie erinnert jeden, der sie erblickt, an die Tatsache, daß alle gerechten Diener Gottes die Krone des ewigen Lebens erringen werden, und ermahnt somit gleichzeitig zu dem dafür qualifizierenden gerechten Lebenswandel. Also: Die irdisch sichtbare Krone verweist auf die unsichtbare himmlische Krone des Lebens. Genauso ausgerichtet ist die tropologische Deutung der Herrscherkrone: Die irdische Krone ermahnt ihren Träger dazu, so zu leben, daß er die himmlische Krone erlangen wird.

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praemium aetemurn accipiat." PL 213. 82 B, Zur Auslegung der kirchlichen Hängekrone Honorius: Gemma Animae (wie Anm. 20). I, 141: "Corona ob tres causas in templo suspenditur: una quod ecclesia per hoc decoratur, cum eius luminibus illuminatur; alia quod eius visione admonemur quia hi coronam vitae et lumen gaudii percipiunt, qui hie Deo devote serviunt; tertia ut coelestis Hiemsalem nobis ad memoriam revocetur, ad cuius figuram facta videtur." PL 172. 588 B; Sicardus: Mitrale (wie Anm. 20). I, 13: "Coronae vero tribus de causis in ecclesiis suspenduntur; primo vel ad decorem, vel ad utilitatem; secundo ad significandum quod ii qui permanent in imitate Ecclesiae, si Deo devote servierunt, coronam vitae percipient; tertio vero coelestis Hierusalem nobis ad memoriam revocatur, ad cuius figuram facta videtur." PL 213, 51 B. Vgl, oben, Anm. 22.

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Schließlich der anagogisch-eschatologische Sinn als dritter Grund für die Aufhängung der corona in ecclesia. Sie ruft das Himmlische Jerusalem in Erinnerung, nach dessen Erscheinungsbild sie hergestellt wurde. Dieser Verweis auf das Aussehen der Stadt der Seligen läßt sich auch heute noch anhand des Erscheinungsbildes einiger erhaltener mittelalterlicher Leuchterkronen nachvollziehen, etwa des zwischen 1055 und 1065 entstandenen, sogenannten Hezilo-Leuchters im Hildesheimer Dom oder der Hängekrone in der Klosterkirche in Komburg aus dem ersten Drittel des 12. Jahrhunderts, die beide die Himmelsstadt gemäß den biblischen Angaben vor allem der Apokalypse wiedergeben.29 Wie die Kommentare in entsprechenen Schriftquellen erkennen lassen, mußte die corona gar nicht einmal stets ein exaktes Abbild dieser Stadt sein, denn das Himmlische Jerusalem konnte auch in jeder normalen Rundkrone erkannt werden. Das ganze Mittel alter hindurch nämlich werden allein schon die Materialien der Krone, vor allem das Gold, die Edelsteine und Perlen, aber auch die grundsätzliche, ringförmige Erscheinung des Gegenstandes ausführlich eschatologisch gedeutet. Dies kann hier nicht näher ausgeführt werden, hinzuweisen ist aber darauf, daß auch Honorius und Sicardus eine entsprechende Interpretation der Bestandteile der corona in ecclesia ihren Ausführungen hinzufügen.30 "'

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Zugrunde liegt v. a. Apk. 21, 9-27; Jes. 62, 3, vgl, dazu weiter unten im Text, vor Anm. 34, Zu weiteren Bibelstellen Adelheid Kitt Der frühromanische Kronleuchter und seine Symbolik. Phil. Diss, Wien 1944. Teil I, S. 1-7, Zum Hildesheimer und Komburger Leuchter vgl. ebd. Teil I. S. 36-50; Teil II. S. 8-29 (Hildesheim); Teil I. S. 62-68; Teil II. S. 31-36 (Komburg); Freerk Valenüen: Untersuchungen zur Kunst des 12. Jahrhunderts im Kloster Komburg. Phil. Diss. Stuttgart 1963, bes. S. 80-126; Willmuth Arenhövel: Der Hezilo-Radleuchter im Dom zu Hildesheim. Beiträge zur Hildesheimer Kunst des 11. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Ornamentik. Berlin 1975, bes. S. 94-96, wo der Autor auf Sicardus eingeht, Honorius dagegen übersieht. Vgl. zu den Leuchterkronen auch Hans Sedlmayr: Die Entstehung der Kathedrale. Zürich 1950. S, 125-130. Honorius: Gemma Animae (wie Anm. 20), I, 141: "Constat enim [corona] ex auro, argento, aere et ferro. Aurum sunt sapientia fulgentes; argentum eloquio nitentes; aes in doctrina coelesti dulciter sonantes; femim vitia domantes; turres coronae sunt scriptis ecclesiam munientes; tucernae eius bonis actibus lucentes. Aurum enim sunt martyres, argentum virgines, aes continentes, ferrum coniugiis servientes. Gemma in corona coruscantes sunt, qui et in virtutibus rulilantes; metalla in igne excocta ad ornatum coronae summuntur, et electi in camino tribuiationis probaü ad coelestis Hierusalem decorem eliguntur. Catena, qua corona in altum continetur, est spes, qua Ecclesia a terrenis ad coelestia suspenditur. Supremus drculus cui innectitur, est Deus a quo omnia continentur." PL 172, 588 BC, Vgl. auch die Auslegung der Lichter des Kronleuchters. Ebd. Cap. 131, PL 172. 586 C. Sicardus: Mitrale (wie Anm. 20). I, 13: "Constat enim [corona] ex auro, argento, aere, ferro, catenis et lapidibus pretiosis. Aurum sunt martyres, argentum sunt virgines, aes doctores, femim continentes, gemmae quinque virtutibus coruscantes. Catena contemplatio, quae semper eos ad Dominum erigit. Supremus circulus est Deus, qui omnia continet et comprehends t." PL 213. 51 C, vgl. hierzu auch Kahl: Weihekrone und Herrscherkrone (wie Anm, 26), S. 97f. Die Edelsteinallegorese wird seit Jahren gründlich erforscht. Dazu grundlegend Christel Meier: Gemma spiritalis. Methode und Gebrauch der Edelsteinallegorese vom

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Die seit Jahrhunderten überlieferte Auslegung der Krone als Zeichen für die Herrlichkeit des Himmlischen Jerusalems hatte auch im Bewußtsein gestanden, als es darum ging, eine geeignete Form und Ausschmückung für die bedeutendste europäische Krone zu finden, die sogenannte Reichskrone der deutschen Kaiser, heute aufbewahrt in der Schatzkammer der Wiener Hofburg (Abb, 112), In der Forschung wird seit langem die Frage kontrovers diskutiert, unter welchem der mittelalterlichen Herrscher des 10. und 11. Jahrhunderts die oktogonal situierten Platten dieser Krone angefertigt wurden, die dann nach unterschiedlicher Meinung entweder gleichzeitig oder später von Bügel und Kreuz überfangen worden sind.31 Auf diesen zumeist maßgeblichen Aspekt der 'Reichskronenforschung', der auch eng verknüpft ist mit der Interpretation des Bildprogramms der Krone, braucht hier nicht nochmals eingegangen zu werden, zumal es für unseren Zusammenhang allein auf die Erkenntnisse ankommt, die die Wissenschaft aus einer Untersuchung der Frage nach dem anagogischen Sinngehalt der Reichskrone gewonnen hat. frühen Mittelalter bis ins 18, Jahrhundert. Teil 1. München 1977 (Münstersche Mittelalter Schriften 34, 1). Vgl. außerdem Ulrich Engelen: Die Edelsteine in der deutschen Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts. München 1978 (Münstersche Mittelalter Schriften 27); wenig ergiebig Gerda Friess: Edelsteine im Mittelalter. Wandel und Kontinuität in ihrer Bedeutung durch zwölf Jahrhunderte (in Aberglauben, Medizin, Theologie und Goldschmiedekunst). Hildesheim 1980. Hinzuweisen ist zunächst auf den bis 1991 gültigen Forschungsbericht zur Frage der Datierung der Reichskrone von Mechthild Schulze-Dörrlamm: Die Kaiserkrone Konrads II. (1024- 1039). Eine archäologische Untersuchung zu Alter und Herkunft der Reichskrone, Sigmaringen 1991 (Monographien/Römisch-Germanisches Zentralmuseum. Forschungsinstitut für Vor- und Frühgeschichte 23). S. 23-28; vgl. zusammenfassend Dies.: Die Reichskrone. In: Spektrum der Wissenschaft 9 (1991). S. 92-102 und Dies.: Katalogbeitrag "Reichskrone". In: Reich der Salier (wie Anm, 11). S. 242f. Der von der Autorin vorgebrachten Spätdatierung der Krone in die Zeit Konrads II., die die Diskussion um die Reichskrone erneut entfacht hat, ist in der Folge fast einhellig widersprochen worden: Hiltrud Westermann-Angerhausen: Spuren der Theophanu in der ottonischen Schatzkunst? In: Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends. Hg. v. Anton von Euw und Peter Schreiner 2 Bde. Köln 1991, hier Bd. 2. S. 193-218, bes. S. 205-208; Reinhart Staats: Die Reichskrone, Geschichte und Bedeutung eines europäischen Symbols. Göttingen 1991. S. 138; Hans Constantin Faußner; Rezension. In: Zeitschrift für Rechtsgeschichte. Germ. Abt. 108 (1991). S. 408-414. Zu dieser Diskussion vgl. auch Petersohn: Insignien (wie Anm. 6), bes. S. 87. Reinhart Staats: Die Pilatuskrone in der Bernwardstür und die Reichskrone. Eine auffallende Parallele. In: Das Münster 46 (1993), S, 219-226, postulierte jüngst schließlich: "Doch gerade im völligen Scheitern der neuesten Datierung der Krone in die Zeit Konrads II. (1024- 1038) wurde die übliche ättere Datierung bestätigt. Es bleibt dabei: Die Reichskrone ist in den Jahren 961 967 entstanden" (S. 223). Anderer Meinung ist Adelhard Gerke: Des deutschen Reiches Krone. Eine Datierung aus ihren Inschriften unter Mithilfe anderer zeitgenössischer Beispiele, Hildesheim o. J., der jetzt mithilfe einer großen Sammlung zahlensymbolischer Daten ebenso wie Schulze-Dörrlamm wiederum zu einer Datierung in die Zeit Konrads II. gelangt. Vgl. zuletzt Hermann Fillitz: Bemerkungen zur Datierung und Lokalisierung der Reichskrone. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 62 (1993), S. 313-334. Hier eine Datierung "vor oder um 980" (S. 334),

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Hansmartin Decker-Hauff hat sich als erster ausführlich einer eschatologischen Deutung der Reichskrone gewidmet. Ausgehend von einer Betrachtung der Anzahl und Verteilung der ihr applizierten Edelsteine und Perlen sowie ihrer oktogonalen Form kam er zu folgenden Ergebnissen: "Die zwölf Steine der Stirnplatte mit dem Waisen an der Spitze, die in ihrer Farbskala die Grundsteine des himmlischen Jerusalems wiederholen, sollen gar nichts anderes sein als diese Stadt selbst. [...] Die Reichskrone ist also nach Zahlsystem, Stein setzung und Farbenskala, wohl auch nach Perlenzahl, nichts anderes als ein Abbild des himmlischen Jerusalems. [...] Nichts, was der Apostel schildert, ist ohne Abbildung auf der Krone geblieben", die als "sigmim sanctitatis" eine hohe Bedeutung für ihren Träger gehabt habe.32 An einer detaillierten theologischen Interpretation der Reichskrone ist auch Reinhart Staats interessiert, der sich wiederholt dazu geäußert hat.33 Das Oktogon der Krone sei aufgrund "der exklusiven christlichen Sinngebung der Zahl Acht" ein "Symbol für die Auferstehung Christi und zugleich für den Anbruch der Endzeit".34 Es weise auf den achten Welttag und damit sowohl auf das Weltgericht als auch auf das Versprechen der Seligkeit im Himmlischen Jerusalem hin. Diese Verheißung verbinde sich gemäß Jesaja 62, 3 "du wirst eine Krone des Ruhms sein in der Hand des Herrn und ein königliches Diadem in der Hand deines Gottes" - ohnedies mit dem Bild der Krone.35 Auch die "Torform der Platten" und die Perlen der Krone seien "ein signum, das zur Hoffnung auf die jenseitige Zukunft ermuntert", ebenso wie verschiedene andere Details der Krone zusätzlich auf die Apokalypse verweisen,36 Staats kommt zu dem Resultat, daß die Reichskrone Christus als

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Hansmartin Decker-Hauff (in Zusammenarbeit mit Percy Ernst Schramm): Die "Reichskrone", angefertigt für Kaiser Otto I. In: Schramm: Herrschaftszeichen und Staatssymbolik (wie Anm. 16), hier Bd. 2. 1955. S. 560-637, bes. S. 586-609. Zitate: S. 600, 604, 609. Andre Grabar äußerte sich im Rahmen seiner dreiteiligen Rezension zu Schlamms Werk "Herrschaftszeichen und Staatssymbolik", L'archeologie des insignes modieVaux du pouvoir. In: Journal des Savants, Teil 1: Januar - März 1956, S. 5-l 9, Teil 2: April-Juni 1956. S. 77-92, Teil 3: Januar - März 1957. S. 25-31, hier Teil 2. S. 82f., kritisch zu diesen in seinen Augen nicht belegbaren Auslegungen: "II est certainement pretdrable de ne pas insister sur la valeur symbolique des elements de la couranne d'Otton Ier, ni sur celle des pierres precieuses" {S. 83). Reinhart Staats: Theologie der Reichskrone. Ottonische "Renovatio tmperii" im Spiegel einer Insignie. Stuttgart 1976 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 13); Ders.: Die Reichskrone (wie Anm. 31). Vgl. zuvor Konrad Hoffmann; Taufsymbolik im mittelalterlichen Herrscherbild. Düsseldorf 1968. S. 57-61. Staats: Die Reichskrone (wie Anm. 31). S. 18; Ders.; Theologie der Reichskrone (wie Anm. 33). S. 24f. "Ens corona gloriae in manu Domini et diadema regni in manu Dei tui." Staats: Theologie der Reichskrone (wie Anm. 33). S. 32. Ebd. S. 33. Vg]. Ders.: Die Reichskrone (wie Anm, 31). S, 55. Zur doxologischen Bedeutung des Wortes honor auf der Davidplatte Ders.: Theologie der Reichskrone (wie Anm. 33). S. 37; zu den Edelsteinen, mit Referierung der Thesen Decker-Hauffs: ebd. S. 57-59; Ders.: Die Reichskrone (wie Anm, 31). S. 62-66; zum 'Waisen' als

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ewigen König und Priester vorführe, den der gekrönte Herrscher im Diesseits abbildhaft repräsentierte, und daß sie "all seine Gefolgschaft" an das von Christus verheißene Himmlische Jerusalem erinnere.37 Der Autor zieht auch eine Verbindung zur Kronenübergabeformel im Römischen Kaiserkrönungsordo im Ottonischen Pontifikale (Mainz, um 960).38 Dort erscheine der irdische Krönungsakt als "transzendiert", indem das Faktum der 'Mitherrschaft im Himmel' bewußt gemacht werde. "Die Bildplatten [der Reichskrone] können insgesamt aus der frühmittelalterlichen Krönungsliturgie verstanden werden", weil sich "die inhaltliche Aussage [der Platten] über die absolute Königsherrschaft Christi mit jenen Gebetsschlüssen der Krönungsliturgie, welche die Mitherrschaft des irdischen Königs mit Christus als dem r ex regum erflehen1', decke. "Das eschatologische Element möchte nicht zu gering veranschlagt werden; denn die Mitherrschaft des Kaisers mit Christus im Himmel ist kein gegenwärtiges Faktum, sondern Verheißung für die Zukunft. [,..] Die strenge Unterscheidung zwischen irdischem Herrscher und Christus als rex regum wird nicht aufgehoben; erst die Vollendung im Reich des himmlischen Jerusalems bringt die Gemeinschaft des irdischen mit dem himmlischen Vorbild."39 Ganz gleich also, wie die Reichskrone nun zu datieren ist: Mit ihr ist eine historisch bedeutsame Realie aus dem Bereich der mittelalterlichen Herrschaftszeichen erhalten, die die zeichenhafte Bedeutung der irdischen Herrscherkrone in einer sehr anschaulichen Weise aufzeigt. Der Herrscher trägt mit seiner Krone das Himmlische Jerusalem auf seinem Kopf sichtbar zur Schau. Ihm selbst und seiner Umgebung wird die Vision der zukünftigen Heimstatt der Seligen und damit auch das Mysterium der bei guter Regentschaft als himmlischer Lohn in Aussicht stehenden Krone des Lebens bereits auf Erden - im wahrsten Sinne des Wortes - begreifbar gemacht. Diese Interpretation der Reichskrone liefert eine anagogische Deutung, die von Honorius

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Jaspis der Apokalypse Ders,; Theologie der Reichskrone {wie Anm, 33), S. 75-93; Ders,: Die Reichskrone (wie Anm. 31). S. 75f. Ders,: Theologie der Reichskrone (wie Anm, 33), S. 93f. Übernommen in Ders.: Die Reichskrone (wie Anm. 31). S. 69. Text des Ordo in Elze: Die Ordines (wie Anm. 4). S. l - 3 (Ordo I), vgl. Anm. 42. Staats: Theologie der Reichskrone (wie Anin. 33). S, 51. In diesem Sinn hatte sich schon Konrad Burdach geäußert, der die Wiener Reichskrone bereits als Abbild des Himmlischen Jerusalems begriff und seine diesbezüglichen Äußerungen so zusammenfaßte: "Denn das Weltregiment des Kaisertums ist nur das Vorspiel der dereinstigen Weltentsühnung und Weltversöhnung im himmlischen Kaiserreich Gottes, im neuen Jerusalem: die Krone des irdischen Weltkaisers deutet voraus auf die Krone und das Reich des überirdischen Weltkaisers Christus. Diese Symbolik - uns Modernen höchst fernliegend - war in den mittelalterlichen Geistern ganz lebendig." Konrad Burdach; Vom Mittelalter zur Reformation, Bd. II, 1. Berlin 1913. S. 170f. Auf ihn verweisen Franz Kampers: Vom Werdegange abendländischer Kaisermystik. Leipzig/Berlin 1924. S. 27 und Eduard Eichmann: Zur Symbolik der Herrscherkrone im Mittelalter. In: Notier Antal Einle~kkonyv: Dolgozatok az egyhazi jogbol is a vele kapcsolatos jogterületekröl, Budapest 1941. S. 194, ebs. Ders.: Kaiserkrönung (wie Anm. 13). Bd. 2. S. 69. Vgl. Kitt: Der frühromanische Kronleuchter (wie Anm. 29). Teil I. S, 50.

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Augustodunensis und Sicardus von Cremona lediglich für den kirchlichen Kronleuchter geltend gemacht wird, auch für die Herrscherkrone. Lothar Bornscheuer hat am Beispiel der entsprechenden Objekte aus der salischen Zeit dieses Prinzip der irdischen als Zeichen für die himmlische Krone für die Grabkronen geltend gemacht, die mehreren verstorbenen Herrschern des Mittelalters, beginnend mit Konrad II. (t 1039) und dessen Gemahlin Gisela (t 1043), beigegeben wurden: Eine solche einfache, oftmals aus Kupferblech gearbeitete Krone für einen verstorbenen Regenten sei "Zeichen seiner endgültigen himmlischen Mitherrschaft zur Rechten Gottes"; diese Kronen konnten "nicht als irdische Repräsentationsstücke", sondern "nur als Abbilder jener corona sancta verstanden werden, die die Stellvertreter Christi im Leben trugen und im Himmel weiter zu tragen erhofften", so daß man in ihnen "ausschließlich Chiffren des transzendentalen Herrschaftsgedankens erkennen" könne. Bornscheuer überträgt seine Erkenntnisse zwar nicht auch auf die im Leben getragenen Kronen, die eben "irdische Repräsentationsstücke" seien, stellt aber angesichts der Kronformei des Mainzer Königskrönungsordo richtig fest: "Das Königtum des Vicarius Christi besitzt eine teleologische Offenheit zur himmlischen Mitherrschaft, die sich über das zeitliche Kondominium zwischen Himmel und Erde hinaus in der Zukunft, nach dem Tode des Herrschers, vollendet."40 Wie die tropologisch und anagogisch gedeutete Krone im kirchlichen Herrschererhebungszeremoniell des Mittelalters (und daran anknüpfend auch der Neuzeit) zum Tragen kommt, erläutert exemplarisch die Kronformei, die gemäß dem Mainzer Ordo für die Königskrönung von ca. 960 während des Aufsetzens der Krone vom Erzbischof zu sprechen war: Mit dieser Oratio wird dem zu Bekrönenden bedeutet, daß ihm die Krone des Königreiches {corona regni) von den unwürdigen Händen der Bischöfe aufs Haupt gesetzt werde. Er möge begreifen (intellegere), daß diese den Ruhm der Heiligkeit, Ehre und Stärke signalisiere {signare}, Der Gekrönte habe teil am Amt der Priester, die die Kirche im Innern bewahren, während er selbst nach außen hin Gott ehren und ein kräftiger Verteidiger der Kirche Christi gegen ihre Gegner sein möge. In bezug auf das Königreich, das ihm von Gott gegeben und auf die Königsherrschaft, die ihm vermittels der Benediktton des Erzbischofs in Stellvertretung der Apostel und aller Heiligen übertragen sei, möge er stets ein. nutzbringender Vollstrecker und Regent sein. Die Oratio schließt mit dem einer Verheißung gleichkommenden Wunsch, der König möge im Kreis der ruhmreichen Glaubenskämpfer (athletae), mit den Edelsteinen der Tugenden geschmückt und mit dem Lohn der ewigen Glückseligkeit gekrönt, zusammen mit dem Erlöser und Erretter 10

Lothar Bornscheuer: Miseriae Regum. Untersuchungen zum Krisen- und Todesgedanken in den herrschaftstheologischen Vorstellungen der ottonisch-salischen Zeit. Berlin 1968 (Arbeiten zur Fnihmittelaltcrforschung 4). S. 220-223 und 201f. Zu den salischen Grabkronen zuletzt, mit Abbildungen und weiterer Literatur, Mechthild Schulzc-Dörrlamm: Katalogbeitrag "Die Gräber der Salier im Dom zu Speyer". In: Reich der Salier (wie Anm. U). S. 288-300.

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Jesus Christus, dessen Namen und Stellvertretung er innehabe, ohne Ende ruhmreich sein,41 Hier also fuhrt die Auslegung der Krone im Grunde in die Richtung, die später auch Honorius Augustodunensis und Sicardus von Cremona mit Hilfe ihres theoretischen Gerüstes einschlagen: Die Krone ist das Zeichen der irdischen Herrschaft mit ihrem Ruhm und ihrer Verantwortung, und sie verweist darüber hinaus - so der implizite tropologische Sinn - auf die bei gerechter Regierung dereinst verliehene himmlische Krone des Lebens, deren Unterpfand und Präfiguration sie somit ist, Die äußere Form der irdischen Krone fugt den anagogisehen Sinn hinzu, wie dies besonders einprägsam die Wiener Reichskrone (Abb 112) mit ihren 'Edelsteinen der Tugenden' veranschaulicht. Die Kronformeln anderer mittelalterlicher Krönungsordines sprechen ebenfalls den Gedanken der irdischen als Vorzeichen der himmlischen Krone aus, wobei sich die direkteste Formulierung in einem karolingischen Ordo findet: Die Könige mögen, ausgehend von ihrer irdischen Krone, zu Gottes Diadem gelangen.42 Ein auf die Salbung folgendes Gebet des Mainzer Ordo weist auf den Erkenntnisgewinn bei der Verleihung von Herrschaftszeichen und der Sal""

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"Accipe coronam regni, quae licet ab indignis episcoporum tarnen manibus capiti tuo imponitur, eamque sanctitaüs gloriam et honorem et opus fortitudinis expresse signare intellegas et per haue te participem ministerii nostri non ignores, ita ut, sicut nos in interioribus pastores rectoresque animamm intellegimur, tu quoque in exterioribus verus Dei cuJtor strenuusque contra omnes adversitates aecclesiae Christi defensor, regnique tibi a Deo dati et, per officium nostrae benedicüonis in vice aposlolorum omiuumque sanctorum, tuo regimini comrnissi utilis executor regnatorque proficuus semper appareas, ut inter glorioses athletas, virtutum gemmis omatus et praemio sempiternae felicitatis coronatus, cum redemptore ac salvatore lesu Christo, cuius nomen vicemque gestare crederis, sine fine glorieris. Qui vivit et imperat Deus, cum Deo patre, in unitate." Vogel/Elze; Le pontifical (wie Anm. 5). S. 257. § 22. "Te timeant [reges], ut nihil metuant, ad diadema tuum veniant ex hac corona mundana." Ordo des 9, Jhs., auf den jüngst Reinhard Elze aufmerksam machte; Ein vergessener Ordo für die Trauung und Krönung eines karolingischen Herrscherpaares. In: Ex Ipsis Reium Documentis, Beiträge zur Mediävistik. Festschi. Harald Zimmermann zum 65. Geb. Hg, v. Klaus Herbers u. a. Sigmaringen 1991. S. 69-72, Vgl. außerdem die entsprechenden Teile der Kronformel des Römischen Ordo im Ottonischen Pontifikale fiir die Krönung des Kaisers (um 960): "Accipe signum gloriae {...], ut ab ipso domino nostro lesu Christo in consortio sanctorum aeterni regni coronam percipias." Elze: Die Ordines (wie Anm. 3). S. 3. Nr. I. § 9 und des Ordo für die Krönung der Königin oder der Kaiserin im Otlonischen Pontifikale (westfränkisch, um 900), wo auch die Edelsteine der Krone angesprochen werden: "(...] accipe coronam regalis excellentiae [.,.], unde, sicut exterius auro et gemmis redimita enites, ita et interius auro sapientiae virtutumque gemmis decorari contendas, quatinus post occasum huius saeculi cum prudentibus virginibus sponso perenni domino nostro lesu Christo digne et laudabiliter occurrens regiam caelestis aulae mercaris ingredi ianuam." Ebd. S. 9. Nr. III. § 4. Die "christlich-mystischen Ideen" dieser Kronformeln, insbesondere deren Hinweis auf die Krone des Lebens, hat bereits Hans Schreuer: Die rechtlichen Grundgedanken der französischen Königskrönung, Mit besonderer Rücksicht auf die deutschen Verhältnisse. Weimar 1911, bes. S, 63, 65-75, treffend beschrieben.

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bung mit den folgenden Worten hin: Vermittels der sichtbaren und berührbaren Gabe möge der König das Unsichtbare begreifen und, nachdem er seine irdische Regentschaft gerecht ausgeführt habe, ewig mit Christus herrschen.4 Die sichtbare Erscheinungsform und der zeichenhafte Sinn der Krone - um beim Untersuchungsgegenstand zu bleiben - offenbaren sich dem zu Krönenden und allen Umstehenden im Moment des Krönungsaktes, wobei es nicht bei der bloßen Handlung belassen wird: Charakteristisch für den gesamten zeremoniellen Prozeß der Salbung und der Übergabe von Herrschaftszeichen ist die Sirnultaneität von Handlung und deren Erläuterung in Gebetsform, Es handelt sich bei der Krone und den anderen Insignien zwar um in der Tradition verankerte, vereinbarte Zeichen (signa dato), jedoch will eine mündliche Anleitung während der Zeichenübergabe jedesmal die Erkenntnis der Überleitung vorn Zeichen zum Bezeichneten erst herbeifuhren. Diese Anleitung ist verbunden mit dem Hinweis auf den Ursprung des Zeichens aus der göttlichen Kraft. Der Inhalt der jeweiligen Oratio lenkt den Träger und die Betrachter dieser Zeichen mnemotechnisch auf bereits Gewußtes. Das gesprochene Wort ist allerdings intentional und nicht zuletzt in seinem historischen Ursprung ein hilfreicher Fingerzeig auf den Erkenntnisgewinn von etwas zuvor noch nicht Gewußtem, Der aus der Kirche Entlassene soll sich fortan beim Tragen und Betrachten der Zeichen an das Bezeichnete erinnern und demgemäß handeln. Allen übrigen, denen sich später der Sinnesreiz der Zeichen offenbart.- vor allem bei zeremoniellen Handlungen wie Festkrönungen, 'Hof-Festen, 'weltlichen' Rechtsakten und dergleichen - kann sich immer von neuem die Sicht auf die göttlichen Verheißungen an die Herrschaft und an den Herrscher bieten. Hierbei wird, je nach geistigem Horizont des jeweiligen Betrachters, die Spannbreite des Erkenntnispotentials von einer bloßen Ahnung des Gottesgnadentums beim Anblick der schmuckvollen Gegenstände bis hin zum genauen Wissen um die Deutung eines jeden Zeichens gereicht haben. Die in dieser Studie aufgrund der Quellen rekonstruierte geistliche Sicht auf die Krone stellt natürlich - das sei ausdrücklich betont - nur einen Aspekt des 'Kronen- und Krönungsbrauches'44 im Mittelalter dar. Insignien des Herrschers 'funktionierten', wurden rezipiert in Handlungsräumen verschiedener Wertigkeit, die die Herrschaft gliederten und in denen der Status dieser zeichenhaften Gegenstände von Fall zu Fall unterschiedliche Gültigkeit besaß. Tropologischer und anagogischer Sinngehalt der Krone waren eingebettet in christliche herrschaftstheologische Theoreme, die gleichermaßen im Kreis geistlicher Schriftsteller reflektiert und in bestimmten Formen des Zeremoniells vorgeführt wurden. Die Schemata dieses Zeremoniells überlebten das früh- und hochmittetalterliche Herrschaftsgefüge, in dem sie entstanden. 4J

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"[..,] quatinus hoc visibili et tractabili dono invisibilia percipere et temporali regno iustis moderaminibus exsecuto aeternaliter cum eo regnare merearis, [...]" Vogel/EIze: Le pontifical (wie Anm, 5), S. 255. § 17. Formulierung nach Brühl; Kronen und Krönungsbrauch (wie Anm. 13).

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Inwieweit auch die Theoreme in die Herrschaftsauffassung späterer Jahrhunderte Eingang gefunden haben, ist eine andere, nicht hier zu erörternde Frage.

4 Zur inhaltlichen Deutung mittelalterlicher Herrscherkrönungsbilder mit der Darstellung eines himmlischen Coronators In welcher Weise können nun die vorangestellten Beobachtungen für die Interpretation von Herrscherkrönungsbildern des frühen und hohen Mittelalters angewendet werden? Die folgende exemplarische Untersuchung einer Miniatur mit der Darstellung einer Krönung versteht sich als Versuch, diese Frage nach den übergeordneten Sinnbezügen, aber auch nach gleichzeitig möglichen aktuellen Verbindungen zwischen dem zeremoniellen Ereignis der Herrschererhebung und diesen Bildern klären zu helfen. Im Sakramentar Heinrichs H 4i (König 1002-1014, Kaiser 1014-1024), entstanden in Regensburg, befindet sich auf fol. l l r eine ganzseitige Herrscherminiatur (Abb. 113). Sie wird eingefaßt von einem Leistenrahmen, der mit einem von vegetabilischem Ornament unterbrochenen Knickbandmotiv gefüllt ist. Um eine stringente Bildgliederung zu erreichen, hat der Miniator den sechs dargestellten Personen jeweils eine mit verschiedenem Mustergrund unterlegte Parzelle zugewiesen. Damit wird zum einen eine Abgrenzung bewirkt, zum anderen werden die interaktiven Momente besonders betont, die sich immer dort abspielen, wo einzelne Körperteile oder Objekte in die Sphäre des jeweils anderen hineinragen und somit Kontakte entstehen. Bezugspunkt jeglicher Handlung ist König Heinrich II., der frontal zum Betrachter im Zentrum steht und alle weiteren Figuren an Größe übertrifft. Kopf und Schultern des Regenten ragen in die Mandorla hinein, in der Christus auf einem Bogensegment und einem Suppedaneum thront, die Rechte zum Segensgestus erhoben, mit der Linken4* eine große Bügelkrone 45

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München. Bayerische Staatsbibliothek. Clin 4456. Schramm; Kaiser und Könige in Bildern (wie Anm. 8). S. 2I5f. Nr. 124; Florentine Mütherich; Die Regensburger Buchmalerei des 10. und 11. Jahrhunderts; Ulrich Kuder: Katalogbeitrag "Sakramentar Heinrichs II.". In: Regensburger Buchmalerei, Katalog zur Ausstellung der Bayerischen Staatsbibliothek und der Museen der Stadt Regensburg 1987, München 1987. S, 23-29, 32f. Kat, Nr. 16 (Lit.). Taf. 6. Da die Krönungsminiatur im Sakramentar die älteste Abbildung des hl, Ulrich bringt, wird sie jüngst in einigen der Aufsätze in; Bischof Ulrich von Augsburg 890-973. Seine Zeit - sein Leben - seine Verehrung. Festschr. aus Anlaß des tausendjährigen Jubiläums seiner Kanorüsation im Jahre 993. Hg. v. Manfred Weiüauff, Weißenhorn 1993 (Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte e.V. 26/27 (1992/1993)) besprochen, so etwa von Manfred Weitlauff: Kaiser Otto 1. und die Reichskirche. S. 21-50, bes. S. 2!f,, 27 und insbesondere, mit Kritik an älterer Forschung, von Ulrich Kuder: Bischof Ulrich von Augsburg in der mittelalterlichen Buchmalerei. S, 413-482, bes. S. 413-424. Daß der Coronator hier eine Einzelperson mit der linken anstatt mit der rechten Hand krönt, ist ein einzigartiges Motiv innerhalb der Ikonographie mittelalterlicher Krönungsbilder. Das strenge ikonographische Schema der Maiestas mit der dem Segens-

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auf den Kopf Heinrichs senkend. Dieser vertikalen Handlung von oben nach unten entspricht die von zwei Engeln zu seilen Christi mit verhüllten Händen vorgenommene Übergabe eines Schwertes und der Heiligen Lanze, jener Reliquienwaffe der deutschen Herrscher, die der Legende nach mit einem Naget vorn Kreuz Christi geschmückt ist und deren Blatt hier von einem reich geschmückten Futteral verhüllt und mit einem kleinen Kruzifix bekrönt abgebildet wird. Das Stützen der Arme des Königs durch den hl. Ulrich von Augsburg (links) und den hl, Emmeram von Regensburg (rechts), die beide zu Christus emporblicken, begleitet in horizontaler Achse die Verleihung der drei Herrschaftszeichen Auf dieser Miniatur wird das Aufsetzen der Krone auf den Kopf des Königs durch die Hand Christi, also eine himmlische Krönung gezeigt, wie das vor allem im 9. bis 12. Jahrhundert auf Darstellungen anderer Herrscher mit verschiedenen Modifikationen - ebenfalls thematisiert ist. Das ikonographische Schema dieser Bilder folgt einem einfachen Prinzip: Eine gekrönte oder zu krönende Person vom Rang eines irdischen Herrschaftsträgers wird in einen Handlungsbezug zu einer numlnosen Instanz gesetzt, wahlweise Christus, die Hand Gottes oder von diesen eingesetzte Engel oder Heilige; bei einigen Beispielen handelt es sich um zwei oder mehrere gekrönte oder zu krönende Herrscher, Von der emanierenden Kraft des Coronaiors geht eine Handlung aus, die von Fall zu Fall entweder als segnendes Berühren einer bereits auf dem Kopf des oder der Regenten befindlichen Krone oder als Halten einer Krone über den Kopf oder als Aufsetzen einer Krone auf den Kopf des oder der Regenten zu bezeichnen ist. In einzelnen Fällen korrespondiert diese hierarchisch gesehen von oben nach unten gerichtete göttliche Aktion mit einer von unten nach oben gerichteten Gestik von Seiten des oder der Regenten wie Akklamation, Heranschreiten, Stehen, Knien u.a. Das prägnante Zeichen für diese Handlungsbeziehung ist der auf den Bildern vorgeführte Gegenstand 'Krone1: Die Krone ist göttlichen Ursprungs, und ihre Übergabe oder Berührung macht die dem Herrscher erwiesene himmlische Gnade für die Augen des Betrachters nachvollziehbar. Krönungsbilder dieser Art sind aus der heutigen Perspektive nicht leicht zu verstehen. Im Fall eines späteren Bilddokuments wie desjenigen im oben besprochenen Zeremoniale von 1530 läßt sich behaupten, daß es Zeremoniell reflektiert, indem es eine Zeremonie abbildet, wie sie so oder ähnlich tatsächlich stattgefunden hat.47 Sind dagegen Darstellungen einer himmlischen

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gestus vorbehaltenen Rechten ist hier bestimmend. Die Linke, die normalerweise das Buch hält, ist im Sakramentar für den Krönungsakt eingesetzt. Auf vergleichbaren späteren Miniaturen byzantinischer Kaiser hält Christus die Krone dagegen mit der bedeutungsvollen rechten Hand: etwa auf der Miniatur Basileios' H. in der Marciana (vgl. unten im Text) oder auf dem Herrscherbild im Barberini-Psalter. Fol. 5r. Rom, Bibliotheca Apostolica Vaticana. Barb. Gr. 372; lohannis Spatharakis: The Portrait in Byzantine Illuminated Manuscripts. Leiden 1976. S. 26- 36. Fig. 7. Vergleichbar ist ein Relieffeld auf dem Grabmal des Bischofs Guido von Tarlati, der Ludwig den Bayern krönt (Dom in Arezzo, 1330), Nachzeichnung in Siegfried Ober-

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Krönung überhaupt in Beziehung zum irdischen Zeremoniell zu bringen? Eine historisch getreue Wiedergabe eines bestimmten Krönungsereignisses jedenfalls intendieren diese Bilder nicht. In der Forschung48 hat man sich gleichwohl in der Vergangenheit angesichts derartiger Artefakte öfter dazu veranlaßt gesehen, die Frage zu stellen, was diese denn eigentlich meinen: die irdische - oder gar die 'weltliche1 - Krönung des Herrschers o d e r dessen himmlische Krönung mit denjenigen Kronen des Lebens, die gemäß der Aussage der biblischen Apokalypse und anderer Textstellen der Bibel den gerecht kämpfenden Christen verheißen werden?49 Ebensowenig wie jedoch eine früh- und hochmittelalterliche Königs- oder Kaisererhebung mit ihrem in den meisten Fällen außerkirchlichen Wahlakt und kirchlichen Investiturakt als rein 'weltlich' und ebensowenig wie ein auch geistlich denotiertes Zeichen wie die Krone als 'weltliches' Insigne bezeichnet werden darf, sollte man sich diesen Krönungsbildern mit der Frage 'geistlich oder weltlich' nahem. Man wird sich hinsichtlich des ikonographischen Themas, aber auch des kirchlichen Stiftungszusammenhangs solcher Kunstwerke auf die Deutung einigen müssen, daß die Absicht der Auftraggeber, sich in Beziehung zum jenseitigen Coronator und zur himmlischen Krone des Lebens abbilden zu meJer; Ludwig der Bayer. Herzog und Kaiser. Weilheim 1989. S. 52. Die Illustrationen des Krönungszeremoniells in - vor allem französischen - Pontifikalien seit dem 13. Jh. begleiten die Handlungsanweisungen der Texte, meinen aber naturgemäß keine bestimmten Herrscher, so z.B. ein Pontifikale aus Chälons-sur-Marne (2. Hälfte 13. Jh.) mit zwei Abbildungen von Krönungsszenen sowie weiteren Bildern zum kirchlichen Herrschererhebungszerernoniell, Paris. Bibliotheque Nationale. Ms. lat. 1246. Fol. 51r und 93r. Abb, und weitere Beispiele bei Victor Lertxjuais: Les pontificaux manuscrits des bibliotheques pubtiques de France. 3 Bde. und Tafelbd. Paris 1937, hier Bd. 2. S. 145f. Nr. 138. Tafelbd. Pl. XXXVf. und passim. Zu verweisen ist außerdem auf die zahlreichen Herrscherkrönungsbilder in chronikalen Handschriften des 13. und der späteren Jahrhunderte, vgl. dazu jetzt Anne Dawson Hedeman: The Royal Image. Illustrations of the "Grandes Chroniques de France" 1274-1422. Berkeley 1991 (California Studies in the History of Art 28), Insbesondere diejenige zum Evangeliar Heinrichs des Löwen. Vgl. unten, Anm. 50. Ähnlich wieder Frank Kämpfer: Der mittelalterliche Herrscher zwischen Christus und Untertan. In: Der Herrscher. Leitbild und Abbild in Mittelalter und Renaissance. Hg, v. Hans Hecker. Düsseldorf 1990. S. 201-223, hier S. 214 (zu der bekannten Elfenbeintafel von 982/83 im Pariser Musee Cluny. Nr. 1035, auf der Otto II. und Theophanu zu selten Christi stehen, der seine Hände segnend auf ihre gekrönten Köpfe legt): "Die Elfenbeintafel dürfte - der Form des Kaisertitels nach zu urteilen - erst nach 982 entstanden sein, so daß wir den Krönungsakt, den wir vor uns sehen, schlecht bestimmen können, denn die Kaiserkrönung Ottos II. geschah 967, die Vermählung mit Theophanu und deren Krönung im Jahre 972. [...] [Es wäre] zu bedenken, daß es sich vielleicht gar nicht um die Kronen der irdischen Herrschaft, sondern um die 'Kronen des Lebens' gehandelt haben könnte." Vgl. vor allem 2. Tim. 4, 7f; Jak. l, 12; 1. Petr. 5, 4; Apk. 2, 10; 3, 11; ferner Weish. 5, 16f. Zum Kranz der Bibel Johann Michl: Die 24 Ältesten in der Apokalypse des hl. Johannes. München 1938. S. 10-14; Walter Grundmann; Artikel 'Stephanos'. In: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Begr, v. Gerhard Kittel. Hg. v. Gerhard Friedrich. Bd. 7. Stuttgart 1964. S. 617-635.

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lassen, den Darstellungen zugrunde liegt; erst in zweiter Linie ließe sich in den einzelnen Fällen nach Aktualitätsbezügen fragen, die eventuell neben die geistliche Aussageebene treten.50 Trotzdem irritiert die Frage, wie überhaupt die Zeitebene des abgebildeten Vorgangs zu begreifen ist, da hier doch Personen, die jeweils zur Zeit der Anfertigung ihrer Kunstwerke noch lebten, in eine zukünftige, endzeitliche, jenseitige Situation bzw. in die Gegenwart einer himmlischen Instanz versetzt werden. Krönungsbilder von Heiligen mit ähnlicher Ikonographie erscheinen dagegen vergleichsweise schlüssig, da deren Protagonisten längst verstorben und kanonisiert waren und da Märtyrer und andere Heilige nach christlicher Übereinkunft im Anschluß an ihren Tod sofort die Lebenskrone sicher erringen.51 Wie aber ist die bildliche Darstellung des irdischen Herrschers zu verstehen, in der seine Hoffnung auf die Seligkeit in ihrer Erfüllung zu sehen ist und in der die damit verbundene Krönung mit den Lebenskronen vorweggenommen wird? AJs Antwort auf diese Frage ist hier folgendes vorzuschlagen: Das Medium des Bildes vermag ein Ereignis auf eine visuelle Realitätsebene zu versetzen, das noch gar nicht eingetreten ist und vorerst nur in der Vorstellung existiert. Der in den Kronformeln der Krönungsordines erhoffte und durch eine gute Regentschaft geförderte Eintritt des Herrschers in die Seligkeit wird im Bild "gleichsam proleptisch", wie das bereits Wilhelm Vöge formuliert hat,52 bzw. antizipatorisch, also in Vorwegnahme der Erfüllung des Erhofften vor Augen geführt und also die Krönung mit der Lebenskrone als Tatsache vorgeführt. Hoffnung, Verheißung und Erfüllung sind eins. Solche Henrscherkrönungsbilder memorieren und kommentieren vermittels dieser suggestiven Fähigkeit die Sinneinheit zwischen irdischem und himmlischem Krönungsakt in einer Art Aufhebung von zeitlichen Dimensionen. Der Herr50

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Vgl, dazu unten die Ausführungen zum Sakramental Heinrichs II. Auf die Notwendigkeit, eine primär geistliche Aussage des heftig diskutierten Krönungsbildes im Evangeliar Heinrichs des Löwen (Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, Cod. Guelf. 105 Nov. 2° und München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 30055. Fol. 171v) vorauszusetzen, hat Johannes Fried: "Das goldglänzende Buch", Heinrich der Löwe, sein Evangeliar, sein Selbstverständnis, Bemerkungen zu einer Neuerscheinung. In: Göttingische Gelehrte Anzeigen 242 (1990). S, 34-79, hier S. 68f., nachdrücklich hingewiesen: "Es geht eben nicht - wie heute im Blick auf das Krönungsbild des HeinrichsEvangeliars, zumal von kunsthistorischer Seite, regelmäßig suggeriert wird - um ein 'entweder geistlich oder weltlich'; zur Diskussion steht vielmehr, ob die Miniatur ' a u s s c h l i e ß l i c h geistlich oder a u c h weltlich', also z u g l e i c h religiös und politisch, moralisch und historisch zu lesen ist. Eindeutigkeit oder Mehrdeutigkeit? - so lautet die zu prüfende Alternative." Dazu etwa Michl: Apokalypse (wie Anm. 49). S. 96- 103; Antonius J. Brekelmans: Märtyrerkranz. Eine symbolgeschichtliche Untersuchung im frühchristlichen Schrifttum. Rom 1965 (Analecta Gregoriana, Be. 150, Series Facult. Hist. Eccl.: Sectio B, n. 25). Wilhelm Vöge: Eine deutsche Malerschule um die Wende des ersten Jahrtausends, Kritische Studien zur Geschichte der Malerei in Deutschland im 10. und 11. Jahrhundert. Trier 1891 (Westdeutsche Zettschrift für Geschichte und Kunst, Erg. Heft 7). S. 122 (zum Krönungsbild im Perikopenbuch Heinrichs II).

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scher wird als von Gott gekrönt vorgeführt Dies ist gleichermaßen projizierbar zum einen auf den vergangenen Moment der von den entsprechenden Oradonen begleiteten irdischen Erhebungszeremonie, die den Eintritt in ein gottesbegnadetes, diesseitiges Herrschaftsdasein signalisierte, und zum anderen auf den konsequenten zukünftigen Moment der himmlischen Krönung als Beginn der ewigen Regentschaft an der Seite Christi. Der als von Gott ausgehend zu begreifende und in der Realität von Vertretern der Kirche durchgeführte irdische Krönungsakt ist das Unterpfand des himmlischen. Der Weg zur Himmelskrone führt zwar nur über die Tugenden, an deren Einhaltung man den Regierenden ständig zu mahnen bemüht ist, jedoch wird - und hier offenbart sich eine teleologisch ausgerichtete Denkweise - der ideale, von Gott ausgewählte Herrscher nicht fehlgehen und gerecht handeln, um dem Unterpfand der Krone zu entsprechen und folgerichtig die verheißene Krone des Lebens zu erringen. Eine solche Mahnung zu guter Regentschaft findet sich neben den Formeln der Krönungsordines nicht zuletzt in rhetorischen Werken wie den sogenannten Fürsienspiegeln. Otto Eberhardt äußert sich im Zusammenhang seiner Untersuchung des Fürstenspiegels Smaragds dazu folgendermaßen: "Das Königtum wird ohnehin nicht nur im rechten Verhältnis auf Erden verwirklicht, es vollendet sich ganz erst im jenseitigen Reich, was als himmlischer Lohn bezeichnet werden kann, ist genau genommen schon notwendiger Bestandteil des Königtums. [...] Der König ist deshalb nicht zur Anstrengung verpflichtet, um sie {= die himmlischen Gaben] einmal als Lohn zu gewinnen, sondern um ihre Verleihung zu rechtfertigen. [.,.] [Bei Smaragd] ist dabei durch die rhetorische Parallelisierung der irdischen und himmlischen Gaben die Vollendung bzw. Überbietung des irdischen Königtums durch das himmlische Königtum veranschaulicht. Es könnte nicht direkter ausgedrückt werden, daß das irdische Königtum auf das himmlische Königtum vorbereitet. Andererseits [...] gehören nur die irdischen Gaben speziell dem König. Die himmlischen Gaben teilt er mit allen übrigen Christen. Hier gibt es keine Unterschiede mehr und keine Steigerung im Grade der Seligkeit."" Der oben zur Diskussion gestellte Deutungsversuch von Krönungsbildern mit der Darstellung eines himmlischen Coronaiors fuhrt zu der Frage nach dem Betrachter solcher ästhetischen Konstrukte. Erst die Beleuchtung der Rezeptionssituation dieser Bilder erlaubt nämlich Rückschlüsse auf deren - in einem idealen Sinne zu verstehende - praktische Funktion: Ein Bild wie die Miniatur in Heinrichs II. Sakramentar ist Bestandteil eines Buches, das bei

Otto Eberhardt: Via Regia. Der Fürstenspiegel Smaragds von St. Mihiel und seine literarische Gattung. München 1977 (Münstersche Mittelalter Schriften 28), S. 574576; vgl. auch ebd. S. 457-460 zur ethischen Bedeutung von Herrschaftszeichen und insbesondere Smaragdus selbst: "per regiam ad Deum reges ambulant viam, et ad coelorum regna cum caeteris sanctis reges quoque feliciter volant." Via regia (verf. Auf. 9. Jh. für Ludwig d.Fr.). PL 102. 934 D.

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der kirchlichen Meßfeier zu rezipieren war.54 Auch die übrigen derartigen Herrscherkrönungsbilder dieser Zeit sind ursprünglich dem kirchlichen Zeremoniell zuzuordnen. Der fürstliche Stifter spendete das Buch für sein Seelenheil und sicherte sich dadurch die diesbezügliche Fürbitte derjenigen Geistlichen, die das Buch verwenden und das Bild sehen sollten. Die Darstellung der vorweggenommenen himmlischen Krönung des Herrschers sollte dem Zelebranten der Feier dabei genau die Tatsache vorführen, für deren Erfüllung er im Auftrag des Buchstifters erst noch zu beten hatte. Bei dieser Fürbitte konnten übrigens gelegentlich auch die Beischriften der Bilder Gedächtnishilfe leisten, da sie in einigen Fällen im Grunde den zu sprechenden Gebetstext vorgeben. Die Bitte um die Krone des ewigen Lebens, die sich im Gebet des Zelebranten ständig zu wiederholen hatte und z.T. in den Bildbeischriften permanent fixiert ist, war auch Bestandteil der Kronformel im Rahmen der Erhebung des herrscherlichen Auftraggebers gewesen. Der periodische Moment der Betrachtung des Bildes kann somit zusammen mit dem dabei gesprochenen Gebet gleichsam als Reproduktion, zumindest als Memoria einer ephemeren zeremoniellen Ersthandlung aufgefaßt werden. Bei alledem ist allerdings die Frage zu berücksichtigen, ob nicht dieses Stifter und Empfänger verbindende Prinzip im Fall der wertvollen Buchstiftungen der Könige und Kaiser lediglich auf einer idealen Ebene verblieben ist, oder ob es etwa auch in der Realität verwirklicht werden sollte. Handelte es sich hier doch in den meisten Fällen um überaus wertvolle Cimelien, über deren Nutzung die Quellen schweigen. Man wird annehmen dürfen, daß diese Codices nicht in der alltäglichen kirchlichen Zelebration, sondern allenfalls an sehr hohen Festtagen Verwendung fanden und ansonsten im Schatz der jeweiligen Kirche gehütet wurden.is Inwieweit also tatsächlich angesichts der Herrscherbilder gebetet wurde, kann nicht entschieden werden.

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Zur Bedeutung von (Buch-) Stiftungen für Stifter und Empfänger vgl. die umfangreiche 'Memoria'-Forschung der letzten Jahre, insbes. Joachim Wollasch: Kaiser und Könige als Brüder der Mönche. Zum Herrscherbild in liturgischen Handschriften, 9. 11. Jh.. In: Deutsches Archiv 40 (1984), S. 1-20 und die Aufsatze in: Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter, Hg. v. Karl Schmid/Joachim Wollasch, München 1984 (Münstersche Mittelalter Schriften 48). Vgl. auch Hagen Keller: Herrscherbild und Herrschaftslegiümation. Zur Deutung der ottonischen Denkmäler. In; Frühmittelalterliche Studien 19 (1985). S. 290-311. Die Frage der tatsachlichen Nutzung solcher Bücher ist - wohl nicht zuletzt aufgrund des Fehlens entsprechender Quellen - in der Forschung noch zu wenig thematisiert. Dazu einmal Henry Mayr-Harting: Ottonische Buchmalerei. Liturgische Kunst im Reich der Kaiser, Bischöfe und Äbte. Stuttgart/Zürich 1991. S. 269 (zum Perikopenbuch Heinrichs II.): "Der Gedanke, daß eine Kirche ein prachtvoll illustriertes Perikopenbuch nur um des Besitzes willen in ihrem Schatz hatte, ist also keineswegs abwegig; es reichte durchaus das Wissen, daß man ein solches Buch hatte."; vgl. ebd. S. I94f.

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5 Der historische Bezug der Krönungsminiatur im Sakramentar Heinrichs II. und die Datierung der Handschrift Die Miniatur im Sakramenlar Heinrichs II. (Abb. 113) ist - wie gesehen primär geistlich zu interpretieren, indem sie die zukünftige himmlische Krönung des Königs antizipativ abbildet. Daß das Bild darüber hinaus offenbar auch den Bezug zu einem vergangenen, irdischen Krönungszeremoniell herstellen möchte, soll - in Anknüpfung an bereits bestehende Forschungsergebnisse - im folgenden mithilfe eines gerafften Rückblicks auf das historische Geschehen vor, während und nach der Wahl und Krönung Heinrichs II. zum König im Jahr 1002 gezeigt werden.56 Nach dem unerwarteten Tod Kaiser Ottos III., der während eines Italienaufenthaltes am 23. Januar 1002 einer Krankheit erlegen war, entstand eine Auseinandersetzung um die Frage nach dem legitimen Nachfolger für die Königswürde. Daß es dem bayerischen Herzog Heinrich IV., der sich aufgrund seiner Verwandtschaft in männlicher Linie mit Otto III. und als Urenkel König Heinrichs I. (t 936) geblütsrechtlich legitimiert sah, schließlich gelang, aus den Streitigkeiten siegreich hervorzugehen und sich zum König Heinrich II. krönen zu lassen, war nicht zuletzt durch den Umstand bedingt, daß er schneller und entschiedener als seine Konkurrenten handelte. Zunächst gelang es ihm im Februar 1002 in Polling, die auf dem aus Italien kommenden Zug mit dem Leichnam Ottos III. mitgefühlten Insignien der Herrscherwürde rigoros an sich zu nehmen. Das offensichtlich wichtigste Insigne allerdings, 56

Zum Folgenden (in Auswahl): Robert Holtzmann: Geschichte der sächsischen Kaiserzeit (900- 1024). Darmstadt 51967, S. 383-395; Percy Ernst Schramm: Die Krönung in Deutschland bis zum Beginn des salischen Hauses. In: Zeitschrift für Rechtsgeschichte. Kan. Abt. 24 (1935). S. 184-332, bes. S, 282-290, diese Passage wieder abgedr. in: Ders.: Königskrönungen der deutschen Herrscher (wie Anm. 13), hier S. 114-120; Roderich Schmidt: Königsumritt und Huldigung in ottonisch-salischer Zeit. In: Vorträge und Forschungen. Bd. 6. Konstanz 1961. S. 97-233, bes. S. 114150; Reinhard Schneider: Die Königserhebung Heinrichs II. im Jahr 1002. In: Deutsches Archiv 28 (1972). S. 74-104; Walter Schlesinger: Erbfolge und Wahl bei der Königserhebung Heinrichs II, 1002. In: Festschr. Hermann Heimpel. Hg. v. d. Mitarb. d. Max-Planck-Inst. f. Gesch. Bd, III. Göttingen 1972. S. 1-36; Ders.: Die sogenannte Nachwahl Heinrichs H. 1002. In: Geschichte in der Gesellschaft. Festschr. Karl Bosl. Hg. v. Friedrich Prinz u. a. Stuttgart 1974. S. 350-369; Uta Reinhardt: Untersuchungen zur Stellung der Geistlichkeit bei den Königswahlen im Fränkischen und Deutschen Reich (751-1250). Phil, Diss. Marburg 1975. S. 191-204; Carlrichard Brühl: Deutschland - Frankreich. Die Geburt zweier Völker. Wien 1990. S. 627-639. Susanne Künzel: Denkmale der Herrschaftstheologie Kaiser Heinrichs II. München 1989 (Schriften aus dem Institut für Kunstgeschichte der Universität München 43), hier S. 11-36, ordnet neben dem Kronungsbüd des Sakramentars Heinrichs II. auch das umseitige Thronbild (fol. I lv) den Ereignissen von 1002 zu. Zu Künzels Arbeit ist zu beachten die Rezension von Jürgen Petersohn, In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 54 (1991). S. 527 ; vgl. zuletzt Jutta Held: Das Krönungsbild im Sakramentar Kaiser Heinrichs II. Zur Rekonstruktion seiner Bedeutungssysteme. In: Aachener Kunstblätter 59 (1991-1993). S. 85-97.

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die Heilige Lanze, hatte in Vorahnung des Kommenden Erzbischof Heribert von Köln (f 1021) verschleppen lassen. Erst durch die Beugehaft Heriberts und die Geiselnahme von dessen Bruder Bischof Heinrich von Würzburg (t 1018) konnte Heinrich auch die Inbesitznahme der Lanze einigermaßen spektakulär erzwingen." Jedoch konnte der Besitz der 'Reichsinsignien' lediglich den Herrschaftsanspruch des Herzogs sichtbar untermauern, nicht aber die rechtliche Grundlage für die Übernahme der Herrschaft bilden.58 In diesem Bewußtsein ließ Heinrich am 6. Juni 100259 seinen "Überraschungscoup"60 folgen; die Wahl und Krönung zum deutschen König in Mainz. Der Chronist Thangmar berichtet dazu, Erzbischof Willigis von Mainz (t 1011), Bischof Bernward von Hildesheim (f 1022) und weitere Fürsten hätten Heinrich nach Mainz geführt und ihm dort die königliche Macht durch Übergabe der Heiligen Lanze übertragen. Im Anschluß an diese offenbar noch außerkirchliche Handlung sei die Salbung des neuen Königs erfolgt.61 Auf 5

' Thietmar von Merseburg: Chronicon IV, 50. Hg. v. Robert Holtzmann. Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung. MGH Script. rer. Germ, Nova ser, 9. Berlin 1935. S, 188. Dem Chronisten Ademar zufolge hatte Heribert auch das Szepter und die Krone entwendet: Ademar: Chronicon III. 33, Ademarus Monachus Sancti Cybardi: Chronicon. Hg. v. Jules Chavanon. Paris 1897 (Collection de textes 20). S. 155f, Schmidt: Kömgsumritt (wie Anm. 56). S. 125; Schneider; Königserhebung Heinrichs II. (wie Anm. 56). S. 77; Karl Hauck: Erzbischof Adalbert von Magdeburg als Geschichtsschreiber, In: Festschr. Walter Schlesinger. Hg. v. Helmut Beumann. Bd. 2. Köln/Wien 1974. S, 276-353, bes. S. 312 ; Schlesinger; Nachwahl Heinrichs II. (wie Anm. 56). S. 16If. Hierzu zuletzt Günther Wolf: Die Heilige Lanze. Erzbischof Heribert von Köln und der "secundus in regno" Pfalzgraf Ezzo. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 104 (1993). S, 23-27. 58 Die in der mediävistischen Forschung bislang verbreitete Ansicht, die Verwendung allein der tradierten 'Reichsinsignien' beim Krönungsakt sei seit dem frühen Mittelalter für die "Rechtsgültigkeit der deutschen Königskrönung ausschlaggebend gewesen, während andere Insignien etwaiger Thronkonkurrenten als 'falsch1 und daher ungültig bewertet worden seien, kann jetzt Petersohn: Insignien (wie Anm. 6) korrigieren. Auch 1002 konnte es Heinrich demnach nur auf den B e s i t z des Insignienhortes ankommen; die Notwendigkeit, ausschließlich mit diesen traditionellen Gegenständen ein rechtsgültiges Erstkrönungszeremoniell abhalten zu dürfen, war eben nicht gegeben/Hierfür konnte auch jedes andere zur Verfügung stehende Insigne verwendet werden. Ein Sonderstatus ist 1002 der Heiligen Lanze und ihrer Bedeutung für den außerkirchlichen Wahlakt einzuräumen, die damals jedoch nicht als 'rechtes' Insigne per se, sondern u. U. als Ersatz für den 'rechten Ort' Aachen hervortrat, vgl. dazu Anm. 64. Oder am 7. Juni. Dazu Schlesinger; Nachwahl Heinrichs II. (wie Anm. 56). S. 351, Anm. 8; S. 357. 60 So das Prädikat von Schlesinger: Erbfolge und Wahl (wie Anm. 56). S. 30. 61 "Willigisus archiepiscopus et Bernwardus praesul cum caeteris regni principibus domnurn Heinricum Mogontiam cum summo honore ducentes, dominica octava pentecostes regimen et regiam potestatem cum dominica hasta illi tradiderunt; ac deinde rite omnibus peractis, cum maximo tripudio universorum sollempniter ilium Dei gratia unxerunt." Thangmar: Vita Bernwardi episcopi Hildesheimensis. Cap. 38. Hg. v. Georg Waitz. MGH Scriptores (= SS) IV. Hannover 1941. S. 754-782, hier S. 775. Die Lanzenübergabe als weltlichen Akt sehen Schramm, Herrschaftszeichen und

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seinem anschließenden, vor allem der Einholung der Huldigung der Reichsstämme dienenden Umritt mußte sich Heinrich II. allerdings noch der Zustimmung vor allem der in Mainz abwesenden sächsischen Fürsten versichern. Dies führte schließlich dazu, daß nach seinem Eintreffen im sächsischen Merseburg dort am 25, Juli "eine vollständige Königserhebung [...], die paradoxerweise an einem bereits erhobenen König nochmals vollzogen wurde", zur Aufführung kam, und zwar ein "rein weltlicher Akt".62 Herzog Bernhard von Sachsen (t 1011) habe vermittels der Übergabe der Heiligen Lanze die Leitung des Königreiches an Heinrich übertragen, beschreibt Thietmar von Merseburg den formellen Höhepunkt dieser Merseburger Handlung, an den sich die Huldigungen der Fürsten anschlössen.63 In Mainz und Merseburg gleichermaßen war also die Heilige Lanze das maßgebliche Zeichen für die an den neuen König übertragene Königsmacht.64 Ein Detail im Krönungsbild des Sakramentars Heinrichs II, (Abb. 113) gibt vermutlich einen unmittelbaren Hinweis auf die historische Situation des Jahres 1002: Der Miniator hat den Schaft der links von einem Engel an den König übergebenen Heiligen Lanze mit knorrigen Auswüchsen versehen. Diese 'knospende' Lanze beschäftigt die Forschung bereits seit längerem, jedoch erscheint mittlerweile die Deutung des Schaftes als Reminiszenz an den Stab Aarons am wahrscheinlichsten. Gemäß 4. Mose 17, 16-28 hatte Gott Moses aufgefordert, für jeden der zwölf Stammesfürsten Israels einen Stab in die Stiftshütte zu legen und gesagt: Und welchen ich erwählen werde, des Stecken wird grünen, daß ich das Murren der Kinder Israel, das sie wider euch murren, stille (Vers 20),

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Staatssynibolik (wie Anm. 16). Bd. 2, 1955. S. 504 und Schlesinger: Nachwahl Heinrichs II. (wie Anm. 56), S. 365. Ebd. S. 364 und 363. Vgl. Schlesinger. Erbfolge und Wahl (wie Anm. 56). S. 31; "Erst danach wurde er zum rex Saxonum", Zu den Ursachen und Zielen des Umritts Heinrichs II. Schmidt: Königsumritt (wie Anm. 56). "Bernhardus igitur dux, accepta in manibus sacra lancea, ex parte omnium regni curam ill i fideliter committit." Thietmar; Chionicon (wie Anm. 57). V, 17. S. 241. Adalbold von Utrecht: Vita Heinrici secundi imperatoris. Cap. 10, Hg. v. Georg Waitz. MGH SS IV, Hannover 1841. S. 679-695, hier S. 686, weiß von einer zusätzlichen Krönung und Thronerhebung in Merseburg; "fide promissa regem coronant, coronatus in solio locant". Schramm: Krönung in Deutschland. S. 285 bzw. Ders.; Königskrönungen S. 116f. (beides wie Anm, 56), ihm folgend hat Schmidt: Königsumritt (wie Anm. 56). S. 124f, die singuläre Übergabe der Heiligen Lanze als 'Ersatzzeichen' für den in Mainz und Merseburg fehlenden Aachener Thron Karls des Großen interpretiert, der in ottonischer Zeit traditionell der Schauplatz des außerkirchlichen Huldigungsafctes vor der Salbung und Krönung war und den Heinrich II. erst am 8. September 1002 bestieg.

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Wie Aaron ist auch Heinrich II, 1002 aus der Schar seiner Konkurrenten um die Königswürde auserwählt worden.65 Die in seine Verfügung gelangte Heilige Lanze, die ihm die ersehnte Zustimmung der Fürsten in Mainz und Merseburg angezeigt hatte, treibt auf der Miniatur Knospen und präsentiert damit dem Betrachter die durch Gottes Willen und die irdische Wahl legitimierte Herrscherwürde des Buchstifters. Die geistliche Aussage des Bildes wird durch das additive Moment der Verleihung von Lanze und Schwert nicht durchbrochen, sondern sogar potenziert, indem diese beiden Gegenstände ebenso wie die Krone als präfigurative Zeichen für die himmlische Seligkeit interpretierbar sind. Die Heilige Lanze nämlich schaffe, wie es Liudprand von Cremona einmal formuliert hatte, eine Verbindung von Himmlischem und Irdischem, ähnlich wie der Eckstein, als der sich Christus gleichnishaft versteht (Mk. 12, 10; Eph. 2, 20). Sie stehe als sichtbares Zeichen für den sicheren Sieg des Königs über seine Feinde ein und gelte als diesseitiger Hinweis (indicium) auf die jenseitige Gnade, die Gott dem frommen König zukommen lassen werde, Aber auch das Schwert ist in diesem Sinn zu deuten: Gemäß der Anweisung 65

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Ernst Karpf: Herrscherlegitimation und Reichsbegriff in der ottonischen Geschichtsschreibung des 10. Jahrhunderts. Stuttgart 1985. S. 28f Vgl. zuvor Eichmann: Kaiserkrönung (wie Anm. 13). Bd. 2. S. 54f. mit Anm. 11 (ältere Lit.); Schramm: Herrschaftszeichen und Staatssymbolik (wie Anm. 16), Bd. 2. S. 501-512; zu einer Deutung der Miniatur als Anspielung auf Exod. 17, 8-16 zuletzt kritisch Kuder: Bischof Ulrich {wie Anm. 45). S. 4I6f, Anm. 13 (mit der älteren Lit). - Ein der Inbezugsetzung Heinrich II. - Aaron vergleichbares Prinzip findet sich bereits in karolingischer Zeit: Das Herrscherbild Karls des Kahlen in der Viviansbibel (Tours. 845-846. Paris. Bibliotheque Nationale. Ms. lat. I. Fol. 423 0 ist in Beziehung zur Miniatur mit David (fol. 215V) zu sehen: So wie dieser von Gott aus dem Kreis seiner Brüder auserwählt wurde und über Saul triumphierte, wird auch Karl auserwählt werden und seinen Halbbruder, Kaiser Lothar I., besiegen. Auch Lothar selbst hatte zuvor in seinen Psalter (Hofschule Kaiser Lothars. Kurz nach 842. London. British Museum, Add. Ms. 37768) einen Titulus schreiben lassen, der das Kaiserbild (fol. 4r) und das Davidbild (fol. 5r) in Verbindung setzt: "Rex ftrit eximius, de multis fratribus unum quem deus elegit, regnandi ut sceptra teneret," Diese Hinweise bei Herbert L. Kessler; A Lay Abbot as Patron: Count Vivian and the first Bible of Charles the Bald. In: Committenti e produzione artistico-letteraria nell'alto medioevo occidentale. Spoleto 1992 (Settimane di studio del centro italiano di studi sull'alto medioevo 39), S. 647-675, hier S. 663f. "[Lancea] munus erat, quo caelestibus terrea Deus coniunxerat, lapis scilicet angularis faciens utraque unum [,,.f, Deus autem, qui quo quisque quid animo peragat, intuetur non muneris quantitatis, sed bonae voluntatis inspector ac retributor, quanta ob praelibatam rem mercede aeterno in saeculo pium donaverit regem, indiciis quibusdam hoc etiam in tempore prodidit, dum contra se insurgentes hoc victorifero praeeunte signo semper hostes terruit atque fugavit." Liudprand von Cremona: Antapodosis. IV, 25. In; Die Werke Liudprands von Cremona. MGH Script, rer. Germ, in us. schol. Hg. v. Joseph Becker. Hannover/Leipzig 1915. S. 1-158, hier S. 119. Hauck: Erzbischof Adalbert von Magdeburg {wie Anm. 57). S. 319 kommentierte - allerdings mit Bezug auf Heinrich I, - Liudprands Aussage so: Der Besitzer der Heiligen Lanze sei "auf Grund des Lanzenerwerbs [..,] nach dessen irdischer Wirkung zu urteilen, offensichtlich zur Mitherrschaft im Himmel berufen".

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zur Schwertübergabe im Mainzer Königskrönungsordo von ca. 960, der durchaus, zumindest in modifizierter Form, anläßlich der Mainzer Erhebung Heinrichs II. 1002 Anwendung gefunden haben könnte, wird dem bereits gesalbten König noch vor der Krönung vermittels des Zeichens des Schwertes bedeutet, daß ihm das gesamte Königreich zur Regierung übertragen sei.67 In der Schwertformel selbst, die besonders ausführlich ist und daher gleichwertig neben der Kronformel steht, wird der König zur Einhaltung einer Reihe von Pflichten aufgerufen, unter anderem auch zur Verteidigung der Christenheit gegen ihre Feinde. Am Schluß wird dort - in ähnlichem Wortlaut wie in der Kronformel - der Wunsch ausgesprochen, daß der neue König es verdienen möge, bei Einhaltung seiner Pflichten glorreich im Triumph der Tugenden und als ausgezeichneter Pfleger der Gerechtigkeit mit dem Erlöser der Welt, dessen Stellvertretung er im Namen führe, ohne Ende zu regieren.68 Die auf der Miniatur abgebildete dreifache Investitur läßt sich noch mit einem weiteren Gebet des Mainzer Ordo verbinden, in dem es heißt, der König möge umgeben sein von himmlischen Waffen,09 Der Hinweis auf die himmlische Krone des Lebens ist auch in mehreren Textquellen geläufig, die sich auf Heinrich II. beziehen. An erster Stelle zu nennen ist die Schlußzeile der Beischrift auf dem rückseitig zum Krönungsbild im Sakramentar positionierten Thronbild des Königs (fol. l *), die dem ruhmreichen Triumphaler in Konsequenz seiner besonderen Machtstellung die Kronen des Lebens wünscht. Damit fassen Beginn und Ende des Textes der beiden zusammengehörigen Beischriften des Krönungs- und des Thronbildes rahmend den Gedanken der Miniaturen zusammen: Mit der göttlichen Krönung (fol. 111) offenbart sich das ewige Leben im Himmel, das aufgrund der ruhmreichen und gerechten Herrschaft (fol. Il 1 ^ des Königs erreicht wird.70 Der Gedanke von der irdischen Krone als Unterpfand der 67

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"Postea ab episcopis ensem accipiat et cum ense totum sibi regnum fideliter ad regendum [,..] sciat esse commendatum," Vogel/Elze: Le pontifical (wie Anm. 5). S. 255. § 19. "[,..] quatimis, haec in agendo, virtutum triumpho gloriosus iustitiaeque cultor egregius, cum mundi salvatore, cuius typum geris in nomine, sine fine merearis regnare." Vogel/Elze: Le pontifical (wie Anm. 5). S. 256. § 19. Zur Schwert- und Kronformel des Mainzer Ordo WaJter Dürig: Der theologische Ausgangspunkt der mittelalterlichen liturgischen Auffassung vom Herrscher als Vicarius Dei. In: Historisches Jahrbuch 77 (1958). S. 174 -187. "armisque caelestibus circumdatus," Vogel/Elze: Le pontifical (wie Anm. 5). S. 251, §11.

Beginn: "Ecce coronatur divinitus atque beatur / Rex pius Heinricus proavorum stirpe polosus" (fol. ll r ); Schluß: "Haec modo suscipias caeli sumpture coronas" (fol, ll v ), MGH Poet. Lat. V. S. 434f. Im späteren 12. Jh. steilt der anonyme Verfasser der zweiten Vita Heinrichs II. rückblickend den Bezug zwischen der irdischen Wahl von 1002 und der daraus herzuleitenden Aussicht des Königs auf die ewige himmlische Regentschaft her: "Hie ergo ab omnibus pari voto et communi consensu assciscitur, divina utique disponente dementia, ut per temporalis regni fastigia ad culmen coelestis regni pertingeret," Vita Heinrici II. imperatoris. Cap. L MGH SS IV. S. 792. Zu dieser

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himmlischen wird schließlich in den - durchaus individuellen - Arengen der Diplome Heinrichs II. ausgesprochen.71 "Eine der ungewöhnlichsten Urkunden, die in der Ottonenzeit die königliche Kanzlei verlassen haben",72 ist ein am 15. Januar 1003 in Diedenhofen zugunsten der bischöflichen Kirche in Straßburg ausgestelltes Diplom Heinrichs II. (Nr. 34).73 Die damit beschäftigte Forschung hat von einem "Eigendiktat", einem "politischen Manifest"74 Heinrichs II. gesprochen und darauf hingewiesen, daß sich das Diplom aus Anlaß der Schenkung des Nonnenklosters St, Stephan an Bischof Werner von Straßburg, einen Heinrich II. treu ergebenen Gefolgsmann, noch einmal außergewöhnlich umfangreich mit den Ereignissen um die Königserhebung Heinrichs vom voraufgegangenen Jahr auseinandersetzt - zu einer Zeit, als die Rechtmäßigkeit des neuen Regenten noch immer nicht überall für selbstverständlich erachtet wurde." Der Verfasser des Textes - ob nun Heinrich selbst oder eine Person aus seinem engsten Umkreis - bemüht sich um die Legitimierung des Königs, dessen Blutsverwandtschaft mit dem in der Urkunde gerühmten Vorgänger Otto III. überhaupt erst den Anstoß zur Wahl durch die Fürsten gegeben habe, wodurch schließlich seine ererbte Thronfolge Bestätigung gefunden

Quelle und ihrer Datierung Rudolf Schieffer: Adalbert von Bamberg. In: Verfasserlexikon (wie Anm, 20). Bd. 1. Sp. 29-31. 1 "[Heinricus] temporalis imperii glorietur honore atque post huius excessum vite bravium eterne mereatur adipisci corone" (Urkunde Heinrichs II. Nr. 70 vom 28. Mai 1004 in Locate. MGH Dipl. reg. et imp. Germ. III, 1: Heinrici et Arduini Diplomata. Hg, v. Harry Bresslau u. a. Hannover/Leipzig 1900-1903. S. 87) oder: "aeternaliter celestis bravii diademate coronetur" (Urkunde Nr. 103 vom 5. November 1005 in Werla. Ebd. S. 128). Vgl, 1. Kor. 9, 24f. und danach Augustinus: Sermones. Sermo 216; "ut ab omnibus abstinentes ac legitime certantes, bravii coelestis et incorruptae coronae participes triumphetis," PL 38. 1080, Vgl. außerdem die Urkunde Heinrichs II. Nr. 307 von 1014 in Pavia. Hg. v. Bresslau, S. 385: "qui coronam terreni imperii concessit, post emensum huius vitae spacium ea etiam coronari permittat, quae non auferatur in etemum" (vgl, Urkunde Nr. 486 vom 14. Januar 1023 in Paderborn. Ebd. S. 620). Hartmut Hoffmann: Eigendiktat in den Urkunden Ottos III. und Heinrichs II. In: Deutsches Archiv 44 (1988). S. 390-423, betont, "wie stark dessen (= Heinrichs) Persönlichkeit aus seinen Urkunden spricht" (S. 423) und "daß die Diplome Heinrichs II. im Vergleich mit den übrigen Ottotienurkunden viel Unregelmäßiges, viel Außergewöhnliches enthalten, was sich am besten durch persönliches Eingreifen des Herrschers erklärt" (S. 419). 72 Ebd. S. 414. " Urkunde Heinrichs II. Nr. 34, Hg. v. Bresslau (wie Anm. 71). S. 37f. 74 Hoffmann: Eigendiktat (wie Anm. 71). Titel des Aufsatzes und S. 415. Weitere Lit, s. die folgende Anm. 75 Schlesinger: Erbfolge und Wahl (wie Anm. 56). S. 1-3, 34-36, Hoffmann: EigendUctat (wie Anm. 71). S, 414-416; Eduard Hlawiischka: Die Thronkandidaturen von 1002 und 1024. Gründeten sie im Verwandtenanspmch oder in Vorstellungen von freier Wahl? In: Reich und Kirche vor dem Investiturstreit. Festschr. Gerd Tellenbach. Hg. v. Karl Schmid. Sigmaringen 1985. S. 49-64, bes. S. 53 f.

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habe.76 Die Urkunde bildet eine bemerkenswerte Parallele zum Krönungsbild im Sakramentar des Königs, dessen Konzeption wie sie selbst aus dem engsten Umkreis des Königs stammt und das Jahr 1002 vermutlich kommentiert. Wenn Heinrich im Diplom seine Thronfolge als ererbt betrachtet ("hereditaria in regnum [...] successio", S. 38, Z. 12f.) und solchermaßen seinen verwandtschaftsrechtlichen Anspruch auf die Königsmacht unterstreicht, so liegt dies auf derselben Ebene wie die Bezeichnung des frommen Königs Heinrich als Sproß seiner Vorfahren ("Rex pius Heinricus proavorum stirpe polosus") in der Beischrift auf dem Krönungsbild des Codex. Zu verweisen ist außerdem auf eine Äußerung in der Urkunde, die sich direkt auf die niedergeschlagenen Angriffe der Gegner Heinrichs auf Straßburg während der Auseinandersetzungen um die Nachfolge Ottos III. und damit indirekt auf die gesamte Situation des Jahres 1002 bezieht; Die gütige Hand Gottes habe den Aufstand (rebellio) dieser Gegner Heinrichs zur Ruhe gebracht.77 Der durch das Eingreifen Gottes überwundene Aufstand der Thronkonkurrenten des bayerischen Herzogs wird vermutlich auch durch die knospende Heilige Lanze in der Miniatur signalisiert, die die Erwählung des Stabes Aarons durch Gott postfiguriert und wie dieser als Zeichen für den Sieg über die Aufständischen (rebeUifllii) zu verstehen ist: Der Herr aber sprach zu Mose: Trage den Stecken Aarons wieder vor das Zeugnis, daß er verwahrt werde zum Zeichen den ungehorsamen Kindern, daß ihr Murren von mir aufhöre.78

Diese enge intentionale Relation zwischen Diplom und Bild läßt auch eine enge zeitliche Verbindung beider Denkmäler vermuten, was zu der Frage nach der genauen Datierung des Sakramentars Heinrichs II. führt, die untrennbar verbunden ist mit der Frage nach dem Entstehungsanlaß der Handschrift. Vieles spricht - wie gesehen - dafür, daß die Krönungsminiatur im Sakrameniar Heinrichs H. unmittelbar auf die Ereignisse des Thronkampfes im Jahr 1002 reagiert. Das Bild ist stilistisch und kompositorisch einzigartig und steht bezüglich seiner Konzeption und der damit beabsichtigten Aussage in der zeitgleichen Kunst ohne Parallele da. In der Forschung wurde gleichwohl mehrfach die Meinung geäußert, die Herrscherminiatur des byzantinischen Kaisers Basileios II. (976-1025) in dessen Psalter (Venedig, Bibüoteca "'

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"Post tanti itaque imperatoris ab hac vita discessum vetus inter nos a pueris propagata familiaritas et ea quae cum tali caesare nobis erat parentelae et consanguinitatis affinitas praefato persuasit, ut deo praeside concors populorum et principum nobis concederetur electio et haereditaria in regnum sine aliqua divisione successio." U H II. Nr. 34. Hg. v. Bresslau (wie Anm. 71), S. 38. Z, 8- 13. "Sed pia manus dei, quae numquam in se confidenles deserit, cito et cum pace bona talium r e b e l l i o n e m sedavtt et nostrae domination! fideliter subiugavit". Ebd. S. 38. Z, 19f "refer virgairt Aaron in tabemaculum testimonii, ut servetur ibi in signum r e b e l l i u m filiorurn et quiescant querellae eorum" (4. Mose 17, 25).

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Marciana, Cod. gr, 17, fol. Ill1) bzw. eine dem Basileios-Bild vergleichbare byzantinische Komposition könnte ein Vorbild für Heinrichs Krönungsbild abgegeben haben. Da sich jedoch im erhaltenen Bestand der Zeit kein byzantinisches Bild findet, das der Miniatur in Venedig auch nur annähernd ähnlich wäre, und es auch keinerlei Hinweise auf die einstmalige Existenz solcher Vergleichsbeispiele gibt, bleibt also die Gegenüberstellung der Miniaturen im Sakramentar und im Psalter. Die Darstellung im Psalter zeigt als Hauptmotiv den stehenden Basileios, an dessen Krone und Lanze die Erzengel Gabriel und Michael Hand anlegen, während der nur als Büste sichtbare Christus von oben eine weitere Krone herabhält. Die spekulative Annahme einer wie auch immer zu konstruierenden Beeinflussung der westlichen durch die Östliche Miniatur wäre bereits dann ad absurdum geführt, wenn man sich der in der Forschung überwiegend tradierten Spätdatierung des Psalters in die Zeit um 1019 anschließt,80 Die dazu m.E. einzige bedenkenswerte Alternative hat Anthony Cutler vorgebracht, der mit guten Argumenten für eine Datierung in die Zeit zwischen 1001 und 1005 plädierte.81 Diese beiden Ansätze stehen sich heute gegenüber, ohne daß einer von ihnen letztlich objektivierbar wäre. Selbst wenn der Psalter noch vor dem Sakramentar entstanden sein sollte, kann der Vergleich beider Herrscherbilder, die durch völlig' unterschiedliche Kontexte determiniert sind, kaum ein brauchbares Ergebnis liefern. Vergleichbar sind sie nur insofern, als sie aller Wahrscheinlichkeit nach jeweils auf bestimmte historische Gegebenheiten reagieren, was hier wie dort zu neuen, eigenständigen Bildfindungen geführt hat. Neben dem Vergleich mit dem Basüeios-Psalter ist in der Forschung außerdem die Ansicht zu finden, eine Darstellung im Pontißkale von Seeon (Bamberg, Staatsbibliothek, Lit. 53, fol. 2^, die den von zwei Bischöfen durch Stützung der Arme geleiteten König Heinrich II. zeigt, sei als Vorbild der Miniatur im

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So erstmals Percy Ernst Schramm: Das Herrscherbüd in der Kunst des frühen Mittelalters. In: Vorträge der Bibliothek Warburg. Hg. v. Fritz Saxl. 2. Teil 1. Leipzig 1922/23. S, 145-224, hier S. 169-171, 210; danach Josef Deer: Der Globus des spätrömischen und des byzantinischen Kaisers, Symbol oder Insigne? In: Byzantinische Zeitschrift 54 (1961). S. 53-85 und 291-318. Wieder abgedr. in Ders.: Byzanz und das abendländische Herrschertum, Sigmaringen 1977, S. 70- 124 (Vorträge und Forschungen 21), hier S. 106 mit Anm, 135, ebs, Hauck: Erzbischof Adalbert von Magdeburg (wie Anm. 57). S. 306-311; Mütherich und Kudcr (wie Anm. 45). S. 26, 32, mit Abb. 1; Künzel: Herrschaftstheologie (wie Anm. 56). S. 19-24. Abb. der Miniatur bei diesen Autoren, vgl. außerdem die folgenden Anm. Vgl. den Forschungsbericht von Anthony Cutler: A Psalter of Basil H (Part II). In: Arte Veneta 31 (1977). S. 9-15, bes. S. 9; außerdem Spatharakis: Portrait (wie Anm. 46). S. 20-26, bes. S. 25f. und Ders.: Corpus of Dated Illuminated Greek Manuscripts to the Year 1453, 2 Bde. Leiden 1981. Bd. l. S. 18f. Nr. 43 (Lit.): "The triumphal representation of Basil, shown as aged man, suggests that the codex was executed on the occasion of his return to Constantinople, after the defeat of the Bulgarians in 1018" (S. 18). Cutler: Psalter of Basil (wie Anm. 80). S. 9-15. Cutler hat später seinen Datierungsansatz kommentarlos auf 1004 eingegrenzt in The Aristocratic Psalters in Byzantium. Paris 1984. S. 115-119 (Lit.), bes. S. 115f. mit fig. 412,

Vom Zeichencharafaer der Hemcherkrone

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Sakramentar Heinrichs II. zu betrachten. Schramm datiert den Seeoner Codex frühestens auf 1007 und konkret auf 1012-1014. In Voraussetzung einer Frühdatierung des Sakramentars (s.u.) ist die Miniatur im Pontifikale nicht das frühere, sondern das spätere der beiden Bilder.82 In welchem zeitlichen Verhältnis stehen das historische Ereignis der Königskrönung und das Krönungsbild im Sakramentar Heinrichs //.? In der Forschung wird noch zu selten die Frage diskutiert, aus welcher aktuellen, über die allgemein 'frommen1 Erwägungen hinausreichenden Motivation heraus im Mittelalter die Herstellung einer prachtvollen Handschrift jeweils von einem herrscherlichen Stifter initiiert worden sein könnte. Im Fall des Sakramentars Heinrichs H. könnte diese Frage mit dem folgenden Vorschlag beantwortet werden: Der Codex stellt eine Votivgabe des neuen Königs dar, eine nach gewonnenen Auseinandersetzungen getätigte Stiftung zum Dank an Christus und zur huldigenden Verherrlichung Gottes, des Einsetzers der Könige. Bedenkt man, daß Heinrich II. der Kirche St. Ulrich und Afra in Augsburg noch kurz vor seiner Wahl und Erhebung 1002 eine reiche Stiftung hatte zukommen lassen und daß dann der hl. Ulrich wieder - neben der Heiligen Lanze - auf der Krönungsminiatur erscheint, so unterstreicht dies das Prinzip des do ut des, der Stiftung als Fürbitte für den Beistand in kommenden Dingen bzw. als Dank für bereits geleistete Hilfe.83 Da Heinrich in den Beischriften des Thron- und des Krönungsbildes als König (Vex) bezeichnet wird, ist der Zeitpunkt der Anfertigung des Sakramentars grundsätzlich in die Regierungsphase vor seiner Kaiserkrönung, also 1002- 1014 zu setzen, Der Auftrag zur Herstellung des Buches aber, mit Percy Ernst Schramm hat die Miniatur im Seeoner Pontifikale mehrmals als Vorläufer derjenigen im Sakramentar genannt, zuletzt in: Kaiser und Könige in Bildern (wie Anm. 8). S. 96, vgl. ebd. die Abb. unter Nr. 123 und S. 215. Vgl. auch Müthericti: Regensburger Buchmalerei (wie Anm. 45). S. 26, mit Abb. 2. Gegen die Auffassung Schramms wendet sich jetzt auch Kuder: Bischof Ulrich (wie Anm, 45). S. 417. Anm. 14. Zur Stiftung an St, Ulrich und Afra Thietmar: Chronicon (wie Anm. 57). IV, 51, S, 191. Ulrich von Augsburg ist in Heinrichs II. Geburtsjahr 973 gestorben und wurde in dessen Herzogtum Bayern besonders verehrt. Der Heilige hatte mehrmals Beistand in Konfliktsituationen geleistet: gegen die Ungarn 955 (genauso wie die als Siegesbanner vorangetragene Heilige Lanze) und 953/54 beim Aufstand Liudolfs, der Gegner Ottos I. und Heinrichs d. J., des Großvaters Heinrichs II., war. Kuder: Bischof Ulrich (wie Anm. 45). S. 418-424, führt jetzt plausible Argumente politischer Art dafür ins Feld, daß gerade Ulrich und Emnieram in die Miniatur integriert wurden; neben den vom Autor ausgeführten "persönlichen Bindungen Heinrichs II. an die Heiligen" sei "die Unterstützung, die Heinrich von deren Nachfolgern Siegfried und Gebhard I. im Jahre 1002 bei seinen Bemühungen um die Thronnachfolge erhielt" ausschlaggebend gewesen (S. 421); daß Ulrich und die Lanze "auf dieselbe Seite gelangten", könne - besser als durch eine nur spekulativ herzuleitende besondere Beziehung des Heiligen zu diesem Insigne - einfach durch den Umstand erklärt werden, daß sie aufgrund ihrer höher als diejenige Ernmerams und des Schwertes einzuschätzenden aktuellen Bedeutung "beide durch Plazierung zur Rechten des Königs hervorgehoben werden sollten" (S. 422).

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Joachim Ott

dessen Stiftung der neue König seinem himmlischen Coronaior Christus huldigen wollte, wird vermutlich noch auf seinem Königsumritt erfolgt sein, in dessen Rahmen er im November 1002 auch nach Regensburg kam und dort ungewöhnlich lange verweilte.84 Der Miniator des Krönungsbildes, ein Mitglied des Regensburger Skriptoriums, in dem der Codex entstand, hat sich unter Umständen in diesen Tagen jene genaue Kenntnis vom Aussehen der auf dem Umritt mitgeführten Heiligen Lanze verschaffen können, die er mit der detaillierten, für die damalige Kunstauffassung außergewöhnlich realistischen Wiedergabe der das Lanzenblatt verhüllenden Fahne und des Kruzifix' an der Lanzenspitze vorführt.85 Eine unmittelbare Besprechung des Königs selbst oder seiner Berater mit Vertretern des Skriptoriums über Texte und Ikonographie des Buches ist denkbar. Wenn nicht schon im November 1002 - also etwa eineinhalb Monate vor Ausstellung des verwandten Diploms Nr. 34 -, so doch wohl spätestens im Rahmen von Heinrichs II. Kurzaufenthalten in Regensburg im Juni und Dezember 10Ö386 wird vermutlich der Auftrag für das Sakramentar erteilt worden sein und werden die Arbeiten daran begonnen haben. Vorzuschlagen ist somit, bei einer großzügigen Berechnung der Anfertigungszeit eines Codex vom Format dieses Buches, eine Datierung in die Jahre 10021004."

* ** Zwischen dem Sakramentar Heinrichs II. und dem Krönungszeremoniale von 1530 liegen Jahrhunderte des Wandels im Verständnis von Herrschertum und 84

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Heinrich II. urkundet in Regensburg vom 12. bis 24. November 1002. Regesta Imperii II. Sächsisches Haus: 919-1024. Vierte Abt.: Die Regesten des Kaiserreichs unter Heinrich II. 1002-1024, Hg. v, J.F. Böhmer. Neu bearb. v. Theodor Graff. Wien/Köln/Graz 1971. S. 874-878. Nr. 1511 a- 1524. Zum Lanzenfähnchen vgl. Schramm: Herrschaftszeichen und Staatssymbolik (wie Anm. 16). Bd. 2. S. 508 mit Anm. 4. Regesta Imperii Heinrichs II. Nr. 1547, 1552. Hg. v. Böhmer/Graff (wie Anm. 84). S. 889, 892f. Ohne dies naher auszuführen, haben eine frühzeitige Anfertigung des Sakramentars bereits erwogen: Mütherich: Evangeliar Heinrich des Löwen (wie Anm, 12). S, 28: "das die Regensburger Maler bald nach der Krönung Heinrichs schufen"; Gerd Bauer: "Neue" Bernward -Handschriften. In: Bernwardinische Kunst, Hg. v. Martin Gosebruch und Frank Neidhard Steigerwald, Göttingen 1988 (Schriftenreihe der Kommission für Niedersächsische Bau- und Kunstgeschichte 3). S. 211-235, hier S. 217: "sicher bald nach Heinrichs II. Amtsantritt entstanden". Diesem Urteil schließt sich jetzt auch Ulrich Kuder: Bischof Ulrich (wie Anm. 45). S. 413 und Ders.: Katalogbeitrag "Zierseiten vom Sakramentar Heinrichs II.". In; Bemward von Hildesheim (wie Anm. 11). Bd. 2. S. 98f. Nr. 11-43, mit der Meinung an, daß die Handschrift "eher zu Beginn dieses Zeitraums (= der Königszeit Heinrichs II.) hergestellt wurde", da das Krönungsbild "die besonderen Umstände seiner Krönung zum König reflektiert und [.] unmittelbar unter dem Eindruck des Ereignisses konzipiert worden sein dürfte" (S. 98), vgl. dazu auch Anm. 83.

Vom Zeichencharakter der Herrscherkrone

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Herrschaft. Jedoch ist es weitgehend derselbe Text eines Ordo, dieselbe zeremonielle Quelle, mit der die Bilder beider Bücher jeweils auf ihre Weise in Verbindung zu bringen sind, so wie auch beide Bücher für die Verwendung in einem kirchlichen Zeremoniell gedacht waren - wenngleich unter verschiedenen Vorzeichen. Das abendländische kirchliche Herrschererhebungszeremoniell, dessen Prinzipien teilweise noch in heutigen Monarchien anzutreffen sind, manifestiert Herrschaft, die in erster Linie durch das legitimiert ist, was schon immer so und nicht anders gewesen ist. Aus diesem Grund hat man gerade in diesem Bereich immer wieder größere Schwierigkeiten damit gehabt, zeremonielle Modifikationen oder Neuerungen durchsetzen zu wollen. Der in dieser Studie unternommene Ausflug ins frühe und hohe Mittelalter mag zur Diskussion über die Motive für das Festhalten an traditionellen und über die Ursachen von innovativen Momenten im Krönungszeremoniell der späteren Zeit anregen.

Manfred Beeiz

Überlebtes Welttheater Goethes autobiographische Darstellung der Wahl und Krönung Josephs II. in Frankfurt/M. 1764

Unter den zahlreichen historiographischen Arbeiten Goethes gilt Dichtung und Wahrheit in der Forschung zurecht "als das größte historische Werk ihres Verfassers".1 Es enthält, angereichert mit einer Galerie historischer Portraits, bedeutsame Ausführungen zur Kultur- und Sozialgeschichte irn 18. Jahrhundert, zur Regionalgeschichte deutscher Städte und Territorien, zur politischen Ereignisgeschichte ebenso wie zu der - zu Unrecht vermißten Institutionengeschichte.2

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Zu Goethes Geschichtsverständnis in Dichtung und Wahrheit

Im vielzitierten Vorwort seiner Autobiographie erläutert der Verfasser, wie die Vergegenwärtigung der eigenen Entwicklungsstufen mit ihren jeweiligen Zeitverhältnissen ihn auf die Spur immer neuer bildungsgeschichtlicher, religiöser, sozialer und politischer Einflüsse brachte: so ward ich aus meinem engen Privatleben in die weite Welt gerückt, die Gestalten von hundert bedeutenden Menschen, welche näher oder entfernter auf mich eingewirkt, traaten hervor; ja die ungeheuren Bewegungen des allgemeinen politischen Weltaufs, die auf mich wie auf die ganze Masse der Gleichzeitigen den größten Einfluß gehabt, mußten vorzüglich beachtet werden. Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, in wiefern ihm das Ganze widerstrebt, in wiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine WeltHans Mayer: Der Weg zur Geschichte. Dichtung und Wahrheit, In; Ders.: Goethe. Ein Versuch über den Erfolg. Frankfurt 1973. 51974. S. 108-133, hier S. 108. Vgl. auch Friedrich Meinecke; Die Entstehung des Historismus. Hg. und eingeleitet von Carl Hinrichs. ('1936, 21946). München 1959 (= Friedrich Meinecke: Werke. Bd. 3), S. 493. Gerhard Masur: Goethe und die geschichtliche Welt. In: Ders.: Geschehen und Geschichte. Berlin 1971. S. 35-54, hier S. 48. (1939), Masur (ebd. S. 44) übersieht Goethes Ausführungen zum Reichskammergericht in Wetzlar irn 12. Buch von Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. von Peter Sprengel. (= Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Richter. Bd. 16). München 1985. S. 559-565. Goethe-Texte werden im folgenden nach der Münchner Ausgabe (MA) zitiert. Die Seitenzahlen aus Dichtung und Wahrheit folgen künftig ohne Bandangabe der MA unmittelbar im Anschluß an das Zitat.

Überlebtes Welttheater

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und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abspiegelt. Hierzu wird aber ein kaum erreichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, in wiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den willigen als unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet [,,.) (S. 11),

Was ihn durch die Zugehörigkeit zu einer Nation, einer politischen Verfassung, einer Epoche, sozialen Schicht, Berufsposition, Religion geprägt hatte, sollte in deutlicher Abkehr vom jugendlichen Kult des Originalgenies dankbar benannt werden. Anders als die weithin egozentrischen Perspektiven von Rousseaus Confessions oder von Moritz' autobiographischen Roman Anton Reiser es verfolgen, anders auch als die von ihm rezensierte Selbstbiographie des Historikers Johannes von Müller macht im Anschluß an Herder den regen Austauschprozeß von Ich und Gesellschaft, das Reagieren und Wirken auf andere zum zentralen Thema seiner Autobiographie.3 Voraussetzung dafür vonseiten des Protagonisten ist allerdings, wie Goethe u.a. im 5. Buch von Dichtung und Wahrheit (S. 192f.) einräumt, ein Status sozialer Privilegierung; "man muß auch in großen Verhältnissen leben, und Gelegenheit haben, den spielenden Figuren in der Zeit in die Karten zu sehen".4 Schon 1775 hatte er in seinem Anteil an Lavaters Physiognomischen Fragmenten die Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt ins Licht gerückt; ebenso 1811 in einem Paralipomenon zu Dichtung und Wahrheit.5 1823 und 1827 schließlich verschränkt er generalisierend Selbsterkenntnis und Weiterkenntnis aufs engste miteinander.6 Als Goethe 1811 am ersten Teil von Dichtung und Wahrheit schrieb, der noch im gleichen Jahr erschien, lag die erzählte Zeit nicht nur fast ein halbes Jahrhundert zurück, sondern gehörte durch die einschneidenden epochalen Zäsuren der Französischen Revolution und ihrer Folgekriege, die 1806 den Untergang eines tausendjährigen Reiches besiegelten, einem anderen geschichtlichen Zeitraum an. Die altehrwürdige freie Reichsstadt Frankfürt am Main diente Napoleon von 1806 bis 1813 als Zentrum des Reichsbundes und Sitz ihres Fürstprimas. Was Goethe in seiner Jugend noch als lebendige Gegenwart erlebt hatte, war durch den Reichsdeputationshaupischluß von

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Herder bezeichnet in der Vorrede zu Bekenntnisse merkwürdiger Männer von sich selbst. Herausgegeben von, Joh. Georg Müller (1791). In: Herders Sämtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Bd. 18. Berlin 1883. S. 375, Autobiographien als "wahre Vermächtnisse der Sinnesart denkwürdiger Personen. Spiegel der Zeitumstände, in denen sie lebten, und eine praktische Rechenschaft, was sie aus solchen und aus sich selbstt gemacht, oder worin sie sich und ihre Zeit versäumt haben." Vgl. auch Goethe an Cotta, 16.11.1810; WA IV Bd. 30. S. 159; Bildnisse jetzt lebender Berliner Gelehrten; MA Bd. 6.2. S. 623f. Goethe zu JSckermann, 13.2.1829; MA Bd. 19. S. 285, MA Bd. 1.2. S. 458; Bd. 16. S. 861. Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches ff or/; MA Bd, 12. S. 306. Varrenhagen von Ense's Biographien. In: Goethe. Schriften zur Literatur. Hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1971. S. 176. Sotger's nachgelassene Scheißen und Briefwechsel. 2 Bände. In: Ebd. S. 177.

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1803 und die vom französischen Kaiser drei Jahre später erzwungene Abdankung Franz1 II. unwiederbringliche Vergangenheit, die einer neuen Adressatengeneration gegenüber allenfalls noch literarisch zu beleben war.7 Die kulturbegründende Fähigkeit des Menschen, sich eine Tradition zu vergegenwärtigen, nahm Goethe lebenslang ernst. Deren Revitalisierung in seinen Altersjahren steht nicht nur im Dienst der Weitergabe und Bewahrung von Wertvorstellungen, sondern auch ihrer kritischen Sichtung. Durch die Konfrontation des Überkommenen mit dem Gegenwärtigen und Zukünftigen sucht er den polaren Zielvorstellungen des Bewahrens und Erneuerns gleichzeitig zu entsprechen.8 Überall, wo er sich mit historischen Stoffen beschäftigte, sah er sein vorrangiges Ziel entsprechend darin, das geschichtliche 'Leben' zu erfassen.5 Restauratives Zurücksehnen der Vergangenheit imponierte ihm wenig.10 Noch in den letzten Lebensjahren spricht der Achtzigjährige im Sinn 'Wiederholter Pubertäten' vom Verjüngen und lebenslangen Sich-Verändern,11 "Die Gottheit" sei "wirksam im Lebendigen, aber nicht im Toten, sie ist im Werdenden und sich Verwandelnden, aber nicht im Gewordenen und Erstarrten."12 Am unmittelbarsten glaubte er den Pulsschlag des Lebens in autobiographischen Zeugnissen zu erspüren. In einem folgenreichen Brief an Hackert vom 4.4.1806 ermuntert er den Malerfreund zu Lebensaufzeichnungen. Ihre Redaktion und Umarbeitung in eine Biographie sollte Goethe selbst den letzten, unmittelbaren Anstoß zur eigenen Lebensbeschreibung geben. In einer generalisierenden Reflexion konvergiert im nämlichen Brief das fremde mit dem eigenen Projekt: Indem wir auf unser Leben zurücksehen und es in Gedanken rekapitulieren; so genießen wir es zum zweiten male, und indem wir es aufzeichnen bereiten wir uns ein neues Leber» in und mit ändern.13

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In der Rezension der Autobiographie von Johannes v. Müller geht Goethe davon aus, "daß die Jugend und das mittlere After, für die man denn doch eigentlich schreibt, kaum einen Begriff hat von dem, was vor dreißig oder vierzig Jahren eigentlich dagewesen ist." MA Bd. 6.2. S. 623. Marianne Heiin: Goethes Verhältnis zum Überlieferten in seinem Alterswerk, Heidelberg 1986 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. 3. Folge. Bd. 72). S. 18, 25, Zur Distanzierung von der Tradition und zu ihrer Fortführung vgl. Maximen und Reflexionen Nr. 105 und 296; MA Bd. 17. S. 739, 773. Julia Gauß: Die methodische Grundlage von Goethes Geschichtsforschung. In: Jb. des Freien Deutschen Hochsüfts (1932/33). S. 163-283, hier S. 175. Karl Wolfgang Becker: Denn man lebt mit Lebendigen. Über Goethes 'Dichtung und Wahrheit'. In: Studien zur Goethezeit. Festschrift für L. Blumenthal. Hg. von Helmut Holtzhauer und Bernhard Zeller. Weimar 1968. S. 9-29, bes, S. 20-23, 26f. Vgl. Kanzler von Müller: Unterhaltungen mit Goethe, 4.11.1823. In: Goethes Gespräche. Hg. von Wolfgang Herwig. Bd. III/l. Zürich 1971. S. 611. von Müller: Unterhaltungen (wie Anm. 10), 24,4.1830. Bd. HI/2. Zürich 1972. S, 609. Goethe zu Eckennann. 13.2.1829; MA Bd. 19. S. 286. Goethe an Hackert. 4.4,1806; MA Bd. 9. S. 1289; Vgl. Philipp Hackert. Biographische Skizze, meist nach dessen eigenen Aufsätzen entworfen (1811). Ebd. S. 665-869.

Überlebtes Welltheater

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Den productions- wie rezeptionsästhetischen Zusammenhang von altem und neuem Leben unterstreicht er auch in Dichtung und Wahrheit. Die Autobiographie des Götz von Berlichingen, bekennt er, "trieb mich in die historische Behandlungsart" und reizte seine dramatische Phantasie, "sich den lebendigen Ereignissen mehr und mehr zu nähern" (S. 604; vgl. S. 752). Im ParaUpomenon 40 zu Dichtung und Wahrheit, einer 1811/12 überlieferten Aufzeichnung über das Verhältnis von Biographie zur Geschichte, wird dem (Auto-)Biographen zugetraut, "daß er ihr das Lebendige, das sich ihren Augen entzieht, aufbewahren und mitteilen mag" (S. 86l). 14 Anders als die Geschichtsschreibung, "die immer etwas Leichenhaftes, den Geruch der Totengruft" an sich trage, können Lebensbeschreibungen darstellen, was einst lebendig war und seine Vitalität bis heute beweist. Alles wahrhaft Biographische, wohin die zurückgebliebenen Briefe, die Tagebücher, die Memoiren u[iid] so manches andre zu rechnen sind, bringen das vergangene Leben wieder hervor, mehr oder weniger wirklich oder im ausführlichen Bilde. Man wird nicht müde, Biographieen zu lesen [,..], denn man lebt mit Lebendigen" (S, 861).

Konzentriert sich die allgemeine Historiographie weitgehend auf objektiv belegbare Resultate historischer Vorgänge, so erweist sich die Lebenslaufliteratur eher vom Individuellen fasziniert," Die 'Selbsterlebensbeschreibung' (Jean Paul) vollends vom subjektiv erfahrenen und erlittenen Lebensprozeß als solchem, mit seinen Umwegen und Sackgassen, Der für Goethes Kunst- und Geschichtsauffassung gleichermaßen zentrale Begriff des "Lebendigen" war in der Sturm- und Drang-Epoche eng mit dem der Individualität' verbunden. In der Klassik steht alles Lebendige, auch das Historische, unter elementaren Naturgesetzen, wirkt doch auch in geistigen bzw. künstlerischen Produktionen die Natur.10 Organologische Betrachtungsweisen bemächtigen sich im Winckelmann-B&trag der Kunstgeschichte, die Goethe "als ein Lebendiges ( ) wie jedes andere organische Wesen" in ihrem Ursprung, langsamen Wachstum, ihrer Vollendung und stufenfälligen Abnahme zu beschreiben sucht.17 Irn Alter, als Goethe sich selbst zunehmend historisch wird,18 präpariert er das Lebendige aus der Geschichte im Symbolbegriff, der auf der Basis der Wirklichkeitsanschauung wie der verwandte Begriff des 'Bedeutenden' die Einheit von Gegenwart und Vergangen!

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Innerhalb der Forschung faßt man irrtümlich die Aufzeichnung als Vorredenentwurf zum 3. Teil von Dichtung und Wahrheit auf; vgl. Becker: Denn man lebt (wie Anm. 9). S. 26. Klaus-Detlef Müller; Autobiographie und Roman, Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen 1976, S. 319. Goethe: Bedeutung des Individuellen; MA Bd. 9. S. 935. Goethe: Italienische Reise. 28.1. und 6.9.1787; MA Bd. 15. S. 200, 478. Goethe: Winketmann und sein Jahrhundert, MA Bd. 6.2. S. 363. Vgl. Goethe an Schlosser. 23.11.1814; WA IV 25. S. 92, Goethe an Hecker. 7.10.1829; WA IV 46. S, 96. Goethe an W, von Humboldt, 1,12.1831; WA IV 49. S, 165. Femer MA Bd. 14, S. 605ff. Horst NaJewski: Goethe "sich selbst historisch". Ein Aspekt von Dichtung und Wahrheit. In; Neue Literatur 33 (1982). H. 3. S, 20-34.

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heit herstellt.19 Auch in seiner eigenen Biographie entdeckt er die Wiederholung von Urbildern1, so daß individuelle, einmalige Lebenserfahrungen exemplarischen Charakter annehmen. Konstellationsmuster zwischen unglücklichen Liebenden, etwa zwischen dem mittelalterlichen Paar Abaelardus und Heloisa, zwischen Saint-Preux und Julie in Rousseaus Briefroman Julie ou La Nouvelle Heloise (1761) kehren im 'Roman1 des jungen Goethe und Gretchens wieder (S. 206) und später zwischen Goethe und Lotte (S. 578).20 Angesichts autobiographischer Spiegelungen, die - wie die Werthers oder die Sesenheims - Resonanz in der Öffentlichkeit fanden und Nachbildungen initiierten, postuliert Goethe die Geltung entoptischer Symbole für die gesamte Geschichte der Kultur und Politik: Bedenkt man nun, daß wiederholte sittliche Spiegelungen das Vergangene nicht allein lebendig erhalten, sondern sogar zu einem höheren Leben emporsteigem, so wird man der entoptischen Erscheinungen gedenken, welche gleichfalls von Spiegel zu Spiegel nicht etwa verbleichen, sondern sich erst recht entzünden, und man wird ein Symbol gewinnen, dessen was in der Geschichte der Künste und Wissenschaften, der Kirche, auch wohl der politischen Welt, sich mehrmals wiederholt hat und noch taglich wiederholt.21

Goethes intensive Beschäftigung mit den Phänomenen des polarisierten Lichtes gewinnt eine in der Goethe-Forschung noch wenig beachtete Bedeutung für seine Literaturkonzeption im Alter.2 Natürliches Licht ist in einem ungeordneten Zustand, polarisiertes Licht hingegen weist eine höhere Ordnung auf. In Malus' Versuch reflektiert ein Lichtstrahl zweimal an einer spiegelnden Oberfläche. Innerhalb eines zyklischen Geschichtsmodells kann Historie als "Äußerungsweise von Natur" aufgefaßt und in Symbolen der anorganischen und organischen Natur interpretiert werden.23 Was in Jugendgedichten wie Der Wanderer bildhaft angedeutet und in den Lehr19

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Goethe: Aristeia der Matter (Paralipomenon 157); MA Bd. 16, S. 871. Vgl. auch Goethes Beschreibung des großväterlichen Hauses in Frankfurt, das aus einem "patriarchalischen Zustande" zu einem Markt- und Warenhaus umgebaut wurde. Goethe an Schiller. 16./I7, 1797; MA Bd. 8.1. S. 391f. Robert GouJd: Book V of Dichtung und Wahrheit; a Morphological Analysis. In: Forum for Modem Language Studies 8 (1972). S. 120-131, hier S. 121f. Gould verwechselt allerdings Lotte mit Lili. Goethe: Wiederholte Spiegelungen; MA Bd. 14. S. 569. Freundlicher Hinweis von Karl Richter. Vgl. weiter unten. Goethe: Geschichte der entoptischen Farben; MA Bd. 12. S. 395-398. Elemente der entoptischen Farbers; ebd. S. 403-409. Entoptische Farben; ebd. S. 473-517. Neuer entoptischer Fall; ebd. S. 72 5f. Goethe gedenkt im Brief an Zelter vom 11.5.1820 "des immer kreis- und spiralartig wiederkehrenden Erde-Treibens"; MA Bd. 20,1. S. 601. Vgl. Karl Richter: Das "Regellose" und das "Gesetz". Die Auseinandersetzung des Naturwissenschaftlers Goethe mit der Französischen Revolution. In: Goethe-Jb. 107 (1990). S. 127-143, hier S. 138f. Klaus Ziegler: Zu Goethes Deutung der Geschichte. In: Deutsche ViertelJahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 30 (1965). S. 232-267, hier S. 235, 247f., 263.

Überlebtes Welnheater

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jähren in die vierdimensionale Kongruenz der Zeiten-Säle übertragen erscheint, wird in späteren Jahren vielfach expressis verbis thematisiert; "Vergangenheit und Gegenwart in Eins".24 Das Thema der synchronen Diachronie gewinnt insbesondere für Goethes Autobiographie mehrfach Bedeutung. Erstens die der wechselseitigen Erhellung von Vergangenheit und Gegenwart im Sinn der Universalgeschichte: Wie die Kenntnis der Vergangenheit notwendig für die der Gegenwart ist, so auch umgekehrt die der Folgezeit für den Rückblick auf die Anfänge. An Justus Möser und dem Straßburger Staatsrechtler und Historiker J.D. Schoepfiin bewundert er die gemeinsame Fähigkeit, "Vergangenheit und Gegenwart zu vereinen" (S. 508, 687). Zweitens variiert die Zusammenschau der Zeiten das für Dichtung und Wahrheit wegweisende Thema der Identität bei geschichtlichem Wandel. Drittens nutzt Goethe die typische Alterserfahrung der Gegenwart als Neuauflage früherer Erfahrungen zu einer Sensibilisierung für das Momentane wie für das Vergangene und zur klaren Einordnung von Erlebnissen. Rückblicke auf die Krönung Franz I. 1745 spiegeln die seines Sohnes von 1764 wieder (S. 212). Der Erzähler thematisiert in Dichtung und Wahrheit angesichts des Motivs der Zeitvergessenheit explizit die Zeitsprünge von der Gegenwart in die Vergangenheit und Zukunft (S. 213). Entsprechend bildet er einen ErzähJstil aus, der nicht nur historisch referiert, sondern die Ereignisse reflektierend begleitet.25 Ein ihm verwandtes poetisches Talent anerkennt Goethe an Lord Byron, vermag er doch "das Vergangene sowohl als das Gegenwärtige und, im Gefolg dessen, auch das Zukünftige mit glühendem Geisterblick" zu durchdringen.26 "Vergangenheit und Gegenwart in Eins" bezeichnet viertens als Synonym die Erfahrung der 'Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen', Mit ihr sieht Goethe sich am augenfälligsten konfrontiert, wo er auf alte Ruinen, Kunstschätze oder Rituale stößt, die aus der Vergangenheit schroff und sperrig in die Gegenwart hieinragen. So etwa 1801 in Bad Pyrmont, als er Spuren der Römer nachgeht und dabei alten Bräuchen und Namen begegnet.27 Der aktuelle, nichtfiktive Vollzug eines jahrhundertealten nonverbalen Kodes wie des festlichen Krönungszeremoniells in seiner Vaterstadt demonstriert Goethe sehr viel überzeugender als historische Lektüre die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart. An Werken der bildenden Kunst erschreckt den Betrachter die göttliche Augenblicksvision einer Gleichzeitigkeit historischer 14

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MA Bd. 1.1, S. 202-208. Wilhelm Meisters Lehrjahre VIII, 5; MA Bd. 5, S, 542. Das Divan- Gedicht Jm Gegenwärtigen Vergangnes', MA Bd. 11,1. Französisches Hattpttheatcr (1828): "Wer die Revolution überlebt hat, fühlt sich in die Geschichte hineingetrieben, er sieht im Gegenwärtigen das Vergangene mit frischem, die fernsten Gegenstände heranziehenden Blick". In: Goethe: Schriften zur Literatur (wie Anm. 6). Bd. 3 (1973). S, 149. Goethe an Humboldt. 1.12.1831; WA IV 49. S. 165. Vgl. auch Kenn: Verhältnis zum Überlieferten (wie Anm. 8), S. 40f. Meinecke: Historismus (wie Anm. 1). S. 574. Goethe: Cain. A mystery by Lord Byron; MA Bd. 13.1. S. 386. Goethe: Tag· und Jahres-Heße zu 1801; MA Bd. 14. S. 74: "man identifiziert das Vergangene mit der Gegenwart".

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Epochen, Im 14. Buch von Dichtung und Wahrheit leitet er seine Eindrücke vom unvollendeten Kölner Dom - einem Symbol nationaler Vergangenheit mit einer denkwürdigen Bemerkung ein, die das anschließende JabachErtebnis von 1774 zu einer Schlüsselszene stilisiert: Ein Gefühl, das bei mir gewaltig überhand nahm, und sich nicht wundersam genug äußern konnte, war die Empfindung von Vergangenheit und Gegenwart in Eins: eine Anschauung, die etwas Gespenstermäßiges in die Gegenwart brachte (S. 662, 665),

Als Goethe das unversehrt konservierte Wohnzimmer des 1695 verstorbenen Kunstsammlers Everard Jabach des Jüngeren betritt, fällt sein Blick auf ein großes Familiengemälde über dem Kamin. Der ehemalige reiche Inhaber dieser Wohnung saß mit seiner Frau, von Kindern umgeben, abgebildet; alle gegenwärtig, frisch und lebendig wie von gestern, ja von heute, und doch waren sie schon alle vorübergegangen. Auch diese frischen rundbäckigen Kinder hatten gealtert, und ohne diese kunstreiche Abbildung wäre kein Gedächtnis von ihnen übrig geblieben (S. 666).

Die Kunst, auch die der Autobiographie, verleiht dem Flüchtigen Dauer. Das Ephemere und Vergängliche eines zeremoniellen Festes wird von Goethe nicht nur als Ausdruck eines transitorisehen höfischen Ästhetik fixiert, sondern überhaupt als Dokument einer unwiederbringlich vergangenen Epoche. Das Wiedergänger- und Gespensterrnotiv erlangt in den Zeremoniellbeschreibungen des 5. Buches eine näher zu erläuternde Rolle,

2 Zeremoniellbeschreibungen im 5. Buch von Dichtung und Wahrheit Gründliche Quellenstudien, insbesondere der Wahl- und Krönungsdiarien zu den Erhebungen Karls VII., Franz' I. und Josephs II. ermöglichten Goethe eine exakte Bechreibung zahlreicher zeremonieller Handlungen, Abläufe, Ereignisse um die Wahl und Krönung des "Römischen Königs" 1764 in Frankfurt/M., deren Augenzeuge der Junge war.28 In farbigen Szenen und 28

Vollständiges DIARIUM Von den Merkwürdigsten Begebenheiten, Die sich vor, in und nach der (Höchst=beglückten) Wahl und Crönung [...] HERRN CARLS des VII. Erwehlten Römischen Kaysers [.„l zugetragen; [...]. Frankfurt am Mayn 1742. - Vollständiges DIARIVM Von der Höchst=erfreulichen Crönung Des [...J HERRN FRANCISCUS Erwehlten Römischen Kaysers, [,..]. Franckfurt am Mayn 1746. Vollständiges DIARIUM Von denen Merck würdigsten Vorfällen Die sich Bey dem letzt gehaltenen höhne Churfürsten Tag Und darauf Höchst=beglückt erfolgten Wahl= und Crönung Des Allerdurchlauchügsten, Großrnächtigsten und Allergnädigsten Fürsten und Herrn/ HERRN JOSEPHI des Ändern Erwehlten Römischen Königs [...] In der Freyen=Reichs und Wahl=stadt Franckfurt am Mayn Ergeben, [,..j Erster Abschnitt Durch FRANCISCUM ERWINUM SERGER [...]. Maynz 1767 (= ChurTags-Diarium Josephs II.). - Vollständiges Diarium Von der Höchst=beglückte Wahl Des AHerdurchlauchtigsten, Großmächtigsten Purste und Herrn, HERRN Josephs des Ändern, Erwählten Römischen Königes [..,] da Allerhöchst Sie am 27tcn März im Jahre 1764, Zum Römischen Könige Durch einmüthige Stimme des Kurfürstl

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Tableaux schildert er die Anfahrt der Gesandten, ihre diplomatischen Empfänge und Visiten, die Einzüge der geistlichen Kurfürsten, die Einholung von Kaiser und König in der freien Reichsstadt. Er geht auf das Tischzeremoniell ein, auf vorgeschriebene Sitz- und Pro Zessionsordnungen im angemessenen akustischen und optischen Rahmen, der nicht zuletzt die erwartungsgemäßen Affektreaktionen des Volkes auslöst. Goethes Darstellung erschöpft sich jedoch keineswegs in der Deskription eines ästhetischen Schauspiels. Beiläufig analysiert er in literarischer Textur den politischen Stellenwert des Zeremoniells in der Zeitgeschichte und seinen abbröckelnden Symbolcharakter als absolutistische Machtdemonstration ebenso wie als kultische Feier. Angesichts der fesselnden Reportage der Wahl- und Krönungszeremonien und vor der Folie sozialkonservativer Ausführungen - etwa im 17. Buch von Dichtung und Wahrheit (S. 751) - hat die Forschung dem beredten Verfasser nicht den Vorwurf erspart, dem alten Reich noch mehr an Leben eingehaucht zu haben., als ihm- nach tausend Jahren noch innewohnte. Der Untergang des Reichs hinterläßt nach Schieder keine sichtbaren Spuren in Goethes Autobiographie; er habe es als "historische Naturerscheinung" verstanden.29 Demgegenüber haben schon Gould, K.-D. Müller und H.-D. Weber auf die von Goethe unterstrichene Diskrepanz zwischen Symbolisierung und politischer Wirklichkeit hingewiesen, auf die inhaltliche Entleerung des zeremoniellen Anspruchs.30 Allerdings sprechen beide Autoren ungenau wie die Forschung zum Teil bis heute - von einer "Kaiserkrönung" des Jahres 1764.31 Eine genauere Lektüre entdeckt in Goethes Beschreibung der Wahl und Königskrönung Josephs II. eine differenzierte Sicht und Bewertung der zeremoniellen Vorgänge; eine Sicht, die sich einerseits einer erzählerischen Doppelperspektive verdankt und zum ändern einer politisch ambivalenten Bewertung. In der für die Gattung konstitutiven Objektivierungsdistanz von

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Höchsten Collegiums erwählet worden [...]. Zweiter Abschnitt Durch Philipp Johann Nepomuk Seitz [,..J. Mainz 1770 (= Wahl-Diarium Josephs II,), - Vollständiges Diarium Von der Höchst=begiückten Krönung Des Ailerdurchlauchtigsten, Großmächtigsten Fürsten und Herrn, HERRN Josephs des Ändern, Erwählten und gekrönten Römischen Königes [,.,J. Da Allerhöchst Sie am 3tenn April Im Jahre 1764. Von Ihro Kurfürstlichen Gnaden zu Mainz [...], HERRN Emerich Joseph [...} Zum Römischen Könige In der Freien Reichs=Stadt Frankfurt am Main [...} feierlich gesalbet und gekrönet worden [...]. Dritter und letzter Abschnitt Durch Philipp Johann Nepomuk Seitz [...) verfasset. Mainz 1771 {= Krönungs-Diarium Josephs II.). Theodor Schieder; Der junge Goethe im alten Reich. Historische Fragmente aus 'Dichtung und Wahrheit'. In: Staat und Gesellschaft im Zeitalter Goethes. Festschrift für Hans TümJer zu seinem 70. Geburtstag. Köln, Wien 1977. S. 131- 145, hier S. 135. Gould: Book V (wie Anm. 20). S. 130. K.-D. Müller: Autobiographie (wie Anm. 14). S. 319-325. Heinz-Dieter Weber: Ästhetische Identität. Über das Fiktive in "Dichtung und Wahrheit". In: Der Deutschunterricht 1989 {II: Autobiographie). S. 21-36, hier S. 23f. Vgl. Henn: Verhältnis zum Überlieferten (wie Anm. 8). S. 265. Gould: Book V (wie Anm. 20). S. 120. Jörg Drews: An der Pranke erkennt man den Löwen. In: Süddeutsche Zeitung. 28./29.8.1993. SZ am Wochenende S. IV.

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erzählendem und erzähltem Ich beschreibt der Autobiograph das politische Zeremoniell gleichzeitig aus der Erlebnisoptik des Fünfzehnjährigen, der an ästhetischen Spektakeln noch eine infantile Freude zeigen darf, wie aus der desillusionierten Sicht und historischen Erfahrung des 62jährigen, der nicht ohne Grund wiederholt betont, daß er sich auf "das Äußere der Gegenstände" konzentriere (S. 200, 211, 216). Die Vorausdeutungen, mit denen der Erzähler schon im l. Buch arbeitet, bereiten den Leser nicht nur frühzeitig auf den Höhepunkt der Krönung vor, sondern antizipieren mit einer beglaubigten Weissagung, daß in der Galerie der Kaiserportraits im Frankfurter Römer "nur noch Platz für das Bild eines Kaisers übrigbleibe" (S, 23), fünfzig Jahre politischer Geschichte. Auch Rückblicke machen durch Fluchten von Zeitperspektiven epochale Abstände bewußt. Die historische Distanz des Schreibenden zu den Geschehnissen von 1764 wird noch einmal im Bericht des Jugendlichen reflektiert, dem der Troß des Kaisers "wie aus einer ändern Welt" vorkommt (S. 211). Ähnlich verleihen die vom Tafelzeremoniell berücksichtigten, "herrenlosen Büffette und Tische der sämtlichen weltlichen Kurfürsten" dem Speisesaal im Römer "ein gespensterhaftes Ansehen" (S. 227), werden unsichtbare Gäste doch auf das Prächtigste bedient. Goethe kommt an späterer Stelle - im 12. Buch S. 573) - noch einmal auf die auch in den Diarien präsentierten leeren Stühle vor gedeckten Tischen zurück (Abb. 116) und interpretiert das Bild beidemal als Symptom für die politische Interessenspaltung zwischen Kaiser und Kurfürsten. 32 Die Uneinigkeit des Reichs entdeckt schon der junge Chronist beim Studium der Verhandlungen über die Wahlkapitulation: Mehrere Gewalten stehen sich gegenüber, jede will ihre Privilegien und ihren Einfluß sichern und womöglich vermehren (S. 210f). Goethe war bei der Niederschrift des Textes im Besitz von August Friedrich Wilhelm Cromes Wahlkapilulalionen der römischen Kaiser Leopold des Zweiten f...] und Franz des Zweiten (Lemgo 1794), die ihm der Verfasser am 10. Juni 1794 bereits übersandt hatte,33 Die Wahlkapitulation Franz Stephans von 1745 wurde 1764 wiederum zugrunde gelegt (S. 213).34 Allerdings sieht Goethe nicht einseitig nur die desaströsen Folgen der Zersplitterung für die Lebensfähigkeit des Reichs. Zwar macht er sich die Formulierung Pufendorfs vom "monstrose[n] Zustand dieses durchaus kranken Körpers" zu eigen (S. 565) und räumt ein, daß die Reichsverfassung aus lauter gesetzlichen Mißbräuchen bestand (S. 515). Gleichwohl begrüßt er Mösers staatsrechtliche Fundierung des deutschen Föderalismus und dessen kulturelle Bereicherung (S. 687), Zu Mösers Patriotischen Phantasien merkt er an: "Wir sehen eine Verfassung auf der Vergangenheit ruhn, und noch als lebendig bestehn (S. 629f.)" Doch darf man auch hier das "noch" nicht überhören! Ebensowenig wie im 5. Buch die ernsten Auspizien, unter denen das Thema der politischen "Händel" auf unterschiedlichen politischen und 32 33 34

Vgl. die Krönungsdiarien (wie Artm. 28) Karls VII. S. 68; Franz' I. S. 125; Josephs II. S. 148f. Goethes Bibliothek. Katalog. Bearbeitet von Hans Ruppert. Weimar 1958. Nr. 3364. Wahl-Diarium Josephs II. (wie Aniti. 28). S. 43.

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sozialen Ebenen angeschlagen wird. Der Konflikt zwischen Österreich und Preußen, dargestellt am unbotmäßigen Verhalten des preußischen Gesandten von Plotho, spaltet Goethes eigene Großfamilie in zwei feindliche Parteien: Großvater Textor - laut Enkelzeugnis und dem der Diarien trug er über Kaiser und König den "Krönungs-Himmel"3' - steht im Siebenjährigen Krieg auf österreichischer, der Vater auf preußischer Seite (S 52ff.) - ein anschaulicher Beleg für den wechselseitigen Einfluß "des allgemeinen politischen Weltlaufs" auf das Privatleben des einzelnen, wie ihn die Vorrede festhält (S. 11). Daß die rivalisierenden Machtinteressen der deutschen Städte, insbesondere die Rivalität zwischen Österreich und der neuen europäischen Großmacht Preußen den herrschaftspoliti sehen Anspruch kaiserlicher Repräsentation ausgehöhlt haben, wird in der süffisanten Schilderung der Unmanierlichkeit des ersten preußischen Gesandten deutlich: Plothos Vitalität, die jeder diplomatischen Etikette ins Gesicht schlägt - er warf in Regensburg kurzerhand die Überbringer der Achterklärung gegen seinen Herrn die Treppe herunter -, verrät auch in Kleiderfragen die Zeremoniell Verachtung und Machtsouveränität Friedrichs des Großen (S. 201, 207, 229).36 Den Abgesandten von Aachen und Nürnberg ferner, die dem Herkommen gemäß die Reichsinsignien überfuhren, bescheren unausrottbare, von den Diarien verbürgte Geleitstreitigkeiten zwischen Kur-Mainz und Frankfurt Verzugsprobleme (S. 214),37 Der Frankfurter Magistrat sah sich in Mißhelligkeiten sowohl mit adligen Reichsständen verwickelt wie mit eigenen Bürgern, die gegen zugemutete Einquartierungen protestierten (S. 202f). Angesichts der Ballung höchster und hoher Würdenträger in der Stadt kann es nicht verwundern, wenn Goethes Großonkel von Loen auch bei der Kaiserkrönung Karls VII. Präzedenz- und Zeremomalstreitigkeiten auf Schritt und Tritt anführt. 38 Der Zwist auf hoher politischer Ebene wiederholt sich bei Goethe im Kampf der Metzger- und Weinschröterinnungen um den gebratenen Ochsen und innerhalb der Zuschauermenge, wenn sie beim Geldauswerfen "in sich selbst gegen den Boden" wühlt (S. 225). Die kommunalpolitischen Nachteile eigennütziger Gilden- und Zünftepolitik in der Stadt kritisiert Goethe deutlicher an anderer Stelle.39 Goethes Kritik findet ihre sozialgeschichtliche Fundierung im Untergang der Zünfte während des 18, Jahrhunderts, An die damit eröffneten Chancen sozialen Aufstiegs für Selfmademen knüpfen sich die Hoffnungen der jungen Leute aus der

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Krönungsdiarien (wie Anm. 28) Franz' I. S. 61f, 89; Karls VII. S. 37. Goethe übernahm die Anekdote von Archenholtz, Johann Wilhelm von Archenholtz; Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland {'1791). Nach den neuesten geschichtlichen Forschungsergebnissen umgearbeitet von v. Duvernoy. Leipzig 1911. S. 40f. Vgl. die Krönungsdiarien (wie Anm. 28) Franz' I. S. 61f, 89; Karls VII. S. 37, Johann Michael von Loen: Gesammelte Kleine Schriften (1749- 1752). Bd. II. Hg, von J.C. Schneider. Faksimiledruck Frankfiirt/M. 1972. S. 135- 138, 144f., 172, 22If. Goethe: Reise in die Schweiz; MA Bd, 4.2, S, 635.

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Unterschicht, mit denen Goethe durch Gretchen und seinen Freund zusammenkommt (S. 191f). Das traditionelle Abreißen der Holzhütte mit der Ochsenbraterei erhebt der Erzähler zum Symbol der Selbstzerstörung des Reiches: Wie nun aber eine Feierlichkeit dieser Art mit etwas Gefährlichem und Schreckhaften schließen soll, so war es wirklich ein fürchterlicher Augenblick, als die bretterne Küche selbst Preis gemacht wurde (S. 226).

Die Bretter und Balken werden vom Pöbel losgerissen und heruntergestürzt, ohne Rücksicht auf Mitakteure und die Lebensgefahr für Hinzu dringende: "manche schwebten noch oben herum, als schon unten die Pfosten abgesägt waren, das Gerippe hin- und herschwankte und jähen Einsturz drohte" (S. 226).40 Goethes Anspielung auf die sozialpolitische Opposition von oben und unten erfährt im Kontext der revolutionären Metaphorik des Jahrhundertendes ihre erhellende Bestätigung. Eine Garde namhafter Autoren wie Campe, Forster, Rebmann, Schiller, Wieland charakterisieren die Reichsverfassung selbst als einsturzgefährdete Ruine.41 Goethe erinnert an die latente Gefahr am Vorabend der Revolution, daß die Repräsentation absolutistischer Gewalt am höchsten Staatsfeiertag des Anden Regime jederzeit in ein anarchistisches Volksfest umschlagen kann, Insofern reflektiert seine Festbeschreibung den Verlauf der europäischen Geschichte am Ende des 18. Jahrhunderts. Gegenüber ideologisierenden Tendenzen in Goethes Quellen und in der späteren Forschung, die von der Geborgenheit des einzelnen im Ganzen und von der Harmonie des Festablaufs schwärmen, vermeidet er dessen retuschierende Verklärung, 42 Tatsächlich brachen 1764 Unruhen aus, bei denen das Militär in die Menge schoß und ein achtzehnjähriges Mädchen tötete.43 Es verdient genauere Aufmerksamkeit, wie Goethe den prächtigen Aufzug der Krönungsprozession mit Kaiser, König, geistlichen Kurfürsten, Reichserzämtern, Gesandten, Grafen, Ratsherren und Trabanten im Unterschied zum Krönungsdiarium beschreibt:44 "° "! 42

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Vgl. die Edikte gegen Ausschreitungen bei der Preisgabe des Weins und des Ochsen in den Krönungsdiarien (wie Anm, 28) Karls VII. S. 31 f.; Franz' I. S. 67f. und Josephs II. S. 59f. Peter Schmidt: Die gotische Ruine der Reichsverfassung. In; Weimarer Beiträge 35 (1989). H. 5, S. 745-758, hier S. 745-749. Schmidt zitiert ferner Karl Clauer, Maximilian Blumhofer, Posselt und den Mainzer Klubbisten Hofrnann. Dem Krönungsdiarium Josephs II. (wie Anm. 28). S. 157, zufolge ist am 3. April 1764 "nicht die mindeste Unordnung vorgegangen". Ähnlich ebd. S. 139. Ritter von Srbik unterstellt Goethe 1939 nationalsozialistische Träume von einer deutschen Volkseinheit. Heinrich Ritter von Srbik: Goethe und das Reich, In: Goethe-Jahrbuch 59 (1939). S. 211-232, hier S. 215, 217, 225f. Siegfried Sieber: Goethes Quellen und seine Darstellung der Krönung Josefs II, In: Chronik des Wiener Goethe-Vereins 28 (1915) S. 11- 14, hier S. 13. Das Krönungsdiarium Josephs II. (wie Anm. 28). S. 139 berichtet: Bei der Preisgabe der Bretterküche und des rot-gelb-weiflen Tuches habe das Volk sich gesittet verhalten und jegliche Zwischenfälle vermieden; "das innere Frolocken (!) des übermäsigen (!)

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(...) alles schien nur eine Masse zu sein, die nur von Einem Willen bewegt, prächtig harmonisch, und soeben unter dem Geläute der Glocken aus dem Tempel tretend, als ein Heiliges uns entgegenstrahlte. Eine politisch religiöse Feierlichkeit hat einen unendlichen Reiz. Wir sehen die irdische Majestät vor Augen, umgeben von allen Symbolen der Macht; aber indem sie sich vor der Himmlischen beugt, bringt sie uns die Gemeinschaft beider vor die Sinne. Denn auch der Einzelne vermag seine Verwandtschaft mit der Gottheit nur dadurch zu betätigen, daß er sich unterwirft und anbetet (S. 222).

In einer für Dichtung und Wahrheit typischen Deskriptionstechnik folgt von einander abgesetzt - dem optischen Bild die abstrahierende Analyse. Der reflektierende Beobachter unterstreicht die vereinheitlichende Verhaltenskonformität erzwingende Funktion des politisch-religiösen Zeremoniells, das im Beispielfall sehr wesentlich zur kollektiven Identität einer Wertegemeinschaft beiträgt. Den tausendstimmigen Jubel motiviert Goethe im Anschluß mit den berechtigten Hoffnungen der Bevölkerung auf dauerhaften Frieden, nicht mit der Begeisterung der Reichsstädter für die Dynastie. Die Freigabe des in die Luft geworfenen Bodenbelags fuhrt hier zu lächerlichem Gezerre des unter ihm begrabenen Volks, bis die einzelnen sich durchgerissen oder durchgeschnitten, und jeder nach seiner Weise einen Zipfel dieses, durch die Fußtritte der Majestäten geheiligten Gewebes davongetragen hatte (S. 223).

Das Einheitssymbol des Tuches in den Farben des alten Hoheitszeichens der deutschen Herrscher wird erbarmunglos zerstückelt. Auch die Einheit des Krönungszuges bleibt bei Goethe optischer Schein.45 Das Gottesgnadentum hat nur noch ästhetische 'Reiz'-Wirkung. Der irreversible Säkularisierungsprozeß schlägt sich schon in der Wortwahl des Berichterstatters nieder: Statt vom "Dom" spricht er vom "Tempel", anstelle von "Gott" von der "Gottheit". Goethes zeitabgestimmte Diktion läßt aufklärerische Positionen durchscheinen und unternimmt zugleich eine Bestandsaufnahme des Politfestes vor dem Kontext der Zeremoniellgeschichte. Die Sprechweise der 'naturlichen Religion1 - sie wird in Dichtung und Wahrheit mehrfach thematisiert respektiert trotz der 'Wir'-Anklänge an den religiösen Gemeindekult die individuelle Entscheidungsfreiheit des einzelnen gegenüber dogmatischer Vereinnahmung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts (vgl. S, 297f., 358f,

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Volkes war so groß, daß es durch das beständig anhaltende Freuden= und Vivatgeschrei die Luft gänzlich enthönte (!), und man hätte glauben sollen, als wenn ganz Frankfurt nur eine Stimme hätte, um die gleichgesinnten Herzen und Wünsche am Tage zu geben, so einhellig waren die ehrfurchtsvolle Gesinnungen aller, die die höchste Majestät auf Erden, in dem gänzlichen Reichspracht vorüber zu ziehen, das Glück hatten." Ritter von Srbik: Goethe und das Reich (wie Anm 42), sieht demgegenüber in Goethes Ausführungen "ein ganz tiefes und reines Verständnis des irrationalen Wesens des alten Reichs" und den heimlichen Wunsch nach einem totalitären Führerstaat (S. 214f, 225f.),

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376). Daneben markiert Goethes deistische Terminologie am Beschreibungsgegenstand dessen aktuelles Stadium, das sich als Ergebnis eines jahrhundertealten, Wechsel vollen Geschichtsprozesses erweist. Der mittelalterliche Krönungsordo hatte sich eng an die Liturgie des Dreikönigstages und den kirchlichen Ritus der Bischofsweihe angelehnt.46 Der genuin sakrale Vollzug der Krönung wurde auch im 18. Jahrhundert noch durch den Rahmen der Meßfeier gewährleistet, die Goethe taktvoll übergeht. Die Krönungsdiarien hingegen halten den nonverbalen und verbalen Kode des religiösen Szenarios minutiös fest: die Bekleidung des Kandidaten mit den Pontifikalien, die Prostratio vor dem Altar, die Fürbitten um seine Heiligung, die Salbung "mit dem heiligen Oelef im Namen des Vaters und des Sohns und des heiligen Geistes", die Übergabe des Schwertes zur "Beschützung der heiligen Kirchen Gottes", des Ringes als Siegel des wahren Glaubens, die Inthronisation des Königs als "Mittler zwischen der Geistlichkeit und dem Volck".47 Daß Goethe den mehrfachen geistlichen Sinn der Zeremonien als Quantite negligeable behandelt und sich nur auf das äußere Geschehen beschränkt, spricht für sich. Denn von einem theokratischen Anspruch des Sacrum Imperium konnte längst keine Rede mehr sein. Die Nürnberger Heiltumsweisung - die Reliquienausstellung der Reichsheiltümer - war weggefallen und der Papst krönte und bestätigte schon im 14. Jahrhundert nicht mehr das weltliche Oberhaupt des Hl. Römischen Reiches. 4S Seit der Reformation und mit dem Erstarken der Reichsstände war als herrschaftslegitimierender Akt an die Stelle der Krönung die Wahl mit den Verhandlungen um die Wahlkapitulation in den Vordergrund getreten.49 Die Staatsvertragslehre des 18. Jahrhunderts stellte die Monarchie auf ein naturrechtliches Fundament und verzichtete auf die Basis des geoffenbarten göttlichen Rechts, auf die noch das 17. Jahrhundert baute.50 Verschmolzen im Sacrum Imperium des Mittelalters Staat und Kirche, so betrieb der Josephinismus energisch ihre Trennung. Das Volksbrauchtum jedoch steht auch zu Goethes Zeit noch im Bann der hieratischen Aura. Die Frankfurter Bevölkerung balgt sich traditionsgemäß um die Reliquien des Gottesgnadentums, Nach altem Volksglauben erhält das Tuch, über das die geweihte Majestät schreitet, die Kraft, Krankheiten zu heilen. 51 Selbst die 'Fußtritte', die der Untertan von den höchsten Machtträgern davonträgt, sind ihm heilig. ·' 47 48 49 50

51

Hans Joachim Beibig: Der Krönungsritus im alten Reich (1648-1806). In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 38 (1975). S. 639-700, hier S. 650. Krönungsdiarien (wie Anm. 28) Franz' I. S. 91-113; Josephs II. S. 97- 128. Vgl. Krönungsdiariym Karls VII (wie Anm. 28), Von. unpag. ) 0 0 C Berbig: Krönungsritus (wie Anm. 46). S. 64If, Fritz Härtung: Der aufgeklärte Absolutismus (1955), In; Absolutismus. Hg. von Walther Hubatsch. Darmstadt 1973 (= Wege der Forschung. Bd. 314), S. 118-151, hier S. 147f, Hermann Conrad: Rechtsstaatliche Bestrebungen im Absolutismus Preußens und Österreichs am Ende des 18. Jahrhunderts (1961). In: Ebd. S. 309-360, hier S. 318f., 336. Berbig: Krönungsritus (wie Anm. 46), S. 656,

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Aus der postumen Sicht des Reichsendes deckt der Erzähler das Unzeitgemäße einer bedeutungslos gewordenen Repraesentatio auf Weil die politische und religiöse Bedeutung der Zeremonien sich verflüchtigt hatte, rezipiert sie Goethe konsequent ästhetisch. An den Leitmotiven des Theaterspiels und der Unstimmigkeit des Decorum artikuliert sich Goethes semiotische Kritik an der Diskrepanz von Bezeichnetem und Bezeichnendem. Der politischen Sinnentleerung des Schaugepränges wird seine Rezeption als Kunstwerk am ehesten gerecht. Bereits im sakral-profanen Wahl-Konklave des Doms, von Goethe als "Allerheiligstes" ironisiert, "in welchem weitläuftige Zeremonien die Stelle einer bedächtigen Wahlüberlegung vertraten" (S, 208), kündigt sich die Zweckentfremdung an. Dem im Verlauf eines Vierteljahres wachsenden Trubel, den das Festprogramm routiniert steigert, erteilt der Erzähler das zwiespältige, hypothetische Lob Hätte man alle diese öffentlichen Feierlichkeiten von Anfang bis hierher als ein überlegtes Kunstwerk angesehen, wo würde man nicht viel daran auszusetzen gefunden haben (S. 208),

Das erhöhte Theatntm ceremoniale des Hofs kann schon der jugendliche Liebhaber seinem Mädchen mit einem geläufigen Topos erläutern: Ich verglich nicht unschicklich diese Feierlichkeiten und Funktionen mit einem Schauspiel, wo der Vorhang nach Belieben heruntergelassen würde, indessen die Schauspieler fortspielten, dann werde er wieder aufgezogen und der Zuschauer könnte an jenen Verhandlungen einigermaßen wieder Teil nehmen (S. 205).

Anders als zur Etikette gehört zum Zeremoniell wesentlich der Zuschauer. Daß einige Akte hinter geschlossenem Vorhang spielen, vor einem ausgesuchten Kreis, tut dem keinen Abbruch: Das Rollenspiel der Kabinettspolitik geht in jedem Fall weiter. Das Zeremonienstück wird inszeniert vor einem Publikum, für das eigens Tribünen errichtet sind.32 Für einen Fensterplatz am Römer zahlte man nach von Loen, der auf dem Schauspielcharakter der Veranstaltung gleichfalls insistiert, mindestens 50 Reichstaler.53 Wie zu einer Theaterauffiihrung gehört das Anprobieren des Kostüms und der Krone zum Pflichtprogramm der Hauptdarsteller (S. 215), und wie für die Bühne werden Kleider gewechselt (S. 218).i4 Die beiden Majestäten - Vater und Sohn - kommen nach Goethe "wie Menächmen überein gekleidet" daher (S. 223), also wie das Zwillingspaar der Terenzkomödie. Eine Vorführung eigener Art, über die sich schon sein Großonkel amüsierte," leitet der Neffe folgendermaßen ein: Alles Volk hatte sich gegen den Römer zu gewendet, und ein abermaliges Vivatschreien gab uns zu erkennen, daß Kaiser und König an dem Balkonfenster des großen 52

" i4 55

Krönungsdiarium Josephs II. (wie Anm. 28). S. 76. von Loen: Kleine Schriften II (wie Anm. 38). S, 96, 98, 167f, 211. Krönungsdiarien (wie Anm, 28) Franz' I. S. 77f, Josephs II. S. 63. von Loen: Kleine Schriften II (wie Anm. 38). S, 39-42, 220- 222.

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Manfred Beetz Saales in ihrem Ornate sich dem Volke zeigten. Aber sie sollten nicht allein zum Schauspiel dienen, sondern vor ihren Augen sollte ein seltsames Schauspiel vorgehen (S. 224),

Und dann beschreibt Goethe ein Ritual, das sich von der "veralteten goldnen Bulle" (S. 202) herschreibt, in entsprechend antiquierter Sprache: Der Reichserbmarschall reitet in einen Haferhaufen und schöpft ein "Gemäß" voll Getreide, der Erbkämmerer besorgt für die kultische Händewaschung "Handbecken nebst Gieß faß und Handquehle", der Erbtruchseß holt ein Stück des gebratenen Ochsens, der Erb schenke den Wein für den Kaiser und der Erbschatzmeister wirft als Karnevalsprinz Geld unters Volk (S. 224).i6 Goethe entlieh sich sowohl am 12. August 1811 wie zwei Jahrzehnte später, als er für Faust II (4. Akt, V. 10849-10976) die Funktionen der Erbämter benötigte, die Neue Erläuterung der Güldenen Bulle Kaisers Karls IV (Frankfurt und Leipzig 1766) aus der Feder des Frankfurter Bürgermeisters Johann Daniel von Olenschlager von der Weimarer Bibliothek, Der Bühnenkaiser in Faust II ähnelt vollends einem Karnevalsprinzen, der "Heitres nur genießen" will (V, 4768). In den Kaiserszenen rekapituliert der greise Dramatiker noch einmal die Themen der Zerrüttung und Anarchie des Reichs, der Vorspiegelung und Gaukelei und des Auseinandertretens von Schein und Sein." Die Wiederholung des Schauspielbegriffs in den letzten Zitatzeilen aus Dichtung und Wahrheit (S. 224) verdeutlicht, daß sich die ehedem symbolträchtigen gestischen Aktionen mittlerweile in einer pantomimischen Vorführung erschöpfen. Goethe verfremdet die tradierten Amtsmanöver, indem er in doppelt gebrochener Perspektive beschreibt, wie das Volk zusieht, wie der Kaiser und der junge Thronprätendent zusehen, wie die Erzamtsträger des Reichs ihres Amtes walten. Die Bildführung geht vom Volk zu den Majestäten und erst von ihnen zum "seltsamen" mittelalterlichen VasalHtätstreiben, das angesichts der Verwandlung der feudalen Reichsgesellschaft in ein System von territorialen Staaten nur noch als überständiges Relikt aus der Vergangenheit zu bestaunen ist. Die Motive der unpassenden, altväterlichen Kleidung und der kunsthandwerklichen Imitation durchziehen die Festbeschreibung des 5, Buches. Die spanischen Mäntel und die großen Federn auf den "altertümlich aufgekrempten Hüten" geben den Gesandten wie beim gelungenen Kostümfest "ein 56

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AUREA BULLA CAROLI QUARTI [...] Oder: Güldene Bulle Des Römischen Kaysers CARLS des Vierten, welche [...] 1356. zu Nürnberg und Metz verfasset worden (= Anhang zum Krönungsdiarium Karls VII. [wie Anm. 28]). S. 30f. Vgl. Faust H, V. 4794, 1026 If., 10300, 10545-10570, 10715f„ 10741; MA Bd. 18, Goethe zu Eckermann, 1.10.1827; MA Bd. 19. S, 584. Der Karneval - für Bachtin ein "Mischbereich von Realität und Spiel" - bot sich für Goethe als Modell des Lebens und der Gesellschaft an, Michail Bachtin; Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, München 1969. S. 48. Zwischen dem Römischen Carneval und der Französischen Revolution zieht Goethe im Jahr ihres Ausbruchs Parallelen und stellt ferner über das Motiv der vorbeifliegenden Pferde Bezüge zu Dichtung und Wahrheit und Egmont her, Vgl. MA Bd. 3.2. S, 249; Bd. 16. S. 83 If.; Bd. 3.1. S. 276.

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echt altertümliches Ansehen", wozu aber die modernen Beinkleider, Schuhe und weißseidenen Strümpfe sich gar nicht schicken wollten (S. 202, 207).58 Die ästhetische Kritik am Indecorum wird zur politischen am musealem Anachronismus und Konservatismus. Als Brennpunkt für das Motiv des Unzeitgemäßen wählt Goethe den Ornat der gekrönten Häupter. Fällt der kaiserliche Hausornat des Regenten als neugeschneiderte 'Nachahmung des Altertums1 noch akzeptabel aus - ihm passen wenigstens die österreichischen Hausinsignien von Rudolf II. und Kaiser Matthias -, so steht es um seinen Sohn bedenklich, die schweren Nürnberger und Aachener Reichskleinodien drohen ihn zu begraben.59 Der junge König hingegen schleppte sich in den ungeheuren Gewandstücken mit den Kleinodien Carls des großen, wie in einer Verkleidung einher, so daß er selbst, von Zeit zu Zeit seinen Vater ansehend, sich des Lächelns nicht enthalten konnte. Die Krone, welche man sehr hatte füttern müssen, stand wie ein übergreifendes Dach vom Kopf ab. Die Dalmatika, die Stola (...) gewährte doch keineswegs ein vorteilhaftes Aussehen. (...) man konnte sich nicht leugnen, daß man lieber eine mächtige, dem Anzüge gewachsene Gestalt um der günstigem Wirkung willen, damit bekleidet und ausgeschmückt gesehen hätte (S. 224f). Innerer Gehalt und äußerer Ornat sind in ein kurioses Mißverhältnis geraten. In humoristischer Distanz schildert der Erzähler die Rollendistanz des Thronerben, die sich als Abstandnahme vom Geschehen auf den Leser überträgt. Wenn der junge König bei einem Initiationsritus von allerhöchster personaler und öffentlicher Bedeutung selbst schmunzeln darf, darf es auch der Rezipient. Alles wirkt eine Nummer zu groß. Auch die kaiserliche Staatskarosse bei der pompösen Einzugsprozession von Kaiser und Reichsständen samt Gefolge, einem endlosen Festzug, dem der Erzähler eine fast ebenso lange Beschreibung widmet (S. 209-212). Der luxuriöse kaiserliche Staatswagen paßte in seiner Größe und Breite nicht mehr durch die Frankfurter Catharinenpforte, so daß man sich gezwungen sah, das Pflaster abzutragen und die Wetterdächer der Läden einzuziehen.60 Hier wird durch Überproportionalität

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Die Kleidung der Kurfürsten und ersten Wahlbotschafter wird ähnlich von den Wahlund Krönungsdiarien beschrieben (wie Anm. 28), vgl. Wahldiarium Josephs II. S. 171; Krönungsdiarium Josephs II. S. 79f., 86f, 92, Krönungsdiarium Josephs II. (wie Anm. 28), S. 122, 127, 137. Die Karl dem Großen zugeschriebene oktogonale Goldkrone ist 14 Pfund schwer und "eine halbe Elle hoch"; Krönungsdiarium Franz' I. Ebd. S. 128f, Das Krönungsdiarium Josephs II. (wie Anm. 28). S. 33, beschreibt die kaiserliche Karosse näher: "Der prächtigste kaiserliche Stats=Leib=Wagen, auch im Rücken mit einem ganzen Spiegel=Glaß, nicht minder mit kostbarsten Mahlerei, Lack, Bildhauerarbeit und Vergoldungen versehen, wie auch mit rothen Sammet obenher und inwendig bezohen, und auf das reicheste mit erhabener Stickerei von Gold ausgezieret, von sechs Pferden mit prächtigsten goldenen Krepinen und roth sammeten mit Gold

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vom Erzähler nicht mehr Größe signalisiert.51 Im nämlichen Jahr 1811, in dem Österreich den Staatsbankrott anmelden muß, kommentiert er die bürgerliche Wühlarbeit für den Hochadel wie folgt: Hier hatte man glücklich bedacht, daß die äußere Herrlichkeit der Welt, seit einer Reihe von Jahren, sich immer mehr in die Höhe und Breite ausgedehnt. Man hatte gemessen und gefunden, daß durch diesen Torweg, durch welchen so mancher Fürst und Kaiser aus und eingezogen, der jetzige kaiserliche Staatswagen, ohne mit seinem Schnitzwerk und ändern Äußerlichkeiten anzustoßen, nicht hindurchkommen könne (S. 211f). J.M von Loen beschreibt allerdings die gleiche erzwungene Straßenbaumaßnahme wegen einer überdimensionierten Staatskarosse schon bei der Krönung Karls VI., als der Kölner Kurfürst sich zu diesem Zweck eigens aus Paris ein mit ausladenden Verzierungen aufgeputztes Luxusgefährt hatte kommen lassen.62 Die ästhetischen Ornamente fürstlicher Festzelebration verselbständigen sich auf Kosten der Stadtkasse und des Bürgerschweißes. Goethe zeigt beides: einerseits die Aushöhlung des politischen Zeremoniells zum Kostümfest, andererseits aber auch Beispiele humanen Umgangs mit konventionellen Förmlichkeiten. Im Durchbrechen des Protokolls äußert sich für den Erzähler menschliches Leben. In einem Rückblick auf die Krönung Franz' I, überliefert er weiter, was man von der befreienden Reaktion Maria Theresias auf die "seltsame Verkleidung" ihres Gemahls sich erzählt, der wie "ein Gespenst Carls des großen" mit den Krönungsinsignien angetan vom Dom zurückkehrt (S. 221). Krönungsinsignien und Zeremoniell stehen im 18. Jahrhundert noch deutlich in der alten karolingischen Tradition: Imitation des Aachener Throns, Reichskrone, Zeremoniellschwert werden auf Karl den Großen zurückgeführt, der 794 in Frankfurt, in der karolingischen Pfalz des ostfränkischen Reiches, eine glänzende Reichsversammlung abhielt.63 Im Wiedergängermotiv läßt Goethe Vergangenheit und Gegenwart zyklisch zusammenfallen. Das Ende des Hl. Römischen Reiches steht mit der Geistererscheinung seiner Uranfange vor der Tür. Im Gegensatz zur Romantik vermeidet der Erzähler jede Verklärung mittelalterlicher Herrschaftsträger und des Feudalismus.64 Als Kaiser Franz I. Stephan 1745 in deutlicher Selbstironie ("wie zum Scherz") Maria Theresia seine Insignien zeigt, bricht sie "in ein unendliches Lachen" aus (S, 221), Eine Krönung zur

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gestickten Geschirren und Equipagen aufgeputzet, (...]." Goethe übernimmt die Beschreibung fast wörtlich, vgl. MA Bd. 16. S, 210. Vgl. die Ausführungen von Thomas Rahn in diesem Band zur übcrproportionierenden Ästhetik des Zeremoniells. von Loen: Kleine Schriften II (wie Anm. 38). S. 175, 183f. Wahldiarium Karls VII. (wie Anm. 28). Von. unpag, [t], Krönungsdiarium Franz1 I. (Ebd.). Vorr. unpag, Hermann Meinert: Von Wahl und Krönung der deutschen Kaiser zu Frankfurt am Main. Mit dem Krönungsdiarium des Kaisers Matthias aus dem Jahre 1612. Frankfurt/M. 1956. S. 8f. VgJ, die Beiträge von Rolf Haaser und Günter Oesterle in diesem Band.

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Kaiserin lehnte bekanntlich die beliebte 'Landesmutter' ab und bezeichnete die böhmische Krone als ein "Narrenhäubl".63 Mit ihrer rhetorisch eingesetzten Menschlichkeit und Unbefangenheit gewinnt die Kaiserin die Herzen des Volkes, macht sich mit ihrem Schnupftuchwinken, das auch das historische Diarium eigens vermerkt, zur Identifikationsfigur für den einfachen Untertan.*6 Goethe flicht verschiedentlich souveräne Spontaneitätsbekundungen in Reportagen über das Verhalten von Souveränitäten ein und schließt sich auch hier möglichst den Quellen an,67 Die anrührende Begrüßungsszene zwischen dem kaiserlichen Ehepaar beim Einzug Franz Stephans über die räumliche Entfernung hinweg (S, 213) kennt auch dessen Krönungsdiarium,6* Vergeblich würde man aber dort nach einer Analyse suchen, die in Goethescher Manier die Menschlichkeitsprojektion als bürgerliche Wunschvorstellung enthüllt: Da die Großen nun auch einmal Menschen sind, so denkt sie der Bürger, wenn er sie Heben will, als seines Gleichen, und das kann er am fuglichsten, wenn er sie als liebende Gatten, als zärtliche Eltern, als anhängliche Geschwister, als treue Freunde sich vorstellen darf (S, 213). Im Szenario dynastischer Feiern wird das tausendstimmige Vivat des Volkes angeheizt durch multisensorische Mittel wie Kanonendonner, Trompeten, die durch appellative Zäsuren das Festprogramm strukturieren. Als frühmoderne Elemente der Massenpsychologie fordern sie die Mobilisierung der Herzen zur Verklärung der Staatsgewalt.69

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Berbig; KrÖnungsritus (wie Anm, 46). S. 691.

Vgl. Kiönungsdiarium Franz1 I. (wie Anm. 28). S. 119f: "Da also Se, Kayserl. Maj. unter beständigem Freuden=Geschrey, wovon die Luffi recht ertönte, bis nahe an den Römer gelanget waren; so gaben Ihro Maj. die Kayserin, am Fenster stehend, mit Schwingung eines weissen Tuchs, Dero hertz innigstes Vergnügen über die höchstbeglückte Crönung Dero Hrn. Gemahls Maj. an den Tag, und Hessen, bey entstandener kleinen Stille, mit eigener Allerhöchsten Stimme ein frohes Vivat hören." Daraufhin erscholl neues Jauchzen und Frohlocken Tausender "und es schien, als wenn gantz Franckfurt, nebst einem gleichgesinneten Hertzen [...] nur eine Stimme hätte". Im Römer angelangt dankt der Kaiser seiner Gemahlin durch ein freundliches Kopfnicken am Fenster. Die rührende Schilderung der Begegnung des betagten Landgrafen Ludwig VIII. von Hessen-Darmstadt (1691-1768) mit dem Kaiser stützt sich auf das Krönungsdiarium Josephs II. (wie Anm, 28). S, 19, und ist eine Reprise der Schilderung aus dem Krönungsdiarium Franz' I, (Ebd.). S. 61. Krönungsdiarium Franz' I. (wie Anm, 28), S, 43: "also schien die Annäherung Dero Herren Gemahls [,,.] das Hertz dieser grossen Heldin mit den zärtlichsten Regungen zu erfüllen, indem Ihro Maj. durch holdseeliges Wincken, wiederholtes Hände=Klatschen und Vivat-ruffen Dero allerhöchstes Vergnügen an den Tag legten, zugleich aber unzehligen Zuschauern die angenehmste Augenweyde verschaffen." Reinhard Wittram: Formen und Wandlungen des europäischen Absolutismus (1948). In: Absolutismus (wie Anm. 50). S. 94-117, hier S. 96.

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Nonchalance innerhalb zeremonieller Rahmen folgt oft genug selbst wiederum politischen Spielregeln, Abstufungen werden erkennbar, die von der Prägung der Konvention mit dem individuellen Stempel einer Persönlichkeit bis zu Etiketteverletzungen reichen. Goethe sympathisiert keineswegs mit allen. In einem Paralipomenon zu Dichtung und Wahrheit hat er den Sansculottismus als Konsequenz der Entzauberung der Monarchie durch aufgeklärte Monarchen hingestellt, insbesondere durch Formen der Selbstdegradierung und des Sichgemein-Machens mit dem Untertan: Friedrich II. und sein Verehrer Joseph II. schlafen in einfachen Feldbetten und heben die zur Herrschaftsbegründung wie -Stabilisierung förderliche Distanz zwischen Potentat und Untertan auf 70 Joseph II. lockerte als Regem zeremonielle Vorschriften, schränkte das höfische Festgepränge ein und schaffte in Wien die Hoftracht ab. Unterminiert die Selbstverleugnung der Statusprivilegierung nicht die Grundlagen der Monarchie? Goethes Bedenken hängen eng mit seiner politischen Position eines für Reformen offenen Konservativismus zusammen. Er definiert seine politische Einstellung negativ, wenn er sich weder als Freund der Revolution noch des Anden Regime bezeichnet,71 Positiv setzt seine Auffassung voraus, daß jeder Stand die Rechte der anderen Stände anerkennt und allenfalls Selbstkritik übt, 72 Als nobilitierter Minister eines reformfreudigen Hofes durfte er sich demzufolge Kritik an höheren Ständen erlauben. Daß er ungeachtet seines Aristokratismus bekennt, er habe sich gerade zum Leben des niederen Volkes hingezogen gefühlt, hat vielfache Aspekte.

3 Die Literarisierung der Geschichte Im 5. Buch von Dichtung und Wahrheit durchflicht und rahmt der Erzähler die Schilderung der öffentlichen Festlichkeiten mit der sehr privaten Gretchenhandlung. Welche Absichten verfolgt er mit dieser Verknüpfungstechnik? Die Antworten der Forschung sind erwägenswert und regen zu weiteren Überlegungen an. Die Relativierung des Krönungsgeschehens durch den Bericht der ersten leidenschaftlichen Liebeserfahrung stellt, K.-D. Müller zufolge, einen Ansatzpunkt zur historisch-politischen 70

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"Joseph wirft die äußern Formen weg [..,] Maxime, der Regent sey nur der erste Staatsdiener. Die Königin von Franckreich entzieht sich der Etiquette. Diese Sinnesart geht immer weiter bis der König von Frankreich sich selbst für einen Misbrauch hält." WA 153. S. 384. Goethe zu Eckermann, 4.1.1824; MA Bd. 19. S. 493f. Walter Müller-Seidel: Deutsche Klassik und französische Revolution. In: Deutsche Literatur und Französische Revolution, Sieben Studien von Richard Brinkmann, Claude David u. a. Göttingen 1974. S. 39-62, hier S. 46. Goethe zu Eckermann, ebd. VgJ. Die Aufgeregten /1; MA Bd. 4.1, S. 160f, Claude David: Goethe und die Französische Revolution. In: Deutsche Literatur und Französische Revolution (wie Anm. 71). S. 63-86, hier S. 76.

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Deutung dar,73 In die Augen fällt dabei, daß der Ich-Erzähler seine kontrapunktische Komposition humorvoll thematisiert und entstehungsgeschichtlich motiviert: Die Diarien wurden aufgeschlagen, und wir beschäftigten uns den ganzen Tag damit bis tief in die Nacht, indessen mir das hübsche Mädchen, bald in ihrem alten Hauskleide, bald in ihrem neuen Kostüm, immer zwischen den höchsten Gegenstanden des heiligen römischen Reichs hin und wieder schwebte (S. 197),

Analog mutet er dem Leser eine mehrsträngige Handlungsfuhrung zu, in der die breite Schilderung des diplomatischen und staatlichen Zeremonielles eingefaßt und durchkreuzt wird vom Erlebnisbericht der aufblühenden Liebe zu einem Mädchen aus einfachen Verhältnissen. Der Welt des Hochadels und der höchsten Würdenträger des Reichs steht das Treiben des Volks und der Unterschicht gegenüber; dem erstarrten, veräußerlichten Zeremoniell das lebendig wachsende Gefühl tiefer Zuneigung. Ohne die eingeschaltete Gretchenhandlung hätte Goethe riskiert, das einfache Volk nur als applaudierende Masse einzubringen, als Pöbel, der auf Schlüsselreize reagiert und lediglich die graue Folie für den strahlenden Glanz der politischen Prominenz abgibt. Goethes Darstellungsart ist insofern um Ausgewogenheit bemüht, als sie sowohl bei der Noblesse wie beim Volk beides paritätisch einsetzt: das individualisierende Porträt wie das Panoramagemälde des Massenaufmarsches. Bürgerliches Dasein und höfische Welt sind die beiden Brennpunkte, um die sich Goethes Lebensbahn bewegte. Die auf den ersten Blick divergierenden Handlungsstränge vernetzt der Erzähler durch deren Parallelführung, ferner durch ein dichtes Symbolgeflecht und die Rekurrenz gemeinsamer Motive. Im zuletzt angeführten Zitat (S. 127) etwa wird andeutungsweise der Kostümwechsel Gretchens mit dem der Majestäten in Korrespondenz gesetzt, das "Hauskleid" des Mädchens mit dem "Hausornat" des Kaisers. Sie erklärt, daß ihre Aufmachung im Schaufenster der Putzmacherin "zu ihrem übrigen Leben und Wesen sich gar nicht schicken wolle" (S. 198), - und übt mit ihrer Selbstkritik auch Kritik am Unziemlichen, Unpassenden andernorts. Variationen des Hauptthemas der Diskrepanz von Schein und Sein, von traditionellem Anspruch und aktueller Wirklichkeit werden auf beiden Handlungsebenen in den Motiven der Täuschung, des Unechten, der Prätention und veräußerlichten Ästhetik durchgespielt. Es sind bezeichnenderweise künstliche Blumen, die der junge Goethe als Festschmuck für die Schwester in einem Galanterieladen erwirbt, in einem Geschäft, das allein dem Outfit dient und von der extrovertierten höfischen Ästhetik profitiert. Sein politisches Wählen und Verwerfen des repräsentativen Ornaments zieht der Verliebte unmittelbar vor seiner Be73

K.-D. Muller: Autobiographie (wie Anm. 14). S. 320-322. Gould entdeckt im 5. Buch von Dichtung und Wahrheit Interrelationen zwischen drei Ebenen: erstens dem öffentlich-staatlichen Leben, zweitens dem sozialen und gesellschaftlichen Bereich, drittens dem Privatleben. Gould: Book V (wie Anm. 20), S. 122, 126f.

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schäftigung mit den Wahldiarien wie die großen Wahlbotschafter in die Länge: Gretchens "Maske", ihre zweispaltig anmutende Rolle und Galagarderobe in der Öffentlichkeit, irritiert den Eifersüchtigen nicht anders als des Kaisers neue Kleider (S. 196f), Die "Mystifikationen und Attrappen" (S. 185), mit denen die Gretchenhandlung beginnt, setzen sich in den bühnenreifen Staatsakten fort: Der Krönungszug bewegt sich auf Brettern, und ins Tischzeremoniell sind leere Gedecke einbezogen. Dem nachgemachten Karolinger-Habit des Kaisers (S. 218, 223) entsprechen die Blumenimitationen der Putzhändlerin und am Ende die "nachgemachten Handschriften" der Urkundenfälscher (S. 231). Das bildhübsche Mädchen, durch das dem jungen Goethe "eine neue Welt des Schönen und Vortrefflichen" (S. 190) aufgeht, wird in deren Gefährdungen mit ihrem neuen Freund verstrickt. In poetischer Bilanzierung kongruieren die politische Agonie des Anden Regime und das Ephemere, Prozeßhafte der höfischen Ästhetik mit dem kurzen Zauber erster Verliebtheit. Man hätte gewünscht durch eine Zauberformel die Erscheinung nur einen Augenblick zu fesseln; aber die Herrlichkeit zog unaufhaltsam vorbei, und den kaum verlassenen Raum erfüllte sogleich wieder das hereinwogende Volk (S. 221),

Die Herrschaft des Volkes löst die "Herrlichkeit" der Monarchie ab. Das Ende der rauschenden Festwochen fällt mit dem Ende der Romanze zusammen: Von der "Herrlichkeit", die vor der Seele sich in Schall und Rauch auflöst, sprechen noch einmal die Schlußabschnitte des 5. Buches (S. 235). Der überhandnehmende Schmerz über eine von der besseren Gesellschaft vereitelte Liebe raubt dem Verlassenen jedes Interesse an den letzten, öffentlichen Lustbarkeiten und der großen Welt, Statusdenken, soziale Schranken, Privilegienbewußtsein verhindern in der bürgerlichen Gesellschaft nicht viel anders als im Adel eine haltbare Verbindung der Stände. Die ästhetischen LeitbegrifFe, ja schon die übertragen auslegbare 'Blütenlese1 des jungen Kunden bei der Modistin (S. 196) und zuletzt der Wunsch nach einer bannenden "Zauberformel" leiten zu einem Generalthema von Dichtung und Wahrheit über: der Autothematisierung von Poesie, Den Anstoß zur autobiographischen Spurensicherung hatte bereits ein literarisches Problem gegeben, die Inhomogenität der ersten Gesamtausgabe (A) von Goethes Werken bei Cotta (Tübingen 1806-1810) (S. 9).74 Im 5. Buch legt der Autobiograph den eigenen Schreibprozeß offen und reflektiert zugleich über den Werdegang eines freien Schriftstellers im Deutschland des 18. Jahrhunderts. In der "Kanzellisten-Arbeit" (S. 203) des Fünfzehnjährigen spiegelt der reife Erzähler die eigene literarische Textherstellung wider. Daß für sie sorgfältige Quellenstudien betrieben wurden, zu denen der 62jährige die einschlägigen Diarien und Chroniken aus der Weimarer Bibliothek entlieh, wird nicht nur vorausgesetzt, sondern in Titelerwähnungen explizit gemacht

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Vgl. Goethe an Zelter. 22.8.1808; MA Bd. 20. i. S. 183,

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(S. 197, 202)," Die Vorarbeit des Schreibgeschäfts nimmt der junge wie der alte Kanzlist ernst. Der Erzähler macht ferner den Vorgang des Tradierens auf der Grundlage von Quellenkenntnis und eigener Beobachtung bewußt: In der didaktischen Vermittlung und lebendigen Reportage des Geschehens an Gretchen und die Ihren reflektiert der Autobiograph seine Darstellungsprinzipien (S. 206, 214, 216). Zur ästhetischen Veranschaulichung fertigt er für seine interessierte Zuhörerin wie die Diarienverfasser Zeichnungen und Skizzen an (S. 205). Daß sich Goethe biographisch damit gleichzeitig als Zeichner vorstellt, deutet auf seine bis zum Italienaufenthalt unentschiedene Berufsplanung voraus. Bis dahin schwankte er bekanntlich, ob er sich eher zum bildenden Künstler oder Dichter eigne. Schon der junge Berichterstatter will nicht nur gaffen und anstaunen (S. 197, 200, 216). Er hat den Ehrgeiz, genauer zu beobachten und zu beschreiben. Beide Fähigkeiten, die den Dichter auszeichnen, lernt der Anfänger irn Vermittlungsprozeß an andere. Das Auge "wird bis ins höchste Alter sein Organ der Welterfassung bleiben (S. 246).7·6 Gretchens beteuerte Aufmerksamkeit kann als Rezeptionsmodell der Autobiographie und Element der Lesersteuerung aufgefaßt werden (S. 205, 216). Der "redselige" Verfasser (S. 205, 765) bedarf des wohlmeinenden Lesers. Die selbstironische Kennzeichnung langatmiger Beschreibungen signalisiert zum einen die Distanz zwischen erzählendem und erlebendem Ich, zum ändern bezeichnet sie zutreffend das Gesamtprojekt einer Autobiographie, deren Konzeption sich im Umfang damals noch auf das Doppelte der erreichten Ausführung erstreckte. In der Konzentration auf das 'Äußere' sucht der rückblickende Erzähler geschichtliche Eindrücke in eine altersgemäße Verarbeitung und Handlung umzusetzen. Goethes Brief an Körner vom 26 11. 1812 gibt Rechenschaft über die bewußt kindlich gehaltene Darstellungsweise des ersten Bandes von Dichtung und Wahrheit (S. 911). Von der kindlichen Schaulust der Frankfurter berichtet im übrigen auch Goethes Mutter in Briefen an den Sohn,7* Der von Goethe überlegt eingenommene view-point von außen enthüllt sich bereits als politische und ästhetische Stellungnahme in einem. Er steht im Dienst einer genuin zeremoniellen, dem Beschreibungsgegenstand konformen Ästhetik. Übereinstimmend vertreten Zeremonielltheoretiker die Auffassung, das Volk nehme nun einmal das Äußere für das Innere und lasse sich stärker von sensuellen Wahrnehmungen als vorn Verstand beeindrucken, so daß erst sinnfällige Pracht ihm die Augen öffne und seine undeutlichen Vorstellungen

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Vgl. Carl Alt; Studien zur Entstehungsgeschichte von Goethes Dichtung und Wahrheit. Diss. Berlin - München 1897. S. 27, 31 - 37, Vgl. Faust II. Türmerlied, V. 11288-11303. Vgl. Biographisches Schema (Paralipomenon 6) und Karlsbader Schema: Übersichtsschema (Paraiipomenon 8.1); MABd. 16. S. 835-861, v. Srbik: Goethe und das Reich (wie Anm. 42). S. 213f.

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von Macht und Majestät erhelle.79 Obwoh] der Erzähler vom Standort dehors ausgeht, gelingt ihm in einer Symbolisierungsleistung, durch das Äußere Hintergründiges sinnfällig zu machen. Das Bemühen des jungen Mannes, "über das Äußerliche [,..] ein lebendiges Wahl- und Krönungsdiarium" herzustellen (S. 200), führt ihn über ein Spezifikum des Gegenstandes an die Symbolsprache der Poesie heran, weil alles was vorging, es mochte sein von welcher Art es wollte, doch immer eine gewisse Deutung verbarg, irgend ein innres Verhältnis anzeigte, und solche symbolische Zeremonien das durch so viele Pergamente, Papiere und Bücher beinah verschüttete deutsche Reich wieder für einen Augenblick lebendig darstellten |...] (S. 201).

Irn Gegensatz zürn antiquarisch-toten Quellenmaterial 'lebt' das Zeremoniell phönixhaft in den Momentaufnahmen seiner Symbolsprache auf. Sie nutzt der erfahrene Erzähler, indem er über die poetische Semiotisterung vielfältige Relationen zu leitenden Themen seiner Lebensbeschreibung knüpft: zum Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit, von Werk und Leben, zu den Entwicklungsschritten eines Autors im 18. Jahrhundert, zu Schritten, die den Gang der deutschen Literaturgeschichte nachzeichnen. Wenn sich die Jugendlichen in Buch 5 gegenseitig ihr Leben und ihre Pläne erzählen (S. 192f), so praktizieren sie, was Goethe in der Erzählerrolle tut und worüber er immer wieder nachdenkt (S. 9-12, 306, 369, 511, 575f, 662, 711, 764f.). Den Übergang von der Fiktion in die Wirklichkeit offenbart die Gretchenepisode in ihrem Gesamtverlauf, aber auch mit einzelnen Schlaglichtern; Der junge Ghostwriter eignet sich bei seinen literarischen Übungen, wenn er sowohl aus der Perspektive des Liebenden wie der Angebeteten schreibt, das grundlegende Handwerk eines literarischen Autors an (S. 187). Die Fiktionen des "poetischen Sekretärs" gehen unversehens in Realität über: Er fängt für seine lebendige Muse der Dichtkunst Feuer, die als literarische Doppelgängerin mehrere Züge mit der gleichnamigen Mädchenfigur in Faust gemeinsam hat (vgl. S, 187), Gretchen ihrerseits ratifiziert mit ihrer Unterschrift die von ihr inspirierte Liebesepistel (S. 189). Goethe wiederum sucht und gewinnt durch Literatur schon in jungen Jahren die Zuneigung von Adressatinnen. So wie seine Dichtung sich einer autobiographischen Substanz verdankt, kann Erfundenes "Grundwahres" ausdrücken (vgl. S. 9, 306, 556, 766). In diesem Begriff treffen sich die Titelkomponenten von Dichtung und Wahrheit, wie der Verfasser am 17.12.1829 Ludwig I. von Bayern erläutert (S. 916). Der 79

Johann Christian Lünig; THEATRUM CEREMONIALS HISTORICO-POLITICUM, Oder Historisch^ und Politischer Schau=PJatz Aller CEREMONIEN [...]. Leipzig 1719, S. 5, - (Anonym:) Lebhaffte Abbildungen und Grundrisse Der Thorheit und Klugheit [...]. Frankfurt/Leipzig 1715. S. 170f. - Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken Von dem Gesellschaftlichen Leben der Menschen Und insonderheit Dem gemeinen Wesen. Frankfurt und Leipzig '1721. Neudruck der 4, Aufl. Hg. von H. W. Arndt. Hildesheim - New York 1975. S. 505. - Julius Bernhard von Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaffl Der großen Herren [...] ('1729). Berlin 21733. S. 2.

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Begriff des "Grundwahren" versöhnt für Goethe die unterschiedlichen Ansprüche von Historiographie und Dichtung. Die am Ende des 5. Buchs aus erkennbarer Distanz referierte Selbstmorddrohung des paralysierten Liebhabers, seine selbstquälerische Flucht in die Krankheit schlagen erstmalig das Werther-Themz des 13. Buches an und Goethes Kritik an der Verwechslung von Literatur und Leben in der WertherRezeption (S, 233, 235, 621 f.). Der Übergang von einem ins andere klang schon zu Beginn des 5. Buches an, als man, unverhofft für den Autor, aus seiner Talentprobe einen realen Gebrauch macht und einem "eingebildeten jungen Manne" mit der Versepistel einen entlarvenden Streich spielt (S. 185). Nicht zufällig läßt Goethe seine literarische Karriere mit Auftragsarbeiten beginnen: Nach der Liebesepistel folgen "verzehrbare", d.h. in ihrer Gebrauchsfimktion sich erschöpfende Kasualcarmina (S. 194), bevor der Vater und Herr von Koenigsthal den späteren Verfasser der Annalen als Chronisten und Kanzleisekretär beschäftigen (S. 197, 200, 214). Auftragsarbeiten für höfische Feste, insbesondere den Geburtstag der Herzogin Luise, machen einen beachtlichen Teil von Goethes literarischer Produktion aus.80 Schicksalsergeben inszenierte der Weimarer Hofdichter zahlreiche Maskenzüge und allegorische Revuen für Redouten und andere zeremonielle Hoffeste als Gesamtkunstwerke, daneben Sing- und Festspiele zu dynastischen Feiern. Ausfuhrende sind in Weimar wie in Frankfurt aristokratische Amateure. Der zeremonielle Anlaß und die unwiederholbare Flüchtigkeit der einmaligen Aufführung machen seine "Festgedichte" durchaus mit den Gelegenheitsgedichten vergleichbar, in denen sich der junge Poesie-Adept übt.81 Wie mit seinen jugendlichen Auftragsarbeiten verknüpft Goethe auch mit seinen späteren Gelegenheitsproduktionen für die Weimarer Hofgesellschaft didaktische Absichten. Die allegorischen, emblematischen und symbolischen Spielformen dürfen darum nicht isoliert von den großen Werken betrachtet werden.82 Zwischen seiner Dichtung für Gelegenheiten und der Dichtung aus Gelegenheiten sind die Übergänge fließend. Gleichwohl markiert der Autor an seinem Werdegang im 5. Buch wichtige Zäsuren, die Etappen der Literaturgeschichte unterscheidbar machen. Wie im Barockzeitalter beginnt der Rhetorik- und Poetikscholar damit, in poetischen Nebenstunden sich mit Auftragswerken anhand von Kasuallyrik ein literarisches Renommee und kleine Einkünfte zu erwerben. Die rhetorische Grundlage der Poesie des 17. und frühen 18. Jahrhunderts wird am fremd gestellten Thema eines Gedichts (S. 184), an seiner "Erfindung und Disposition" und der Anpassung des Ornatus ("ein Sylbenmaß nach dem Charakter des Gegenstandes", S. 198) sowie am gelehrigen Rollensprechen exemplifiziert. Rezeptionserfahrungen mit dem deutschen Publikum antizipiert Goethe, wenn er die so 81 82

Vgt. MABd. 2.1, S. 495-518; Bd. 6.1. S, 749-789; Bd. 9. S. 233-282. MABd. 6.1. S. 1090. Vgl. Goethes Erläuterung zu den Maskenzügen; MA Bd. 2.1. S. 495; die Mummenschanz-Szene in Faust Hfl (Weitläufiger Saal mit Nebengemächern), Wilhelm Meisters theatralische Sendung V,5- 7; MA Bd, 2.2. S. 241 - 255.

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Enttäuschung des jungen Kasualdichters darüber belächelt, daß gerade die Produkte, die er für die besten hielt, bei den Adressaten durchfallen (S. 199). Am Ende überwältigen den Empfindsamen die Erschütterungen des Lebens: Tot und leer wie dieses erscheint ihm das Zeremoniell. "Poesie und Rhetorik hatten sich auf diesen kranken Fleck geworfen" (S. 235). Die Flucht in die Krankheit ist Ausdruck einer Krise, in der sich neue literarische Verarbeitungsmöglichkeiten ankündigen (S. 235f.). In einem späten Brief an Iken kommt Goethe noch einmal auf seine literarische Technik der 'Wiederholten Spiegelungen1 zurück und führt aus; Da sich gar manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direct mitthcilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenüber gestellte und sich gleichsam in einander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren,83

Der aufmerksam gewordene Leser wird in Goethes Spiegelung des Krönungsfestes um Joseph II. immer neue Spiegelbilder aufgrund einer prismatisch gebrochenen Erzähltechnik gewahr. Die Kritik des Erzählers etwa an der Überlebtheit der zeremoniellen Fassade spiegelt sich in der textimmanenten ästhetischen Kritik des preußischen Gesandten, dem Goethe ein distanziertes Verhältnis zum Zeremoniell nachsagt (S. 207f). Als am Krönungsabend die kurfürstlichen Gesandten und hohen Würdenträger sich in pyrotechnischen Illuminationen gegenseitig überbieten, will auch der "Schalk" von Plotho nicht zurückstehen. Er läßt aufs prächtigste sein unansehnliches, uraltes Quartier im Saalhof beleuchten. Mit dieser "herrlichen Erleuchtung" im doppelten Wortsinn setzt der boshafte preußische Aufklärer gerade den traurigen architektonischen Bauzustand der Staufischen Burg und Königspfalz ins "hellste Licht" (S. 228f). Beide, Goethe wie Plotho, stellen in vordergründig schimmerndem Glanz satirisch den beschädigten Zustand musealer Relikte zur Schau. Ein Musterbeispiel 'wiederholter Spiegelungen' innerhalb und außerhalb des eigenen Oeuvres fuhrt Goethe am effektvollen Einzug des Mainzer Consecrators vor. Der Erzähler verzichtet ausdrücklich auf eine Wiedergabe des Pomps der Parade, an der laut Mainzer Fourierbuch 93 geistliche und weltliche Würdenträger, 200 Hofangestellte, darunter allein 70 Köche und Konditoren, 113 Soldaten, 490 Diener und Reitknechte und insgesamt 600 Pferde mitwirkten (S. 208).u Stattdessen spiegelt er die literarische Nachwirkung im Werk eines ehemaligen Freundes und Seelenhirten. Lavater sei damals zufällig durch Frankfurt gekommen, erfahren wir, und habe trotz sonstiger Abneigung gegen "weltliche Äußerlichkeiten" die imposante Schauprozession nicht ver*4

Goethe an Iken, 27.9.1827; WA IV 43. S. 83. Furir= und Protections=Listen Der anwesenden Höchsten Kurfürsten Und der abwesenden Hochansehnlichen Gesandschafften, Wie solche aus der Kur=Mainzischen Reichs= und Directorial=Kanzlei Dem Reichs=Ertimarschall=Amte zugestellet worden. (Angebunden an das Wahldiarium Josephs II. [wie Anm. 28]). S. 3-16.

Überlebtes Weltiheater

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säumt. In seinem späteren religiösen Epos Jesus Messias oder Die Zukunft des Herrn (1780) habe der "Prophet" den Einzug des Antichrist Schritt vor Schritt, Gestalt vor Gestalt, Umstand vor Umstand, dem Einzug des Kurfürsten von Mainz in Frankfurt nachgebildet, dergestalt daß sogar die Quasten an den Köpfen der Isabell-Pferde nicht fehlten (S. 204),si

Die Isabell-Pferde werden in der Tat von den Diarien gerühmt wie ihre "Silberquasten" vom Proselytenmacher.8S Angesichts sakralen Ernstes und frommen Eifers zeigt sich Goethes aufklärerischer Humor in den vielfältigen Brechungen von Leitmotiven und in Anspielungen auf sie. Kernthese von Lavaters erfolgreicher Physiognomik, die bis 1810 55 Editionen in fünf europäischen Sprachen erlebte, war die Annahme, daß der menschliche Charakter am Äußeren ablesbar sei.87 Gegen eine naturhafte Beziehung von Äußerem und Innerem hatten schon Lichtenberg und Kant Front gemacht, und auch Goethe sieht angesichts der zeremoniellen Theatralik eher Diskre99 panzen. Das Thema der Verstellung und der authentischen Gegenstandserfassung beschäftigt das "Weltkind" in seiner Autobiographie wie den "Propheten" in seinem Fragment Ueber Verstellung, Falschheit und Aufrichtigkeit.*9 Den Anspielungsreichtum der zitierten "Antichrist"-Passage verdeutlicht jedoch erst ein Blick auf den religiösen Horizont von Lavaters Geschichtstheologie, die in einer säkularisierten Welt wenig zeitgemäß erscheint. In seinem geschichtstheologischen Entwurf Aussichten in die Ewigkeit (4 Teile, Zürich 1768- 1778) stellt der Zürcher Pastor Christus als Urbild der Menschheit in das Zentrum seiner Theologie.90 Lavater ging es um die Beförderung des Tausendjährigen Reiches Christi auf Erden, dessen irdische Agentur für Goethe wiederum zu Ende ging.91 Er hatte sich dem Schweizer gegenüber schon früh als "dezidirter Nichtkrist" vorgestellt.92 Die Lavater unterschobene Gleichsetzung des antichristlichen Gepränges mit dem des höchsten geistlichen Kurfürsten rekurriert, wie wir von J. J. Berns jetzt wissen, auf Luthers Identifikation des päpstlichen Zeremoniells mit dem ';·

Vgl. Goethe an Schiller, 15.10.1796; MA Bd, 8,1. S. 252; Bd, 8,2. S, 268f.

86

Wahldiarium Josephs II. (wie Anm. 28), S. 144, Krönungsdiarium Karls VII. (Ebd.) S. 17, 37;MABd. 16, S. 953. Johann Caspar Lavater: Von der Physiognomik. Leipzig 1772. S. 7. Georg Christoph Lichtenberg: Über Physiognomik; wider die Physiognomcn. In: Ders.: Schriften und Briefe, Bd. 3. Hg, von Wolfgang Promies. Darmstadt 1972. S. 276, 290. Immanuel Kant: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und

88

Pädagogik. 2. Teil. In: Ders,: Werke in zehn Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 10. Darmstadt 1968. S. 643. Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschen90

91 92

kenntniß und Menschenliebe, 4 Bde. Leipzig - Winterthur 1755- 1778. Vgl. MA Bd. 16, S. 660. Kar) Pestalozzi: Zum Lavater-Porträt in Goethes 'Dichtung und Wahrheit', In: Goethe im Kontext. Hg. von Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1984. S. 294. Ebd. S. 287. Vgi. Goethe an Lavater, 29.7,1782; WA IV 6. S. 20.

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Manfred Been

diabolischen.93 Die besondere geschichtliche Ironie liegt 1764 indessen darin, daß damals ein "Antichrist" den anderen salbte und krönte. Der kurfürstliche Consecrator setzte dem aufgeklärten Monarchen, der den Protestanten Toleranz gewähren und sich über die Aufhebung des Jesuitenordens herzlich freuen sollte, die Krone mit den Worten auf; Nehme hin die Reichskrone [,-,] und wisse, daß sie ausdrücklich die Herrlichkeit der Heiligung und ein Werk der Tapferkeit vorstelle, ja daß du dadurch auch unseres geistlichen Amts theilhaflig werdest [...] und bey aller Widerwärtigkeit ein tapferer Beschützer der Kirche Christi und des, von Gott verliehenen Reichs seyn sollest [...], damit du [...] mit den Edelgesteinen der Tugend gezieret, und mit der Belohnung der ewigen Glückseligkeit gekrönet, mit unserm Erlöser und Seligmacher JEsu Christo, dessen Namen und Stelle du vertrittst, ohne End frolocken mögest, der da lebet und regieret, GOtt, mit dem Vater in Einigkeit des heiligen Geistes von Ewigkeit zu Ewigkeit,94

Der Urheber des Josephinismus, der die Oberhoheit des Staates über die katholische Kirche durchsetzte, ihr die Aufsicht über das Studienwesen entzog und 700 Klöster im Zuge schroffer Säkularisierung aufhob - derselbe leistete sieben Jahre vorher aufs Evangelienbuch den riskanten Eid: Ich will auch dem allerheiligsien römischen Bischoffund der römischen Kirche, auch den ändern Bischöffen und Dienern Gottes gebührende geistliche Ehre erzeigen, und diese Dinge, welche von Kaisern und Königen der Kirche und denen geistlichen Männern verliehen und gegeben sind, will ich ihnen ungeschwächet erhalten, und erhalten zu werden verschaffen, auch denen Prälaten, Ständen und Lehnleuten des Reichs gebührende Ehr zutragen, und beweisen, so viel mir unser Herr JEses Christus Hülfe, Stark und Gnad verleihet.95

Die Lebendigkeit von Goethes Darstellung der Wahl und Krönung Josephs II. in Frankfurt/M. 1764 schöpft aus der Optik der hautnah erlebten Zeitgeschichte und bedient sich konsequent einer Reihe verlebendigender Erzähltechniken und Stilmittel. Aufzählende Diariendaten sind in Handlung umgesetzt, knappe Berichte wechseln mit breiteren szenischen Tableaus, Porträts einzelner Akteure mit Panoramabildern, allgemein gültigen Reflexionen und psychologischen Beobachtungen ab. Der Erzähler streut in das Gegenwartsgeschehen historische Rückblicke zu früheren, mit Leben erfüllten Zeichenhandlungen ein und hat zugleich die Perspektive der Zukunft im Blick, Er ist gleichzeitig Augenzeuge und olympischer Erzähler. Durch eine bewegte Kamera wird der Leser über die Vermittlungsinstanz des agilen, jugendlichen Mediums zu unterschiedlichen Beobachtungspunkten geführt: Die Beschreibungsoptik wechselt von der Vogelperspektive zur Nahaufnahme an der Römertreppe, vom Römersaal ins Freie und nachts von einem zum ändern Gesandtenquartier. Die Erzähler vervielfältigen sich im Infor93

Vgl. den Beitrag von Jörg Jochen Berns in diesem Band. " Krönungsdiarium Josephs II. (wie Anm. 28). S. 121. 95 Ebd. S, 122. :

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mationsaustausch, erzählen sich gegenseitig vom gleichzeitigen Geschehen an verschiedenen Orten (S. 218); oder das juvenile Erzählmedium gibt weiter, was es von älteren Personen über frühere Krönungen hörte (S. 221). Einsinnig läßt sich offenkundig nicht mehr erzählen, Goethes Programm der 'Wiederholten Spiegelungen' beinhaltet wechselnde Perspektivierungen. Goethe, vermuten wir, hätte sich das Thema der Marburger Tagung von 1993 wohl gefallen lassen und allenfalls deren Titel auf dem letzten Wort betont: 'Zeremoniell als höfische Ästhetik'.

RolfHaaser

Das Zeremoniell der beiden letzten deutsch-römischen Kaiserkrönungen in Frankfurt am Main und seine Rezeption zwischen Spätaufklärung und Frühromantik

Helga Reuter-Pettenberg charakterisiert in ihrer Dissertation, die sich eingehend mit dem Bedeutungswandel der Römischen Kaiserkrönung in der Neuzeit auseinandersetzt,1 die historische Entwicklung des Krönungszeremoniells als Verfallsgeschichte. Als Ursachen für diesen Bedeutungsschwund gelten der Verfasserin das Herabsinken der Krönung von einem Recht schaffenden Akt zur bloßen Symbolfunktion, bedingt durch das Hervortreten des Wahlaktes seit dem Interregnum und besonders seit der Goldenen Bulle Karls IV.: "In einer festlich überhöhten Form wurde der Rechtsakt der Wahl [durch die Krönung] noch einmal bestätigt; der Neu erwählte bedurfte ihrer, um seiner Legitimität sichtbar Ausdruck zu verleihen."2 Durch eine schrittweise Entfernung der neuzeitlichen Krönungen von der Tradition habe sich das Zeremoniell den Menschen der Aufklärung als ein sinnentleertes, mittelalterliches Rudiment dargeboten, durch das mit den Krönungsfeierlichkeiten in Wahrheit eine Pseudotradition fortgeschrieben worden sei. Diese, so läßt sich der Gedankengang Reuter-Pettenbergs auf einen Nenner bringen, wurde von der bildungsbürgerlichen Öffentlichkeit durchschaut und kaum noch ernst genommen. Die Verfasserin vertieft damit ein Interpretationsmuster, das zum allgemein akzeptierten Kanon der geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitung der Reichsgeschichte zu rechnen ist und das bereits durch die apodiktische Charakterisierung der Krönung Joseph II. als abgelebtem Welttheater in Goethes Dichtung und Wahrheit vorfbrmuliert ist. 3 Dabei wurde Goethes Urteil weitgehend unkritisch übernommen, ohne in hinreichendem Maße zu berücksichtigen, daß seine Autobiographie von einem Erzähl Standpunkt aus formuliert ist, dem der Zusammenbruch des Reiches vorausgegangen, letzterer somit längst m die teleologisehe Erzählstruktur von Dichtung und Wahrheit eingeflossen ist. Auch die kaum weniger bekannten und im Zusammenhang mit der Kaiserkrönung Leopold II. immer wieder

Helga Reuter-Pettenberg; Bedeutungswandel der Römischen Königskrönung in der Neuzeit. Diss, Köln 1963. Ebd. S, 2. Vgl. den Beitrag von Manfred Beetz in diesem Band sowie Ralph-Rainer Wuthenow: Die Kaiserkrönung von 1763 zu Frankfurt am Main. Goethes Jugenderinnerung und der Abschied vom Alten Reich. In: Das Fest. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. v. Uwe Schultz. München 1988. S. 232-243,

Das Zeremoniell der beiden letzten deutsch-römischen Kaiserkrönungen

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zitierten Memoiren des Karl Heinrich Ritters von Lang* eines oettingenwallersteini sehen Agenten und Krönungsbeobachters, können aus vergleichbaren Gründen nur bedingt als Beleg für die zeitgenössische Rezeption des Krönungszeremoniells gelten. So ist einem Verfahren zu widersprechen, das Rudolf Vterhaus in seiner Habilitationsschrift,5 einer sozialgeschichtlichen Studie über Deutschland vor der Französischen Revolution, anwendet. Vierhaus bezieht sich auf die Memoiren von Längs als auf eine "Schilderung, die sich wie eine Satire liest und doch [...] auf ganz realem Boden steht". Als kritikwürdige Schwäche des Augenzeugenberichtes von Längs erachtet Vierhaus bezeichnenderweise weniger die Frage nach der Authentizität des Berichteten bzw. der subjektiven Perspektive des Verfassers, als die im Vergleich zu Goethe geringere literarische Qualität des Textes: Sieht man ab von den UnvergJeichbarkeiten und Unterschieden des literarischen Ranges beider Berichterstatter, ihres erzählerischen oder kritischen Temperaments, ihrer Herkunft, ihres Maßes an Welthaftigkeit und schließlich des Alters, in dem die beschriebenen Ereignisse erlebt wurden, so zeigt sich doch geradezu exemplarisch der weiter fortgeschrittene Ansehensvcrlust des Reiches.

Vierhaus benutzt die Erinnerungen von Längs zur Illustration für seine These von dem "ganzen alten und komplizierten Zustand des Reiches", der durch ein "Neben- und Gegeneinander zahlloser sich untereinander beschränkender und lahmlegender Kräfte [...] die überholteste Herrlichkeit noch schützte". In von Längs Schilderung der Kaiserkrönung Leopolds entfalte sich, gewissermaßen in einer skurrilen Wiederkehr des Abgestorbenen, "das alte überlieferte, in vielem verjährte und verblaßte, ja unbegreiflich gewordene Zeremoniell des Reiches", kehren noch einmal "all die umständlichen Formalitäten [,..], all die alten Streitfragen bei Beratung der Wahlkapitulation" wieder. Vierhaus, dem es damit hinreichend plausibel und verständlich erscheint, daß von Lang "sich von den trotz aller geheiligten Traditionen turbulenten Zeremonien zu karikierender Schilderung gereizt sah", trägt dann auch keine Bedenken, das pauschale Urteil von Längs über die Kaiserkrönug affirmativ und als griffige Abrundung seiner Analyse zu zitieren: "Nichts konnte ein treueres Bild der eiskalt erstarrten und kindisch gewordenen alten deutschen Reichsverfassung geben als das Fastnachtsspiel einer solchen in ihren zerrissenen Fetzen prangenden Kaiserkrönung," Bereits Adam Wandruszka hat in seiner zweibändigen Leopold-Biographie auf die geschichtswissenschaftlich fragwürdige Ausbeutung der "berühmt-berüchtigten gehässigen Karikierung" der Krönungszeremonien in den Memoiren von Längs hingewiesen und zurecht betont,

Die Memoiren des Karl Heinrich Ritters von Lang, Faksimile der Ausgabe 1842. Hg. v. Heinrich von Mosch. Erlangen 1984, Rudolf Vierhaus; Deutschland vor der Französischen Revolution. Untersuchungen zur deutschen Sozialgeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Hab.-Schr. Münster 1961. Die folgenden Zitate: S 60-62.

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RolfHaaser daß das Reichsgefiihl in weiten Teilen des deutschen Volkes und zwar bei Angehörigen beider Konfessionsparteien noch durchaus lebendig, ja unter dem wachsenden Einfluß vertieften Geschichtsbewufltseins sogar in Zunahme begriffen war.6

Diejenige geschichtswissenschaftiiche Arbeit, die sich am ausführlichsten mit den beiden letzten deutsch-römischen Kaiserkrönungen auseinandersetzt, Karl Theodor Heigels Deutsche Geschichte aus dem Jahr 1899, referiert noch eine dritte Quelle als Beleg für die ablehnende Haltung der deutschen Öffentlichkeit gegenüber den Frankfurter Krönungsfeierlichkeiten, nämlich einen Artikel in Weckhrlins Zeitschrift Das Graue Ungeheur, bei dem es sich zwar um eine unmittelbare zeitgenössische Stellungnahme handelt, der aber aus einem ausgesprochen pro-französischen und revolutionsfreundlichen Selbstverständnis des Verfassers heraus vor allem deshalb Kritik an dem deutschrömischen Nationalfest übte, weil er in ihm eine Bedrohung der revolutionären Errungenschaften im Nachbarland sah.7 Stärker noch als Weckhrlin sollte Friedrich Cotta sich vom Standpunkt eines Befürworters der Revolution gegen die beiden Kaiserkrönungen äußern und vor allem nach seiner Übersiedlung ins revolutionäre Frankreich die Thronbesteigung Franz II. auf das schärfste kritisieren.8 Der Eindruck, den die Frankfurter Krönungen von 1790 und 1792 in der deutschen bildungsbürgerlichen Öffentlichkeit hinterließen, ist aber durch solche, nur im begrenzten Umfang als charakteristisch zu wertenden, nichtsdestoweniger in der Forschungsliteratur immer wieder herangezogenen und ohne die nötige kritische Perspektive kolportierten Quellen kaum annähernd erschlossen.

Adam Wandruszka; Leopold II. Erzherzog von Österreich, Großherzog von Toskana, König von Ungarn und Böhmen, Römischer Kaiser. 2 Bde. Wien, München 19631965. Bd. 2: 1780- 1792, S. 306. Karl Theodor Heigel: Deutsche Geschichte vom Tode Friedrichs d. Gr. bis zur Auflösung des alten Reichs. Bd. 1: Vom Tode Friedrichs d. Gr. bis zum Feldzug in der Champagne (1782-1792). Stuttgart 1899. S, 363. Auch die von Weckhrlin herausgegebene Zeitschrift Paragrafen enthält einen Artikel, der sich in Form eines fiktiven Briefes eines Franzosen an eine Engländerin abschätzig über das Zeremoniell der Kaiserkro'nung Leopolds äußert: "Das teutsche Phlegma zeigt sich hier in seinem Glänze. Es scheint, daß man das Jubiläum des Nationalkarakters feyre. Da geht Alles in einem kalten, abgezirkelten, traurigen Gang, Da mus Alles, was Sie sehen, eine Physiognomie von Pedanterei und von Steifigkeit tragen. [...] Da ist weder Delikatesse noch Grazie {...]. Wer die dichtesten Tressen auflegen kau, der ist Meister, Ja, Madam, die heiligste aller Kunstregeln, das Ensemble - jene unerbittliche Regel der Schönheit und des Geschmaks, besonders in Festins, wird nie mehr beleidigt, als bei einer Kaiserkrönung, Oder sollte noch ein schlechterer Effekt möglich seyn, als jenes monströse Gemische von unsern Nippes mit der gothischen und barbarischen Garde robbe des neunten Jahrhunderts?" Lokrin an Arabella. In: Paragrafen, Bd. l (1791). S. 250-259, hier S. 252f. Vgl. Monika Neugebauer-Wölk: Das "Journal für Menschenrechte", Pressepolitik im Alten Reich 1790/91. In: Das achtzehnte Jahrhundert und Österreich. Jahrbuch der österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts. Bd. 3 (1986). S. 21-48. Dies.: Revolution und Constitution. Die Brüder Cotta. Berlin 1989.

Das Zeremoniell der beiden letzten deutsch-römischen Kaiserkrönungen

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Wollte man der These vom schrittweisen Bedeutungsschwund der Krönungsfeierlichkeiten folgen, der nach Reuter-Pettenberg mit dem kontinuierlichen Auflösungsprozeß des alten Reichs einhergehe, so müßte man gewärtigen, daß besonders mit den beiden letzten Krönungen, der Leopold II. im Jahr 1790 und der Franz II. im Jahr 1792, ein Höchstmaß an Bedeutungslosigkeit und Sinnentleerung erreicht worden wäre; angesichts des fortgeschrittenen Grades der Aufklärung nämlich, vor dem Hintergrund der Zerstörung der Majestätssymbole im revolutionären Frankreich und so unmittelbar vor dem endgültigen Zusammenbruch des alten Reiches, Betrachtet man aber die Resonanz der beiden letzten Krönungen in der zeitgenössischen deutschen Öffentlichkeit irn einzelnen, so stellt man einigermaßen verblüfft fest, daß das genaue Gegenteil der Fall ist. Keine Krönung vorher erscheint von einer solchen Fülle von Veröffentlichungen kommentiert und mit einer so vielfältigen Publizistik begleitet, wie die beiden genannten, so daß man von einem regelrechten Krönungsjournalismus9 sprechen kann. Dies hängt teilweise damit zusammen, daß sich das Zeitschriftenwesen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts geradezu explosionsartig entwickelt hatte, wobei das Spektrum der auf bestimmte Themenbereiche spezialisierten Fachzeitschriften so facettenreich geworden war, daß man den Überblick über die ganze Bandbreite der periodischen Publizistik nur noch mit Hilfe eigens zu diesem Zweck entstandener Rezensionsorgane zu wahren in der Lage war. So konnte beispielsweise ein durchschnittlicher Zeitungsteser, der vielleicht Mitglied einer der in dieser Zeit wie Pilze aus dem Boden schießenden Lesegeset] Schäften war, sich einen Eindruck der anläßlich der Krönung vorgenommenen Illuminationen der Wahlgesandtschaftshäuser verschaffen, nachdem er in einem der gängigen Rezensionsorgane auf einen Aufsatz in Meusels Museum für Künstler und Kunstliebhaber mit dem Titel Als besonders ergiebig erweist sich in dieser Hinsicht Schubarts Chronik, die in einer ganzen Reihe von Artikeln Vorbereitung und Durchführung der Feierlichkeiten nahezu lückenlos publizistisch begleitet und kommentiert. Paradigmatisch sei die folgende Krönttngsgfosse aus der Ausgabe vom 19. November 1790 herangezogen; "Einer meiner alten Freunde, der auch der Französischen Königskrönung beiwohnte, wie jüngst der deutschen Kaiserkrönung, zieht folgende wahre Parallele: Beede Nazionalfeste sind charakteristisch, und zeigen in einer sehr vorspringenden Gruppe die Verschiedenheit beeder Nazionen. Die Kaiserkrönung zeigt mehr Pracht, Solides, Gold in der Masse, nicht in Drath ausgesponnen; aber all dies mit altgothischer Schwere, Ueberladung und zeremoniösen WeitläufUgkeiten krustirt. Doch ist dies alles mit einer Herzlichkeit getuscht, die uns den schweren Tritt des festlichen Pompes kaum merken läßt. - Die Französische Krönung hatte mehr Eleganz, Leichtigkeit, Geschmak, und schien beinahe ein Gemälde zu seyn, mit den lieblichsten Farben des Regenbogens in die feinsten Frühlingswolken gemalt, verblasen, luftig, lieblich dahinschwimmend; so wie das deutsche Fest einem Freskogemälde gliech, gemalt an eine Felsenwand, Beede Feste aber waren gleich vollwichtig, und gaben von irrdischer Macht und Hoheit die feierlichste Darstellung. Bei beeden konnte der Weise und Christ denken, zu welcher Herrlichkeit der Mensch aufsteigen wird, wenn er einmal am Ziele seiner Vollendung schimmert," (S. 794),

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Rolf Haas er

"Beschreibung der Illuminationen, welche am 9. October 1790 zu Frankfurt am Krönungstage Leopold des 2ten von den geistlichen Kurfürsten und den Repräsentanten der weltlichen veranstaltet worden sind",10 aufmerksam geworden war. Das Beispiel zeigt, daß mit der hochgradigen Spezialisierung der Publikationsorgane eine geschlossene Darstellung des gesamten Krönungszeremoniells nicht mehr unbedingt in der Absicht der Zeitschriftenredaktionen lag und daß sich damit eine Parzellierung des Blickes auf die Feierlichkeiten vollzog. Der Krönungs-journalismus der 90er Jahre griff begierig alle Details im gesamten Umfeld des 'Medienereignisses Kaiserkrönung1 auf, angefangen bei den einzelnen Anreisestationen des Kaisers, über das Manöver des hessen-kassetschen Militärs im nahegelegenen Truppenlager bei Bergen oder die Reinrassigkeit der Pferde der hannoverschen Wahlgesandtschaft, bis hin zu der Frage, ob sich unter einem mysteriösen Namenseintrag in der Liste der Krönungsteilnehmer das Inkognito des berüchtigten Illuminaten und Herausgebers der Berliner Monatsschrift Johann Erich Biester verberge, Dieses Interesse am Detail, das als Bestandteil einer verbürgerlichten Rezeption des Krönungszeremoniells zu charakterisieren ist, führt zu einer weit gestreuten und ohne großen Zeitverlust ausgestoßenen Bericht-erstattung, die aber den Krönungsablauf in einer bruchstückhaften und die einzelnen Teilereignisse isoliert betrachtenden Form vermittelt und die darüber hinaus meist durch ein selbstbewußtes Verhältnis des individuellen Korrespondenten zur eigenen, subjektiven Perspektive gekennzeichnet ist. Das breite Interesse der Öffentlichkeit an den Kaiserkrönungen von 1790 und 1792, das sich in der intensiven Berichterstattung in den Journalen spiegelt, ist mit dem Hinweis auf ein fortgeschrittenes System der Tagespublizistik und ein differenziertes Zeitschriftenwesen allein noch nicht hinreichend erklärt," Denn auch eine Fülle Beschreibung der Illuminationen, welche am 9. October 1790 zu Frankfurt am Krönungstage Leopold des 2ten von den geistlichen Kurfürsten und den Repräsentanten der weltlichen veranstaltet worden sind. In; Museum für Künstler und Kunstliebhaber. Hg. v. Johann Georg Meusel (1791). 13, Stck. S. 65-68. Eine Spezialbibliographie der auf die beiden letzten deutsch-römischen Kaiserkrönungen bezogenen Literatur existiert nicht. Behelfsweise wäre zurückzugreifen auf die Literatuiiiste in: Wahl und Krönung Leopolds II. 1790, Brieftagebuch des Feldschers der kursächsischen Schweizergarde. Hg. v. Erna Berger und Konrad Bund. Frankfurt am Main 1981. S. 117-119. Juristische und politische Krönungsliteratur ist sehr gut erfaßt in Johann Samuel Ersch: Literatur der Jurisprudenz und Politik, mit Einschluß der Cameral-Wissenschaften seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bis auf die neueste Zeit, Neue fortgesetzte Ausgabe von Johann Christian Koppe. Leipzig 1823, S. 147-149, Umfangreiche zeitgenössische Literaturangaben mit Hinweisen auf Besprechungen in den bedeutendsten Rezensionsorganen des späten 18. Jahrhunderts in Allgemeines Repertorium der Literatur für die Jahre 1785 bis 1790. Bd. l, Jena 1793. Nachdruck Bern 1969. Unpag., Abschnitt IV. Nr. 289-399. Allgemeines Repertorium der Literatur für die Jahre 1791 bis 1795. Bd. 1. Weimar 1799. Nachdruck Bern 1970, Unpag., Abschnitt IV. Nr. 217-302. Unter den zahlreichen Abhandlungen zum Thema seien hier genannt: [Michael Truckenbrot:] Kurzgefaßter Bericht von den bei der Wahl und Krönung eines römischen Kaisers

Das Zeremoniell der beiden letzten deutsch-römischen Kaiserkrönungen

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von literarisierten Texten, autobiographischen Reminiszenzen, Reisebeschreibungen,12 Briefen usw, bezieht sich auf die Krönungsfeierlichkeiten, und die überwiegende Mehrzahl der unmittelbar unter dem Eindruck der Feierlichkeiten formulierten Bewertungen der Frankfurter Krönungen im Zeitalter der Französischen Revolution beschreiben den ästhetischen Reiz, der von der Verbindung von historischem mit modernem Geschmack ausgeht. Selbstbewußt und oft in ausdrücklicher Abgrenzung gegen die Nationalfeste in Frankreich betonen die Verfasser den im Krönungszeremoniell zum Ausdruck kommenden Nationalcharakter der Deutschen, wobei die disziplinierte Ausgelassenheit des einfachen Volkes auf dem Platz vor dem Römer meist positiv vor den als zügellos empfundenen 'Exzessen des Pariser Pöbels1 hervorgehoben wird. Es ist durchaus bezeichnend, daß ein durch die Krönungsfeierlichkeiten aktiviertes reichspatriotisches Selbstbewußtsein sich in einem so modernen Texttypus wie Johann Christoph Rohlings Beschreibung einer fiktiven Luftreise mit dem Titel Reise eines Marsbewohners auf die Erde niederschlagen konnte. 13 Der Roman beschreibt die Landung eines Marsbewohners auf der Erde im Jahr 1790. Der Protagonist läßt sich von einem Erdenmenschen "Teutschlands Eigenheiten", d.h. die komplizierte Tektonik des Reichsgebäudes und das komplette Wahl- und Krönungszeremoniell bis in das kleinste Detail erläutern, woraufhin er den Eindruck äußert, daß im Vergleich zu dem in ändern Monarchien üblichen erblichen Thronfolgen "dieses Wahlgeschäfte mit zu vielen Weitläuftigkeiten [.,.], auffallenden Sonderbarkeiten und tausend Beschwerlichkeiten verknüpft seyn müsse", Solchen Vorbehalten tritt nun sein Gesprächspartner mit der Bemerkung entgegen, daß man Rücksicht auf das Volk nehme,

12

1

gewöhnlichen Feierlichkeiten ingleichen über Deutschlands Reichsverfassung Kaiserwahl und Krönung aus der Geschichte und dem Staatsrecht gezogen, Nürnberg 1790. [Julius Wilhelm Hamberger] Merkwürdigkeiten bey der römischen Königswahl und Kaiserkrönung. Neue vermehrte Auflage. Im Anhange Kaiser Leopold IL Wahl und Krönung. Gotha 1791. Erstauflage unter dem Titel: Merkwürdigkeiten der römischen Königs wähl und Kaiserkrönung. Go t ha 1790. Paradoxen der kaiserlichen Wahlkapitulation mil praktischen Bemerkungen. Frankfurt am Main 1790. Die Wahl und Krönung des Kaisers zu Frankfurt am Main. Von einem ieutschen Publizisten. Frankfurt am Main 1790, (Rudolf Homrnel:) Briefe über die Kaiserwahl, während derselben aus Frankfurt geschrieben. Leipzig 1791. Ein von einem nicht zu identifizierenden J.R. Plaker verfaßter Titel scheint die Zensur nicht passiert zu haben; er ist nur noch in den Listen der verbotenen Bücher nachzuweisen. J.R. Plaker: Darstellung der wichtigsten Gründe sämmtl icher Kurfüsten für die Kaiserwahl Franzens des . Berlin 1792. Ein am 16.2.1993 erstellter Computerauszug aus der "Bibliographie der deutschsprachigen Reiseliteratur 1700 bis 1810", der mir von Wolfgang Griep in Eutin in zuvorkommender Weise zur Verfügung gestellt wurde, enthält 31 Titel von Reisebeschreibungen, die sich auf die Frankfurter Krönungen von 1790 und 1792 beziehen. [Johann Christoph Rohling: ] Reise eines Marsbewohners auf die Erde. Zur Zeit der Wahl und Krönung Leopold des Zweiten zum teutschen Kaiser, Auf der Erde 1791. Die folgenden Zitate S, 136-138,

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RolfHaaser das zu sehr an alten Gewohnheiten und verjährtem Herkommen hängt zu stark am sinnlichen klebt, und doch auch gern seine Freude hat, die man ihm ja wohl gönnen kann {...]. Denn da insgemein schon vor dem Wahltag der kaiserliche Thronfolger von den teutschen Fürsten bestimmt ist, so sehe ich nicht ein, warum das Zeremoniel und die Umstände nicht könnten und dürften geändert werden. Allein durch Einführung des Erbrechts würden sie Teutschlands Eigenheiten viel zu viel vergeben. [...] Freilich verrät es wenig Vaterlandsliebe, wenn auch sogar ernsthafte und biedre teutsch=scheinende Männer ächte Sitten und Sprache verdrängen wollen, und sich schämen Teutsche zu seyn. [...] Indeß glaube ich, haben wir noch zur Zeit nicht Ursache zu wehklagen. Die ächte Teutschen werden noch länger das Übergewicht behaupten, werden sich ihre Eigenheiten, ihre Staatsverfassung, Sprache und Nationalschriß nicht nehmen lassen. Gesezt auch daß die teutsche Lettern zu gothisch und ohne Geschmack wären [...].

Im Gegensatz zu Goethes apodiktischem Urteil vom abgelebten Welttheater betonen zahlreiche zeitgenössische Äußerungen gerade die gelungene Verquickung von Altem und Neuem, die Anpassungsfähigkeit der Feierlichkeiten an den Geist der Zeit bei gleichzeitiger Wahrung der Tradition, wie sie nicht zuletzt durch die Kombination von Wahlkonvent und Krönungszeremoniell ermöglicht wird. 14 Daß die politischen Entscheidungsgremien und juristischen 14

Als ein Beispiel für einen zeitgenössischen Augenzeugenbericht, der die Verbindung von Altem mit Neuem im Wahlkonventszeremoniell von 1790 explizit thematisiert, sei hier auf die Schilderung der Ereignisse durch August Friedrich Cranz verwiesen; "Der versammleten Volksmenge wurde wärend der Dauer der Wahlconferenzen von den dahin ziehenden Bothschaften das prachtvolle Schauspiel der Auffahrten auf dem Römer gegeben, mit diesem den Zeitungsschreibern der Stoff, ganze Seiten auszufüllen - den Vorhang vor den innern Verhandlungen zu mahlen - . Man las nichts als von zahlreich vortretenden Dienerschaften, von paradirenden Begleitungen, von Auf= und Einzügen unter klingendem Spiel, mit fliegenden Fahnen, bei dem fortkrachenden Donner der Geschütze, Diejenigen, welche ähnliche Prachtaufzüge und große Opern nie gesehen haben, mußten dergleichen Dinge ganz erbaulich finden, und es verlohnt sich schon einmal der Mühe, die Vermischung des modernen und antiken Geschrnaks anzusehen - die Avantgarde, der Livreebedienten, Offizianten und Cavaliers in deutsch-französischer Kleidung, und im Nachtrab den Bothschafter nach spanischer Sitte in Manteltracht von leichtgearbeiteten Drap d'or, mit einem auf zwei Seiten niederfallenden Huth, den ein mächtiger Busch von Sraußenfedern, und an der aufgeschlagenen Vorderseite eine - allenfalls aus Damens Brasselets geschaffene schön strahlende Brillantene Agraffe zierte, wobei in eben diesem altspanischen Geschmak, das Haupthaar seiner sonst gewohnten Bande entlediget, in leichten Locken zwischen den Schultern dieser hohen Bothschafter herabfloß. Eine gleiche Mischung der Moden aus dem Anfang, und aus dem Schlüsse des jetzigen Jahrhunderts, sähe man in den Equipagen, in den Paradekutschen der Vorwelt von ungeheurer Größe ganz mit Gold und Sammet beladen, in ändern von neuer netter Erfindung war blos moderner Geschmak, leichte zierliche Bauart, schöne Mahlerei mit glänzendem Firniß bedekt. Dieselbe Verschiedenheit zeichnete die Pferdegeschirre aus - die von der alten Welt, dick und schwer mit Metall belegt, ließen fast wenig vom Thier sehen, man merkte es ihnen an, daß sie wenigstens schon die dritte Kaiserkrönung mochten erlebt haben, und die Mahnen der Pferde waren ganz in Federbüschen verhüllt, wogegen das treflich gearbeitete englische Seilzeug der neuen Zeit nichts von der nakten Schönheit der Rosse verbarg, unter welchen die von Hannover

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Institutionen des Reichs in den letzten Jahrzehnten vor seinem Zusammenbruch keineswegs morsch und abgestorben waren, läßt sich daran ablesen, daß die überwiegende Mehrzahl der politisch brisantesten Themen der Zeit mit dem Reichswesen in einem Zusammenhang stehen und daß Problemstellungen wie der Nuntiaturstreit, das Reichsvikariat,15 das Einwilligungsrecht der Untertanen bei einem Ländertausch, der Fürstenbund, der Zustand der höchsten Reichsgerichte, die Lütticher Unruhen, die Entsetzung regierungsuntauglicher Reichsfürsten usw. einem breitgefächerten politischen Diskurs unterlagen, dem es an mit Ernsthaftigkeit vorgetragenen Lösungsstrategien nicht mangelte Durch die Französische Revolution und insbesondere durch die Beschwerden von Hessen-Darmstadt, Baden, PfalzZweibrücken, Speyer, Trier und dem Fürstbischof von Straßburg beim Reichshofrat gegen die vermeintliche Verletzung ihrer Reichsrechte durch die Nationalversammlung in Paris war der Kaiser als Instanz für die Wahrung der Integrität der Reichsglieder mehr denn je gefragt, und von dem Verhandlungsgeschick seiner Räte und Diplomaten hing es ab, ob ein Reichskrieg gegen Frankreich ausgerufen würde oder nicht. Zum Zeitpunkt der Thronbesteigung Leopolds standen somit sämtliche Themen, die das Reichswesen betrafen, im Brennpunkt der politischen Diskussion, was sich nicht zuletzt in der unmittelbar auf die Kaiserkrönungen von 1790 und 1792 bezogenen politischen Literatur niederschlägt. Noch zu Lebzeiten Joseph II, hatte die Reichspublizistik bereits begonnen, sich mit verschiedenen Aspekten der Reichsregentschaft, etwa der Thronfolge oder der zukünftigen Wahlkapitulation, auseinanderzusetzen. Nach dem Tode des Kaisers setzte dann eine Flut von Veröffentlichungen ein, die sich im wesentlichen in zwei Gruppen aufteilen läßt. Zum einen entwickelt sich eine politisch-publizistische

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den Preiß vor allen übrigen davon tragen möchten. Rechnet man die Begleitung der Schweizergarden in nachgeahmter alter Nationaltracht, und bei den geistlichen Churfürsten die wirklich schönen in reichbesezter Uniform gekleideten Garden hinzu, dann noch die fürstlichen Stellvertreter Christi auf Erden, wenn sie in Sammet und Hermelin die stolzen mit Goldstük behangene Rosse besteigen, so hat das freilich ein ganz anderes Ansehen, als jenes, da das Haupt aller Erzhirten seinen Einzug in Jerusalem hielt, und es giebt einen so langen und kostbaren Prachtzug in asiatischem Geschmak, daß sich kein Nabod von Indien und selbst der große Mogul desselben nicht zu schämen hätte [,..]." August Friedrich Cranz: Fragmente über verschiedene Gegenstande der neuesten Zeitgeschichte. H. 4. Berlin 1790. S, 54-56. Die Ausführungen Cranz' decken sich mit der Schilderung der pomphaften Auffahrt der kurbraunschweigischen Wahlbotschaft zur ersten feierlichen Wahlkonferenz Ende Juli 1790 in Ludwig von Ompteda: Irrfahrten und Abenteuer eines mittelstaatlichen Diplomaten. Ein Lebens- und Kultuibild aus den Zeiten um 1800. Leipzig 1894. S. 17-19, Selbst den Hinweis auf die vielbeachteten Pferde der Wahlgesandtschaft findet man hier bestätigt: "Wegen der seltenen Pferde wurde der Stall gestürmt, es mußte eine Schutzwache davor aufgestellt werden. Der weißgeborene Hengst Adonis wurde mit Erlaubnis des Botschafters porträtiert." (S. 19). Wolfgang Hermkes: Das Reichsvikariat in Deutschland. Reichsvikare nach dem Tode des Kaisers von der Goldenen Bulle bis zum Ende des Reiches. Karlsruhe 1968. S. 101-125.

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Auseinandersetzung über Rolle und Funktion des Kaisers, im einzelnen die von ihm zu erwartenden Voraussetzungen, seine Rechte und seine 'Gelangung zur Kaiserwürde', wie die entsprechende Rubrik in einer zeitgenössischen Bibliographie, dem Allgemeinen Repertorium der Literatur, lautete. In diese Kategorie fallen auch eine Reihe von 'politischen Phantasien' über den zukünftigen Zustand des Reiches, die z.T. skurrilen Charakter annehmen konnten. Neben der Gruppe der mehr im Stile eines politischen Feuilletons gehaltenen Veröffentlichungen, als deren Verfasser C,J. Pfeiffer, J.W. Harnberger und J.A. Schlettwein herauszuheben wären, ist eine zweite, nicht minder umfangreiche zu unterscheiden, die sich auf juristischem Parkett bewegt und sich vor allem mit den Modifikationen der Wahlkapitulation befaßt. An dieser Diskussion beteiligen sich so bedeutende Reichsjuristen, Staatswissenschaftler und Historiker wie J.J, Moser, J, Möser, J.St. Pütter, K.F. Häberlirt, R.K. Senckenberg, H.W. v. Bülow, J.R. Roth, K.F. Gerstlacher, J,B. Schue, J.L, Klüber, F.F. Ganz, H.B. Jaup und A.F.W. Crome. Ein solches Aufgebot an streitbaren Schriftstellern weist auf den in seiner Bedeutung kaum zu überschätzenden Zusammenhang hin, daß die Diskussion um die Wahlkapitulation von 1790 in zentralen Punkten einer Grundrechtsdiskussion gleichkam,16 Bei den Artikeln, deren Neufassung in Angriff genommen werden sollte und die für eine breitere Öffentlichkeit von sehr hoher Relevanz waren, handelte es sich neben der Frage der Eindämmung des unerlaubten Büchernachdrucks um die Neuregelung des Zensurparagraphen (Art. 2, § 8)17 und vor allem um die Zuständigkeit der höchsten Reichsgerichte in Klagen zwischen den mittelbaren Reichsuntertanen und ihrer Landesobrigkeit (Art, 19, § 6).18 In den Unterhandlungen der weltlichen und geistlichen Gesandtschaften während des Wahlkonvents,19 in denen auch der Ablauf des Krönungszeremoniells festgelegt wurde, ließ sich für den interessierten Beobachter der politische Zustand des Reiches ablesen, wurden Einfluß, Tendenzen und Koalitionsfahigkeit der Repräsentanten der kurfürstlichen Staaten transpa-

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Zur Funktion der Wahlkapitulation allgemein Gerd Kleinheyer: Die kaiserlichen Wahlkapitulationen. Geschichte, Wesen und Funktion. Karlsruhe 1968. Vgl. auch die grundlegenden Ausführungen zu Kaiserwahl und -krönung in Rudolf Hoke; Die Reichsstaatslehre des Johannes Limnaeus. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Staatswissenschaft im 17. Jahrhundert. Aalen 1968. S. 117-151. Ulrich Eisenhardt: Die kaiserliche Aufsicht über Buchdruck, Buchhandel und Presse im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation {1496-1806). Ein Beitrag zur Geschichte der Bücher- und Pressezensur. Karlsruhe 1970. S. 34-61 und S. 128-131. Ulrich Eisenhardt: Die kaiserlichen privilegia de non appellando. Köln, Wien 1980. Vgl. Friedrich Wilhelm Becker: Die Kaiserwahl Leopolds II. 1790. Eine Untersuchung zur Geschichte des alten Reiches und der Nachwirkung des Fürstenbundes. Diss, Bonn. 1943. Die Arbeit befaßt sich eingehend mit den Details des Wahlgeschäfts, ohne allerdings auf die eminent wichtige Modifikation der Wahlkapitulation im ZensurParagraphen einzugehen.

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rent.20 Der Gießener Staatswissenschaftler A.F.W, Crome bezeichnet 1791 die Wahlkapitulation als "das neueste und wichtigste Reichsgesetz'1 und als die "magna Charta der deutschen Nation". 21 Diese Hervorhebung begründet er damit, "daß die neuen Zusätze sowohl als die Abänderung der bisherigen Gesetze, die in der vormaligen Wahlkapitulation angenommen waren, für das deutsche Publikum" von erheblichem Interesse seien. Dem Selbst Verständnis der Spätaufldärung entsprechend begleitete Crome eine von ihm veranstaltete Edition der Wahlkapitulation mit zahlreichen und meist sehr umfangreichen " historisch-publicistischen Anmerkungen", wobei er es als seine Verpflichtung betrachtete, die jeweiligen Artikel "nach dem Geist unseres Zeitalters, so wie nach den Staatsbedürfhissen unseres Vaterlandes, sorgfältig zu prüfen, und endlich die [...] Absichten der [...] Wählbarsten, bei jedem neuen Zusätze möglichst zu enthüllen, und so die Ursachen dieser neuen Wahlcapitulation gleich bündig und lichtvoll dem Publikum vor Augen zu legen". Die entsprechenden Kommentare Cromes machen dann auch hinreichend deutlich, daß gegenüber dem scheinbar schwerfälligen Zeremoniell der eigentlichen Krönungen die Wahlkonvente der kurfürstlichen Gesandtschaften in den Jahren 1790 und 1792 kaum Probleme mit dem oft beschworenen Schneckengang eines 'gotischen1 Procedere der Reichsinstitutionen hatten, sondern im Gegenteil eine geradezu atemberaubende Dynamik und Anpassungsfähigkeit an die zeitgenössische politische Lage an den Tag legten. Nicht minder verwunderlich als die unerwartet hohe Aktualität der Frankfurter Festlichkeiten für weite Teile der deutschen bildungsbürgerlichen Der anonyme Rezensent eines von Henrich Wilhelm Bülow 1791 in Regensburg verfaßten Kommentars der Wahlkapitulation von 1790 unter dem Titel: Freymüthige und erläuternde Betrachtungen über die neue kaiserliche Wahlkapitulation und die zugleich an Kaiserliche Majestät erlassenen kurfürstlichen Kol l eglal=Schreibe n, besonders die neuen Zusäze der erstem, stellt in seiner Besprechung die allgemeinpolitische Bedeutung solcher Texte unmißverständlich heraus: "Leopolds des Zweiten Kapitulation muste [...] vor den vorigen sich durch neue Zusätze auszeichnen {...], weil in den lezten Tagen seines verewigten Bruders eine neue Periode in der Geschichte des Menschengeschlechts in unserer Nähe angefangen und das Feuer, womit sie begann, schnell auch in unsern Grenzen brennbaren Stoff gefunden und bereits hier und da wirklich entzündet hat. Eine Reform der staatsrechtlichen Begriffe scheint nemlich nun mit Riesenschritten die der kirchenrechtlichen zu verfolgen und dann mit Herstellung der Verhältnise zwischen Freiheit und Ordnung in den Staten eine gänzliche Vernichtung der Hierarchie, der Herrschaft in einer von Natur freien und gleichen Gesellschaft, verbinden zu wollen. - Eine Kapitulation unter solchen Umständen verdient mehr als je eine die allgemeine Aufmerksamkeit einer Nation, welche eben durch diese Umstände jezt mehr als je aus dem Schlummer aufgewekt bald ihre Nachbarn in Westen und Osten und bald sich selbst anstaunt, jezt mit Zittern, jezt mit Freude, mit stillem Ernst, - und die Hoffnung, die Nation werde zeitlich über eine ihr so wichtige Urkunde durch kundige Biedermänner offenherzig unterrichtet werden, war gerecht, wird bereits erfüllt." In: Teutsche Statsliteratur. Juni 1791. S, 289-303, hier S. 290 August Friedrich Wilhelm Crome (Hg.): Die Wahlcapitulation des römischen Kaisers, Leopold des Zweiten; mit historischen und publicistischen Anmerkungen und Erklärungen. Hildburghausen 1791. Vorwort, unpaginiert. Die folgenden Zitate ebd.

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Öffentlichkeit ist ein weiterer in diesem Zusammenhang relevanter Sachverhalt. Untersucht man nämlich den Ablauf der Feierlichkeiten im einzelnen, so stellt man zunächst fest, daß im großen und ganzen das Zeremoniell der beiden letzten deutsch-römischen Kaiserkrönungen sich vollkommen in den herkömmlichen Bahnen bewegt,22 daß Auflösungserscheinungen allenfalls an den Rändern feststellbar sind und daß vereinzelte Abweichungen den essentiellen Bestand des über Jahrhunderte tradierten Zeremoniellrepertoires in keinem nennenswerten Umfang tangieren. Dem gesteigerten öffentlichen Interesse an den Feierlichkeiten trugen die Verantwortlichen für die Ausrichtung der Feste dadurch Rechnung, daß sie auf das herkömmliche Femhalten von Fremden aus der Krönungsstadt verzichteten und damit eine zeremoniale Regelung lockerten, die bereits bei älteren Krönungen nicht sehr strikt gehandhabt wurde. Außerdem wurde die traditionelle Sekuritätsgarantie des Magistrats zwar förmlich entgegengenommen, doch hielt man es für geraten, zusätzlich noch einige Bataillone hessen-kasselscher Truppen in einem Feldlager außerhalb der Stadt zu postieren.23 Diese Zugeständnisse an 22

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Vgl. Hans Joachim Beibig: Der Krönungsritus im Alten Reich (1648-1806). In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 38 (1975), H. 2, S, 639-691. Zu Leopold II, und Franz II. S. 676-700. Winfried Dotzauer: Die Entstehung der frühneuzeitlichen deutschen Thronerhebung: Säkularisation und Reformation, In: Herrscherweihe und Königskrönung im frühneuzeitlichen Europa. Hg. v, Heinz Duchhardt. Wiesbaden 1983. S. 1-20. Dies geschah jedenfalls während der Zeremonie von 1790, Die im nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg erprobten Truppen waren vor allem auf einen Einsatz bei eventuellen Tumulten und revolutionären Umtrieben gefaßt. B[ernhard] W[ilhelm] Wiederhold: Beschreibung des Lagers bei Bergen, welches von des Herrn Landgrafen zu Hessen Wilhelms IX, Hochfürstlichen Durchlaucht mit einem Corps Höchstdero Truppen, zur Sicherheit der Wahlstadt Frankfurt am Main, des alda versammelten Churfürsllichen Collegiums und des zu wählenden Reichsoberhaupts, vom 23ten September bis zum 17ten October 1790, gehalten worden, Cassel 1791. S, 7: "Deutschland befand sich um diese Zeit [d. i. 1790) in einem bedenklichen unruhigen Zustand, dessen entfernten, aber unstreitigen Grund man in dem günstigen Erfolg findet, womit sich im vorigen Jahrzehend die meisten brittisehen Colonien in Nord=America der Oberherrschaft des Mutterlandes entzogen. {..,] Die epidemische Freiheitssucht hatte sich den Oesterreichischen Niederlanden mitgetheilt und war selbst über die Grenzen des deutschen Reichs zu einer Zeit gedrungen, da man sich mit der Wahl eines neuen Oberhaupts beschäftigen wollte. [,..] Allein es war um so mehr zu befürchten, daß die Wahlstadt Frankfurt bei dein besten Benehmen ihrer Einwohner ein Schauplatz ähnlicher Auftritte der Unordnung werden möchte, da die bevorstehende Kaiserwahl allda neben den ehrwürdigsten und angesehensten Personen, alle vornehme und niedrige Müßiggänger deutscher Nation und andrer zum Theil in Aufruhr begriffener Staaten in übergroßer Anzahl vereinigte, und selbst in Frankfurt bei der ersten Auffahrt von einem gallischen Freiheitsschwindler Versuche gemacht wurden, dem Volk den Geist der Empörung milzutheilen, und die Verehrung des ersten Monarchen der Erde anzufechten." Bereits vor der Krönung hatte der Landgraf Wilhelm von Hessen-Kassel dem designierten Kaiser seine Truppen für eine mögliche Intervention in Belgien angeboten. Er hatte sich dafür die Verleihung der 9, Kurwürde erhofft, die durch das Aussterben der kurbayrischen Linie und das damit verbundene Aufrücken Pfalzbayerns vakant geworden war. Diese Gunst wurde dem

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die tatsächlichen oder vermeintlichen Bedürfhisse der Zeit im geplanten Ablauf des feierlichen Aktes sind aber eher peripher und zu isoliert, um sie als Indizien für dessen Bedeutungsschwund werten zu können. Im Gegenteil war durch das Aussterben der kurbayrischen Linie ein lange schwelender und für das Zeremoniell höchst problematischer Rangstreit zwischen Kur- und Pfalzbayern erledigt,24 so daß sogar eine Vereinfachung und teilweise Restitution eines ursprünglicheren Zustandes vorgenommen werden konnte. Die Kernpunkte des Krönungszeremoniells, Aufzug zum Dom, Krönungsmesse mit Salbung, Krönung und Inthronisation, Krönungsmahl auf dem Römer und die symbolischen Verrichtungen durch die Repräsentanten der Erzämter und durch die kurfürstlichen Gesandten blieben unangetastet, und es gibt keine Anzeichen dafür, daß die Ausrichtung der Krönungsfeste mit weniger Ernst als vorher vorgenommen worden wären. Betrachtet man den gesamten Umfang der Krönungsliteratur der 90er Jahre im Zusammenhang, so wird die These vom Bedeutungsverfall des Zeremoniells der Frankfurter Kaiserkrönungen trotz des Goetheschen Verdikts kaum noch zu halten sein, es sei denn, man wollte die publizistische Aneignung und bürgerliche Vereinnahmung der Feierlichkeiten als Nationalfest als Bestandteil eines entsprechenden Auflösungsprozesses verstanden wissen. Weiterhin ist im Hinblick auf die beiden letzten deutsch-römischen Kaiserkrönungen bemerkenswert, daß der äußerlichen Konstanz der Krönungstradition eine völlig unterschiedliche Rezeption der beiden Krönungen in der Öffentlichkeit gegenübersteht. Die von der Forschung bislang nicht beachteten Schilderungen der Feierlichkeiten durch den bereits genannten A.F.W. Crome, der als beigeordneter Berater verschiedener Wahlgesandtschaften Augenzeuge beider Krönungen war, geben in hervorragender Weise

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ehrgeizigen Landgrafen zwar nicht gewährt, aber Leopold stattete am H. Oktober den hessen-kasselschen Truppen einen Besuch ab, über den Wiederhold, seines Zeichens hessen-kasselscher Quartiermeisterleutnant, ebenfalls berichtet: "Dieser Zeitpunct, da Leopold, unter abwechselnder Feldmusik die ausgedehnte Linie versuchter Krieger, wovon 7 Bataillons dem Americanischen Krieg beigewohnt hatten, mit entblößtem Haupt begrüßte und über den Anblick derselben den Allergnädigsten Beifall bezeugte, war der interessanteste des ganzen Tags. Man erinnerte sich bei der unabsehbaren, in Schranken gehaltenen Menge der Zuschauer jene Comitien der Römer, oder man glaubte sich in jene Zeiten versetzt, da die Wahl der Kaiser noch von der ganzen Volksmenge geschah, die sich an den Ufern des benachbarten Rheins zu tagem pflegte, und das Ganze bildete ein frohes, erhabenes und characterisüsches Volksfest. Doch sah man hier nicht eine unruhige Volksmenge, die nur in den üppigen Belustigungen Vergnügen findet, welche eine Folge des Luxus sind: sondern man sähe ein über sein neues Oberhaupt jauchzendes Volk, das stolz auf seine Staatsverfassung, die Gesetze verehrt, und bei welchen sich der Lieblingshang seiner Vorfahren zu männlichen Belustigungen und zu den Waffen fortgepflanzt hat," (S. 32). Nach dem Tode des Kurfürsten von Bayern Maximilian III. im Jahr 1777 übernahm der zu Mannheim residierende Kurfürst von der Pfalz Karl Theodor, der einer Wittelsbacher Nebenlinie entstammte, als nächster Erbe auch von Bayern Besitz und verlegte seine Residenz nach München, wodurch die zwischenzeitlich getrennten Kurstimmen wieder zusammenfielen.

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Aufschluß darüber, daß hier ein Paradigmen Wechsel vorliegt, der den Übergang von einer spätaufklärerischen Erwartungshaltung an Leopold II. im Jahr 1790 hin zu romantisierenden Hoffhungsphantasien markiert, die sich 1792 an Franz II. knüpften. Dieser mentalitätsgeschichtliche Umschwung 'auf kleinstem Raum', wie er sich anhand der Rezeption der genannten Kaiserkrönungen dokumentieren läßt, ist nicht nur für eine präzise Kenntnis der Rezeption der Französischen Revolution in der deutschen Öffentlichkeit von grundlegender Bedeutung, sondern stellt auch ein wichtiges Indiz für das Spannungsfeld dar, das sich bereits um 1792 zwischen Spätaufklärung und Frühromantik aufzubauen beginnt. August Wilhelm Iffland, der sowohl als Schauspieler als auch mit eigens für die Krönungen produzierten Schauspielen Augenzeuge beider Zeremonien war, bestätigt diese zeitliche Zuordnung in seiner 1798 verfaßten Autobiographie, in der er den plötzlichen Umschwung der öffentlichen Meinung zwischen den beiden Thronbesteigungen thematisiert: Schon in der Mitte des Jahrs 1791, noch mehr gegen Ostern 1792, hatte sich die Gestalt der Dinge und ihr Eindruck auf die Menschen merklich verändert. Alle Begebenheiten und Menschen, welche vorher Unterhaltung gewährt, und zu ruhigen, witzigen Gesprächen geführt hatten, erhitzten nun, erbitterten und veranlaßten oft traurige Augenblicke. Der Krieg der Meinungen begann mit Hartnäckigkeit.15 Bereits in der Beschreibung seiner Reise durch die Schweiz im Frühjahr 1792, die sehr stark unter dem Eindruck des Herrscherwechsels von Leopold II zu Franz II. steht, bringt er die unterschiedliche Selbstdarstellung der beiden Regenten auf die prägnante Formel: "Von jeher stand die kostbare Tugend der glänzenden nach", wobei er die kostbare Tugend Leopold, die glänzende Franz zuschreibt.26 Die auffälligen Übereinstimmungen, die zwischen den unabhängig voneinander entstandenen Stellungnahmen Ifflands und Cromes bestehen, verweisen auf einen strukturellen Zusammenhang, dessen Kenntnis die Voraussetzung für eine kritische Bewertung des Krönungszeremoniells und dessen Rezeption in der bürgerlichen Öffentlichkeit im späten 18. Jahrhundert darstellt. Als Leopold II. im Herbst 1790 zum deutsch-römischen Kaiser gekürt wurde, ruhten die Erwartungen des politisch interessierten Teils der Öffentlichkeit auf ihm. Nicht zuletzt für die Mehrheit der Illuminaten war der ehemalige Großherzog von Toskana die Alternative zur Französischen Revolution.27 Von seiner Politik erhoffte man sich nicht nur eine Ver25 26 27

August Wilhelm Iffland: Über meine theatralische Laufbahn. Hetlbronn 1886. S, 86f. August Wilhelm Iffland; Blick in die Schweiz. Leipzig 1793. S. 22. So gingen beispielsweise von mehreren am Reichskammergericht in Wetzlar tätigen IlJuminalen zwischen 17S7 und 1793 verschiedene verfassungspolitische Initiativen aus, die zum Teil darauf abzielten, das höchste Reichsgericht in eine Art von deutschem Areopag umzuwandeln, ein Reformansatz, der bei der Thronbesteigung Leopolds die höchsten Aussichten auf Verwirklichung zu haben schien. Vgl. Monika Neu gebauer-Wölk: Reichsjustiz und Aufklärung. Das Reichskammergericht im

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besserung der allgemeinen Lebensbedingungen, sondern nichts Geringeres als eine Veränderung der Staatsverfassung in Richtung auf eine konstitutionelle Monarchie. Leopold, der von den Zeitgenossen mit den Beinamen 'der Weise1, 'Salomon unseres Jahrhunderts', 'Hirtenkönig' und 'Philosoph auf dem Thron' belegt wurde, war in vielerlei Hinsicht ein bemerkenswerter Regent, der in der Reihe der aufgeklärt-absolutistischen Monarchen eine Sonderstellung einnahm. Mehrere neuere Forschungsarbeiten weisen darauf hin,28 daß das Zusammentreffen einer Reihe von glücklichen Faktoren, wie der Einfluß der Ideen Montesquieus und der französischen Enzyklopädisten auf seine Erziehung durch den Strafrechtsreformer Martini und das aufgeschlossene geistige Klima in Florenz ein beispielloses, umfassendes Reformwerk in Gang setzte, das nahezu alle Teile des öffentlichen Lebens im damaligen Großherzogtum Toskana erfaßte. Hier seien nur Stichworte genannt: Neuordnung der Zentralverwaltung, Bereinigung eines komplizierten Gesetzeskorpus' mit sich überschneidenden Codices, auf einer eingehenden statistischen Analyse beruhende Anwendung eines modifizierten physiokratischen Wirtschaftssystems, Freigabe des Getreidehandels, Aufhebung der Binnenzölle auf Brot, Mehl usw., weitgehende Konsolidierung des Haushaltes, Steuerreform, Verbesserung der Infrastruktur, Trockenlegung der Maremmen, Abschaffung der Zünfte, Einsetzung einer Handels- und Gewerbekammer, Aufhebung der Monopole, auch der Staatsmonopole, flächendeckende medizinische Versorgung der Bevölkerung, Verabschiedung eines Gesetzes, nach dem Geisteskrankheit als Krankheit zu behandeln sei, und dies bereits 1774, Errichtung der ersten psychiatrischen Klinik Europas in Florenz. Außenpolitisch verfolgte Leopold einen strikten Neutralitätskurs, er teilte den Pazifismus der Physiokraten und verkaufte die toskanischen Kriegsschiffe, Einen Höhepunkt erreichte seine Politik in der großen Strafrechtsreform des Jahres 1786, die auf einer Trennung von Justiz und Polizei beruhte, sämtliche Justizprivilegien aufhob, ein dreijähriges Rotationsprinzip für Justizämter einführte, das Delikt der Majestätsbeleidigung abschaffte und die Todesstrafe aufhob, letzteres anschaulich demonstriert durch die Verbrennung von Galgen und Folterinstrumenten auf den öffentlichen Plätzen des Landes. Anstelle der Auflistung

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Netzwerk der Illuminaten. (= Schriftenreihe der Gesellschaft fiir Reichskammergerichtsforschung. H. 14). Wetzlar 1993, Ein Vergleich der von Schattier erstellten Mitgliederliste des Illuminatenordens mit der dem offiziellen Krönungsdiarium beigefügten Liste der Teilnehmer an den Krönungsfeierlichkeiten von 1790 zeigt, wie stark das Interesse der Mitglieder des Illuminatenordens an der Thronbesteigung Leopolds war. Vgl. Hermann Schüttler: Die Mitglieder des Illuminatenordens 1776-1787/93. München 1991. {Johann Philipp Schulin:] Vollständiges Diarium der Römisch=Königlichen Wahl und Kaiserlichen Krönung [.,.] Leopold des Zweiten. Frankfurt am Main 1791. Anhang. Wandruszka: Leopold II. (wie Anm. 6), Helga Peham; Leopold II. Herrscher mit weiser Hand. Graz, Wien, Köln 1987.

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weiterer Bestandteile des Reformprogrammes,29 etwa auf religiösem Gebiet, ist für das folgende der allgemeine Hinweis ausreichend, daß Leopold als Großherzog von Toskana ein Reformwerk betrieb, das über die Grenzen eines aufgeklärten Absolutismus hinaustendierte, will sagen die Umwandlung der Staatsverfassung in eine konstitutionelle Monarchie aus eigenem Antrieb und durch Reformen von oben anstrebte.30 Auch wenn Leopold nach 1790 während seiner kurzen Regierungszeit als deutsch-römischer Kaiser die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllen konnte, blieb er den Zeitgenossen doch als Verkörperung des Ideals eines aufgeklärten Monarchen zumindest für den Zeitraum seiner Regentschaft in Toskana im Gedächtnis. Sein plötzlicher Tod am l, März 1792 bedeutete einen schweren Rückschlag für alle diejenigen, die ihre Hoffnungen auf ein aufgeklärt-reformerisches Staatswesen gesetzt hatten.31 Als politisches Vermächtnis seiner Regierungstätigkeit als Großherzog von Toskana hatte Leopold eine Staatsschrift mit dem Titel Gobierno della Toscana verfaßt, in der er seine Reformpolitik zusammenfassend darstellte. Die Audienz, die der Kaiser am Rande der Krönungszeremonie dem Kameralisten Crome gewährte und die dieser in seiner Autobiographie umständlich beschreibt, gleicht dann auch eher einem Fachgespräch zwischen zwei Vertretern der Gelehrtenrepublik als einem ritualisierten höfischen Procedere: 29 30 31

Vgl. Heinz Holldack: Die Reformpoliük Leopolds von Toskana. In: Historische Zeitschrift 165 (1942). S. 23-48. Joachim Zinunermann: Das Verfassungsprojekt des Großherzogs Peter Leopold von Toscana. Diss, Heidelberg 1901. Allerdings hatten eine Reihe von regressiven politischen Maßnahmen, etwa der Ausbau der Geheimpolizei, die Protektion der reaktionären Wiener Zeitschrifl und die konsequente Verfolgung von Jakobinern in den Erblanden, diese Euphorie erheblich gedämpft. Spekulationen darüber, daß Leopold keines natürlichen Todes gestorben, sondern von den Jlluminaten oder Jakobinern vergiftet worden sei, wurden ernsthaft und in aller Öffentlichkeit diskutiert. Zwischenzeitlich war es in der zeitgenössischen Publizistik sogar zu einem Streit zwischen dem aufgeklärt-illuminatorischen und dem reaktionär-obskuranten Lager darüber gekommen, welche Seite denn nun den wahren Leopold für ihre Ziele vereinnahmen könne. Bibl löst den Widerspruch dahingehend auf, daß er Leopold ein vorsichtiges Taktieren aufgrund der verworrenen politischen Lage attestiert, das von seinem Nachfolger aus Angst vor der Revolution aufgegeben wurde. Viktor Bibl; Kaiser Franz und sein Erbe. Wien, Berlin, Leipzig, München 1922, S, 72: "Kaiser Franz hatte in dem leidenschaftlichen Kampf der beiden Parteien zu Gunsten der Obskuranten' entschieden. Die vorsichtige Mittelstellung, die sein kluger Vater eingenommen hatte, gab er auf, erklärte sich mit aller Entschiedenheit gegen die Grundsätze der Aufklärung, der Volksrechte und des Fortschrittes. Es war ein eigentümliches Verhängnis, daß der Monarch, durch die Ausschreitungen des Pöbels und den blutigen Verlauf der Revolution in Frankreich erschreckt, bedingungslos der Reaktion sich in die Arme warf [...]." Zu den politischen Veränderungen in Österreich zwischen 1790 und 1792 vgl. Helmut Reinalter: Einwirkungen der Französischen Revolution auf die Innen- und Außenpolitik des Kaiserhofes in Wien. In: Ders.: Die Französische Revolution und Mitteleuropa. Erscheinungsformen und Wirkungen des Jakobinismus. Seine Gesellschaftstheorien und politischen Vorstellungen. Frankfurt am Main 1988. S. 96-119.

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Sodann fragte mich der Kaiser: ob ich das Governo della Toscana kenne, welches von ihm selbst geschrieben und herausgegeben worden, und kurz vor der Kaiserwahl im Druck erschienen sey? Ich kannte es nicht. Es enthält, sagte Kaiser Leopold, eine kurze Darstellung der ganzen Staats-Verwaltung von Toscana von 1765 bis 1790, und ist gleichsam ein compte rendu, welches ich meinem Volke, als ein Denkmal meiner Regierung, hinterlassen habe. Auf meinen Wunsch es zu lesen, sagte der Monarch; Ich will es Ihnen zuschicken lassen, und wenn Sie italienisch verstehen, wird es mir lieb seyn, wenn Sie es ins Deutsche übersetzen und mit einem Commentar versehen; in Deutschland wird man es sonst nicht recht verstehen. Da Sie in dem Gebiet der StaatsWissenschaften geschrieben haben, so wird Ihnen dieß nicht schwer seyn; es sollen Ihnen Beiträge dazu von Wien aus geschickt werden. Ich nahm den ehrenvollen Auftrag dankbar an, mit dem Wunsche: einige Aufklärungen über manche Punkte der toscanischen Regierung erhalten zu können, die mir unbekannt seyn möchten. Am besten ist es, antwortete der Kaiser, ich gebe Ihnen sogleich selbst eine kurze Uebersicht von dem Plan und Zweck dieses neuen Werkes. (Es schien seine Lieblingssache zu seyn.) Nun gab der hochherzige Monarch sich die Mühe, mir einen kurzen Abriß seiner Regierungsgeschichte in Toscana darzulegen, wodurch ich in den Stand gesetzt wurde, einen richtigen Begriff von dem Zweck und Plan des Governo della Toscana (welches ich übersetzen und commentieren sollte) mir zu machen. 2

Mit der in der Spätaufklärung sehr beliebten literarischen Technik des "Parallels' wurden verschiedentlich Herrschervergleiche zwischen Leopold II. und Joseph II, angestellt, die zwar die Refbrmfreudigkeit beider Regenten gleichermaßen hervorheben, die aber dennoch zugunsten Leopolds ausfallen, weil er im Gegensatz zu seinem Bruder behutsamer vorging, vorhandene Strukturen genau analysieren ließ, bevor er tiefgreifende Einschnitte vornahm, eingefahrene Verhalt ensmuster in der betroffenen Bevölkerung und Vorbehalte in der öffentlichen Meinung nicht einfach ignorierte, sondern durchaus ernst nahm. Hier hatte Leopold aus eigenen Erfahrungen während seiner Regentschaft in Toskana gelernt und außerdem von Florenz aus die gerade in diesem Punkt erheblichen Mängel der Reformpolitik Josephs beobachten und in aller Ruhe analysieren können. Bereits aJs Großherzog von Toskana hatte Leopold erkannt, wie wichtig es war, nicht nur Reformen in Gang zu setzen, sondern auch für deren Akzeptanz in der Öffentlichkeit zu sorgen. Wo Aufklärung allein nicht hinreichte, festgefahrene Vorurteilsstrukturen aufzuweichen, griff er auf das Instrument der politischen Propaganda zurück. So scheute er auch unmittelbar nach seiner Machtübernahme in Wien nicht davor zurück, umstrittene Reformprojekte seines Bruders zurückzunehmen. Gleichzeitig war er bestrebt, die eigene Position propagandistisch zu festigen, wobei eine besondere Rolle in diesem Konzept den als Nationalfeste inszenierten Königs- und Kaiserkrönungen zufiel. In diesen Zusammenhang ist es einzuordnen, wenn sich Schubart in seiner Chronik einigermaßen erstaunt darüber äußert, daß Leopold Teile des von seinem Bruder 32

August Friedrich Wilhelm Crome: Selbstbiographie, Ein Beitrag zu den gelehrten und politischen Memoiren des vorigen und gegenwärtigen Jahrhunderts, Stuttgart 1833, S, 201 f. Eine Neuauflage der Autobiographie Cromes wird von mir vorbereitet.

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abgeschafften Hofzeremoniells und die spanische Kleidung wieder einfuhren will,33 oder wenn Iffland sich in seinen Memoiren erinnert, daß auf Geheiß des Kaisers der Auftrag an ihn ergangen sei, ein Schauspiel gegen gewaltsame Staatsumwälzungen zu schreiben, und daß ihm dazu das Thema gegeben worden sei, "wie in der Mitte des vorigen Jahrhunderts die Könige von Dänemark die verlerne Souveränität wieder erlangt haben".34 Ifflands Theaterproduktionen, insbesondere die speziell für die Frankfurter Krönungen verfaßten Stücke, sind für die Wirkung der Krönungsfeierlichkeiten und die mythisierende Rezeption des Kaiserbildes von enormer Bedeutung. Das anläßlich der Kaiserkrönung von 1790 entworfene und aufgeführte patriotische Schauspiel Friedrich von Österreich, gemeint ist der Vater des Kaisers Maximilian I., Friedrich HL, basierte auf einer Parallel)sierung Friedrichs mit Leopold II., die dem zeitgenössischen Publikum mehr als deutlich vor Augen stand. Besonders das Schlußtableau, mit einem Landesvater, der darüber weint, daß er nicht so zum Wähle seiner Untertanen regieren konnte, wie er es gerne gewollt hätte, war eine unübersehbare Anspielung auf den soeben in Frankfurt gekrönten Kaiser, von dem allgemein bekannt war, daß er einmal während der Einnahme der heiligen Kommunion in Tränen ausgebrochen war. August Friedrich Cranz, der das Schauspiel während der Feierlichkeiten in Frankfürt gesehen hatte, unterstreicht diesen Eindruck; Friedrich von Oesterreich - in der wahren Geschichte nicht der beste Mann, hier wie der Dichter ihn karakterisirt, ein seynsollender Abdruck Kaiser Leopolds - im Ganzen genommen, das Bild eines Regenten, der mit Schwierigkeiten umgeben ist, Aufrührer zu bekämpfen hat, sie besiegt und ihnen großmüthig verzeiht, weil auch er von dem lieben Gott täglich Vergebung nöthig zu haben bekennt.35

Nicht zuletzt durch eine solche Verbindung von Fürstenspiegel und Rührstück setzte die Aufklärung in einem umfassenden Intimisierungs- und Ernotionalisierungsprozeß eine Umbewertung des Fürstenbildes vom unnahbaren Despoten zum patriarchal-familiären Landesvater in Gang, die mit einer zunehmenden Patriarchalisierung des Gottesbildes36 und einer Umgewichtung der Rolle des Familienvaters einhergeht.37 Im Falle Leopolds verbindet sich diese Familialisierung mit einer ausgeprägten Wahrnehmung des aufgeklärten 33

34 35 36

37

Chronik. 12. Nov. 1790. S, 782. Die erwähnte Übersetzung des Gobiento erschien unter dem Titel: Die Staatsverwaltung von Toskana unter der Regierung seiner königlichen Hoheit Leopold II. Bd. l u. 2. Gotha 1795. Bd. 3. Leipzig 1797, Iffland: Laufbahn (wie Anm. 25). S. 90. Cranz; Fragmente (wie Anm, 14). S. 82f. Begemann charakterisiert diesen Prozeß als "die Ablösung der Vorstellung eines gestrengen und schrecklichen deus absconditus, eines Gottes, dessen Erkenntnis unmöglich ist und dem es sich blind zu unterwerfen gilt, durch das Bild eines gütigen Gottes, der seine strafenden und rächenden Attribute weitgehend einbüßt." Christian Begemann: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Frankfurt am Main 1987. S. 79. Bengt Atgot Sörensen: Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchal ismus und das Drama im 18. Jahrhundert, München 1984, S, 48-57.

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Monarchen als engagiertem Partizipant am aufklärerischen Diskurs der Gelehrtenrepublik.38 Eine solche Rezeption des Herrscherbildes schlägt sich in der zitierten Schilderung Cromes der ihm in Frankfurt gewährten Audienz nieder, die über weite Strecken der Beschreibung eines Gelehrtendisputes über Fragen der Staatswissenschaften gleicht, Leopolds Sohn Franz, der ihn nach knapp zweijähriger Regentschaft auf dem deutsch-römischen Kaiserthron ablösen sollte, schien wenig geneigt, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Das Bild, das er während der Krönungsfeierlichkeiten in der deutschen Öffentlichkeit abgab, war eher von einer romantischen Verklärung geprägt, die an die Lichtgestalt des Weißkunig erinnerte, jener romanhaften Selbststilisierung des Kaisers Maximilian L, die unter der Redaktion des kaiserlichen Geheimschreibers Marx Treitzsaurwein 1514 entstanden war. Bereits die von Iffland 'hoffähig' gemachte Doppelung von Leopold II. mit Friedrich III. hatte implizit eine Doppelung von Franz H. mit Maximilian I. als deren Söhnen nahegelegt. Selbst der an und für sich einem spätaufklärerischert Rationalismus verbundene Crome konnte sich der faszinierenden Ausstrahlung nicht entziehen, die von der bloßen äußeren Erscheinung des jugendlichen Kaisers ausging. In einem Brief an seinen Freund Gerhard Anton von Halem in Oldenburg läßt sich Crome, noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse stehend, zu folgender Schilderung hinreißen, die diesen Rezeptions Vorgang transparent werden läßt; Franz ist sehr wohlgewachsen schlank, wohlgebildet, und von schöner Figur. Sein schönes helblondes Haar, Sein gütiges Auge, Sein holder Blick und die Jovialität, die durchgängig auf seinem Gesichte sich zeigt, empfehlen ihn dem schönen Geschlecht vorzüglich, und auch jedem Manne, der kein Misantrop ist. Wie er da so auf einem prächtigen Schimmel zum Dohm ritt, um sich krönen zu lassen, angethan mit allem königlichen Schmuk, und sein gelbes Haar über seinen Nakken daher floß, und sein schönes Auge jedem Freude und Liebe zuwinkte: küssen hätt ich ihn mögen, diesen Göttersohn.39

Wie sehr bei diesem Gemälde das maximilianische Weißkunig-Modell Pate gestanden hat, mag das folgende Maximilianporträt aus Joseph Grünpecks Lebensbeschreibung des wegen der ausgeprägten Vorliebe des Kaisers für mittelalterliche Kampfspiele und Tumierfeste sogenannten "letzten Ritters" belegen: Seine körperliche Schönheit war in allen Altersstufen ausgezeichnet. Er hatte ein ruhiges und heiteres Antlitz, strahlende Augen von förmlich himmlischem Glanz, in denen ein Zuneigung gewinnender Ausdmck lag, sodaß er von allen, Männern wie 38

Siehe auch paradigmatisch für zahlreiche ähnliche Äußerungen Schubarts Chronik vom 17. Dez. 1790. S. 857: "Da unser Kaiser bekanntlich sehr viel literarische Kenntnisse hat, und sonderlich in allen Kenntnissen Meister ist, die den Agathokrator, den guten Herrscher bilden; so werden jezt auf seinen Befehl vortrefliche Erziehungs= und Studienplane in seinen Staaten gemacht." August Friedrich Wilhelm Crome an Gerhard Anton von Halem, Gießen, den 20. 8. 1792, Landesbibliothek Oldenburg. Halem-Nachlaß.

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RolfHaaser Frauen, geliebt wurde. Sein Haar war etwas gelockt und fiel bis auf die Schultern herab, so daß es auch noch den Nacken bedeckte. Die Augenbrauen waren schwarz, die Ohren klein. Die Nase, oben schmal zulaufend, nach unten hervortretend, die Gesichtsfarbe war gebräunt; sie hielt die Mitte zwischen weiß und blutroth inne,40

Mehreren Schilderungen der Kaiserkrönungen des späten 18. Jahrhunderts ist das bis auf die Schultern herabwallende Haar des Regenten einer besonderen Erwähnung wert, ein Anblick, der den Sehgewohnhetten des Perückenzeitalters völlig zuwiderlief und bereits den Kunstgeschmack vorwegnahm und vielleicht auch beeinflußte, der dann im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in den Umrißzeichnungen der Nazarener zum Tragen kommen sollte. Zusammen mit dem nicht nur aus zeremoniellen Gründen geradezu topischen Schimmel und dem prächtigen mittelalterlichen Krönungsmantel wird ein ästhetischer Reiz aktiviert, der dem zeitgenössischen Betrachter die Welt der Ritterromane und Feenmärchen vor Augen führte. Daß Cromes Beschreibung des Erscheinungsbildes des jungen Kaisers Franz II. im Krönungsornat nicht als die individuelle Wahrnehmung eines einzelnen Festteilnehmers zu werten ist, zeigt ein vergleichender Blick auf weitere zeitgenössische Augenzeugenberichte. Eine vergleichbare Äußerung ist in einem Brief von Cromes jüngerer Schwester Christiane an von Halem erhalten geblieben: Der Kaiser hat sich überall Liebe erworben, die Wiener beten ihn an, und hoffen alles von Ihm. Er sieht sehr jung und schön aus; als er am Kiönungstage mit der Ungarischen Krone, und seinen blonden Loken daher ging, glich Er einem schönen Genius, der mit jedem Blick Güte, Freude, und jede sanfte Empfindung um sich her verbreitet. O möchte er das erfüllen, was sein Auge versprach, möchte Er Deutschlands guter Genius im ganzen Sinne werden; und lange bleiben , 4i

Die Kaiserkrönung Franz' II. stellt sich den Augenzeugen als Innewerdung eines mythischen Augenblicks dar, in dem sie zu Trägern eines Personenmythos 'der neue Maximilian' geworden sind. Selbst einem jeglicher irrationalen Kaiserverehrung unverdächtiger Georg Forster ist die persönliche Ausstrahlung Franz II, nicht verborgen geblieben. In seiner Darstellung der Revolution in Mainz erinnert er sich: Die Jugend des Kaisers hatte vorzüglich etwas Rührendes, das auf den ersten Blick bei jedermann für ihn sprach. Mehre von uns hatten ihn zu Frankfurt am Krönungstage auf dem Zuge nach der Kirche gesehen, wie er unter der drückenden Last des Hermelinmantels und der Krone seine großen blauen Augen auf der Menge der Zuschauer 40

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Der von Joseph Grünpeck im Original lateinisch verfaßte Text ist hier in der Übertragung von Th. Ilgen: Die Geschichte Friedrichs III, und Maximilians I.. Leipzig 1940. S.67f., wiedergegeben. Die gebräuchlichste Ausgabe des 18, Jahrhunderts hatte Johann Jacob Moser herausgegeben: Dr. Joseph Grünbecks Kaysers Maximiliani I. Geheimen Raths und Beicht-Vatters Lebens-Beschreibung Kayser Friedrichs III. (V.) und Maximilians I. Tübingen 1721. Christiane Crome an Gerhard Anton von Halem. Gießen, den 24. 7, 1792, Landesbibliothek Oldenburg. Halem-Nachlaß.

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umherirren ließ; und ich weiß nicht welches menschliche Mitgefühl die unsrigen unwillkürlich füllte."2 Es ist auffallend, daß die Augenzeugen des Krönungszeremoniells nahezu einhellig die sympathische Wirkung zu artikulieren versuchen, die von den Augen des jungen Kaisers ausging, und daß sie hinter seinem vertrauenerweckenden Blick den dahinter verborgenen Charakter erkannt zu haben glauben. Neben der massenpsychologischen Komponente, die an eine solche Wahrnehmung geknüpft ist, setzen solche Versuche, im Blick das Wesen des Monarchen zu erhäschen, ein bewußtes oder unbewußtes Physiognomiemodell voraus, das einen Zusammenhang von Ästhetik und Ethik im Erscheinungsbild eines Menschen unterstellt. Stärker als den Geschwistern Crome zu diesem Zeitpunkt ist Georg Forster der widersprüchliche Charakter und die politische Problematik einer solchen Wirkung bewußt: Soviel ist gewiß, daß nur die Reinheit der Seele das Vorrecht haben sollte, diese Empfindungen zu erregen, die ein so schönes Verhältnis zwischen Regenten und Regierten als möglich zu erkennen geben, zugleich aber auch des MiÜbrauches wegen so gefährlich ist.43 In Forsters Mahnung zu kritischer Vorsicht kommen aber nicht nur politische, sondern auch naturwissenschaftliche Vorbehalte zum Ausdruck. Er bezieht nämlich seinen kleinen mittelbaren Disput mit den Geschwistern Crome auf den Stand der damaligen Physiognomiediskussion, wobei besonders die anthropologischen Forschungen Samuel Thomas Soemmerrings, der mit Crome und Forster befreundet war, als Bezugsrahmen heranzuziehen sind.44 Soemmerring hatte sich in Auseinandersetzung mit Herder "neben den Proportions- und Symmetrielehren der Antike und der Albrecht Dürers [mit] dem Studium der Beziehungen von harmonischer Körperbildung einer im Ganzen sich ausdrückenden Seele"4i befaßt und Lavaters "Auffassung von einer ständigen Spiegelung der Seele in jedem Teil des Körpers"46 42

Georg Forster; Darstellung der Revolution in Mainz. In: Forsters Werke in zwei Bänden. Berlin und Weimar 1979. Bd. 1. S. 157f. 43 Ebd. S, 158. 44 Vgl. Sigrid Oehler-Klein: Samuel Thomas Soemmerrings Neuroanatomie als Bindeglied zwischen Physiognomik und Anthropologie. In: Die Natur des Menschen, Probleme der Physischen Anthropologie und Rassenkunde (1750-1850) (= Soemmerring-Forschungen VI. Hg. v. Gunter Mann, Jost Benedum, Werner F, Kümmel). Stuttgart, New York 1990, S. 57-87. Zum Verhältnis zwischen Soemmerring und Forster vgl, Hans Quemer: Samuel Thomas Soemmerring und Johann Georg Forster eine Freundschaft. In: Samuel Thomas Soemmerring und die Gelehrten der Goethezeit. Beiträge eines Symposions in Mainz vom 19, bis 21. Mai 1983. Hg. von Gunter Mann und Franz Durnont. Stuttgart, New York 1985. S, 229-244. Zwar ist nicht bekannt, ob Soemmerring bei der Kaiserkrönung 1792 in Frankfurt anwesend war, doch erscheint sein Name auf der im Anhang zu Schulins Diarium abgedruckten Teilnehmerliste der Krönung Leopolds 1790. : " ' Oehler-Klein: Soemmerrings Neuroanatomie (wie Anm, 44). S. 64. 46 Ebd. S, 62.

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fortentwickelt. Daß Forster den naturwissenschaftlichen Schlußfolgerungen seines engen Freundes nicht vorbehaltlos gefolgt ist, läßt sich durch seine implizite Kritik an Crome bzw. dessen unkritischer Rezeption des Kaiserbildes während der Krönung 1792 in Frankfurt nachweisen. In der Tatsache, daß Forster einen Teil des Krönungszeremoniells, nämlich den Auftritt des jungen Kaisers im Krönungsornat auf dem Rörnerplatz, auf den damals aktuellen Stand des Anthropologie- und Physiognomiediskurses bezieht und daß er gleichzeitig die Gefahr der propagandistischen Funktionalisierung eines solchen Kaiserbildes erkennt und ernst nimmt, ist ein weiterer Beleg dafür gegeben, daß die Krönungen von 1790 und 1792 weit davon entfernt waren, als abgelebtes Welttheater oder skurriles Fastnachtsspiel aufgefaßt zu werden. Wülfing hat hinsichtlich des Kultes, der mit der preußischen Königin Luise im 19. Jahrhundert getrieben wurde, die mythisierende Doppelung von Ethik und Ästhetik durch die Konnotation des Attributes 'Jugend' mit dem Merkmal 'rein1 beschrieben.47 Das Anfangsstadium einer ganz ähnlichen mythisierenden Operation, die für die Ausprägung vorromantischer Denkmuster konstitutiv war, liegt in den Beschreibungen des jungen Kaisers Franz im Krönungsornat vor. Die beiden Äußerungen der Geschwister Crome sind u.a. deshalb bemerkenswert, weil sie nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, bloße subjektive Eindrücke zweier in schwärmerischer Begeisterung schwelgender Festbesucher aus der oberhessischen Provinz widerspiegeln, sondern vielmehr die Haltung und Einschätzung des Freundeskreises im Hause Brentano4* kolportieren dürften, in dem sich Crome und seine Schwester während ihres 17tägigen Aufenthaltes in Frankfurt bewegten. So erscheint es auch bezeichnend, daß Crome noch 1833 bei der Abfassung seiner Selbstbiographie nicht bei seiner Schilderung der Krönung Leopolds, sondern erst bei der Beschreibung der Inthronisationsfeierlichkeiten von dessen Nachfolger Franz von dem "großen acht germanischen Schauspiel einer Kaiserwahl" spricht.49 Den Initiatoren der Krönungsfeierlichkeiten im Juli 1792 ist es gelungen, ein deutsches Nationalfest zu inszenieren, das in bewußtem Gegensatz zu den Revolutionsfesten in Frankreich stand. Die Terminierung der Krönung Franz II. auf den 14. Juli, den Jahrestag des drei Jahre zuvor erfolgten Sturms auf Wulf Wülfing, Karin Bruns, Rolf Parr: Historische Mythologie der Deutschen 17981918. München 1991. S. 66. Bemerkenswerte Übereinstimmungen finden sich auch zu einer Textpassage in der Autobiographie H. A. O. Reichards, der während seines Besuchs der Krönungsfeierlichkeiten von 1792 ebenfalls bei Sophie La Röche und ihrer Tochter Maximiliane Brentano in deren Frankfurter Haus verkehrte: "Am Tage der Krönung selbst (14. Juli 1792} verzichtete ich auf einen Sitz im Dome und zog lieber das Schauspiel des Zuges des zu krönenden Kaisers und den Anblick der Feierlichkeit auf dem Römerplatze vor. Der Zug war wirklich imposant, und die edle Gestalt des blonden, jugendlichen Franz, der auf einem schönen, stolzen Schimmel mit Anstand und Würde saß, erfüllte alle Zuschauer mit Theilnahme und Beifall, der in lauten stürmischen Zuruf ausbrach [...]." H.A.O. Reichard. {1751-1828). Seine Selbstbiographie. Hg. v, Hermann Uhde. Stuttgart 1877. S. 273. Crome: Selbstbiographie (wie Anm. 32). S. 221,

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die Bastille, spricht für sich. Daß dies auch in der Öffentlichkeit so verstanden wurde, belegt beispielsweise ein noch im selben Monat erschienener Artikel im Hamburger Politischen Journal, dessen anonymer Verfasser es bemerkenswert findet, "daß Teutschland an eben dem Tage, am 14ten Julius, sein Oberhaupt krönte, an welchem Frankreich vor 3 Jahren das seinige entthronte",50 Um ein Nationalgefuhl der Bürger für das Reich zu stärken, wurden Gerüchte in Umlauf gebracht, die sich auf eine zu erwartende Störung der Zeremonie durch französische Agenten bezogen. Diese Manipulationen des politischen KHmas im Lande gehörten, so darf man wohl annehmen, zur propagandistischen Vorbereitung des geplanten Interventionskrieges gegen das revolutionäre Frankreich. Bereits der Wahlkonvent der kurfürstlichen Gesandtschaften hatte vollkommen unter dem Einfluß des geplanten Reichskrieges gestanden. Zunächst hatte es nämlich so ausgesehen, als ob diesmal die Krönung überhaupt ausfallen sollte. Der Helmstedter Professor der Rechtswissenschaften Häberlin berichtet im Anhang zu seiner pragmatischen Geschichte der Wahlcapiiulaiion Kaiser Leopold II. welcher die Verhandlungen über die Capitulation Kaiser Franz U. enthält, daß man zunächst beim Reichshofrat in Regensburg den Plan entworfen habe, diesmahl an diesem Ort (d.i. Regensburg], wo bereits ein jeder Kurhofseine Gesandten hatte, mit möglichster Entfernung aller Feyerlichkeiten und alles Ceremoniells zur Wahl des neuen Reichsoberhaupts zu schreiten, diesem durch eine Deputation den Wahlvertrag zu überschicken, um ihn in deren Beyseyn zu beschwören, sodann aber es ihm zu überlassen, wann die Krönung - die alsdann wohl ganz unterblieben seyn würde - geschehen sollte. Allein dieser Plan wurde von einigen Kurhöfen, vielleicht aus sehr politischen Gründen, nicht genehmigt, hingegen verglich man sich doch, das Wahlgeschäft möglichst zu beschleunigen.*1

Da man den propagandistisch nutzbaren Krönungstermin vom 14. Juli einhalten wollte, verzichtete man so weit als möglich auf zeitraubende Verhandlungen im Vorfeld. Die alte Wahlkapitulation von 1790 wurde trotz einiger in der zeitgenössischen Publizistik umstrittener und als revisionsbedürftig erachteter Artikel praktisch unverändert übernommen. Ebenso wurde auf langwierige Verhandlungen über Eingriffe in das Zeremoniell verzichtet. In Anbetracht dieser Sachverhalte ist es wohl nicht zu hoch gegriffen, wenn man auch einen Zusammenhang zwischen dem propagandistischen Hintergrund der Krönung Franz II. und den Romantisierungstendenzen unterstellt, die sich an die Wahrnehmung seiner Person in der Öffentlichkeit knüpfen konnten. Die Ausprägungen vorromantischer Denkmuster, die sich in Cromes Äußerungen über die Krönung Franz II. nachweisen lassen, sind auf einen Zusammenhang bezogen, der zwischen der propagandistisch inszenierten 50 11

Politisches Journal. Juli 1792. S. 796, Karl Friedrich Häberlin: Anhang zu seiner pragmatischen Geschichte der Wahlcapitulation Kaiser Leopold II. welcher die Verhandlungen über die Capitulation Kaiser Franz II. enthält. Leipzig 1793, S, 14

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Thronbesteigung Franz II. und dem starken Interesse des späten 18. Jahrhunderts an der Zeit und der Person des Kaisers Maximilian I. besteht. Der entscheidende Impuls zu dieser Maximilianrezeption geht von Herder aus, der 1769 in den Kritischen Wäldern das Zeitalter Maximilians für den Mittelpunkt aller Geschichte hinter den Römern, fUr die Basis aller neuem Europäischen Verfassung, und für einen Raum [hält,} der durch alle Länder Europens hinüber der vortreflichste zu der besten historischen Bearbeitung seyn müßte. Von hieraus fängt sich alles an, Staats- Litteratur- Religionsverändemng - eine neue Geburt des menschlichen Geistes durch ganz Europa.52

In den Jahren 1782/1783 erschien dann Dietrich Hermann Hegewischs Geschichte der Regierung Kaiser Maximilians des Ersten*3 und im Jahr 1788 eine Uebersicht der deutschen Kulturgeschichte bis zu Maximilian 7.34 von demselben Verfasser. Noch im gleichen Jahr gab Ernst Ludwig Posselt den zweiten Band von Hektor Wilhelm von Günderrodes Sämmtliche Werke heraus, der eine ausführliche Biographie des Kaisers enthielt.55 Bereits 1787 war der vierte Teil von Michael Ignaz Schmidts Geschichte der Deutschen erschienen, der die Regierungszeit Maximilian I. enthielt.*6 Es ist bemerkenswert, daß das seit 1782 verstärkt nachweisbare historische Interesse an Maximilian I, gleichzeitig mit verschiedenen Untersuchungen über den Nationalcharakter der Deutschen einsetzte. Alle drei genannten MaximilianBiographen, Hegewisch, von Günderrode und Schmidt, verknüpften ihre reichsgeschichtlichen Studien mit Fragestellungen kultureller und nationaler Identität und diskutierten diese in unmittelbarem Zusammenhang mit ihren Maximilianstudien. Schmidt, der bald nach dem Erscheinen der ersten Bände seiner Geschichte der Deutschen zur Vollendung seines monumentalen Geschkhtswerkes aus seiner Stellung in Würzburg nach Wien berufen wurde, dürfte als Erzieher des jungen Thronfolgers im wesentlichen für das Geschichtsbild des späteren Kaisers Franz II,, der nicht bei seinem Vater in Florenz, sondern bei seinem Onkel Joseph II. in Wien erzogen wurde, verantwortlich zeichnen.

" Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder. Drittes Wäldchen. Über die Reichsgeschichte. Ein historischer Spaziergang. In: Herders Werke in fünf Banden. Berün und Weimar 1978, Bd, 2. S. 79-88, hier S. 88, 5J Dietrich Hermann Hegewisch: Geschichte der Regierung Kaiser Maximilians des Ersten, Hamburg und Kiel 1782. '" Dietrich Hermann Hegewisch; Allgemeine Uebersicht der deutschen Kulturgeschichte bis zu Maximilian dem Ersten, Ein Anhang zur Geschichte dieses Kaisers. Hamburg 1788. : : '' Ernst Ludwig Posselt (Hg): Hektor Wilhelm von Günderrode genannt von Kellner, Sämmtliche Werke. Leipzig 1788. Bd. 2. Auf Maximilian beziehen sich die Abschnitte: 'Nationalcharakter von den Zeiten Maximilians I. bis auf den westphälischen Frieden,' (S.41-49) und 'Maximilian L' (S. 484-527). 56 Michael Ignaz Schmidt: Geschichte der Deutschen, Vierter Theil. Vom Wenzeslaus bis auf Karin den Fünften. Ulm 1787.

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Dem Interesse der Historiker am Zeitalter Maximilians entspricht eine zunehmende künstlerische und literarische Aufmerksamkeit für die Umbruchzeit zwischen Mittelalter und früher Neuzeit. Im lahr 1775 erschien eine aufwendige Auflage des Weißkunig?1 Goethes Götz von Berlichingen agierte als Gegenspieler Maximilians, Schillers Räuber gingen in der von dem Mannheimer Theaterintendanten von Dalberg historisierten und in die Regierungszeit Maximilians zurückversetzten Version über die Bühne, und Wackenroder und Tieck begründeten mit der literarischen Entdeckung des altfränkischen und reichsstädtischen Nürnberg der Dürerzett eine wirkmächtige Tradition, die noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein von Bedeutung sein sollte,59 wie sich anhand von Achirn von Arnims Kronen + . ^ -Λ ^7··" /ί t/·» t . , ~ ^, Λ ...

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