Die Frühe Neuzeit als Epoche 9783110650839, 9783486590876

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich in der Geschichtswissenschaft "Frühe Neuzeit" als Epochenb

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Inhalt
Die Frühe Neuzeit als Epoche
Teil 1: Anfang und Ende der Frühen Neuzeit
Der Ort der Kunst in der Frühen Neuzeit. Wissenschaftsgeschichtliches zum Beginn der Frühen Neuzeit in der Kunstgeschichte sowie Anmerkungen zum kunsttheoretischen Diskurs nördlich der Alpen im 15. Jahrhundert
Ludwig XIV. und Kaiser Leopold I. als Herrscher. Mythos oder Wirklichkeit des absoluten Fürstentums?
Das deutsche Bürgertum in der Umbruchszeit 1750–1850. Überlegungen zur Epochenzäsur 1800 aus der Sicht der neueren Bürgertumsgeschichte
Teil 2: Management, Kommunikation, Praxis: Erscheinungsformen des Wissens in der Frühen Neuzeit
Gelehrtes Wissensmanagement in der Frühen Neuzeit
Religiöses Wissen. Wissenschaft und die Kommunikation mit Gott
Abgründe des Wissens. Über einige Voraussetzungen für die Entstehung der Geschichte als praktischer Wissenschaft
Teil 3: „Frühe Neuzeit“ als eine „importierte“ Epochensignatur in der Musik-, Literatur- und Kunstgeschichte
Zeit, Neuzeit, frühe Neuzeit. Musikhistorische Schwierigkeiten im Umgang mit einer Signatur
Makroepoche der Mikroepochen. ‚Frühe Neuzeit‘ in der Deutungskonkurrenz literaturwissenschaftlicher Epochenbegriffe
Argument – Kunst – Affekt. Bildverständnisse einer Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit
Teil 4: Frühe Neuzeit als Epoche für Religion und Forschung: Vorstellungen des Umbruchs
Unsichtbare Grenzen. Noch einmal zum reformatorischen Gewissensbegriff und dessen Deutung als Signatur der Neuzeit
Katholische Konfessionalisierung – ein Epochenphänomen der Frühneuzeit zwischen Spätmittelalter und Aufklärung
Liturgie und Zeitvorstellungen im Genf des 16. bis 18. Jahrhunderts
Teil 5: Lebensformen und Raumverständnis in der Frühen Neuzeit
Gibt es eine typisch frühneuzeitliche Raumwahrnehmung?
Mediterrane Diasporas. Plurale Loyalitäten an der Schnittstelle von „Nationen“
Teil 6: Annäherungen an das Politische in der Frühen Neuzeit: Diskurse, Theorien, Praktiken
Vorstellungen von Herrschaft im 16. Jahrhundert. Grundzüge europäischer politischer Kommunikation
Fakten und Normen. Frühneuzeitliche Reaktionen auf die Res durae des Politischen
Akzeptanzorientierte Herrschaft. Überlegungen zur politischen Kultur der Frühen Neuzeit
Teil 7: Die Wirtschaft der Frühen Neuzeit und die Frage der Periodisierung
Die Frühe Neuzeit als wirtschaftshistorische Epoche. Fluktuationen relativer Preise 1450–1850
Mikrohistorie und Periodisierung. Geschichte eines Desinteresses?
Teil 8: Die Frühe Neuzeit als Epoche in der außereuropäischen Geschichte
Pre-colonial oder early modern? Das Problem der Zeitzäsuren in der indischen Geschichte
Atlantische Geschichte und der Begriff der Frühen Neuzeit
Frühe Neuzeit und Frühmoderne als Konzepte der ostasiatischen Geschichtswissenschaft
Abkürzungen und Zeitschriftensiglen
Die Autorinnen und Autoren
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Die Frühe Neuzeit als Epoche
 9783110650839, 9783486590876

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Die Frühe Neuzeit als Epoche

HISTORISCHE ZEITSCHRIFT Beihefte (Neue Folge) Herausgegeben von Lothar Gall Band 49

R. Oldenbourg Verlag München 2009

Helmut Neuhaus (Hrsg.)

Die Frühe Neuzeit als Epoche

R. Oldenbourg Verlag München 2009

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2009 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Satz: Typodata GmbH, München Druck und Bindung: Memminger MedienCentrum, Memmingen ISBN: 978-3-486-59087-6

Inhalt Die Frühe Neuzeit als Epoche. Von Helmut Neuhaus . . . . . . . . . . . . . .

1

Teil 1: Anfang und Ende der Frühen Neuzeit Der Ort der Kunst in der Frühen Neuzeit. Wissenschaftsgeschichtliches zum Beginn der Frühen Neuzeit in der Kunstgeschichte sowie Anmerkungen zum kunsttheoretischen Diskurs nördlich der Alpen im 15. Jahrhundert. Von Christian Freigang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Ludwig XIV. und Kaiser Leopold I. als Herrscher. Mythos oder Wirklichkeit des absoluten Fürstentums? Von Olivier Chaline . . . . . .

35

Das deutsche Bürgertum in der Umbruchszeit 1750–1850. Überlegungen zur Epochenzäsur 1800 aus der Sicht der neueren Bürgertumsgeschichte. Von Hans-Werner Hahn . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Teil 2: Management, Kommunikation, Praxis: Erscheinungsformen des Wissens in der Frühen Neuzeit Gelehrtes Wissensmanagement in der Frühen Neuzeit. Von Helmut Zedelmaier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

Religiöses Wissen. Wissenschaft und die Kommunikation mit Gott 1650–1750. Von Martin Gierl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Abgründe des Wissens. Über einige Voraussetzungen für die Entstehung der Geschichte als praktischer Wissenschaft. Von Merio Scattola . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

107

Teil 3: „Frühe Neuzeit“ als eine „importierte“ Epochensignatur in der Musik-, Literatur- und Kunstgeschichte Zeit, Neuzeit, frühe Neuzeit. Musikhistorische Schwierigkeiten im Umgang mit einer Signatur. Von Laurenz Lütteken . . . . . . . . . . . . . . .

125

Makroepoche der Mikroepochen. ‚Frühe Neuzeit‘ in der Deutungskonkurrenz literaturwissenschaftlicher Epochenbegriffe. Von Sandra Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

143

Argument – Kunst – Affekt. Bildverständnisse einer Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit. Von Ulrich Heinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165

VI

Inhalt

Teil 4: Frühe Neuzeit als Epoche für Religion und Forschung: Vorstellungen des Umbruchs Unsichtbare Grenzen. Noch einmal zum reformatorischen Gewissensbegriff und dessen Deutung als Signatur der Neuzeit. Von Philippe Büttgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

237

Katholische Konfessionalisierung – ein Epochenphänomen der Frühneuzeit zwischen Spätmittelalter und Aufklärung. Von Andreas Holzem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

251

Liturgie und Zeitvorstellungen im Genf des 16. bis 18. Jahrhunderts. Von Christian Grosse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

291

Teil 5: Lebensformen und Raumverständnis in der Frühen Neuzeit Gibt es eine typisch frühneuzeitliche Raumwahrnehmung? Von Axel Gotthard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

307

Mediterrane Diasporas. Plurale Loyalitäten an der Schnittstelle von „Nationen“. Von Desanka Schwara . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

325

Teil 6: Annäherungen an das Politische in der Frühen Neuzeit: Diskurse, Theorien, Praktiken Vorstellungen von Herrschaft im 16. Jahrhundert. Grundzüge europäischer politischer Kommunikation. Von Luise Schorn-Schütte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

347

Fakten und Normen. Frühneuzeitliche Reaktionen auf die Res durae des Politischen. Von Thomas Nicklas . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

377

Akzeptanzorientierte Herrschaft. Überlegungen zur politischen Kultur der Frühen Neuzeit. Von Stefan Brakensiek . . . . . . . . . . . . . . . .

395

Teil 7: Die Wirtschaft der Frühen Neuzeit und die Frage der Periodisierung Die Frühe Neuzeit als wirtschaftshistorische Epoche. Fluktuationen relativer Preise 1450–1850. Von Ulrich Pfister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

409

Mikrohistorie und Periodisierung. Geschichte eines Desinteresses? Von Jürgen Schlumbohm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

435

Inhalt

VII

Teil 8: Die Frühe Neuzeit als Epoche in der außereuropäischen Geschichte Pre-colonial oder early modern? Das Problem der Zeitzäsuren in der indischen Geschichte. Von Monica Juneja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

449

Atlantische Geschichte und der Begriff der Frühen Neuzeit. Von Wim Klooster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

469

Frühe Neuzeit und Frühmoderne als Konzepte der ostasiatischen Geschichtswissenschaft. Von Reinhard Zöllner . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

479

Abkürzungen und Zeitschriftensiglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

491

Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Frühe Neuzeit als Epoche Von

Helmut Neuhaus In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich innerhalb der deutschen, österreichischen und schweizerischen Geschichtswissenschaft „Frühe Neuzeit“ allgemein als Epochenbegriff für die Zeit von um 1500 bis um 1800 durchgesetzt.1 In der periodologischen Debatte hatte dies weitreichende Einflüsse auf das Verständnis der Neuzeit insgesamt, sowohl hinsichtlich der Abgrenzung zum vorangehenden Mittelalter als auch hinsichtlich der Markierung einer Binnenzäsur, denn um 1800 ging nicht die Neuzeit zu Ende, sondern lediglich die sich von der weiteren Neuzeit des 19. und 20. Jahrhunderts, also von der späteren Neuzeit unterscheidende Frühe Neuzeit. Fragen nach dem Noch-Frühneuzeitlichen oder Schon-Spätneuzeitlichen haben die Diskussionen ebenso beflügelt wie Fragen nach dem Noch-Mittelalterlichen und Schon-Frühneuzeitlichen, nach dem Beginn der Neuzeit2, was die vagen Angaben „um 1500“ und „um 1800“ in Zeiträume wie 1450 bis 1550 und 1750 bis 1850 konkretisierte. Bemerkenswerterweise verfestigte sich dabei „Frühe Neuzeit“ als Epochenbegriff in dem Maße, in dem die herkömmliche, auf des Hallenser Historikers und Geographen Christoph Cellarius „Historia Universalis“ zurückgehende Epochengrenze zwischen Mittelalter und Neuzeit in Frage gestellt wurde und sich mit der erstmals 1974 erscheinenden „Zeitschrift für Historische Forschung“ ein Periodikum durchsetzte, das sich bis 1976 – für drei Bände – als Halbjahresschrift, seitdem als „Vierteljah1 Ilja Mieck, Periodisierung und Terminologie der Frühen Neuzeit. Zur Diskussion der letzten beiden Jahrzehnte, in: GWU 19, 1968, 357–373; Johannes Kunisch, Über den Epochencharakter der frühen Neuzeit, in: Eberhard Jäckel/Ernst Weymar (Hrsg.), Die Funktion der Geschichte in unserer Zeit. Festschrift für Karl Dietrich Erdmann. Stuttgart 1975, 150–161; siehe auch Michael Kißener, Monstro simile? Anmerkungen zur Rezeption des frühneuzeitlichen Reiches und seiner Verfassung in der Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Konrad Amann/Ludolf Pelizaeus/Annette Reese/Helmut Schmahl (Hrsg.), Bayern und Europa. Festschrift für Peter Claus Hartmann zum 65. Geburtstag. Frankfurt am Main [u. a.] 2005, 321–337, hier 333 f.; grundlegend Winfried Schulze, Die Frühe Neuzeit zwischen individueller Erfahrung und strukturgeschichtlichem Zugriff: Erfahrungen, Defizite, Konzepte, in: Helmut Neuhaus/Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas. Festschrift für Johannes Kunisch zur Vollendung seines 65. Lebensjahres, dargebracht von Schülern, Freunden und Kollegen. (Historische Forschungen, Bd. 73.) Berlin 2002, 71–90; zum Ende der Frühen Neuzeit speziell: Werner Buchholz (Hrsg.), Das Ende der Frühen Neuzeit im „Dritten Deutschland“. Bayern, Hannover, Mecklenburg, Pommern, das Rheinland und Sachsen im Vergleich. (HZ, Beihefte, NF., Bd. 37.) München 2003. 2 Stephan Skalweit, Der Beginn der Neuzeit. Epochengrenze und Epochenbegriff. (Erträge der Forschung, Bd. 178.) Darmstadt 1982.

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Helmut Neuhaus

resschrift zur Erforschung des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit“ versteht.3 Demgegenüber zeigt sich die Epochenzäsur „um 1800“ weitaus stabiler, auch wenn das Verständnis des Jahrhunderts von 1750 bis 1850 als Sattelzeit eine neue periodologische Debatte eröffnet hat. Mit der Durchsetzung des Epochenbegriffs „Frühe Neuzeit“, die mit der sukzessiven – alle Universitäten mit Historischen Seminaren erfassenden – Errichtung von Lehrstühlen und Professuren für Frühe Neuzeit einherging und diese Epoche in zahllosen staatlichen und universitären Studien- und Prüfungsordnungen für das Gesamtfach „Geschichte“ verankerte4, setzte zugleich eine Debatte um die Binnengliederung der Jahrhunderte von Luther bis Napoleon ein, die beide ja nicht nur am Anfang, sondern jeweils auch am Ende einer Epoche standen. Traditionelle, in Geschichtsbüchern fest verankerte Epochenbegriffe wie „Reformation“, „Gegenreformation“ oder „Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges“ wurden mit dem Konzept „Konfessionelles Zeitalter“5 ebenso in Frage gestellt, wie seit den 1990er Jahren „Absolutismus“ und – früher schon – „Aufgeklärter Absolutismus“ mehr und mehr problematisiert wurden.6 Bemerkenswerterweise hat Heinz Duchhardt für die 4. Auflage den ursprünglichen Titel seines zuerst 1989 erschienenen Buches „Das Zeitalter des Absolutismus“ in „Barock und Aufklärung“ verändert.7 Zum Erfolg des Epochenbegriffs „Frühe Neuzeit“ gehört, daß er auch in zahlreichen historischen Teildisziplinen Verbreitung fand, in denen sich für 3

Zeitschrift für Historische Forschung (ZHF) 1 ff., 1974 ff. Dem trägt im Rahmen seiner „Lehrbuch“-Reihe auch der R. Oldenbourg Verlag, München, Rechnung, wenn er als ersten Band herausbrachte: Anette Völker-Rasor (Hrsg.), Frühe Neuzeit. Mit einem Geleitwort v. Winfried Schulze. (Oldenbourg Geschichte Lehrbuch.) München 2000. 5 Vgl. hier nur Heinz Schilling, „Konfessionsbildung“ und „Konfessionalisierung“ – ein Literaturbericht, in: GWU 42, 1991, 447–463, 779–794; seine einschlägigen Arbeiten jetzt in: Heinz Schilling, Ausgewählte Abhandlungen zur europäischen Reformations- und Konfessionsgeschichte. Hrsg. v. Luise Schorn-Schütte, Olaf Mörke. (Historische Forschungen, Bd. 75.) Berlin 2002, oder die Studien von Wolfgang Reinhard zum „Konfessionellen Zeitalter“, jetzt in: Wolfgang Reinhard, Ausgewählte Abhandlungen. (Historische Forschungen, Bd. 60.) Berlin 1997, 75–147. 6 Vgl. – ausgehend von Nicholas Henshalls 1992 erschienenem Buch „The Myth of Absolutism“ – hier lediglich Ronald G. Asch/Heinz Duchhardt (Hrsg.), Der Absolutismus – ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in West- und Mitteleuropa (ca. 1550–1700). Köln/Weimar/Wien 1996; ferner Helmut Reinalter/Harm Klueting (Hrsg.), Der aufgeklärte Absolutismus im europäischen Vergleich. Wien/Köln/Weimar 2002; Peter Baumgart, Absolutismus ein Mythos? Aufgeklärter Absolutismus ein Widerspruch? Reflexionen zu einem kontroversen Thema gegenwärtiger Frühneuzeitforschung, in: ZHF 27, 2000, 573–589; Heinz Duchhardt, Die Absolutismusdebatte – eine Antipolemik, in: HZ 275, 2002, 323–331. 7 Heinz Duchhardt, Barock und Aufklärung. 4., neu bearb. u. erw. Aufl. des Bandes „Das Zeitalter des Absolutismus“. (Oldenbourg Grundriß der Geschichte, Bd. 11.) München 2007. 4

Die Frühe Neuzeit als Epoche

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den Zeitraum vom Ende des 15. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts sehr unterschiedliche Bezeichnungen eingebürgert hatten. Dies gilt zum Beispiel für die Kunstgeschichte mit der Abfolge von „Gotik“, „Renaissance“, „Barock“, „Rokoko“ und „Klassizismus“, ohne daß einzelne Begriffe mit dem Anfang und Ende der Frühen Neuzeit deckungsgleich wären. Und dies gilt mutatis mutandis für die Literatur-, Musik-, Wirtschafts-, Kirchen-, Rechts-, Philosophie-, Theologie-, Naturwissenschaften- oder Technikgeschichte. Die periodologischen Debatten verschiedener historischer Teildisziplinen blieben – wie vorliegender Band zeigen soll – für ihre Epochengliederung ebensowenig bedeutungslos wie für die allgemeine Geschichte infolge der Kontrastierung verschiedener Periodisierungen. Läßt sich bei allen Differenzierungen insgesamt von einem Durchsetzungs- und Beharrungsvermögen des Epochenbegriffs „Frühe Neuzeit“ sprechen, so löst er in einer Zeit, in der die Globalisierung die Welt und folglich auch die Weltgeschichte stärker ins Blickfeld rückt, aber auch die Frage aus, ob „Frühe Neuzeit“ als eine zunächst auf Mitteleuropa bezogene Epoche auch in den Geschichten anderer Weltgegenden als Epochenbezeichnung brauchbar ist. Nachdem an anderer Stelle bereits nach „Frühen Neuzeiten“ in der jüdischen, türkischen, arabischen und chinesischen Geschichte gefragt worden ist8, sind auch die Geschichten des indischen, atlantischen und japanischen Raumes einzubeziehen. Die in diesem Band versammelten Aufsätze gehen auf Vorträge zurück, die während der 6. Tagung der Arbeitsgemeinschaft „Frühe Neuzeit“ im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands vom 15. bis 17. September 2005 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg gehalten und diskutiert wurden. Während die drei einleitenden Beiträge unter dem Sektionstitel „Anfang und Ende der Frühen Neuzeit“ aus unterschiedlichen fachlichen und räumlichen Blickwinkeln die Epoche thematisieren, wenden sich die drei abschließenden der „Frühen Neuzeit als Epoche in der außereuropäischen Geschichte“ zu. Im übrigen wird „Frühe Neuzeit“ in wissens-, literatur- und kunst-, konfessions-, raum-, politik- und wirtschaftsgeschichtlichen Kontexten thematisiert. Daß dieser Band als Tagungsdokumentation zustande gekommen ist, ist in erster Linie den Autorinnen und Autoren zu danken, die ihre Referate im wesentlichen bis zur Jahreswende 2007/08 zu Aufsätzen ausgearbeitet haben. Aber mein Dank gilt auch den Sektionsleiterinnen und Sektionsleitern in Erlangen, die maßgeblich zum Gelingen der Tagung beigetragen haben: Anton Schindling (Tübingen), Markus Völkel (Rostock), Dirk Niefanger (Erlangen), Christophe Duhamelle (Göttingen), Claudia Ulbrich (Berlin), 8 Renate Dürr/Gisela Engel/Johannes Süßmann (Hrsg.), Eigene und fremde Frühe Neuzeiten. Genese und Geltung eines Epochenbegriffs. (HZ, Beihefte, NF., Bd. 35.) München 2003.

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Helmut Neuhaus

Gabriele Haug-Moritz (Graz), Thomas M. Safley (University of Pennsylvania), Reinhard Zöllner (Bonn) – in der Reihenfolge der Sektionen. Zu danken habe ich den Geldgebern, die die Erlanger Tagung überhaupt erst möglich gemacht haben, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, der Dr. Alfred Vinzl-Stiftung an der Universität Erlangen-Nürnberg, dem Bezirk Mittelfranken, dem Förderverein Geschichtswissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg e.V., der Stadt Erlangen, der Sparkasse Erlangen und der Firma Siemens, Erlangen. Ferner gilt mein Dank meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für vielfältige Unterstützung und nicht zuletzt Lothar Gall für die Aufnahme des Bandes in die Reihe der Beihefte der Historischen Zeitschrift.

Teil 1 Anfang und Ende der Frühen Neuzeit

Der Ort der Kunst in der Frühen Neuzeit Wissenschaftsgeschichtliches zum Beginn der Frühen Neuzeit in der Kunstgeschichte sowie Anmerkungen zum kunsttheoretischen Diskurs nördlich der Alpen im 15. Jahrhundert Von

Christian Freigang I. Die „Frühe Neuzeit“ in der Kunstgeschichte heute In der kunstgeschichtlichen Praxis gehört die chronologische Ordnungseinheit „Frühe Neuzeit“ zu lange etablierten und weithin verwendeten Parametern. Sie beruht – so ist die häufig pragmatische Verwendung als Periodisierungsterminus zu verstehen – auf einem gemeinhin akzeptierten Chronologieraster der europäischen Kunstgeschichte.1 Mehr noch: in einem populären, vielfach in Lehre und Überblickswerken vermittelten Verständnis stellt die Geschichte der Kunst geradezu eine Leitkategorie dar, um mit der „Frühen Neuzeit“ einen grundsätzlichen Epochenbruch zu definieren. Dies gilt selbst dann, wenn man sich der prinzipiellen Probleme von Epochenbildung durchaus bewußt ist.2 Der Beginn der Neuzeit fällt in diesem Verständnis zumeist 1

Beliebig herausgegriffen seien einige jüngere Werke zitiert: Sebastian Schütze, Kunst und ihre Betrachter in der frühen Neuzeit. Ansichten, Standpunkte, Perspektiven. Berlin 2005; Anne-Marie Bonnet, Frauen in der Frühen Neuzeit. Lebensentwürfe in Kunst und Literatur. Köln [u. a.] 2004; Jürgen Müller, Imitatio artis. Formen künstlerischer Aneignung in der Frühen Neuzeit. München 2004; Simone Roggendorf, (En)gendered. frühneuzeitlicher Kunstdiskurs und weibliche Porträtkultur nördlich der Alpen. Marburg 2004; Hartmut Krohm, Malerei und Skulptur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit in Norddeutschland. Künstlerischer Austausch im Kulturraum zwischen Nordsee und Baltikum. Beiträge des Internationalen Kolloquiums „Malerei und Skulptur des Späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit in Norddeutschland – Künstlerischer Austausch im Kulturraum zwischen Nordsee und Baltikum“ (Hildesheim, 16.–19. Oktober 1996). Berlin 2004; Karl Vocelka, Die frühneuzeitliche Residenz (16. bis 18. Jahrhundert). Wien [u. a.] 2003; Thomas Scheliga, „… zur zierde und schmuck angelegt…“ Beiträge zur frühneuzeitlichen Garten- und Schloßbaukunst. Marburg 1996. 2 Einführend dazu Renate Dürr/Gisela Engel/Johannes Süßmann (Hrsg.), Eigene und fremde Frühe Neuzeiten. Genese und Geltung eines Epochenbegriffs. (HZ, Beihefte, NF., Bd. 35.) München 2003. Zur Epochenproblematik in der Kunstgeschichte Götz Pochat, Der Epochenbegriff und die Kunstgeschichte, in: Lorenz Dittmann (Hrsg.), Kategorien und Methoden der deutschen Kunstgeschichte 1900–1930. Stuttgart 1985, 129– 168.

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Christian Freigang

zusammen mit jener Epoche, die auch als „Renaissance“ bezeichnet wird und die schon über ihren Namen die Vorstellung eines grundlegenden Neubeginns impliziert. Was sich seit Anfang des 15. Jahrhunderts in Italien, im Verlaufe des 15. Jahrhunderts auch in Frankreich sowie sodann seit etwa 1500 in Deutschland und anderen Ländern an Veränderungen in den Bildenden Künsten und der Architektur konstatieren läßt, kann als vielschichtiger und deswegen grundlegender Wandel beschrieben werden: Ein neues Ideal einer nicht mehr primär auf transzendente Gehalte, sondern auf den Menschen als Individuum gerichteten Weltsicht führe dazu, daß die „realistische“ Nachahmung des Naturvorbildes die spätmittelalterliche Formenstilisierung ablöse. In enger Verbindung damit entstehe mit der Erfindung der mathematisch kohärenten Zentralperspektive das entscheidende Instrument, um einen homogen organisierten Scheinraum im Bild zu kreieren. Prägnant könne für diese Entwicklung eine Stadt, Florenz, als der entscheidende Impulsgeber benannt werden. Drei der hier zu Anfang des 15. Jahrhunderts arbeitenden Künstler hätten die Grundgattungen der Kunst entscheidend verändert. Filippo Brunelleschi, der Architekt, habe eine antikisierende Baukunst entwickelt und die zentralperspektivische Bildprojektion erfunden; Masaccio habe diese als erster in monumentaler Form in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre des 15. Jahrhunderts in der Malerei angewandt. Und mit dem Namen Donatello verbinde sich ein neuer Realismus in der Skulptur. Diese Tendenzen hingen mit einer umfassenden Rezeption antikklassischer Formenideale, Bildrhetoriken und Kunsttheorien zusammen: Die Ordnung und Qualität der Bilder werde nunmehr insofern eindeutig bewertbar, als sie auf antike Muster der Rhetorik – insbesondere die Forderung kohärenter Narration, persuasiver Wirkabsicht und gestalterischer Angemessenheit – bezogen werde. In der Architektur führe die Neuentdeckung der klassischen Architektursyntax, insbesondere der vitruvianischen Säulenordnungen dazu, Bauten mit einem universell verständlichen semantischen Potential zu versehen. Die hier in den Bildkünsten wie in der Architektur benannten neuen Gestaltungs- und Bewertungsprinzipien wirkten als zentrale Paradigmen der neuzeitlichen Kunstgeschichte, bis sie in der Moderne grundsätzlich in Frage gestellt würden. Weitere Veränderungen grundsätzlicher und langlebiger Art würden sich damit überlagern: Dazu gehöre insbesondere die Genese neuer Bildgattungen, insbesondere des Portraits, der Landschaft, des Genrebildes und des Stillebens. Umgekehrt würden andere Gattungen an Bedeutung verlieren, insbesondere die Glasmalerei, die Bauskulptur und die Buchmalerei. Schließlich seien weitreichende soziologische Transformationen zu verzeichnen. Nunmehr erst beginne sich Kunst als autonomes System zu etablieren und zunehmend zu institutionalisieren. Im selben Maße, in dem der mittelalterliche Handwerker zum geachteten Künstler mutiere, gewännen auch seine Werke ästhetischen Eigenwert, unabhängig von deren vormaligen kultischen und/oder pragmatischen Funktionen. Par-

Der Ort der Kunst in der Frühen Neuzeit

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allel dazu sei eine Medienrevolution zu konstatieren, denn mit der Erfindung der Druckgraphik und des Buchdrucks würden Bilder zum ersten Mal massenweise rezipierbar. – In der Zusammenschau fügen sich derartige Transformationen zu einem grundsätzlichen, epochalen Wandel in der bildlichen Repräsentation von Welt.3 Soweit die Topoi des Handbuchwissens; im folgenden wird es in einem ersten Teil darum gehen, die Entwicklung dieser Epochenauffassung zu referieren und sie kritisch auf ihre heutige Fruchtbarkeit zu befragen. In einem zweiten Teil wird versucht, Argumente für eine bereits im 15. Jahrhundert auch in den Regionen nördlich der Alpen einsetzende Theoretisierung der Kunst darzulegen. Damit verbindet sich der Anspruch, einen Periodisierungsbegriff „Frühe Neuzeit“ in der Kunstgeschichte nicht nur über eine Transformation bildnerischer Gestaltungsidiome, sondern über deren zeitgenössische Wahrnehmung zu begründen.

II. Entstehung und Transformationen des RenaissanceBegriffs in der Kunstgeschichte Unterstützt wird die populäre Sichtweise der Renaissance nicht zuletzt dadurch, daß sie einer bereits zeitgenössischen Einschätzung in Italien im 14. und 15. Jahrhundert entspricht. Bekanntlich wird bei zahlreichen Autoren die Gegenwart als epochaler Bruch mit der unmittelbaren Vergangenheit erlebt.4 Die markante Absetzung einer mittelalterlichen von einer neuzeitlichen Kunst und Kultur gehört schon lange vor dem Einsetzen einer wissenschaftlichen Kunsthistoriographie zu den Topoi der Dichtung und Geschichtsschreibung. Die Wiederaufnahme der antiken Tradition von Ordnung und Zivilisiertheit mit der Überwindung des angeblich regellosen Mittelalters gleichzusetzen, ist bereits bei Boccaccio und Petrarca formuliert, seit dem 15. Jahrhundert findet der Topos auch Eingang in die Künstlerpanegyrik. Insbesondere wird die Idee der Wiedererweckung der Künste in Giorgio Vasaris Künstlerviten zur Grundlage einer zyklisch verlaufenden und zu bewertenden Kunstentwicklung. Die ehemalige künstlerische Größe Roms,

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Vgl. derartiges z. B. bei Ernst H. Gombrich, Die Geschichte der Kunst. Berlin 1996, 223–245 und passim; Karl M. Swoboda, Die Frührenaissance. (Ders., Geschichte der Bildenden Kunst in 8 Bänden, Bd. 4.) Wien/München 1979, 104–106; Manfred Wundram, Kleine Kunstgeschichte des Abendlandes. Stuttgart 2000, 157–186; ders., Renaissance. (Kunst-Epochen, Bd. 6.) Stuttgart 2004: „… so wird man doch um 1400 den entscheidenden Einschnitt zwischen Mittelalter und Neuzeit ansetzen dürfen. Zentrum und Ausgangspunkt ist das republikanische Florenz, …“ (13). 4 Hans Ulrich Gumbrecht, Art. „Modern, Modernität, Moderne“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 4. 2. Aufl. Stuttgart 2004, 93–131, hier 98 f.

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Christian Freigang

basierend vor allem auf einer perfekten Beherrschung der Grundlage aller Künste, des disegno, sei durch die spätantiken Barbareneinfälle zerstört worden. Qualitätlose Spolienverwendung und Plumpheit des Stils prägten die Kunst bis zur Epoche Karls des Großen, bevor eine zunächst zaghafte Verbesserung einsetze. Weil aber immer noch antike Ruinen präsent gewesen seien, habe seit Cimabue eine schrittweise „Wiedergeburt“ (rinascita) der Künste einsetzen können. Die entscheidende Hinwendung zu regelgerechten Proportionen, perfekt beherrschter Perspektive und Lebendigkeit der Darstellung habe, eingeleitet von Brunelleschi, Masaccio und Donatello, in Florenz zu Anfang des 15. Jahrhunderts stattgefunden, um schließlich in einer letzten Periode unter Raffael und Michelangelo der Vollendung zugeführt zu werden. Dieses Urteil schließt eine radikale Abwertung der mittelalterlichen Gotik nördlich der Alpen ein. Trotz der eindeutigen lokalpatriotischen Perspektive Vasaris, aber dank der Autorität und Verbreitung seiner Künstlerviten bleibt auch die Frühgeschichte der wissenschaftlichen Kunsthistoriographie von derartigen Sichtweisen geprägt. In seiner um 1800 erscheinenden großen „Geschichte der zeichnenden Künste“ folgt Johannes Dominicus Fiorillo, was Italien angeht, in vieler Hinsicht dem Modell Vasaris.5 In Anlehnung an die Klimatheorie Winckelmanns verknüpft Fiorillo diese Blüte der Künste zudem mit gesellschaftlichen Faktoren: politische Ruhe und Wohlstand sowie das Mäzenatentum der Fürsten, wie sie in jener Zeit in Florenz geherrscht hätten, seien die Voraussetzung dafür gewesen, daß eben hier Masaccio seine Neuerungen habe einführen können.6 Als erster Kunsthistoriograph bemüht sich Fiorillo aber auch, die deutsche und französische Kunst des 15. Jahrhunderts positiv zu würdigen. Eines ihrer Hauptcharakteristika, gerade in Absetzung von Italien, sei ihre religiöse Fundierung gewesen. Deswegen sei die Kunst nördlich der Alpen erst ab etwa 1500 durch den Einfluß Italiens „veredelt“ worden.7 Die Grundlage der Renaissancekunst gibt bereits bei Fiorillo das richtige Studium der Antiken und der Natur ab, was ausdrücklich die korrekte Anwendung der Zentralperspektive ab dem frühen 15. Jahrhundert

5 Johann Dominik Fiorillo, Sämtliche Schriften. Bd. 1: Geschichte der zeichnenden Künste von ihrer Wiederauflebung bis auf die neuesten Zeiten. Göttingen 1798, Ndr. Hildesheim/Zürich/New York 1997, 70. 6 Ebd. 276 f.; Claudia Schrapel, Johann Dominicus Fiorillo. Grundlagen zur wissenschaftsgeschichtlichen Beurteilung der „Geschichte der zeichnenden Künste in Deutschland und den vereinigten Niederlanden“. (Studien zur Kunstgeschichte, Bd. 155.) Hildesheim/Zürich/New York 2004, 254–256. 7 Fiorillo, Schriften (wie Anm. 5), Bd. 7: Geschichte der zeichnenden Künste in Deutschland und den vereinigten Niederlanden, T. 2. Hannover 1817, Ndr. Hildesheim/Zürich/ New York 1997, 275. Außerdem vergleichbar Fiorillo, Schriften (wie Anm. 5), Bd. 3. Göttingen 1805, Ndr. Hildesheim/Zürich/New York 1997, 101 f., Bd. 10. Göttingen 1803, Ndr. Hildesheim/Zürich/New York 1997, 81 f.; Schrapel, Fiorillo (wie Anm. 6), 250–256.

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einschließt.8 Durchgehend überlagern sich in Fiorillos Kunstgeschichte normativ-ästhetische Bewertungen mit dem Anspruch einer historischen, nach Nationen differenzierenden Entwicklungsdarstellung. Dies verbindet seine Kunstgeschichte mit dem Grundproblem des zeitgenössischen romantischen Kunstdiskurses, nämlich aus dem Bewußtsein der Geschichtlichkeit der Kunst einen neuen ästhetischen – und religiös fundierten – Kanon zu formulieren. In diesem Zusammenhang werden insbesondere die altdeutsche bzw. die italienische Malerei der Frührenaissance als Modelle erörtert, mithin von Idealität geprägte Initiumstopoi einer vorvergangenen Epoche.9 Aus der Distanz zu deren Anfängen konstituiert sich das Bewußtsein von Modernität. Fiorillo bestätigt als Kunsthistoriker das hier zugrunde gelegte Epochenmodell, nicht nur, indem er auch die zeitgenössische Kunsterneuerungsdebatte (kritisch) referiert, sondern auch, weil er die Kriterien der romantischen Historie als kunsthistorische Parameter übernimmt. Vasaris Modell der Erneuerung der Künste im Italien seiner Zeit wird nunmehr in der Rückschau zum europaweiten Beginn einer neuen Epoche in der Geschichte der Künste, einer Epoche, die als abgeschlossen gedacht und von einer „Moderne“ gefolgt wird. Die „Renaissance“ des 15. Jahrhunderts als historisches Phänomen ist hier implizit als Epochenkennzeichnung innerhalb einer „Neuzeit“ erkennbar, welche von der Gegenwart abzusetzen ist. Den folgereichsten, weil kulturgeschichtlich vielschichtig begründeten Versuch, die Renaissance, und zumal die florentinische Renaissance, als radikalen Bruch mit dem Mittelalter und den Beginn einer neuen Epoche darzustellen, unternahm bekanntlich Jacob Burckhardt mit seinem 1860 erschienenen Werk „Die Kultur der Renaissance in Italien“. Die Entdeckung der antiken Bildungskultur, der physikalisch beschreibbaren Welt und des Individuums als maßgeblicher Handlungs- und Denkinstanz sind hier als Korrelat zur idealen staatlichen Verfaßtheit der Florentiner Stadtrepublik beschrieben. Der „wunderbare florentinische Geist, scharf räsonierend und künstlerisch schaffend zugleich“, wird in der humanistisch fundierten Überwindung der Tyrannis zum „ersten modernen Staat der Welt“ überhaupt. Bezeichnenderweise ist Burckhardt einer der ersten deutschen Autoren, der die programmatische Epochenbezeichnung „Renaissance“ als Beginn der Frühen Neuzeit verwendet und den damit zusammenhängenden Paradigmenwechsel im Gegensatz zu vielen früheren Darstellungen vielschichtig und überprüfbar belegt. Burckhardt selbst hat allerdings seine kulturge-

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Fiorillo, Schriften (wie Anm. 7), Bd. 10: Ueber die Kenntniß der alten Künstler von der Perspektive und ihre Wiederauflebung in neuern Zeiten, 288–329. 9 Claudia Schrapel, Fiorillos Sicht der ‚altdeutschen‘ Kunst und ihre Interdependenzen mit der Kunst und der Kunstbetrachtung des frühen 19. Jahrhunderts, in: Antje Middeldorf Kosegarten (Hrsg.), Johann Dominicus Fiorillo. Kunstgeschichte und die romantische Bewegung um 1800. Göttingen 1997, 306–327.

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schichtliche Studie nur in Ansätzen auf eine geplante umfassende Kunstgeschichte der Renaissance beziehen können. Die 1867 erschienene „Kunst der Renaissance in Italien“ ist der Architektur gewidmet, hält sich indessen sehr damit zurück, die Gestaltungsphänomene mit kulturhistorischen Argumenten zu begründen: Die skizzenhaften Ausführungen zu Skulptur und Malerei blieben Fragmente.10 Problemlos verbinden sich die kulturgeschichtlichen Ausführungen der „Kultur der Renaissance“ aber mit den kennerschaftlich-emphatischen Kunstbeschreibungen, die Burckhardt in seinem 1855 erstmals erschienenen „Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens“ gerade auch zur Kunst der Früh- und Hochrenaissance macht.11 Realismus und Individualismus, Natur- und Antikenideal, Perspektive und Portrait, Ausdifferenzierung der Kunstgattungen und Emanzipation der Künstler sind demnach als kunsthistorische Phänomene des grundsätzlichen kulturgeschichtlichen Umschwungs am Anfang des 15. Jahrhunderts zu begreifen. Auf das grundsätzliche Erscheinungsbild der Architektur bezogen unterscheidet Burckhardt einen „organischen“ von einem „malerischen“, „abgeleiteten“ Stil. Ersteres gelte für die mittelalterliche Baukunst, deren technische Funktion sich unmittelbar als Form zeige, während für die „Seele der Renaissance“ eine „Komposition nach Verhältnissen und für das Auge“ gelte.12 Die scharfe Entgegensetzung von Mittelalter und Renaissance – bzw. implizit auch von nordalpinem Bereich und Italien – tradierte den älteren, schon bei Fiorillo virulenten Streit zwischen mittelalterlich-christlichen Romantikern und „neuzeitlich“-idealistischen Klassizisten. Damit nahm Burkhardt aber Abstand von damals aktuelleren historiographischen Sichtweisen. Hier ist an erster Stelle Carl Friedrich von Rumohrs italienische Kunstgeschichte zu nennen, in der dieser beanspruchte, „endlich die Kunstgeschichte nicht länger als ein Aggregat von Zufälligkeiten und abgerissenen Thatsachen, sondern als ein zusammenhängendes, gleichsam organisches Ganzes aufzufassen.“13 Vielfältige Stilkriterien, eine historisch relativierende Beurteilung und die Auswertung zeitgenössischer Dokumente verleihen der italienischen Kunst bei Rumohr – in expliziter Abwendung von Vasari – den Charakter eines vielfach verwobenen Kontinuums vom 8. bis zum 16. Jahrhundert. Dieses kennt zwar Momente des Fortschritts wie der Dekadenz, nicht aber grundsätzliche Epochenbrüche. Ähnlich faßte es auch Eduard Kolloff auf, 10

Jacob Burckhardt, Die Baukunst der Renaissance in Italien. Nach der Erstausgabe der „Geschichte der Renaissance in Italien“. (Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 5.) München/Basel 2000. 11 Jacob Burckhardt, Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. 2 Bde. (Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 2 u. 3.) München/Basel 2001, passim. 12 Burckhardt, Baukunst der Renaissance (wie Anm. 10), § 33. 13 Carl Friedrich von Rumohr, Italienische Forschungen, Dritter Theil. Berlin/Stettin 1831. (Sämtliche Werke, Bd. 4. Hildesheim/Zürich/New York 2003.), IV.

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der 1840 mit guten Gründen den Dualismus Mittelalter vs. Renaissance als parteiisch und simplistisch kritisierte und anstatt dessen eine „lange“ Renaissance vom 13. bis zum 16. Jahrhundert als Interims-Stil forderte. Lange vor Burckhardt verwendete Kolloff den Terminus „Renaissance“ als Epochenbezeichnung.14 Burckhardts Mentor Franz Kugler blieb in seiner 1837 erschienenen Untersuchung der europäischen Malerei zwar, was das 15. und 16. Jahrhundert anbelangt, an die Kriterien Vasaris bzw. Fiorillos angelehnt. Allerdings bedeutete dies für Kugler keineswegs einen epochalen Bruch, im Gegenteil bringe das sogenannte „dritte Stadium“ – die Frührenaissance – der bereits seit dem 13. Jahrhundert „neuerwachenden“ Kunst primär nur „das Studium, die naturgemässe Durchbildung der Form“ mit sich.15 Generell setzte sich Kugler vor allem für eine Rehabilitierung der Kunst des deutschen Mittelalters ein. In seinen ersten drei Bänden zur „Geschichte der Baukunst“ gibt er präzise Erläuterungen der technisch-konstruktiven Systeme der Architektur. Kugler begründet somit detailliert, was Burckhardt später als „organische“ Architektur bezeichnen sollte. Wenn Burckhardts Renaissancebegriff im Widerspruch zu den Auffassungen von Rumohr, Kolloff und Kugler den Epochenbruch nachdrücklich akzentuiert, so ist dies als eine späte Folge des seit einem halben Jahrhundert geführten Diskurses um Klassik bzw. Romantik zu sehen. In dessen Zusammenhang war auf literarischem, architektonischem und museologischem Gebiet die grundlegende Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Renaissance weithin anerkannt worden.16 In Verbindung mit der zyklischen Geschichtstheorie Burckhardts wird zumindest im Kontext seiner Architekturgeschichte verständlich, warum dieser mit seiner Renaissanceauffassung die grundsätzliche Absetzung zum Mittelalter historisch detailliert herausstellte: Auf die „organisch“-„romantische“ Architektur des Mittelalters mußte nunmehr die „unorganisch“-„klassische“ Baukunst folgen. Auch ist nicht zu vergessen, daß die zentralen Paradigmen Burckhardts – die Entdeckung des Menschen als Individuum und der Welt als rational begreifbares System sowie der Aufschwung einer aus religiösen Funktionszusammenhängen befreiten Kunst – als entscheidende Epochenmarkierungen auch in Philosophie und Geschichtsschreibung vor14 Eduard Kolloff, Die Entwicklung der modernen Kunst aus der antiken bis zur Epoche der Renaissance, in: Historisches Taschenbuch 11, 1840, 277–346. 15 Franz Kugler, Handbuch der Geschichte der Malerei von Constantin dem Grossen bis auf die neuere Zeit. 2 Bde. Berlin 1837, hier Bd. 1, 87. 16 Karlheinz Stierle, Renaissance. Die Entstehung eines Epochenbegriffs aus dem Geist des 19. Jahrhunderts, in: Reinhart Herzog/Reinhart Kosellek (Hrsg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. (Poetik und Hermeneutik, Bd. 12.) München 1987, 453–492; Klaus Döhmer, „In welchem Style sollen wir bauen?“. Architekturtheorie zwischen Klassizismus und Jugendstil. (Studien zur Kunst des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 36.) München 1976; Michael Brix/Monika Steinhauser, Geschichte im Dienste der Baukunst. Zur historistischen Architekturdiskussion in Deutschland, in: dies., „Geschichte allein ist zeitgemäß“. Historismus in Deutschland. Lahn-Gießen 1978, 199–310.

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formuliert waren. Sowohl bei Hegel (in der durch Hotho redigierten Ästhetik von 1835)17 sowie bei Jules Michelet18 fungiert die Renaissance als die entscheidende Stufe der „romantischen“ Periode bzw. der Emanzipation aus einem mittelalterlich-klerikalen Transzendentalismus.19 Trotz der anders akzentuierenden kunsthistorischen Darstellungen unmittelbar vor Burckhardt sollte dessen Renaissancemodell eine bis heute reichende Nachwirkung beschieden sein. Um diesen umgehend einsetzenden Erfolg zu verstehen, ist daran zu erinnern, daß sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts die „Renaissance“ auch als eine dezidiert bürgerliche, von Liberalismus und technischem Fortschritt überzeugte Idealvorstellung entwickelte, die sich bis zum sogenannten, von Nietzsche geprägten Renaissancismus als Charaktertopos des von Autoritäten unabhängigen Machtmenschen entwickelte.20 Derartige soziale und lebensphilosophische Implikationen der Renaissance konnten dem von Burckhardt dargestellten historischen Bruch zwischen Mittelalter und Neuzeit eine Dimension verleihen, die weit über eine spezialistische historiographische Fragestellung hinausging. Auch Burckhardt selbst verdankte seine idealistische Sicht auf die italienische Renaissance übrigens nicht allein neutraler Forschungsarbeit, sondern reagierte damit auch auf die sich anbahnende nationalstaatliche Einigung Italiens.21 So hat sich das – nota bene – primär kulturhistorische Modell Burckhardts auch umgehend als Muster der Kunstgeschichte etablieren können.22 Zeitgleich zu den genannten Werken Burckhardts erschien die mit ähnlichen Ar17 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. Bd. 3. (Werke in 20 Bänden, Bd. 15.) Frankfurt am Main 1970, 3. Tl., 3. Abschn., 1. Kap., 3b. Zu den Änderungen gegenüber den Vorlesungsmanuskripten s. Annemarie Gethmann-Siefert, Gestalt und Wirkung von Hegels Ästhetik, in: dies. (Hrsg.), Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, Berlin 1823. (Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen, Bd. 2.) Hamburg 1998, XV–CCXXIV, hier CLIII–CLXXVI. 18 Jules Michelet, Renaissance. (ders., Histoire de France, Vol. 7.) Paris 1855, I–CLX. 19 Vgl. auch Karlheinz Stierle, Malerei und Literatur der italienischen Renaissance in Hegels Ästhetik, in: Annemarie Gethmann-Siefert/Otto Pöggeler (Hrsg.), Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik. (Hegel-Studien, Beih. 27.) Bonn 1987, 327–340; Wallace K. Ferguson, The Renaissance in Historical Thought. Five Centuries of Interpretation. Cambridge, Mass. 1948, 168–178. 20 Delio Cantimori, Zur Geschichte des Begriffes „Renaissance“, in: August Buck (Hrsg.), Zu Begriff und Problem der Renaissance. Darmstadt 1969, 37–95 (ital. 1932); Adam Wandruszka, Der internationale Renaissancismus, in: August Buck/Cesare Vasoli (Eds.), Il Rinascimento nell’Ottocento in Italia e Germania. Die Renaissance im 19. Jahrhundert in Italien und Deutschland. Bologna/Berlin 1989, 37–44; August Buck, Burckhardt und die italienische Renaissance, in: ders. (Hrsg.), Renaissance und Renaissancismus von Jacob Burckhardt bis Thomas Mann. (Reihe der Villa Vigoni, 4.) Tübingen 1990, 5–12; Enno Rudolph (Hrsg.), Die Renaissance als erste Aufklärung. 3 Bde. Tübingen 1998. 21 Maurizio Ghelardi, Die Kultur der Renaissance, in: Rudolph (Hrsg.), Renaissance (wie Anm. 20), Bd. 3, 149–166. 22 Werner Weisbach, Renaissance als Stilbegriff, in: HZ 120, 1919, 250–280.

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gumenten operierende Kunstgeschichte von Anton Springer.23 Eine wichtige Vertiefung steuerte sodann der Konkurrent von Burckhardt, Karl Schnaase, bei. Er deutete die differierende Entwicklung nördlich und südlich der Alpen im 15. Jahrhundert im Sinne einer Arbeitsteilung der europäischen Nationen. Diese, allen voran Italien und Deutschland, hätten in unterschiedlicher, ihrem Volkscharakter aber spezifischen Weise auf die Krise des Spätmittelalters reagiert. Wenn sich die Reform im Norden vor allem im Bereich des Politischen vollzogen habe, so im Süden im Feld der Kunst. Der typische Realismus der Renaissance sei im Norden funktional bestimmt gewesen, nämlich zur Intensivierung der Frömmigkeitspraxis, im Süden aber – gemäß der antiken Prägung – ästhetisch.24 Weitere Übernahmen von Burckhardts Modell finden sich in dem bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts immer wieder in erweiterter Form neu aufgelegten, 1860 in der Urfassung entstandenen „Grundriss der Kunstgeschichte“ von Wilhelm Lübke.25 Dieser hatte im übrigen auch die Neuauflagen von Franz Kuglers „Handbuch der Kunstgeschichte“ betreut, so daß es nicht verwundern kann, daß auch hier für die Renaissance des 15. Jahrhunderts ein epochaler Bruch attestiert wird.26 Umgekehrt hatte Burckhardt seine „Geschichte der Renaissance in Italien“ als vierten Band für Kuglers „Geschichte der Baukunst“, Lübke den fünften zur Renaissancearchitektur im Norden verfaßt. Diese editorischen Netzwerke sind auch ein zwar äußerlicher, gleichwohl wichtiger Aspekte, um zu verstehen, wie nachhaltig der Renaissance-Begriff Burckhardts gewirkt hat. Dabei ist auch in Rechnung zu ziehen, auf welch populäre Resonanz vor allem der „Cicerone“ bei den meist bildungsbürgerlich geprägten Kunsthistorikern bis vor nicht allzu langer Zeit gestoßen ist. Bei Kugler wie bei Lübke wird die Renaissance als Beginn der „modernen“ bzw. der „neueren“ Kunst verzeichnet und somit diese noch deutlicher als bei Burckhardt als Beginn der gegenwärtigen Epoche vermittelt. Allerdings sind sich alle Autoren darüber einig, daß diese zunächst eine tiefgreifende Dekadenz in Form des regellosen Barockstiles erleide. Erst Autoren wie Heinrich Wölfflin und August Schmarsow werden am Ende des Jahrhunderts dessen Rehabilitierung einleiten. Wenn außerdem die Gegenwart bei Burckhardt, Kugler und Lübke nicht eingehend erörtert wird, zudem der

23 Anton Heinrich Springer, Die bildenden Künste in ihrer weltgeschichtlichen Entwicklung. Prag 1857, v. a. 571–640. 24 Henrik Karge, Kunst als kulturelles System – Karl Schnaase und Jacob Burckhardt, in: Peter Betthausen/Max Kunze (Hrsg.), Jacob Burckhardt und die Antike. Mainz 1998, 139–159; Henrik Karge, Arbeitsteilung der Nationen. Karl Schnaases Entwurf eines historisch gewachsenen Systems der Künste, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 53, 1996, 295–306. 25 Wilhelm Lübke, Grundriss der Kunstgeschichte. 2 Bde. Stuttgart 1860. 26 Franz Kugler, Handbuch der Kunstgeschichte. 5. Aufl. Stuttgart 1872, Bd. 2, 261–386 (1. Aufl. Berlin 1842).

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Barock als Periode des Niedergangs gedeutet wird, so kann die Renaissance zwar als Beginn der „modernen“ bzw. der „neueren“ Kunst rangieren. Doch gleichwohl ist sie durch die große und diskontinuierliche chronologische Entfernung von der Gegenwart als deren ideale Vorvergangenheit gekennzeichnet. Diese Relation zwischen Gegenwart/Moderne und Neuzeit erhält seit ca. 1900 weitere Akzentsetzungen innerhalb der ikonologischen Schule der Kunstgeschichte, vertreten insbesondere durch Aby Warburg und Erwin Panofsky. In auffälliger Weise wird gerade hier die grundlegende Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Renaissance zum Axiom zahlreicher Untersuchungen. Warburgs berühmte Studien zu Botticelli, zum Florentiner Portrait im 15. Jahrhunderts, zu Dürers Verhältnis zur Antike oder zu astrologischen Bildern der Frührenaissance untersuchen den grundsätzlichen Wandel in der medialen Qualität des Bildes. Das mittelalterliche Kultbild werde innerhalb des Epochenwandels transformiert zur Gestaltung „leidenschaftlich bewegten Lebens“, in der sich die antike Überlieferung gleichsam aus einer starren mittelalterlichen Form herausschält und mit der wiederbelebten Ikonographie des Altertums eng verbindet. Explizit versteht sich Warburg dabei in der Tradition Burkhardts stehend.27 Ähnliches gilt für Erwin Panofsky, der sich nicht umsonst zeitlebens mit Dürer als dem Verwandler mittelalterlicher Bildauffassungen beschäftigt hat. Auch in seinem berühmten Aufsatz „Die Perspektive als symbolische Form“ ist die letztlich profane Rationalisierung des vormals Numinosen, bildlich Distanzierten und Unbeschreibbaren als entscheidende Epochenschwelle zwischen den Vorstellungswelten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit beschrieben.28 Ebenso unterliegt dem berühmten Konzept des „disguised symbolism“, also der symbolischen Konnotierung zahlreicher realistischer Details in der nordalpinen Malerei des 15. Jahrhunderts, die Grundannahme, daß sich mit dem Realismus als Darstellungskonvention eine grundlegende Säkularisierung gegenüber dem mittelalterlichen Transzendentalismus Bahn breche.29 Und schließlich beschrieb Panofsky in „Renaissance and Renaissances in Western Art“ vor dem Hintergrund von mittelalterlichen Antikenrezeptionen die Besonderheit der italienischen Renaissance. Nur hier gebe es in der Wiedervereinigung antiker Themen und antiker Formen eine systematische Neubewertung des Altertums.30 Diese Akzentuierung der Epochenschwelle 27

Aby Warburg, Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Gertrud Bing. 2 Bde. Leipzig 1932 (Ndr. 1969 und 1998). 28 Erwin Panofsky, Perspektive als symbolische Form, in: ders., Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Hrsg. v. Hariolf Oberer u. Egon Verheyen. Berlin 1964, 99– 167, zuerst in: Vorträge der Bibliothek Warburg 1924/25. Leipzig/Berlin 1927, 258–330. 29 Erwin Panofsky, Early Netherlandish Painting. 2 Vols. 2. Aufl. New York 1971, v. a. 131–148. 30 Erwin Panofsky, Renaissance and Renaissances in Western Art. Stockholm 1960.

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Mittelalter/Renaissance kann eigenartig anmuten, denn Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Fachforschung Epochengrenzen differenziert und relativiert. Doch die angenommene Polarität Mittelalter vs. Renaissance schien eine Epochengrenze anzubieten, anhand derer der grundsätzliche mediale Wandel des Bildes in aller Deutlichkeit herausgearbeitet werden konnte. Mutatis mutandis gilt dies auch für die zahlreichen Untersuchungen zu psychologischen Bildwirkungen, die Ernst Gombrich als Antwort auf die ikonologische Schule vorgelegt hat.31 In Erweiterung von Panofsky hat Dagobert Frey 1929 den umfassenden Versuch unternommen, Gotik und Renaissance „geistesgeschichtlich“ voneinander zu scheiden, d. h. eine „Entwicklungsgeschichte des menschlichen Vorstellungsvermögens“ zwischen Gotik und Renaissance zu entwerfen.32 Dabei bezieht er neben den Bildenden Künsten und der Architektur auch etwa physikalische Raumauffassungen, Ordnungssysteme in der Philosophie, Kompositionsgesetze in Musik und Dichtung in seine Untersuchung ein. Explizit wird im Abschluß auf die grundsätzliche Infragestellung der neuzeitlichen Vorstellungswelt durch die Moderne verwiesen. – In mediengeschichtlicher Hinsicht hat auch in jüngerer Zeit Hans Belting den grundlegenden Epochenbruch in der Renaissance beschrieben.33 – Der hier generell zugrundeliegende Epochenbegriff unterscheidet sich von demjenigen Burckhardts und seiner unmittelbaren Nachfolger. Denn die Kunsthistoriker haben seit etwa 1900 eben das intensiv mitverfolgt, an was der Basler Gelehrte nicht glauben wollte: daß nämlich die Renaissancekultur sich nochmals grundsätzlich wandeln könnte. Die Moderne, an deren Erforschung auch Panofsky und Frey, vor allem aber Belting intensiv Teil hatten bzw. haben, vermittelte in der grundsätzlichen Neubewertung neuzeitlicher Bild- und Architektursysteme – ja des Status von Kunst insgesamt – eine gänzlich neue Erfahrung von Gegenwärtigkeit als Kontinuitätsbruch zur Vergangenheit. Erst in dieser Perspektive gehört die Zeit von der Renaissance zur Aufklärung zur eigentlichen Vorvergangenheit, der Frühen Neuzeit. Mittelalter und Moderne bilden insofern gleichsam zwei Brückenpfeiler, zwischen denen die Neuzeit als ein historisch abgeschlossener Themenbereich mit einem spezifischen, „klassischen“ Kunstsystem erscheint. Nach dem Zweiten Weltkrieg enthielt sich die bundesdeutsche Kunstgeschichte bis in die siebziger Jahre radikalen Neubestimmungen, was das Verhältnis zwischen Mittelalter und Neuzeit betrifft. Die neuhumanistisch-bürgerliche Ausrichtung des Fachs war sicherlich nicht dazu angetan, Abstand

31 Vgl. die Aufsatzsatzsammlung Ernst H. Gombrich, Die Kunst der Renaissance. 4 Vols. Stuttgart 1985–1988 (engl. 1966–1986). 32 Dagobert Frey, Gotik und Renaissance als Grundlagen der modernen Weltanschauung. Augsburg 1929. 33 Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München 1990.

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von der Vorstellung zu nehmen, daß in der Florentiner Frührenaissance der Beginn einer idealen demokratischen Verfaßtheit von Staat und Kunst sowie des Menschen als eines emanzipierten und zivilisierten Individuums zu sehen sei. Die Kunstgeschichtsschreibung der DDR übernahm ebenfalls das Burckhardtsche Modell weitgehend, bezog es aber auf die marxistische Matrix der Überwindung des „Spätfeudalismus“ durch die „frühbürgerliche Revolution“.34 Auch in der modernen italienischen Kunstgeschichtsschreibung entspricht der Epochenbegriff „Rinascimento“ weitgehend dem Burckhardtschen Modell, selbst wenn hier häufig, gerade für die Malerei, der neutralere Jahrhundertbegriff „Quattrocento“ bzw. „Cinquecento“ zu finden ist.35 Wenn durch Federico Zeri 1979 eine „echte“, von einer kohärenten Rationalisierung der Bildillusion bestimmte Renaissance von einer oberflächlichen Pseudo-Renaissance geschieden ist, wird implizit der Epochenbruch zwischen Mittelalter und Neuzeit nur bestätigt.36

III. Umdeutungen und Differenzierungen des Renaissance-Konzeptes Dem Burckhardtschen Renaissanceparadigma wurde insbesondere durch Ansätze widersprochen, die epochale Strukturierungen der Geschichte zumindest in der Tendenz durch Vorstellungen bruchloser Kontinuität ersetzen wollten. Idealerweise mündet diese unmittelbar in die Gegenwart, so daß die verstörende Erfahrung der Moderne mehr oder weniger ausgeblendet werden kann. Naturgemäß galt dies vor allem für nationalistische Perspektiven und dabei immer wieder der Frage, in welchem Maße die nordalpinen Länder Teil am Epochenbruch der italienischen Renaissance hatten. Hier ist für Frankreich am Ende des 19. Jahrhunderts etwa Louis Courajods hartnäckig verfochtene Auffassung zu nennen, der Realismus als das entscheidende Charakteristikum der Renaissance sei seit der Mitte des 14. Jahrhunderts vor allem in Frankreich entwickelt worden. Von dort, also nicht über den Rückgriff auf die Antike, habe er auch Italien geprägt.37 Courajods Position kontrastiert mit der umfangreichen sozialgeschichtlich ausgerichteten Darstellung der ita34 Ernst Ullmann (Hrsg.), Geschichte der deutschen Kunst, 1470–1550. 2 Bde. Leipzig 1984/85. 35 Maria Luisa Gengaro, Umanesimo et Rinascimento. (Storia dell’arte classica e italiana, Vol. 3.) Turin 1940; Adolfo Venturi, Storia dell’arte italiana. Vol. 7–8. Mailand 1911–1924. 36 Federico Zeri, Renaissance und Pseudo-Renaissance, in: Giovanni Previtali/Federico Zeri (Hrsg.), Italienische Kunst. Eine neue Sicht auf ihre Geschichte. München 1991, 371–417 (ital.: Storia dell’arte italiana. Turin 1979). 37 Louis Courajod, Leçons professées à l’Ecole du Louvre (1887–1896). Vol. 2: Origines de la Renaissance. Paris 1901.

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lienischen Renaissance, die Eugène Müntz kurz zuvor vorgelegt hatte. Es handelt sich dabei um eine weit ausgreifende Differenzierung des Burckhardtschen Modells, die viele Akzente anders setzt: Traditionen des Mittelalters, die Rolle adeliger Mäzene und der Päpste, die Unterschiede der Kunstzentren usw. sind in der detaillierten Gesamtdarstellung berücksichtigt.38 Die patriotische Perspektive Courajods schlug sich insofern in der französischen Handbuchliteratur nieder, als in André Michels großer Kunstgeschichte das 15. Jahrhundert unter dem Doppelnamen „Le Réalisme. Les débuts de la Renaissance“ abgehandelt wurde. Im ersten Teilband kommen die französischen, niederländischen und deutschen „Realisten“ der Spätgotik zur Darstellung, erst im zweiten Teilband folgt die italienische Frührenaissance.39 In die nationalistische Geschichtsschreibung von deutscher Seite gehört die seinerzeit stark diskutierte Auffassung Carl Neumanns, die abrupte Renaissance in Westeuropa sei in der künstlerischen Produktion von der ununterbrochenen Antikenrezeption im byzantinischen Reich zu unterscheiden. Den entscheidenden Impuls für die spezifische Entwicklung im Westen habe das Wirken des germanischen Barbarentums gegeben.40 Die völkerpsychologisch geprägten deutschen Darstellungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfolgen durchweg die Tendenz, die Bedeutung der „Renaissance“ als Epochenbegriff für die deutsche Kunst zu relativieren – auch dies entspricht im übrigen einer Auffassung Burckhardts. Dies ist notwendiges Implikat des Anspruches, die Kontinuitäten nationaler Identitäten und „Charaktere“ hervortreten zu lassen. Georg Dehio insbesondere hat in zahlreichen Schriften die Renaissance als Epochenschwelle insofern negiert, als sich als nationales Charakteristikum des „Deutschtums“ und der deutschen Kunst Spätgotik und Barock als anti-klassische Epochen zusammenschließen würden. Allerdings kommt auch Dehio nicht umhin, entscheidenden Umbrüchen, wie sie durch Individualismus und Realismus bewirkt worden seien, die Relevanz nicht durchweg abzusprechen. Renaissance ist bei Dehio jedoch ein morphologischer Stilbegriff, während das eigentlich kulturgeschichtliche Charakteristikum durch die „Reformation“ bezeichnet wird. Die umfassende religiöse Neuorientierung habe zu einer radikalen Infragestellung der Künste geführt, in deren Vakuum die Kunst der Renaissance eingetreten sei.41 Am weitesten geht die Auflösung der Epochengrenze zwischen Spätmittelalter und Renaissance in der rassistisch fundierten Kunstgeschichts38

Eugène Müntz, Histoire de l’art pendant la Renaissance. 3 Vols. Paris 1889–1995. André Michel, Histoire de l’art depuis les premiers temps chrétiens jusqu’à nos jours. Vol. 3/1–2: Le Réalisme. Les débuts de la Renaissance. Paris 1907/08. 40 Carl Neumann, Byzantinische Kultur und Renaissancekultur, in: HZ 91, 1903, 215– 232. Vgl. außerdem die bei Buck (Hrsg.), Begriff (wie Anm. 20), zusammengestellten Aufsätze. 41 Vgl. etwa Georg Dehio, Geschichte der deutschen Kunst. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin/Leipzig 1931, 9–24, 173–181 (1. Aufl. 1919–1926). 39

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schreibung des Dritten Reichs. Im rassistischen Ansatz, „das Deutsche“ in der Kunst auszumachen, wird nicht nur der anerkannte Topos des italienischen Einflusses stark entwertet; vielmehr werden Entwicklungseinschnitte hauptsächlich an Phasen angeblicher politischer Einheit und „Größe“ des „Volkes“ – etwa unter den Staufern – bzw. dem Auftreten genialer Persönlichkeiten – so insbesondere Albrecht Dürer – festgemacht.42 Im Fall von Wilhelm Pinder ist dies vorbereitet durch eine schon in den zwanziger Jahren vorgelegte generationengeschichtliche Betrachtungsweise der Kunstgeschichte, in der die Stilepochen überlagert werden von der „objektiven Biologie“ rhythmischer „Biographien der Generationen“.43 Wichtiger für eine methodisch reflektierte Rezeption des Renaissanceparadigmas war aber die schon zu Zeiten Burckhardts unternommene Differenzierung eines Konzeptes, das den Epochenbruch zwischen Mittelalter und Renaissance als zu radikal und zu sehr auf Florenz zentriert empfand. Die Tatsache, daß mit Malern aus der Zeit um 1300 wie etwa Giotto schon immer Vorläufer realistischer Ausdrucksformen benannt werden konnten, zugleich sich aber die Durchsetzung der Renaissance im Norden bis nach 1500 hinzieht, öffnete ein breites chronologisches Spektrum, in dem die Akzente ganz unterschiedlich gesetzt werden konnten. Auch bot gerade die Vielfalt der mit dem Renaissancebegriff verbundenen Parameter (Gestaltungsidiome, Status der Kunst, Bilddistribution, Status des Künstlers und Auftraggeber usw.) Anlaß zu vielfältigen Interpretationen. Besonders weit ging in dieser Hinsicht Henry Thode, die Epoche des Individualismus und der Emanzipation des Bürgertums sowie einer neuen Kunstauffassung bereits mit dem Wirken des Hl. Franziskus zu Anfang des 13. Jahrhunderts einsetzen zu lassen. Die Fachforschung schritt ansonsten im 19. Jahrhundert soweit voran, daß im „Handbuch der Kunstwissenschaft“ zu Anfang des 20. Jahrhunderts die Bedeutung der Neuentdeckung der Antike zu Recht dadurch relativiert wurde, daß die lokale Tradition der Antikenrezeption sowie der Einfluß der Gotik und der byzantinischen Baukunst herausgestellt wurden.44 Nach Max Dvořák war nicht die Entdeckung der Welt und des Menschen entscheidend, sondern die Rationalisierung von Optik und Weltverständnis. Die „Objektivierung des Verhältnisses zwischen dem Beschauer

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Wilhelm Pinder, Die Kunst der ersten Bürgerzeit bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts. (Vom Wesen und Werden deutscher Formen. Geschichtliche Betrachtungen, Bd. 2.) 2. Aufl. Leipzig 1940, passim; ders., Die deutsche Kunst der Dürerzeit. (Vom Wesen und Werden deutscher Formen. Geschichtliche Betrachtungen, Bd. 3.) 2. Aufl. Leipzig 1940, passim. 43 Wilhelm Pinder, Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas. Leipzig 1928. 44 Hans Willich, Die Baukunst der Renaissance in Italien bis zum Tod Michelangelos. T. 1. (Handbuch der Kunstwissenschaft, Bd. 11.) Berlin-Neubabelsberg 1914, 1–14; die Bedeutung der Schwelle um 1400 relativierend z. B. auch Adolf Philippi, Die Renaissance in Italien. (Handbuch der Kunstgeschichte. Hrsg. v. Anton Springer, Bd. 3.) Leipzig 1908.

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und der Darstellung“ beginne schon mit Giotto und den Pisani in einem plötzlichen Rückgriff auf die Antike. Dieser sei aber geprägt von neuer Innerlichkeit und Menschlichkeit, wie sie Franz von Assisi verkörpert habe. Entscheidend für den Anfang des 15. Jahrhundert sei die „Entdeckung der materiellen Gesetzmäßigkeit und der objektiven Kausalität als der wichtigsten Aufgabe in der Beobachtung der Körper, ihrer Funktionen und ihres räumlichen Zusammenhanges.“45 Neue Akzente vor dem Hintergrund der Burckhardtschen Tradition setzte in den sechziger Jahren André Chastels Interpretation der Renaissance: Sie wird dargestellt als gesamteuropäisches Phänomen des Dialogs anstatt einer Florentiner Erfindung, nicht allein bürgerlich, sondern gleichermaßen höfisch geprägt, oszillierend zwischen Ratio und Aberglaube. Künstlerisch ließen sich durchaus verschiedene Arten der Naturnachahmung unterscheiden, und die Entwicklung kenne auch Rückschritte; in Italien gebe es auch die Einflüsse aus dem nordalpinen wie dem byzantinischen Bereich zu beachten. Chastels anregender monumentaler Essay bürstet gewohnte Auffassungen gegen den Strich und weicht ab von vertrauten Künstlerkanones. Dabei bleibt im Hintergrund aber erkennbar, daß Chastel auf Grund einer immensen Materialkenntnis zwar eine Revision angestammter Argumente anstrebt, dabei den radikalen Epochenbruch im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts selbst nicht in Frage stellt.46 Die Einleitung Jan Białostockis in dem von ihm herausgegebenen Band 7 der Propyläen-Kunstgeschichte bietet eine der vielschichtigsten Darstellungen zum Problem der Frühen Neuzeit in der europäischen Kunst.47 Allein der Titel des Bandes „Spätmittelalter und beginnende Neuzeit“ zeigt an, daß es Białostocki darum geht, die bisweilen paradoxen Heterogenitäten und komplexen Gemengelagen innerhalb der Kunstentwicklung des 15. Jahrhunderts als eigentliches Signum des 15. Jahrhunderts anzuerkennen. Nicht die Entdekkung der Welt und des Menschen bzw. der Antike und auch nicht der Einfluß Italiens sind hier die Grundlage einer harmonistisch gedachten Renaissance (die als Begriff im Titel bewußt vermieden ist). Białostocki folgt hier unverkennbar der Sicht des Burckhardt-Kritikers Johan Huizinga.48 Nur in der Zusammenschau steht am Ende der Frühen Neuzeit eine grundsätzliche Neube-

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Max Dvořák, Idealismus und Naturalismus in der gotischen Skulptur und Malerei, in: ders., Kunstgeschichte als Geistesgeschichte. Studien zur abendländischen Kunstentwicklung. München 1928, 41–147 (zuerst in: HZ 119, 1919, 1–62 u. 185–246). 46 André Chastel, Le mythe de la Renaissance, 1420–1520. Genf 1969; ders., Italienische Renaissance. 2 Bde. München 1965. 47 Jan Białostocki, Zeit, Stil und Aufgaben, in: ders., Spätmittelalter und beginnende Neuzeit. (Propyläen Kunstgeschichte, Bd. 7.) Berlin 1972, 11–23. 48 Johan Huizinga, Das Problem der Renaissance. Renaissance und Realismus. Aus d. Niederl. v. Werner Kaegi. (Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek, Bd. 35.) Berlin 1991 (niederl. 1920).

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stimmung der vielfältigen aus dem Mittelalter überkommenen künstlerischen Idiome und Inhalte. Implizit deutet Białostocki die „Frühe Neuzeit“ als Übergangszeit, die nicht in immanenten Spezifika zu definieren ist. Ähnlich und übrigens explizit auf den polnischen Kollegen rekurrierend verfährt Martin Warnke in seiner kürzlich erschienenen Überschau über „Spätmittelalter und Frühe Neuzeit“ in der Geschichte der deutschen Kunst, die den Zeitraum von 1400 bis 1750 umfaßt.49 Robert Suckale hingegen übernahm jüngst in seiner Gesamtdarstellung der deutschen Kunst den Begriff der „Reformation“ als Kennzeichnung der Epoche von 1420 bis 1530, wohl, weil diese schon seit dem Hussitismus durch tiefgreifende ikonoklastische Tendenzen geprägt sei.50 Man könnte die Dekonstruktion des traditionellen Renaissancetopos mit dem Hinweis auf die moderne Forschung bzw. auch seit langem diskutierte Argumente vertiefen. So stellt etwa die Rezeption der Antike in Italien eine Konstante dar, die von der lombardischen Bauskulptur des 11. Jahrhunderts über die Pisani bis in das 15. Jahrhundert zu verfolgen ist. Neu ab ca. 1400 ist dann insbesondere der systematisierende Ansatz, mit dem seither die Antike erfaßt und rezipiert wird.51 Auch das angeblich neue Ideal eines neuen Realismus wird durch zahllose Realismen schon im Mittelalter relativiert. Auch ist der paradigmatische Charakter, den Panofsky und andere der Perspektivkonstruktion als Signum einer neuen Repräsentation des Numinosen abgewonnen hatte, mit guten Gründen hinterfragt worden. Nicht um eine Wirklichkeitsillusion gehe es, sondern um einen letzten Schritt einer seit dem späten 13. Jahrhundert virulenten Rationalisierung und Proportionalisierung von Bildern.52 Auch die Untersuchungen zur Perspektivkonstruktion in der altniederländischen Malerei haben bestätigt, daß nicht intendiert war, einen kohärent illusionistischen Systemraum zu konstruieren, sondern einen zentralisierten Umraum, der auf das bildliche Hauptmotiv bezogen ist.53 Ebenso 49 Martin Warnke, Spätmittelalter und Frühe Neuzeit, 1400–1750. (Geschichte der deutschen Kunst, Bd. 2.) München 1999. 50 Robert Suckale, Kunst in Deutschland. Von Karl dem Großen bis Heute. Köln 1998, 183–269. 51 Hubertus Günther, Das Studium der antiken Architektur in den Zeichnungen der Hochrenaissance. Tübingen 1988. 52 Zuletzt Frank Büttner, Rationalisierung der Mimesis. Anfänge der konstruierten Perspektive bei Brunelleschi und Alberti, in: Andreas Kablitz/Gerhard Neumann (Hrsg.), Mimesis und Simulation. (Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae, Bd. 52.) Freiburg im Breisgau 1998, 55–87. Vgl. v. a.: Kim Veltman, Panofsky’s Perspective: a half Century later, in: Marisa Dalai Emiliani (Ed.), La prospettiva rinascimentale: codificazione e trasgressioni. Florenz 1981, 565–587. Gleichwohl gilt bei Giovanni Previtali, Die Periodisierung der italienischen Kunstgeschichte, in: ders./Federico Zeri (Hrsg.), Italienische Kunst. Eine neue Sicht auf ihre Geschichte. München 1991 (ital.: Storia dell’arte italiana. Turin 1979), 107–195, v. a. 136–145, ein weiteres Mal die Perspektivkonstruktion als das entscheidende Charakteristikum der Wende zu Renaissance. 53 Jochen Sander, „Die Entdeckung der Kunst“. Niederländische Kunst des 15. und 16. Jahrhunderts in Frankfurt. Ausstellungskatalog Frankfurt am Main 1995/96. Mainz 1995, 161–168.

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hat die neuere Forschung zur Entstehung des Porträts als autonomer Gattung die Frage gestellt, ob sich hier wirklich ein neuer Individualismus manifestiere oder ob es sich nicht um scheinrealistische Idiome der Gestaltung handele, die zeichenhaft – etwa als Ausdruck von irdischer Hinfälligkeit – zu verstehen seien.54 Auch die Genese neuer Medien wie des Holzschnitts und des Kupferstichs, mit deren Hilfe die massenhafte Verbreitung von Bildern möglich wurde, muß eher als Etappe eines schon seit dem 14. Jahrhundert zu konstatierenden Phänomens gesehen werden, denn mit dem Metallguß beispielsweise stand bereits ein auf ähnliche Ziele gerichtetes Medium zur Verfügung. Was die Rezeption von Vitruv als entscheidender Quelle der antiken Architekturtheorie betrifft, so ist jüngst zu Recht darauf hingewiesen worden, daß der Autor bereits in der mittelalterlichen Enzyklopädistik reichlich verarbeitet wurde.55 Auch hinsichtlich eines neuen sozialen Status des Künstlers scheint der Bruch mit dem Mittelalter nicht so stark, wenn man bedenkt, daß bereits im 13. Jahrhundert französische Werkmeister in den Genuß einer Memoria kommen konnten, die derjenigen von Adeligen glich.56 Gleichwohl bleibt die Burckhardtsche Epochenbildung in der kunsthistorischen Praxis allgegenwärtig. Ohne Frage werden dabei angestammte Denkmuster ohne weitere Hinterfragung übernommen bzw. den Epocheneinteilungen der Handbücher nur ein propädeutischer, provisorisch-pragmatischer Charakter zugewiesen. Im Zusammenhang mit der Epochenproblematik der „Frühen Neuzeit“ muß hervorgehoben werden, daß der Ansatz Burckhardts, eine Geschichte der Wahrnehmung der Welt im 15. Jahrhundert zu schreiben, durchaus auch den anti-essentialistischen, auf Vorstellungswelten zielenden Ansätzen aktueller Forschungen zur Frühen Neuzeit entspricht. Dies kann die Relevanz des klassischen Renaissancemodells zwar prinzipiell methodisch, nicht eigentlich aber inhaltlich rechtfertigen. Je mehr man etwa bisweilen geringgeschätzte Kunstgattungen miteinbezieht – deren Funktionen teilweise viel bedeutender waren als die traditionell von der Kunstgeschichte als Leitmedien in den Blick genommenen Tafelbilder und Skulpturen –, desto mehr verkompliziert sich das Bild. Die textilen Künste, Kunsthandwerksgegenstände oder Glasmalereien u. v. m. waren überaus ge-

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Vgl. etwa Martin Büchsel/Peter Schmidt (Hrsg.), Das Portrait vor der Erfindung des Portraits. Mainz 2003, passim; Martin Warnke, Individualität als Argument, in: Enno Rudolph (Hrsg.), Die Renaissance und die Entdeckung des Individuums in der Kunst. (Die Renaissance als erste Aufklärung, Bd. 2.) Tübingen 1998, 1–13. 55 Stefan Schuler, Vitruv im Mittelalter. Die Rezeption von „De Architectura“ von der Antike bis in die frühe Neuzeit. (Pictura et poesis. Interdisziplinäre Studien zum Verhältnis von Literatur und Kunst, Bd. 12.) Köln/Wien 1999. 56 Christian Freigang, Werkmeister als Stifter. Bemerkungen zur Tradition der Prager Baumeisterbüsten, in: Bruno Klein/Harald Wolter-von dem Knesebeck (Hrsg.), Nobilis arte manus. Festschrift zum 70. Geburtstag von Antje Middeldorf Kosegarten. Dresden/ Kassel 2002, 244–264.

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wichtige und häufig sehr kostbare Bildmedien, für die aber die Kriterien des Epochenwandels zur Renaissance nicht so einfach anzuwenden sind. Kaum wird auch diskutiert, wie in den Zeiten des „pictorial“ bzw. des „iconic turn“ chronologischer Wandel zu beschreiben ist. Versteht man die Bild- und Kunstproduktion der Frühen Neuzeit im Sinne der historischen Anthropologie und Semantik als Teil eines komplexen funktionalen Systems, in dem Bilder und Architekturen Bestandteil etwa von Frömmigkeitspraxis, sozialer Selbstdarstellung, Erinnerungskultur oder verschiedenster Formen von Sinnkonstitution sind, so wird man die Grenze zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit kaum eindeutig über eine genuin kunsthistorische Phänomenologie markieren können. Gerade im Zeichen eines vielfach vernehmbaren Rufes, die Kunstgeschichte müsse sich zur historischen Bildwissenschaft wandeln, droht auch die Geschichte der Kunst der Renaissance ihres Gegenstandes verlustig zu gehen. Jedenfalls steht es meines Wissens noch aus, die „Frühe Neuzeit“ auf der Grundlage einer neuen Bildwissenschaft chronologisch zu markieren. Je mehr man indessen Kunstgeschichte in traditioneller Hinsicht als eine phänomenologische Entwicklung von Formen und werkimmanenten Gestaltungsprinzipien zu begreifen bereit ist, desto eher läßt sich das tradierte Vorstellungsmuster einer epochalen Veränderung durch die „Renaissance“ aufrechterhalten. Allerdings stellt sich dann die Frage, welche hermeneutische Relevanz einem solchermaßen an Formentwicklungen entwickelten Epochenbegriff zuzuweisen ist. Wenn etwa Werner Weisbach 1920 glaubte, die Renaissance als „Stilbegriff“, d. h. als sublime Epochenrepräsentation qua künstlerischem Ausdruck bestätigen zu können, so gilt das heute sicher nicht mehr.57 Fragt man sich, warum trotz der inneren Widersprüche und des aktuellen methodischen Differenzierungsbedarfs das Burckhardtsche RenaissanceModell weiterhin so weit verbreitet ist, um die „Frühe Neuzeit“ in der Kunstgeschichte zu definieren, so kommt man indessen nicht umhin, dem Konzept in der Zusammenschau zahlreicher Kriterien eine hohe Komplexität und immanente Kohärenz in morphologisch-entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht zu konzedieren. Das bleibt zwar eine provisorische Feststellung, doch daraus dürfte die weiterhin auch heute praktizierte pragmatische Anwendung der Begriffe „Frühe Neuzeit“ und „Renaissance“ ihre Berechtigung beziehen. Ob die Tradierung derartiger Epochenmuster sich auch auf die institutionellen Strukturen innerhalb der Kunstgeschichte auswirken sollte, wie sie das weiterhin tut, kann sicherlich angezweifelt werden. Lehrpläne, Stellenprofile und Projektdefinitionen folgen jedenfalls weiterhin Epochenmustern, die seit 150 Jahren bestehen – in der Lehre heutzutage häufig mit dem Effekt, daß die scheinbar vertrautere Neuzeit das Mittelalter in eine Region des allzu Diffizilen und Unbekannten rückt. 57

Weisbach, Renaissance (wie Anm. 22).

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IV. Kunsttheoretische Diskurse nördlich der Alpen im 15. Jahrhundert Einer der immer wieder benannten Paradigmenwechsel stellt die im 15. Jahrhundert in Italien deutlich zunehmende Autonomie und ästhetische Eigengesetzlichkeit der Bildproduktion dar. Wettbewerbe um künstlerische Projekte, zahlreiche Expertisen zu Bauvorhaben, eine neue Künstlerpanegyrik, die Wahrnehmung von Stilidiomen und die Entstehung von Kunstsammlungen legen davon Zeugnis ab. Hans Belting hat dies prägnant in der Formulierung umgesetzt, in der Frühen Neuzeit beginne überhaupt erst die Kunst.58 Die zweifellos neue Autonomie schlägt sich auch darin nieder, daß nunmehr eine eigenständige Kunsttheorie entsteht, die sich maßgeblich an der antiken Rhetorik orientiert und sich in ihrer theoretischen Komplexität deutlich von den mittelalterlichen Maltraktaten unterscheidet.59 Zwar handelt es sich zunächst um ein begrenztes Phänomen, das sich in Vorformen um 1400 bei Lorenzo Ghiberti findet und in der Mitte des 15. Jahrhunderts insbesondere mit dem Humanisten Leon Battista Alberti zu verbinden ist, doch seine Wirksamkeit als Begründung der neuzeitlichen Kunsttheorie kann kaum unterschätzt werden.60 Nördlich der Alpen hingegen scheint eine vergleichbare Theoretisierung erst um 1500 Bestandteil einer künstlerischen Reflexion zu werden und geht hier maßgeblich auf Albrecht Dürer und sein humanistisches Umfeld zurück.61 Hier soll nun anhand mehrerer Indizien gezeigt werden, daß es gleichwohl auch außerhalb des italienischen Bereichs schon im 15. Jahrhundert Tendenzen gibt, die Wahrnehmung von Bildern und Kunstgegenständen auf be58

Belting, Bild (wie Anm. 33), 510–533. Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß diese Tendenzen bis in das 14. Jahrhundert zurückreichen; siehe hierzu Michael Baxandall, Giotto and the Orators: Humanist Observers of Painting in Italy and the Discovery of Pictorial Composition 1350–1450. Oxford 1971; Klaus Krüger, Die Lehrbarkeit [sic! recte: Lesbarkeit] von Bildern. Bemerkungen zum bildsoziologischen Kontext von kirchlichen Bildausstattungen im Mittelalter, in: Christian Rittelmeyer/Erhard Wiersing (Hrsg.), Bild und Bildung. Ikonologische Interpretationen vormoderner Dokumente von Erziehung und Bildung. (Wolffenbütteler Forschungen, Bd. 49.) Wiesbaden 1991, 105–133. 59 Einen guten Überblick gibt Ulrich Pfisterer, Die Kunstliteratur der italienischen Renaissance. Eine Geschichte in Quellen. Stuttgart 2002; ders., Donatello und die Erfindung der Stile 1430–1445. (Römische Studien der Bibliotheca Hertziana, Bd. 17.) München 2002; Martin Kemp, From Mimesis to Fantasia: the Quattrocento Vocabulary of Creation, Inspiration and Genius in the Visual Arts, in: Viator 9, 1977, 347–398. 60 Leon Battista Alberti, Das Standbild, die Malkunst, Grundlagen der Malerei. Hrsg. v. Oskar Bätschmann u. Christoph Schäublin. Darmstadt 2000. 61 Neben Dürer sind in letzter Zeit auch andere Künstler ins Blickfeld gerückt; siehe Magdalena Bushart, Sehen und Erkennen. Albrecht Altdorfers religiöse Bilder. (Kunstwissenschaftliche Studien, Bd. 117.) Berlin 2004; Edgar Bierende, Lucas Cranach d. Ä. und der deutsche Frühhumanismus. Tafelmalerei im Kontext von Rhetorik, Chroniken und Fürstenspiegeln. (Kunstwissenschaftliche Studien, Bd. 94.) Berlin 2002.

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Abb. 1: Jan van Eyck: Verkündigungsdyptichon, um 1435 (Sammlung Thyssen-Bornemisza, Madrid, nach Hans Belting/Christiane Kruse, Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei. München 1994).

stimmte rhetorische Kriterien zu beziehen und daraus in der Tendenz eine eigenständige „Ästhetik“ der künstlerischen Produktion abzuleiten. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine normative und systematisierte Theorie, sondern offenbar darum, daß poetologische Kriterien des Mittelalters zunehmend auch auf die bildnerische Produktion übertragen werden. Rudolf Preimesberger hat in dem ca. 1435 entstandenen VerkündigungsDiptychon von Jan van Eyck in der Sammlung Thyssen-Bornemisza eine Reihe von Abbildungsmotiven herausgestellt, die Topoi entsprechen, welche seit dem späten 15. Jahrhundert in Italien im Rahmen des Wettstreites der Künste, dem sogenannten paragone formuliert wurden (Abb. 1).62 In dem Diptychon, das die Verkündigung an Maria anhand von zwei illusionierten steinernen Figuren darstellt, scheint die Malerei trotz einer selbstauferlegten Zurückhaltung ihrer Mittel über die Gattung Skulptur zu triumphieren. Der Maler stellt nämlich zwei Statuetten in einem Steinrahmen dar und erreicht 62

Rudolf Preimesberger, Ein „Prüfstein der Malerei“ bei Jan van Eyck?, in: Matthias Winner (Hrsg.), Der Künstler über sich und sein Werk. Weinheim 1992, 85–100.

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es dabei, trotz des Verzichts auf Buntfarbigkeit plastisch-skulpturale Gebilde täuschend echt wiederzugeben. In der angedeuteten Spiegelung des Engels auf der polierten Hintergrundfläche ist überdies ein Argument vorweggenommen, das in der italienischen Paragonediskussion wieder auftauchen soll: daß nämlich die Malerei die Mehransichtigkeit dreidimensionaler Bildhauerwerke durch die Abbildung mehrerer Körperansichten ebenfalls leisten könne. Man muß annehmen, daß es dem Maler des Verkündigungsdiptychons darum ging, in der Imitation anderer Gattungen das Grundparadox der Malerei – das, was nicht real existiert, scheinbar konkret widerzugeben – wahrnehmbar zu machen. Ziel war also nicht, den Paragonestreit avant la lettre zu thematisieren, sondern geistliche Sinngehalte zu transportieren: Die Verkündigung an Maria und der Beginn der Menschwerdung Gottes lassen sich nicht in der Präsenz von zwei Steinfiguren ausdrücken, sondern fungieren evidentermaßen nur als Abbild oder gemalte Umschreibung eines komplizierten Sinnzusammenhangs. Voraussetzung dazu war aber eine verblüffende doppelte mimetische Leistung: den scheinbaren Reflex von gemalten Steinfiguren täuschend echt wiederzugeben. Eben diese perfekte Naturnachahmung stellt auch einen Aspekt dar, der schon in den fünfziger Jahren des 15. Jahrhunderts in Italien als eigenständiges künstlerisches Qualitätsmerkmal Jan van Eycks kursierte, so in einer Panegyrik des aus Genua stammenden Frühhumanisten Bartolomeo Fazio. Dieser berichtet von einem Bild van Eycks, auf dem eine aus dem Bad steigende Frau dargestellt sei. Aufgrund zahlreicher realistischer Effekte sei das Bild von verblüffender Lebensechtheit gewesen: eine Laterne sehe aus, als brenne sie, eine alte Frau scheine tatsächlich zu schwitzen, und am wunderbarsten sei ein Spiegel, der so gemalt sei, als würde er sich in einem wirklichen Spiegel reflektieren.63 Mit der perfekten Naturnachahmung verbindet sich häufig das Moment der augentäuscherischen Verblüffung ob der zunächst nicht denkbaren Illusion einer zweiten Realität. Insofern bezieht sich das Kriterium auf einen vor allem in der antiken Künstleranekdotik repetierten Topos. Derartige Effekte lassen sich aber auch auf die geläufige Kategorie des estrange beziehen, also des fremdartig und überraschend Wirkenden. Dieses spielte eine zentrale Rolle bei der spätmittelalterlichen Repräsentation, etwa in Form von virtuos gearbeiteten Kunsthandwerksgegenständen. Innerhalb des diplomatischen Geschenkeaustauschs, für den zahlreiche dieser Werke der preziösen Hofkunst entstanden, nimmt die estrangeté eine herausragende Rolle ein. Sie wird von Christine de Pizan neben dem materiellen Wert, der Liebenswürdigkeit und der Schönheit als zentrales Kriterium der Geschenke benannt.64 Diese Qualität markierte gewisse inhaltliche Botschaften des Geschenks. 63

Bartholomeus Fazius, De Viris illustribus … Florenz 1745, 46 f. Brigitte Büttner, Past Presents: New Year’s Gifts at the Valois Courts, ca. 1400, in: Art Bulletin 83, 2001, 598–625. 64

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Bezeichnenderweise spielte in diesem Zusammenhang auch die augentäuscherische Naturnachahmung eine Rolle: So überreichten 1411 die Brüder Limburg, Hofmaler des Herzog Jean de Berry, ihrem Gönner ein Neujahrsgeschenk in Form eines Holzstückes, das dank seiner täuschenden Malfassung ein Gebetbuch imitierte.65 Erst die Verfremdung zur Devotionalie machte die reziproken Botschaften der Übergabe sinnfällig: Der Würdigung der Frömmigkeit des Fürsten durch die Maler stand die antwortende Vorführung der mimetisch-künstlerischen Leistungen der Künstler durch den Herrscher gegenüber. Aber auch die fabelhaften Tischaufsätze und lebenden Bilder operierten mit der Staunen erregenden Naturnachahmung. Verwiesen sei etwa auf das Bankett des Voeux du Faisan, das der burgundische Herzog im Zusammenhang eines symbolischen Kreuzzugsaufrufs 1454 veranstaltete. Die pompöse Speisezeremonie bestand aus einer geradezu unglaublichen Nachbildung der ganzen Welt: Seenlandschaften, Wüsten, Städte, Kirchen usw., deren täuschende Lebendigkeit nicht nur durch allerlei technische Spektakel – laufendes Wasser, klingende Glocken – unterstützt wurde. Vielmehr belebten Genreszenen, etwa ein Liebespaar bei der Vogeljagd, die Tableaus – und diese täuschende Lebensfülle heben die Chronisten wiederholt irritiert hervor.66 Das Kriterium der Naturnachahmung konnte im übrigen, früher als bislang bekannt, explizit auf antike Topoi anspielen. So signierte der Werkmeister der schweizerischen Stadt Mellingen (Aargau) die 1467 von ihm ausgestattete Ratsstube mit einem selbstbewußten Sinnspruch. Die Rankendekoration mit Trauben, die in den Deckenbalken eingeschnitzt ist, wird an zentraler Stelle ergänzt durch den Vers „… der nix hat pfennig noch pfand der ess der truben ab der wand“.67 Ganz ohne Zweifel spielt das auf die täuschend naturgetreu gemalten Trauben des Zeuxis an, von denen Plinius berichtet.68 Die lebensechte Imitation wird sodenn auch als das wesentliche Talent des Malers Simon Marmion aufgeführt. In dessen vom burgundischen Hofchronisten Jean Molinet verfaßter Grabinschrift wird Marmion mit Gott als oberstem Maler verglichen und ein lebensvolles – naturgetreu gemaltes – Grabportrait Marmions mit der baldigen Auferstehung des Dargestellten assoziiert.69 Auch Nikolaus von Kues bedient sich in sei65

Jules Guiffrey, Inventaires de Jean duc de Berry (1401–1416). 2 Vols. Paris 1894/96, Vol. 1, 265, Nr. 994; siehe dazu auch Rob Dückers/Pieter Roelofs (Hrsg.), Die Brüder van Limburg. Nijmegener Meister am französischen Hof (1400–1416). Ausstellungskatalog Nijmegen 2005. Gent/Amsterdam/Stuttgart 2005, passim. 66 Marie-Thérèse Caron, Les Vœux du Faisan, noblesse en fête, esprit de croisade. Le manuscrit français 11594 de la Bibliothèque nationale de France. (Burgundica, Bd. 7.) Turnhout 2003. 67 Zürich, Landesmuseum. 68 C. Plinius Secundes d. Ä., Naturkunde, Lateinisch – deutsch. Buch 35: Farben, Malerei, Plastik. Düsseldorf/Zürich 1978, 65 f. 69 Noël Dupire (Ed.), Les Faictz et dictz de Jean Molinet. 3 Vols. Paris 1936–1939, Vol. 2, 824 f.

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nen theologischen Schriften immer wieder Metaphern aus dem Bereich der Kunst: In seinem Drang nach „lebendiger“ Darstellung wetteifert der Künstler mit der Schöpfung Gottes.70 Neben der imitatio erscheint wiederholt die imagination als Kriterium der künstlerischen Produktion. Mit ihr ist eine zentrale Kategorie bzw. das Organ der Speicherung und Neukombination von Bildeindrücken definiert, wie sich dies seit der Spätantike und verstärkt wieder seit dem 13. Jahrhundert nachweisen läßt. Sie stellt in diesem Sinne eine produktive Einbildungskraft dar, die sich aus gespeicherten Geistesbildern speist, doch der Kontrolle durch die Vernunft bedarf, um nicht in die geistesverwirrenden, Spuk- und Teufelswerk produzierenden phantasmata abzugleiten. Dies ist im Fall des Malers Hugo van der Goes direkt auf seine Bildproduktion bezogen worden: Der um 1440 geborene Maler hatte sich nach Jahren außerordentlichen Erfolgs um 1477 als Konverse in ein Kloster bei Brüssel zurückgezogen, wo er indessen bald von einer Geisteskrankheit befallen worden war. Der von einem Mitbruder verfaßte Bericht von Hugos Schicksal ist bestimmt von „psychoanalytischen und -therapeutischen“ Ausführungen. Weil er nämlich Maler sei, leide er an einem Übermaß an imaginationes und fantasiae, deren physiologische Funktionsweisen recht genau erklärt werden und deren Begrenzung die Mitbrüder mithilfe von melodiae und spectacula recreativa versuchen.71 Der Maler wird als mit einer besonderen Imaginationsfülle ausgestattet gedacht, welche riskiert, in unkontrollierbare, weil vielfältige und nicht kontrollierbare Wahnvorstellungen überzuborden. Dieser Zusammenhang ist auch in anderen Kontexten präsent: So heißt es etwa im „Abuzé en cour“, einer hofkritischen Satire von um 1440, daß der von Fol’Amour, der fleischlichen Liebe, verführte – also der blind verliebte und lustversessene – Höfling den Alltag nicht mehr richtig bildlich wahrnehmen könne: Die Verliebtheit verwandelt Alltagsgegenstände in zusammenhanglose Wahngebilde. Anders als die schemenhaften Flecken und Risse auf Mauern, die sich gemäß Leonardo da Vinci durch die Inspiration des Künstlers zu lebhaften Szenen zusammenfügen sollen72, geht es hier um die innerhalb eines kohärenten Alltagsumfelds abrufbaren, aber ohne Vernunft und deswegen vexierbildhaft und zusammenhanglos im Geist reproduzierten Bilder. 70 Nicolaus von Kues, Vom Sehen Gottes, in: ders., Philosophisch-Theologische Schriften. Bd. 3. Hrsg. v. Leo Gabriel. Wien 1967, 214 f.; ders., De coniecturis, pars secunda, cap. XII, in: Ernst Hoffmann/Paul Wilpert/Karl Bormann (Hrsg.), Schriften des Nicolaus von Kues. […]. Bd. 17. Hamburg 1971, 155–159; ders., Compendium, cap. IX; in: Bruno Decker/Karl Bormann (Hrsg.), Schriften des Nikolaus von Kues. Bd. 16. Hamburg 1970, 35–39; ders., Vom Sehen Gottes. Ein Buch mystischer Betrachtung. Aus d. Latein. übertr. v. Dietlind u. Wilhelm Dupré. Zürich 1987, passim. 71 Elisabeth Dhanens, Hugo van der Goes. Antwerpen 1999, 392 f. (Dok. 31). 72 Leonardo da Vinci, Das Buch von der Malerei. 3 Bde. (Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, Bd. 15–17.) Wien 1882, Bd. 1, 124 f.

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In einigen Fällen läßt sich das Kriterium der Imagination ausdrücklich sowohl auf die anspruchsvolle dichterische wie die malerische Produktion beziehen: So ist dies der allegorischen Liebesdichtung zu entnehmen, die 1457 unter dem Titel „Le Livre du Coeur d’Amour epris“ von René I. von Anjou und Provence verfaßt wurde. Die ritterlich-höfischen Protagonisten versenken sich immer wieder in rätselhafte Grabmäler, in Liebesvotive und Tapisserien mit Minneallegorie. Die Textpartien zu den kontemplierten Liebestapisserien rechnen dabei damit, daß die Vorführung der Bilder von den begleitenden Miniaturen, also nicht vom Text, geleistet wird. Der Autor erhebt innerhalb des Textes Imagination und Phantasie zu eigenwertigen, als Personifikationen vorgeführten Kriterien, nach denen sich die Qualität der literarischen und bildlichen Bildfindung bemißt. Ziel ist die Erzeugung eines merveilles im literarisch und künstlerisch anspruchsvollen Kunstprodukt, in dem die kontrollierte Imagination eine kohärent erscheinende Fiktion erschafft.73 Die Wertschätzung guter Imagination zur Erzeugung eines merveille läßt sich auf die Dichtungstheorie bereits des 12. Jahrhunderts zurückführen. In den Poetiken von Matthieu de Vendôme und Geoffroi de Vinsauf erscheint die Imaginatio ausdrücklich als die Kunst der Findung und Neukombination von Sprachbildern, die in sich kohärent – wahrscheinlich – sind und das Unsichtbare anschaulich machen. Metaphorische Anlage des Stoffes, sein Umsetzen in Worte, sodann die gute Formung und Anordnung sind die wesentlichen Schritte einer guten Dichtung. Die Kohärenz der Bildfindung in narrativer Hinsicht ist dabei das wesentliche Qualitätsmerkmal guter Imagination, die sich von unzusammenhängenden Traum- und Wahngebilden unterscheidet. Diese Forderung nach kohärenter Bildfindung erhält zunehmend eine weitere wichtige Dimension: Die Bildfiguren sollen nämlich so täuschend und zusammenstimmend sein, daß sie wunderbar – als ein merveille – erscheinen. Das Wunderbare in der Fiktion erzeuge erst das notwendige mystère, das Geheimnisvolle, das überhaupt das erkennende Nachfragen bzw. Nachsinnen über die Bedeutung – sénéfiance oder signification – erzeuge.74 Hier bestätigt sich der Zusammenhang, der oben zwischen imitatio und estrangeté ermittelt wurde. Dieser poetologische Diskurs ist wiederholt auch in der Dichtung selbst reflektiert. Für die bildnerische Produktion lassen sich immerhin indirekte Belege wie die oben aufgeführten finden, um zu zeigen, daß derartige Kriterien als Qualitätsmaßstab angewandt wurden.

73 Christian Freigang, Fantaisie et Ymaginacion: Selbstreflexion von Höfischkeit am provençalischen Hof unter René I., in: ders./Jean-Claude Schmitt (Hrsg), Hofkultur in Frankreich und Europa im Spätmittelalter. (Passagen/Passages, Bd. 11.) Berlin 2005, 209–243. 74 Douglas Kelly, Medieval Imagination. Rhetoric and the Poetry of Courtly Love. Madison/London 1978.

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Abb. 2: Jüngeres Gebetbuch Kaiser Maximilians, f° 42v, Ausschnitt mit Randzeichnungen Albrecht Dürers, 1515 (München, Bayrische Staatsbibliothek, BSB, 2° L. impr. membr. 64, nach Hinrich Sieveking [Hrsg.], Das Gebetbuch Kaiser Maximilians. Der Münchner Teil mit den Randzeichnungen von Albrecht Dürer und Lucas Cranach d. Ae. Rekonstruierte Wiedergabe. München 1987).

Imagination und Imitatio stehen insofern in einem engen Zusammenhang, denn erst die vernunftgemäße, auf Naturnachahmung zielende Vorstellungsleistung ermöglicht jene augentäuscherische Illusion, die Voraussetzung für estrangeté und merveille sind.

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Auch der prozessuale Charakter der Imaginationsleistung des Künstlers ist bereits im 15. Jahrhundert thematisiert worden. Bekannt sind in diesem Zusammenhang die bemerkenswerten Randillustrationen, die Dürer 1515 in einem Exemplar von Kaiser Maximilians Jüngerem Gebetbuch in Form von Federzeichnungen von Figuren und Rankenarabesken ausführte (Abb. 2). Dürer kommentiert mit den großen Bildern in vielfältiger Weise die Gebetstexte, die darum geführten Linien aber verwandeln sich in virtuoser Weise von figurativen Darstellungen zu Ranken und weiter von vexierbildhaften Kürzeln zu kalligraphischen Strukturen. Dabei wird in der Verbindung mit der Kalligraphie des Textes der prozessuale Charakter der Bilderfindung deutlich, denn der Text wird gleichsam in einem anderen Medium fortgeschrieben bzw. verbildlicht. Hier ist der bildnerische Schöpfungsprozeß des Künstlers selbst Spur im Bild geworden.75 Dabei gestaltet sich die Arabeske in den Randillustrationen für das Gebetbuch – und das zeugt gemäß Dürers eigener Kunsttheorie eben vom ingenium des guten Künstlers – nicht beliebig oder in abstruser Weise, sondern als Strukturlinie oder Vexierbild auf die figurativen Abbildungen bezogen. Dies ist mit weiteren Aussagen der Kunsttheorie Dürers in Zusammenhang zu bringen. Aus dem unendlichen Formenschatz der göttlich geschaffenen Natur beziehe der begnadete Künstler nämlich eine Formenvielfalt, die eine „gelernte kunst“ wird und sich in naturhafter Metamorphose „besamt, erwechst vnnd seins geschlechtz fruecht bringt“ und somit „die newe creatur … schöpfft inn der gestalt eines dings“.76 Derartige metamorphotische Bildstrukturen sind nun aber nicht erst bei Dürer zu finden. Als Vorstufe des Gebetbuches ist vor allem das sogenannte Stundenbuch der Maria von Burgund aus den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts aufzuführen, das vor allem hinsichtlich des vexierbildhaften Linienspiels große Ähnlichkeit zu dem Gebetbuch Maximilians aufweist (Abb. 3).77 Noch mehr als Dürer macht der Künstler des burgundischen Stundenbuchs die schweifende und sich verwandelnde Linie zum Prinzip der Bildfindung: Aus Buchstabenhasten werden Ranken, um sich zu verwandeln in Ornamentlinien und Schwünge, auf denen Figuren reiten, sich umschlingen

75 Friedrich Teja Bach, Struktur und Erscheinung. Untersuchungen zu Dürers graphischer Kunst. Berlin 1996. 76 Albrecht Dürer, Schriftlicher Nachlaß. Bd. 3. Hrsg. v. Hans Rupprich. Berlin 1969, 295 f. 77 Franz Unterkircher, Gebetbuch Karls des Kühnen vel potius Stundenbuch der Maria von Burgund. Codex Vindobonensis 1857 der österreichischen Nationalbibliothek. Faksimile und Kommentarband. (Codices selecti, Vol. 14.) Graz 1969; Franz Unterkircher, Das Stundenbuch der Maria von Burgund. Codes Vindobonnensis 1857 der Österreichischen Nationalbibliothek. Graz 1993; Otto Pächt/Dagmar Thoss, Flämische Schule II. Textband. (Die illuminierten Handschriften und Inkunabeln der Österreichischen Nationalbibliothek, Rh. 1, Bd. 7.) Wien 1990, 69–85.

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Abb. 3: Sog. Stundenbuch der Maria von Burgund, f° 2, Ausschnitt, um 1477 (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1857, nach Franz Unterkircher [Hrsg.], Das Stundenbuch der Maria von Burgund. Codex Vindobonensis 1857 der Österreichischen Nationalbibliothek. Graz 1993).

oder unmerklich zu Gesichtsprofilen werden. Die Bildwerdung der schweifenden Phantasie beruht offenbar auf den oben angedeuteten physiologischen und poetologischen Diskursen über die Kategorien der Imagination.

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In den Randillustrationen erprobt sich eine von der vis cognitiva scheinbar mal mehr, mal weniger kontrollierte Hand, die gleichwohl zeigt, wie aus der schweifenden Phantasie wunderhafte Fabelwesen, Monster und Nebensächlichkeiten entstehen. Aus der kontrollierten Imagination entstehen lebensvolle Bilder, die in ihrer mimetischen Qualität das Reich des Fremden und Wunderbaren vor Augen führen. Insofern haben die Randillustrationen zum Gebetbuch Maximilians nicht nur in formaler Hinsicht Vorläufer, sondern auch in ihrer Thematisierung bildnerischer Produktion im Sinne rational kontrollierter bzw. nicht kontrollierter Imagination. In auffälliger Weise sind die meisten der eben zitierten Hinweise für einen paratheoretischen Kunstdiskurs im 15. Jahrhundert auf einen höfischen Kontext zu beziehen. Die Wertschätzung eines zunehmend eigenwertigen Kunstcharakters in den Tafelaufsätzen, der Buchillustration, den Tafelbildern usw. dürfte deswegen zu durchgreifenden Veränderungen innerhalb der höfischen Kultur seit dem späten 14. Jahrhundert rechnen, in deren Rahmen seit Karl V. von Frankreich nachdrücklich auf dem Ideal des gelehrten Herrschers insistiert wurde. Rückzug in die Privatheit und das ländliche Leben, die Beschäftigung mit Literatur und anderen Künsten ersetzten bzw. überlagerten die Ideale des militärisch potenten Rittertums, das sich in Turnieren und Hoffesten sowie ostentativem Luxus äußerte.78 Die Selbstdarstellungen von Karl V. als Architekt des neuen Paris, von René I. d’Anjou oder Charles d’Orléans als dichtenden Fürsten, von Margarete von Österreich als malender Herrscherin sowie von Maximilian I. als sachkundigem Kunstmäzen sind in diesem Sinne zu korrelieren mit einer in nuce entstehenden Theoretisierung und Autonomisierung der Bildkünste, schon im 15. Jahrhundert auch nördlich der Alpen. Dieses Phänomen steht mithin im weiteren Zusammenhang mit der beginnenden Ablösung von höfisch-mittelalterlichen Herrschaftsformen durch frühabsolutistische Staaten, rezipiert mithin keineswegs nur italienische Vorbilder um ihrer selbst willen. Da der künstlerische Diskurs seinerseits wiederum mit der sich ebenfalls umfassend verändernden künstlerischen Produktion zusammenhängt, fassen wir hier ein kunsthistorisches – indessen nicht allein auf Formenentwicklungen basierendes – Argument für einen „frühneuzeitlichen“ Wandel in der Wahrnehmung und Repräsentation der Welt im Laufe des 15. Jahrhunderts.

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Hierzu ausführlich Jacques Lemaire, Les visions de la vie de cour dans la littérature française de la fin du Moyen Âge. Brüssel 1994.

Ludwig XIV. und Kaiser Leopold I. als Herrscher Mythos oder Wirklichkeit des absoluten Fürstentums? Von

Olivier Chaline Gleich weit entfernt vom Anfang wie vom Ende der Frühen Neuzeit liegen die Regierungsjahre von Ludwig XIV. und Leopold I. in Frankreich und in der österreichischen Monarchie. Es handelt sich um eine entscheidende Zeit, wenn wir nach der Macht des Herrschers fragen. Es liegt mir daran, in dieser Sektion unserer Tagung nach einem Vortrag über Kunst und Renaissance am Anfang der Neuzeit und vor einem anderen über Gesellschaft und Bürgertum am Ende unserer Epoche ein Thema der politischen Geschichte in der Mitte der Frühen Neuzeit anzusprechen. Der König von Frankreich und sein Schwager Kaiser Leopold haben ihre Macht zweifellos erweitert, und sie waren die größten Eroberer in ihrer Zeit. Trotzdem sind sie scheinbar so verschieden nach Persönlichkeit, Aussehen und Eigenschaften, daß man sie leicht als Antipoden gegenüberstellen konnte.1 Dasselbe ließe sich auch für die beiden monarchischen Staatswesen sagen, das französische, das früh zentralisiert wurde, mit einer erblichen Krone und der Spracheinheit der Eliten, und das österreichische, das ganz anders war. Kaiser Leopold, der zwar erblicher König von Böhmen gewesen ist, verdankte doch die Stephanskrone in Ungarn und die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches der Tatsache seiner Wahl zum Herrscher. Die österreichische Monarchie gehörte aber dem Römisch-Deutschen Reich nur mit einem Teil ihres Gebietes an.2 1 Jean Bérenger, Léopold Ier, fondateur de la puissance autrichienne. Paris 2004; ferner: John Spielman, Leopold I. Zur Macht nicht geboren. Wien 1981; Anton Schindling, Leopold I., in: Walter Ziegler/Anton Schindling (Hrsg.), Die Kaiser der Neuzeit (1519–1918). München 1990, 169–185. Gottlieb Eucharius Rinck war der erste Biograph Leopolds: Ders., Leopold des Grossen Leben und Thaten. Leipzig 1708. Über Ludwig XIV. gibt es mehrere Biographien, zum Beispiel die von John B. Wolf (New York 1986), Jean-Pierre Labatut (Paris 1984), François Bluche (Paris 1986), Peter R. Campbell (London 1993), Jean-Christian Petitfils (Paris 1995), Lucien Bély (Paris 2005) und die originelle Darstellung von Pierre Goubert, Louis XIV et 20 millions de Français. Paris 1976. Ich selbst habe eine ganz andere Auffassung seiner Herrschaft vorgestellt: Olivier Chaline, Le Règne de Louis XIV. Paris 2005. 2 Siehe z. B. Robert J. W. Evans, The Making of the Habsburg Monarchy 1550–1700. An Interpretation. Oxford 1979, 117–154. Hier wird das Problem sehr erhellend und ausgewogen dargelegt. Es genügt, die Titel der verschiedenen Kapitel der zentralen Passage („The Centre and the Regions“) zu zitieren: „Austria: the Habsburg heartland“, „Bohe-

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Für beide Monarchen hat man oft von einer absoluten Herrschaft gesprochen: rex legibus solutus. Die königliche Herrschaft war demnach durch kein Gesetz begrenzt, mit Ausnahmen der Bindungen des Kirchenrechts und der Grundgesetze des Königreiches in Frankreich. Dieser Terminus deckt sich mit dem der Souveränität. Außer Gott steht niemand höher als der Herrscher. Das haben seit dem 13. Jahrhundert die französischen Juristen gegen Papst und Kaiser behauptet: der König ist in seinem eigenen Königreich dem Kaiser gleich. Ludwig XIV. selbst hat diesen Gedanken deutlich ausgedrückt: von „ma souveraineté absolue“, seiner absoluten Herrschaft, schrieb er, als er Straßburg seinem Königreich einverleibte. Die absolute Monarchie war eine Rechtsvorstellung, die sich gegen jedes Streben nach einem ständischen Staatswesen oder allgemein nach einer begrenzten Monarchie richtete. Sie war auch ein Schlagwort der Polemiker, besonders gegen Ludwig XIV. oder gegen die Stuartkönige in England. Später, nach der Französischen Revolution, entstand der Neologismus „Absolutismus“. Es war dann nicht mehr nur die Rede von der Herrschaft oder der Souveränität, sondern auch von einer bestimmten Art der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft. Absolutismus ist in dieser späteren Sicht gerade jenes System von Macht, das in Frankreich gestürzt worden war, aber in Österreich zur Zeit Metternichs noch lebte. In dieser Betrachtung ex post verstand es sich von selbst, daß die alte Monarchie der französischen Bourbonen Absolutismus war, so wie die der Habsburger in der Frühen Neuzeit. Und nach dem Mißerfolg der Märzrevolution 1848 in Österreich ist die Regierung des Ministers Bach als Neoabsolutismus beschrieben worden. Diese im 19. Jahrhundert entwickelte Polemik und die historiographische Tradition, die dadurch entstanden ist, haben wahrscheinlich unser Verständnis deformiert. Seit mindestens zwanzig Jahren haben die Historiker über den Begriff Absolutismus viel geschrieben, pro und contra.3 Hier will ich diesen Streit nicht zusammenfassen, sondern mia: limited acceptance“, „Hungary: limited rejectance“ und „The German Empire: limited hegemony“. Siehe auch Jean Bérenger, Histoire de l’empire des Habsbourg. Paris 1990; Thomas Winkelbauer, Ständefreiheit und Fürstenmacht. Länder und Untertanen des Hauses Habsburg im konfessionellen Zeitalter: Österreichische Geschichte, 1522– 1699. 2 Bde. Wien 2003; Karl Vocelka, Glanz und Untergang der höfischen Welt. Repräsentation, Reform und Reaktion im Habsburgischen Vielvölkerstaat: Österreichische Geschichte 1699–1815. Wien 2001. 3 Gerade erst ist ein Tagungsband veröffentlicht worden: Petr Mat’a/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1620 bis 1740. Leistungen und Grenzen des Absolutismusparadigmas. Stuttgart 2007. In diesem Band drücken sich verschiedene Standpunkte zum Sachverhalt aus. Am Ende ist auch von den Grenzen dieses traditionellen Paradigmas die Rede. Ist der „Absolutismus“ der notwendige Kernbegriff aller Überlegungen über die Ausübung der Macht in der Frühen Neuzeit? Für manche Kollegen ist und bleibt es unmöglich, ohne dieses Paradigma zu denken. In einer entwickelten Sichtweise sind aber die Unterschiede zwischen beiden Monarchien (Frankreich und Österreich) sekundär im Vergleich zum Nutzen einer komparativen Betrachtung der jeweiligen Machtbehauptung. In allen diesen Fragen ist die französische Historiographie

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durch einen Vergleich zwischen der französischen und der österreichischen Monarchie einige Bemerkungen zur Diskussion stellen.4 Von den folgenden Fragen möchte ich mich dabei leiten lassen: I. Was wollten Ludwig XIV. und Kaiser Leopold? II. Inwiefern haben sie ihre Macht erweitert? III. Wie war diese Herrschermacht in den Reichen beider Monarchen beschaffen?

I. Was wollten Ludwig XIV. und Kaiser Leopold? Leopold war zur Macht nicht geboren, wie einer seiner Biographen geschrieben hat. Aber dieser kleine gebildete Mann, der das Otium mehr als das Negotium schätzte – wie mein Vorgänger Jean Bérenger schrieb –, war auch erfüllt von der Macht und genoß ihre Ausübung. Als Habsburger war er auf die Vorteile seines Hauses sehr bedacht. Und für ihn galt die Dynastie eindeutig mehr als das Individuum. Kaiser Leopold zögerte lange und brauchte Zeit, um sich zu entscheiden. Aber wenn er sich schließlich entschlossen hatte, war er stets sehr resolut und hartnäckig, insbesondere wenn es um die Religion, die Kaiserwürde und die Geltung des Hauses Habsburg ging. Welches waren seine Ziele? – Zuerst die Wahl zum Kaiser, gegen die Kabalen Kardinal Mazarins. Die kaiserliche Herrschaft war im Jahre 1658 ganz im Verfall begriffen.5 Das ist bei der Wahlkapitulation sehr spürbar. Aber nie hat Leopold später versucht, die Stellung des Kaisers in der Verfassung des Reiches zu verändern. Das Wichtigste war es in seiner Sicht, die Krone für das Haus Habsburg zu bewahren. – Dann die Verteidigung des Heiligen Römischen Reiches gegen die Franzosen und die Türken. Diese beiden Feinde waren die besten Helfer der kaiserlichen Macht, die nicht mehr wie im Dreißigjährigen Krieg als Gefahr für die deutschen Freiheiten, sondern als deren wahrer Verteidiger galt. sehr traditionell geblieben und sogar von der Zeit überholt. Viele Studien von ausländischen Kollegen, die eine andere Auffassung als die französische traditionelle ausdrückten, wurden nie übersetzt und kaum gelesen. Das trifft zum Beispiel zu auf das verstörende Buch von Roger Mettam, Power and Faction in Louis XIV’s France. New York 1988. Diese traurige Lage wünsche ich mit meinem „Règne de Louis XIV“ (wie Anm. 1) zu beenden. 4 Als die Erlanger Tagung stattfand, war der Vortrag von Jeroen Duindam, Die Habsburgermonarchie und Frankreich: Chancen und Grenzen des Strukturvergleichs, in: Mat’a/Winkelbauer (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie (wie Anm. 3), 43–61, noch nicht veröffentlicht. Mir war es an dieser Stelle unmöglich, das Thema mit derselben Ausführlichkeit darzustellen, und ich verzichte hier auch auf Bemerkungen zum 18. Jahrhundert. 5 Alfred Francis Příbram, Zur Wahl Kaiser Leopolds I., in: Archiv für österreichische Geschichte 73, 1887, 79–222.

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– Schließlich die Wahrung der Rechte der Casa de Austria. Folglich war es so wichtig, die Anrechte auf die spanische Erbfolge nicht zu verlieren. Deswegen nahm Leopold allein im Jahre 1701 den Krieg gegen die beiden Bourbonenmonarchen in Frankreich und Spanien auf sich. – Zuletzt war es sein Anliegen (wie bei seinem Vater Ferdinand III.), in den eigenen Territorien des österreichischen Zweiges der Familie die Erbländer von Böhmen und Österreich nach dem Dreißigjährigen Krieg wiederaufzubauen. Wie sein Großvater Ferdinand II. war er überzeugt, daß die konfessionelle Einheit die beste Gewähr für die bestehende politische Ordnung und für das ewige Seelenheil der Untertanen war. Dafür fühlte sich der Monarch verantwortlich. Trotzdem hat er nicht versucht, die Regierungsweise der österreichischen Monarchie grundlegend zu verändern. Weder im Königreich Böhmen noch im Erzherzogtum Österreich hat er die politischen und finanziellen Vorrechte der Landtage eingeschränkt. Und sogleich muß ich hinzufügen, daß auch Kaiser Ferdinand II. sie nicht vernichtet hatte, auch nicht in Böhmen nach der Schlacht am Weißen Berg. Nur im Königreich Ungarn hat Leopold versucht, mit wechselndem Erfolg, die königliche Macht zu erweitern, ohne den Landtag zu beseitigen.6 Aber er hatte eigentlich keine Lust, die ungarische Tiefebene wiederzuerobern. Für ihn waren Straßburg und die Verteidigung des Reiches im Westen dringender. Kaiser Leopold dachte sich als princeps christianus und nicht als absoluter Monarch. Dieser Begriff gehörte nicht zu seinem Wortschatz. Dasselbe können wir für die Staatsräson feststellen. Die politische Praxis mochte manchmal kühn sein, aber die Auffassung blieb sehr konservativ. Nie war sie besser ausgedrückt als in jenem Bild, das uns die Wiener Pestsäule auf dem Graben zeigt: der Kaiser als kniender frommer Herrscher und als Vater seiner Untertanen. Diese Darstellung verdeutlicht auch, daß in den Erblanden ausführbar blieb, was im Römisch-Deutschen Reich seit 1648 nicht mehr möglich war, nämlich die Durchsetzung der konfessionellen Einheit bei völliger Wahrung des bestehenden Staatsrechtes, der verschiedenen Privilegien und der kulturellen Vielfalt in der Monarchie. Ludwig XIV. hat uns keinen theoretischen Text hinterlassen, sondern Memoiren für seinen Sohn und Thronfolger. Er legte den Akzent auf die Überlegenheit des französischen Königs über den Kaiser: „Ich sehe nicht, mein Sohn, aus welchen Gründen die Könige von Frankreich, Erbkönige, die sich rühmen können, daß es ohne Ausnahme in der Welt kein besseres Haus, keine ältere Monarchie, keine bedeutendere Macht, keine absolutere Herrschaft gibt, niedriger sein sollten als diese Wahlprinzen“.7 Er dachte sich als 6 Jean Bérenger/Charles Kecskeméti, Parlement et vie parlementaire en Hongrie 1608– 1918. Paris 2005, 86–177. 7 Ludwig XIV., Mémoires. Ed. par Jean Longnon. Ndr. Paris 2001, 71.

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„König und zur Krone geboren“. Bei ihm ist der Akzent viel stärker auf den Menschen als auf die Dynastie gelegt, jedenfalls zeigen dies die Ikonographie in Versailles und die Propaganda um die Person des Königs. Aber wir sollen nicht vergessen, daß er um die Interessen seines eigenen Hauses nicht weniger besorgt war als Leopold. Das einzige den Bourbonen vergleichbare Haus sind für Ludwig die Habsburger, aber nur der spanische Zweig, sicher nicht der von Wien, den er lange unterschätzte. Die schon erwähnte Aufzählung der Gründe für diese behauptete Überlegenheit zeigt uns die vorherrschenden Gedanken des Königs: Dynastie, Alter der Monarchie, absolute Herrschaft. Wie können wir dies näher bestimmen? – Ludwig XIV. war sehr stolz auf seine große Familie und sehr betroffen, als so viele seiner möglichen Nachfolger starben. Für ihn waren die Rechte des Hauses Bourbon an der spanischen Erbfolge eine sehr wichtige Angelegenheit und er bereitete drei Erbteilungspläne vor, zuerst mit Leopold (1668) und dann mit Wilhelm von Oranien.8 Als er 1700 das Testament des letzten Habsburgers von Spanien annahm, wurde das Haus Bourbon mit Recht das erste in Europa, und damit nötigte er seinem Königreich wieder einen langen Krieg auf.9 – Die absolute Herrschaft kommt in der Aufzählung zuletzt. Natürlich gehört das Adjektiv „absolut“ zum Wortschatz Ludwigs, aber weniger als das Substantiv „Souveränität“. Der König ist der Stellvertreter Gottes auf Erden. Diese Sakralisierung des königlichen Leibes ist nicht zuletzt deshalb so stark geworden, weil vorher zwei Könige in Frankreich von Untertanen getötet worden sind (Heinrich III., Heinrich IV.). Solche Ereignisse hat man im Haus Habsburg nie erlebt. Ludwig XIV. wollte hauptsächlich gehorchende Untertanen. Aber was sollte das bedeuten? – „Gehorsam“ war nicht derselbe für alle. Und der König hat dieses Wort genauso wie „Respekt“ im Plural geschrieben. Nicht alle Untertanen sollten auf gleiche Weise gehorchen. Ludwig XIV. war von der Vorstellung beherrscht, die französische Gesellschaft zu stabilisieren und die Hierarchien in ihr zu festigen. Er war nicht weniger konservativ als Leopold. Sein einziger, jedoch sehr eindrucksvoller, Wechsel in der Regierungspraxis des Staates fand 1661 statt, als er keinen Ersten Minister mehr ernannte. Vielleicht wäre es ein bißchen übertrieben, das für eine politische Revolution zu halten. Und nie hat er gesagt „L’Etat, c’est 8 Jean Bérenger, Une tentative de rapprochement entre la France et l’empereur: le traité de partage secret de la succession d’Espagne du 19 janvier 1668, in: Revue d’histoire diplomatique 1965, 291–314. 9 Über beide Dynastien: Karl Vocelka/Lynne Heller, Die Lebenswelt der Habsburger. Kultur- und Mentalitätgeschichte einer Familie. Graz/Wien/Köln 1997; Lucien Bély (Ed.), La présence des Bourbons en Europe, XVIe–XXIe siècles. Paris 2003.

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moi“, sondern er sagte lediglich, als er auf dem Sterbebett lag: „Ich sterbe nun, der Staat aber wird bleiben“. – Gehorsame Untertanen, das bedeutete zunächst Untertanen, die nicht daran dachten, mit ausländischen Mächten (Spanien oder England) über Umsturz im eigenen Land zu verhandeln. Dann ging es um Untertanen, die ihre Steuern pünktlich bezahlten, ohne an Aufstände auch nur zu denken. Das ist gerade der Kernpunkt in den Jahren der Fronde sowie in der anderen Krise des Königreiches im spanischen Erbfolgekrieg 1710. Die konfessionelle Einheit war sicherlich auch schon ein frühes Ziel Ludwigs, aber noch am Jahresanfang 1685 konnte man nicht gewiß sein, daß die harte Gewalt gegen die Hugenotten triumphieren würde. Kurzum: Gehorsame Untertanen, die jeder an seiner Stelle dem König dienten, das war das Ziel.10

II. Inwiefern haben König und Kaiser ihre Macht erweitert? Wenn vom Absolutismus die Rede ist, so fällt es leicht, sich die wachsende Macht auf der einen Seite und die völlige Unterwerfung auf der anderen vorzustellen. In den beiden Monarchien ist die politische Macht des Staates zweifellos stärker geworden. Doch waren die Ausgangspositionen sehr verschieden. – In den Jahren 1659–1661 war Ludwig das Haupt seines Hauses und einer siegreichen Monarchie. Aber nach dem so schweren und späten Sieg über Spanien brauchte Frankreich unbedingt Frieden und Stabilität. – Im Jahre 1658 war der neue Kaiser Leopold nicht das Haupt seiner Familie. Philipp IV. in Madrid war es. Als Kaiser übte er eine sehr begrenzte Herrschaft aus. Als Oberhaupt der österreichischen Monarchie sollte er Böhmen und Österreich nach dem Krieg wiederaufbauen, und als König von Ungarn hatte er mehr Sorgen als Mittel. Die beiden Monarchen, Schwäger seit 1666, haben ihre Macht erweitert. Beide haben auf einen Ersten Minister verzichtet: Ludwig nach dem Tod Mazarins, Leopold nach dem Tod Portias. Für beide war der frühere Erste Minister auch Mentor und vertrauter Berater gewesen. Trotz solcher Ähnlichkeiten war Leopold keineswegs ein Nachahmer Ludwigs. Er hatte wahrscheinlich nicht dieselbe Arbeitskraft wie dieser und hat auch dessen politische Modelle nicht übernommen. – In seinen Conseil d’En-Haut (Oberster Rat) berief Ludwig nur diejenigen, die ganz auf der Linie seiner Vorstellungen lagen. Die Herkunft 10

In meinem „Règne de Louis XIV“ (wie Anm. 1) habe ich diese Frage umgekehrt: Was wollten die verschiedenen Untertanen?

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und die Stellung am Hof spielten nicht mehr die entscheidende Rolle.11 Das erklärt wohl den Zorn des Herzogs von Saint-Simon auf die „vile bourgeoisie“, die verachteten Bürgerlichen in diesem Ratsgremium. Der König arbeitete mit Ministern, die ihm alles verdankten. Er hat ihnen Reichtum gegeben und hat es dahin gebracht, daß sie selbst oder ihre Kinder in den höheren Adel einheirateten. So sind, über die Verwandtschaft mit der Familie Colbert, einige Adlige (die Herzöge von Chevreuse und Beauvillier) in den letzten Jahren der Herrschaft Ludwigs wieder in den Obersten Rat eingetreten. – Leopold regierte durch Räte und Juntas (Kommissionen) wie sein anderer Schwager Karl II. von Spanien.12 Diese Art der Regierung war habsburgische Tradition. Hier finden wir keinen Staatssekretär wie in Frankreich, sondern ein anderes politisches System mit mehreren Räten und einer kollegialen Zusammenarbeit. Offiziell gab es keinen Ersten Minister mehr, doch der Obersthofmeister hatte immer eine wichtige Rolle inne, weil er der Präsident der Geheimen Konferenz war. Zu deren Befugnissen gehörten die Außenpolitik und die ganze Staatsführung der Monarchie. In der Regierungszeit Leopolds bildete sich ein echtes Kabinett, ohne den Kaiser, um die Lösung eines bestimmten außergewöhnlichen Problems zu betreiben. So war es möglich, wie Jean Bérenger geschrieben hat, daß sich wiederholt eine ministerielle Equipe formte. Es waren dies wechselnde politische Mannschaften, insgesamt fünf zwischen 1665 und dem Ende des Jahrhunderts. Trotz dieser allgemeinen Ausführungen sollten wir nicht vergessen, daß beide Regierungen sehr lange dauerten und daß unsere beiden Fürsten mit Begeisterung herrschten. Im Unterschied zu Ludwig XIV., der sich um sehr vieles kümmerte, wollte Leopold nicht auf Einzelheiten eingehen, aber auch er war sehr darauf bedacht, nicht von anderen geführt zu werden. Wir müssen freilich 11 Roland Mousnier (Ed.), Le Conseil du Roi, de Louis XII à la Révolution. Paris 1970, und John C. Rule, The King in his Council: Louis XIV and his Conseil d’En Haut, in: Robert Oresko u. a. (Eds.), Royal and Republican Sovereignty in Early Modern Europe. Cambridge 1997, 216–241. Über die wichtigsten Minister: Jean Meyer, Colbert. Paris 1981; André Corvisier, Louvois. Paris 1983; Roland Mousnier (Ed.), Un nouveau Colbert. Paris 1985; Laurent Dingly, Colbert, marquis de Seignelay ou le fils flamboyant. Paris 1997; Emmanuel Pénicaut, Faveur et pouvoir au tournant du Grand Siècle, Michel Chamillart. Paris 2004; Sara Chapman, Private Ambition and Political Alliances: The Phélypeaux de Pontchartrain and Louis XIV’s Government, 1650–1715. Rochester 2004; Charles Frostin, Les Pontchartrain, ministres de Louis XIV. Alliances et réseau d’influences sous l’Ancien Régime. Rennes 2006. 12 Henry F. Schwarz, The Imperial Privy Council in the Seventeenth Century. Cambridge, Mass. 1943; Jean Bérenger, Finances et absolutisme autrichien dans la seconde moitié du XVIIe siècle. Paris 1975, 37–66 und 467–477, und ders., Léopold Ier (wie Anm. 1), 137–167; Stefan Sienell, Die Geheime Konferenz unter Kaiser Leopold I. Personelle Strukturen und Methoden zur politischen Entscheidungsfindung am Wiener Hof. (Beiträge zur neueren Geschichte Österreichs, Bd. 17.) Wien 2001.

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auch sehen, daß er außer seinen bestellten Räten auch gern auf geistliche Ratgeber hörte, die meistens Mönche waren. Letzten Endes lag die Entscheidung doch bei ihm, auch wenn er zu denen gehörte, die lange zögern konnten. Betrachten wir jetzt noch die Instrumentarien dieser Regierungen, die erforderlich waren, um die Entscheidungen zu verwirklichen. – Beide Höfe waren jeweils das Herz der Monarchie.13 Der Wiener Hof war übrigens noch kosmopolitischer als der von Paris, obwohl dort der italienische Einfluß auch nicht sofort nach dem Tod Mazarins verschwand. Beide Hofstaaten waren eine Art von Schmelztiegel für Adlige der verschiedenen Länder, über die Bourbonen und Habsburger herrschten, mit der gewichtigen Ausnahme Ungarns. Der Wiener Hof war aber für den ganzen Rest der Monarchie das Zentrum des politischen Lebens. Hier waren Hofämter und politische Macht nicht getrennt wie in Frankreich. Natürlich wäre es auch ein wenig übertrieben, wenn wir behaupten wollten, in Versailles wären Hof und Politik vollständig getrennt gewesen. Die königliche Familie spielte auch hier ab und an eine politische Rolle, zum Beispiel wenn große Entscheidungen anstanden, wie während des spanischen Erbfolgekriegs. Beide Höfe strahlten durch Feste und Theater. Die Feste, die Leopold für seine junge Braut Margaretha Theresia von Spanien organisierte, standen denen von Versailles um nichts nach.14 Ludwig XIV. war ein ausgezeichneter Tänzer und Leopold ein hervorragender Komponist und Reiter. Der größte Unterschied bestand darin, daß Leopold nicht dieselben finanziellen Mittel wie sein Schwager hatte. So mündeten die glänzenden Hofburgfeste nicht in den Bau eines neuen Palastes wie in Versailles. Die Projekte Fischers von Erlach für Schönbrunn blieben unausführbar.15 Wir sehen, daß sich Ludwig XIV. in Versailles niederließ, während Leopold Wien gegen die Türken verteidigen mußte.16 13

Über Österreich: Hubert Christian Ehalt, Ausdrucksformen absolutistischer Herrschaft. Der Wiener Hof im 17. und 18. Jahrhundert. (Sozial- und Wirtschaftshistorische Studien, Bd. 14.) Wien 1980; Václav Bužek, Dvůr habsburských císařů v letech 1526–1740 a historiografie na prahu 21. století [Der Habsburger Hof in den Jahren 1526–1740 und die Historiographie am Anfang des 21. Jahrhunderts], in: Šlechta v habsburské monarchii a cisařský dvůr (1526–1740) [Adel in der Habsburgermonarchie und der Kaiserhof (1526–1740)]. (Opera historica, 10.) České Budějovice 2002, 5–31; Jeroen Duindam, Vienna and Versailles: The Courts of Europe’s Dynastic Rivals. Cambridge 2003; Mark Hengerer, Kaiserhof und Adel in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Eine Kommunikationsgeschichte der Macht in der Vormoderne. (Historische Kulturwissenschaft, Bd. 3.) Konstanz 2004; Grete Klingenstein, Zwei Höfe im Vergleich: Wien und Versailles, in: Francia 32/2, 2005, 169–179. 14 Alfred Francis Příbram, Die Heirat Kaiser Leopolds I. mit Margaretha Theresia von Spanien, in: Archiv für österreichische Geschichte 77, 1891, 319–375. 15 Günter Brucher, Barockarchitektur in Österreich. Köln 1983, 148–151. 16 Rupert Feuchtmüller/Elisabeth Kovács (Hrsg.), Welt des Barock. Wien/Freiburg/Basel 1986. Darin besonders die Beiträge: Elisabeth Kovács, Die Apotheose des Hauses Öster-

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– Beide Monarchen haben ihre Armee verstärkt. Bis 1693 zog Ludwig sogar selbst in den Krieg.17 Das war bei Leopold allerdings nie der Fall, der es ablehnte, selbst als General zu kommandieren. Aber Graf Montecuccoli und später Prinz Eugen brachten für ihn gute Soldaten auf. Die kaiserlichen Truppen zählten am Ende von Leopolds Leben 1705 mehr als 100 000 Mann.18 Sie waren die eigenen Truppen des Kaisers, ohne die Hinzuziehung der Reichsstände. Die Bevölkerung der ganzen Monarchie zählte nur 7 Millionen Menschen und wir sollten dabei nicht vergessen, daß Ungarn seit 1670 in ständigem Aufruhr blieb. Frankreich hatte die größte Bevölkerung, mit mehr als 20 Millionen Einwohnern. Und die Armee Ludwigs XIV. erreichte ihren Kulminationspunkt im Jahre 1693 mit 400 000 Soldaten, gegen nur 45 000 im Jahre 1659. – Eine solche Vermehrung der Streitmacht bedeutete immer höhere staatliche Aufwendungen. In der österreichischen Monarchie betrugen die Kriegsausgaben im Jahre 1695 23 Millionen Gulden, das ist das Siebenfache dessen, was Leopold in den Jahren zwischen 1660 und 1680 jeweils hatte für militärische Zwecke verauslagen können!19 Jetzt kämpfte er an beiden Fronten, gegen Franzosen und Türken.20 Jetzt zog er Vorteile aus einer besseren wirtschaftlichen Konjunktur und aus einem verbesserten Steuerwesen. Die Einnahmen sind am Ende des Jahrhunderts dreimal höher als noch in den 1680er Jahren.21 Neue reich. Repräsentation und politischer Anspruch, 53–86, und Friedrich Polleross, Zur Repräsentation der Habsburger in der bildenden Kunst, 87–104. Zudem: Maria Goloubeva, The Glorification of Emperor Leopold I in Image, Spectacle and Text. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. für Universalgeschichte, Bd. 184.) Mainz 2000; Jutta Schumann, Die andere Sonne. Kaiserbild und Medienstrategien im Zeitalter Leopolds I. (Colloquia Augustana, Bd. 17.) Berlin 2003. 17 John Lynn, Giant of the Grand Siècle. The French Army, 1610–1715. Cambridge 1996; auch Guy Rowlands, Louis XIV, Aristocratic Power and the Elite Units of the French Army, in: French History 13, 1999, 303–331, und ders., The Dynastic State and the Army under Louis XIV. Royal Service and Private Interest, 1661–1697. Cambridge 2002; Hervé Drévillon, L’impôt du sang. Le métier des armes sous Louis XIV. Paris 2006. Für Frankreich ist es unmöglich die Kriegsmarine zu vergessen: dazu Daniel Dessert, La Royale. Vaisseaux et marins du Roi-Soleil. Paris 1996. 18 Bérenger, Finances et absolutisme autrichien (wie Anm. 12), 248–296; ders., Léopold Ier (wie Anm. 1), 305–338. Michael Hochedlinger, Der gewaffnete Doppeladler. Ständische Landesdefension, Stehendes Heer und „Staatsverdichtung“ in der frühneuzeitliche Habsburgermonarchie, in: Mat’a/Winkelbauer (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie (wie Anm. 3), 217–250 (zur Heeresstärke: 233). 19 Bérenger, Finances (wie Anm. 12), 279 und 293–296; Thomas Winkelbauer, Nervus rerum Austriacarum. Zur Finanzgeschichte der Habsburgermonarchie um 1700, in: Mat’a/Winkelbauer (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie (wie Anm. 3), 179–215. Entwicklung der Staatsausgaben und des Anteils der zivilen und militärischen Ausgaben: ebd. 182. 20 Bérenger, Finances (wie Anm. 12), 334–339 und 350 f. 21 Ebd. 359.

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Steuern (Türkensteuer von 1683–1699 und Kopfsteuer von 1690 – beide belegten auch Klerus und Adel) wurden eingeführt. Während der langen Kriege sind immer größere Summen entliehen worden. Aber der Kaiser brauchte immer die Zustimmung der verschiedenen Landtage für deren Kontributionen. Deshalb übten die Stände Einfluß auf die Außenpolitik der Monarchie aus. Dasselbe war in Frankreich sicherlich nicht der Fall. Aber der Geldmangel des Königs, der sich gegen europäische Koalitionen behaupten wollte, wurde auch immer größer.22 Im Jahre 1695 wurde folglich die Capitation eingeführt (auch den Adel belegend) und 1710 der Dixième, eine Art von Einkommensteuer. Und vom Klerus wurden immer höhere Summen eingefordert. Ohne riesige Anleihen (zum Beispiel auch aus den Händen der internationalen kalvinistischen Hochfinanz) und auch die Geldzuflüsse aus den spanischen Kolonien in Amerika hätte der Kampf um Spanien zur finanziellen Katastrophe geführt. Alle diese Elemente sind natürlich bereits bekannt und gelten als authentischer Ausdruck des Absolutismus wie auch die religiöse Verfolgung der Protestanten (Hugenotten in Frankreich, Kalvinisten und Lutheraner in der Monarchie Leopolds). Kein Teil des Untertanenlebens schien sich der wachsenden Staatsgewalt zu entziehen. Trotzdem ist es ratsam, die anderen Aspekte nicht außer acht zu lassen.

III. Wie war die Macht beider Monarchen in den Provinzen und Territorien beschaffen? Oft sieht man die Situation nur vom Zentrum her. Aber der Gehorsam kann in den verschiedenen Provinzen Frankreichs und den Territorien der österreichischen Monarchie oft mehr Traum der Fürsten als Wirklichkeit sein.23 Dabei müssen wir immer genau unterscheiden, was der König oder der Kaiser jeweils wollte sowie für erreichbar hielt und was er wirklich erlangte und wie er es erlangte. So können wir besser verstehen, welche Ziele im Einzelfall erreicht worden sind, wie breit die Spanne zwischen Ergebnissen und

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Unsere Kenntnis der französischen Staatsfinanzen wurde von Daniel Dessert völlig erneuert: Daniel Dessert, Argent, pouvoir et société au Grand Siècle. Paris 1984; ders., Fouquet. Paris 1984; ders., Colbert ou le serpent venimeux. Paris 2001. Auch Michael Kwass, Privilege and the Politics of Taxation in Eighteenth Century France. Cambridge 2000, und Michel Antoine, Le cœur de l’Etat. Surintendance, contrôle général et intendance des finances. Paris 2003. Nur in Frankreich existierte die „vénalité des offices“, dazu William Doyle, La Vénalité. Paris 2000. 23 Für Frankreich: Klaus Malettke, Opposition und Konspiration unter Ludwig XIV. Studien zu Kritik und Widerstand gegen System und Politik des französischen Königs während der ersten Hälfte seiner persönlichen Regierung. Göttingen 1976.

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Zielen war und inwieweit der Fürst die Mittel seiner Politik kontrollieren konnte. Auch sollten die verschiedenen (passiven oder offenen) Widerstände viel mehr Berücksichtigung finden, zum Beispiel die Konflikte mit den aristokratischen und kirchlichen Eliten, die es bei allen gemeinsamen Interessen zwischen Krone und Elite gab. Und wir dürfen nicht vergessen, daß der Fürst der erste der Adligen blieb, der ihre Weltanschauung und Neigungen in einem starken Maße teilte. In der Monarchie können wir für die Zeit Leopolds nicht von Zentralisierung sprechen. Natürlich gab es einige gemeinsame Organe des Habsburgerreiches: die zentralen Räte in Wien, der Hof und die kaiserliche Armee. Aber zum Hof müssen wir schon wieder einschränkend bemerken, daß die Ungarn nicht gern hingingen und manche Böhmen auch nicht. Gleichwohl bestand die Monarchie Leopolds aus den Erblanden von Österreich (jetzt, seit 1665, wieder mit Tirol) und den Ländern der erblichen Krone Böhmens (seit 1627). Es handelt sich um eine Art von Konföderation. Jedes Land hatte seine eigenen Machtorgane, zum Beispiel Böhmen, Mähren und Schlesien mit je einem eigenen Landtag. Außerdem hatte die Krone Böhmens ihre eigenen Ämter. Ungarn blieb dabei völlig abgesondert. Das Königreich des Heiligen Stephan gehörte nicht zum Heiligen Römischen Reich und konnte sich auch, gestützt auf seinen Landtag und seine eigenen Gesetze, dem König widersetzen. Dieses Königreich blieb bis zum Jahre 1687 ein Wahlreich. Seine Umwandlung in eine Erbmonarchie war der größte und auch einzige politische Erfolg der Habsburger in Ungarn. – Eine beachtliche Macht verblieb noch in den verschiedenen Teilen der Monarchie den privilegierten ständischen Gruppen.24 Die Herrschaftsrechte des Landadels und des Klerus sowie die Landtage waren so wichtig wie die des Kaisers oder Königs selbst. In diesen Landtagen saßen Adlige, in Ungarn Magnaten und viele Kleinadlige, die oft Lutheraner oder Kalvinisten waren, in Böhmen zudem Herren und einige 24

Bérenger, Léopold Ier (wie Anm. 1), 124–155 und 320–334. Für Böhmen und Österreich hat Petr Mat’a neuere Forschungen darüber begonnen. Siehe: ders., Český zemský sněm v pobělohorské době (1620–1740). Relikt stavovského státu nebo nástroj absolutistické vlády? [Der Böhmische Landtag in der Zeit nach der Schlacht am Weißen Berg (1620–1740). Relikt des Ständestaates oder Befehlsinstrument absolutistischer Herrschaft?], in: Marian J. Ptak (Ed.), Sejm czeski od czasów najdawniejszych do 1913 roku [Böhmische Landtage von ihren Anfängen bis 1913]. Oppeln 2000, 49–67. Petr Mat’a spricht von einer erfolgreichen Disziplinierung der Ständeeliten und der politischen Kultur, aber er bemerkt auch: „Obwohl der Landtag in diesem Zeitraum zu keiner Widerstandsbasis der Stände dem Herrscher gegenüber wurde und werden konnte, blieb er der Ort ernsthafter Streitigkeiten um die Höhe der zu zahlenden Steuer und dadurch auch ein unübersehbares Korrektiv der landesherrlichen Steuerpolitik“ (ebd. 67). Siehe auch: ders., Landstände und Landtage in den böhmischen und österreichischen Ländern (1620–1740). Von der Niedergangsgeschichte zur Interaktionsanalyse, in Mat’a/Winkelbauer (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie (wie Anm. 3), 345–400.

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Ritter. Aber der Klerus spielte auch eine große Rolle. Klerus und Adlige waren Grundbesitzer und deshalb gerade die echten Herren des Landes. Der Habsburger blieb noch am Anfang des 18. Jahrhunderts ziemlich weit entfernt von dem Leben der Bevölkerungsmehrheit in seinen Reichen. Sogar in Böhmen und Mähren nach 1627/28 hatten die Landtage noch das Recht, mit dem König die Kontribution zu verhandeln. Selten wurden die königlichen Forderungen ohne weiteres erfüllt. In den Erblanden mußte Leopold die katholischen privilegierten Orden berücksichtigen. Klerus sowie Adel konnten manche Hindernisse in den Weg der Regierung legen. Das konnte man zum Beispiel im Jahre 1694 in Prag mit Erzbischof Wallenstein erleben.25 Unter solchen Umständen ist es bestimmt nicht angemessen, von irgendeiner Art von Absolutismus sprechen zu wollen. – In Ungarn ist die Macht Leopolds noch schwach ausgeprägt. Obwohl Plenarsitzungen des Landtages nur in den Jahren 1659, 1662, 1681 und 1687 stattfanden, vereinigten sich katholische Magnaten und protestantischer Kleinadel zur gemeinsamen Verteidigung des ungarischen Staatsrechts.26 Man berief sich auf die alten Rechte der Stephanskrone gegen den König. Ein Statut des Königs Andreas II. von 1222 erlaubte sogar den Widerstand gegen den König, wenn dieser die Rechte des Königreiches nicht mehr achtete. Es war somit kein Zufall, wenn sich der ernsteste Widerstand gegen alle Versuche Leopolds zur Verstärkung seiner Macht gerade in Ungarn ausbildete. Schon 1670 organisierten einige Magnaten eine Verschwörung gegen den König. Leopold antwortete mit der Verwirkungstheorie, wie nach 1618 in Böhmen, um die alten Rechte zu kassieren, auf die sich der frondierende Adel berief. Dann folgte ein Strafgericht in Wien ohne Beteiligung ungarischer Richter. Am Ende Hinrichtungen der Verschwörer, religiöse Verfolgung der Protestanten und militärische Besetzung unruhiger Gebiete. Aber sehr früh wurde es klar, daß diese Versuche ein völliger Mißerfolg waren. Was Leopold erntete, war hauptsächlich eine unerbittliche Feindschaft, die man ihm in Ungarn bis zu seinem Tod und darüber hinaus widmete. Während des holländischen Krieges und später in der Zeit des Fürsten Rakoczi fanden die ungarischen Unzufriedenen in Versailles Hilfe. Schon im Jahre 1681, zur Zeit des Soproner Landtages, war der Mißerfolg der Gegenreformation in dem Land deutlich. Als die Kaiserlichen nach der türkischen Niederlage vor Wien 1683 einen großen Teil der ungarischen Tiefebene erobert hatten (ursprünglich gegen den Willen des Kaisers), gelang Leopold die Durchsetzung der Erblich25

Bérenger, Léopold Ier (wie Anm. 1), 133 f. Jean Bérenger, Les „Gravamina“, remontrances des diètes de Hongrie de 1655 à 1681. Paris 1973, 71–97.

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keit der Stephanskrone. Das Recht zum Aufstand wurde aufgehoben, aber nicht das Krönungspatent, das dem König Verpflichtungen auferlegte.27 Als das ganze Königreich von den Türken frei wurde, waren die Ungarn gegen ihren König nicht sehr freundlich gesinnt. Diese erheblichen Beschränkungen von Macht und Ansehen des Königtums in Ungarn dauerten mindestens bis zur Zeit der Reformen Maria Theresias und Josefs II. Die habsburgische Monarchie war nicht durch absolutistische Praxis zu kennzeichnen, sondern viel eher als politischer Dualismus: Stände und Fürst sind durch Interaktion verbunden. Karin J. MacHardy hat neuerdings vom „koordinierenden Staat“ der Habsburger im Sinne einer Koordination von Untertanen und Eliten und eines Verhandlungsprozesses, in dem „Herrscher, Eliten und Untertanen ihre jeweiligen Ansprüche geltend machten“, gesprochen. Sie hat den Nachdruck auf die „gesteigerte gegenseitige Abhängigkeit zwischen Herrschern und Ständen“ gelegt.28 War damals Frankreich die absolute Monarchie, die man so oft geschildert hat? Von den Provinzen aus gesehen, ist das Gesicht des Bourbonenstaates ein wenig überraschend. Die königliche Macht in der Wirklichkeit auszuüben, das sah ein wenig anders aus als in den Bänden von Bodins „Six Livres de la République“ oder in den politischen Texten des Hofpredigers Bossuet. Das Königreich war so weit, und die Eroberungen neuer Provinzen haben es noch erweitert. Normalerweise brauchte man zehn Tage von Paris bis ins Elsaß, durch Lothringen hindurch, das noch nicht zu Frankreich gehörte. Die Macht des Königs war auch nicht dieselbe in der Ile-de-France oder in der Normandie wie in der Provence oder in der Bretagne.29 Und wir müssen

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Bérenger/Kecskeméti, Parlement et vie parlementaire (wie Anm. 6), 128–141. Karin J. MacHardy, Staatsbildung in den habsburgischen Ländern in der Frühen Neuzeit – Konzepte zur Überwindung des Absolutismusparadigmas, in: Mat’a/Winkelbauer (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie (wie Anm. 3), 73–98. 29 Über die Verwaltung der Provinzen haben wir nur wenige Studien: Georges Livet, L’intendance d’Alsace sous Louis XIV (1648–1715). Straßburg 1956; Jean Meyer, La Noblesse bretonne au XVIIIe siècle. Paris 1966 (untersucht auch die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts); James B. Collins, Classes, Estates and Order in Early Modern Brittany. Cambridge 1994 (franz. Übers.: La Bretagne dans l’Etat royal. Rennes 2006, über die Jahre 1532–1675); William Beik, Absolutism and Society in Seventeenth Century France. State Power and Provincial Aristocracy in Languedoc. Cambridge 1985 (aber nur vor 1683), und ders., The Absolutism of Louis XIV and Social Collaboration, in: Past & Present 188, 2005, 195–224; Jean-François Dubost, Absolutisme et centralisation en Languedoc au XVIIe siècle, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 37, 1990, 369–397. Für die Provence: René Pillorget, Les Mouvements insurrectionnels de Provence entre 1596 et 1715. Paris 1975; François-Xavier Emmanuelli, Louis XIV et la Provence: les illusions de l’absolutisme. Marseille 1975, 49–56, und ders., Un mythe de l’absolutisme bourbonien: l’intendance du milieu du XVIIe siècle à la fin du XVIIIe siècle (France, Espagne, Amérique). Aix-en-Provence 1981. Für Burgund: Julian Swann, Provincial Power and Absolute Monarchy. The Estates General of Burgundy, 1661–1790. Cambridge 2003. Allzuoft werden die Jahre 1680–1715 weniger beachtet. 28

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zur Kenntnis nehmen, daß es keineswegs das Ziel Ludwigs XIV. war, alles zu zentralisieren oder zur Gleichartigkeit zu führen. Wir sind noch nicht in der Zeit der Revolution oder Napoleons. Die traditionelle historiographische Version in Frankreich hat uns ein durch Intendanten auf den Trümmern der älteren Mächte verwaltetes Königreich geschildert. Die Intendanten galten vielen als die Vorgänger der Präfekten des 19. Jahrhunderts. Diese Ansicht ist übertrieben und sogar unrichtig. – Die Gouverneure der Provinzen hatten nicht alle Macht verloren, sie gehörten zum Hochadel, waren Freunde des Königs und übten Hofämter aus, die ihnen viel Geld einbrachten, hatten auch noch viel Einfluß auf den regionalen Adel.30 Es ist heute nicht mehr statthaft, die traditionelle Sichtweise des französischen Hofes als des „goldenen Käfigs“ für den Adel aufrechtzuerhalten. Jeroen Duindam hat das kräftig hervorgehoben: „Das traditionelle Bild zeichnet in Wien einen schwachen Kaiser und einen starken Adel, in Frankreich einen starken König und einen gezähmten Adel. Mein Vergleich zwischen beiden Höfen unterstreicht dagegen die gefestigte Position der französischen Höflinge und die Bewegungsfreiheit des Kaisers“.31 – Die Parlamente (Appellationsgerichte) hatten scheinbar keine bedeutende politische Rolle mehr, aber ohne sie konnte man überhaupt nicht daran denken, die Provinzen zu verwalten.32 Heute fängt man endlich an zu erkennen, daß das Parlament von Paris auch am Ende der Regierung eines Ludwig XIV. noch eine wirkliche politische Funktion behalten hatte. – Die Bischöfe waren unumgängliche Herren und das nicht nur aus religiösen Gründen. Der Klerus war der einzige Stand, der sich aus eigener Machtvollkommenheit versammeln konnte. Er hat dem finanziell bedrängten König mehr und mehr Geld gegeben, aber seine Zustimmung

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Zum Beispiel: Katia Béguin, Les Princes de Condé. Rebelles, courtisans et mécènes dans la France du Grand Siècle. Seyssel 1999, und dies., Louis XIV et l’aristocratie: coup de majesté ou retour à la tradition?, in: Histoire, économie et société 2000/4, 497–512. 31 Jeroen Duindam, Die Habsburgermonarchie und Frankreich (wie Anm. 4), 58. Dieser Meinung bin ich auch, und ich habe für Frankreich schon gefragt: Wer hat von dem König Vorteil gezogen? Die Antwort ist manchmal überraschend und beschränkt sich nicht auf die Eliten: Chaline, Le Règne de Louis XIV (wie Anm. 1), 579–629. 32 Für die traditionelle Auffassung siehe noch John Hurt, Louis XIV and the Parlements. The Assertion of the Authority. Manchester 2002; für die neuesten Forschungen: Caroline Le Mao, Parlement et parlementaires. Bordeaux au Grand Siècle. Seyssel 2007. Mein Doktorand E. Cresta beendet jetzt seine Dissertation über das Parlament von Paris und die königliche Macht in den Jahren 1673–1715. Diese Arbeit wird die traditionelle „absolutistische“ Meinung weiter erschüttern. Cresta beschreibt die Zusammenarbeit zwischen dem König und den Parlamentsräten. Manches konnte man schon erahnen aufgrund der älteren Studie: Albert N. Hamscher, The Conseil privé and the Parlements in the Age of Louis XIV: a Study of French Absolutism. Philadelphia 1987.

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war immer das Ergebnis einer Diskussion, und das Grundprinzip seiner prinzipiellen Steuerfreiheit blieb dennoch weiterhin gewahrt.33 – Schließlich hat die Historiographie sehr lange die Etats provinciaux unterschätzt.34 In einem Drittel Frankreichs existierten sie unter Ludwig XIV. noch. Es ist richtig, daß einige in den Jahren Mazarins verschwunden waren. Aber in der Bretagne, der Bourgogne, im Languedoc und in der Provence waren sie immer da. Weit davon entfernt sie zu vernichten, hat die königliche Macht sie mehr und mehr gebraucht und zur Einbringung von Steuergeld benützt, hauptsächlich in den schwierigen Kriegen nach 1690. Sogar ein Ludwig XIV. mußte mit den Eliten dieser Provinzen ins Gespräch kommen, um Geld zuverlässig und rasch zu erhalten. Es war ihm unmöglich, einfach nur Befehle zu erteilen.35 Wenn wir genau hinsehen, dann erscheint eine andere Seite dieser Herrschaft mit einem König, der auch verhandeln und warten muß, der Zugeständnisse macht und der manchmal auch abschlägig beschieden wird. Zu dem Zeitpunkt, da die königliche Macht auf ihrem Höhepunkt angekommen zu sein schien, versuchte sie sich in der Kunst des Vergleichs. Freilich waren die Franzosen sehr begabt dazu, den König zu bewundern und dabei aus der königlichen Macht ihre eigenen Vorteile zu ziehen. Aber zugleich strebten sie auch immer danach, sich der königlichen Gewalt zu entziehen. Am auffälligsten war das bei der katholischen Kirche der Fall. Das Prinzip des Gallikanismus konnte somit auch bedeuten, daß der König eine ungehorsame Kirche hatte. Übersehen wir nicht, daß sich diese Kirche noch als eine eigene Gesellschaft mit eigenen Regeln verstand. Darüber waren die Gallikaner mit dem Kardinal Bellarmin ganz einig, sie faßten ihre Kirche als societas perfecta auf, als eine Gesellschaft, die selbst über alle Mittel verfügte, um ihr 33 Joseph Bergin, Crown, Church and Episcopate under Louis XIV. New Haven/London 2004; Pierre Blet, Le Clergé de France et la Monarchie. Étude sur les assemblées générales du clergé de France de 1615 à 1666. 2 Vols. Rom 1959; ders., Les Assemblées du clergé et Louis XIV de 1670 à 1693. Rom 1972; ders., Louis XIV et le Saint-Siège, in: XVIIe siècle 123, 1979, 137–154; ders., Le Clergé de France, Louis XIV et le Saint-Siège de 1695 à 1715. Vatikanstadt 1989; ders., Louis XIV et les papes aux prises avec le jansénisme, in: Archivum historiae pontificiae 32, 1993, 109–192, und 33, 1994, 65–148, sowie ders., Le clergé du Grand Siècle en ses assemblées 1615–1715. Paris 1995. 34 Armand Rébillon, Les États de Bretagne de 1661 à 1789. Rennes 1932; Marie-Laure Legay, Les États provinciaux dans la construction de l’État moderne aux XVIIe et XVIIIe siècles. Genf 2001 (über die kleinen Ständelandschaften im Norden Frankreichs: Artois, Cambrésis, Flandern); und Swann, Provincial Power (wie Anm. 29). 35 In dem Fall der Bretagne ist es ganz klar: der König hat die Stände keinesfalls zerstört, sogar nach der Niederwerfung der Empörung im Jahre 1675 nicht. Er brauchte sie und hat später ihre Befugnisse erweitert, damit er leichter höhere Steuern bekam. Intendant und Stände waren zugleich nützlich. Unter solchen Umständen darf man die États weder als machtlose Überreste der alten verlorenen Freiheiten noch als willenlose Werkzeuge des Absolutismus sehen. Darüber: Olivier Chaline, Louis XIV et 2 millions de Bretons, in: Bulletin de la Société historique et archéologique d’Ille-et-Vilaine 2007/1.

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überweltliches Ziel zu erreichen. Sie ging daher gerade nicht im Staat auf. Ja, sie vergegenwärtigte vielmehr selbst den Staat, am königlichen Hofe genauso wie in jedem Dorf weit weg von Versailles. Als Einheit konnte sie gegen Papst wie auch König widerstandsfähig sein. Diese doppelten Frontstellungen konnten sich in der Zeit des Jansenismusstreites immer wieder erweisen. Diese besondere Lage der Kirche in Frankreich haben die Historiker bisher nicht recht erkannt als eine ernste Grenze der politischen Macht des Königs. Ludwig XIV. wollte, daß jeder an seinem Platz ihm gehorche. Das war auch der Fall, insofern als der König sich mit dem Ergebnis zufrieden gab, ohne eine ganz bestimmte und einzige Art Gehorsam aufzuzwingen, ohne alle Körperschaften aufzulösen und die Privilegien zu brechen. Er war pragmatisch genug, um die traditionellen Mächte immer zu benutzen und öfter als wir bisher dachten zu respektieren. Ebenso wie Kaiser Leopold verstand er es ganz genau, sich an neue Umstände anzupassen, um sich bietende Gelegenheiten auszunützen und zu offenen oder diskreten Vergleichen zu gelangen. Die Gedankenwelt der Juristen mit ihren allzu eindeutigen Begrifflichkeiten sollte unserem Blick keinesfalls die wirkliche Ausübung der Macht verdecken. Deshalb bin ich ein wenig skeptisch über die Redeweise vom starren Absolutismus, wie er in der Historiographie zu Ludwig XIV. beschrieben wird. Zum Schluß möchte ich fragen, ob jenes Phänomen, welches wir so lange „Absolutismus“ genannt haben, nicht später zu suchen ist als wir dachten: nämlich im 19. Jahrhundert.36 In Frankreich entstand die absoluteste Macht und Autorität nicht zur Zeit Ludwigs XIV. oder seiner Nachfolger, sondern unter der jakobinischen Diktatur und nachher unter Napoleon. In Österreich wäre es richtiger, die Zeit Metternichs zu beobachten oder nach der Märzrevolution 1848 das Bach-Regime, das ausdrücklich als Neoabsolutismus bezeichnet wurde. Jeweils hat der Staat durch Revolution und Wiederaufbau seiner Macht oder durch Josefinismus und Zentralisierung viele Hindernisse (Streit mit den Landtagen und Beachtung des Staatsrechts, offener oder passiver Widerstand des Adels, Selbstverwaltung der Kirche usw.) aus seinem Weg geräumt. Aber in jenen Jahren sind wir schon vom 17. Jahrhundert sehr weit entfernt und jenseits der Frühneuzeit angekommen.

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Zur Debatte über den Absolutismus: Nicholas Henshall, The Myth of Absolutism. Change and Continuity in Early European Monarchy. London/New York 1992; Ronald G. Asch/Heinz Duchhardt (Hrsg.), Der Absolutismus – ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in West- und Mitteleuropa (ca. 1550–1700). Köln/Weimar/ Wien 1996. Was Frankreich betrifft: Richard Bonney, L’Absolutisme. Paris 1989; Fanny Cosandey/Robert Descimon, L’Absolutisme en France. Histoire et historiographie. Paris 2002. Und man wird eine ganze Bibliographie in den Fußnoten der Einleitung von P. Mat’a und Th. Winkelbauer in dem schon mehrmals erwähnten Sammelband (wie Anm. 3), 7–42, finden.

Das deutsche Bürgertum in der Umbruchszeit 1750–1850 Überlegungen zur Epochenzäsur 1800 aus der Sicht der neueren Bürgertumsgeschichte Von

Hans-Werner Hahn Fragt man aus der Sicht der neueren Bürgertumsforschung1 nach der Zäsur zwischen der frühen Neuzeit und jener modernen Welt, die sich in dem oft als bürgerlich bezeichneten 19. Jahrhundert in Europa durchsetzte, so fällt es beim heutigen Kenntnisstand nicht leicht, klare Antworten zu geben. Vor wenigen Jahrzehnten sah dies noch anders aus. Die Historiker verwiesen in der Regel darauf, daß der Aufstieg neuer bürgerlicher Kräfte in Deutschland in erster Linie eine Angelegenheit des 19. Jahrhunderts gewesen sei. Als Napoleon um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in die deutsche Geschichte eingriff, habe es in Deutschland – so die damalige, empirisch freilich kaum näher überprüfte These – nur ein wirtschaftlich wie politisch schwaches Bürgertum gegeben, „das anders als in den bürgerlichen Kernzonen Westeuropas noch gar nicht fähig gewesen sei, ohne die bürokratische Entwicklungshilfe des starken Staates seinen eigenen Weg in die Zukunft einzuschlagen“.2 Die entscheidende Zäsur zwischen früher Neuzeit und dem neuen bürgerlichen Zeitalter setzten damit auch für die Geschichte des Bürgertums letztlich politische Ereignisse wie das Ende des Alten Reiches, der mit ihm möglich werdende Siegeszug des modernen Verwaltungsstaats und die von ihm durchgeführte Reformpolitik. Auch wenn man in diesem Zusammenhang auf gewisse Kontinuitätselemente zur frühen Neuzeit verwies, so schien doch besonders durch die von den Modernisierungstheorien ange-

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Vgl. hierzu jetzt den vorzüglichen Überblick von Andreas Schulz, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 75.) München 2005. Vgl. ferner Friedrich Lenger, Bürgertum, Stadt und Gemeinde zwischen Frühneuzeit und Moderne, in: NPL 40, 1995, 14–29; Thomas Mergel, Die Bürgertumsforschung nach 15 Jahren, in: AfS 41, 2001, 515–538. 2 So faßt Elisabeth Fehrenbach in einem Beitrag, der für eine Neubewertung plädiert, ihren historiographischen Befund zusammen: Elisabeth Fehrenbach, Bürokratische Verfassungspolitik und gesellschaftliche Bewegung. Zur sozialen Basis des deutschen Frühkonstitutionalismus 1818/20, in: dies., Politischer Umbruch und gesellschaftliche Bewegung. Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte Frankreichs und Deutschlands im 19. Jahrhundert. Hrsg. v. Hans-Werner Hahn u. Jürgen Müller. München 1997, 133–144, hier 134 f.

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leiteten Forschungen3 die Grenzlinie zwischen der frühen Neuzeit und der zunehmend bürgerlich geprägten Welt des 19. Jahrhunderts durch die Zuordnung von Etiketten wie traditional und modern relativ einfach zu sein. In den letzten Jahren hat die Forschung zur sogenannten Übergangszeit jedoch immer stärker auf die Mischformen, auf das Nebeneinander von traditionalen und modernen Elementen, verwiesen.4 Je mehr man danach fragte, wie die „Reformen von oben“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Praxis umgesetzt wurden und welche Ansprechpartner die Reformbürokratie in der Gesellschaft fand, desto schwieriger wurden die Antworten auf die Frage nach der Grenze zwischen den Großepochen. Trotz der unbestrittenen Erkenntnis, daß sich gerade Wandlungen der wirtschaftlichen, sozialen und mentalen Strukturen über viel größere Zeiträume erstrecken, hat die Forschung in Deutschland eigentlich erstaunlich lange gebraucht, ehe sie gezielter nach den Umbrüchen von der ständischen zur modernen bürgerlichen Gesellschaft und in diesem Zusammenhang vor allem nach der Umformung beziehungsweise Neubildung des Bürgertums gefragt hat. Eine moderne Bürgertumsforschung kam erst in den achtziger Jahren in Gang und wurde zunächst maßgeblich vom Heidelberger Arbeitskreis für Sozialgeschichte, dem Bielefelder Sonderforschungsbereich „Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums“ und dem von Lothar Gall initiierten Frankfurter DFG-Projekt „Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert“ getragen. Obwohl zunächst das deutsche Bürgertum des 19. Jahrhunderts im Zentrum des Interesses stand – in Bielefeld vor allem die Frage nach dem Zusammenhang von Bürgertumsgeschichte und deutschem Sonderweg5 –, kam es doch sehr schnell zur Vernetzung mit zahlreichen frühneuzeitlichen Forschungsansätzen: mit der neubelebten frühneuzeitlichen Stadtgeschichte, mit der Geschichte der Aufklärungsbewegung oder auch mit den Forschungen zur Protoindustrialisierung. Es waren vor allem zwei relativ rasch gewonnene Grundansichten, die auch bei Historikern, die sich mit dem „bürgerlichen“ 19. Jahrhundert beschäftigten, den Blick auf die frühe Neuzeit lenkten. Zum einen war es die Einsicht, daß das deutsche Bürgertum in seiner Entwicklung an der Wende vom 18. und 19. Jahrhundert auf vielen Feldern weiter vorangeschritten war als lange angenommen, daß somit die Beschleunigung in der Entwicklung von der ständischen zur modernen bürgerlichen Gesellschaft nicht nur staatlicher Politik zu verdanken war und 3 Vgl. hierzu Hans-Ulrich Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte. Göttingen 1975. 4 Vgl. Elisabeth Fehrenbach, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß. 4., überarb. Aufl. (Oldenbourg Grundriß der Geschichte, Bd. 12.) München 2001, 3. 5 Vgl. hierzu die Ergebnisse des Projektes zusammenfassend Jürgen Kocka, Bürgertum und Sonderweg, in: Peter Lundgreen (Hrsg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986–1997). Göttingen 2000, 93–122.

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daß folglich die Vorgeschichte dieser neuen bürgerlichen Welt stärker in die Analysen einbezogen werden mußte.6 Zum anderen war es die Erkenntnis, daß große Teile des Bürgertums zumindest bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hinein von gesellschaftlichen und politischen Ordnungsvorstellungen geprägt blieben, die noch keineswegs völlig mit frühneuzeitlichen Orientierungsmustern gebrochen hatten. Der Wandel vom alten, sich ständisch definierenden Bürgertum zum neuen Bürgertum des 19. Jahrhunderts erstreckte sich somit über einen langen Zeitraum, wobei der sogenannten „Sattelzeit“ zwischen 1750 und 1850 eine besondere Bedeutung zufiel.7 Dieser grundsätzliche Befund wird im Grunde heute von den unterschiedlichsten Ansätzen der Bürgertumsforschung geteilt, von der zunächst modernisierungstheoretisch, dann zunehmend kulturgeschichtlich geprägten Bielefelder Bürgertumsforschung ebenso wie von dem stadtgeschichtlich ansetzenden Frankfurter Konkurrenzunternehmen, den Arbeiten zu bürgerlichen Werten und kulturellen Praktiken oder gerade auch von der Fülle familienbiographischer und generationshistorischer Studien. Im folgenden soll an einigen zentralen Aspekten der neuen Bürgertumsforschung deutlich gemacht werden, wo und wie sich Kontinuitäten zwischen früher Neuzeit und 19. Jahrhundert nachweisen lassen und wo beziehungsweise wann dann doch die neuen, mit traditionalen Einstellungen und Verhaltensweisen brechenden Elemente innerhalb des Bürgertums klarer hervortreten. Zunächst soll der Blick auf jene beiden Gruppen gerichtet werden, die als sogenannte „neue Bürgerliche“ bezeichnet worden sind8 und die lange im Mittelpunkt der Bielefelder Forschungsansätze standen: das Wirtschafts- und das sogenannte Bildungsbürgertum. Dem inzwischen breit untersuchten Wirtschaftsbürgertum kommt in beiden Großprojekten der Bürgertumsforschung eine zentrale Rolle bei der Herausbildung der neuen bürgerlichen Welt zu. Während man in Bielefeld den neuen Unternehmertyp in einen Gegensatz zur alten und scheinbar erstarrten stadtbürgerlichen Gesellschaft stellte, verortete das Frankfurter Projekt das Wirtschaftsbürgertum in einer sich wandelnden Stadtbürgergesellschaft. In Bielefeld verwies man vor allem darauf, daß wesentliche Impulse für den wirtschaftlichen Strukturwandel von Familien gekommen seien,

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Eine vorzügliche Zusammenfassung der neueren Forschung zu diesen Aspekten bietet Elisabeth Fehrenbach, Bürgertum und Liberalismus. Die Umbruchsperiode 1770–1815, in: Lothar Gall (Hrsg.), Bürgertum und bürgerlich-liberale Bewegung in Mitteleuropa seit dem 18. Jahrhundert. (HZ, Sonderh. 17.) München 1997, 1–62. 7 Vgl. hierzu auch den Forschungsüberblick bei Lothar Gall, Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 25.) München 1993. 8 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815. München 1987, 204.

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die wie die Harkorts in Westfalen9 oder andere Familien der Montanindustrie und des Verlagswesens oft auf dem Lande ansässig waren und wenig Kontakte zur Stadt pflegten. Auf der anderen Seite haben Arbeiten aus dem Umfeld des Frankfurter Forschungsprojektes deutlich gezeigt, welch entscheidende Beiträge die fest im städtischen Bürgertum verankerten Kaufmanns- und Unternehmerfamilien – etwa die Bassermanns in Mannheim10, aber auch vergleichbare Familien in Frankfurt11 oder Augsburg12 – für das Aufkommen neuer gewerblicher und kommerzieller Strukturen geleistet haben. Überhaupt wirken die von Teilen der Forschung vorgenommenen Fraktionierungen der bürgerlichen Gruppen in städtisches und ländliches Bürgertum oder in Wirtschafts-, Bildungs- und traditionales Stadtbürgertum gerade in bezug auf die Übergangszeit um 1800 in vielen Fällen eher künstlich. Zum einen war und blieb die Stadt letztlich der entscheidende Ort, an dem sich der Konstituierungsprozeß eines neuen Bürgertums vollzog. Zum anderen gab es, wie etwa das Beispiel des Weimarer Verlegers Friedrich Justin Bertuch zeigt, nicht wenige Bürgerliche, die sich sowohl dem Bildungsbürgertum und dem Wirtschaftsbürgertum zugehörig fühlten und zugleich in der bürgerlichen Gemeinschaft ihrer Stadt verankert waren.13 Ebenso differenziert ist auch der Frage nachzugehen, zu welchem Zeitpunkt sich der Übergang von einem auf vielen Feldern noch eher traditional eingestellten Handels- und Gewerbebürgertum der frühen Neuzeit zum modernen Wirtschaftsbürgertum des 19. Jahrhunderts vollzog. Zunächst einmal gab es zweifellos eine große Kontinuität zwischen den wirtschaftlichen Führungsgruppen der frühen Neuzeit – Großkaufleuten, Verlegern sowie Hüttenbesitzern – und jenen der deutschen Frühindustrialisierung. Gewiß finden sich sowohl Beispiele für den Niedergang alter Familien als auch solche für den Aufstieg neuer Kräfte, welche die neuen Chancen des wirtschaftlichen Umbruchs nutzten, der sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts immer stärker bemerkbar machte. Dennoch waren führende Unternehmerfamilien der frühneuzeitlichen Gewerberegionen und der Handelsstädte oft wichtige Pioniere der neuen wirtschaftlichen Entwicklungen. Dies gilt etwa für die bereits erwähnten Harkorts oder für die Dortmunder Fami9

Stefan Gorißen, Vom Handelshaus zum Unternehmen. Sozialgeschichte der Firma Johann Caspar Harkort im Zeitalter der Protoindustrie (1720–1820). Göttingen 2002; Wolfgang Köllmann u. a. (Hrsg.), Bürgerlichkeit zwischen gewerblicher und industrieller Wirtschaft. Beiträge des Wissenschaftlichen Kolloquiums anläßlich des 200. Geburtstags von Friedrich Harkort vom 25.–27. 2. 1993. Dortmund 1994. 10 Lothar Gall, Bürgertum in Deutschland. Berlin 1989. 11 Ralf Roth, Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main. Ein besonderer Weg von der ständischen zur modernen Bürgergesellschaft 1760–1914. München 1996. 12 Frank Möller, Bürgerliche Herrschaft in Augsburg 1790–1880. München 1998. 13 Zu Bertuch vgl. Julia Schmidt-Funke, Auf dem Weg in die Bürgergesellschaft. Die politische Publizistik des Weimarer Verlegers Friedrich Justin Bertuch. Köln/Weimar/ Wien 2005.

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lie Mallinckrodt.14 Das in der vorindustriellen Wirtschaft akkumulierte Kapital und die hier gesammelten Erfahrungen und Kenntnisse spielten für die wirtschaftlichen Aufstiegsprozesse des frühen 19. Jahrhunderts eine außerordentlich wichtige Rolle. Die in der frühen Neuzeit entwickelten wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Auffassungen wurden im Zuge der neuen Entwicklungen im übrigen weit weniger rasch durch Vorstellungen einer liberalen Markt- und Bürgergesellschaft ersetzt, als es oft vermutet worden ist. Zum einen wird dies in dem Bestreben zahlreicher frühindustrieller Unternehmer deutlich, sich durch Fortsetzung merkantilistischer Praktiken Vorteile gegenüber der in- und ausländischen Konkurrenz zu sichern. Hier setzte sich erst in den 1840er Jahren die Emanzipation von der Staatsbürokratie durch.15 Zum anderen lebten selbst in einer der führenden deutschen Gewerberegionen bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts tradierte Vorstellungen über die soziale Ordnung und die wirtschaftliche Entwicklung fort, die noch mehr auf die Gesellschaft der frühen Neuzeit als auf die bürgerliche Welt des allmählich heraufziehenden Industriezeitalters verwiesen. Dies hat etwa Rudolf Boch in seiner vorzüglichen Studie über die Industrialisierungsdebatte im rheinischen Wirtschaftsbürgertum gezeigt.16 Die älteren ständischen Wertmuster kamen etwa in der Fortsetzung einer über Generationen perpetuierten, an der gesellschaftlichen wie materiellen Gleich- und Höherwertigkeit orientierten Heiratspolitik der führenden Familien zum Ausdruck, die stets der Stabilisierung und Expansion der eigenen Unternehmen Rechnung trug. Vor allem aber behielt man bis in die dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts ein Verständnis von wirtschaftlichem Fortschritt bei, in dem sich noch ganz die Erfahrungen der frühen Neuzeit widerspiegelten. Dieses Verständnis blieb sektoral, war somit auf die Blüte einiger Produktionsbereiche bezogen und noch von der Vorstellung geprägt, daß solche Expansionsphasen angesichts der Knappheit an natürlichen Ressourcen nicht von Dauer sein konnten. Das Gleichgewicht zwischen Produktion und Konsumtion konnte demnach zwar ein höheres Niveau erreichen, aber die scheinbar nur begrenzt vermehrbaren Bedürfnisse stellten eine Art natürlicher Grenze des Wachstums dar. Die ältere Unternehmergeneration des Rheinlandes plädierte daher für eine ausgewogene Entwicklung der einzelnen Wirtschaftssektoren und sah in einer Industrialisierung nach 14

Vgl. Christoph Franke, Wirtschaft und Politik als Herausforderung. Die liberalen Unternehmer (von) Mallinckrodt im 19. Jahrhundert. (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beih. 88.) Stuttgart 1995; Karin Schambach, Stadtbürgertum und industrieller Umbruch. Dortmund 1780–1870. München 1996. 15 Vgl. hierzu die wichtige Fallstudie von Clemens Wischermann, Preußischer Staat und westfälische Unternehmer zwischen Spätmerkantilismus und Liberalismus. Köln/Weimar/Wien 1992. 16 Rudolf Boch, Grenzenloses Wachstum? Das rheinische Wirtschaftsbürgertum und seine Industrialisierungsdebatte 1814–1857. Göttingen 1991.

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englischem Zuschnitt große Gefahren für Staat und Gesellschaft heraufziehen. Der Barmer Kaufmann Johannes Schuchardt verglich 1835 das alte und das neu heraufziehende Wirtschaftssystem mit den Worten: „Die Industrie vor dem oben angegebenen Zeitabschnitt hatte eine reelle, auf Moral und Religion basierte, gemeinnützige Tendenz, sie war ehrenwert durch das Bestreben, alle Menschen, die von ihr in Anspruch genommen wurden, zufrieden und glücklich zu machen. Die Industrie nach jener Zeitscheide geht von Grund aus darauf hinaus, auch dem tätigsten, alle seine Kräfte einsetzenden, von ihr abhängigen Familienvater seinen Verdienst zu verkümmern und den allgemeinen Landeswohlstand zu untergraben.“17 Erst in einer jüngeren Generation des rheinischen Wirtschaftsbürgertums setzte sich ein klarer Wille zu einer forcierten Entwicklung der modernen Industrie durch. Diese neuen wirtschaftsbürgerlichen Kräfte um David Hansemann und Ludolf Camphausen verfochten ein Konzept „der Emanzipation der Warenproduktion aus tradierten ökonomischen Denkmustern, aus adlig-bürokratischer Gängelung und aus den einstmals für unverrückbar gehaltenen Schranken der Natur“18. Sie dominierten seit den 1830er Jahren die Industrialisierungsdebatten im Rheinland und vertraten nun die Auffassung, daß die gewerbliche Warenproduktion zu einer geradezu unendlichen Ausdehnung fähig sei, der Ackerbau nicht mehr als wichtigste Grundlage der Gesellschaft betrachtet werden dürfe und die moderne Industrie immer stärker die gesellschaftliche und politische Entwicklung bestimmen werde. Dieser grundlegende Einstellungswandel erfolgte angesichts eines schon seit Jahrzehnten laufenden Industrialisierungsprozesses relativ spät. Dennoch darf man ungeachtet solcher Befunde nicht übersehen, daß sich innerhalb der in Handel und Gewerbe tätigen Teile des deutschen Bürgertums in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in vielfältiger Hinsicht auch neue Tendenzen, Denkmuster und Verhaltensweisen abzuzeichnen begannen, die maßgeblich zum gesamtgesellschaftlichen Wandel beitrugen. Auch Wirtschaftsbürger waren an der Herausbildung neuer Wertvorstellungen und Verhaltensweisen beteiligt, die an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine neue Bürgerkultur entstehen ließen und von der an späterer Stelle noch ausführlich die Rede sein soll. Aufstrebende Manufakturisten und Großkaufleute vertrauten trotz der Kontakte zur Staatsbürokratie nicht nur zunehmend auf die eigene Kraft, sondern traten – unter Berufung auf ihre allgemeinen Kenntnisse und wirtschaftlichen Erfolge – im öffentlichen, geschäftlichen und bürokratischen Diskurs auch zunehmend selbstbewußter auf.19 In der von Bertuch in Weimar herausgegebenen Zeitschrift „London und Paris“ hieß es 1802 zur gesellschaftlichen und politischen Bedeutung des 17 18 19

Zitiert nach ebd. 85. Ebd. 288. Anschaulich hierzu am Beispiel der Bassermanns: Gall, Bürgertum (wie Anm. 10).

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Kaufmanns: „Würde es denn einen Bürgerstand, würde es denn Freie im Mittelstande geben, wenn der Handel nicht Wohlstand, der Wohlstand Kultur, und die Kultur Gefühle und Aeußerung der angeborenen Menschenrechte erregt hätten? … der Handel ist etwas Erstaunenswürdiges, eine Quelle unsäglicher Wohlthaten, und der gewisse Beglücker aller Staaten. Alle Menschen, die ihn treiben, sind verehrungswerthe Bürger, die man auf Händen tragen sollte: wo sie sind, da herrscht Aemsigkeit; und aus Aemsigkeit entsprießt Bürgerglück. Welcher Stand lebt zufriedener, ruhiger, welcher hat gehorsamere Unterthanen? Der Kaufmann ist froh und macht froh; denn er muß arbeiten, und denken und sorgen, wenn er noch so reich ist: daraus werden verständige, umgängliche, nützende Menschen. Dann braucht er viele Hände, und so wird er der Ernährer des Staates.“20 In diesen Äußerungen spiegelte sich auch die Selbstsicht des erfolgreichen Weimarer Verlegers wider, der sich aus der früheren wirtschaftlichen und persönlichen Abhängigkeit vom Weimarer Hof gelöst hatte und seine Chancen in einer freien Marktgesellschaft suchte.21 Als er seinen Sohn im Jahre 1800 in die Verlagsarbeit einbezog, betonte er ihm gegenüber den hohen Wert der persönlichen Selbständigkeit als entscheidende Grundlage eines wahrhaft bürgerlichen Lebens: „Du hast nun deine Vorbereitung zum GeschäftsLeben auf Akademien vollendet, und nun die ernstere Laufbahn, das Leben des arbeitenden Mannes, angetreten. Ich glaube du wirst mir es Danck wissen, daß meine planmäßige Thätigkeit dich in den Stand setzt, nicht der Diener eines andern Herrn zu werden, seiner Launen und Einfälle, sondern künftig Dein eigner Herr zu werden, und keine Gnade erbetteln zu müssen.“22 Die wachsenden geschäftlichen Erfolge, die gerade auch die Umbruchszeit um 1800 mit ihren ökonomischen Umwälzungen und Wachstumsimpulsen den geschickt operierenden Kräften des Wirtschaftsbürgertums ermöglichte, stärkten deutlich ihr Selbstbewußtsein. Die erfolgreichen Kaufleute, die teils aus den alteingesessenen Handelsfamilien kamen, teils aber auch als Homines novi die mit den Reformen verbundenen neuen wirtschaftlichen und sozialen Freiräume zum eigenen Aufstieg genutzt hatten, gewannen in vielen Städten zusätzliches Gewicht und traten zunehmend selbstbewußter auf. Typisch war der Kommentar, mit dem der Kölner Bankier Abraham Schaaffhausen 1815 auf die Eingliederung des Rheinlandes in das Königreich Preußen reagierte: „Da heiraten wir aber in eine arme Familie.“23 20

Zitiert nach Schmidt-Funke, Auf dem Weg (wie Anm. 13), 122 f. Zu Bertuchs Unternehmertätigkeit vgl. Katharina Midell, „Die Bertuchs müssen doch in dieser Welt überall Glück haben…“. Der Verleger Friedrich Justin Bertuch und sein Landes-Industrie-Comptoir um 1800. Leipzig 2002; ferner dies., „Dann wird es wiederum ein Popanz für Otto…“ Das Weimarer Landes-Industrie-Comptoir als Familienbetrieb (1800–1830). Leipzig 2006. 22 Zitiert nach Schmidt-Funke, Auf dem Weg (wie Anm. 13), 124 f. 23 Zitiert nach Fehrenbach, Vom Ancien Régime (wie Anm. 4), 104. 21

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Ähnlich wie beim Wirtschaftsbürgertum lassen sich auch bei den akademisch gebildeten Teilen des deutschen Bürgertums, die in der Forschung oft unter dem nicht zeitgenössischen und folglich nicht unumstrittenen Begriff „Bildungsbürgertum“ zusammengefaßt werden24, um 1800 mehr fließende Übergänge als klare Zäsuren erkennen. Diese, aus dem traditionellen gelehrten Stand hervorgegangene Gruppe hatte sich in enger Anlehnung an den frühneuzeitlichen Staat und in Abgrenzung vom alten Stadtbürgertum entwickelt. Die weder zum Adel noch zum Stand der Stadtbürger gehörende Gruppe der Gebildeten – Professoren, juristisch vorgebildete Staatsdiener, Pfarrer, Ärzte, Lehrer und Schriftsteller – nahm im 18. Jahrhundert bei der Formierung eines neuen Bürgertums in mehrfacher Hinsicht eine zentrale Rolle ein. In dieser Gruppe, für die sich im späten 18. Jahrhundert der Begriff „gebildete Stände“ einbürgerte, vollzog sich ein innerer Dynamisierungsprozeß, aus dem letztlich neue gesellschaftliche, kulturelle und politische Leitbilder hervorgingen, auf denen die moderne bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts aufbaute. Die „gebildeten Stände“ entwickelten im Laufe des 18. Jahrhunderts ein eigenes Selbstverständnis, das auf einem neuen Verständnis von Bildung und vernunftgeleiteter Individualität beruhte, eine bürgerliche, d. h. allein aufgrund persönlicher Leistung differenzierte Gesellschaft propagierte und damit die traditionellen ständischen Schranken durchbrach. Ein konstitutives Strukturmerkmal war die neuartige Vergesellschaftung in Sozietäten, Assoziationen und Vereinen. Eng damit verbunden war die Herausbildung einer neuen Öffentlichkeit über einen rasch expandierenden literarischen Markt, der auch außerhalb des Staatsdienstes stehenden Gebildeten Einkommensmöglichkeiten verschaffte und über den vor allem auch andere bürgerliche Gruppen mit neuen gesellschaftlichen und kulturellen Leitbildern vertraut gemacht wurden.25 Die „gebildeten Stände“ rekrutierten sich, wie viele Untersuchungen zeigen, trotz prinzipieller Offenheit für Aufsteiger in hohem Maße aus sich selbst26, setzten ihre Bildung durchaus auch als Distinktionsmittel gegenüber anderen bürgerlichen Gruppen ein und blieben in Deutschland stark „auf den Staat als Gestalter und Bewahrer der gesellschaftlichen Ordnung fi24

Werner Conze/Jürgen Kocka (Hrsg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. 2 Bde. Stuttgart 1979; Jürgen Kocka, Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. T. 4: Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation. Stuttgart 1989; Reinhart Koselleck (Hrsg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. T. 2: Bildungsgüter und Bildungswissen. Stuttgart 1988; Rainer M. Lepsius (Hrsg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. T. 3: Lebensführung und ständische Vergesellschaftung. Stuttgart 1992. 25 Grundlegend zu diesen hier skizzierten Vorstellungen Michael Maurer, Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680–1815). Göttingen 1996. 26 Vgl. etwa Stefan Brakensiek, Fürstendiener – Staatsbeamte – Bürger. Amtsführung und Lebenswelt der Ortsbeamten in niederhessischen Kleinstädten (1750–1830). Göttingen 1999, 194 ff.

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xiert“27. Dennoch richteten sich die propagierten Zielvorstellungen immer stärker auf die Gesamtgesellschaft und drängten zugleich mit ihrer Forderung nach einer zunächst auf die Männer von Besitz und Bildung beschränkten Teilhabe an den staatlichen Angelegenheiten auch zu Reformen des politischen Systems. Das Bildungsbürgertum verstand sich somit als Vorhut einer neuen sozialen Ordnung, welche die bisherige ständische Gesellschaft und die politischen Strukturen transformieren und den eigenen Leitvorstellungen auf breiter Front zum Durchbruch verhelfen sollte. Diese Führungsrolle behielten die „gebildeten Stände“ zunächst auch noch in den gesellschaftlichen und politischen Diskursen des frühen 19. Jahrhunderts. „Der deutsche Liberalismus begann im frühen 19. Jahrhundert als eine bildungsbürgerlich geprägte und bildungsbürgerlich geführte Bewegung.“28 Der Weg zu dieser Führungsrolle des Bildungsbürgertums wurde durch drei Entwicklungen ermöglicht, die sich gerade in der Umbruchszeit um 1800 deutlich beschleunigten. Zum einen war dies das Bestreben staatlicher Amtsträger, eine größere Unabhängigkeit gegenüber dem noch starken „privatrechtlichen Klammergriff“ der Fürsten zu erlangen.29 Die bisherige Rolle des Fürstendieners wurde von immer mehr, den Zielen der Aufklärung folgenden Amtsträgern als nicht mehr zeitgemäß angesehen, denn sie stand sowohl dem propagierten Ideal der individuellen Entfaltung und sittlicher Erneuerung des Beamten als auch seinem auf das Gemeinwohl verpflichteten Amtsverständnis entgegen. Selbst ein so loyaler Mitarbeiter wie Friedrich Justin Bertuch, der dem Weimarer Herzog Carl August über zwanzig Jahre als Schatullier diente, kritisierte die persönliche Abhängigkeit von einem durchaus wohlwollenden Fürsten 1785 in einem Brief an die Tochter von Justus Möser mit den drastischen Worten: „Aufs Wort, aufs Wort glauben Sie mir’s, liebe Theuerste Freundin, es ist ein leidiges, elendes Ding um das Leben mit Fürsten, und das Glück ihr Leibdiener zu seyn. Kein Tag, keine Stunde ist unser eigen; sie disponieren wie Sultane darüber, und gehen mit unsrer Zeit um, als wär sie auf dem Trödel gekauft.“30 Bertuch zog daraus die Konsequenz, daß er den Weg in die wirtschaftliche Selbständigkeit einschlug. Noch 1815 schrieb er seinem Schwiegersohn Ludwig Friedrich von Froriep, der sein Amt als Leibarzt des württembergischen Königs aufgeben sollte, um künftig das Bertuchsche Verlagsunternehmen zu führen, über das Verhältnis zwischen Fürsten und den in ihren Diensten 27

Hans-Erich Bödeker, Die „gebildeten Stände“ im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert: Zugehörigkeit und Abgrenzungen. Mentalitäten und Handlungspotentiale, in: Kocka (Hrsg.), Bildungsbürgertum (wie Anm. 24), T. 4, 21–52, hier 52. 28 Dieter Langewiesche, Bildungsbürgertum und Liberalismus im 19. Jahrhundert, in: Kocka (Hrsg.), Bildungsbürgertum (wie Anm. 24), T. 4, 95–113, hier 96. 29 Brakensiek, Fürstendiener (wie Anm. 26), 382. 30 Eberhard Crusius, Der Freundeskreis der Jenny von Voigts, geb. Möser. Neue Briefe aus ihrem Nachlaß, in: Osnabrücker Mitteilungen 68, 1959, 234–236, hier 235.

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stehenden Bürgern: „Ich kenne die Großen. Sie sind sich darinnen Alle gleich, und verzeihen schwerlich, wenn man sich von ihnen losmachen will. Wehe dem Mann, der von ihrer Laune abhängt, und sich an ihrer Sonne wärmen muß.“31 Während Bertuch das Ideal der Selbständigkeit durch die Quittierung des Fürstendienstes erlangte, versuchten andere Amtsträger, sich durch einen beschleunigten Übergang von patrimonialen zu modernen anstaltsstaatlichen Strukturen neue Handlungsmöglichkeiten gegenüber dem Monarchen zu verschaffen. Noch bevor das neue Beamtenrecht der Reformstaaten im frühen 19. Jahrhundert der Professionalisierung und größeren Eigenständigkeit des Beamtentums den Weg ebnete32, bildete sich in Teilen der im Staatsdienst Tätigen allmählich ein neues Selbst- und Amtsverständnis heraus, das sowohl ihr Verhältnis zum Monarchen wie zur Gesellschaft zu verändern begann. Stefan Brakensiek hat in seiner vorbildlichen Untersuchung über die Ortsbeamten in niederhessischen Kleinstädten gezeigt, wie aufgeklärte Amtsträger aus der Umklammerung des Monarchen herausstrebten, um Unabhängigkeit bei Urteilsfindung und Amtsführung bemüht waren und die Landeswohlfahrt im Sinne praktischer Aufklärung über die Wünsche des Herrschers zu stellen versuchten.33 Solche Prozesse konnten dazu beitragen, die zwischen den im Staats- und Fürstendienst tätigen Gebildeten und der übrigen Gesellschaft herrschende Kluft zu verringern. Allerdings führte die gewaltige Stärkung, welche die Beamtenschaft durch die Verwaltungs- und Gesellschaftsreformen der napoleonischen Ära in den deutschen Staaten verzeichnete, zunächst einmal zu gegenläufigen Prozessen. Die moderne Bürokratie strebte gerade in der Reformzeit danach, sich nicht nur gegenüber dem Monarchen, sondern eben auch gegenüber den in vielen Fragen auseinanderstrebenden Kräften der Gesellschaft zu verselbständigen, um so ihrem eigenen Verständnis nach dem Gemeinwohl am besten dienen zu können. Die höhere Beamtenschaft der Reformstaaten steuerte zwar auf eine von Rechtsgleichheit und Erwerbsfreiheit geprägte moderne bürgerliche Gesellschaft zu, betrachtete aber die real existierende Gesellschaft noch als Hemmschuh und versuchte, sie von einer unmittelbaren Mitwirkung am Reformwerk auszuschließen.34

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Zitiert nach Schmidt-Funke, Auf dem Weg (wie Anm. 13), 126. Bernd Wunder, Geschichte der Bürokratie in Deutschland. Frankfurt am Main 1986, 21 ff. 33 Brakensiek, Fürstendiener (wie Anm. 26), 381 f. 34 Ausführlich hierzu am Beispiel Preußen Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848. 2. Aufl. Stuttgart 1975: jetzt auch Stefan Haas, Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800–1848. Frankfurt am Main 2005. 32

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Die Folge war jene ausgedehnte Bürokratiekritik, die gerade den vormärzlichen Liberalismus so nachhaltig prägte.35 Ungeachtet dieser Entwicklungen sorgten die Durchsetzung des modernen Anstaltsstaates und seines Beamtenrechts dafür, daß Staatsdiener auf vielen Feldern in ein engeres Verhältnis zu den gesellschaftlichen Kräften, vor allem zum städtischen Bürgertum, traten und damit die Voraussetzungen für die bildungsbürgerliche Führungsrolle im frühen Liberalismus schufen. In diesem Zusammenhang spielten die zwar staatlich eingebundenen, durch die akademische Freiheit aber über größere Handlungsspielräume verfügenden Professoren eine wichtige Rolle. Im frühen 19. Jahrhundert begann die Zeit des „politischen Professorentums“, wobei gerade die Universität Jena mit Männern wie Heinrich Luden und Lorenz Oken eine Pionierrolle einnahm. Diese politischen Professoren verstanden sich als Staatsdiener und Staatsbürger und wurden aufgrund dieses Selbstverständnisses wichtige Mittler zwischen Staat und Gesellschaft und Motoren des Wandels zu einer neuen bürgerlichen Ordnung und politischen Verfassung. Durch ihre Lehrtätigkeit, ihre Publizistik und die von ihnen initiierten Vereine versuchten sie die übrige Gesellschaft für diese neuen Ziele zu mobilisieren.36 Den im Dienst der Volksaufklärung wirkenden protestantischen Pfarrern kam vielfach eine ähnliche Bedeutung zu.37 Und auch für die Richterschaft ist gezeigt worden, wie sie in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die sozialen Gegensätze zur lokalen und regionalen Gesellschaft überwand und zum wichtigen Fürsprecher frühliberaler Ideen werden konnte.38 Unter vielen Angehörigen des sogenannten Bildungsbürgertums ging somit die Neigung zurück, der Gesellschaft generell Reformfeindschaft zu attestieren und ganz auf einen Weg der Reformen von oben zu setzen. Vielmehr suchte man nach praxisnäheren Reformkonzepten, die man im Einklang mit den Betroffenen, vor allem mit dem städtischen Bürgertum, über 35 Lutz Raphael, Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2000, 194 ff. 36 Vgl. Klaus Ries, Die Geburt eines neuen Phänomens aus dem Schoße einer alten Korporation: das politische Professorentum an der Universität Jena zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: „…immer im Forschen bleiben“. Rüdiger vom Bruch zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Marc Schalenberg u. Peter Th. Walther. Stuttgart 2004, 135–156. 37 Vgl. Oliver Janz, Zwischen Amt und Profession: Die evangelische Pfarrerschaft im 19. Jahrhundert, in: Hannes Siegrist (Hrsg.), Bürgerliche Berufe. Zur Sozialgeschichte der freien und akademischen Berufe im internationalen Vergleich. Göttingen 1988, 174– 199. Ein anschauliches Beispiel aus Thüringen liefert Werner Greiling, Bürgerlichkeit im ländlichen Milieu. Die politischen Pastoren Wilhelm Friedrich Schubert und Friedrich Wilhelm Schubert in Oppurg, in: Hans-Werner Hahn/Werner Greiling/Klaus Ries (Hrsg.), Bürgertum in Thüringen. Lebenswelt und Lebenswege im frühen 19. Jahrhundert. Rudolstadt/Jena 2001, 135–163. 38 Vgl. hierzu neben Brakensiek, Fürstendiener (wie Anm. 26), 331 ff., vor allem Christina von Hodenberg, Die Partei der Unparteiischen. Der Liberalismus der preußischen Richterschaft 1815–1848/49. Göttingen 1996.

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Vereine und ähnliche Strukturen vorantreiben konnte. Dieser Weg von spätaufklärerischen zu frühliberalen Konzepten39 wurde im Zuge der Reformzeit durch zwei Grundeinsichten gefördert. Zum einen zeigte sich, daß die von oben betriebene Reformpolitik schon angesichts der Widersprüche zwischen gesellschaftlichem Befreiungswerk einerseits und den neuen Belastungen der napoleonischen Herrschaft andererseits in vielen Bereichen rasch an Grenzen stieß und ohne engere Kooperation mit der Gesellschaft nicht zu Ende zu führen war. Zum anderen gab es innerhalb der stadtbürgerlichen Gesellschaft längst Kräfte, die willens und fähig waren, einen solchen Reformprozeß vor Ort mitzugestalten.40 Im Zuge dieser neuen Entwicklungen wurden zumindest wichtige Teile des Bildungsbürgertums immer stärker in die politischen Auseinandersetzungen zwischen den staatlichen Gewalten und einer um mehr Teilhabe ringenden bürgerlichen Gesellschaft hineingezogen. Sie wurden zum Geburtshelfer und Führer der frühliberalen Bewegung und vertraten ihre seit 1815 immer lauter vorgetragenen verfassungsund einheitspolitischen Forderungen. Die mit dem Aufstieg des Frühliberalismus verbundenen politischen Auseinandersetzungen wiesen eine Fülle qualitativer und quantitativer Veränderungen gegenüber den Konflikten des 18. Jahrhunderts auf. Die gesellschaftliche Basis des in breiten städtischen Mittelschichten verankerten Frühliberalismus war deutlich größer als die der Aufklärungsbewegung. Die Idee der Staatsbürgergesellschaft, in der alle Männer rechtlich und politisch gleichgestellt waren, wurde nun klarer und entschiedener verfochten. Das gleiche galt für die Verfassungsforderungen. Zudem entstand mit der Idee der modernen Nation ein neuer Handlungsraum, in dem sich der Übergang von der alten ständischen Ordnung zu einer modernen Staatsbürgergesellschaft über die politische Mitwirkung der Gesellschaft vollziehen sollte. Trotz dieser quantitativen und qualitativen Veränderungen standen sowohl die politische Programmatik als auch die politische Praxis des deutschen Frühliberalismus in vielerlei Hinsicht in der Kontinuität frühneuzeitlicher Prozesse. Dies galt selbst für den eng mit den liberalen Ideen verknüpften modernen Nationalismus, der nach allen neueren Erkenntnissen keine völlige Neuschöpfung war, sondern in einer engen Beziehung zu älteren Vorstellungen einer deutschen Nation stand. Der Nationalismus der Freiheitskriege von 1813/14 propagierte zunächst weniger die gesellschaftliche Zukunftsvision der modernen Nation, sondern mehr die in der frühen Neuzeit ausgebildeten Feindbilder, und der Reichspatriotismus, die Erinnerung an das vielgliedrige, aber als Rechtsord-

39 Vgl. Dieter Langewiesche, Spätaufklärung und Frühliberalismus in Deutschland, in: Eberhard Müller (Hrsg.), „…aus der anmuthigen Gelehrsamkeit“. Tübinger Studien zum 18. Jahrhundert. Festschrift für Dietrich Geyer. Tübingen 1989, 67–80. 40 Vgl. etwa die Beispiele in Lothar Gall (Hrsg.), Vom alten zum neuen Bürgertum. Die mitteleuropäische Stadt im Umbruch 1780–1820. München 1991.

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nung handlungsfähige Alte Reich spielte im stark föderativ geprägten frühen deutschen Nationalismus noch immer eine wichtige Rolle.41 Vielfältige Kontinuitätslinien zu den frühneuzeitlichen Ideen und politischen Praktiken ergaben sich auch in den frühliberalen Verfassungskonzepten. So wurde die „deutsche Freiheit“ nach 1815 nicht nur von mediatisierten Adeligen beschworen, sondern auch von Teilen des Frühliberalismus.42 Der Jenaer Historiker Heinrich Luden betonte 1815 den hohen Stellenwert der ständischen Traditionen für die politische Gestaltung der deutschen Gegenwart. Unter den neuen Bedingungen nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft sollten nach dem Willen Ludens die in älteren Traditionen stehenden landständischen Verfassungen dazu beitragen, daß das deutsche Volk „sein Eigenthum wieder erkennen, würdigen und lieben“ werde.43 Ludens Jenaer Kollege, der Philosoph Jakob Friedrich Fries, betonte in seiner 1816 erschienenen Schrift „Von deutscher Staatsverfassung“, daß man „auf deutsches Herkommen blicken“ müsse, wenn man „über deutsche Verfassung reden“ wolle.44 Und noch Anfang der 1830er Jahre stellte der liberal-konservative Johann Carl Bertram Stüve der Ordnung des 1815 geschaffenen Deutschen Bundes, die „des Volkes Recht“ nicht in ausreichendem Maße schirme, die alte Reichsverfassung als positives Beispiel entgegen: „Die Reichsgerichte hatten einen Rechtszustand zu schützen, ein altes Reichstaatsrecht, das allen kundig war; ein Territorialstaatsrecht, das freilich minder klar, dennoch auf gemeinschaftlichen Gründen beruhte. Denn schon durch Unterwerfung des Fürsten unter das Recht, durch die gesetzlich anerkannte Befugniß zum Widerstande gegen Ungerechtigkeit, war der Freiheit der festeste Boden gesichert; und wie vieles andre in Steuerbewilligung, Gesetzgebung stützten die alten Rechtslehrer auf gemeines Recht. Das war deutsche Freiheit.“45 Die Berufung auf ältere Freiheitstraditionen und das alte Recht stand zwar hinter den großen Freiheitsverheißungen zurück, wie sie die Französi41 Zu diesen Kontinuitäten vgl. vor allem Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa. München 2000; ders./Georg Schmidt (Hrsg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. München 2000. 42 Vgl. Hans-Werner Hahn, Die alte Freiheit und der Beginn der Moderne. Überlegungen zur Bedeutung der „deutschen Freiheit“ in den politischen Formierungsprozessen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Georg Schmidt/Martin van Gelderen/Christopher Snigula (Hrsg.), Kollektive Freiheitsvorstellungen im frühneuzeitlichen Europa (1400–1850). Frankfurt am Main 2006, 515–535. 43 Heinrich Luden, Ueber den Teutschen Bund, in: Nemesis. Zeitschrift für Politik und Geschichte 6, 1815, 114. 44 Jakob Friedrich Fries, Von Deutschem Bund und Deutscher Staatsverfassung. Heidelberg 1816. Mit einem Nachwort hrsg. v. Gerald Hubmann. Heidelberg 1997, 165 f. 45 Carl Stüve, Ueber die gegenwärtige Lage des Königreichs Hannover. Ein Versuch, Ansichten aufzuklären. Jena 1832, 5 f.

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sche Revolution hervorgebracht hatte. Aber zum einen enthielten auch die Konzepte der sogenannten „Deutschrechtler“ neue Elemente. So forderte Dahlmann in seiner Verfassungsschrift von 1815, aus den „nun frei entwikkelten Ständen eine kräftige Volksvertretung zu bilden“, eine Aufgabe, die das 18. Jahrhundert noch „träge zurückgeschoben“ habe.46 Zum anderen konnte die Berufung auf ältere Freiheitstraditionen der deutschen Geschichte, wie etwa die württembergischen Verfassungskämpfe zeigten, den neuen Verfassungsbewegungen zumindest am Anfang wichtige Impulse geben, zumal sie eben vielfach mit neuen Elementen verschmolzen wurden. Solche deutschrechtlichen Traditionen prägten zwar keineswegs den gesamten deutschen Liberalismus der ersten Jahrhunderthälfte. Aber selbst wichtige Vertreter moderner vernunftrechtlicher Vorstellungen wie etwa Karl von Rotteck brachen keineswegs abrupt mit allen frühneuzeitlichen Politikmodellen und Vorstellungen. Rottecks Auffassung vom Verhältnis zwischen Regierung und Landtagsopposition entsprach noch ganz der dualistischen Struktur der ständischen Verfassungen.47 Überhaupt öffnete sich der deutsche Frühliberalismus erst seit den dreißiger Jahren allmählich Prinzipien der modernen Parteibildung und des Parlamentarismus. Blickt man schließlich auf das Gesellschaftsbild des deutschen Frühliberalismus, so zeigt sich, wie sehr auch dieses im frühen 19. Jahrhundert noch auf der lebendigen Erfahrung der frühneuzeitlichen, vorindustriellen Welt beruhte. Die neuen bürgerlichen Kräfte strebten zwar die Überwindung der ständischen Gesellschaft an. Die neue bürgerliche Gesellschaft sollte allen Gliedern die Chance bieten, durch Leistung und Talent aufzusteigen, sie war durchaus auf Dynamik und wirtschaftlichen Fortschritt angelegt. Aber im Gegensatz zu den englischen Entwicklungen sollte die bisherige soziale Ordnung nicht völlig über Bord geworfen werden. Vielmehr zielte das Gesellschaftsprogramm des deutschen Frühliberalismus auf eine Bürgergesellschaft mittlerer Existenzen, die sich noch an der überkommenen berufsständischen Gliederung der bisherigen Gesellschaft orientierte, auch deren patriarchalische Organisationsform beibehielt und sich somit noch im herkömmlichen Sinne „als die politische Gemeinschaft der Hausväter“ verstand.48 Erst der Durchbruch der Industrialisierung um die Mitte des 19. Jahrhunderts sollte dieser gerade im alten Stadtbürgertum populären Zukunftsvision die sozialen Grundlagen allmählich entziehen. 46

Friedrich Christoph Dahlmann, Ein Wort über Verfassung (1815), in: Hartwig Brandt (Hrsg.), Restauration und Frühliberalismus 1814–1840. Darmstadt 1979, 108 f. 47 Vgl. Lothar Gall, Das Problem der parlamentarischen Opposition im deutschen Frühliberalismus, in: ders., Bürgertum, liberale Bewegung und Nation. Ausgewählte Aufsätze. Hrsg. v. Dieter Hein u. a. München 1996, 126–143. 48 Lothar Gall, Liberalismus und „bürgerliche Gesellschaft“. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland, in: ders., Bürgertum, liberale Bewegung und Nation (wie Anm. 47), 99–125, hier 105.

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Die Verankerung der vom Frühliberalismus vertretenen politischen und sozialen Zukunftsentwürfe mit konkreten Erfahrungen und Orientierungen der Lebenswelt frühneuzeitlicher Stadtbürger war eine wichtige Voraussetzung für die seit dem frühen 19. Jahrhundert entstehende engere Allianz zwischen bildungsbürgerlichen und stadtbürgerlichen Kräften. Ohne die Mobilisierung großer Teile des städtischen Bürgertums hätte der deutsche Frühliberalismus nicht jene Breitenwirkung erzielen können, die ihn vor allem nach 1830 auszeichnete. Blickt man nach dem Wirtschaftsbürgertum und dem Bildungsbürgertum nun auf das Bürgertum der Städte, das ja zahlenmäßig die weitaus größte Gruppe des deutschen Bürgertums bildete, so zeigt sich auch hier im Untersuchungszeitraum das Bild eines Nebeneinanders von Kontinuitäten und Brüchen. Hans-Ulrich Wehler hat in seiner deutschen Gesellschaftsgeschichte ein recht negatives Bild vom Stadtbürgertum um 1800 gezeichnet, das in vielem an die zeitgenössische Philisterkritik49 vieler Gebildeter erinnert. Der Großteil des „erzkonservativen Stadtbürgertums“ habe – so Wehler – bis weit ins 19. Jahrhundert hinein „in altständischer Erstarrung, einem verkrusteten Lebensstil rückwärts gewandt hingegeben, wirtschaftlich und wirtschaftspolitisch orthodox auf der Überlieferung beharrend“ den großen Veränderungsprozessen skeptisch, ja ablehnend gegenübergestanden.50 Nun gibt es zweifellos eine Fülle von Beispielen, die eine solche Sichtweise zu stützen scheinen. Man muß sich nur mit den Petitionen beschäftigen, die vor allem die Bürger deutscher Kleinstädte 1848 an die deutsche Nationalversammlung und andere gesamtdeutsche Einrichtungen schickten, und man wird schnell sehen, wie prägend hier noch die traditionellen Vorstellungen von Nahrungsschutz waren, wie massiv man hier zum Teil gegen Gewerbefreiheit, Freizügigkeit oder Judenemanzipation zu Felde zog.51 Aber das war nur die eine Seite des städtischen Lebens. Die frühneuzeitliche Stadtgeschichtsforschung hat bekanntlich das lange gängige Bild vom Verfall der Stadtkultur zwischen Dreißigjährigem Krieg und Ende des Alten Reiches korrigiert und die Doppelgesichtigkeit der frühneuzeitlichen Stadt hervorgehoben.52 Das gilt selbst für die gerade von den Zeitgenossen 49 Vgl. hierzu Hans-Werner Hahn, Städtische Traditionen und bürgerliche Interessenpolitik: Zum Wandel städtischer Identität zwischen 1770 und 1830 unter besonderer Berücksichtigung des Ereignisraumes Weimar–Jena, in: Gonthier-Louis Fink/Andreas Klinger (Hrsg.), Identitäten. Erfahrungen und Fiktionen um 1800. Frankfurt am Main u. a. 2004, 371–412. 50 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 8), Bd. 1, 203. 51 Werner Conze/Wolfgang Zorn (Hrsg.), Die Petitionen an den Deutschen Handwerker- und Gewerbekongreß in Frankfurt 1848. Bearb. v. Rüdiger Moldenhauer. Boppard 1994; Werner Conze/Wolfgang Zorn (Hrsg.), Die Protokolle des Volkswirtschaftlichen Ausschusses der deutschen Nationalversammlung 1848/49. Mit ausgewählten Petitionen. Bearb. v. Rüdiger Moldenhauer. Boppard 1992. 52 Eine gute Zusammenfassung der neueren Forschung bietet Heinz Schilling, Die Stadt in der frühen Neuzeit. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 24.) München 1993.

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um 1800 vielfach als hoffnungslos rückständig bespöttelten Kleinstädte.53 Aufklärungs- und Bürgertumsforschung haben gezeigt, daß sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gerade auch innerhalb des alten Stadtbürgertums neue Kräfte formierten, die verkrustete innerstädtische Strukturen aufbrechen wollten und gemeinsam mit den außerhalb des stadtbürgerlichen Rechtskreises stehenden Bürgerlichen zu wichtigen Trägern des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wandels wurden. An der Spitze dieser Kräfte standen vor allem die Kaufleute.54 Lothar Gall und die in seinem Bürgertumsprojekt entstandenen Arbeiten betonen daher, daß sich das moderne Bürgertum seit dem 18. Jahrhundert letztlich vor allem aus dem Stadtbürgertum der traditional-ständischen Gesellschaft herausgebildet habe.55 „Auch wenn der Staat als Motor der Veränderung zweifellos an Gewicht gewann, blieben die Städte unabhängig vom Stadttyp und ihrer Nähe zum Staat die eigentlichen Zentren der Mobilität, der Kommunikation und des Wandels.“56 Die über jahrhundertealte Ordnungen und Traditionen verfügenden Städte waren demnach die Bühne, auf der sich das moderne, nachständische Bürgertum konstituierte und von der aus es seine neuen übergreifenden Werthaltungen und politischen Orientierungen propagierte. Trotz aller Kritik, die Literaten und Beamte im ausgehenden 18. Jahrhundert am schlechten Zustand vieler Städte übten, waren die städtische Ordnung und der städtische Bürger für viele zeitgenössische Publizisten der wichtigste Ausgangspunkt aller neuer Bestrebungen. 1808 bezeichnete etwa Karl Dietrich Hüllmann die Gründung freier Städte als ersten großen Schritt zum „Sieg des Lichts über die Dämmerung“.57 Herder pries wenige Jahre zuvor den „mittleren Stande“, von „dem bekanntermaaßen die geistige Thätigkeit und Cultur“ ausgehe.58 Für Fichte war 1807 alles, „was jetzt noch Ehrwürdiges ist unter den Deutschen“ aus der Mitte, aus dem Bürgergeist der „Frömmigkeit, der Ehrbarkeit, der Bescheidenheit, des

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Vgl. Hans-Werner Hahn, „Brutöfen des Philistertums“ oder Träger des Wandels? Die deutschen Mittel- und Kleinstädte in den Modernisierungsprozessen des frühen 19. Jahrhunderts, in: Klaus Neitmann (Hrsg.), Das brandenburgische Städtewesen im Übergang zur Moderne. Stadtbürgertum, kommunale Selbstverwaltung und Standortfaktoren vom preußischen Absolutismus bis zur Weimarer Republik. Berlin 2001, 19–38. 54 Vgl. hierzu Fehrenbach, Bürgertum und Liberalismus (wie Anm. 6). 55 Zusammenfassend Schulz, Lebenswelt (wie Anm. 1), 61 f. 56 So der Mitarbeiter und -initiator des Frankfurter Bürgertumsprojektes Dieter Hein, Bürger, Bürgertum, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), Das Fischer Lexikon Geschichte. Aktualisierte, vollständig überarb. und ergänzte Aufl. Frankfurt am Main 2003, 162–179, hier 170. 57 Karl Dietrich Hüllmann, Geschichte des Ursprungs der Stände in Deutschland. 3. Theil. Frankfurt a. d. Oder 1808, 60. 58 Johann Gottried Herder, Ideen zur Philosophie der Menschheit (1791), in: ders., Sämtliche Werke. Hrsg. v. Bernhard Suphan. Bd. 14. Berlin 1909, 174.

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Gemeinsinnes“ hervorgegangen.59 Dieses Lob der alten Stadt und ihrer Bürger bedeutete nicht, daß man die Schwächen des gegenwärtigen Zustandes übersah. Entscheidend war aber, daß man das seit der Aufklärung propagierte und geradezu emphatisch aufgeladene neue Bürgerideal an „den realen, rechtlich und sozial genau fixierten Bürgerbegriff“ der eigenen Zeit knüpfte60 und die durch Bildung verbesserten städtischen Bürger zum Ausgangspunkt aller Reformbestrebungen machte. Diese Debatten setzten schon lange vor dem Ende des Alten Reiches in den deutschen Städten neue Entwicklungsprozesse in Gang, die im frühen 19. Jahrhundert an Dynamik gewannen. Deutlich wurde dies in den innerstädtischen Reformdebatten über Armen- und Schulwesen, der Gründung von Vereinen zur Beförderung von Reformideen, in den Bemühungen um die wirtschaftliche Modernisierung der Stadt sowie in Versuchen, festgezurrte innerstädtische Verfassungsstrukturen aufzulockern und neuen Eliten Zugang zu städtischen Führungspositionen zu verschaffen. Angesichts der Vielfalt des von unterschiedlichsten Typen geprägten deutschen Städtewesens ist noch genauer zu untersuchen, inwieweit die neuen Entwicklungen des 18. Jahrhunderts aus den städtischen Bürgergemeinden selbst hervorgingen oder inwieweit die Anstöße von außen, von Staatsbeamten und anderen außerhalb des Bürgerstandes stehenden Gebildeten kamen. In den kleinen Städten des Thüringer Raumes, vor allem in den Residenzstädten der kleinen Fürstentümer61, dürften solche Außeneinflüsse größer gewesen sein als in großen und freien Handelsstädten wie Frankfurt, Hamburg oder Bremen mit ihrem wohlhabenden und selbstbewußten Bürgertum.62 Genauer zu hinterfragen ist auch, inwieweit die wachsenden staatlichen Eingriffe in die Städte die skizzierten innerstädtischen Entwicklungen bremsten oder förderten. Obrigkeitsstaatliche Eingriffe konnten einerseits die Dynamik von städtischen Eigenentwicklungen abbremsen. Sie konnten andererseits, wie dies in manchen Städten der Rheinbundstaaten zu beobachten ist, auch wirtschaftlich aufstrebenden, bislang aber noch nicht in der städtischen Elite etablierten Bürgern – Kaufleute, Brauer, Unternehmer – Positionsgewinne verschaffen und die Voraussetzungen für innere Reformprozesse verbessern.63

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Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation (1807/08), in: Fichtes Werke. Hrsg. v. Fritz Medicus. Bd. 5. Leipzig 1910, 467. 60 Lothar Gall, „…ich wünschte ein Bürger zu sein“. Zum Selbstverständnis des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, in: ders, Bürgertum, liberale Bewegung und Nation (wie Anm. 47), 3–21, hier 7. 61 Vgl. hierzu Hahn u. a. (Hrsg.), Bürgertum in Thüringen (wie Anm. 37). 62 Zu Bremen vgl. Andreas Schulz, Vormundschaft und Protektion. Eliten und Bürger in Bremen 1750–1880. München 2002. 63 Vgl. etwa Johanna May, Vom obrigkeitlichen Stadtregiment zur bürgerlichen Kommunalpolitik. Entwicklungslinien der hannoverschen Stadtpolitik von 1699 bis 1824. Hannover 2000, 508 ff.

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Insgesamt gesehen aber brachte die nach dem Ende des Alten Reiches einsetzende Reformzeit trotz aller Neuerungen im Stadtrecht und trotz des einsetzenden Elitenwandels in den Städten keineswegs einen völligen Bruch mit den frühneuzeitlichen politischen Ordnungsvorstellungen und Praktiken des städtischen Bürgertums. Dies zeigte sich vor allem in dem starken Streben der Städte nach Selbstverwaltung, nach Gemeindefreiheit gegenüber einem nun noch stärker regulierend eingreifenden modernen Verwaltungsstaat. Während das Preußen der Reformzeit seinen Städten mit der Steinschen Städteordnung des Jahres 1808 neue Gestaltungsspielräume gewährte, wurden die Selbstverwaltungsrechte der Städte in den Rheinbundstaaten mit ihrer bürokratisch-zentralistischen Verwaltungsstruktur noch stärker beschnitten, als dies zuvor in den absolutistischen Bestrebungen der Landesherren der Fall gewesen war.64 Dennoch gelang es auch dem „bürokratischen Absolutismus“ der Rheinbundzeit am Ende nicht, die Kommunen gleichzuschalten. Vielmehr führten die städtischen Erfahrungen mit dem sich nun voll ausbildenden Verwaltungsstaat und vor allem die negativen Begleiterscheinungen des napoleonischen Herrschaftssystems zu wachsender Unzufriedenheit der Bürger, die schließlich in eine starke Rückbesinnung auf die Traditionen städtischer Selbstverwaltung mündete. Nach dem Ende der napoleonischen Ära nahm das Stadtbürgertum seinen Kampf um die Selbstverwaltung nahezu überall mit neuer Energie auf.65 Frühneuzeitliche städtische Traditionen und Einstellungen spielten in diesem Kampf noch immer eine große Rolle. Viele liberale Publizisten priesen nach 1815 die alten Bürgertugenden, das städtische Streben nach Freiheit, die demokratischen Entscheidungsprozesse und den von den Städten ausgehenden wirtschaftlichen Fortschritt. Für Heinrich von Gagern war die Stadt „der Sitz der Intelligenz, die Wiege der Zivilisation, der Hort der Freiheit“.66 Karl Theodor Welcker vertrat die Ansicht, daß erst „durch städtische Bildung bewußte Freiheit und freie Verfassung“ entstehe67, und sprach wie sein badischer Mitstreiter 64

Vgl. hierzu Brigitte Meier/Helga Schultz (Hrsg.), Die Wiederkehr des Stadtbürgers. Städtereformen im europäischen Vergleich 1750 bis 1850. Berlin 1994; Gisela Mettele, Verwalten und Regieren oder Selbstverwalten und Selbstregieren?, in: Lothar Gall (Hrsg.), Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft. (HZ, Beihefte, NF., Bd. 16.) München 1993, 343–366. 65 Vgl. Rainer Koch, Staat oder Gemeinde? Zu einem politischen Zielkonflikt in der bürgerlichen Bewegung des 19. Jahrhunderts, in: HZ 236, 1983, 73–96. Vgl. ferner Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Geschichte der Ideen und Institutionen. 2. Aufl. Stuttgart 1969. 66 Paul Wentzcke/Wolfgang Klötzer (Hrsg.), Deutscher Liberalismus im Vormärz. Heinrich von Gagern, Briefe und Reden 1815–1848. Göttingen 1959, 54. 67 Karl Theodor Welcker, Städte, städtische Verfassung, ihre Entstehung und Wirkung und ihre jetzige Aufgabe in Deutschland, in: ders./Karl von Rotteck (Hrsg.), Das StaatsLexikon oder Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften. Bd. 12. Altona 1848, 391.

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Karl von Rotteck vom „herrlichen teutschen Städtewesen“ früherer Jahrhunderte68. Paul Nolte hat die Traditionen des klassischen Stadtrepublikanismus daher sogar als die entscheidende Antriebskraft des südwestdeutschen Liberalismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bezeichnet.69 Vieles scheint aber dafür zu sprechen, daß die liberalen Selbstverwaltungskonzepte des frühen 19. Jahrhunderts nicht nur durch den Rückgriff auf frühneuzeitliche Politiktraditionen geprägt waren, sondern daß sich in ihnen sehr stark auch jene Erfahrungen und Umbrüche der Zeit um 1800 niederschlugen, die Politik und Gesellschaft so grundlegend verändert hatten.70 So ging es nach 1815 meist nicht mehr um die Rechte einzelner Städte. Der Kampf um die Gemeindefreiheit stand vielmehr in einem engen Zusammenhang mit der Forderung nach Staatsverfassungen, weil sich ein freies Gemeindeleben nur unter verfassungsmäßigen Garantien vollziehen konnte und umgekehrt der Stadtbürger durch die Selbstverwaltungserfahrungen mit seinen Aufgaben als Staatsbürger vertraut gemacht werden konnte. „Die altständische Abneigung gegen die Bürokratie erweiterte sich zu einer scharfen Systemkritik und zum emanzipatorischen Postulat der Befreiung der Bürger von obrigkeitsstaatlicher Bevormundung.“71 Die im Selbstverwaltungsstreben der Städte zum Ausdruck kommende Aneignung neuer politischer Ordnungsvorstellungen hing nicht zuletzt damit zusammen, daß die unterschiedlichen bürgerlichen Sozialformationen während der napoleonischen Zeit vielfach näher zusammengerückt waren. Man kann dies etwa in kleinen Universitätsstädten wie Gießen und Jena beobachten, wo alte Gegensätze zwischen Stadtbürgern und den Angehörigen der Universität ihre Schärfe verloren und Professoren nun sogar als Vertreter der Stadt in die neuen Landtage gewählt wurden. Als 1822 die Regierung in Weimar unter Verweis auf die strikte Trennung der Korporationen Stadt und Universität dem Jenaer Historiker Heinrich Luden das Recht absprach, als Vertreter der Stadt in den Landtag zu ziehen, und ihn nur als Vertreter der Universität im Landtag akzeptieren wollte, verteidigte Luden die Entscheidung der Jenaer Bürger mit dem Hinweis, daß Professoren nach ihrer ganzen Lebenssituation doch auch

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Karl von Rotteck, Allgemeine Geschichte vom Anfang der historischen Kenntnis bis auf unsere Zeiten. Bd. 5. Freiburg 1833, 332. 69 Paul Nolte, Bürgerideal, Gemeinde und Republik. „Klassischer Republikanismus“ im frühen deutschen Liberalismus, in: HZ 254, 1992, 609–656; ders., Gemeindebürgertum und Liberalismus in Baden 1800 bis 1850. Tradition – Radikalismus – Republik. Göttingen 1994. 70 Darauf verweisen jüngst vor allem Stefan Brakensiek, Staatliche Amtsträger und städtische Bürger, in: Lundgreen (Hrsg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums (wie Anm. 2), 138–173; Elisabeth Fehrenbach, Die Entstehung des „Gemeindeliberalismus“, in: dies., Politischer Umbruch (wie Anm. 5), 146–162. 71 Fehrenbach, Entstehung (wie Anm. 70), 160.

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Bürger Jenas seien und nicht des schönsten Rechts beraubt werden sollten, „mit dem Vertrauen ihrer Mitbürger beehrt zu werden“.72 Das Bürgertum der Städte begann sich also auch in seinen politischen Ordnungsvorstellungen neu zu orientieren und alte ständische Unterscheidungsmerkmale zu überwinden. Wie groß die politische Offenheit des städtischen Bürgertums letztlich war und wie fest die Einheit einer sich neu konstituierenden städtischen Gesellschaft in der ersten Jahrhunderthälfte war, ist innerhalb der Bürgertumsforschung noch umstritten.73 Angesichts der unterschiedlichen Stadttypen, die Deutschland aufwies und die sich im 19. Jahrhundert mit den Industrialisierungsprozessen noch vermehrten, erscheint dies aber auch wenig verwunderlich. Weitgehend einig ist sich die Forschung aber inzwischen darin, daß die Modernisierung der städtischen Gesellschaft im frühen 19. Jahrhundert nicht allein auf die staatliche Reformpolitik zurückzuführen ist, die in vielen Bereichen neue Rahmenbedingungen schuf und verkrustete Strukturen von außen aufbrach, sondern auch Ergebnis innerstädtischer Erneuerungsprozesse war, die im 18. Jahrhundert begonnen hatten, durch die Kriege in ihrer Dynamik gebremst worden waren, sich nach 1815 aber mit neuer Intensität fortsetzten. Es war daher kein Zufall, wenn die frühliberale Bewegung in den Stadtgesellschaften die eigentlichen Motoren des Wandels sah. Die kulturelle Imagination der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadtgeschichte wurde in diesem Zusammenhang auf die Erfordernisse der neuen Zeit abgestimmt. Sie war kein retardierendes Element, sondern wies in eine Zukunft, die von den Städten selbst maßgeblich mitgestaltet werden sollte. Die eigene städtische Modernisierungspolitik unterschied sich dabei von der vielfach überhastet, durch Weisung von oben geprägten staatlichen Reformpolitik zu Beginn des Jahrhunderts. Die Sicherung städtischer Freiräume sollte die Voraussetzungen für einen Reformweg liefern, der stärker auf die konkreten Bedürfnisse vor Ort abgestimmt war, der Tradition und Moderne miteinander verband und der die sozialen Kosten des Umbaus, die der Staat bislang allein den Kommunen aufbürdete74, minimieren half und über die freie Bürgergemeinde einen von Mitwirkung der Betroffenen und sozialem Ausgleich geprägten Weg in die Moderne beschreiten wollte. Einig ist sich die Forschung aber nicht nur in bezug auf die Rolle der Stadt in den Modernisierungsprozessen um 1800, sondern auch in einem zweiten Punkt der Bürgertumsgeschichte. Angesichts sehr heterogener Teile kann

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Gerhard Müller, Heinrich Luden und der Landtag von Sachsen-Weimar-Eisenach. Ein Beitrag zur Geschichte des frühen Parlamentarismus in Thüringen, in: Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen. Bd. 10. Weimar 1998, 11–177, hier 76. 73 Vgl. Schulz, Lebenswelt (wie Anm. 1), 62. 74 Vgl. hierzu Dieter Langewiesche, „Staat“ und „Kommune“: Zum Wandel der Staatsaufgaben in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: HZ 248, 1989, 621–635.

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man das sich neu herausbildende Bürgertum der Umbruchszeit nicht als soziale Klasse bezeichnen. Das, was die unterschiedlichen Teile seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zusammenführte und dann lange zusammenhielt, war ein Ensemble übereinstimmender Werthaltungen und sozialer Praktiken, also ein spezifisch bürgerlicher Lebensstil. Die einen sprechen in diesem Zusammenhang von „Bürgerlichkeit“75, andere von Bürgerkultur76. Zu dieser, die verschiedenen Teile des Bürgertums integrierenden lebensweltlichen Kultur gehörte ein Wertekanon, dessen Grundelemente durch die bürgerlichen Tugenden der frühen Neuzeit vorgegeben war, der aber seit 1770 eine enorme Dynamisierung, Veränderung und auch Verdichtung erfuhr. Über den Vorgang, der zur Formulierung dieses bürgerlichen Wertekanons führte, und seine Bedeutung für die Herausbildung des modernen Bürgertums besteht heute, nicht zuletzt durch die umfassende Studie von Michael Maurer, weitgehend Einigkeit.77 Mit der allmählichen Auflösung der traditionalen Ordnung und dem Heraufziehen der neuen Gesellschaft bürgerlicher Individuen trat an die Stelle ständisch vorgegebener, durch kirchliche und weltliche Macht überwachter und durchgesetzter Orientierung an religiösen oder zumindest religiös abgestützten, d. h. außerweltlichen, Normen eine neue innengeleitete Wertordnung. Sie gab dem einzelnen die Chance und die Pflicht, eine je eigene Individualität auszubilden. Die neuen Werte konnten daher dem Individuum nicht nur von außen eingeprägt werden, sondern jeder einzelne mußte sie in aktiver Auseinandersetzung mit ihren Inhalten für sich formen und adaptieren. Neben die Orientierung, welche die bürgerlichen Werte boten, traten also gleichrangig – gewissermaßen als eigener Wert – der Prozeß ihrer individuellen Aneignung und die persönlichkeitsbildende Kraft, die von ihm ausging.78 Diese, den Aufstieg des neuen Bürgertums prägenden Normen und Verhaltensweisen enthielten zahlreiche Elemente aus dem Wertekatalog des frühneuzeitlichen Bürgertums wie das Arbeits- und Leistungsethos, die Ideen der Selbständigkeit und der auf ihr gründende Anspruch auf Partizipation. Sie setzten in wichtigen Bereichen aber auch ganz neue Akzente. Dies galt für die neuen Vorstellungen von Individualität ebenso wie für das neue Bildungskonzept und das im 18. Jahrhundert aufkommende neue bürger-

75 Vgl. Jürgen Kocka (Hrsg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Göttingen 1987; Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2000; Manfred Hettling, Bürgerliche Kultur – Bürgerlichkeit als kulturelles System, in: Lundgreen (Hrsg.), Sozial- und Kulturgeschichte (wie Anm. 5), 310–339. 76 Vgl. Dieter Hein/Andreas Schulz (Hrsg.), Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kultur und Lebenswelt. München 1996. 77 Maurer, Die Biographie des Bürgers (wie Anm. 25). 78 Vgl. hierzu jetzt Hans-Werner Hahn/Dieter Hein (Hrsg.), Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung – Rezeption. Wien 2005.

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liche Familienideal und die Vorstellung einer ganz auf Liebe und Zuneigung zu gründenden Ehe.79 Vor allem aber blieben die entsprechenden Rezeptionsprozesse seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert nicht mehr auf die Eliten des Besitz- und Bildungsbürgertums beschränkt. Die „Verbesserungs-“ oder „Veredelungskonzepte“ erreichten neue Kreise und schufen eine wichtige Voraussetzung für die Einbeziehung breiter stadtbürgerlicher Kräfte in die Formierungsprozesse des neuen Bürgertums. Der Weimarer Buchbindermeister Adam Henß, der ein breites Schrifttum hinterlassen hat, kam als armer Geselle 1806 in die Stadt Goethes und stieg in zwei Jahrzehnten zum angesehenen Bürger, Stadtältesten und Landtagsabgeordneten auf. Henß führte dies darauf zurück, daß er all jene Werte und Verhaltensweisen aufgenommen hatte, wie sie das aufklärerische Verbesserungskonzept des Bürgers enthielt. Für Adam Henß war zudem der mit der Französischen Revolution eingeleitete Umbruch von Staat und Gesellschaft eine wichtige Zäsur, weil durch ihn „gesunkene Dämme“ vernichtet, „morsche Stützen“ zerbrochen und „von Vielem, was den Vätern heilig war, die Weihe“ abgestreift worden war.80 Nur durch die umfassenden Reformen konnte der Weg zu einer besseren sozialen und politischen Ordnung gebahnt werden. Die Art und Weise, wie Henß selbst diese neue bürgerliche Welt gestalten wollte, wies freilich in vielem wiederum zurück auf die Bürgerwelt der frühen Neuzeit. Dies hing auch damit zusammen, daß Henß und andere keinen völlig feststehenden neuen Wertekatalog rezipierten, sondern das Werteangebot auch immer wieder der jeweiligen Lebenswelt und den spezifischen Interessen der Rezipienten anpaßten.81 Gerade in den familienbiographischen Ansätzen der Bürgertumsforschung zeigt sich, daß die Herausbildung eines neuen Bürgertums über längere Zeiträume verlief und vielfältige Formen aufweisen konnte. Abschließend bleibt festzuhalten, daß der Blick in die unterschiedlichsten Aspekte der Bürgertumsgeschichte der Umbruchszeit um 1800 unterstreicht, wie wichtig es ist, die frühneuzeitlichen Forschungsansätze und die Forschungen zum Bürgertum des 19. Jahrhunderts eng miteinander zu verzahnen. Der Aufstieg des neuen Bürgertums begann noch in der frühen Neuzeit, und obwohl sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert viele Tendenzen deutlich beschleunigten und auch zu qualitativen wie quantitativen Verände79

Ann Charlott Trepp, Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum 1770–1840. Göttingen 1996; Rebekka Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750–1850). Göttingen 2000. 80 Adam Henß, Randbemerkungen zur Weimarer Stadtordnung von 1838. Weimar 1838, 38. 81 Zu Henß vgl. Hans-Werner Hahn, „Aus uns selbst muss das Gute hervorgehen, was gedeihen soll…“ Werterezeption und Wertevermittlung in bürgerlichen Milieus der Residenzstadt Weimar, in: ders./Hein (Hrsg.), Bürgerliche Werte (wie Anm. 78), 337–362.

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rungen führten, blieben die verschiedensten Entwicklungsprozesse bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch stark von frühneuzeitlichen Strukturen und Traditionen beeinflußt. Erst nach der Revolution von 1848/49 und dem Durchbruch der modernen Industriegesellschaft nahm die Entwicklung auf vielen Feldern einen anderen Verlauf. Die hier behandelte Zeit zwischen der Mitte des 18. Jahrhunderts und der Revolution von 1848/49 erscheint in der Geschichte des deutschen Bürgertums in vielfacher Hinsicht als eine eigene Phase, die sich von der alten frühneuzeitlichen Bürgerwelt ebenso abhob wie von der bürgerlichen Welt der entfalteten Industriegesellschaft.

Teil 2 Management, Kommunikation, Praxis: Erscheinungsformen des Wissens in der Frühen Neuzeit

Gelehrtes Wissensmanagement in der Frühen Neuzeit Von

Helmut Zedelmaier Wissensgeschichte hat Konjunktur.1 Die neue Wortverbindung ersetzt in jüngster Zeit zunehmend alte Bezeichnungen wie Wissenschafts-, Bildungsoder Ideengeschichte. Sicherlich handelt es sich dabei oft nur um Fragen der Etikettierung: geläufigen, ins Abseits geratenen Erzählungen verspricht der Begriff Wissen, der besonders in der Verbindung „Wissensgesellschaft“ im Fokus gegenwärtiger Rede steht, neue Attraktivität. Doch ist die konstatierte Umstellung „Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte“2 keineswegs bloßer Etikettenschwindel. Die Umstellung verweist im Fall der Wissenschaftsgeschichte auf die (gar nicht so neue) Kritik an der klassischen Wissenschaftsgeschichte, die, orientiert an gegenwärtigen Disziplinen, Abstammungsgeschichte nur schwer umgehen kann. Wissensgeschichte dagegen steht für die Aufmerksamkeit für unterschiedliche, nicht auf „wissenschaftliches“ Wissen beschränkte historische „Wissensfelder“, in methodischer Hinsicht für Historisierung und Kontextualisierung von Wissenschaft und Wissen. In der Erweiterung des Horizonts wird allerdings zunehmend undeutlich, was Wissensgeschichte eigentlich ist, welche Geschichte sie (im Unterschied zu anderen Geschichten) erzählt bzw. erzählen soll. „Wissen“, kann man in dem Band „Revolutionen des Wissens“ lesen, „ist ein eigentümliches Ding. Unverzichtbar für das Leben jedes einzelnen, allgegenwärtig in dem, was Menschen sagen und tun, wird es rätselhaft, sobald man es selbst zum Gegenstand erhebt“.3 Peter Burke, der Verfasser einer „Social History of Knowledge“, verweist auf einen anderen Aspekt: „in dem Augenblick, wo das Wissen in den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses gerückt ist“, werde „seine Zuverlässigkeit von Philosophen und anderen immer radikaler oder

1 Vgl. die beiden auf die Frühe Neuzeit bezogenen Forschungsberichte von Marian Füssel (Auf dem Weg zur Wissensgesellschaft. Neue Forschungen zur Kultur des Wissens in der Frühen Neuzeit, in: ZHF 34, 2007, 273–289) und Markus Völkel (‚Lob des Blüthenstaubs‘ oder ‚musivisches Werk‘? Neuerscheinungen auf dem Gebiet der Wissensgeschichte, in: AKG 89, 2007, 191–216). 2 Jakob Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte. Für eine Historisierung der „Wissensgesellschaft“, in: GG 30, 2004, 639–660. 3 Johannes Fried/Johannes Süßmann, Revolutionen des Wissens – eine Einführung, in: dies. (Hrsg.), Revolutionen des Wissens. Von der Steinzeit zur Moderne. München 2001, 7–20, hier 8.

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zumindest immer lauter in Frage gestellt. Was wir bislang für Entdeckungen hielten, wird heute oft als ‚erfunden‘ oder ‚konstruiert‘ beschrieben“.4 Um die Konstruktion von Wissen geht es auch in der folgenden Geschichte. Allerdings nicht in epistemologischer, sondern praktischer Hinsicht. Die Ausführungen beschränken sich auf einen Ausschnitt der frühneuzeitlichen Wissensgeschichte: auf die Tätigkeit frühneuzeitlicher Gelehrter. Nicht Ideen und Einsichten, also die Endprodukte ihrer Arbeit, vielmehr deren „gelehrter“ Untergrund steht dabei im Zentrum. Wie, d. h. mit Hilfe welcher Techniken und Methoden, lautet genauer die Frage, haben diese Gelehrten sich das schriftlich überlieferte, „gelehrte“ Wissen angeeignet, wie haben sie es verwaltet und weiterverarbeitet, und: wie haben sich diese Praktiken im Verlauf der Frühen Neuzeit verändert? Einige allgemeine Gesichtspunkte seien vorangestellt. Das an Schulen und Universitäten vermittelte Wissen war auf Auslegung und Applikation eines überschaubaren Kanons autoritativer (überwiegend antiker) Bücher bezogen. Nach dem Vorbild der Bibel besaß jedes Fach ein eigenes „Buch der Bücher“. Universitäre Fächer konstituierten sich nicht über spezielle (Sach-)Fragen und Methoden, vielmehr über die „lectio“ und „interpretatio“ bestimmter Bücher. Universitäre Wissenschaft war in dieser Hinsicht in der Frühen Neuzeit primär Textwissenschaft. Die Lektüre und Auslegung der vorgeschriebenen Lehrbücher war im Rahmen des universitären Curriculums streng reglementiert, auf die Einübung weniger Bücher konzentriert und von der Instruktion der akademischen Lehrer beherrscht.5 Einen anderen Zugang zu gelehrtem Wissen eröffneten die vielfältigen enzyklopädischen Wissenskompendien der Zeit.6 Sie ermöglichten sozusagen selbständiges Wissensmanagement, stellten Wissen leicht abrufbar zur Verfügung. Die oft umfangreichen Register, mit denen solche Werke gewöhnlich ausgestattet waren, fungierten dabei als Suchmaschinen.7 Sie ver4

Peter Burke, A Social History of Knowledge. Cambridge 1997; hier zitiert nach der deutschen Übersetzung: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft. Berlin 2000, 9. 5 Zur Universität und ihrer Lehrpraxis im frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reich vgl. Arno Seifert, Das höhere Schulwesen. Universitäten und Gymnasien, in: Notker Hammerstein (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 1. München 1996, 197–374; Notker Hammerstein, Bildung und Wissenschaft vom 15. bis zum 17. Jahrhundert. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 64.) München 2003. Vgl. jetzt auch William Clark, Academic Charisma and the Origins of the Research University. Chicago 2006, und Marian Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006. 6 Aus den zahlreichen neueren Publikationen zur enzyklopädischen Literatur: Theo Stammen/Wolfgang Weber (Hrsg.), Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien. Berlin 2004; Ulrich Johannes Schneider (Hrsg.), Seine Welt wissen. Enzyklopädien in der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006. 7 Vgl. Ann Blair, Reading Strategies for Coping with Information Overload ca. 1550– 1700, in: Journal of the History of Ideas 64, 2003, 11–28; Helmut Zedelmaier, Facilitas

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weisen, so Georg Philipp Harsdörffer, „gleichsam mit dem Finger“ darauf, „wo eines oder das ander zu finden“, da doch „keiner der Zeit hat / alle und jede Bücher zu durchlesen / welche sonderlich keine Schulbücher sind / und nur zu dem nachschlagen dienen“.8 Zugleich empfahlen sich viele dieser Wissenssummen ausdrücklich als Anleitungen zur selbständigen Wissensaneignung und Wissensverarbeitung. Das machte nicht zuletzt ihren auch kommerziellen Erfolg aus. Bereits im 16. Jahrhundert gab es außerdem Orientierungsinstrumente über den Bestand gelehrten Wissens, Universal- und Spezialbibliographien. Im Gefolge des Buchdrucks erhielten Bücher nicht nur ihre bis heute gültigen Adressen: Autor, Titel, Verlag, Ort und Jahr; der Buchdruck ermöglichte auch in einem bis dahin ungeahnten Ausmaß, daß sich Gelehrte in unterschiedlichen Städten und Ländern auf dasselbe identische Buch beziehen konnten. Er weckte damit das Bedürfnis nach „idealen“ Verzeichnissen und Inventarisierungen gelehrten Wissens – unabhängig vom besonderen Aufbewahrungsort der Bücher.9 Enzyklopädische Wissensvermittlung und Bibliographien (in der Frühen Neuzeit heißen sie gewöhnlich „Bibliothecae“) stehen für die Möglichkeit selbständiger Orientierung und Aneignung gelehrten Wissens. Die wachsende Zirkulation von Büchern, die unter den Bedingungen des Buchdrucks auch Leser erreichten, die zuvor keinen Zugang zur Welt der Schrift hatten, wurde aber (nicht nur von Obrigkeiten) vor allem als Gefahr wahrgenommen. Darauf verweist nicht nur das Projekt eines kontrollierten Wissenszugangs, für das die „Indices librorum prohibitorum“ stehen, auf denen Bibliographien und Werke enzyklopädischer Wissensvermittlung protestantischer Provenienz besonders stark vertreten waren.10 Die Sorge um den sich selbst überlassenen, dem Bücherwissen unkontrolliert ausgesetzten Leser erstreckte sich seit dem 16. Jahrhundert auch auf die Praktiken der gelehrten Wissensaneignung. Davon erzählen Instruktionen für das gelehrte Lesen in der Frühen Neuzeit. Sie behandeln Fragen der Literaturauswahl, aber auch Normen für die richtige Einstellung zum Lesen inveniendi. Zur Pragmatik alphabetischer Buchregister, in: Stammen/Weber (Hrsg.), Wissenssicherung (wie Anm. 6), 191–203. 8 Georg Philipp Harsdörffer, Delitiae philosophicae et mathematicae. Der philosophischen und mathematischen Erquickstunden dritter Theil. Nürnberg 1653. Hrsg. u. eingel. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt am Main 1990, 57. 9 Alfredo Serrai, Storia della bibliographia. 11 Bde. Rom 1988–2001; Helmut Zedelmaier, Bibliotheca universalis und Bibliotheca selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 1992. 10 Hubert Wolf (Hrsg.), Inquisition, Index, Zensur: Wissenskulturen der Neuzeit im Widerstreit. München u. a. 2001; Helmut Zedelmaier, Das katholische Projekt einer Reinigung der Bücher, in: Wulf Oesterreicher/Gerhard Regn/Winfried Schulze (Hrsg.), Autorität der Form – Autorisierungen – Institutionelle Autorität. (Pluralisierung und Autorität, Bd. 1.) Münster 2003, 187–203.

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und die mit dem Wissenserwerb durch Lektüre verbundenen Praktiken.11 Diese Leseinstruktionen stehen im Fokus der folgenden Ausführungen. Dabei soll der Gesichtspunkt der Selbständigkeit der Wissensaneignung und -verarbeitung leitend sein. Selbständiges Wissensmanagement fordern zunächst vor allem jesuitische Leseanleitungen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein, und zwar gerade deshalb, weil diese, wie zu zeigen sein wird, auf besondere Weise von den Gefahren des unkontrollierten Wissenserwerbs beherrscht sind. Instruktionen zum gelehrten Lesen finden sich in der Frühen Neuzeit in unterschiedlichen Textzusammenhängen. Jean Bodins „Methodus ad facilem historiarum cognitionem“ (Erstdruck 1566) etwa behandelt Techniken des Exzerpierens und der Verwaltung von Exzerpten als Teil einer Historik.12 Der Frage nach der tatsächlichen Umsetzung von Lektüretechniken kann in überlieferten Büchern (u. a. an Hand von Marginalien) oder in Nachlässen frühneuzeitlicher Gelehrter (an Hand von überlieferten Exzerptheften) nachgegangen werden.13 Doch ist dieser Aspekt gelehrter Praxis hier nicht näher von Interesse. Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen ist wie gesagt das Spannungsverhältnis zwischen der Selbständigkeit und den Gefahren der Wissensaneignung durch Lektüre in jesuitischen Lektüreinstruktionen.14 Jesuitische Leseinstruktionen sind der Versuch, das der Aufsicht entzogene private Lesen einem Regelwerk zu unterwerfen.15 Lesen wird als Tätigkeit beschrieben, die effektiv zu organisieren ist. Wichtig ist die „Beständig11

Vgl. als Überblick: Helmut Zedelmaier, Lesetechniken. Die Praktiken der Lektüre in der Neuzeit, in: ders./Martin Mulsow (Hrsg.), Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2001, 11–30. 12 Vgl. die Abschnitte „De locis historiarum recte instituendis“, „De historicorum delectu“ und „De recto historiarum judicio“ in: Jean Bodin, Methodus ad facilem historiarum cognitionem. Aalen 1967 (= Ndr. der Ausgabe Amsterdem 1650). Zum gelehrten Leser Bodin Ann Blair, The Theater of Nature. Jean Bodin and Renaissance Science. Princeton, N. J. u. a. 1997; zur Exzerpierkunst als Teil der Historik Anthony Grafton, What Was History? The Art of History in Early Modern Europe. Cambridge 2007. 13 Vgl. Helmut Zedelmaier, Karriere eines Buches. Polydorus Vergilius „De inventoribus rerum“, in: Frank Büttner/Markus Friedrich/Helmut Zedelmaier (Hrsg.), Sammeln – Ordnen – Veranschaulichen. Wissenskompilatorik in der Frühen Neuzeit. Münster 2003, 175–203; Gilbert Heß, Fundamente fürstlicher Tugend. Zum Stellenwert der Sentenz im Rahmen der voruniversitären Ausbildung Herzog Augusts d. J. von Braunschweig-Lüneburg (1579–1666), in: ebd. 131–173. 14 Zu den jesuitischen Lektüreinstruktionen vgl. den Überblick von Florian Neumann, Jeremias Drexels Aurifodina und die Ars excerpendi bei den Jesuiten, in: Zedelmaier/ Mulsow (Hrsg.), Die Praktiken (wie Anm. 11), 51–61; zur Exzerpierkunst Alberto Cevolini, De arte excerpendi. Imperare a dimenticare nelle modernità. O. O. 2006 (Archivum Romanicum. Biblioteca 1. 333). 15 Zum Folgenden: Helmut Zedelmaier, Johann Jakob Moser et l’organisation érudite du savoir à l’époque moderne, in: Lire, copier, écrire. Les bibliothèques manuscrites et leurs usages au XVIIIe siècle. Ed. par E. Décultot. Paris 2003, 43–62, bes. 53 ff. (hier die lateinischen Quellenbelege zu den im folgenden referierten Leitsätzen).

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keit beim Lesen“, die strikte Einhaltung von „Arbeitszeiten“, das sorgfältige Lesen (vom Anfang zum Ende) und die genaue Festlegung, wann wie viel zu lesen ist. Die Rationierung der Lektüre dient, analog der jesuitischen „Ratio studiorum“, der Selbstkontrolle des Lesers, der dadurch die Wirkungen der Lektüre beherrschen lernen soll. Denn Lektüre hat unmittelbaren „Einfluß“, sie ist analog der Nahrungsaufnahme, mit der ihre Macht seit der Antike parallelisiert wird, ein medizinischer Tatbestand. Texte sind leibhaftige und stimmbegabte Produkte, die „hungrige“ Leser formen. Leser, besonders jugendliche Leser, müssen vor der Gewalt dieser „Einflüsse“ geschützt werden. Mit Hilfe einer disziplinierten Haltung gegenüber dem Lesen und der Ausstattung mit speziellen Techniken sollen sie in die Lage gesetzt werden, Widerstand zu leisten. Lesetechniken sind Schutzschilde. Mit ihrer Hilfe sollen Leser Angriffe abwehren, die hereinstürzenden Stimmen in ein Ordnungsgefüge bannen, das der Disziplinierung weltlicher Neugierde und Begierde und damit der Ausrichtung auf das Seelenheil dient. „Beim Lesen eines Buches hat man mit dem Autor persönlichen Umgang“; die jesuitische Profilierung dieser humanistischen Sicht lautet: ein „schlechtes Buch ist schlimmer als eine Bestie“; und weil „keine Beziehung enger ist als die des Lesers zu dem Buch, das er liest“, können Bücher „verderblicher als Ungeheuer“ sein, denn sie „wirken an vielen Orten zugleich“. Die jesuitische Pädagogik imaginiert den Ansturm der „Bestien“, um aus ihrer Bändigung besondere Kraft zu ziehen. Die Zurüstung des in einsamer Lektüre sich selbst überlassenen Einzelnen erfordert die Ausbildung von Urteilsfähigkeit. Nur so können verderbliche von guten „Einflüssen“ unterschieden werden. Urteilskraft ist deshalb die zentrale Kategorie jesuitischer Exzerpieranleitungen. Jeremias Drexel verfaßte mit der (erstmals 1638 gedruckten) „Aurifodina artium et scientiarum“ die erfolgreichste Exzerpieranleitung des 17. Jahrhunderts.16 Er hat seine Exzerpierkunst, orientiert an Justus Lipsius, die große Autorität klugen und scharfsinnigen Urteilens, als eine vom „iudicium“ geleitete Lesekunst entfaltet. Die Fähigkeit zu urteilen bildet sich nach Drexel durch Exzerpieren aus. Es erzieht zu langsamem, bedächtigem und aufmerksamem Lesen, es zwingt Leser, abzuwägen und zu vergleichen. Es erzwingt damit eine Inbesitznahme der Lektüre, die auf gedanklicher Auseinandersetzung mit den Texten beruht. Zwar gebe es, verteidigt Drexel die Notwendigkeit des Exzerpierens, bereits nützliche Exzerptsammlungen in großer Zahl (er zählt dabei gebräuchliche Titel enzyklopädischer Wissenssummen auf); unvergleichlich mehr wert sind jedoch Aufzeichnungen, die selbst ausgeschöpft, auf Grund eigener Urteile ausgewählt werden.17 16 17

Vgl. Neumann, Jeremias Drexels Aurifodina (wie Anm. 14). Vgl. Zedelmaier, Johann Jakob Moser (wie Anm. 15), 56 f.

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Eine weitere Sorge bezeichnet die Instruktionen zum gelehrten Lesen: die Sorge um das Gedächtnis. Lesen, dessen Zweck das Abspeichern der Lektüre in Exzerptbücher ist, tendiert zum flüchtigen, zum erinnerungslosen Lesen. Zwar wird das Exzerpieren in den Leseinstruktionen gerade als Mittel gegen gieriges und erinnerungsloses Lesen empfohlen, zugleich aber eben auch als Gefahr für das Gedächtnis problematisiert. Bücher sind, so eine häufige frühneuzeitliche Beschreibung, stumme und tote Lehrer, die, schreibt Harsdörffer, erst dann „gefasst“ werden können, wenn „die Gebärden / die Stimme / die Hände / und zugleich der gantze Leib bemühet ist / eine Sache einzudrucken“.18 Gedächtnisschulung, die das Lesen in der Frühen Neuzeit immer auch ist, bedarf deshalb des lauten Lesens. Die für den Akt der Einprägung erforderlichen affektiven Erregungen aber, so der italienische Jesuit Francesco Sacchini, können beim exzerpierenden Lesen nicht entstehen, da das Lesen zu oft unterbrochen wird. Sacchinis „De ratione libros cum profectu legendi“, 1614 erstmals gedruckt, ist die auflagenstärkste Leseanleitung des 17. Jahrhunderts. In ihr wird empfohlen, jeweils zweimal zu lesen: einmal still zum Exzerpieren, danach laut zum Einprägen.19 Das stille Lesen ist für Sacchini dennoch die wichtigere Technik. Es ist nämlich nicht nur die für das Exzerpieren adäquate Praxis; es fördert auch das Nachdenken. Man könne dadurch, so nochmals Harsdörffer, „eine Sache mit viel reiffern Bedacht lesen / aus den Figuren erkennen / der Sachen nachsinnen / und es zu Sinne fassen / da die flüchtige Rede / bestehend in ihrer Unbeständigkeit / verschwindet / und hat man nicht Gelegenheit zu allen Zeiten nachzufragen / wie man mit den Verstorbenen aus den Büchern reden kann“.20 Diese Hinweise verdeutlichen die Ambivalenz in der Einstellung gegenüber dem gelehrten Lesen. Nach der Theorie der Rhetorik ist es auf Verlebendigung und Repräsentanz in Redeakten ausgerichtet und deshalb auf Gedächtnispräsenz angewiesen. Andererseits verselbständigt sich die gelehrte Neugierde zum Selbstzweck (etwa in der Arbeit der Philologen). Diese Ambivalenz zeigt sich auch in der Einstellung der Leseinstruktionen zum „Verzetteln“ der Lektüre. Es wird als problematische Tätigkeit vorgeführt. Das Exzerptmaterial soll in festgebundene Exzerpthefte nach vorgegebenen Rubriken und Titeln verbucht werden. Ausdrücklich wird vor der Benutzung von losen Zetteln gewarnt. Die dafür angeführten Gründe verweisen auf die Gefahren, welche ungebundene Zettel für die „memoria“ mit sich bringen. Die Regel in den Leseinstruktionen lautet deshalb: Das Exzerptmaterial ist ständig wiederzulesen, um es dem Gedächtnis einzuprägen. Nur da18

Harsdörffer, Delitiae philosophicae (wie Anm. 8), 21. Francesco Sacchini, De ratione libros cum profectu legendi libellus. Ingolstadt 1614, Cap. XIV. 20 Harsdörffer, Delitiae philosophicae (wie Anm. 8), 21 f. 19

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durch ist seine Verfügbarkeit auch ohne Rückgriff auf die Exzerptsammlung selbst gewährleistet.21 Das Memorieren benötigt festgefügte Ordnungsstrukturen. Ein frei disponibles Ordnungssystem mit losen Zetteln dagegen ist nur mehr bloßes Instrument zum Abspeichern und Auffinden von Wissen, ein ‚sekundäres‘ Gedächtnissystem, das vom natürlichen Gedächtnis nicht mehr beherrscht werden kann. Der Zugriff auf Wissen ist nur mehr im Rückgriff auf die Exzerptsammlung möglich, der Gelehrte einer Technik des Erinnerns ausgeliefert, ohne deren Hilfe er sich als unwissend erweist. Sacchini greift zur Beschreibung der Gefahren, denen die natürliche Gedächtniskompetenz dadurch ausgesetzt ist, daß Wissen, gefördert durch die Erfindung des Buchdrucks, zunehmend in externe Speicher ausgelagert wird, auf Platons Schriftkritik zurück.22 Solche Vorbehalte in Leseinstruktionen verweisen natürlich auf die tatsächliche Zunahme ungebundener Leseweisen sowie die Benutzung entsprechend flexibler Ordnungstechniken. Ein Dokument dafür ist die Bauanleitung für einen Zettelschrank, die in einer Textsammlung des deutschen Gelehrten Vincentius Placcius über das Exzerpieren aus dem Jahr 1689 überliefert ist.23 Mit diesem Zettelschrank begegnet erstmals ein Ordnungssystem zur Speicherung von Exzerptmaterial, das nicht mehr in Büchern eingebunden, sondern wie spätere Zettelkästen frei disponibel ist. In den Lesanleitungen des 17. Jahrhunderts ist die ungebundene Ordnung des Wissens indirekt, als Gefahr einer die „memoria“ destabilisierenden Verzettelung, präsent. Der Schutz des gefährdeten individuellen Lesers war auslösender Impuls für die gelehrten Leseinstruktionen des 17. Jahrhunderts. Die dafür in Anschlag gebrachte Selbstkontrolle erhält in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einen veränderten Kontext. Trotz der angeführten Vorbehalte gegenüber einer ‚gedächtnislosen‘ Wissensverwaltung veränderte sich auch in den Leseinstruktionen die Einstellung gegenüber der Ordnung des Lektürewissens. Es zeichnet sich das Modell eines Selbstdenkens ab, das nicht von

21

Zedelmaier, Lesetechniken (wie Anm. 11), 22 f. Sacchini, De ratione (wie Anm. 19), Cap. X, 70 f. 23 Vincentius Placcius, De arte excerpendi. Vom gelehrten Buchhalten liber singularis. Stockholm/Hamburg 1689, 121–159; vgl. dazu Christoph Meinel, Enzyklopädie der Welt und Verzettelung des Wissens: Aporien der Empirie bei Joachim Jungius, in: Franz M. Eybl/Wolfgang Harms/Hans-Henrik Krummacher/Werner Welzig (Hrsg.), Enzyklopädien der frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer Erforschung. Tübingen 1995, 162–187; Helmut Zedelmaier, Buch, Exzerpt, Zettelschrank, Zettelkasten, in: Hedwig Pompe/Leander Scholz (Hrsg.), Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbewahrung. Köln 2002, 38–53; der Verfasser des anonym überlieferten Manuskripts, das Placcius edierte, konnte inzwischen identifiziert werden: Noel Malcolm, Thomas Harrison and his ‚Ark of Studies‘: An Episode in the History of the Organization of Knowledge, in: The Seventeenth Century 19, 2004, 196–232. 22

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Anderen (und Fremdem) abhängig sein, das aus sich selbst schöpfen will. Einige Indizien dafür seien im folgenden angeführt. Die Verfasser von Exzerpieranleitungen stehen der Mnemotechnik mit ihrer festgefügten ‚loci‘-Architektur kritisch gegenüber. Schon Drexel hat für die „memoriae magistri“ mit ihren ausgeklügelten Vorschriften nur Spott übrig.24 Ebenfalls schon bei Drexel steht nicht die Klassifikation der „loci communes“, die Systematik der Exzerpthefte, im Zentrum des Interesses, vielmehr ihre effektive, auf die Bedürfnisse und Umstände einzelner Gelehrter zugeschnittene Organisation. Für Daniel Georg Morhof heiligt beim Exzerpieren der Zweck die Mittel.25 Man muß die Ernte des Lesens in seine Scheune einfahren, um sie, wie ein guter Familienvater, stets zur Verfügung zu haben. Unter dem Vorzeichen ‚politischer‘ Klugheit ist Wissenschaft eine Frage des Kampfes, der Schnelligkeit und Schlagfertigkeit erfordert. Hauptsache ist, man hat das, was man braucht, schnell zur Hand. Es kommt nicht so sehr darauf an, meint Morhof, in welcher Ordnung man die Waffen in Stellung bringt, vielmehr darauf, sie zur Stelle zu haben, wenn es zum Kampf kommt. Häufig nämlich stünden diejenigen, die allzu viel auf subtile Exzerpiermethoden geben, im entscheidenden Moment ohne Waffen da. Die Titel zur Verzeichnung der Exzerpte sind nach Morhof möglichst nicht (von anderen) vorgeordnete, festgelegte Kategorien. Sie entstehen vielmehr erst während der Lektüre in der Auseinandersetzung mit der Sache und ihrem Kontext. Die von Morhof betonte Effektivität der Benutzung ist ein leitender Gesichtspunkt in Exzerpieranleitungen seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Wichtiger als die Topik der Wissensverwaltung ist das schnelle Auffinden von Wissen mit Hilfe alphabetischer „indices“. Die Wissensverwaltung mit Hilfe von „indices“ ermöglicht größere Unabhängigkeit von vorgeordneten Topiken der Verzeichnung. John Locke etwa konzentriert sich in einer zuerst anonym 1686 publizierten „Méthode nouvelle de dresser des Recueuils“ ganz auf die Anlage möglichst knapper „indices“.26 24

Jeremias Drexel, Aurifodina artium et scientiarum omnium; excerpendi sollertia, omnibus litterarum amantibus monstrata. München 1638, 375: „Quosdam memoriae magistros rideo, qui nescio quot domunculas aedificant, & in domunculis cellulas, rerumque imagines multiplicant in infinitum. Eruditum sane principium ad inducendam phrenesin. Ad hanc porro memoriam, quanta opus est memoria? Si velimus, Faustine, impendijs minoribus insanire possumus“. 25 Morhof behandelt die „ars excerpendi“ im dritten, 1692 posthum erschienenen Buch des „Polyhistor“; vgl. Helmut Zedelmaier, De ratione excerpendi: Daniel Georg Morhof und das Exzerpieren, in: Françoise Waquet (Ed.), Mapping the World of Learning: The Polyhistor of Daniel Georg Morhof. Wiesbaden 2000, 75–92, und ders., Johann Jakob Moser (wie Anm. 15), 58 f. (dort die lateinischen Quellenbelege des Referats zu Morhof). 26 Methode nouvelle de dresser des Recueuils Communiquée par l’Auteur, in: Bibliothèque Universelle et Historique. Vol. 2. Amsterdam 1686, 315–340; zwanzig Jahre später erschien der Text, jetzt unter dem Namen des Autors, leicht verändert in Englisch: John Locke, A New Method of Making Common-Place-Books. London 1706.

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Der Betonung der Selbständigkeit, Effektivität und Praktikabilität der Wissensverwaltung korrespondiert in den Leseanleitungen der Aufstieg der „Adversaria“, der Exzerpthefte, in die ohne Ordnung nacheinander alles, was im Verlauf der Lektüre Wichtiges begegnet, eingetragen wird. Umgekehrt sinkt die Bedeutung der „Codices“, in denen Exzerpte vorgefertigten topischen Rastern zugeordnet werden. Morhof hat auch diesen Gesichtspunkt in eine luzide Sentenz gefaßt: „Es ist sehr nützlich, Exzerpte nicht nur unter Loci zu ordnen, sondern auch Adversaria anzulegen. In ihnen sammeln wir, was uns bei der Lektüre oder beim täglichen Nachdenken eingefallen ist, auch was wir gesehen haben oder uns erzählt worden ist.“27 Exzerpieren ist hier nicht die Suche nach Mustern zur Nachahmung, sondern ein Akt des ‚Nachdenkens‘, das Exzerpt kein abrufbarer „locus communis“, sondern ein von der Lektüre ausgelöster Gedanke. Und: Exzerpieren löst sich von der Beschränkung auf die gelehrte Lektüre. Exzerpte sind Aufzeichnungen von Erfahrungen in einem umfassenden Sinn, auch Gehörtes und Gesehenes gilt es zu exzerpieren. Und weil Exzerpte Ausdruck der Inbesitznahme und Verwandlung von Fremdem in Eigenes sein sollen, tritt das wörtliche Abschreiben beim Exzerpieren gegenüber der selbständigen (resümierenden) Verarbeitung zurück. Wort für Wort abschreiben, so der deutsche Gelehrte Justus Christopherus Udenius, Verfasser der ersten, 1681 erstmals gedruckten deutschsprachigen Exzerpieranleitung, ist „ausschreiben und nicht excerpiren“.28 Exzerpte sollen kurz sein; „Excerpe breviter“, heißt es in einer Leipziger Dissertation von 1699, weder Papier noch Zeit dürfen zu sehr konsumiert werden, alles ist nur im Kern („in nuce“) zu erfassen.29 Der Grundsatz, nicht zu viel Worte herauszuschreiben und überhaupt nicht zu viel Zeit und Mühe auf das Exzerpieren zu verwenden, gilt auch für die Exzerpierkunst, die Jean Le Clerc im ersten Teil der „Ars critica“ (zuerst 1696/97) entwirft.30 Das Interessante dieser Anleitung ist, daß geläufige Regeln der Lesekunst des 17. Jahrhunderts eine neue Ausrichtung erhalten. So fordert Le Clerc, man solle Texte sorgfältig, wiederholt und nicht durchein27 Daniel Gorg Morhof, Polyhistor, literarius, philosophicus et practicus, Editio tertia. Lübeck 1732, Lib. III, Cap. I, § 22, 561 (recte: 563): „Utilissimum est, non tantum sub Locis Excerpta digerere, sed & Adversaria qvaedam conficere, in qvibus congeramus, qvicqvid unqvam cogitatum a nobis est, in lectione Autorum, aut in qvotidiana meditatione: deinde qvicqvid vel vidimus, aut ab aliis nobis narratum est.“ 28 Justus Christopherus Udenius, Excerpendi ratio nova. Leipzig 1696, 11. 29 Johann Balthasar Schubert, Sciagraphia de studio excerpendi. Leipzig 1699, Membrum IV („Quomodo sit excerpendum“), 6v. 30 Jean Le Clerc (Johannes Clericus), Ars critica, in qua ad studia linguarum Latinae, Gaecae, Hebraicae, via minitur; veterum emendandorum, spuriorum scriptorum a genuinis dignoscendorum, & judicandi de eorum libris ratio traditur. Editio quarta auctior & emendatior, ad cuijus calcem quatuor indices accesserunt. Amsterdam 1712, 21–103; dazu Zedelmaier, Johann Jakob Moser (wie Anm. 15), 60 f. (dort die lateinischen Quellenbelege).

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ander lesen. Solche Bestimmungen finden sich bereits in früheren Anleitungen. Doch während sie dort von der Sorge um das individuelle Gedächtnis geprägt sind, ergeben sie sich bei Le Clerc aus dem Willen zur (historischkritischen) Rekonstruktion des Sinnhorizonts der Texte. Sorgfältiges Lesen ist ein Erfordernis und eine Übung des Verstehens. In dieser Perspektive stehen auch Le Clercs spezielle Anweisungen zum Exzerpieren. Schwierige Stellen sind bei der ersten Lektüre in ein eigenes Heft (mit dem Titel „Quaerenda“) zu notieren. Doch solle man während des Lesens möglichst nicht exzerpieren, um die Lektüre nicht zu unterbrechen. Einzig Stellenangaben sind auf Zettel zu notieren. Sacchini und Drexel sahen im Exzerpieren während des Lesens die notwendige Unabhängigkeit des Lesers gewährleistet sowie ein Mittel zur Disziplinierung des „flüchtigen“ und „gierigen“ Lesens. Bei Le Clerc stört dagegen das exzerpierende Lesen den Verstehensakt, der ein intensives Einlassen auf den Textzusammenhang erfordert. Eine vorgeordnete Topik der Verzeichnung des Exzerptmaterials ist im Horizont von Le Clercs hermeneutischer Lesekunst geradezu kontraproduktiv. Die Ordnung der Exzerpte ist ausschließlich eine Frage des bequemen und leichten Wiederfindens, die, empfiehlt Le Clerc, am besten mit Hilfe der Indices-Methode John Lockes gelöst werden kann. Im 18. Jahrhundert, bei Johann Jakob Moser, wird manifest, was in den Leseanleitungen des 17. Jahrhunderts nur latent präsent ist. Er habe, schreibt Moser im Rückblick auf seine ungeheure literarische Produktion, keinen „Polyhistor abgeben“ wollen; so oft er etwas geschrieben habe, habe er so getan, „als hätte ich niemalen etwas zuvor davon gelesen, oder selber darüber gedacht; um desto gewisser auf die Wahrheit einer Sache, um welche es mir allein zu thun ware, zu kommen“.31 Mit dem Begriff „Polyhistor“ referiert Moser auf die ‚aufgeklärte‘ Kritik gelehrter Lektüre. Das Aufklärungsgebot ‚Selbstdenken‘ zeigt sich in der Absicht, von Bücherwissen, ja sogar von früheren eigenen Gedanken zur behandelten Sache abzusehen. Zudem, ergänzt Moser, habe er keine „Gehülfen“ benutzt, um Exzerptsammlungen anzulegen. Moser verzichtete nicht nur auf die unter frühneuzeitlichen Gelehrten verbreitete Praxis, das Exzerpieren Assistenten („amanuenses“) zu überlassen; ihm standen auch, wie er betont, keine größeren Bibliotheken zur Verfügung.32 Mosers Bekenntnis, ausschließlich auf eigenes Denken gesetzt zu haben, manifestiert den Willen, unabhängig und unbestechlich nur der „Wahrheit 31

Johann Jakob Moser, Lebens = Geschichte […] von ihm selbst geschrieben. 4 Bde. 3., vermehrte und fortgesetzte Aufl. Frankfurt am Main/Leipzig 1777–1783, Bd. 4, 116; zum Folgenden: Markus Krajewski, Zettelwirtschaft: Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek. Berlin 2002, 69–74; Zedelmaier, Johann Jakob Moser (wie Anm. 15), 49–52. 32 Vgl. Moser, Lebens=Geschichte (wie Anm. 31), Bd. 3, 108 und Bd. 4, 121.

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einer Sache“ zu dienen. Das Programm, auf Lektüre und fremde Hilfe zu verzichten, redet allerdings im Modus des ‚als ob‘. Denn natürlich hat Moser viel gelesen und exzerpiert. Gerade angesichts seiner Produktivität war er dem Vorwurf ausgesetzt, sich „fremde Arbeiten zugeeignet“ zu haben: „Leute, die nicht in würcklichen Geschäfften gebraucht worden seynd, und immer nur von denckenden Köpfen sprechen, halten mich für einen blossen Collectaneenmacher“.33 Die denkenden Köpfe – das waren die „philosophes“ der Aufklärungsbewegung, die gegen das gelehrte Viellesen die Souveränität eigener Gedanken setzten. Den Nachweis, daß er trotz seiner vielen Bücher kein „Polyhistor“ sei, führt Moser, indem er seine „Art, meine Collectanea und Schrifften zu verfertigen“, beschreibt.34 Moser benutzte Zettelkästen mit beweglichen Stellregistern. Auf die Blätter der Kästen notierte er nicht Exzerpte aus Büchern, sondern knappe Verweise auf interessante Stellen. Seine Beschreibung der Arbeit mit den Kästen mit je etwa 1000 Zetteln preist deren Vorteile gegenüber traditionellen „Collectaneen = Büchern“ jedoch weniger hinsichtlich der dadurch gewährleisteten Effektivität der Wissensverwaltung (vor allem: unbegrenzte Erweiterungsfähigkeit der einzelnen Rubriken, Flexibilität des Ordnungssystems)35, vielmehr im Blick auf deren Verwendung für die Schreibpraxis. Denn auch für die Ausarbeitung von Büchern dienen Zettel und Zettelkästen. Am Anfang steht das Nachdenken über Struktur und Gliederung der „Materie“. Einzelne Abschnitte werden entworfen und auf Blättern verzeichnet. Sie fungieren im Zettelkasten als Rubriken. Das inhaltliche Konzept für die einzelnen Paragraphen wird auf kleinere Blätter notiert und den entsprechenden Abschnitten in geordneter Folge zugeteilt. Danach wird die (Gedanken-)Struktur mit Wissen versorgt, d. h. die Zettelkästen mit Exzerpten werden nach den für das Thema relevanten Gesichtspunkten ausgewertet, das Ergebnis wiederum auf Blättern festgehalten und den entsprechenden Rubriken des Zettelkastens zugeordnet: „Schließlich übersehe ich dann das ganze Werck noch einmal, numerire die Blätter auf einander, und gebe es also in die Druckerey“.36 Der Vorteil dieses Schreibens im und aus dem Zettelkasten ist für Moser die dadurch gegebene Möglichkeit ständiger Revision, das Buch ist bis zuletzt, bis zur Abgabe an die Druckerei, ein ‚work in progress‘; ohne Umstände können der Aufbau verändert, neue Gedanken und Materialien eingebaut werden. Nur mit Hilfe dieser Technik, resümiert Moser, habe er so viel

33

Ebd. Bd. 3, 102 und 109. Ebd. 102. 35 Johann Jacob Moser, Einige Vortheile für Canzley=Verwandte und Gelehrte, in Absicht auf Acten = Verzeichnisse, Auszüge und Register, desgleichen auf Sammlungen zu künfftigen Schrifften, und würckliche Ausarbeitung derer Schrifften. S.l. 1773, 50–53. 36 Ebd. 54–64; Moser, Lebens = Geschichte (wie Anm. 31), Bd. 3, 103 f. 34

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schreiben können. Hätte er seine Bücher „nach der gewohnlichen Art nacheinander“ ausgearbeitet, hätte er „bis zu 10mal so viel Zeit“ gebraucht.37 Mosers Zettelkasten ist das ideale Instrument der Umsetzung von Fremdem in Eigenes. Der Autor dirigiert seine Materialien wie ein Feldherr seine Soldaten: Zwar erscheine ein nach dieser Methode hergestelltes Werk bis kurz vor seiner Vollendung, heißt es über das im Zettelkasten entstehende Buch, „wie ein Chaos oder Chartenspil, da alles unter einander liget“; jedoch der Autor dirigiert es „wie ein Regiment auf seinem Exercierplaz, da, ehe das Exercitium angehet, alle Soldaten unter einander lauffen und weder Ordnung noch Schöne beobachtet wird: So bald man aber das Zeichen gibt, zum Gewehr zu greiffen; so präsentiret sich in kurzem alles in der vortrefflichsten Stellung“.38 Im 18. Jahrhundert wird das Lesen auch programmatisch der Herrschaft des Selbstdenkens unterstellt. „Selbstdenken“ ist in der Lesekunst des 18. Jahrhunderts ein inflationär eingesetzter Begriff. Daß es ein zettelgestütztes Selbstdenken ist, bestätigt nicht nur Moser. Die Anfangsbedingungen des Schreibens, die Ausarbeitung der Fragestellung, setzt der Autor souverän und ohne fremde Hilfe, als hätte er, wie Moser schreibt, niemals zuvor darüber gelesen oder nachgedacht. Ist der Anfang gemacht, schreibt sich das wissenschaftliche Werk mit Hilfe von Zettelkästen gleichsam automatisch. Niklas Luhmann hat den Umgang mit seinem Zettelkasten ganz ähnlich beschrieben.39 *** Leseanleitungen verdeutlichen die Transformation gelehrter Wissensaneignung im 17. Jahrhundert. Das gedächtniszentrierte Lesen, für das die Zuordnung der Lesefrüchte unter vorgegebene Titelkategorien, die Verzeichnung der Exzerpte in gebundene Exzerpthefte und das ständige, das Gedächtnis schulende Wiederlesen der Exzerpte steht, verwandelt sich in das Modell eines schöpferischen Lesens. Dafür steht die freie und flexible, den Bedürfnissen des einzelnen Gelehrten angepaßte Ordnung der Lektüre, die Auflösung der vorgeordneten Topik. Das 18. Jahrhundert formuliert den Willen zur autonomen Herrschaft des Denkens über das Lektürematerial. Die dem Autonomieanspruch korrespondierende Praxis sind frei disponible Zettel, die heute in Computerdateien realisiert, geordnet und verschoben werden. Praktiken des Wissens sind bislang eher marginale Gegenstände historischer Aufmerksamkeit. Die an der Genese gegenwärtiger Wissenschaftsdis-

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Moser, Lebens = Geschichte (wie Anm. 31), Bd. 3, 105. Moser, Einige Vortheile (wie Anm. 35), 64. 39 Niklas Luhmann, Kommunikation mit Zettelkästen. Ein Erfahrungsbericht, in: Horst Baier/Hans Mathias Kepplinger/Kurt Reumann (Hrsg.), Öffentliche Meinung und sozialer Wandel. Für Elisabeth Noelle-Neumann. Opladen 1981, 226–228. 38

Gelehrtes Wissensmanagement in der Frühen Neuzeit

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ziplinen und -kultur interessierte historische Forschung favorisiert gewöhnlich sogenannte „einflußreiche“ Methoden und deren institutionelle und soziale Bedingungen. Demgegenüber erscheint die Verwaltung dieses Wissens als vernachlässigbare, weil schlecht dokumentierte, oft als weitgehend konstant vorausgesetzte Größe. Daß sie eine Geschichte hat, versuchten die vorstehenden Ausführungen mit Hinweisen auf die Transformation der Wissensaneignung in der Frühen Neuzeit deutlich zu machen.

Religiöses Wissen Wissenschaft und die Kommunikation mit Gott 1650–1750 Von

Martin Gierl „Es gibt drei Arten von Menschen: Die einen dienen Gott, da sie ihn gefunden haben, die anderen bemühen sich, ihn zu suchen, da sie ihn nicht gefunden haben, und die dritten leben dahin, ohne ihn zu suchen und ohne ihn gefunden zu haben. Die ersten sind vernünftig und glücklich, die letzten sind töricht und unglücklich. Die mittleren sind unglücklich und vernünftig“, so Pascal Mitte des 17. Jahrhunderts in den Pensées.1 Geschichte ist sonach die Geschichte der Kommunikation mit Gott, das Soziale Gottesdienst und gelebtes Wissen, Wissen Religion. Pascal hatte wohl recht: Glauben und Vernunft, religiöse und soziale Ordnung, Gott und Natur haben als unlöslich aufeinander bezogene Einheit der frühneuzeitlichen Gelehrsamkeit ihren Stempel aufgedrückt.2 Mehr noch, die Epoche zwischen 1650 und 1750 hat sich in ihrer Selbstwahrnehmung zwischen diesen Parametern entfaltet. Im Nachhinein hat man dies je nach Standort Säkularisierung, Wissenschaftliche Revolution und Aufklärung genannt. Welch eigenartige Geschichte: Da ist eine ganze Epoche – nicht nur die Gelehrten, sondern insgesamt die, die sich berufen fühlten, am Zeitdiskurs zu partizipieren – angetreten, die Kommunikation mit Gott praktisch werden zu lassen. Man ist angetreten, um Gott in der Natur und die Natur in Gott zu entziffern, um das Reich Gottes auf Erden und Gott im Menschen Gestalt annehmen zu lassen als das Alles in Einem, als artifizielle Natur, natürliche Göttlichkeit, schließlich als ebenso soziale wie religiöse wie natürliche Maschine, als vollkommenen Apparat. Der Apparat gelang, doch die Kommunikation mit Gott schlug fehl, so wurde mit äußerster religiöser Anstrengung die neue säkularisierte Welt geschaffen. Ich werde versuchen, diese Geschichte in drei Kapiteln zu skizzieren: I. Der sprechende Gott. II. Unmittelbare und mittelbare Kommunikationsmaschinen: Vom Wunder zum wunderbaren Automaten. III. Religiöses Wissen als Ordnung und Praxis.

1 Blaise Pascal, Gedanken über die Religion und einige andere Themen. Hrsg. v. JeanRobert Armogathe. Aus dem Franz. übers. v. Ulrich Kunzmann. Stuttgart 1997, Nr. 160, 257. 2 Vgl. Amos Funkenstein, Theology and the Scientific Imagination from the Middle Ages to the Seventeenth Century. Princeton 1986.

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Bei all dem soll es um die klassische Frage gehen: Wie wurde das Wissen rationalisiert? Meine Antwort ist: Im 17. Jahrhundert brachen die anschwellende empirische Datenflut, die Diversifikation der Sozialsysteme und die Notwendigkeit, beides zu integrieren, die traditionelle Wissensreproduktion auf zu empirisch offenen, sozial konstruktiven Verarbeitungssystemen.3 Eine Vielzahl neuer Ordnungen, von der Wissenschaft bis zu den religiösen Sekten entstanden, praktisch gesehen, eine Vielzahl neuer sozialer Kommunikationssituationen in neuem Zusammenspiel. Für mich ist das der entscheidende Punkt, denn in sozialen Situationen sind und werden Verhalten, Verhaltenspielräume und Verhaltenssinn definiert und damit Wissensproduktion, was man an Wissen braucht, was es ist und wie man es bekommt. Nehmen Sie meinen Artikel: Er ist von den Sprach- und Argumentationsweisen bis hin zu seiner Länge reglementiert. Ich darf Sie weder mit Exklamationen noch mit salbungsvollem Predigen behelligen, auch nicht mit einem genuin mathematischen, physikalischen oder theologischen Diskurs – schon der Verweis auf das Ich und das Sie stößt an die Grenzen –, sondern ich werde einen unentrinnbar historischen Dialog führen, wohl wissend, daß es ein Beitrag für einen Historikersammelband ist. So ist es auch meinen Protagonisten in unterschiedlichen Kommunikationskonstellationen im 17. und 18. Jahrhundert ergangen.

I. Der sprechende Gott – Athanasius Kirchers und Jakob Böhmes magische Welt Jakob Böhme und sein Werk sind in jeder Hinsicht Wunder gewesen – jedenfalls, wenn man Schelling folgt, der den Görlitzer Schuster, der von 1575 bis 1624 lebte, eine „Wundererscheinung“ des deutschen Geistes nannte.4 Böhmes Wissen ist Erleuchtung. 1600 bei der Geburt seines ersten Sohnes sei sie ihm zuteilgeworden. Triumph, wird er später schreiben, es war wie die Wiedergeburt im Tod. Eine Pforte sei „eröffnet worden, daß ich in einer Viertel-Stunden mehr gesehen und gewust habe, als wenn ich wäre viel Jahr 3

Der eigene Standpunkt wird entfaltet bei Martin Gierl, Kanon und Kritik. Aufklärung und die Vertextung des Sozialen, in: Ulrich Schneider (Hrsg.), Kultur der Kommunikation: Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing. Wiesbaden 2005, 101–118; ders., Kompilation und die Produktion von Wissen im 18. Jahrhundert, in: Helmut Zedelmaier/Martin Mulsow (Hrsg.), Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2001, 63–94; ders., Zeitschriften – Stadt – Information – London – Göttingen – Aufklärung, in: ders./Hans Erich Bödeker (Hrsg.), Jenseits der Diskurse. Aufklärungspraxis und Institutionenwelt in europäisch komparativer Perspektive. Göttingen 2007, 243–264. 4 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Einleitung in die Philosophie der Offenbarung. Erstes Buch, in: ders., Ausgewählte Schriften 1842–1852. Bd. 5. Frankfurt am Main 1985, 725.

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auf hohen Schulen gewesen … ich sahe und erkannte das Wesen aller Wesen, den Grund und den Ungrund; …, das Herkommen und den Urstand dieser Welt“.5 Und: „So ich mich selber lese, so lese ich in Gottes Buch“.6 Böhme transponierte die magische Psychologie 1612 in die „Aurora oder Morgenröte am Anfang. Das ist die Wurzel … der Philosophiae, Astrologiae und Theologiae … oder Beschreibung der Natur“.7 Philosophie handle von der „göttlichen Kraft“, Astrologie von „den Kräften der Natur“.8 Böhme verbindet beides. Er hat die Schöpfungsgeschichte sowohl Gottes selbst wie der Natur in dieses Buch diktiert. „Merke: Die sieben Geister Gottes begreifen in ihrem Zirkel den Himmel und diese Welt, … ja den ganzen Vater, der weder Anfang noch Ende hat. … Und alle Kreaturen im Himmel und in dieser Welt sind aus diesen Geistern gebildet, und leben darinnen als in ihrem Eigentum. Und ihr Leben und Vernunft wird auf eine solche Weise in ihnen geboren, wie das göttliche Wesen geboren wird und auch in derselben Kraft. Und aus demselben Corpus der sieben Geister Gottes sind alle Dinge gemacht und hergekommen, alle Engel, alle Teufel, der Himmel, die Erde, die Sternen, die Elementa, die Menschen, die Tiere, die Vögel, die Fische, … dazu Steine, Kraut und Gras und alles, was da ist.“9 Böhmes sieben Quellgeister: 1. Gott als Ursprung, Alles, Anfang und Ende, 2. der Heilige Geist als Generator aller Qualität, 3. Jesus als Essenz aller entstehenden Kreatur, als Mitte alles Seienden, 4. Zorn und Hitze, 5. Liebe, Feuer und Licht, 6. Kraft und Schall, 7. schließlich die Form, die Natur selbst, konstituieren Gott und Welt als dialektischen Schöpfungsprozeß und Geschichte, geboren aus dem Nichts, das nach Sein giert, und vorangebracht im Wechselspiel von Gutem und Bösem, das Allem inhärent ist und das die Natur von der zunächst materiell fleischlichen Schöpfung zur geistigen treibt. Böhmes Welt ist durch und

5 Jakob Böhme, Epistolae theosophicae, oder Theosophische Sendbrief (1618–1624), in: ders., Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in 11 Bänden. Hrsg. v. Will-Erich Peukert. Stuttgart 1955–1961, Bd. 9: 12, 7 (Böhme Zitation: Werk, Kapitel, Absatz). 6 Jakob Böhme, Libri Apologetici oder Schutzschriften wider Balthasar Tilke (1621) II, in: ders., Sämtliche Schriften (wie Anm. 5), Bd. 5: 297, 299. 7 Jakob Böhme, Aurora oder Morgenröte im Aufgang. Das ist: Die Wurzel oder Mutter der Philosophiae, Astrologiae und Theologiae, aus rechtem Grunde oder Beschreibung der Natur, wie alles gewesen und im Anfang worden ist: wie die Natur und Elementa kreatürlich worden sind, auch von beiden Qualitäten, bösen und guten; woher alle Ding seinen Ursprung hat, und wie es jetzt stehet und wirket, und wie es am Ende dieser Zeit werden wird; auch wie Gottes und der Höllen Reich beschaffen ist, und wie die Menschen in jedes kreatürlich wirken. Alles aus rechtem Grunde und Erkenntnis des Geistes und im Wallen Gottes mit Fleiß gestellet durch Jakob Böhmen in Görlitz, im Jahr Christi 1612, seines Alters 37 Jahr. Dies Pfingsten. Gedruckt im Jahr des ausgebornen Heils 1730. Die Ausgabe ist als Volltext im Internet zugänglich. 8 Ebd., Einleitung, 84, 85. 9 Ebd. 9, 41.

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durch Wunder.10 Dennoch ist Böhmes Pansophie nicht nur Gottesvision. Hitze, Kälte, Wasser, Erde, Luft, materielle Qualitäten kommen darin zur Sprache, sind Gegenstand der Erforschung und des Forschens – Begriffe die hier historisch früh erscheinen.11 Böhme konstruiert die Natur und ihren konkreten Zusammenhang als ethischen Prozeß aus Gott. Die Wirklichkeit ist essentiell verdinglichte Moral, Wissenschaft die gelungene Kommunikation mit Gott. Dies ist real, nicht spiritualistisch gemeint. Real als Transformation der Natur und des Menschen von ihrer fleischlichen in ihre geistige Gestalt im Hier und Jetzt. So jedenfalls haben Böhme seine Anhänger, nicht zuletzt die radikalen Pietisten verstanden, deren absolutes Standardbuch neben der Bibel und vielleicht Johann Arndt die „Aurora“ gewesen ist.12 Auch Böhmes Rezeption erscheint also wie ein Wunder, wenigstens auf den ersten Blick, ist der Schuster doch, dessen „Aurora“ die ersten 20 Jahre nur in Abschriften kursierte, rasch in mehrere Sprachen übersetzt, nach den Pietisten begeistert von der Romanik, auch von Goethe und Hegel aufgenommen worden.13 Auf den zweiten Blick zeigen sich jedoch sozial situative Muster. Nicht Theologen haben die „Aurora“ abschreiben und kursieren lassen, sondern der Gutsherr Karl Ender von Sercha. Er hatte, wie es heißt, nach Profanem, nach einem Bindeglied zwischen dem Glauben und der Wissenschaft gesucht. Böhme wie seine Schriften haben neben Schriften protestantischer Mystik und denjenigen Paracelsus’ in lutherischen Landadels- und Medizinerkreisen zirkuliert. Die Naturerklärung, die Böhme angeboten hat, nutzte Bibelrhetorik. Sie war zugleich Epos, in dem die Quellgeister ihre Heroenwelt natürlicher Qualitäten vom Anbeginn über Adam und Luther bis hin zum neuen Jerusalem im Kampf des Guten mit dem Bösen durchzogen, drittens schließlich gelehrter Text, der die Argumentation in durchnumerierten Sätzen vollzog. Böhmes „Aurora“ ist ein klassisches Werk der Wissenschaftspopularisierung, die hier noch vor der Wissenschaft selbst deren Terrain umreißt. Die Schrift formulierte Milieu. Auch Athanasius Kircher hat das getan. Er ist mittlerweile zum Star magisch-barocker Wissenschaft avanciert. Schon zeitgenössisch ist er Autorität gewesen, allerdings nicht als Vertreter esoterischer Welten, sondern als Inkarnation orthodox katholischer Wissenschaft auf dem neuesten

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Zu Böhmes Mystik vgl. Andreas Gauger, Jakob Böhme und das Wesen seiner Mystik. Berlin 1999, 59–192; Christian Steineck, Grundstrukturen mystischen Denkens. Würzburg 2000, 125–166, sowie Andrew Weeks (Hrsg.), Erkenntnis und Wissenschaft – Jacob Böhme (1575–1624). Görlitz 2001. 11 Etwa Böhme, Aurora (wie Anm. 7), Vorrede, 98; 1, Titel „Von Erforschung des göttlichen Wesen in der Natur“. 12 Vgl. Eberhard Fritz, Radikaler Pietismus in Württemberg. Epfendorf 2003, 271. 13 Vgl. Jan Garewicz (Hrsg.), Gott, Natur und Mensch. In der Sicht Jacob Böhmes und seiner Rezeption. Wiesbaden 1994.

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Abb. 1: Frontispiz aus: Athanasius Kircher, Ars magna lucis. Rom 1665. Auctoritas sacra, ratio, auctoritas profana und sensus sind jeweils in den Ecken abgebildet.

Stand.14 Wie Böhme trieb auch ihn eine göttliche Vision ins Herz der Wissenschaft, jedoch nicht mehr zum Wissen selbst, sondern zum Ort des Wissens. 1631 imaginiert er nachts exerzierende Söldner, flieht vor dem Dreißigjährigen Krieg und gelangt schließlich 1633 als Professor für Mathematik, Physik und orientalische Sprachen an das Collegium Romanum, das Zentrum jesuitischer Gelehrsamkeit, nach Rom. Hier wird er, von dem es heißt, er sei der letzte gewesen, der das Wissen ganz umfaßte, seine Ars combinatoria, eine Theorie der Musik, eine Theorie des Magnetismus, eine Theorie der subterranen Welt, die Entzifferung der Hieroglyphen, Werke zur Mathematik und Medizin, auch das Standardwerk über China schreiben, vor allem aber wird er das Museum Kircherianum, die größte Wunderkammer der Zeit, zusammenstellen. Von den Bibliotheken, den Papyri und Obelisken, bis hin zu den Missionarsberichten: Die jesuitische Infrastruktur ist bei Kircher Wissenschaft geworden, Verkörperung der Institution und Inszenierung

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Vgl. Thomas Leinkauf, Mundus combinatus. Studien zur Struktur der barocken Universalwissenschaft am Beispiel Athanasius Kirchers SJ (1602–1680). Berlin 1993, sowie Horst Beinlich/Christoph Daxelmüller/Hans-Joachim Vollrath/Klaus Wittstadt (Hrsg.), Magie des Wissens. Athanasius Kircher (1602–1680). Universalgelehrter, Sammler, Visionär. Dettelbach 2002.

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im päpstlich feudalen Milieu. Vier Päpsten hat er gedient, Kaisern und Königen die Natur vor Augen geführt. Mit der intellektuellen Elite hat er in ihrer ganzen Breite kommuniziert. Wissen ist für Kircher Erleuchtung, das Licht, das von der Natur – hier im Frontispiz der Ars magna lucis, der Kombinatorik, vom Sonnen-Apollo verkörpert – und Gott kommt und das in der Bibel, aber auch von der Vernunft, der Sinnlichkeit und von der weltlichen Autorität (Abb. 1) aufgenommen wird. Am Anfang war das Wort, beginnt das Johannesevangelium – die Stelle, über die noch Goethes Faust grübelt. „Du aber hast alles geordnet nach Maß, Zahl und Gewicht“, heißt es im Buch der Weisheit. Kircher verbindet beides.15 Bei ihm steht nicht mehr die Unmittelbarkeit, das Sich-selber-Lesen Böhmes, sondern mittelbare Kommunikation im Mittelpunkt, die Entzifferung der Welt, in der allen Dingen Gottes Wille eingeschrieben ist. So übersetzt er die Hieroglyphen als Wissen, das dem ägyptischen Gelehrtenmythos Hermes Trismegistos von Gott zuteil geworden ist. So sieht er die Schriftsysteme von mystischer Engelsschrift vermittelt. So setzt er – wie Böhme – Jesus als universelle Mitte ein. Die hebräische Umschreibung von Jesus sei schon in allen 72 Sprachen im Namen Gottes eingeschrieben. Er bildet dies zusammen mit den Eigenschaften Gottes in den inneren Kreisen einer entsprechenden Graphik ab (Abb. 2).16 Anders als bei Böhme leben die Eigenschaften nicht. Sie sind System. Als System sind sie abbildbar und mechanisierbar zugleich. Die Wissenschaft läßt sich als Maschine konstruieren, deren vier Register des Fragens, der Eigenschaften der Dinge, ihrer Verhältnisse und der Dinge selbst, universell zugeordnet, das ästhetische Netz potentieller Antworten ergeben – Kircher hat es, wie vieles, in erläuternden Graphiken (Abb. 3) plastisch gemacht – ein vorweggenommenes Computerprogramm, wie es heißt.17 Ein weiteres kommt entscheidend dazu: Gottes Wille ist als Ordnung der Natur nicht nur systematisch, sondern empirisch in der Welt. Auch Kirchers Wissen ist Triumph – der Triumph der wechselseitigen empirischen Bestärkung von Bibel, Ratio, Augenschein und weltlicher Autorität als Wissensquellen, die ubiquitäre Bestätigung und Verherrlichung Gottes und im Zeichen mikro- und makrokosmischer Harmonie damit auch die Bestätigung und Verherrlichung der katholisch-jesuitischen Institution. Im Zeichen der wechselseitigen Bestätigung kann Kircher die Arche Noah rekonstruieren und belegen, daß der Turm von Babel die Erde aus ihrer astronomischen 15 Vgl. Klaus Wittstadt, Der Jesuit Athanasius Kircher – Leben und Person, in: Beinlich u. a. (Hrsg.), Magie (wie Anm. 14), 15–22, hier 19. 16 Vgl. Christoph Daxelmüller, Die Welt als Einheit – Eine Annäherung an das Wissenschaftskonzept des Athanasius Kircher, in: Beinlich u. a. (Hrsg.), Magie (wie Anm. 14), 27–48, hier 37–43. 17 Vgl. ebd. 31; Hans-Joachim Vollrath, Kircher und die Mathematik, in: Beinlich u. a. (Hrsg.), Magie (wie Anm. 14), 161–168, hier 166 f.; Leinkauf, Mundus (wie Anm. 14), 174–220.

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Abb. 2: 1653.

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Abbildung aus: Athanasius Kircher, Oedipi Aegyptiaci tomus secundus. Rom

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Abb. 3: Abbildung aus: Athanasius Kircher, Ars magna Sciendi, sive Combinatoria. Amsterdam 1669.

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Position gebracht hätte.18 Er kann berechnen, daß die Sintflut 5 614 898 400 Milliarden Kubikzoll Wasser bedurfte – mehr als auf der Erde Wasser ist, was belegt, daß die Flut nur als Wunder Gottes bewirkt worden sein konnte. Er publiziert wunderbar detaillierte Mondkarten. Er erklärt den Ausbruch der Pest und einen Vesuvausbruch mit wissenschaftlichen Theorien.19 Das Kopernikanische Weltbild unterdrückt er keineswegs, votiert nur, wie die Jesuiten insgesamt, für Tycho Brahe, der die Erde in der Mitte läßt.20 Kircher zeigt Gott und Natur als wohlgefügte unmittelbar vermittelte Ordnung und Harmonie. So gehören zu Kirchers musikalischem Werk die akustische Theorie, die Beschäftigung mit Vogelgesang, gigantische Abhöranlagen, die Orgel als Metapher harmonischer Schöpfung und zugleich als Automat – so wie er auch seine Lieblingsidee, den in allen Dingen und Tieren zu Gott strebenden Magnetismus zum automatischen Orakel umgesetzt hat.21 Weil Gott in Allem ist und die Welt des Jesuiten, der den katholischen Wahrheitsbesitz verteidigt, notwendig Ratio und Empirie umschließt, konnte nichts natürlicher, harmonischer und göttlicher sein als das Artifizielle, in dem die Naturnachahmung gelingt.

II. Unmittelbare und mittelbare Kommunikationsmaschinen. Vom Wunder zum wunderbaren Automaten: religiöses Wissen bei Robert Boyle, Gottfried Wilhelm Leibniz, den pietistischen Prophetinnen und bei der Inspirationsbewegung Doch Kirchers Maschinen sind noch Illustrationen – verspielter Barock. Die Generation nach ihm hat begonnen, Kirchers artifizielle Wunderkammernwunder zu säkularisieren. Man hat Böhmes und Kirchers magische Welt ausgebaut zu unmittelbaren und mittelbaren Kommunikationsmaschinen mit Gott, zur Inspiration und Wissenschaft. Es sei, was letztere betrifft, auf die Arbeiten Shapins, Schaffers, Shapiros, Parks, Dastons und Funkensteins zur Experimentalkultur, Gewißheit, Wahrscheinlichkeit, dem Wunder und dem mechanischen Weltbild in der neuen Naturphilosophie verwiesen, die nach

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Vgl. Marie-Louise Thomsen, Athanasius Kircher – Arca Noe und Turris Babel, in: Beinlich u. a. (Hrsg.), Magie (wie Anm. 14), 99–112. 19 Vgl. ebd. 105, sowie Werner E. Gerabek, Athanasius Kircher und die Medizin, in: Beinlich u. a. (Hrsg.), Magie (wie Anm. 14), 177–182. 20 Vgl. Harald Siebert, Kircher und die Astronomie, in: Beinlich u. a. (Hrsg.), Magie (wie Anm. 14), 183–190. 21 Vgl. Ulrich Konrad/Christoph Beck, Kircher als Musikwissenschaftler, in: Beinlich u. a. (Hrsg.), Magie (wie Anm. 14), 71–78.

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Funkenstein letztlich Naturtheologie war.22 Lassen Sie mich meine Spiegelstriche mit den Leitsätzen beginnen, die Robert Boyle, Gründungsmitglied der Royal Society, hierüber gegeben hat. 1686 heißt es abschließend in der „Free Enquiry into the Vulgarly Received Notion of Nature“: 1. Gott hat die Welt aus freiem Willen geschaffen und wird so 2. geneigt gewesen sein, einen derart immensen und bewundernswerten Automaten und dessen untergeordnete Maschinen nicht ohne Ziel und Zwecke zu erzeugen, die ergo von den Menschen, hat er ihnen doch Vernunft gegeben, in Maßen einsehbar sind. Es sei 3. wahrscheinlich, daß Gott wenigstens einige seiner Attribute seinem Werk als Signatur eingeprägt habe. So folgere 4.: Gott hat das Universum als strukturierte Ordnung geschaffen, in der allgemeine und konstante Gesetze gelten: Diese „catholic laws“ und die Subordination der Dinge untereinander garantierten die Entsprechung der Dinge mit dem ursprünglichen Bauplan der Welt und somit, daß niederere und private Wohlfahrt nie weiter zu reichen vermöchte, als die allgemeinen Gesetze der Welt es erlaubten.23 Das Vertrauen auf die wechselseitige Harmonie von Bibel, Autorität, Ratio und Sinnlichkeit – Kirchers katholisches Gottvertrauen – wird ein gefährliches Spiel: man kann, ja muß es unter die Herrschaft der Naturgesetze beugen, kann ihm den wissenschaftlichen Prozeß machen. Eine Vielzahl von Naturphilosophen – der Newtonschüler Samuel Clarke und Leibniz, Boyle gegen Hobbes – hat dies getan und ihre naturphilosophischen Theorien gegenseitig dem Atheismus- oder Häresieverdacht ausgesetzt. Hobbes verdunkle Gott, indem er der Materie metaphysische, göttliche Eigenschaften beilege und sie quasi denkend mache, so Boyle im Streit um das Vakuum.24 Dies ist ein wichtiger Punkt: Boyle lehnte metaphysische Attribute in der Natur, direkte Gott-Natur-Vermittler somit und damit geistige Unmittelbarkeit ab. Er hat Kirchers Maschinen aus der Wunderkammer geholt und als eigentlich wahre mittelbare Kommunikation mit Gott Naturforschung zum potentiell gigantischen Leseapparat des gigantischen Automaten Welt gemacht. Nur das mechanistische Weltbild vertreibe die Chimären der Metaphysik. Das ist das eine. Um seinen Bauplan einzusehen, forderte er, so in der Vorrede zu seinen Versuchen über die Farben, Historica, Empirie, statt Dogmatica.25 Das ist das andere. Boyle forderte die Ablesung der Natur im Experiment.

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Steven Shapin/Simon Schaffer, Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life. Princeton 1985; Lorraine Daston/Katharine Park, Wonders and the Order of Nature. 1150–1750. New York 1998; Barbara J. Shapiro, Probability and Certainty in Seventeenth-Century England. Princeton 1983; Funkenstein, Theology (wie Anm. 2). 23 Robert Boyle, A Free Enquiry into the Vulgarly Received Notion of Nature. Ed. by Edward B. Davis, Michael Hunter. Cambridge 1996, 160 f., 4. 24 Vgl. Shapin/Schaffer, Leviathan (wie Anm. 22), 271 ff. 25 Robert Boyle, Experimenta et Considerationes de Coloribus. Primum ex occasione, inter alias quasdam Diatribes, ad amicum scripta, nunc vero in lucem prodire passa, ceu Initium Historiae Experimentalis de Coloribus. Amsterdam 1667, Praefatio.

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Ein Drittes kommt bei Leibniz, der mit seiner Monadenlehre die Dichotomie zwischen Individualwillen und Determinismus im Bauplan des großen Automaten gelöst zu haben meinte, hinzu: die Mathematik. Leibniz’ Gott ist, weil er Gott ist, an die Logik gebunden. Leibniz, von dem es heißt, er sei der letzte gewesen, der das Wissen in seiner Gesamtheit umfaßte, hat wie Pascal Rechenmaschinen konstruiert. Leibniz sah in ihnen das Basismodell eines Algorithmus der Universalwissenschaft. „Ich habe“, schrieb er 1671 an Herzog Johann Friedrich, „mit Hilfe der artis combinatoriae einige Dinge von nicht geringer Bedeutung in der Mathematik und Mechanik erfunden, besonders in der Arithmetik einen Apparat, den ich lebendige Rechenbank nenne.“26 Mehr noch als die Rechenmaschine ist sein binäres System Triumph für Leibniz gewesen. Es basiert darauf, daß sich das Zahlensystem nicht nur als 10er-System der Zahlen 0 bis 9 sondern auch als 9er-System der Zahlen 0 bis 8 und so weiter abbilden läßt. Das Zweiersystem erzielt dabei für Leibniz einen doppelten Effekt: Es läßt sich mit 0 und 1 schreiben. Und weil sich zwei Einsen auf der gleichen 10er – hier eigentlich – Zweierstelle zu einer Eins auf der nächsthöheren Zehnerstelle addieren, läßt sich das System, prinzipiell wenigstens, leicht mechanisieren: Man denke sich ein Klötzchen oder Bällchen für eine Eins und einen Abstand für eine Null. Tatsächlich hat Leibniz eine entsprechende Maschine konzipiert.27 Leibniz ist begeistert gewesen. Zwei Medaillen hat er zu seinem binären System entworfen und in eine davon „Bild der Schöpfung. Einer hat alles aus Nichts gemacht“ graviert. „Um alles aus dem Nichts herzuleiten genügt eins“ hat er sein Zahlensystem überschrieben.28 Mit seinem Binärsystem sei die wunderbar schöne Ordnung, Einheit und Vollkommenheit des Zahlensystems bewiesen gegen alle, die meinten, Zahlen besäßen weder Regularität noch Symmetrie. Die Maschine und die Mathematik: „Theoria cum Praxis“ ist der Leitsatz Leibniz’ gewesen. Und: „Die Kunst der Praxis ist, den Zufall unter das Joch der Wissenschaft zu bringen.“29 Der riesige Automat Welt ist eine riesige mittelbare Kommunikationsmaschine mit Gott, die das eigentliche und damit auch eigentlich religiöse Wis26 Gottfried Wilhelm Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe. Hrsg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Serie 1, Bd. 1. Berlin 1923, 160. 27 Vgl. Ludolf von Mackensen, Die ersten dekadischen und dualen Rechenmaschinen, in: Karl Popp/Erwin Stein (Hrsg.), Gottfried Wilhelm Leibniz. Philosoph, Mathematiker, Physiker, Techniker. Hannover 2000, 85–100, hier 94; ders., Leibniz als Ahnherr der Kybernetik – ein bisher unbekannter Leibnizscher Vorschlag einer ‚Machina arithmeticae dyadicae‘, in: Akten des II. Internationalen Leibniz-Kongresses. Hannover, 17.–22. Juli 1972. Bd. 2. Wiesbaden 1974, 255–268. 28 Medaillenabbildungen bei Popp/Stein (Hrsg.), Leibniz (wie Anm. 27), 36; Carl Günther Ludovici, Ausführlicher Entwurff einer vollständigen Historie der Leibnitzischen Philosophie zum Gebrauch seiner Zuhörer heraus gegeben. Leipzig 1737, 131. 29 Leibniz an G. Wagner, 1696, in: Carl Immanuel Gerhard (Hrsg.), Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz. Bd. 7. Berlin 1890, 525.

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Martin Gierl Abb. 4: Zinzendorf als Lehrer der Völker, Johann Valentin Haidt, Ölgemälde, nach 1747, Unitätsarchiv Herrnhut. Christus lenkt über seine Seitenwunde Zinzendorfs Herz, Mund und Verstand.

sen ihren neuen Technikern wissenschaftlicher Couleur mehr und mehr preiszugeben hat. Doch nicht nur Kirchers mittelbaren Gottesspiegel, auch die andere Seite, Böhmes unmittelbaren Gotteskontakt, hat man gegen Ende des 17. Jahrhunderts radikalisiert. Es ist die Hoch-Zeit der Inspiration, der religiösen Enthusiasten, Medien, Propheten. So wie Boyles Gott ein ziemlich eigenartiger Geist wäre, hätte er keine Naturgesetze geschaffen, so auch hier: „Ziemlich an einander hangender Beweiß: daß sich Gott offenbahren müssen, da er hat recht erkannt und geliebet werden wollen“, schrieb Zinzendorf, der Gründer der ganz um den direkten Kontakt mit Gott konzipierten Herrnhuter.30 Direkter Gotteskontakt ist nicht mehr göttliche Eingebung, auch nicht Orakel, er ist fest installiert und klar – hat dies im Sinne Zinzendorfs nach allem, was die Christen über ihren Offenbarungsgott wissen, auch zu sein (Abb. 4). Die Inspirierten der Zeit gleichen nicht den alten Seherinnen, sie gleichen eher Telefonen und Funkapparaten, in manchem auch modernen Medien, die man zur aktuellen Politik befragt, weil man klare Antworten will. Inspiration ist dabei alles andere als vereinzelter Wahn, sie ist soziale wie auch politische Bewegung gewesen. Die direkte Kommunikation mit Gott ist Orientierungsorgan sozialer Gruppen, die sich im gesellschaftlichen Aufbruch der Zeit 30

Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Der Teutsche Socrates. Das ist: Aufrichtige Anzeige verschiedener nicht so wohl unbekannter als vielmehr in Abfall gerathener HauptWahrheiten, in den Jahren 1725 und 1726. Leipzig 1732, Inhalt, Paragraph 23.

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jenseits der Universitäten und Kirchen zu kleinen Gesellschaften in eigenen sozialen Gefügen konfigurierten. Ein wichtiger Zweig davon waren die Kamisarden, französische Hugenotten, die nach der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 ihre Geistlichen verloren und begonnen hatten, Gottes Botschaften, verifiziert von epilepsieartigen Zuständen, zu empfangen. Institutionalisierte Inspiration wird sich zeitgleich bei den radikalen Pietisten, bei Jane Leade, später bei Teilen der Jansenisten organisieren, die sich durch harsche Selbstkasteiung auf Gottes Sendung zu ‚tunen‘ versuchten, und bei den sogenannten Inspirations-Gemeinschaften um Johann Friedrich Rock, dessen Gottes-Empfang simultan von zwei Schreibern in tausenden von Seiten aufgezeichnet worden ist und so eines der wenigen Sprachprotokolle des 18. Jahrhunderts geliefert hat, die wir besitzen. Nehmen wir zwei Beispiele: Da ist der Traktat „Der Erneuerte Himmel“ der Prophetin Eva Margaretha Frölich von 1686.31 Sie nimmt – wie viele andere auch – die Offenbarung des Johannes und andere biblische Weissagungen und nutzt sie als äußere Matrix göttlicher Providenz, in die Gottes Botschaft eingehängt wird. Punkt 3: Das erste Tier im 7. Kapitel Daniel ist der König von Dänemark. Punkt 4: Das zweite Tier ist der Türk. Punkt 5: Das vierte Tier ist das Papsttum. Und so weiter, bis das politische Panorama als Gottesbotschaft Schärfe gewinnt. Da ist, als zweites Beispiel, das Ehepaar Petersen, zu deren radikalpietistischem Zentrum in Magdeburg auch das inspirierte Fräulein Rosamunde Juliane von Asseburg gehört – ihr direkter Draht zu Gott: Petersen berichtet etwa: „Meine Liebste [Frau Johanna] hat auch in Demuth ihres Hertzen … das außerwehlte Fräulein den Herrn fragen lassen, in was für einem Gemein[dezustand man sei], darauff der Herr also geantwortet: Friede sey mit dir/ liebe Johanna. … So höre“ etc.32 Die Demut des Herzens ist der zentrale Topos dabei: Glauben versus Vernunft, Herz versus Verstand als Rezeptionsorgane – die Apparaturen des religiöses Wissens haben sich konkretisiert und spezifiziert und das Wissen dabei in zwei sozialen Konfigurationen diversifiziert.

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Eva Margaretha Frölich, Der Erneuete Himmel Und die Verjüngete Erde. Aus den 3. Cap: der 2. Epistel Petri, Durch eine Nachdenckliche und Schrifftmäßige Erklärung. So zielet auff das Reich Christi, welches auff Erden sol angerichtet werden. O. O. 1686. Vgl. auch Ryoko Mori, Begeisterung und Ernüchterung in christlicher Vollkommenheit. Pietistische Selbst- und Weltwahrnehmung im ausgehenden 17. Jahrhundert. Tübingen 2004, 101–119. 32 [Johann Wilhelm Petersen], Send-Schreiben an einige Theologos und Gottes-Gelehrte, betreffend die Frage, ob Gott nach der Auffahrt Christi nicht mehr heutiges Tages durch göttliche Erscheinung den Menschenkindern sich offenbahren wolle und sich dessen gantz begeben habe? Sampt einer erzehlten Specie Facti von einem Adelichen Fräulein, was ihr vom siebenden Jahr ihres Alters biß hieher von Gott gegeben ist. O. O. 1691, § 14. Vgl. Mori, Begeisterung (wie Anm. 31).

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III. Religiöses Wissen als Ordnung und Praxis: Exegese, Leviathan, Anatomie und Liturgie Mit Leibniz und den radikalen Pietisten sind wir bei Wissen und Praxis und damit beim letzten Punkt. Für Böhme wie Kircher, Leibniz, die Naturphilosophen, die Pietisten und Inspirierten hat Wissen, religiöses Wissen zumal, nicht primär Diskurs, sondern in erster Linie adäquate Praxis in sozialer Ordnung bedeutet. Ich stimme dem zu. Es ist beim Prozeß, den man Aufklärung und Säkularisierung nennt, zwar auf der medialen Oberfläche um Ideen und Diskurs, historisch aber um Institutionalisierung gegangen. So erklärt sich, daß das, was aus Vergangenheitssicht in den Augen Kirchers, Böhmes, Boyles und der anderen Religionsentfaltung bedeutete, sich aus der Zukunftsperspektive als Säkularisierung darzustellen vermag. Die alte Einheit von Religiosität, Sozialordnung und Wissen hat sich diversifiziert. Dabei ist nicht zuletzt auch religiöses Wissen spezifisch in die neuen Praktiken und Ordnungen transponiert worden. Neue Sozialkonfigurationen entstanden, die Einzelaspekte der alten Einheit in den Vordergrund schoben, ohne die anderen schon abstreifen zu können. So entwickelte sich die alte Einheit je neu in nun scheinbar oft bizarrer Form: Da firmierten die neuen empirischen Naturforscher als Naturtheologen. Da agierte der Vater des Pietismus, Philipp Jakob Spener, in der Pietismuskontroverse, die die gesamte lutherische Geistlichkeit über Jahrzehnte in Atem hielt und Theologie neu definierte, ausgerechnet an der inhaltlich zentralen Stelle als radikaler Aufklärer und forderte, um die pietistisch-praktische Frömmigkeit zu verteidigen, daß die Bibel in nicht nur einem, sondern vielfachem Sinn verstanden werden könne, sei sie nur logisch schlüssig verstanden.33 Da zeigt sich Hobbes’ Leviathan plötzlich nur mehr zur Hälfte als säkulare Theorie des absolutistischen Staatswesens, in der anderen aber als akribische Übertragung biblischer Offenbarung in soziale Ordnung und zugleich antipäpstliche Polemik, wobei es nicht zuletzt darum geht, direkte Kommunikation mit Gott, die den weltlichen Souverän gefährdet, auszuschließen.34 Da ist Zinzendorfs radikal 33

Vgl. dazu Martin Gierl, Befleckte Empfängnis. Indifferentismus, Ketzermacherei und die Konsolidierung orthodoxer, pietistischer und frühaufklärerischer Ansprüche und Ideen, in: Hans Erich Bödeker (Hrsg.), Strukturen der deutschen Frühaufklärung. Göttingen 2008, 119–146. 34 Auf „Teil I Vom Menschen“ und „Teil II Vom Staat“ folgt in Hobbes’ Leviathan „Teil III Vom christlichen Staat“ (32. Kapitel Von den Grundsätzen christlicher Politik; 33. Kapitel Von Anzahl, Alter, Ziel, Autorität und Interpreten der Bücher der heiligen Schrift; 34. Kapitel Von der Bedeutung von Geist, Engel und Inspiration; 35. Kapitel Von der Bedeutung von Reich Gottes, heilig und Sakrament in der Schrift; 36. Kapitel Vom Wort Gottes und von den Propheten; 37. Kapitel Von Wundern, und wozu sie bewirkt werden; 38. Kapitel Von der Bedeutung von ewigem Leben, Hölle, Seligkeit, künftiger Welt und Erlösung in der Schrift; 39. Kapitel Von der Bedeutung des Wortes Kirche in der Schrift; 40. Kapitel Von den Rechten des Gottesreiches, die Abraham, Moses, die

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mechanisierte Form direkter Kommunikation mit Gott: das Bibelstechen und der göttliche Losentscheid als zentrales Lenkungs- und Entscheidungsfindungselement seines neuen utopischen Gemeinwesens in Herrnhut, in dem Liturgie kommunales Leben geworden ist, damit jedoch zugleich die Konfessions- und Feudalverfassung der Zeit durchbricht. Bei Zinzendorf wie bei Hobbes, der im übrigen radikal die mathematische Erfassung der Welt vertrat, ist das religiöse Wissen und die Kommunikation mit Gott in eine straffe soziale Maschine gemündet.35 Da ist schließlich auf der anderen Seite Albrecht von Haller, von dem es heißt, er sei der letzte gewesen, der das Wissen in seiner Gesamtheit erfaßte. In Göttingen hat er Mitte des 18. Jahrhunderts 400 Leichen und unzählige Tiere, lebendige und tote, werktags und auch sonntags zerlegt. Auch für ihn noch ist Leben Gottesdienst und Arbeit, von daher legitimiert. Doch hat sie ihren religiösen Charakter verloren. Es verbleibt ein Rest. „Schon lange nichts göttliches mehr!“, schreibt er am 17. Dezember 1736 in sein Tagebuch, „O, was soll aus mir werden“. 24. März: „Es ist alles das gleiche; ohne Gefühl, ohne Eifer und ohne Andacht. O Gott, reiße mich aus diesen Klauen des Todes“. 8. September: „Alles im gleichen elenden Zustande“, usf.36 Pascals Epigramm hatte sich für Haller aufgeladen zum Paradox: Das religiöse Wissen war in der Praxis und Ordnung der neuen Wissenschaft aufgegangen und Haller der, der nur mehr neue Praxis und Ordnung zu finden vermochte. Gott schien um so sturer zu schweigen, je intensiver sich Haller dem inneren Wesen der Dinge ergab. Das klingt dramatisch, doch birgt es auch Trost – ganz allgemein, daß es in einer Welt völlig unmöglich ist, atheistisch und damit häretisch zu sein, in der das religiöse Wissen in der sozialen Ordnung und ihren Praktiken eingeschrieben ist, und für uns Historiker im besonderen, daß es wohl nützlich sein könnte, die Entwicklung sozialer Situationen zu untersuchen, ihre Ordnungen und die je gültigen Prägungen des Handelns, des Wissens und Sinns in ihnen, um neben Gott und aller Individualität auch historischen Wandel in seiner Institutionalität zu begreifen. Hohepriester und Könige von Juda innehatten; 41. Kapitel Vom Amt unseres auserwählten Heilands; 42. Kapitel Von der kirchlichen Gewalt; 43. Kapitel Von der Aufnahme eines Menschen in das himmlische Reich) und schließlich „Teil IV Vom Reich der Finsternis“ (44. Kapitel Von geistiger Finsternis aus der Fehldeutung der Schrift; 45. Kapitel Von der Geisterlehre und anderen Überresten der heidnischen Religion; 46. Kapitel Von der Finsternis auf Grund von Afterphilosophie; 47. Kapitel Von dem Vorteil aus dieser Finsternis, und wem er zugute kommt). 35 Vgl. Paul Peucker, Graf ohne Grenzen. Leben und Werk von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Herrnhut 2000; Dietrich Meyer, Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine. Göttingen 2000. 36 Albrecht von Haller, Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst. Zur Karakteristik der Philosophie und Religion dieses Mannes. Hrsg. v. Johann Georg Heinzmann. Ndr. der Ausgabe Bern 1787. Frankfurt am Main 1971.

Abgründe des Wissens Über einige Voraussetzungen für die Entstehung der Geschichte als praktischer Wissenschaft Von

Merio Scattola I. Die neuzeitliche Historik 1. Die Methode der modernen Geschichtsschreibung (Johann Friedrich Le Bret) Man kann Eigenart und Eigenschaften der frühmodernen Geschichtsschreibung als Form von menschlichem Wissen am deutlichsten durch einen Vergleich mit der neuen Geschichtsschreibung festlegen, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts die ältere Historie ablöste. Um die modernere Historik zu umreißen, sind nicht nur die großen Namen, wie Johann Gottfried Herder, sondern auch minder bekannte Schriftsteller wie Johann Friedrich Le Bret, Gottfried Achenwall und August Ludwig Schlözer heranzuziehen. Der Historiker, Statistiker und Theologe Johann Friedrich Le Bret (1732– 1807) beschrieb sein wissenschaftliches Programm im Vorwort zu seiner achtbändigen „Geschichte von Italien“ (1778), wobei er sich bewußt auf den Begriff der „Methode“ bezog. Wie es in der zeitgenössischen Geschichte üblich war1, erkannte Le Bret das Hauptproblem der Geschichtsschreibung im Festlegen des richtigen Plans, den man nur auf der Basis von richtigen Grundsätzen bestimmen konnte2. „So verhält es sich auch mit dem Plane der Geschichte von Italien. Methodologisch betrachtet, kan er nach diesen vorausgeschickten Grundsätzen sehr einfach seyn.“3 In der Geschichtsschreibung kommt es also zuerst darauf an, die richtigen Prämissen zu finden, aus 1

Horst Walter Blanke, Von Chyträus zu Gatterer. Eine Skizze der Historik in Deutschland vom Humanismus bis zur Spätaufklärung, in: ders./Dirk Fleischer, Aufklärung und Historik. Aufsätze zur Entwicklung der Geschichtswissenschaft, Kirchengeschichte und Geschichtstheorie in der deutschen Aufklärung. Waltrop 1991, 112–140. Vgl. Johann Christoph Gatterer, Vom historischen Plan, und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählung, in: Allgemeine historische Bibliothek 1, 1767, 15–89, wiederabgedruckt in: Horst Walter Blanke/Dirk Fleischer (Hrsg.), Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie. 2 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, Bd. 2, 621–662, hier 628 f. 2 Johann Friedrich Le Bret, Geschichte von Italien. Halle 1778, T. 40, Vorrede, a2r–3v, hier a2r: „Die Plane der Geschichte sollen also nicht willkührlich seyn, sondern sie müssen sich auf die Folgen der Begebenheiten gründen.“ 3 Ebd. a2v.

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denen man richtige Schlüsse ziehen kann. Die Geschichte verfügt zwar über eine kaum überschaubare Anzahl von Quellen, die sie richtig einordnen soll.4 Wenn aber der Historiker zwei methodische Grundvoraussetzungen erfüllt, wird er trotz aller Schwierigkeiten zuverlässige Ergebnisse erzielen. Kritische Prüfung der Quellen und Einfühlung in den Geist der Epoche – „man muß sich in den Geist der Zeiten hineingedenken“5 – sind die zwei unentbehrlichen Mittel, mit denen man den Zweck der Geschichtsschreibung erreichen kann, welcher darin besteht, daß man das „Grundgesetz“ oder das „System“ jedes Staates anerkennt. Die wahren Subjekte der Geschichte sind nämlich die Staaten, die Le Bret als Konglomerate statistischer Natur ansieht, als heterogene Zusammenhänge von politischen, ethnischen und geographischen Elementen.6 Die Geschichte erfüllt ihre erste Aufgabe, wenn sie alle diese Elemente aufzählt und das innere Prinzip herausfindet, das sie miteinander verbindet und das „System“ eines Staates ausmacht.7 Ihrer zweiten Aufgabe geht die Geschichte nach, wenn sie die besonderen „Systeme“ oder „Verfassungen“ der einzelnen Staaten durch ein einziges Erklärungsmuster verbindet, ein einheitliches Moment, das Le Bret als „philosophischen Faden“8 definiert und auf „unveränderliche Gesetze“ und auf „unwandelbare Grundsätze“ bezieht9. 2. Das System der Geschichte (Gottfried Achenwall) Als Quellen seiner Historik nennt Le Bret neben seinem Tübinger Lehrer Otto Christian Lohenschiold auch den Göttinger Historiker Gottfried Achenwall, wobei er ausdrücklich von einer „Achenwallischen Methode“ 4

Ebd. a3r. Ebd. a3v. 6 Johann Friedrich Le Bret, Vorlesungen über die Statistik. Stutgart 1783, T. 1, 4: „Ein Staat ist eine größere aus vielen untergeordneten Gesellschaften bestehende unabhängige Gesellschaft, die in einem gewissen Gebiet unter einer regierenden Macht in einer gesetzmäßigen Freiheit alles dessen genießt, was zur Erhaltung, zur Nothdurft und zur Bequemlichkeit des Lebens nöthig ist.“ Vgl. Horst Walter Blanke/Dirk Fleischer, Einleitung. Artikulation bürgerlichen Emanzipationsstrebens und der Verwissenschaftlichungsprozeß der Historie. Grundzüge der deutschen Aufklärungshistorie und die Aufklärungshistorik, in: dies. (Hrsg.), Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie (wie Anm. 1), Bd. 1, 35–39. 7 Johann Friedrich Le Bret, Vorbericht, in: Magazin zum Gebrauch der Staaten- und Kirchengeschichte 1, 1771, 2r–8r, hier 2v: „Es genügte mir niemal, eine bloß superficielle Kenntniß der Staaten zu erlangen, sondern ich nahm mir allemal so viele Zeit, das Ganze in seinem Zusammenhang zu überdenken. Ich mußte den Charakter der Nation im Großen kennen lernen, hernach konnte ich ausspähen, wie sie regiert werde, wie man Staatssachen verhandle, wie man die Gerechtigkeit verwalte, welche das herrschende System sey, was zufälliger Weise dabey in Betracht komme. Nach diesen allgemeinen Begriffen konnte ich erst die Religionsverfassung berurtheilen.“ 8 Le Bret, Geschichte von Italien (wie Anm. 2), T. 46, 382. 9 Ebd. 383 f. 5

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spricht.10 Achenwall hatte seine Methode im Vorwort zu seiner „Geschichte der heutigen vornehmsten Europäischen Staaten“ (1754) erläutert. Die Geschichte – argumentierte er dort – „ist eine allgemeine Vorrathskammer unzähliger Wahrheiten von allerley Arten, und kann daher auf mancherley Weise zu vielfachen Absichten genutzet werden. Der Moralist und der Kriegsmann, der Gottesgelehrte und der Erdbeschreiber, der Criticus und der Staatsmann, der Sprachforscher und der Rechtsgelehrte können derselben gleich wenig entbehren. Aber der besondere und ganz verschiedene Zweck eines jeden wird ihn […] auf besondere und von den übrigen ganz verschiedene Vorwürfe leiten. Diese wird er vorzüglich untersuchen, und daraus seine besondere Grundsätze zusammen tragen, und sein eigenes System aufbauen.“11 Man wählt also unter den unendlichen Quellen eine bestimmte Anzahl von Begebenheiten, man gewinnt aus ihnen einige Grundsätze und man baut damit ein kohärentes System. Dieselbe Idee, daß man nach dem Systematischen in der Geschichte suchen muß, wurde 1767 von Johann Christoph Gatterer im ersten Heft seiner „Allgemeinen historischen Bibliothek“ mit Nachdruck betont, als er erklärte, der Historiker müsse die „Grundstützen“ eines Staates bestimmen und den ganzen Zusammenhang von Begebenheiten auf einige Grundsätze oder auf ein einziges Prinzip zurückführen. Der Historiker werde dann die Geschehnisse identifizieren, die diese Prinzipien bekräftigten, und alle Elemente derart miteinander verbinden, daß ein einheitliches „System“ am Ende entstehe, welches von einer einzigen „Triebfeder“ bewegt werde. Gatterer wandte dieses methodische Schema auch auf die Universalgeschichte an und behauptete, sämtliche Begebenheiten aller Zeiten seien durch eine notwendige Verbindung verknüpft, weil alles in der Welt in eine kausale Kette von Ursachen und Wirkungen eingebettet sei. Da nichts isoliert – Gatterer benutzte das Wort „insularisch“ – sei, sei die Beschreibung dieses „nexus rerum universalis“12 der höchste Zweck der Universalgeschichte.13 10

Le Bret, Vorbericht (wie Anm. 7), 4r: „Die Staatengeschichte wurde mir vornehmlich von meinem seeligen Lehrer, dem Herrn von Lohenschiold, an den ich nie ohne das lebhafteste Gefühl der Dankbarkeit gedenken kann, empfohlen, und er wünschte damals, daß man nach der Achenwallischen Methode, nach welcher er seine Vorlesungen hielt, auch die Italienischen Staaten abhandeln möchte. Ich empfand die ganze Schwierigkeit der Sache, und ließ mich in die Geschichte von Italien überhaupt, und der Italiänischen Staaten ins besondere ein, um ihre Staats-Verfassung und die Veränderungen derselben einzusehen.“ 11 Gottfried Achenwall, Geschichte der heutigen vornehmsten Europäischen Staaten im Grundrisse (1754). Göttingen 1764, Vorrede zur ersten Ausgabe, 3r–6v, hier 3r. 12 Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica. Halae Magdeburgicae 1757, 92. 13 Gatterer, Vom historischen Plan (wie Anm. 1), 659: „Ist er [der Geschichtsschreiber, M. S.] endlich ein Philosoph, und dieser muß er schlechterdings seyn, wenn er pragmatisch werden will, so macht er sich allgemeine Maximen, wie die Begebenheiten zu entstehen pflegen, studiert mit steter Erinnerung an diese Maximen, die zuverläßigen Nach-

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3. Das Prinzip der Geschichte (August Ludwig Schlözer) Weiteren Aufschluß über diesen „Leitfaden“ der Universalgeschichte gab August Ludwig Schlözer, der Kollege Gatterers und der Nachfolger Achenwalls in Göttingen. Es gebe nämlich zwei Möglichkeiten, eine allgemeine Geschichte der Welt zu schreiben, die man durch die Begriffe von Aggregat und System benennen könne. „Man kann sich die Weltgeschichte aus einem doppelten Gesichtspunkte vorstellen: entweder als ein Aggregat aller Specialhistorien […]; oder als ein System […]. Ein Aggregat der Weltgeschichte entstehet, wenn das ganze menschliche Geschlecht in Theile zerlegt, alle diese Theile vollständig enumeriert, und die von einem jeden einzelnen Theile vorhandene Nachrichten richtig angegeben werden […]. Ein Bild in Theile zerschnitten, und aufmerksam nach diesen abgesonderten Theilen betrachtet, giebt noch keine lebendige Vorstellung des Ganzen. Noch fehlet der allgemeine Blick, der das Ganze umfasset: dieser mächtiger Blick schafft das Aggregat zum System um, bringt alle Staten des Erdkreises auf eine Einheit, das menschliche Geschlecht, zurück, und schätzet die Völker bloß nach ihrem Verhältnisse zu den grossen Revolutionen der Welt.“14 Die Universalhistorie konstituiert sich also zum „System“ der Menschheit durch ein einziges Prinzip oder einen einheitlichen Gesichtspunkt, und dies ist, was Schlözer als „das Verhältnis zu den grossen Revolutionen der Welt“ bezeichnet. richten von der Nation, die er beschreiben will, recht durch […], und wagt es, hieraus ein System von Begebenheiten, das Triebwerk, herzuleiten, das mit Vergnügen entweder von gleichzeitigen Schriftstellern bestätiget, oder durch den ganzen Zusammenhang der Geschichte gerechtfertiget findet. […] Der höchste Grad des Pragmatischen in der Geschichte wäre die Vorstellung des allgemeinen Zusammenhangs der Dinge in der Welt (Nexus rerum universalis). Denn keine Begebenheit in der Welt ist, so zu sagen, insularisch, Alles hängt an einander, veranlaßt einander, zeugt einander, wird veranlaßt, wird gezeugt, und veranlaßt und zeugt wieder. Die Begebenheiten der Vornehmen und der Geringen, der einzelnen Menschen und aller zusammen, des Privatlebens und der grossen Welt, ja selbst der unvernünftigen und leblosen Geschöpfe und der Menschen, alle sind in einander verschlungen und verbunden. Daß ein Mensch diesen höchsten Grad des Pragmatischen in der Historie erreichen können, wird kein Vernünftiger erwarten: und wenn auch kein innerer Widerspruch in einer solchen Forderung enthalten wäre, so stritte sie doch auf der andern Seite mit den wesentlichen Pflichten eines Geschichtschreibers. Dieser soll nur merkwürdige Begebenheiten erzählen: er darf also auch nur die Triebfedern und Wirkungen merkwürdiger Begebenheiten aufsuchen.“ 14 August Ludwig Schlözer, Vorstellung seiner Universal-Historie (1772/73). Waltrop 1997, 14–19. Vgl. Horst Walter Blanke, Einleitung, in: Schlözer, Vorstellung seiner Universal-Historie (wie Anm. 14), IX–XLIV, hier XXIV–XXIX; Gabriella Valera, Statistik, Staatengeschichte, Geschichte im 18. Jahrhundert, in: Hans Erich Bödeker/Georg Iggers/ Jonathan B. Knudsen/Peter H. Reill (Hrsg.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert. Göttingen 1986, 119–143, hier 141 f.; Gabriella Valera, Introduzione, in: dies. (Ed.), Scienza dello Stato e metodo storiografico nella Scuola storica di Gottinga. Neapel 1980, IX–CXVIII, hier LXXX–XCVII; Martin Peters, Altes Reich und Europa. Der Historiker, Statistiker und Publizist August Ludwig (v.) Schlözer (1735–1809). Münster 2003, 159–206.

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II. Das epistemologische Dreieck der naturrechtlichen Epistemologie Diese ersten Überlegungen bestätigen uns in der Annahme, daß die Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert ein zunehmendes Interesse an den Begriffen von System, Prinzip und Methode zeigte, oder sogar durch sie innerlich strukturiert wurde. So kann man auch an unseren Autoren die Überzeugung ablesen, daß die Geschichte ein System von Elementen bildet, das durch ein Prinzip generiert wird, und daß man dazu eine besondere Methode benötigt. Dieser methodologische Zusammenhang, dieses Dreieck von System, Prinzip und Methode war zur Mitte des 18. Jahrhunderts keine neue Erfindung der Geschichtsschreibung, sondern entsprach dem schon längst bekannten methodologischen Kern des modernen Naturrechts.15 In der neuzeitlichen Naturrechtslehre – und dies trifft bis heute zu – sind Grundsatz und System so eng miteinander verbunden, daß sie als zwei Aggregatzustände derselben Materie gelten. Das Prinzip ist ein System in impliziter Form; das System ist ein expliziertes Prinzip.16 Schließlich ist die Methode diejenige Regel oder Verfahrensweise, welche beschreibt, wie man das eine in das andere verwandelt.17 Diese gegenseitige Abhängigkeit von Prinzip, System und Methode gehörte zu den Grundvoraussetzungen des frühneuzeitlichen Naturrechts und läßt sich tatsächlich in dessen ganzer Geschichte aufspüren. Samuel Pufendorf widmete dieser Frage wichtige Abschnitte in seinen Lehrbüchern und verfaßte in seinem „Specimen controversiarum“ (1678) ein besonderes Kapitel „De fundamentali propositione legis naturalis“.18 Auch viele andere 15 Vgl. Merio Scattola, Models in History of Natural Law, in: Ius commune. Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte 28, 2001, 91–159, hier 133–159; ders., Before and After Natural Law. Models of Natural Law in Ancient and Modern Times, in: Tim J. Hochstrasser/Peter Schröder (Eds.), Early Modern Natural Law Theories. Contexts and Strategies in the Early Enlightenment. Dordrecht 2003, 1–30. 16 Merio Scattola, Principium oder principia? Die Diskussion über den Rechtsgrundsatz im 16. und 17. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 12, 2004, 3–26; ders., Krieg des Wissens – Wissen des Krieges. Konflikt, Erfahrung und System der literarischen Gattungen am Beginn der Frühen Neuzeit. Padua 2006, 69–83. 17 Wolfgang Röd, Geometrischer Geist und Naturrecht. Methodengeschichtliche Untersuchungen zur Staatsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1970, 5–9. Zu der frühneuzeitlichen Diskussion über die Methode der praktischen Philosophie vgl. Merio Scattola, Arnisaeus, Zabarella e Piccolomini: la discussione sul metodo della filosofia pratica alle origini della disciplina politica moderna, in: Gregorio Piaia (Ed.), La presenza dell’aristotelismo padovano nella filosofia della prima modernità. Rom/Padua 2002, 273–309. 18 Samuel Pufendorf, Eris Scandica und andere polemische Schriften. Hrsg. v. Fiammetta Palladini. Berlin 2002, 142: „Postquam constitutum mihi fuerat ius naturale in iustae formam disciplinae redigere, cuius partes inter se bene cohaererent, et ex se evidenter fluerent; prima cura fuit circa constituendum idoneum fundamentum, seu propositionem

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darauf folgende Autoren veröffentlichten besondere Schriften über die Frage „De principio iuris naturalis“.19 Mit höchster Klarheit führte Nikolaus Hieronymus Gundling die Diskussion über Prinzip und System auf folgende Definitionen zurück: „Wenn man in einer Disciplin connectiren will, muß man ein primum principium suchen, woraus alle conclusiones können hergeleitet werden. […] Primum principium nennen wir eine Fundamental-Proposition, wovon die andern Conclusiones alle abhängen. Z. E. Pacta sunt servanda, quia socialiter vivendum est. Es wird aber hier ein principium cognoscendi verstanden. Denn primum Principium soll seyn eine Propositio fundamentalis, qua cognita, ceterae propositiones cognoscuntur, intelliguntur, illustrantur. […] Dieses Principium primum nun muß verum, evidens und adaequatum seyn.“20

III. Die topologische Geschichtsschreibung 1. Eine frühmoderne Lehre der Geschichte (Bartholomaeus Keckermann) Der Wortschatz der neueren Geschichtsschreibung war vorher selbstverständlich nicht unbekannt: Auch im 17. und im ausgehenden 16. Jahrhundert waren System, Prinzip und Methode die Leitworte der neueren und neuesten Wissenschaft, besonders in der praktischen Philosophie. Auch damals bemühte man sich ausdrücklich um die Errichtung vollständiger Systeme, oder man entwickelte geeignete Methoden und suchte nach den Prinzipien jedes Wissenszweigs. Zwischen beiden Epochen, zwischen der Historik des späten 18. Jahrhunderts und der pragmatischen Geschichtsschreibung des frühen 17. Jahrhunderts bestehen aber gravierende Unterschiede, die gerade in diesem Bereich der wissenschaftlichen Grundbegriffe deutlich hervortrefundamentalem, quae videlicet omnia eiusdem praecepta compendio complecteretur, et ex qua ista facili et perspicua subsumtione deducere, in eamque resolvi possent.“ Vgl. auch ders., De iure naturae et gentium. Hrsg. v. Frank Böhling. Berlin 1998, T. 1, 26 f. Dazu vgl. Thomas Behme, Einleitung, in: Samuel Pufendorf, Elementa iurisprudentiae universalis. Hrsg. v. Thomas Behme. Berlin 1999, IX–XXIV, hier XX–XXII. 19 Johann Nikolaus Hertius, Dissertatio de socialitate, primo naturalis iuris principio. Gissae Hassorum 1694; Samuel Coccejus (resp.), Disputatio iuridica inauguralis de principio iuris naturalis unico, vero et adaequato. Francofurti ad Viadrum 1699; Michael Heinrich Gribner, Principiorum iuris prudentiae naturalis libri IV (1717). Vitebergae 1774; Daniel Friedrich Hoheisel, De principiis iuris naturae. Halae 1731; Johann Balthasar von Wernher, Dissertationes iuris naturalis, quibus inprimis genuinum idemque unicum et adaequatum illius principium stabilitur. Vitembergae 1721; Gottlieb Sturm, Hobbesius socialis, hoc est de genuino principio iuris naturalis Hobbesii dissertatio. Ienae 1724, Nachdr. in: ders., Dissertationes Ienenses varii et ut plurimum rarissimi argumenti. Vitebergae 1730, 61–74; Johann Ulrich Röder, De principiis iuris naturalis. Hildburghusae 1783. 20 Nikolaus Hieronymus Gundling, Erläuterung über Samuelis Pufendorfii zwei Bücher De officio hominis et civis. Hrsg. v. Christoph Friderich Ayrmann. Hamburg 1744, 62 f.

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ten. So tiefe Unterschiede, daß man hier von zwei verschiedenen Epochen des menschlichen Wissens reden kann. Bartholomaeus Keckermann, ein Vertreter der wissenschaftlichen Sprache des frühen 17. Jahrhunderts, benutzte als einer der ersten den Begriff systema in den Titeln seiner philosophischen Werke, die 1613, nach seinem Tod, von Johann Heinrich Alsted mit der bedeutenden Bezeichnung Systema systematum veröffentlicht wurden.21 In dieser philosophischen Enzyklopädie findet man auch einen kurzen Traktat „De natura et proprietatibus historiae commentarius“, in dem erklärt wird, wie und zu welchem Zweck man Geschichte schreiben soll und in dem auch einige Überlegungen zur Geschichte selbst, zu einer Lehre der Geschichte formuliert werden. Die erste Frage, die Keckermann behandelt, betrifft die Natur der Geschichte als besondere Form des Wissens. Wie andere Schriftsteller seiner Zeit äußert sich Keckermann eher skeptisch darüber, daß man die Geschichte als eine Wissenschaft erfassen kann, ja er lehnt sogar diese Möglichkeit ab, weil sich die Geschichte mit Einzelfällen und Umständen befaßt. Die Geschichte ist „singularis“ und „circumstantialis“22: Sie kann nur Beispiele, aber keine allgemeinen Regeln anbieten.23 Jede historische Begebenheit ist einzig und kann nicht wiederholt werden, so daß man zwischen verschiedenen Ereignissen nur Ähnlichkeiten finden kann. Diese können aber zu einer geschlossenen Reihe von gemeinsamen Bezugspunkten gestaltet werden, und auf diese Weise gewinnt man eine Sammlung von Gemeinplätzen, die alle Argumente gliedern, und eine topologische Verteilung des Wissens, die in jeder Disziplin wirkt. Man muß auch in der Geschichte geeignete „loci communes“ anwenden. Die Geschichte ist aber keine selbständige Disziplin und kann daher kein eigenes Schema der Gemeinplätze besitzen. Keckermann sagt in diesem Fall, die Geschichte habe keine eigene „Form“ oder „Methode“. „Daraus wird nämlich klar, wie groß der Fehler einiger Gelehrten ist, welche bemüht sind, die historischen Materien nach einer Methode zu verteilen, die der Geschichte 21

Bartholomaeus Keckermann, Systema systematum. Hrsg. v. Johann Heinrich Alsted. Hanoviae 1613. 22 Johann Andreas Bose, De prudentia et eloquentia civili comparanda diatribae isagogicae (1678). Ienae 1699, 95 f.: „Tota enim civilis prudentia circumstantialis, ut sic loquar, ad tempus, locum, conditionem negotiorum accomodata est: neque tam sub locos communes, quam sub observationes singulares et subtiles cadit, quas meliores historici summa solertia suggerunt.“ Vgl. Merio Scattola, La storia e la prudenza. La funzione della storiografia nell’educazione politica della prima età moderna, in: Storia della Storiografia 42, 2002, 42–73. 23 Bartholomaeus Keckermann, De natura et proprietatibus historiae commentarius (1610), in: ders., Systema systematum (wie Anm. 21), T. 2, 1818b. Dazu vgl. Wilhelm Voßkamp, Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein. Bonn 1967, 29–34; Merio Scattola, L’utopia delle passioni. Ordine della società e controllo degli affetti nell’Isola di Felsenburg (1731–1745) di Johann Gottfried Schnabel. Padua 2002, 40–60.

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eigen sein soll und von den Methoden anderer Disziplinen nicht abhängen soll, obwohl die Methode nur in den Disziplinen zu finden ist, denen sie ihre Form gibt. Da aber die Geschichte keine Disziplin ist, muß man folgern, daß sie keine eigene und von den Disziplinen unabhängige Methode oder Form hat.“24

Nichtsdestoweniger erhält die Geschichte eine „Form“ und eine „Methode“ von den anderen Disziplinen der praktischen Philosophie. Da sie Beispiele von sittlichen, ökonomischen und politischen Regeln sammelt, können ihre Argumente mit den Schemata der Ethik, der Ökonomik und der Politik geordnet werden. „Die Geschichte aber ist keine Disziplin und hat daher keine Einteilungen der Methode, das heißt keine besonderen und unabhängigen Gemeinplätze. Die historischen Materien müssen daher auf die Gemeinplätze der eigentlichen Disziplinen zurückgeführt werden, weil die Geschichten nichts anderes als Beispiele von Regeln enthalten. Daraus folgt, daß die Regeln eine eigene Methode, die Beispiele aber keine andere Methode als die haben, die in den Regeln enthalten ist.“25

Von denselben Prämissen ausgehend kam Sebastiano Mazzi zu dem Schluß, daß man in der Geschichte zwei untereinander geordnete Zwecke unterscheiden muß: den inneren und den äußeren Zweck. Wenn nämlich die Geschichte der sittlichen oder der intellektuellen Vervollkommnung dient, verfolgt sie eine Aufgabe, die ihr wahrlich nicht angehört, solange man sie bloß als Kunst betrachtet.26 Daher muß sie sich auf fremde Kategorien stützen. Wenn man aber diese äußerlichen Ziele aus der Geschichte beseitigt, dann muß nur ihr wahrer Zweck bleiben, der sich als die Erhaltung des Wahren definieren läßt und ihr die richtige Verfassung einer Kunst geben kann.27 Diese Besonderheit, die Tatsache, daß sich die Geschichte an andere Fächer anlehnen muß, ändert in keinem Punkt die Natur der historischen Arbeit, sowohl des Schriftstellers als auch des Lesers, die in der richtigen Anordnung der Argumente mit Hilfe der Gemeinplätze besteht. Diese Arbeit ist also ein Klassifizieren der historischen Begebenheiten anhand der moralphilosophischen Tafel der „loci communes“.

24 Keckermann, De natura historiae (wie Anm. 23), 1818b: „Nam primo ex eo apparet quantus sit error eorum, qui historiam conantur disponere propria quadam methodo, non pendente a methodo aliarum doctrinarum, cum tamen methodus nullibi sit nisi in disciplinis, quarum est forma. Cum ergo historia non sit disciplina, evidenter sequitur quod non habeat methodum, seu formam propriam et distinctam a disciplinis.“ 25 Ebd. 1818b: „Cum ergo historia non sit disciplina atque adeo non habeat capita methodi, id est locos communes peculiares ac distinctos, sed quod historica debeant reduci ad locos disciplinarum proprie dictarum, cum nihil aliud contineant historiae quam exempla praeceptorum, praecepta ergo habent suam methodum, exempla vero non habent methodum nisi eam quae est in et a praeceptis.“ 26 Daran halten sich die meisten Zeitgenossen Mazzis. Vgl. zum Beispiel Paolo Beni, De historia libri quatuor. Venetiis 1611, 19–23. Daher kommt die Geschichtsschreibung sehr nahe an die Dichtung. Vgl. ebd. 85–99. 27 Sebastiano Mazzi, De historia libri tres. Venetiis 1613, 147–180.

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„Der dritte Fehler ist sehr verbreitet und für die Jugend sehr gefährlich, die zum Studium der Geschichte von Kurzweil und Genuß angezogen wird und also die Geschichten ohne Zögern zu lesen anfängt, bevor sie die Disziplinen studiert und die Regeln erlernt hat, denn nur in den Disziplinen findet man die Methode und die Gemeinplätze, mit denen man die Geschichte richtig anordnen kann. Dies ist aber ein verkehrter Weg, und man kann ihn durch einen Vergleich mit anderen Disziplinen deutlich zeigen, zum Beispiel mit der Grammatik, der Logik usw. Man handelt nämlich unsinnig, wenn man zuerst die Beispiele der Grammatik, der Logik, der Rhetorik lernen und aufschreiben will, bevor man die Regeln erlernt hat; so wäre es noch unsinniger, wenn man die Geschichten, das heißt die ethischen, ökonomischen und politischen Beispiele, sofort lernen und aufschreiben möchte, bevor man die Regeln der Ethik, Ökonomik und Politik erlernt hat.“28

2. Die topologische Struktur des Wissens Diese außerordentliche Bedeutung der Gemeinplätze für die Historie, diese topologische Auffassung ist selbstverständlich keine Besonderheit der Historie, sondern gehört zur gemeinsamen Natur der vorneuzeitlichen praktischen Philosophie. In der Tat ist die historische Lehre Bartholomaeus Keckermanns nur ein Teil einer dialektischen Methodologie, die alle Disziplinen umfaßt und die sich den Zweck vorsetzt, in jedem Wissenszweig die verfügbaren Kenntnisse nach dem Muster der „loci communes“ anzuordnen.29 Die Dialektik ist eine materielle Logik, welche die Menschen in den Stand setzt, alle Dinge und Erscheinungen der Welt richtig zu erfassen. Sie gestaltet das gesamte Wissen; sie stellt das Netz der Gemeinplätze zur Verfügung, das bei der Beschreibung jedes Gegenstands angewandt wird30 und das alle Kenntnisse auffangen kann.31 Für alle möglichen Fragen der erfahrenen 28

Keckermann, De natura historiae (wie Anm. 23), 1818b: „Tertius error est in primis vulgatus et interim valde damnosus iuventuti, quae voluptate et iucunditate studii historici ducta, historias ex professo incipit legere plerunque, antequam disciplinas et praecepta ea cognoverit, quibus methodus inest et loci communes illi, ad quos historiae reduci debent, quod quidem valde est praeposterum et facile intelligi potest ex comparatione aliarum disciplinarum: exempli gratia grammaticae, logicae et c. Sicut enim absurdus fuerit, qui exempla grammaticae, logicae, rhetoricae velit cognoscere et notare antequam didicerit praecepta, ita absurdissimus haberi debet, qui historias, id est exempla ethica, oeconomica, politica, serio et ex professo velit legere et notare, antequam habeat perspectam methodum praeceptorum ethicorum, oeconomicorum, politicorum et c.“ 29 Ders., Systematis logici liber primus[–tertius] (1600), in: ders., Systema systematum (wie Anm. 21), T. 1, 308a–315b. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983, 59– 66; Helmut Zedelmaier, Bibliotheca universalis und Bibliotheca selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der Frühen Neuzeit. Köln 1992, 64–99. 30 Bartholomaeus Keckermann, Systema logicae minus (1601), in: ders., Systema systematum (wie Anm. 21), T. 1, 963b–968b. 31 Bartholomaeus Keckermann, Apparatus practicus, sive idea methodica et plena totius philosophiae practicae, nempe ethicae, oeconomicae et politicae. In qua ostenditur ratio studii practici dextre conformandi et locos communes colligendi atque adeo tum politicos tum historicos cum certo fructu legendi (1609), in: ders., Systema systematum (wie Anm. 21), T. 2, 1700a–1704a; ders., Systema logicae minus (wie Anm. 30), 866b–944b; ders.,

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Welt ist es nämlich immer möglich, einige „loci communes“ auszuwählen, um einen dialektischen Mechanismus zu bauen, der das gegebene Problem löst. Die Ordnung der Dialektik, der Geschichte und aller Disziplinen ist freilich nicht willkürlich, sondern entspricht der Ordnung der Dinge, denn schon die Welt ist in sich topologisch. „Alles, was in der Welt ist oder in der Welt entsteht oder je in der Welt entstanden ist, alles kann man auf eine Disziplin beziehen; und will man darüber richtig urteilen, dann ist solche Beziehung notwendig. Wie nun jedes Wesen auf eine Disziplin bezogen werden kann, auf eben dieselbe Weise kann man auch jedes Wort und jeden Satz auf eine Disziplin zurückführen. Denn die Wörter sind Zeichen der Dinge und folgen in allem den Dingen, deren sie Zeichen sind, genauso wie der Schatten seinem Körper folgt. Aber alles, was einer Disziplin angehört und auf sie bezogen werden kann, erfüllt zwei Voraussetzungen: 1. Es muß methodisch sein; 2. es muß vollständig sein. Demzufolge werden auch die Gemeinplätze der Dinge und der Wörter diese zwei Bedingungen erfüllen müssen: 1. Sie müssen methodisch sein, freilich nach der Methode einer Disziplin; 2. sie müssen vollständig sein.“32

Ähnlich äußerte sich auch Johann Heinrich Alsted in seiner „Panacea philosophica“.33

IV. System, Prinzip und Methode in der älteren Lehre Wir haben gesehen, daß sich die Geschichtsschreibung des späten 18. Jahrhunderts durch die Ideen von „System“, „Methode“ und „Prinzip“ konstituierte. Der älteren pragmatischen Geschichte und deren topologischer Wissensauffassung waren sie nicht unbekannt, hatten aber im 16. und frühen 17. Jahrhundert eine auffallend andere Bedeutung. 1. System Der Terminus „systema“34 geht auf die Definition der Kunst („ars“) durch Galen zurück, der mit diesem Wort einfach „eine Sammlung von KenntnisSystematis logici plenioris pars altera (1609), in: ders., Systema systematum (wie Anm. 21), T. 1, 315–424. 32 Ders., Apparatus practicus (wie Anm. 31), 1700a: „Quicquid omnino est in toto mundo, quicquid etiam fit in mundo aut unquam factum est, id omnino ad aliquam disciplinam referri potest, et si de eo dextre iudicare velis, referri etiam debet. Sicut autem omnis res potest referri ad aliquam disciplinam, ita etiam omne vocabulum et omnis phrasis potest reduci ad aliquam disciplinam. Nam verba sunt signa rerum et in omnibus ita sequuntur res suas, quarum sunt signa, sicut umbra sequitur suum corpus. Cum omne id, quod ad aliquam disciplinam pertinet et referri potest, duo ista requisita habeat, nempe: 1. ut sit methodicum; 2. ut sit plenum, ideo locos communes rerum et verborum istis duobus requisitis etiam praeditos esse oportebit: 1. ut sint methodici secundum methodum, nempe disciplinae; 2. ut sint pleni.“ 33 Johann Heinrich Alsted, Panacea philosophica. Herbornae Nassoviorum 1610, 20 f. 34 Otto Ritschl, System und systematische Methode in der Geschichte des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs und der philosophischen Methodologie. Bonn 1906, 5–40; Alois

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sen“ bezeichnete.35 Im 16. Jahrhundert übersetzte man das Wort „sy-stema“ durch „com-prehensio“ – das ist „Zusammen-Fassung“, „Zusammen-Stellung“36 –, durch „ordo constans“37 oder durch „methodica dispositio“.38 Ein System ist also eine Sammlung von Regeln und Geboten zum Unterricht und zur Bildung anderer Menschen. Anfang des 17. Jahrhunderts wurde das Wort System ausdrücklich als Bezeichnung für die Gesamtheit einer bestimmten Disziplin eingeführt und zuerst von reformierten Autoren bevorzugt. Johann Heinrich Alsted zum Beispiel definierte als System jeden geordneten Zusammenhang von beliebigen Elementen und vor allem jede Kunst oder Disziplin, wenn sie methodisch organisiert ist.39 Diese Bezeichnung ersetzte im kalvinistischen Kontext die nicht mehr anwendbare Benennung summa.40 Sebastian Naeve benutzte sie 1608 für die Jurisprudenz.41 Angesichts des flutartigen Wachstums der juristischen Literatur in allen ihren pragmatischen und theoretischen Bereichen – argumentierte Naeve – mußte man notwendigerweise ein Nachschlagewerk verfassen, das zur Orientierung diente und von der Stein, Der Systembegriff in seiner geschichtlichen Entwicklung, in: Alwin Diemer (Hrsg.), System und Klassifikation in Wissenschaft und Dokumentation. Meisenheim am Glan 1968, 1–14, hier 6–9; Manfred Riedel, Art. „System, Struktur“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 6. Stuttgart 1990, 285–322, hier 289–294. 35 Lucianus Samosatensis, Περι παρασ του. Hrsg. v. Karl Iacobitz. Leipzig 1904, IV, 841, 28; Claudius Galenus, Definitiones medicae. Hrsg. v. Karl Gottlob Kühn. Leipzig 1830, II, 233, 350: „Ars est praeceptorum exercitatione comprobatorum ad finem eorum quae in vita sunt perutilem congeries. Vel sic. Ars est compages comprehensionum exercitarum ad unum finem relationem habentium.“ 36 Pierre de La Ramée, Institutiones dialecticae (1543). Basileae 1572, 11. 37 Nikolaus Vigel, Methodus regularum utriusque iuris. Basileae 1584, 11. 38 Philipp Heinrich von Hoen, Libri duo disputationum: prior politicarum methodice digestarum, posterior iuridicarum. Herbornae Nassoviorum 1608, 2. 39 Johann Heinrich Alsted, Compendium lexici philosophici. Herbornae 1626, 1778: „Systema. Σγστημα, aliquid constitutum, compages, opus ex certis partibus coaugmentatum. Per synecdocem est facultas, ars, disciplina methodice comprehensa.“ Vgl. ders., Panacea philosophica (wie Anm. 33), 33–36. Die Hauptelemente jeder Disziplin sind die Sammlung der Definitionen und die Teilung oder Verteilung der Argumente. Definition und Verteilung sind auch die zwei Hauptkapitel der Logik. Vgl. ders., Theatrum scholasticum. Herbornae Nassoviorum 1620, 63–145. 40 Christian Strub, Art. „System. II: System und System-Kritik in der Neuzeit“, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 10. Basel 1998, 825–856, hier 827. 41 Sebastian Naeve, Systema selectorum ius Iustinianeum et feudale concernentium. Francofurti ad Moenum 1608; Johann Steckius, Systema iurisprudentiae feudalis. Arctopoli 1619. Zum Systemgedanken im 16. Jahrhundert vgl. Hans Erich Troje, Wissenschaftlichkeit und System in der Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts, in: Jürgen Blühdorn/Joachim Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft. Zum Problem ihrer Beziehung im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1969, 63–88, hier 71; Helmut Coing, Geschichte und Bedeutung des Systemsgedankens in der Rechtswissenschaft (1956), in: ders., Zur Geschichte des Privatrechts. Frankfurt am Main 1962, 9–28, hier 9.

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alle verschiedenen Beiträge der Schriftsteller kurz aufzeichnete.42 Das System war hier also ein Zettelkatalog, der größte Karteikasten der Welt, in dem sämtliche Schriften der Jurisprudenz aller Zeiten zergliedert, verteilt und angeordnet wurden: dasselbe also, was sonst oeconomia iuris oder bibliotheca iuris oder dicaeologica genannt wurde. 2. Prinzip Wie das 16. Jahrhundert kein System im modernen Sinne kannte, so hatte es auch kein Prinzip, wie man es später verstanden hat. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts gilt das Prinzip als die andere Seite des Systems: es muß einzig sein und das ganze Gebäude der naturrechtlichen Lehre in sich enthalten. Die vormoderne Literatur kannte dagegen immer eine Vielzahl von Prinzipien, die sehr heterogen waren. Im Jahre 1556 veröffentlichte Christoph Ehem seinen Traktat „De principiis iuris libri VII“ und löste den Begriff „Juris-prudenz“ in seine Bestandteile auf. Nach einer langen Zergliederung kam er zu dem Schluß, daß man folgende Elemente als Prinzipien der Jurisprudenz betrachten muß: Methode, Ordnung, vier aristotelische Ursachen, intellektuelle Fertigkeiten, Klugheit und Recht. Andere Beispiele dieser älteren Prinzipienlehre findet man in den Werken des friesischen Rechtsgelehrten Joachim Hopper oder in den Traktaten über die Prinzipien des Rechtes und des Krieges von Georg Obrecht.43 Johann Heinrich Alsted, der Freund und Herausgeber von Keckermann, führte zu Beginn jeder philosophischen Lehre eine besondere Disziplin der Prinzipien ein, die er archelogia nannte. Diese sollte alle möglichen Grundsätze klassifizieren, die voneinander sehr unterschiedlich sein können, denn sie sind erste oder zweite Prinzipien, principia essendi oder cognoscendi, einfach oder zusammengesetzt, theoretisch oder praktisch, gemeinsam oder besonders, direkt oder indirekt, Axiome oder Sätze, wirklich oder geistig, an sich oder vereinbart, natürlich oder künstlich, deutlich oder verborgen, beweisbar oder unbeweisbar.44 Dieselbe Prinzipienlehre wirkte weiter ins 17. Jahrhundert hinein und läßt sich auch im großen Werk des Hugo Grotius oder in dessen Epitomen und Kommentaren wiederfinden. Am klarsten tritt sie in einem Buch von Willem

42

Naeve, Systema (wie Anm. 41), 2r–v. Joachim Hopper, De iuris arte libri tres (1553), in: ders./Jean de Coras, Tractatus de iuris arte duorum clarissimorum iurisconsultis. Coloniae Agrippinae 1582, 293–608; ders., Elementorum iuris, sive de principiis iusti et iniusti, libri IIII. Coloniae 1580; ders., Seduardus, sive de vera iurisprudentia ad regem, libri XII. Antverpiae 1590; Georg Obrecht, Theses de principiis iuris. Argentorati 1584; ders., Disputationes II iuridicae, prior der principiis belli et eius constitutione. Posterior de militari disciplina. Argentorati 1590. Vgl. Merio Scattola, Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ius naturae im sechzehnten Jahrhundert. Tübingen 1999, 137–146; ders., Krieg des Wissens (wie Anm. 16), 90 f. 44 Alsted, Compendium (wie Anm. 39), 1778 f. 43

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Grotius hervor, der die Lehre des älteren und berühmteren Bruders aus dem Blickwinkel des Prinzips zusammenfaßte. In seinem „De principiis iuris naturalis enchiridium“ identifizierte er als Prinzipien des Naturrechts: die angeborenen Ideen, die Gott ins Herz des Menschen eingeschrieben hat45, die allgemeinen Triebe und Grundsätze, die das Leben des Menschen steuern46, die allgemeinen Gebote der Jurisprudenz, die Ulpian zu Beginn der Digesten formuliert, und die Zehn Gebote.47 Viele Dinge können also als Prinzip gelten, sind aber immer derart beschaffen, daß sie niemals als ein Prinzip im modernen Sinne gelten können. 3. Methode Die Gesamtordnung, die ein „System“ anwendet, um die ihm anvertraute Lehre richtig darzustellen, ist seine „Methode“, die daher mit der Anordnung der Argumente zusammenfällt.48 Die Methode der Politik oder der Jurisprudenz war im 16. und 17. Jahrhundert dementsprechend nichts anderes als die Anordnung der Argumente in der Darstellung einer gesamten Disziplin, was auch viele Schriften jener Zeit schon in ihren Titeln verdeutlichten, denn sie waren „methodicae“49, „methodice digestae“50, „methodice compositae“51, „in genuinam methodum reductae“52 und so weiter.

45 Willem de Groot, De principiis iuris naturalis enchiridium (1667). Lugduni Batavorum 1719, 12 f. 46 Ebd. 16. 47 Immanuel Proeleus, Grund-Sätze Des Rechts der Natur. Leipzig 1709, 111: „Die heutigen Naturalisten bekümmern sich sonderlich um ein Principium, daraus sie ohne Weitläufftigkeit alles deduciren könten, wenn man den Grotium ansiehet, hat er sich darum nicht eben zu viel bekümmert. Er raisonniret über die vorkommenden materien sehr wohl, theils aus der gesunden Vernunfft, theils nach dem Göttlichen Recht, theils nach den Gewohnheiten der Völcker, weil er ein Mann von einer weitläufftigen Gelehrsamkeit und einer sehr grossen Belesenheit war.“ 48 Bartholomaeus Keckermann, Systema logicae tribus libris adornatum. Hanoviae 1600, 591: „Interdum vero methodus sumitur non pro notificatione et explicatione unius instrumenti logici, sed pro integro aliquo systemate disciplinae per varia instrumenta logica concinnato […]. Hic logicae studiosus […] notabit methodum, quatenus ad discursum ordinativum pertinet, neutiquam in priore, sed tantum in posteriori significatione sumi, pro dispositione videlicet integrae alicuius doctrinae ex multis instrumentis logicis constructae.“ 49 Friedrich Pruckmann, Tractatus de regalibus sive explicatio brevis et methodica cap. 1. Quae sint regalia, in Usibus feudorum. Berlini 1587. 50 Iohannes Althusius, Iurisprudentiae Romanae methodice digestae libri duo (1586). Herbornae 1592; ders., Politica methodice digesta. Herbornae Nassoviorum, 1603. 51 Hermann Kirchner, Militia ad artium praecepta methodice composita. Marpurgi Cattorum 1608. 52 Henning Arnisaeus, Doctrina politica in genuinam methodum, quae est Aristotelis, reducta. Francofurti [ad Viadrum] 1606.

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Die Lehre von der Methode, welche die Logiker aus dem 16. Jahrhundert vertraten und die auch alle anderen Disziplinen als eine Selbstverständlichkeit voraussetzten, ging im wesentlichen auf Galen zurück53, der in seiner „Kunst der Medizin“ drei Ordnungen der Darstellung festgelegt hatte: die auflösende, die zusammensetzende und die definitorische.54 Jede der drei Methoden eignet sich für unterschiedliche Aufgaben, aber sie bleiben in erster Linie der Darlegung verpflichtet, denn in ihrem Inbegriff ist Methode immer eine Didaskalie, eine didaktische Darstellung. Diese traditionsreiche Lehre der Methode verbreitete sich in vielen Werken des 16. Jahrhunderts, und wir finden sie zum Beispiel in Deutschland in den Schriften von Iodochus Willich55, Niels Hemmingsen56, Theodor Zwinger57, Rudolf Goclenius58 und Bartholomaeus Keckermann59. Auch bei der Frage nach der richtigen Methode der praktischen Disziplinen finden wir dasselbe „topische“ Denken, dem wir schon bei den Begriffen „System“ und „Prinzip“ begegnet sind. Die Geschichtsschreibung, die Politik, die Jurisprudenz, und auch die Theologie des 16. Jahrhunderts60, wenn man sie als „disciplinae practicae“ betrachtet, waren daher in eine ausgeprägt topologische Auffassung eingebettet.61 Man ging davon aus, daß das verfügbare Wissen begrenzt war und daß man in jedem Bereich der mensch53

Claudius Galenus, Ars medica. Hrsg. v. Karl Gottlob Kühn. Leipzig 1821, 305–307. Alsted, Panacea philosophica (wie Anm. 33), 23–36, 76–85, 215–224. 55 Iodocus Willich, De methodo omnium artium et disciplinarum informanda opusculum. Francofurdii ad Viadrum 1550, 2r. Vgl. Wilhelm Risse, Die Logik der Neuzeit. Bd. 1. Stuttgart/Bad Cannstatt 1964, 108. 56 Niels Hemmingsen, De methodis libri duo. Vitebergae 1559, B4v. Vgl. Karl Kaltenborn von Stachau, Die Vorläufer des Hugo Grotius auf dem Gebiet des Ius naturae et gentium sowie der Politik im Reformationszeitalter (1848). Frankfurt am Main 1965, Bd. 1, 237–239; Scattola, Das Naturrecht vor dem Naturrecht (wie Anm. 43), 69–76. 57 Theodor Zwinger, Aristotelis Stagiritae De moribus ad Nicomachum libri decem: tabulis perpetuis, quae commentariorum loco esse queant, explicati et illustrati. Basileae 1566, 18 f., 31 f., 36–40. 58 Rudolf Goclenius, Lexicon philosophicum. Francofurti 1613, 683–686. 59 Bartholomaeus Keckermann, Praecognitorum logicorum tractatus tres (1604), in: ders., Systema systematum (wie Anm. 21), T. 1, 22a und 39b; ders., Systema logicae tribus libris adornatum (wie Anm. 48), 146 und 591; ders., Systematis logici liber (wie Anm. 29), 309a; ders., Systema logicae minus (wie Anm. 30), 962a–963b. 60 Gerhard Otte, Theologische und juristische Topik im 16. Jahrhundert, in: Jan Schröder (Hrsg.), Entwicklung der Methodenlehre in Rechtswissenschaft und Philosophie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Stuttgart 1998, 17–26; Jan Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methode vom Humanismus bis zur historischen Schule (1500– 1850). München 2001, 23–48. Zur „topologischen Methode“ in der Jurisprudenz vgl. Theodor Viehweg, Topik und Jurisprudenz. Ein Beitrag zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung (1954). München 1965, 46–61. 61 Zur Topologie des frühneuzeitlichen Wissens vgl. Biggemann, Topica universalis (wie Anm. 29), 1–154; ders., Sinnfülle, Einsicht, System. Bemerkungen zur topischen Arbeitsweise im Humanismus, in: Schröder (Hrsg.), Entwicklung der Methodenlehre (wie Anm. 60), 27–46. 54

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lichen Erkenntnis eine Reihe von Fragen festlegen konnte, welche die sachgemäße Erörterung jedes Arguments ermöglichten. Die Zahl der Fragen, die man über einen bestimmten Gegenstand stellen konnte, war begrenzt, und ebenso beschränkt waren sowohl die Antworten, die jedes Problem zuließ, als auch die Argumente, die man anzuwenden berechtigt war. Nicht nur die Form, sondern auch der Inhalt war damit zum größten Teil im voraus bestimmt: wie ein Thema abgehandelt werden sollte, welchen Platz es in der Reihe der Fragestellungen einnahm, was ihm voranging und was ihm folgte und nach welcher Rangordnung. Andererseits waren die meisten Argumente jeder beliebigen Auseinandersetzung schon längst bekannt und rührten von allgemein anerkannten und unangefochtenen Autoritäten. Der Zweck einer Beweisführung bestand im Grunde darin, daß man die evidenteste Lösung suchte und dabei auch die entgegengesetzten Argumente in der eigenen Erklärung mit berücksichtigte, und dies mit den Mitteln der Dialektik, also durch Bestimmung, Ausnahme, Begrenzung, Ausdehnung.62 Von einer Wissenschaft oder einer praktischen Disziplin des 16. Jahrhunderts erwartete man also keine neuen Kenntnisse; ihr Ziel war keineswegs die Erfindung von neuem Wissen, die Herstellung oder Entdeckung unbekannter Erscheinungen63, sondern man verlangte von ihr, daß sie das alte Wissen richtig gliederte, Fragen und Antworten nach der vorgeschriebenen Reihenfolge verteilte und die innere Topologie einer jeden Disziplin veranschaulichte.64

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Nicolaus Andreas Granius, Ethicarum prima[–quinta] disputatio. Helmaestadii 1606, A2r–v, beschriebt das methodische Vorgehen der praktischen Philosophie auf folgende Weise: „Qualis est doctrina practica? Quoad probationem non est exquisite demonstrativa, quoad ordinem sive methodum est analytica, procedens a fine ad media et principia investiganda per syllogismum ut plurimum disiunctivum, qui est idoneum instrumentum analyticae methodi, resolvens praesuppositum subiectum in ea, quae […] opinantur homines dividi posse, deinde per assumptionem removens ineptum, per conclusionem vero eligens idoneum medium.“ Vgl. Marie-Dominique Chenu, La théologie au douzième siècle (1957). Paris 1976, 360–365, listet für die mittelalterliche Philosophie folgende Verfahrensweisen auf: „diversae significationes“, „modus loquendi“, „contextus: quis, contra quem, de quo, ad quid loquatur“, „intentio auctoris“, „expositio reverens“. Vgl. auch ders., Introduction à l’étude de Saint Thomas d’Aquin. Paris 1950, 117–170. 63 Vgl. die berühmte Definition der Methode von René Descartes, Règles pour la direction de l’esprit (1701), in: ders., Œuvres et lettres. Paris 1953, 46: „Or, par méthode j’entends des règles certaines et faciles, grâce auxquelles tous ceux qui les observent exactement ne supposeront jamais vrai ce qui est faux, et parviendront, sans se fatiguer en efforts inutiles mais en accroissant progressivement leur science, à la connnaissance vraie de tout ce qu’ils peuvent atteindre […]. C’est qu’en effet si nous ignorons quelqu’une des choses que nous pouvons savoir, cela vient seulement ou de ce que nous n’avons découvert aucune route qui pût nous conduire à une telle connaissance, ou de ce que nous sommes tombés dans l’erreur contraire.“ 64 Vgl. Henning Arnisaeus, Disputationum politicarum in academia Iulia propositarum prima[–duodecima]. Helmaestadii 1605, A4r; Keckermann, Apparatus practicus (wie Anm. 31), 1697a–1698a.

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Der epistemologische Kontext, der die ältere Geschichtsschreibung zu Beginn des 17. Jahrhunderts umschloß, kannte zwar Systeme, Prinzipien und Methoden, hatte aber mit den homologen Begriffen aus dem 18. Jahrhundert nichts Gemeinsames. Ein System war eine Sammlung von Regeln und Geboten zum Unterricht und zur Bildung anderer Menschen, ohne daß man dabei eine deduktive Konsequenz voraussetzte; die Methode wurde mit der Ordnung einer Disziplin gleichgesetzt, also mit der Tafel der „loci communes“ oder mit der Verteilung der Argumente; das Prinzip war zuletzt immer als eine Vielfalt von heterogenen Ideen, Definitionen, Begriffen und Termini gedacht, die man benutzte, um eine Lehre aufzubauen. Die ältere Methode war also nicht methodisch, das System nicht systematisch und das Prinzip nicht einheitlich. An diesen Unterschieden können wir die Änderungen messen, welche die Geschichtsschreibung in der Frühen Neuzeit durchging. In diesem Licht, im Licht einer historischen Epistemologie, scheinen die ältere und die neuere Geschichtsschreibung wahrlich zwei verschiedenen Welten anzugehören, zwei Welten, die durch einen Abgrund getrennt sind.

Teil 3 „Frühe Neuzeit“ als eine „importierte“ Epochensignatur in der Musik-, Literatur- und Kunstgeschichte

Zeit, Neuzeit, frühe Neuzeit Musikhistorische Schwierigkeiten im Umgang mit einer Signatur Von

Laurenz Lütteken Die auf den folgenden Seiten angestellten Überlegungen sehen sich einer doppelten Schwierigkeit gegenüber. Zum einen suggeriert der Titel dieser Tagung, Die frühe Neuzeit als Epoche, einen einheitlichen Epochenbegriff, und zwar dort, wo einerseits Einheitlichkeit gar nicht gewährleistet ist1, wo andererseits Epochenkonstruktionen an sich, und zwar durchaus unabhängig von den Einflüssen postmoderner Dekonstruktion, zumindest in Frage gestellt worden sind2. Die andere Schwierigkeit gründet in der Tatsache, daß gerade die Musikhistoriographie unausgesetzt von Unsicherheiten im Blick auf Epochenbezeichnungen aller Art durchzogen ist. Solche Nomenklaturen sind, so sie denn verwendet werden, einesteils anderen Disziplinen entlehnt, so im Falle ‚Barock‘, wo die Adaptation aus der Kunstgeschichte allerdings weder bruchlos noch widerspruchsfrei erfolgt ist.3 Andere Bezeichnungen entstammen hingegen übergreifenden Diskussionsbereichen, und in diesem Falle sind sie vollends unscharf wie im Falle der ‚Renaissance‘, wo es bis heute erst ansatzweise geglückt ist, dem Begriff sinnvolle musikhistorische Konturen zu verleihen.4 Oder sie sind gleich bis zur Sinnlosigkeit entwertet wie im Falle der ‚Romantik‘, der man, und zwar nicht bloß in der älteren Musikgeschichtsschreibung, gleichermaßen Komponisten wie Schubert, Schumann, Wagner und, allen Ernstes, Richard Strauss subsumiert hat. Und zudem gibt es Termini, die – wie ‚Rokoko‘ oder ‚Realismus‘ – nur am Rande und jedenfalls mit Vorbehalten diskutiert worden sind5, schließlich solche, 1

Vgl. hier Anette Völker-Rasor (Hrsg.), Frühe Neuzeit. Tübingen 2000. Vgl. hier etwa den Problemaufriß von Friedrich Jaeger, Vorwort, in: Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 1. Stuttgart/Weimar 2005, VII−XXIV, hier v. a. VIII ff. 3 Vgl. Curt Sachs, Barockmusik, in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 26, 1919, 7–15; vgl. dazu die endgültige, wenn auch nicht unkritische Festschreibung bei Robert Haas, Die Musik des Barock. (Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 3.) Potsdam 1929, 10 ff. – Sachs hat vor allem versucht, die fünf von Heinrich Wölfflin 1915 entwickelten begrifflichen Gegensatzpaare (Lineares–Malerisches, Fläche–Tiefe, geschlossene–offene Form, Vielheit–Einheit, Klarheit–Unklarheit) musikhistorisch nutzbar zu machen. 4 Vgl. dazu den Überblick bei Laurenz Lütteken, Art. „Renaissance“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil Bd. 8. 2. Aufl. Stuttgart/Kassel 1998, Sp. 143–156. 5 Vgl. Laurenz Lütteken, Gibt es ein musikalisches Rokoko?, in: Matthias Luserke u. a. (Hrsg.), Literatur und Kultur des Rokoko. Göttingen 2001, 95–107; sowie Martin Geck, Zwischen Romantik und Restauration. Musik im Realismus-Diskurs 1848–1871. Stuttgart/Weimar/Kassel 2001. 2

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die – wie Naturalismus und Symbolismus – praktisch gar keine Rolle spielen. Die wenigen genuin musikologischen Begrenzungsversuche hingegen – vor allem ‚Generalbaßzeitalter‘ – sind überdies isoliert geblieben und haben in übergreifenden Zusammenhängen in der Regel keine Beachtung gefunden. Unabhängig von allen Problemen der konkreten Epochenklassifizierung zeichnet sich damit in der Musikgeschichtsschreibung eine Unsicherheit besonderer Art ab: Epochenbegriffe sind in der Regel merkwürdig unbestimmt und ungenau, selten differenziert diskutiert – und, vor allem, sehr heterogenen Kontexten entlehnt: mal der Geschichtswissenschaft, mal der Kunstgeschichte, mal der Literaturwissenschaft. Im Hintergrund steht die im Idealismus festgeschriebene Vorstellung vom Sonderstatus der Musik, die es erlauben konnte, die Tonkunst aus Epochendarstellungen von vornherein auszuklammern, folglich, wie der immerhin des Kompositionshandwerks nicht ganz unkundige Jacob Burckhardt 1860 gefordert hat, die „Geschichte der musikalischen Komposition gänzlich auf sich beruhen“6 zu lassen und deren Behandlung in übergreifenden Konzeptionen allein auf ihre Kontexte, also ihre sozialen und politischen Lebenswirklichkeiten zu beschränken. Damit war einer Auffassung Rechnung getragen, die sich von Schopenhauer herleiten ließ und die schließlich in Nietzsches Konstrukt einer kulturgeschichtlichen Differenz gipfelte: Musik sei, so Nietzsche, ein „Spätling jeder Cultur“.7 Dieses Abtrennen der Musik, die Vorstellung, daß sie – mit den Worten Schopenhauers – „ganz abgesondert von allen andern“ Künsten stehe8, hat dann, begünstigt durch die bruchlose Konvergenz zum gleichzeitig propagierten Autonomiegedanken der Musik, auf eine eigentümliche Weise zu ihrer Enthistorisierung beigetragen. Denn die Erkenntnis, daß es eine schriftlich fixierte, weiterreichende musikalische Kunstgeschichte schlechterdings nicht oder nur in vagen Umrissen gab, mußte letztlich zu der Überzeugung führen, daß sich die Musik gleichsam auch außerhalb der Geschichte vollzog, daß in ihr, wie der Musikschriftsteller Emil Naumann 1885 formulierte, „immer erst nachklingt und im Echo widerhallt, was sich in der Geschichte der Menschheit und im Entwicklungsgang der übrigen Künste bereits vollzogen und ausgesprochen“.9 6

Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. 10. Aufl. Hrsg. v. Walter Goetz. (Kröners Taschenausgabe, Bd. 53.) Stuttgart 1976 (zuerst Basel 1860), 365. 7 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Kritische Studienausgabe. Hrsg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari. (Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 2.) München 1988 (zuerst Chemnitz 1878), 450. 8 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Vier Bücher, nebst einem Anhange, der die Kritik der Kantischen Philosophie enthält. (Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke in sechs Bänden. Hrsg. v. Eduard Grisebach. 3., mehrfach berichtigte Aufl., Bd. 1.) Leipzig [1920] (zuerst Dresden 1819 [recte: 1818]), 337. 9 Emil Naumann, Illustrirte Musikgeschichte. Die Entwicklung der Tonkunst aus frühesten Anfängen bis auf die Gegenwart. 2 Bde. Berlin/Stuttgart [1885], Bd. 1, 373.

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Gerade diese methodischen Prämissen, die für die vor 1900 weiträumig sich etablierende akademische Musikwissenschaft durchaus prägend gewesen sind und eine langanhaltende Wirkung entfaltet haben, mußten dazu beitragen, Epochenkonstruktionen allenfalls über den Weg der Analogiebildung in die Musikgeschichtsschreibung zu tragen und, unter Berufung auf den Autonomiestatus, ihnen nur begrenzte Bedeutung beizumessen. Und vice versa wurde die Musik gerade deswegen gerne aus umfassenden historiographischen Entwürfen ausgeklammert.10 In dieser Absonderung der Musik allerdings erfährt, ungeachtet der hohen kognitiven Komplexität ihrer Beschaffenheit, jener Umstand geringe Beachtung, daß der musizierende Mensch als handelndes Individuum eben doch in vollem Umfang an der ihn umgebenden Lebenswelt partizipiert –, daß mithin also auch die Musik nicht bloß Bestandteil eines gegebenenfalls zu vernachlässigenden historischen Kontextes ist, sondern diesen in gleicher Weise mit definiert. Und in einer solchen Gemengelage kann es schlechterdings weder Vorausnahmen noch Verspätungen geben, sondern höchstens Spannungen, Diskrepanzen und synchrone Differenzen. Die bis ins späte 19. Jahrhundert zurückreichende Konstruktion der ‚frühen Neuzeit‘ spielt, wohl aus diesen Motiven heraus, in der Musikgeschichtsschreibung praktisch keine Rolle, jedenfalls keine erkennbar herausgehobene. Und doch ist, wie noch Friedrich Jaeger jüngst pointiert dargelegt hat, gerade die Konstruktion der frühen Neuzeit durch ein ganzes Bündel relativ klar abgrenzbarer und einigermaßen konsistenter Kriterien definiert, die es erlauben, dem Zeitraum einerseits Kontinuität zuzuschreiben, andererseits, Kosellecks These aufgreifend11, ein typisches Moment inhärenter und ihrerseits Zusammenhang stiftender Dynamik zu attestieren.12 Es ist offenbar diese Dynamik, die so etwas erlaubt wie epochale Differenzierung, wobei die chronologischen Grenzen nicht zuletzt von seiten der Mediävistik in den letzten Jahrzehnten, vor allem von Otto Gerhard Oexle, immer massiver in Frage gestellt worden sind. Gleichwohl, es ist sicher nicht die Aufgabe des Musikhistorikers, von dieser Warte aus in einen für ihn eben nicht konsistenten Diskussionszusammenhang einzugreifen und ihn zu kommentieren. Es könnte aber hilfreich sein, bestimmte Kriterien aus dieser allgemeinen Diskussion herauszulösen und daraufhin zu befragen, ob und in welchem 10

Noch Walter Wiora wollte der „Sonderwelt der Musik“ mit einem historiographischen Entwurf Rechnung tragen, in dem der Epochengedanke faktisch keine Rolle mehr spielte: Walter Wiora, Die vier Weltalter der Musik. Stuttgart 1961, Zitat SW, 8. 11 Reinhart Koselleck, ‚Neuzeit‘. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: ders. (Hrsg.), Studien zum Beginn der modernen Welt. (Industrielle Welt, Bd. 20.) Stuttgart 1977, 264–299, wiederabgedruckt in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1989 (zuerst 1979), 300–348. 12 Jaeger, Vorwort (wie Anm. 2), IX; im methodisch konstitutiven Artikel „Epoche“ der Enzyklopädie der Neuzeit fehlt folglich ein musikwissenschaftlicher Beitrag.

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Umfang sie sich als musikhistorisch relevant oder doch wenigstens weiterführend erweisen respektive erweisen könnten. Dabei geht es, dies sei ausdrücklich betont, nicht etwa um die Konstituierung einer ‚Epoche‘ der ‚frühen Neuzeit‘ auch in der Musik, sondern darum, bestimmte Prozesse wenigstens in der in diesem Rahmen gebotenen Kürze mit groben Schlagworten zu benennen. Damit sollen Möglichkeiten angedeutet werden, mit deren Hilfe sich die Musik in eine übergreifende Debatte einbinden ließe. Daß dabei, und dies ist mehr als eine bloße Pointe, eines dieser Phänomene, nämlich das der Zeit selbst, Signifikanz besitzt wie wohl nirgendwo sonst in der Kulturgeschichte, mag als eine Ermutigung gelten, diesen überfälligen Prozeß mit Nachdruck voranzutreiben. Die Auswahl dieser Schlagworte ist nicht einfach, und doch sei hier eine Beschränkung auf sechs versucht, von denen mit guten Gründen angenommen werden kann, daß sie so etwas wie ein Zentrum des Gedankengangs bilden. Daß dennoch dieser Wahl eine gewisse Willkür anhaftet, kann und soll nicht geleugnet werden. Überdies bedürfen die Ausführungen zu den ersten drei dieser Schlagworte wegen der damit verbundenen grundsätzlichen Überlegungen eines etwas größeren Raumes, während die folgenden drei, Ergebnis ihrer größeren historischen Präzision, in diesem Rahmen kursorisch abgehandelt werden können.13

I. Zeit Der offenbar und doch kaum zufällig erst im späteren 19. Jahrhundert geprägte Begriff der ‚Neuzeit‘ zielt auf Bewegung und Dynamik, die an ihn herangetragene Differenzierung der ‚frühen‘ Neuzeit auf das erste Auftreten einer solchen willentlich gestalteten und deswegen unmittelbar als Novum erfahrbaren Dynamik. Eine solche Dynamik beruht auf einem grundsätzlich veränderten Verhältnis zur Zeit. Von dieser Veränderung allerdings muß die Musik auf grundsätzliche Weise betroffen sein, ist sie doch nichts anderes als gestaltete und damit besonders unmittelbar erfahrbare Zeit.14 Um 1280 hat sich in der musikalischen Schriftlichkeit ein entscheidender Wandel vollzogen, und zwar zu einer Aufzeichnungsweise, die seit dem 19. Jahrhundert etwas mißverständlich ist, weil das Phänomen nur auf das Technische reduzie13

Zu allen hier angesprochenen Aspekten existiert ein reicher Forschungsstand; aus diesem Grund wurden die Nachweise in den Fußnoten eher kursorisch gehalten und vor allem dann eingefügt, wenn sie zum Verständnis des Haupttextes von großer Bedeutung sind. 14 Vgl. dazu schon Walter Wiora, Musik als Zeitkunst, in: Die Musikforschung 10, 1957, 15–28; inzwischen existiert zum Problemzusammenhang ein reicher Forschungsstand; ein jüngerer, umfangreicherer Überblick bei Wolfgang Auhagen u. a., Art. „Zeit“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2. Aufl. Sachteil Bd. 9. Kassel/Stuttgart 1998, Sp. 2220–2251.

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rend, ‚Mensuralnotation‘ heißt. Die im späten 13. Jahrhundert proklamierte musica mensurabilis beruht darauf, daß in der Musik Längen und Kürzen konkret meßbar und, in hoch differenzierten graphischen Zeichen, notierbar sind – und daß ein entscheidendes Resultat die, zumindest der Tendenz nach, mögliche temporale Differenzierung der Einzelnote war. Ging es in der rhythmischen Organisation der Musik noch des 13. Jahrhunderts um die musterhaft geordnete Folge von Längen und Kürzen, so war nun eine ganze Fülle verschiedener zeitlicher Werte wenigstens im Prinzip individuell fixierund damit gestaltbar. Dieser Vorgang hat es erlaubt, und zwar umgehend, den zeitlichen Verlauf einer einzelnen Komposition individuell zu ordnen und ihm gleichzeitig eine inhärente Dynamik einzuschreiben. Die bis ins 15. Jahrhundert gepflegte isorhythmische Motette kann als das Paradigma dieser Gattung gelten. Die Genese dieser Vorstellung, daß sich zumindest im Grundsätzlichen der Wert einer Einzelnote relativ unabhängig von ihrer Umgebung bestimmen lasse, fällt zusammen mit einem tiefgreifenden, mittlerweile differenziert erforschten Wandel im Zeitbewußtsein.15 Die in der Spätscholastik entstandene Auffassung, Zeit verlaufe nicht zyklisch, sondern linear, implizierte zugleich den Willen zur Vereinheitlichung von zeitlichen Gliederungssystemen, die damit der Kontrolle fester sozialer Konfigurationen zunehmend entzogen wurden und folglich objektiviert werden konnten. Die Auswirkungen dieser Veränderungen sind deutlich faßbar im gleichzeitig sich wandelnden Verhältnis zum Raum, der, nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Interessen, in wachsendem Maße ‚beherrschbar‘ gemacht werden sollte: ein Vorgang, der einer zeitlichen Koordination verschiedener Räume bedurfte und schließlich gipfelte in der zentralperspektivischen Darstellung von Räumen. Damit ist ein sozialer Wandel bezeichnet, der letztlich die Lösung des ‚Zeitmonopols‘ aus der kirchlich-monastischen Sphäre und seine zunehmende Anbindung an die wirtschaftlichen Räume der Städte bedeutete.16 Verbunden mit dieser Säkularisierung von Zeitvorstellungen, in der aus der spekulativen Kategorie ‚Zeit‘ eine physikalische wird, ist die stetige Verkürzung immer genauer meßbarer Zeitstrecken und damit eine immer weitergehende Quantitierung eines vektorial gerichteten Kontinuums.17

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Vgl. nach wie vor Aaron J[akolewitsch] Gurjewitsch, Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen. Aus dem Russ. übers. v. Gabriele Loßack. 3. Aufl. München 1986 (zuerst 1972), 98 ff.; Rudolf Wendorff, Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa. 3. Aufl. Opladen 1985, 129 ff. 16 Jacques Le Goff hat dafür 1960 die etwas pauschale, gleichwohl hilfreiche Differenzierung von „temps de l’église“ und „temps du marchand“ vorgenommen: Jacques Le Goff, Temps de l’église et temps du marchand, in: Annales. Économies, Sociétés, Civilisations 15, 1960, 417–433. 17 Günter Dux, Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Wirklichkeit. Frankfurt am Main 1989, 331 ff.

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Deutlichstes äußeres Kennzeichen für diese Veränderung von Zeitbewußtsein und -vorstellung ist die Erfindung der mechanischen Räderuhr mit Gewicht und Hemmung am Ende des 13. Jahrhunderts, und zwar ziemlich genau gleichzeitig zur ‚Erfindung‘ der Mensuralnotation, der damit eine für diesen Zusammenhang strukturgeschichtliche Signifikanz zukommt, die sie aus allen anderen Bereichen der menschlichen Kultur heraushebt. Mit ihrer Hilfe waren zeitliche Verläufe in ihrer Linearität zumindest im Prinzip objektivier- und unabhängig von äußeren Bedingungen meßbar. Der Wunsch nach einer gleichmäßigen und abstrakten Quantitierung von Zeit bedeutete zugleich die Hinwendung zu einer in immer stärkerem Maße erlebbaren Gegenwart, also die Freisetzung eines bemerkenswerten Potentials an Dynamik. Die bis ins frühe 17. Jahrhundert gebräuchliche Mensuralnotation läßt sich daher vor diesem Hintergrund verstehen als Versuch, den musikalischen Verlauf auf abstrakte und damit ebenfalls objektivierbare Weise gleichermaßen zu quantitieren wie zu individualisieren.18 Die Wahl des Begriffs mensura zur Kennzeichnung der neuen Art musikalischer zeitlicher Notation verweist dabei auf die zugrundeliegende aristotelische Vorstellung, daß ein derartiges Maß sich auf die Bewegung beziehe und so mit dem ebenfalls aristotelisch gedeuteten tempus-Begriff verbunden ist. Die neuen notationstechnischen Möglichkeiten sind damit zugleich eine verstärkte Hinwendung zu einer konkreten musikalischen Gegenwart.19 Die erhebliche Forcierung der musik- und insbesondere notationstheoretischen Diskussion im 14. Jahrhundert, ihre Kontroversen sowie die Aufspaltung in eine französische, von größerer Theorieschärfe gekennzeichnete und eine italienische, stärker praxisbezogene Richtung verweisen als allgemeine Kennzeichen auf die Aktualität des Problems selbst.20 Mit der im Rahmen der Mensuraltheorie entwickelten Terminologie, die immer auf komponierte, also verschriftlichte Musik bezogen war, konnten diese Zusammenhänge vertieft und differenziert werden, da nicht nur die dafür zentralen Begriffe von longa und brevis der literarischen Metrik entstammten, sondern auch der des tempus als Bezeichnung von Quantitäten dort verankert war. Die direkte Verbindung der Mensurzeichen mit der mathematischen Theorie, in 18 F[ranc’] Alberto Gallo, Die Notationslehre im 14. und 15. Jahrhundert, in: Frieder Zaminer (Hrsg.), Die mittelalterliche Lehre von der Mehrstimmigkeit. (Geschichte der Musiktheorie, Bd. 5.) Darmstadt 1984, 257–356, hier 259 f. 19 Vgl. dazu Laurenz Lütteken, Art. „Notation VI: Mensuralnotation“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2. Aufl. Sachteil Bd. 7. Kassel/Stuttgart 1997, Sp. 323–339 und 421–425; veränderter Nachdruck in: Andreas Jaschinski (Hrsg.), Notation. Mit 81 Abbildungen und 60 Notenbeispielen. Kassel 2001, 105–128; sowie Dorit E. Tanay, Noting Music, Making Culture. The Intellectual Context of Rhythmic Notation, 1250–1400. (Musicological Studies and Dokuments, Vol. 46.) Holzgerlingen 1999; vgl. dazu auch Anna Maria Busse Berger, Medieval Music and the Art of Memory. Berkeley/Los Angeles 2005, 111 ff. 20 Tanai, Music in the Age of Ockham (wie Anm. 19), 65 ff.

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der im Rahmen des zeitlichen Paradigmawechsels die arabischen Ziffern gebräuchlich wurden, bedeutete zugleich den Versuch, die zeitliche Gliederung mit Hilfe bekannter Ordnungsmuster zu bewältigen. Die Bedeutung dieses Vorgangs ist nicht hoch genug zu veranschlagen, da die durch ihn freigesetzte Dynamik entscheidend zur kompositorischen Individualisierung beigetragen hat: das komponierte Stück konnte nun unverwechselbar geformt werden, sein Verlauf war vektorial organisierbar, mit einem Beginn, einem Schluß und einem zielgerichteten Verlauf von einem Pol zum anderen. Diese Möglichkeit war gänzlich neu, und sie bildet die Voraussetzung für ein ‚Komponieren‘ im neuzeitlichen Sinn. An dieser lineardynamischen Bedingtheit von Musik hat sich bis zum Kollaps des Modells in den Simultaneitätsstrukturen der Musik des beginnenden 20. Jahrhunderts, etwa bei Ives oder Varèse, nichts geändert, und sie bestimmt eine, wenn nicht die entscheidende Differenz des zentraleuropäischen Musikbegriffs zu anderen hochdifferenzierten Musikkulturen. Ähnlich wie die ‚Erfindung‘ der musikalischen Schriftlichkeit im 9. Jahrhundert, in der Schaffung der Neumen, ist die ‚Erfindung‘ der musikalischen Zeitlichkeit im späten 13. Jahrhundert ein Vorgang mit Konsequenzen weit über die Musikgeschichte hinaus. Diese neue Organisation musikalischer Zeit war in den nachfolgenden Jahrhunderten immer wieder sogar unmittelbar, absichtsvoll bedeutsam, sichtbar in einer Reihe von bemerkenswerten Schlußfolgerungen. Die beiden bedeutendsten von ihnen betreffen jeweils die kompositorische Organisation nicht nur auf der horizontalen, sondern auch auf der vertikalen Ebene. Um 1420/30 ist, wahrscheinlich in Italien, daraus ein neuer Modus der Klangorganisation erwachsen. Die Folge von Konsonanz und Dissonanz war mit einem Mal nicht mehr nur hierarchisch bestimmt, vielmehr wurden Dissonanzen nun zunächst vorbereitet und anschließend wieder aufgelöst. In der kompositorischen Organisation eines Musikstückes spielten deswegen Erwartungshaltungen eine Rolle, deren Aufbau, deren Befriedigung oder deren Hinauszögern ein wesentlicher Bestandteil der dynamisierten Struktur selbst geworden ist. Die musikalische Harmonik als zeitlich gestaffelte Sukzession wertig aufeinander bezogener Klänge erhielt nun ihr eigenes Recht, und das Ergebnis ist die Formierung eines neuen Klangraumes, und zwar so, wie nahezu gleichzeitig und in derselben Region der Bildraum durch die Zentralperspektive neu geordnet worden ist. Und schließlich ist der damit angestoßene Prozeß um 1600 in die Auflösung simultaner Mehrstimmigkeit in der Monodie gemündet, also in die Vorstellung, musikalischer Text lasse sich affektiv am besten darstellen in der Kombination einer die Affekte tragenden Melodiestimme und einer die harmonische Logik und Fortschreitung garantierenden Baßstimme. Vor dem Hintergrund neu organisierter Zeitlichkeit läßt sich also der damit ‚erfundene‘ Generalbaß als letzte Zuspitzung neuer Darstellungsmöglichkeiten in der Musik begreifen.

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II. Regionalität Die langsame Ausbildung des frühmodernen Staates mit allen Nebenerscheinungen basiert ja nicht nur auf machtpolitischen und rechtlichen Realitäten, sie setzt auch so etwas wie eine mentale Differenzierung voraus. Staatlichkeit im Sinne einer regionalen Identitätsbildung bedurfte offenbar der Einsicht, daß eine solche Identität sich eben nicht nur rechtlich definieren läßt. Zu den auffälligen Besonderheiten der musikalischen Geschichte im hier zur Debatte stehenden Zeitraum gehört die Herausbildung als solcher auch wahrgenommener regionaler Unterschiede auch in der Musik. Diese Unterschiede sind zwar vorderhand noch nicht von staatspolitischer Relevanz, aber sie bilden dennoch die Voraussetzung für die nationalstaatliche Vereinnahmung von Musik im 19. Jahrhundert.21 Die Wahrnehmung solcher Unterschiede in der Musik reicht zurück bis ins 14. Jahrhundert, in dem sich im französischen und im italienischen Raum zwei musikalische Kulturen herausgebildet haben. Diese Kulturen funktionierten auf der Grundlage differierender Sozial- und Gattungskontexte, und ihre nach außen erkennbare Dokumentation war ein unterschiedliches Notationssystem.22 Schon ein anonymer Theoretiker des 14. Jahrhunderts, möglicherweise Marchetto da Padova, erkannte die französischen Unterschiede als „modus gallicorum“23, und Prosdocimus de Beldemandis hat die eigenen Besonderheiten noch vor 1411 als „modus ytalicorum“ beschrieben.24 Weniger die Tatsache an sich ist dabei erstaunlich als der hier erkennbare Mechanismus, der für die folgenden Jahrhunderte gleichsam die Richtschnur bilden sollte. Wahrgenommen wurde der Unterschied bevorzugt in der vom Empirismus geprägten geistigen Kultur Paduas, vielleicht nicht zufällig im Umfeld einer Universität, deren Mitglieder nach ‚nationes‘ organisiert waren. Es bedurfte also einerseits der geschulten Wahrnehmung, um überhaupt die Norm und das von ihr Abweichende benennen zu können. Und andererseits wird erkennbar, daß eine derartige Wahrnehmung zugleich als Modus der Abgrenzung funktioniert. Der „modus ytalicorum“ jedenfalls hat seinen Sinn nur dann, wenn man ihn von etwas anderem unterscheiden kann und dies auch will. 21 Vgl. hier auch Laurenz Lütteken, „…im gesunden musikalischen Deutschland“ – Schumann und das ‚Nationale‘ in der Musik, in: Matthias Wendt (Hrsg.), Robert und Clara Schumann und die nationalen Musikkulturen des 19. Jahrhunderts. Bericht über das 7. Internationale Schumann-Symposion am 20. und 21. Juni 2000 im Rahmen des 7. Schumann-Festes. (Schumann Forschungen, Bd. 9.) Düsseldorf/Mainz 2005, 134–148. 22 Solche Differenzen der Graphie gab es zweifellos seit dem Entstehen einer musikalischen Schriftlichkeit überhaupt; es scheint allerdings, daß solche Abweichungen im 14. Jahrhundert erstmals auch als qualitative Differenz wahrgenommen worden sind. 23 Giuseppe Vecchi, Anonimi rubrice breves, in: Quadrivium 10, 1969, 125–134. 24 Prosdocimus de Beldomandis, Tractatus practice de musica mensurabili ad modum ytalicorum [nach 1411], in: Edmaond de Coussemaker, Scriptores de Musica medii aevi. Vol. 3. Paris 1866, Ndr. Hildesheim 1963, 228–248.

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Eine derartige Unterscheidungsfähigkeit läßt sich ohne Zweifel als ein wesentliches Kennzeichen von Neuzeit begreifen, und sie fällt kaum zufällig zusammen mit eben jenem fundamentalen Notationswandel, der in sich ein verändertes Verhältnis zur Zeit und damit ganz andere Wahrnehmungsmuster begründet. In diesem Sinne wird das Regionale zu einem tragenden Differenzierungskriterium in der Auseinandersetzung mit der Musik, im 15. Jahrhundert auf eine immer reflektierter werdende Weise. Dieser Herausbildung des Regionalen steht im 15. und 16. Jahrhundert noch eine durch hohe Mobilität geprägte Internationalität der Musikkultur gegenüber, die vor allem deswegen einheitlich war, weil fast alle bedeutenden Vertreter dem nordfranzösischburgundischen Raum entstammten, also jener einzigen Gegend Europas, in der es ein funktionierendes Ausbildungssystem musikalischer Eliten gab.25 In diesem Spannungsfeld von regionaler Differenzierung und Internationalisierung liegt allerdings der für das 19. Jahrhundert dann so kennzeichnende Widerspruch von Nationalität und Universalismus bereits begründet. Denn gegen die je unterschiedlichen Traditionen je unterschiedlicher Regionen steht eine reisende klerikale Elite der Komponisten, die gleichsam divergierende Traditionen in ihrer Haltung zusammenführen konnten. Offenbar gehört also das schwierige Verhältnis zwischen einer europaweit einheitlichen (und, ganz im Gegensatz zur Volkssprache, auch einheitlich verstehbaren) Musiksprache und regionalen Eigenheiten zu den prägenden Voraussetzungen neuzeitlicher Musikkultur überhaupt. Es ist daher durchaus naheliegend, daß vor allem die Jesuiten des 16. Jahrhunderts versucht haben, in den christianisierten Kulturen insbesondere Mittelamerikas genau diese Musiksprache zu importieren.26 Diese grob skizzierten Vorgaben sind nicht unwichtig, weil aus ihnen im späten 17. Jahrhundert der Gedanke erwachsen konnte, daß mit der Ausbildung nationaler Eigenarten in der Musik nicht bloß neutrale Unterschiede gemeint sein konnten. Kaum zufällig liegt eine entscheidende Wurzel dieser neuen Auffassung im sich seiner selbst vergewissernden Frankreich Ludwigs XIV., in dem die Auseinandersetzung mit den Vorbildern der Antike zu einer Kontroverse über die nationale Eigenart des Staates geworden war.27 25 Vgl. Laurenz Lütteken, Die maîtrise im 15. Jahrhundert. Zum institutionsgeschichtlichen Hintergrund der Vorrangstellung franko-flämischer Musiker, in: Christian Kaden/ Volker Kalisch (Hrsg.), Professionalismus in der Musik. Arbeitstagung in Verbindung mit dem Heinrich-Schütz-Haus Bad Köstritz vom 22.–25. August 1996. (Musik-Kultur, Bd. 5.) Essen 1999, 132–144. 26 Zu diesem Aspekt neuerdings Melanie Wald, Welterkenntnis aus Musik. Athanasius Kirchers ‚Musurgia universalis‘ und die Universalwissenschaft im 17. Jahrhundert. (Schweizer Beiträge zur Musikforschung, Bd. 4.) Kassel 2006, 49 ff. 27 Vgl. Fritz Reckow, Der inszenierte Fürst. Situationsbezug und Stilprägung der Oper im absolutistischen Frankreich, in: ders. (Hrsg.), Die Inszenierung des Absolutismus. Politische Begründung und künstlerische Gestaltung höfischer Feste im Frankreich Ludwigs XIV. Atzelsberger Gespräche 1990. Fünf Vorträge. (Erlanger Forschungen, Reihe A, Bd. 60.) Erlangen 1992, 71–104.

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Durch die zwischen 1688 und 1697 erschienene „Parallèle des anciens et des modernes“ von Charles Perrault wurde erstmals die Rolle der Antike relativiert, um die Schönheiten der gegenwärtigen Künste und Wissenschaften, ausdrücklich auch der Musik, hervorzuheben. Das Ergebnis war die Historisierung der Kunststile im Begriff des „beau relatif“28, und zwar mit der Absicht, dem siècle de Louis le Grand den Rang einer ebenso historisch begründbaren wie systematisch gemeinten Einzigartigkeit zu verleihen. Vor dem Hintergrund dieser Opposition entwickelte sich eine Übertragung in die Musik, nämlich im um 1700 ausgetragenen Streit zwischen den beiden Literaten François Raguenet und Jean Laurent le Cerf de la Viéville über die Vorzüge der italienischen oder der französischen Oper.29 Diese Kontroverse, ausgelöst durch eine Italienreise Raguenets und die daraus hervorgehende Begeisterung für die dortige Bühnenpraxis, war zwar eine Angelegenheit von Dilettanten, also nicht von Musikern. In ihm ging es nicht um die grundsätzlichen Wahrheiten des Musikalischen, um das Richtige oder Falsche im musikalischen Satz, sondern um das, was in der Musik offenbar unterschiedlich zu beurteilenden Veränderungen unterlag. Das aber ist jener ‚beau relatif‘, den man später verkürzend und verwirrend auch ‚Stil‘ genannt hat. Im Zentrum der Kontroverse stand aber der Vergleich zweier verschiedener gegenwärtiger musikalischer Zustände – und damit der Vorsatz, Vergleich und Abgrenzung endgültig in die musikalische Wahrnehmung einzuführen. Und dann konnte auch die regionale Differenz zu einer ‚stilistischen‘ werden, also zu einer von dieser Prämisse losgelösten Form des Vergleichs.

III. Professionalisierung Die Herausbildung und die Differenzierung des Wissens, die durchaus die Arbeitsteilung als Phänomen in sich trägt, gehört ebenfalls zu den tragenden Charakteristika der sich formierenden Neuzeit. Die neue Form der Notation hat nicht nur, durch die Möglichkeit zu dynamischer Zeitgestaltung, die ‚Entstehung‘ des musikalischen Kunstwerks ermöglicht.30 Sie erforderte zugleich 28

[Charles] Perrault, Parallèle des anciens et des modernes en ci qui regarde les arts et les sciences. Mit einer einleitenden Abhandlung v. H[ans] R[obert] Jauss und kunstgeschichtlichen Exkursen v. M[ax] Imdahl. (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Bd. 2.) München 1964, 192 (Erstausgabe Bd. 2. Paris 1690, 48 ff.). 29 Dazu Wilhelm Seidel, Französische Musiktheorie im 16. und 17. Jahrhundert, in: ders./ Barry Cooper, Entstehung nationaler Traditionen: Frankreich. England. (Geschichte der Musiktheorie, Bd. 9.) Darmstadt 1986, 1–140, hier 119 f.; auch Martin Just, Lecerf de la Viéville. Comparaison de la Musique Italienne et de la Musique Françoise (1704–1706), in: Bericht über den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongreß Leipzig 1966. Kassel 1969, 238–241. 30 Dazu Wilhelm Seidel, Werk und Werkbegriff in der Musikgeschichte. (Erträge der Forschung, Bd. 246.) Darmstadt 1987, 9 ff.

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ein hohes Maß an professioneller Übung und Routine, um sie überhaupt anwenden zu können. Mit ihr war Komponieren zu einem komplexen Handwerk geworden31, und komplizierte mehrstimmige Musik war in der Regel auch, wie etwa Malerei, Gegenstand eines vielschichtig gestaffelten Auftragssystems. Andererseits bedurfte es zur Reproduktion von Musik immer einer Gruppe von mehreren in der Regel Sängern, die zugleich organisiert werden mußten. Die Organisationsform der musikalischen Eliten war seit dem 14. Jahrhundert die ‚capella‘, deren Genese nicht einfach nachzuvollziehen ist und die im Status auch eine Differenz eigener Art aufzufangen hatte: auch wenn Musik Teil eines differenzierten Auftragssystems gewesen ist, so lag sie doch, nicht zuletzt wegen ihrer liturgischen Funktion und ihrer nach wie vor gültigen Verankerung in den artes liberales, in den Händen einer klerikalen Elite. Die Herausbildung der ‚Kapelle‘ als Organisationsform musikalischer Eliten – und die institutionellen Spätfolgen dieses Prozesses sind heute noch in jedem Sinfonieorchester abzulesen – ist jedoch ein vielschichtiger Prozeß. Eine ‚capella‘ war zunächst eine Korporation von Geistlichen mit liturgischen Aufgaben32, so daß Kapellen als musikalische Institutionen nicht, jedenfalls anfangs nicht, als Resultate emphatischer Gründungsakte begriffen werden können, sondern als Ergebnis langer und schwierig nachvollziehbarer Prozesse, in denen aus ursprünglichen Korporationen von Geistlichen mit primär liturgischen Aufgaben solche mit primär musikalischen Aufgaben geworden sind. In diesem Prozeß ist der Status des geistlichen Kollegiums bemerkenswerterweise zunächst unangetastet geblieben und erst im 16. Jahrhundert und dann auch nur schrittweise aufgegeben worden, äußerlich sichtbar unter anderem auch an der allmählichen Integration der anfangs sowohl sozial wie institutionell separierten Instrumentalmusiker sowie an der teilweisen Erprobung neuer Finanzierungsmodelle.33 Die kreative musikalische Elite war anfangs also noch und ganz im Gegensatz zu den artes mechanicae eine klerikale Elite, und als solche war sie eingebunden in die kirchlichen Karrieremuster und die mit ihnen verbundenen sozialen Implikationen. Mitglieder einer Hofkapelle verfügten demnach über einen besonderen Sozialstatus, der sie aus den übrigen Mitgliedern eines Hofstaates, allemal den mit

31 Vgl. dazu Laurenz Lütteken, Musik als ‚Arbeit‘, in: Verena Postel (Hrsg.), Arbeit im Mittelalter. Vorstellungen und Wirklichkeiten. Berlin 2006, 211–220. 32 Vgl. den Überblick bei Martin Ruhnke, Art. „Kapelle“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2. Aufl. Sachteil Bd. 4. Kassel/Stuttgart 1996, Sp. 1788–1797, hier Sp. 1789 f.; auch Laurenz Lütteken, Come nasce una „cappella“? L’istituzionalizzazione della musica nel Quattrocento, in: Barbara Marx et al. (Eds.), Corti rinascimentali a confronto. Letteratura, Musica, Istituzioni. (Quaderni della rassegna, Vol. 27.) Florenz 2003, 13–25. 33 Vgl. Martin Ruhnke, Beiträge zu einer Geschichte der deutschen Hofmusikkollegien im 16. Jahrhundert. Berlin 1963.

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der Kunstproduktion befaßten, deutlich heraushob. Der Sänger in einer Hofkapelle gehörte als Geistlicher in der Regel zur familia des Fürsten, und seine Einbindung in das Versorgungssystem der Pfründen garantierte eine institutionelle Verflechtung über die unmittelbare Umgebung des Hofes hinaus. Kathedralkapellen waren, bei anderer mäzenatischer Struktur, organisatorisch vollkommen vergleichbar. Die Organisation musikalischer Eliten unterscheidet sich damit von den übrigen Kunstformen beträchtlich, und sie hat hier nicht zu erörternde sozialgeschichtliche Konsequenzen gravierender Art. Wichtig ist die Tatsache, daß sich die geistliche Institution der ‚capella‘ in eine musikalische verwandelt hat, und zwar, ausgehend von einer Vorgeschichte im 14. Jahrhundert, wesentlich im 15. Jahrhundert. Der Prozeß ist bisher erst in ersten Ansätzen systematisch untersucht worden und bisher folglich nur in groben Umrissen zu erkennen.34 Dabei kommt einer Institution besondere Aufmerksamkeit zu, die bis dahin kaum in besonderer Weise in Erscheinung getreten ist. Gemeint ist die päpstliche Kapelle, die, und zwar während der Zeit in Avignon, also wohl unter dem unmittelbaren Einfluß des französischen Umfeldes, ihre Gestalt entscheidend verändert hat.35 Hier liegen, worauf zuerst Bernhard Schimmelpfennig aufmerksam gemacht hat, die Wurzeln der Umbildung des Kollegs von Geistlichen mit liturgischen in eines mit musikalischen Aufgaben. Diese musikalischen Aufgaben waren im wesentlichen definiert im Singen des einstimmigen Chorals, komponierte Mehrstimmigkeit spielte eine nebensächliche Rolle. Durch Papst Benedikt XII. (1334−1342) wurden die liturgischen Aufgaben neu geordnet, einem Kollegium von Kaplänen mit liturgischen Aufgaben stand nun eines zur Seite, daß die „horas canonicas cum nota“ zu singen hatte.36 Damit war die Institution der capellani capelle pape geschaffen, und sie war offenbar eingebettet in ein auf die kuriale Repräsentation zielendes Erneuerungsprogramm, das auch zur Errichtung des päpstlichen Palastes in Avignon führte. Es ist noch weitgehend unklar, woher dieses Modell seine unstrittige Bedeutung für die Musikkultur des 15. Jahrhunderts bezogen hat. Sein Sonderstatus resultierte sicherlich aus dem besonderen Charakter des Papsthofes, dessen höfisch-klerikale, überdies nicht auf der Erbfolge basierende Organisation derartige Bedingungen artifizieller Musikübung anscheinend begünstigt hat. Daß diese Bedingungen jedoch als musterhaft empfunden worden sind, erscheint dagegen weder zwangsläufig noch folgerichtig, denn andere 34 Dazu Birgit Lodes/Laurenz Lütteken (Hrsg.), Institutionalisierung als Prozeß. Organisationsformen musikalischer Eliten im 15. und 16. Jahrhundert. (Analecta Musicologica, Bd, 43.) Laaber 2009. 35 Dazu immer noch grundlegend Bernhard Schimmelpfennig, Die Organisation der päpstlichen Kapelle in Avignon, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 50, 1971, 80–111. 36 Ebd. 99 ff.

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Formen höfischer Musikpraxis wären ja immerhin denkbar gewesen. Der aus der Besonderheit des Papsthofes erwachsene Zuschnitt der Institution Kapelle wurde jedenfalls auf andere Höfe übertragen, ohne zwingende Notwendigkeit, aber mit der Einbindung der Musikkultur in ein Kolleg von Geistlichen, das liturgisch-musikalische Funktionen zu erfüllen hatte. Dieser Ausprägung entsprach der ebenfalls im Frankreich des 14. Jahrhunderts entstandene Wunsch, schon die Ausbildung von Musikern zu verselbständigen, ohne den klerikalen Rahmen anzutasten. An den Kathedralen wurden, durch Umwidmung von Pfründen, Ausbildungsstätten für den musikalischen Kleriker-Nachwuchs geschaffen, eben jene ‚maîtrises‘, die schließlich auch zum Mittel mäzenatischer Steuerung an den Fürstenhöfen werden konnten.

IV. Medialität und Markt Neue, professionelle Organisationsformen musikalischer Eliten bedurften medialer Mechanismen, die in diesem System entstandenen Hervorbringungen zu verbreiten. Die Musikhandschrift als intern organisierte, eigenen Gesetzen folgende und den Realitäten der Mensuralnotation genügende Verschriftlichungspraxis ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, letztlich ein Produkt des 14. Jahrhunderts, am Ende sogar des paduanischen Raums um 1400. In ihm wird die Musikhandschrift als Archiv des Geschaffenen ausgebildet, also nicht etwa als Vorlage, das Verschriftlichte wieder in Klang zu überführen. In ihr ist die ‚Gegenständlichkeit‘ des musikalischen Textes vollumfänglich ausgebildet, und es ist, nach Ivan Illich37, diese Gegenständlichkeit, die am Ende die geistige Voraussetzung für die Erfindung des Druckes darstellt.38 Der Musikdruck mit beweglichen Typen ist zwar erst 1501 in Venedig ‚erfunden‘ worden, also aufgrund technischer Probleme bedeutend später als der Buchdruck. Die Voraussetzungen dafür, also der definitiv abgrenzbare musikalische Text und seine Konservierung in eigenen Schriftlichkeitssystemen, lagen hingegen längst vor. Und anders als bei Texten ist die musikalische Schriftlichkeit niemals vollständig auf den Druck reduziert worden: die handschriftliche Verbreitung von Musik spielte zumindest weit bis ins 18. Jahrhundert nach wie vor eine zentrale, vielleicht sogar die entscheidende Rolle. Gerade deswegen spiegelt der Musikdruck zwar ein neues Marktverhalten musikkundiger Eliten, es ist durch ihn jedoch nicht erst hervorgerufen

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Ivan Illich, Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Ein Kommentar zu Hugos ‚Didascalicon‘. Aus dem Engl. v. Ylva Eriksson-Kuchenbuch. Frankfurt am Main 1991. 38 Dazu Laurenz Lütteken, Padua und die Entstehung des musikalischen Textes, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 24, 1997, 25–39.

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worden. Der musikalische Markt ist vielfältig organisiert, er betrifft ja nicht allein die Entstehung und Distribution von Werken, sondern die Protagonisten selbst.39 Die Werbung von Individuen zur konkurrenzierenden Ausgestaltung musikalischer Strukturen ist seit dem 15. Jahrhundert ein zentrales Merkmal der Musikkultur überhaupt geworden, letztlich gültig bis in den Starkult des 19., 20. und 21. Jahrhunderts. Der berühmt gewordene Fall eines Agenten, der 1503 im Auftrag des Herzogs von Ferrara einen neuen Kapellmeister suchen sollte, ist signifikant genug dafür. Sein lakonischer Bericht spiegelt das Phänomen deutlich: daß nämlich Isaac und Josquin zur Verfügung stehen würden, daß Josquin der bessere Komponist sei, aber, im Gegensatz zu Isaac, als schwierig gelte und überdies nur komponiere, wenn er auch Lust dazu habe.40 Die im 15. Jahrhundert einsetzende Migration von Musikern, am Ende auf allen qualitativen Ebenen, ist nicht nur Resultat der Professionalisierung, sondern einer Medialisierung von Musik im Umfeld eines Konkurrenzsystems.41

V. Autonomisierung Mit den drei vorausgehenden Bereichen hängt ein Phänomen zusammen, das unmittelbar in die Kompositionsgeschichte führt und das hier nur in groben Zügen benannt werden kann. Gemeint ist die Autonomisierung des Kompositorischen, also seine Verselbständigung, wenn auch in festgefügten rituellen oder sozialen Bahnen. Diese Verselbständigung bedeutet eine kompositorische Auseinandersetzung, und mindestens so bedeutend wie diese selbst ist das mit ihr auftretende Bemühen, die Vorgänge denkend zu bewältigen. Der Prozeß ist nicht ganz leicht zu erschließen, ist doch mit ihm ein gravierender Paradigmenwechsel verbunden. Wollte man Musik, die als Teil der artes liberales nobilitiert war, tatsächlich ausüben, mußte das einen sozialen Prestigeverlust bedeuten. Wollte man über diese Ausübung räsonnieren, so mußte die ‚ars musica‘ vollends ihren Status verlieren. In der Malerei etwa verhielt es sich entgegengesetzt, hier ging es darum, eine der artes mechanicae zu nobilitieren und sie in gewaltigen theoretischen Anstrengungen

39 Dazu Michele Calella, Musikalische Autorschaft. Der Komponist zwischen Mittelalter und Neuzeit. Habil.-Schr. Univ. Zürich 2003, 98 ff. (im Druck). 40 Zum Kontext dieser in der Josquin-Literatur vielfach untersuchten Begebenheit vor allem Rob C. Wegman, From Maker to Composer: Improvisation and Musical Authorship in the Low Countries, 1450–1500, in: Journal of the American Musicological Society 49, 1996, 409–479. 41 Vgl. hier auch Klaus Hortschansky, Das Musiker-Porträt im 15. und 16. Jahrhundert, in: ders. u. a., Musiker der Renaissance und des Frühbarock. Grafische Bildnisse aus dem Porträtarchiv Diepenbroick. (Bildhefte des Westfälischen Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte, Bd. 26.) Münster 1987, 7–23.

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dem Status einer freien Kunst anzunähern. Dieser Vorgang spiegelt sich in der Musik allein in der Instrumentalmusik, in der erst die übergroße Tugend, die herausragende virtus des manuell tätigen Musikers, also des Cembalisten oder des Lautenisten, die handwerkliche Mühe seine Tätigkeit vergessen, ihn also zum ‚virtuosus‘ machen konnte. Die Autonomierung von Musik läßt sich auf verschiedenen Ebenen beobachten. Sie setzt ein mit der Herausbildung eines mehrstimmigen Repertoires weltlicher Musik im 14. Jahrhundert42 und gipfelt im 15. Jahrhundert in der rituellen Reduktion der Messe. Denn das Ordinarium missae, die gegen den liturgischen Sinn nur mit kompositorischen Mitteln zusammengehaltene Vertonung des Meßordinariums, wurde in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts zu einer kompositorischen Hauptaufgabe, die sie im Kern bis ins frühe 16. Jahrhundert, mit Reduktionen bis gegen 1600 blieb.43 Gerade in dieser Überlagerung eines rituellen Kontextes durch rein artifizielle Interessen spiegelt sich ein Spannungsfeld, das sich etwa auch in der Institutionalisierung erkennen läßt. Mit diesem Prozeß eng verbunden ist der Versuch, das kompositorische Ereignis kategorial zu beschreiben und in seinem Gelingen zu beurteilen. Im 15. Jahrhundert zeichnet sich dabei ein folgenreicher Vorgang ab. Denn Musik wurde nun als Ereignis von anderen vor anderen, also für andere begriffen, von professionellen Musikern komponierte und verfaßte Musik wurde als sinnliches Ereignis vor Zuhörern verstanden. Aus diesem Grund wurden Mechanismen auf die Musik übertragen, die jene Disziplin bereithielt, mit deren Hilfe man solche Hinwendungen an andere erlernen und klassifizieren konnte: die Rhetorik. Die folgenreiche Übertragung rhetorischer Kategorien auf die Wahrnehmung und Beschreibung von Musik, erstmals explizit bei Johannes Tinctoris in den 1470er Jahren, blieb gültig bis gegen 1800. Und sie zeitigte ein weiteres Phänomen: indem nämlich die Musik damit ihren Status als ars liberalis weitgehend eingebüßt hatte, näherte sie sich jenen anderen Künsten an, die gleichfalls auf die Sinne des Menschen wirkten und deswegen gleichfalls mit Mechanismen der Rhetorik gefaßt werden sollten. Um 1500 zeichnet sich also die Zusammenfügung aller auf die Sinne wirkenden Erscheinungsformen des Schönen ab, ein Prozeß, der im frühen 18. Jahrhundert mit der kategorischen Etablierung eines Systems der ‚schönen Künste‘, der ‚beaux arts‘ abgeschlossen war.

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Hier wäre vor allem die gattungskontinuierliche Komposition mehrstimmiger Rondeaux, Balladen und Virelai seit dem frühen 15. Jahrhundert zu nennen. 43 Dazu grundlegend Ludwig Finscher, Die Messe als musikalisches Kunstwerk, in: ders. (Hrsg.), Die Musik des 15. und 16. Jahrhunderts (Teil 1). (Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 3/1.) Laaber 1989, 193–275.

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IV. Gattungen Die letzte Konsequenz dieses Vorgangs ist die Herausbildung eines innermusikalisch bedingten, nur dort gültigen Bezugssystems. Gemeint ist das der Gattung, deren normierende Herausbildung ebenfalls in das 15. Jahrhundert zurückreicht und deren Gültigkeit letztlich bis in die Gegenwart anhält.44 Waren es anfangs Motette, Chanson und Messe (wobei diese chronologische Folge nicht die Hierarchie der Wertigkeit darstellt), so kamen im 16. Jahrhundert weitere weltliche Gattungen hinzu, vor allem das Madrigal, und um 1600 die alles verändernde musikalische Repräsentationsform der Oper. Doch sollte betont werden, daß gleichzeitig mit der Oper auch die Musik ohne Text, also die noch im 16. Jahrhundert eher gering geschätzte Instrumentalmusik, sich in eigenen Gattungen virtuoser Selbstinszenierung etabliert hat. Gattungssysteme bilden gewissermaßen kompositorische Handlungsanweisungen. Sie sind der Bezugsrahmen, in dem Komponisten agieren, in dessen Koordinaten sie konkrete kompositorische Entscheidungen treffen. Und deswegen bilden die Gattungen gewissermaßen den Hintergrund für den kompositorischen Akt selbst: Komponisten denken in Gattungen, und deswegen führen sie einen imaginären Dialog in Gattungen. Und gerade dieser Dialog hat ganz früh schon eine besondere Dichte erreicht. Der Dialog kann sich zuspitzen zur Stiftung eines kulturellen Gedächtnisses über den Weg der Gattungsauseinandersetzung, die in der Memoria aufgefangen wird, etwa in der kleinen, aber exzeptionellen Reihe von Totenklagen, die Komponisten um 1500 auf komponierende Kollegen geschrieben haben. Mit ihrer Hilfe war es möglich geworden, daß Musik selbstreferentiell werden konnte. Tatsächlich steht also in der Gattung und den mit ihr verbundenen Normen eine eigene Form des kulturellen Gedächtnisses zur Verfügung, das gewissermaßen geschichtsstiftend nicht nur für die Musik, sondern für ihr Innerstes, für das Komponieren werden konnte und auch geworden ist. In dieser ‚Historisierung‘ des Kompositorischen selbst findet der neue Zugang zur Zeitlichkeit der Musik gewissermaßen seine äußere Entsprechung, und sie bedarf deswegen der hier geltend gemachten Voraussetzungen in besonders deutlicher Weise. *** In den voraufgehenden Überlegungen sollte versucht werden, ein Kriterienbündel zu entwerfen, mit dessen Hilfe es sinnvoll sein könnte, auch in der Musik von ‚früher Neuzeit‘ zu sprechen. Ob man das im Sinne einer Epo44

Dazu Ludwig Finscher, Werk und Gattung in der Musik als Träger kulturellen Gedächtnisses, in: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis. Frankfurt am Main 1988, 293–310.

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chensignatur tun sollte, darf ruhig bezweifelt werden. Für die Musikhistoriographie wäre allerdings viel gewonnen, wenn sie in derartige Diskussionen um den Sinn oder auch Un-Sinn solcher Nomenklaturen aktiver einbezogen würde, als es derzeit der Fall ist. Die Vorstellung vom Sonderstatus der Musik unter den Künsten sollte jedenfalls, über zweihundert Jahre nach der Entstehung dieser Denkfigur, damit fraglich genug geworden sein. Denn sie ist wohl selbst ein Resultat dessen, was man ‚Neuzeit‘ nennen könnte. Indem man sie allerdings endgültig historisiert, dürfte ein produktiver Blick auf ihre Entstehung die beunruhigende Folge sein, mithin also ein Blick auf das, was im Zusammenhang dieser Tagung ‚frühe Neuzeit‘ heißt.

Makroepoche der Mikroepochen ‚Frühe Neuzeit‘ in der Deutungskonkurrenz literaturwissenschaftlicher Epochenbegriffe Von

Sandra Richter Den Begriff ‚Frühe Neuzeit‘ gebraucht die Literaturwissenschaft seit den 1970er Jahren, und zwar als Import aus der Geschichtswissenschaft. Spezifisch literaturwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Begriff sind rar. Zu den Ausnahmen zählen die einschlägigen Einträge in aktuelle Lexika, etwa in das „Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft“. Sie notieren über den Begriff ‚Frühe Neuzeit‘ einstimmig, er umfasse – als Makroepoche – die gängigen literaturwissenschaftlichen, vor allem stilistisch angelegten, mitunter jedoch schwer zu klärenden Epochenbegriffe der Renaissance, des Manierismus, des Barock und der Aufklärung. Zweck der Vorstellung von der Makroepoche ‚Frühe Neuzeit‘ sei es, jenseits dieser Mikroepochen synchrone und diachrone Entwicklungen zu erschließen. Polemisch gewendet: Synergie-Effekte werden durch Entdifferenzierung, durch die Auflösung der als problematisch wahrgenommenen Mikroepochen zugunsten einer einzigen ‚Großepoche‘ erkauft. Dieser Beitrag will die Chancen und Schwierigkeiten ermitteln, die sich mit der Annahme einer solchen Makroepoche für die Literaturwissenschaft verbinden. Zu diesem Zweck bietet der Beitrag eine Reformulierung des programmatischen Begriffs der Frühen Neuzeit, wie ihn das Fach seit Ende der 1980er Jahre kennt. Diese Reformulierung zielt einerseits darauf, die Sensibilität für das mikrologische Detail zu wahren; andererseits will er die jeweilige mikrologische Spezifik aber auch für die Erschließung makrologischer Dynamiken gewinnen. Im Ergebnis soll ein Begriff der Frühen Neuzeit stehen, der für die ältere wie die neuere Literaturwissenschaft gleichermaßen zugänglich ist und beide Teilfächer zu einer verstärkten disziplinären und interdisziplinären Zusammenarbeit aufruft. Die Frühneuzeit-Forschung ist in der Normalität angekommen. Wer als Literaturwissenschaftler über die Jahrhunderte zwischen ca. 1450 und 1800 arbeitet, kann auf das Interesse einer ausdifferenzierten Forschungslandschaft hoffen. Mit dieser Ausdifferenzierung allerdings gehen Probleme einher: zum einen die Unübersichtlichkeit besagter Forschungslandschaft, zum anderen die wachsende Uneinigkeit über den Begriff der Frühen Neuzeit. Er war einmal als Programm gemeint und diente in der Konkurrenz der

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Epochenbegriffe als „nomenklatorischer Hafen“.1 Die neue Uneinigkeit über die ‚Frühe Neuzeit‘ hat viele Ursachen – wissenschaftliche ebenso wie wissenschaftspolitische. Vorliegender Beitrag will ihnen nachspüren: durch einen Rückblick auf die Frühneuzeit-Forschung in der germanistischen Literaturwissenschaft sowie durch eine Bestandsaufnahme gegenwärtiger Debatten zum Begriff der Frühen Neuzeit in der Deutungskonkurrenz literaturwissenschaftlicher Epochenbegriffe. Gegenwärtige Positionen der Kritik am Frühneuzeit-Begriff lassen sich zu der polemischen Frage zuspitzen: Synergie-Effekte durch Entdifferenzierung? Der Polemik und Kritik zum Trotz will ich diese Frage positiv beantworten: Begriff und Forschung unter dem Vorzeichen der Frühen Neuzeit führen zu Synergie-Effekten, weil sie erlauben, differenziert vorzugehen. Deshalb will ich versuchen, den literaturwissenschaftlichen Frühneuzeit-Begriff zu aktualisieren – in der Hoffnung, daß der Versuch die Forschung, die unter seinem Vorzeichen stattfindet, nicht nur zu konsolidieren, sondern auch zu inspirieren erlaubt. Zu diesem Zweck gehe ich davon aus, daß der Frühneuzeit-Begriff wie alle Epochenbegriffe ein pragmatisches Konzept ist, und beginne mit einem Rückblick auf Praktiken der literaturwissenschaftlichen Frühneuzeit-Forschung.

I. Rückblick und Bestandsaufnahme Am Beginn der literaturwissenschaftlichen Frühneuzeit-Forschung stand der Mangel: der Mangel an Einsicht in eine Epoche, die der Literaturwissenschaft aus dem Blick geraten war, der Mangel an entsprechenden Publikationsorganen und der institutionelle Mangel, der Mangel an Planstellen und – sieht man von der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel ab – der Mangel an Zentren oder vergleichbaren Orten für eine literaturwissenschaftliche Frühneuzeitforschung. Im Jahr 1989 fand (auch) eine literaturwissenschaftliche ‚Revolution‘ statt: Jörg Jochen Berns, Gotthardt Frühsorge, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann und Jan-Dirk Müller gründeten eine Buchreihe mit dem Titel „Frühe Neuzeit“. Sie erscheint seitdem im renommierten Max Niemeyer-Verlag (jetzt: Walter de Gruyter). 2Zeitversetzt3 folgten 1

Klaus Garber, Frühe Neuzeit an einer Neugründung, in: Profile der Wissenschaft. 25 Jahre Universität Osnabrück. Hrsg. v. Rainer Künzel zusammen mit Jörn Ipsen, Chryssoula Kambas, Heinz W. Trapp. Osnabrück 1999, 15–24, hier 18. – Für Diskussionen danke ich Dirk Werle (Humboldt Universität zu Berlin). 2 Etwa die Zeitschrift „Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit“, hrsg. seit 1997 durch das Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit in Frankfurt am Main durch Klaus Reichert. 3 Seit 1992 wurden eine Reihe interdisziplinärer Zentren gegründet: das Interdisziplinäre Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Osnabrück (1992),

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die Gründungen von Zeitschriften2, Zentren3, Studiengängen4 und Gesellschaften5 – in interdisziplinären und internationalen Kooperationen mit Frühneuzeit-Historikern6. Es handelt sich um eine Erfolgsgeschichte, die ohne ihren eindeutigen und programmatischen Begriff der „Frühen Neuzeit“ undenkbar ist. Ich will ihn am Beispiel von einem der wenigen programmatischen Dokumente für die literaturwissenschaftliche Frühneuzeit-Forschung erläutern, am Beispiel des „Geleitwort[s] zur Buchreihe ‚Frühe Neuzeit‘“. Es wurde im Namen der Herausgeber von Klaus Garber verfaßt.7 Garber führt den Begriff der „Frühen Neuzeit“ als Import aus der Geschichtswissenschaft ein – mit Blick auf die einschlägigen Darstellungen von Heinrich Lutz8 und Gerhard Oestreich9. Garbers voraussetzungsreicher Begriff der Frühen Neuzeit umfaßt vier Komponenten: erstens eine zeitliche Komponente – mit Blick auf Petrarca das Zentrum für die Erforschung der Frühen Neuzeit in Frankfurt am Main (1993); das Interdisziplinäre Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung in Halle (1993), das Forschungszentrum Europäische Aufklärung in Potsdam (1995) sowie das Zentrum für Mittelalter- und Frühneuzeitforschung der Universität Göttingen (1999/2000). 4 Siehe etwa die Verbundlösungen an der Freien Universität Berlin oder an der Universität Hamburg. 5 Die Deutsche Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts wurde bereits im Jahr 1975 gegründet, und zwar unter dem Vorsitz des Anglisten Bernhard Fabian (Münster). Im Jahr 1979 bewarb sie sich erfolgreich um eine Mitgliedschaft in der International Society for Eighteenth-Century Studies; dazu Monika Neugebauer-Wölk/ Markus Meumann/Holger Zaunstöck, DAJ. Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts. 25 Jahre Deutsche Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts. Zur Geschichte einer Wissenschaftlichen Vereinigung (1975–2000). Wolfenbüttel 2000. 6 Siehe dazu die Aktivitäten am Warburg Institute (London), am Shelby Cullom Davis Center (Princeton), am University of California Los Angeles Center for Seventeenth- & Eighteenth-Century Studies, am Erasmus Center for Early Modern Studies (Rotterdam) sowie am Institut zur Erforschung der Frühen Neuzeit (Wien). – Einen Überblick über die Entwicklung der Frühen Neuzeit in der Geschichtswissenschaft bietet die Heidelberger Antrittsvorlesung von Thomas Maissen, Seit wann und zu welchem Zweck gibt es die Frühe Neuzeit? (Dezember 2005). Dem Redner danke ich für die Überlassung des Typoskripts. 7 Klaus Garber (im Namen der Herausgeber), Geleitwort zur Buchreihe „Frühe Neuzeit“, in: ders. (Hrsg.), Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des I. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. (Frühe Neuzeit, Bd. 1.) Tübingen 1989, Vf. 8 Siehe nur Heinrich Lutz, Ragione di stato und christliche Staatsethik im 16. Jahrhundert. Münster 1961; ders., Europa, das Reich und die päpstliche Politik im Niedergang der Hegemonie Kaiser Karls V. 1552–1556. Göttingen 1964; ders., Reformation und Gegenreformation. (Oldenbourg Grundriß der Geschichte, Bd. 10.) München/Wien 1979. 9 Gerhard Oestreich, Die Idee der Menschenrechte in ihrer geschichtlichen Entwicklung. (Zur Politik und Zeitgeschichte, Bd. 11.) Berlin 1962; ders., Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des alten Reiches. (Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 11.) München 1974.

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die Jahrhunderte von ca. 1350 bis etwa 1800.10 Zwar wird die makrologische Epoche mittlerweile auf die Jahrhunderte „etwa vom 16. bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts“ reduziert.11 Aber trotz der Verkürzung wird deutlich, daß der Frühneuzeit-Begriff „mehrere Literaturepochen“ überspannt.12 Die mentale – zweite – Komponente hängt mit dieser Periodisierung zusammen. Mit der Frühen Neuzeit beginne, so Garber, Neues: Modernes, Bürgerliches, Revolutionäres, Fortschrittliches.13 Deshalb betrachtet Garber den Begriff auch als Erbe der Generation, die er begeistert und bekennend als „68er“ ausweist.14 Ihr Erbe betrifft – als dritte, räumliche Komponente – ganz Europa, von dessen „innerer Einheit“ Garber wie selbstverständlich ausgeht.15 Die vierte, methodische Komponente wirkt angesichts dieser starken Voraussetzungen zurückgenommen: Garber empfiehlt mikrologische Verfahren, um einen makrologischen Prozeß, das Werden der Neuzeit darzustellen.16 Hinzu kommt die Anforderung der Interdisziplinarität. Ohne sie vermag der Frühneuzeit-Forscher in seinem vielschichtigen und oft apokryphen Gebiet wenig auszurichten.17 Garbers Geleitwort erwies sich als wirkungsmächtig. Die Forschung schloß daran an, auch im Rahmen der Reihe „Frühe Neuzeit“. Ihre Erträge reagieren auf den Wunsch der Herausgeber, die Reihe möge in erster Linie quellenerschließende Arbeiten, Bibliographien und Monographien aufneh-

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Garber, Geleitwort (wie Anm. 7), V. Diese Orientierung geht auf Richard Newalds Theorie vom „Kairos“, dem glücklichen Moment, in dem Neues entstehen kann, ebenso wie auf Erich Auerbachs Konzentration auf Dante zurück. Hans-Gert Roloff, Renatae Litterae und Reformatio. Richard Newalds Konzept der Literatur- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, in: Kulturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Ihr Werk im Blick auf das Europa der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Klaus Garber unt. Mitwirk. v. Sabine Kleymann. München 2002, 39–56. 11 Herbert Jaumann, Art. „Frühe Neuzeit“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, gemeinsam mit Harald Fricke, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt hrsg. v. Klaus Weimar. Bd. 1. Berlin/New York 1997, 632–636, hier 632. 12 Ebd. 13 Garber, Geleitwort (wie Anm. 7), V. Siehe dazu auch Klaus Garbers – mit marxistischen Erklärungsmodellen sympathisierenden – Versuch, die gelehrte und diplomatische Standeskultur des 17. Jahrhunderts als bürgerlich zu beschreiben: ders., Gibt es eine bürgerliche Literatur im Deutschland des 17. Jahrhunderts? Eine Stellungnahme zu Dieter Breuers gleichnamigem Aufsatz, in: GRM NF. 31, 1981, 463–470; im Rückblick darauf Garber, Frühe Neuzeit (wie Anm. 1). 14 Garber, Frühe Neuzeit (wie Anm. 1), 16; ders., Fragen an eine neue kulturwissenschaftliche Kategorie im Lichte der Rezeptionsgeschichte, in: Ernst Rohmer/Werner Wilhelm Schnabel/Gunther Witting (Hrsg.), Texte, Bilder, Kontexte. Interdisziplinäre Beiträge zu Literatur, Kunst und Ästhetik der Neuzeit. (Beihefte zum Euphorion, Bd. 36.) Heidelberg 2000, 3–19, hier 4. 15 Garber, Geleitwort (wie Anm. 7), V. 16 Ebd. 17 Garber, Frühe Neuzeit (wie Anm. 1), 15.

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men. Bis heute sind in der Reihe etwa 100 Bände erschienen.18 Im Schwerpunkt handeln sie über das 17. und 18. Jahrhundert, wobei auch eine erhebliche Anzahl im 16. Jahrhundert angesiedelt ist und teils noch ins Mittelalter hineinreicht. Darüber hinaus ist die Reihe durch ein weiteres Merkmal gekennzeichnet: Sie widmet sich nicht nur der Literatur-, sondern auch der Gelehrsamkeitsforschung – von der Rhetorik über das Naturrecht bis hin zu Naturlehre und Medizin. Dabei fällt auf, daß Untersuchungen, die die gesamte Frühe Neuzeit in den Blick nehmen, zumeist auf die zeitgenössische Gelehrsamkeit (Heilkunde, Mnemonik, Philologie), auf kultur- und regionalgeschichtliche Phänomene und auf einzelne Gattungen (zum Beispiel Stadtchroniken, Rompilgerführer, Metamorphosen-Literatur) zielen. Die Veröffentlichungen der Reihe „Frühe Neuzeit“ dokumentieren ihr avanciertes Profil, veranschaulichen aber auch, welche Komponenten des Frühneuzeit-Begriffs in praxi aufgenommen werden. Erstaunlicherweise zeigt sich, daß vor allem die methodische Komponente, die Detailstudie umgesetzt wird. Monographien (weniger Sammelbände) untersuchen kleine Zeiträume, mitunter auch ein Jahrhundert, selten jedoch die gesamte Frühe Neuzeit. Ein Defizit der Forschung besteht – allein quantitativ – für das 14. bis 16. Jahrhundert. Die räumliche Komponente findet vor allem für den deutschen Sprachraum Anwendung, was möglicherweise an der rein germanistischen Zusammensetzung des Herausgebergremiums liegt. Sofern die mentale Komponente betroffen ist, weisen die Beiträge unterschiedliche Orientierungen auf: Einige begnügen sich mit mikrologischen Studien; andere knüpfen an die weitläufigen und heterogenen Debatten über die Bedeutung der Epoche an – in der Regel, um die ‚Fortschrittlichkeit‘ oder Innovativität der Frühen Neuzeit zu belegen. Der Blick auf vergleichbare Buchreihen bestätigt diese Befunde: „Chloe – Beihefte zum Daphnis“ erscheinen im Amsterdamer Rodopi-Verlag und widmen sich – wie die einschlägigen Bände der Wolfenbütteler Barockkongresse19 – vor allem dem 17. Jahrhundert. Bis heute sind 37 Bände von „Chloe“ erschienen: über Schelmenroman, Lyrik und Lied des Barock, aber auch Studien über Lyrik, Roman und Reiseliteratur vom 14. bis 16. Jahrhundert.20 18

Ein Band behandelt den Minnesang und die Sangspruchdichtung. Das 15. Jahrhundert nehmen fünf Bände, das 16. Jahrhundert achtzehn Bände (zur Autoren-, Gelehrsamkeits-, Fabel- und Schwankforschung) in den Blick. Das 17. Jahrhundert steht im Mittelpunkt von 39 Publikationen (zur Emblematik und Lyrik, zu Theater und Drama, zu Autoren, Regionen ebenso wie zur Gelehrsamkeit); auf das 18. Jahrhundert konzentrieren sich 45 Bücher (zur Autoren- und Gelehrsamkeitsforschung, speziell etwa zu den Themenbereichen Nation und Literatur, Heilkunde und Literatur, Indien in Deutschland, Akademienforschung, Stadtchronik und Philologie). 19 Siehe die „Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung“ seit 1973. 20 Siehe beispielsweise den Sammelband von Thomas Haye (Hrsg.), Humanismus im Norden. Frühneuzeitliche Rezeption antiker Kultur und Literatur an Nord- und Ostsee. (Chloe, Bd. 32.) Amsterdam u. a. 2000.

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„Chloe“ ist, so zeigt sich, verglichen mit der „Frühe Neuzeit“-Reihe traditioneller germanistisch und literaturwissenschaftlich angelegt, bezieht sich auch auf die frühe Frühe Neuzeit, blendet aber die späte Frühe Neuzeit, das 18. Jahrhundert, weitgehend aus.21 Dieses wiederum erfährt durch die „Studien zum achtzehnten Jahrhundert“, die im Hamburger Meiner-Verlag erscheinen, weitere literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit.22 Stärker als die Reihen vermittelt die einschlägige Einführungsliteratur den Eindruck, daß germanistische Frühneuzeit-Forschung doch in erster Linie Renaissance-, Barock- und Aufklärungsforschung meint.23 Anders als die Geschichtswissenschaft, die bereits eine Einführung in die Frühe Neuzeit aufzuweisen hat24, fehlt der Literaturwissenschaft ein vergleichbares Studienbuch. Demgegenüber ist sie mit informativen Einführungen vor allem in das Barock25 und die Aufklärung26 reich gesegnet. Vergleichbares gilt für die Literaturgeschichtsschreibung: Zwar liegt mit Hans-Georg Kempers „Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit“ (erscheint seit 1987) ein umfangreiches Werk

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Diese Tendenz bestätigt sich auch in den epochenübergreifend angelegten Bänden von Wolfgang Harms/Jean-Marie Valentin (Hrsg.), Mittelalterliche Denk- und Schreibmodelle in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit. (Chloe, Bd. 16.) Amsterdam u. a. 1993; Alberto Martino (Hrsg.), Die italienische Literatur im deutschen Sprachraum. Ergänzungen und Berichtigungen zu Frank-Rutger Hausmanns Bibliographie. (Chloe, Bd. 17.) Amsterdam u. a. 1994; Lynne Tatlock (Ed.), The Graph of Sex and the German Text. Gendered Culture in Early Modern Germany 1500−1700. (Chloe, Bd. 19.) Amsterdam u. a. 1994; Wilhelm Kühlmann (Hrsg.), Literatur und Kultur im deutschen Südwesten zwischen Renaissance und Aufklärung. Neue Studien, Walter E. Schäfer zum 65. Geburtstag gewidmet. (Chloe, Bd. 22.) Amsterdam u. a. 1995; Hans-Gert Roloff (Hrsg.), Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Beiträge zur Tagung der Kommission für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit. 2 Bde. (Chloe, Bd. 24 u. 25.) Amsterdam u. a. 1997; Ferdinand van Ingen/Christian Juranek (Hrsg.), Ars et amicitia. Beiträge zum Thema Freundschaft in Geschichte, Kunst und Literatur. Festschrift für Martin Bircher zum 60. Geburtstag am 3. Juni 1998. (Chloe, Bd. 28.) Amsterdam u. a. 1998. 22 In den „Studien zum achtzehnten Jahrhundert“ erschienen insgesamt 28 Bände. Fünf Bände legen einen Schwerpunkt auf Herder. Das Themenspektrum umschließt außerdem übergreifende Themen wie ‚Religionstoleranz‘, die Problematik von Volk, Nation und Vaterland, die Mehrsprachigkeit, die Katholische Aufklärung, Geheimgesellschaften, Aspekte der Rhetorik und die Geschichte des inferioren Romans im 18. Jahrhundert. 23 Einen vergleichbaren Eindruck vermittelt auch der Umstand, daß die – nicht nur germanistischen – Wolfenbütteler Arbeitskreise noch in Renaissance- und Barockforschung unterteilt sind, obwohl sie die Grenzen der Epochen mit ihrer Tätigkeit zugunsten der frühneuzeitlichen Makroepoche überschreiten. 24 Anette Völker-Rasor (Hrsg.), Frühe Neuzeit. Mit einem Geleitwort v. Winfried Schulze. (Oldenbourg Geschichte Lehrbuch.) 2. Aufl. München 2006 (zuerst 2000). 25 Dirk Niefanger, Barock. (Lehrbuch Germanistik.) Stuttgart/Weimar 1998; Albert Meier (Hrsg.), Die Literatur des 17. Jahrhunderts. (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 2.) München 1999. 26 Peter-André Alt, Aufklärung. (Lehrbuch Germanistik.) Stuttgart 1996; dazu die Rezension von Georg-Michael Schulz, in: DAJ 23/1, 1999, 121–124.

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vor, das dem versgebundenen Schrifttum deutscher Sprache gewidmet ist. Aber die voluminöse Untersuchung bleibt eine Einzelleistung. Vergleichbare Geschichten für Prosa, Drama, andere Genres und die entsprechenden Kontexte stehen noch aus. Die Gründe für diese relative Akzeptanz des Frühneuzeit-Begriffs in der Literaturwissenschaft sind vielfältig. Sie äußern sich zunehmend als Kritiken am Begriff und an den Forschungspraktiken der Frühen Neuzeit. Ich will zwei Positionen der Kritik herausstellen: erstens eine mediävistische Polemik, zweitens eine Kritik, die der Frühneuzeit-Forschung selbst entstammt. Mediävistische Kritik an der Frühen Neuzeit kennt zahlreiche Spielarten: radikale und minder radikale, explizite und implizite. Sie haben mitunter sogar institutionelle Konsequenzen. In einer Zeit knapper Kassen findet die Debatte über den Frühneuzeit-Begriff im Zeichen von Erbstreitigkeiten statt. Es gibt etwas zu verteilen, auf das Mediävistik und neuere deutsche Literatur gleichermaßen Anspruch erheben, nämlich das 15. und das 16. Jahrhundert. Mediävistik und Sparpolitik gehen dabei Hand in Hand: Immer häufiger werden Professuren für ‚Mittelalter und Frühe Neuzeit‘ ausgeschrieben27 – an kleinen Universitäten nicht selten in der Absicht, im Rahmen der neuen BA/ MA-Studienprogramme nurmehr eine Stelle für Mediävistik vorzusehen.28 Auf der Ebene der Symposien kündigt sich ein vergleichbarer Trend zur Anbindung der Frühneuzeit-Forschung an die Mediävistik an.29 Auf welche sachlichen Gründe stützen sich diese Trends? Sie äußern sich vor allem als Kritik an der zeitlichen Komponente des Frühneuzeit-Begriffs – etwa in einer Miszelle des Baseler Mediävisten Rüdiger Schnell, die im 82. Band des „Archivs für Kulturgeschichte“ im Jahr 2000 erschien. Aus Anlaß einer Neuerscheinung zu Sexualitätsdiskursen im 15. und 16. Jahrhundert formuliert Schnell seine Einwände: Mit der „Ausdifferenzierung des Forschungsparadigmas ‚Frühe Neuzeit‘“ verbinde sich eine „Abkoppelung von der Mediävistik“ und eine zunehmende „Spezialisierung“ der FrühneuzeitForschung.30 Schnell vertritt die Auffassung, daß die Frühneuzeit-Forschung 27

So geschehen beispielsweise in der deutschen Literaturwissenschaft an den Universitäten München, Gießen und Wien. 28 Vgl. Peter Strohschneider (Hrsg.), Germanistische Mediävistik und ‚Bologna-Prozess‘. (Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, Jg. 52, H.1.) Bielefeld 2005; dort vor allem den Beitrag von Beate Kellner, Leistungssteigerung durch Effizienz? Profile der Mediävistik im Wandel, in: ebd. 174–191, bes. 186. 29 Zuletzt das Germanistische Symposion der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Jahr 2006: „Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit“ (organisiert von Peter Strohschneider, Alois Hahn, Andreas Höfele, Gert Melville, Bruno Quast) in Anknüpfung unter anderem an das DFG-Symposion „Aufführung und Schrift in Mittelalter und Früher Neuzeit“ (1994). 30 Rüdiger Schnell, Mediävistik und Frühneuzeitforschung: Können sie zusammen nicht kommen? Überlegungen anläßlich einer Neuerscheinung, in: Archiv für Kulturgeschichte 82, 2000, 227–237, hier 228.

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nicht zu Synergie-Effekten, sondern zum Auseinanderdriften der Forschungsgebiete führt. Vor diesem Hintergrund spricht Schnell von „verheerenden Konsequenzen“.31 Sie betreffen die aus seiner Sicht „unzulänglichen Mittelalterkonstruktionen“ der Frühneuzeit-Forscher. Immer wieder begriffen diese – gestützt auf einschlägige Modernisierungsthesen (Max Weber, Norbert Elias, Michel Foucault) – „‚ihren‘ Zeitraum als Neuanfang“. Auf diese Weise werde das Interesse an der ‚longue durée‘ historischer Entwicklungen abgeschnitten und ein „traditionelles Geschichtsbild“ bestätigt.32 Schnell wirft der Zunft der Frühneuzeit-Wissenschaftler folglich Entdifferenzierung vor. Einer Kritik der Kritik fällt es leicht, Schnells Diagnose der „Abkoppelung“ zu widerlegen: Mediävisten waren an der Begründung und sind an der Fortführung der literaturwissenschaftlichen Frühneuzeit-Forschung beteiligt.33 Dem Engagement einzelner Alt- und Neugermanisten ist es zu verdanken, daß der Kontakt der Teildisziplinen durch die Frühneuzeit-Forschung nicht abriß, sondern sich im Gegenteil verstärkte. Gegen konstruierte ‚Zäsuren‘ etwa um 1500 verwehren sich die in diesen Forschungszusammenhängen entstandenen Publikationen bereits seit den 1970er Jahren entschieden.34 Bleiben die Probleme zu erklären, daß verhältnismäßig wenige Untersuchungen über den Zeitraum von ca. 1450 bis 1600 handeln und daß der Blick auf die ‚longue durée‘ vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit nur selten gewagt wird. Für die Erklärung beider Probleme läßt sich Schnells Diagnose der Spezialisierung fruchtbar machen: Die Gegenstände der Frühen Neuzeit sind in sich so komplex und wenig erschlossen, daß sich der Forscher auf begrenzbare Gegenstände beschränken muß. Darüber hinaus bleibt die Ausdifferenzierung der germanistischen Literaturwissenschaft in den älteren und neueren Teilbereich zu berücksichtigen. Gerade die frühe Frühe Neuzeit fällt zwischen die Zuständigkeiten der Teilfächer und bedarf der verstärkten Berücksichtigung sowohl durch die mediävistische als auch durch die neugermanistische Fachkompetenz. Erst die Zusammenarbeit beider (die sich auch in entsprechenden Stellen-Denominationen für Frühe Neuzeit niederschlagen sollte) könnte klären, wie es sich mit dem Geschichtsbild der Epoche verhält – ob es, mit Schnell, ‚traditionell‘, oder, mit Garber, ‚fortschrittlich‘ zu nennen 31

Ebd. – Die nachfolgenden Zitate beziehen sich auf diesen Ort. Ebd. und 231. 33 Zu nennen sind hier Hartmut Freytag, Wiebke Freytag, Bodo Guthmüller, Walter Haug, Wolfgang Harms, Jan-Dirk Müller, Peter Strohschneider, Burghart Wachinger und viele andere mehr; siehe zum Beispiel das legendäre „Hamburger Colloquium 1973“: Wolfgang Harms/L. Peter Johnson (Hrsg.), Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hamburger Colloquium 1973. Berlin 1975. 34 Siehe nur die Beiträge in Harms/Johnson (Hrsg.), Deutsche Literatur (wie Anm. 33); mit entschlossener Polemik gegen die „Zäsur“ um 1500 Wolfgang Harms/Jean-Marie Valentin, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Mittelalterliche Denk- und Schreibmodelle (wie Anm. 21). 32

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wäre. Schnells Polemik gegen das fortschrittliche Geschichtsbild jedenfalls hilft ebensowenig weiter wie die Rhetorik der ‚Präcursoritis‘, der Verweis auf Vorläuferschaften frühneuzeitlicher Phänomene im Mittelalter.35 Doch spricht Schnell auch ein Problem an, das in der Frühneuzeit-Forschung selbst auf hohem Niveau diskutiert wird: Ihr geht es um die mentale Komponente des Frühneuzeit-Begriffs. Die Kritik an der mentalen Komponente des Frühneuzeit-Begriffs äußert sich als Binnendifferenzierung der Frühneuzeit-Forschung. Sie kennt mehrere Varianten36, die sich aus unterschiedlichen Bezugsdisziplinen speisen: Die Modernisierungs-Kritik entstammt der Geschichtswissenschaft. Sie mündet – auch in der Literaturwissenschaft – in aller Regel in kulturgeschichtliche Plädoyers für mikrologische Zugänge. Plädoyers wie diese sind allerdings nicht neu, sondern bereits in der methodischen Komponente des Frühneuzeit-Begriffs angelegt. Anders steht es mit der Teleologie-Kritik, die sich auf die Wissenschaftsgeschichte bezieht. Sie wird vor allem von Barbara Mahlmann-Bauer vertreten und stiftete beispielsweise den thematischen Bezugsrahmen für den 10. Internationalen Kongress des Arbeitskreises für Barockforschung („Artes et scientiae“, April 2000).37 Diese Teleologie-Kritik setzt dort an, wo das Fortschrittliche der Frühen Neuzeit – folgt man der traditionellen Wissenschaftsgeschichte – besonders deutlich zutage treten soll: in den Bereichen der Naturlehre und der Medizin – mit Blick auf ihre literarische Verfaßtheit und ihre Beziehungen zur zeitgenössischen Literatur. Die Forschungserträge, welche unter dem Vorzeichen der Teleologie-Kritik stehen, konnten zeigen, wie die traditionelle Fortschrittsgeschichte das historiographische Interesse lenkte und wie bestimmte Bereiche der Wissensentwicklung (populäres, esoterisches, alchimistisches Wissen) vernachlässigt wurden.38 Doch mündet die Teleologie-Kritik in ein methodisches Dilemma: Geschichtsschreibung ist in einem gewissen minimalen Sinne teleologisch. Die Fortschrittsgeschichte bildet diese Teleologie nur in zugespitzter und problematischer Form aus. Aber 35 Dazu Carlos Spoerhase, Zwischen den Zeiten. Anachronismus und Präsentismus in der Methodologie der historischen Wissenschaften, in: Scientia Poetica 8, 2004, 169–250. 36 Vgl. auch Garber, Frühe Neuzeit (wie Anm. 1), 19, der beschreibt, wie die Frühneuzeit-Forschung auf die Kritik an teleologischen Modellen der Geschichtsschreibung zu reagieren sucht – durch die Verlagerung auf räumliche Untersuchungsmodelle nämlich und durch die Hinwendung zu Kulturmorphologie und Anthropologie. 37 Barbara Mahlmann-Bauer, Nicht-teleologische Geschichte der Wissenschaften und ihre Vermittlung in den Medien und Künsten. Ein Forschungsbericht, in: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 26, 1999, 3−35; dies. (Hrsg.), Artes et scientiae. Akten des 10. internationalen Kongresses des Arbeitskreises für Barockforschung (5.–8. April 2000). 2 Bde. Wiesbaden 2003. 38 Gleichwohl zeigen die Tagungsakten im Rückblick auch, wie differenziert schon solche Beiträge argumentierten, die noch auf ‚Fortschritt‘ setzten; vgl. Wilhelm Kamlah, „Zeitalter“ überhaupt, „Neuzeit“ und „Frühneuzeit“, in: Saeculum 8, 1975, 313–332; die Beiträge in Hanno Möbius/Jörg Jochen Berns (Hrsg.), Die Mechanik in den Künsten. Studien zur ästhetischen Bedeutung von Naturwissenschaft und Technologie. Marburg 1990.

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muß deshalb jede Vorstellung von Fortschritt aufgegeben werden? Aus der Frage läßt sich eine Reformulierung des Frühneuzeit-Begriffs gewinnen.

II. Reformulierungsangebote Meine Reformulierungsstrategien ruhen auf zwei Annahmen: erstens der Annahme, daß es sinnvoll ist, die einmal erreichte Komplexität der Frühneuzeit-Forschung zu erhalten. Ziel der Konsolidierung von Begriff und Forschung der Frühen Neuzeit muß es sein, die Komplexität, die in diesem Gebiet erreicht wurde, zu stabilisieren und sinnvoll weiterzuführen. Die zweite Annahme geht von einem Surplus der Makroepoche in der Deutungskonkurrenz anderer Epochenbegriffe aus. Die Sinnfälligkeit der FrühneuzeitForschung beweist sich unter anderem dadurch, daß der Frühneuzeit-Begriff nicht nur mit etablierten literaturwissenschaftlichen Epochenbegriffen konkurrieren kann, sondern deren Perspektiven präzisiert oder erweitert. So betrachtet sollte von einem reformulierten Frühneuzeit-Begriff ein Stimulations- und Orientierungspotential für die Frühneuzeit-Forschung ausgehen – für die Literaturwissenschaft ebenso wie für die Nachbardisziplinen. Dieses Potential kann auf unterschiedlichen Wegen eingesetzt werden: Der Frühneuzeit-Begriff könnte es ermöglichen, die Probleme gängiger Epochenbegriffe zu überdenken (Reflexionsfunktion). Außerdem könnte er die Mikroepochen zu integrieren und unbekannte Zusammenhänge wahrzunehmen erlauben (Integrations- und Entdeckungsfunktion). Beide Annahmen ergänzen sich. Ich will aus Darstellungsgründen bei der zweiten Annahme ansetzen und die gängigen mikrologischen Epochenbegriffe mustern, welche in die Makroepoche der Frühen Neuzeit fallen. Ein Problem vorab: In der Literaturwissenschaft wie in den meisten anderen Geisteswissenschaften fehlt es an Forschungsberichten. Hier wäre – auch durch Unterstützung der Forschungsförderorganisationen – dringend Abhilfe zu schaffen. Alle Bemerkungen über die Epochen und die forschungsmäßige Ergiebigkeit ihrer Begriffe können deshalb bloß vorläufig und exemplarisch sein. Denn wenn die Frühneuzeit und ihre Erforschung als komplex gelten, dann sind es die betreffenden Mikroepochen nicht minder. Mit Blick auf diese erhöhte Komplexität komme ich zu den mikrologischen Epochenbegriffen. Die Frühe Neuzeit umschließt die beeindruckende Zahl von circa zehn literaturwissenschaftlichen Epochen: Spätmittelalter, Renaissance, Humanismus, Mittlere Deutsche Literatur, Barock, Manierismus, Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang sowie Rokoko. Es wäre ermüdend, einen Begriff nach dem anderen zu diskutieren. Die gegenwärtige Forschung hilft, die Rekonstruktion abzukürzen. Mittlerweile nämlich werden die Begriffe des Manierismus, der Empfindsamkeit, des Sturm und Drang und des Rokoko kritisch diskutiert – aus unterschiedlichen Grün-

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den: Manierismus und Rokoko gelten als bloße Stilbegriffe.39 Demgegenüber ist die Empfindsamkeit als spätes und tendenziöses Produkt der Kritik an einer ‚rationalistischen Aufklärung‘ enttarnt.40 Der Sturm und Drang wiederum bezeichnet nurmehr eine „avantgardistische Gruppe in den Anfangsjahren der Spätaufklärung“.41 Hinzu kommt das Sonderproblem des Humanismus. Er benennt zwar eine „epochemachende Reformbewegung“, ist aber als Epochenbegriff nicht durchgesetzt.42 Folglich kann ich die Diskussion über die Frühneuzeit in der Konkurrenz literaturwissenschaftlicher Epochenbegriffe auf fünf etablierte Mikro- und Makroepochen einschränken: Spätmittelalter, Renaissance, Mittlere Deutsche Literatur, Barock und Aufklärung. Es erstaunt nicht, daß jede Epoche ihre eigenen Probleme mit sich bringt. Der Begriff des Spätmittelalters ist der Geschichtswissenschaft entlehnt, kann seit Ernst Robert Curtius aber auf eine lange philologische Tradition zurückblicken.43 Das Spätmittelalter umfaßt die Zeit zwischen 1220/30 und 1500/20, wobei sowohl die Grenzen als auch die Binnendifferenzierung der Epoche umstritten sind.44 Hinzu kommt, daß die letzten beiden Jahrhunderte zugleich von anderen Epochenbegriffen erfaßt werden. Vor allem für die Romanistik ist der Begriff der „Rinascita“ unverzichtbar. Er bezeichnet eine kulturgeschichtliche Makroepoche von etwa 1300 bis 163045; deshalb ist er mit dem Begriff der Frühen Neuzeit teilweise deckungsgleich. In Deutschland findet die Renaissance aber erst im 15. und 16. Jahrhundert ihre Entsprechung. Sie wird mit dem genuin literaturwissenschaftlichen Konzept der „Mittleren Deutschen Literatur“ erfaßt.46 Doch ist die „Mittlere Deutsche Literatur“ be39

Wolfgang Braungart, Art. „Manierismus“, in: Reallexikon (wie Anm. 11), Bd. 2, 530−535; Klaus Bohnen, Art. „Rokoko“, in: Reallexikon (wie Anm. 11), Bd. 3, 310–313. 40 Über die problematischen Voraussetzungen der Forschung zur „Empfindsamkeit“ Friedrich Vollhardt, Aspekte der germanistischen Wissenschaftsentwicklung am Beispiel der neueren Forschung zur „Empfindsamkeit“, in: Holger Dainat/Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Aufklärungsforschung in Deutschland. Heidelberg 1999, 49–77. 41 Roland Krebs, Was ist Sturm und Drang? Periodisierungsgeschichtliche Überlegungen aus Anlaß zweier Neuerscheinungen, in: DAJ 25/2, 2001, 289–293, hier 293. 42 Herbert Jaumann, Art. „Humanismus“, in: Reallexikon (wie Anm. 11), Bd. 2, 95–100, hier 95. 43 Frank-Rutger Hausmann, Ernst Robert Curtius’ „Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter“. Sechzig Jahre danach, in: Garber/Kleymann (Hrsg.), Kulturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts (wie Anm. 10), 77–88. Siehe auch Jan-Dirk Müller, Johan Huizinga (1872–1945) und der Herbst des Mittelalters, in: ebd. 263–282. 44 Johannes Janota, Art. „Spätmittelalter“, in: Reallexikon (wie Anm. 11), Bd. 3, 460–464. 45 Barbara Mahlmann-Bauer, Art. „Renaissance“, in: Reallexikon (wie Anm. 11), Bd. 3, 262–266. 46 Christiane Caemmerer/Walter Delabar/Jörg Jungmayr/Knut Kiesant (Hrsg.), Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur. (Chloe, Bd. 33.) Amsterdam/Atlanta, Ga. 2000. – Die Epochengliederung unter dem Vorzeichen der „Mittleren Deutschen Literatur“ (1450–1750) ist mit derjenigen der ‚Frühen Neuzeit‘ identisch; zum Konzept vor allem Christiane Caemmerer/Walter Delabar/Jörg Jungmayr/Knut Kiesant, Epistemo-

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dauerlicherweise eine ‚Berliner Spezialität‘ und kein durchgesetztes Epochenmodell. Der Grund dafür liegt möglicherweise in der – titelgebenden – Konzentration auf die Literatur. Denn die Forschung zur frühen Frühen Neuzeit widmet sich unterschiedlichen und nicht nur ‚literarischen‘ Texten: der Medientheorie und -geschichte im Umfeld des Buchdrucks47, theoretischen Fragen wie denjenigen nach Performanz48, Pluralität und Pluralisierung49 sowie methodischer Auseinandersetzung mit Innovationsversuchen wie etwa demjenigen des New Historicism und seinen Shakespeare-Lektüren.50 Von besonderer Bedeutung ist außerdem die Erschließung unbekannter Quellen aus den Bereichen der neulateinischen Lyrik51, des Paracelsismus52, der Astronomie53 und der humanistischen Schul- und Universitätsgeschichte54. logisches Modell oder faktische Epoche? Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur auf dem Prüfstand, in: ebd. 1–9, hier 6. 47 Im Überblick Horst Wenzel, Zum Stand der Germanistischen Mediävistik im Spannungsfeld zwischen Textphilologie und Kulturwissenschaft, in: Hans-Werner Goetz (Hrsg.), Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung. (MittelalterStudien, Bd. 1.) München 2003, 149– 160, hier 156–160. 48 In Verbindung mit mediävistischen Perspektiven die Beiträge in Jan-Dirk Müller (Hrsg.), „Aufführung“ und „Schrift“ in Mittelalter und früher Neuzeit. (DFG-Symposien, Germanistische Berichtsbände, Bd. 17.) Stuttgart/Weimar 1996. 49 Dazu die Projekte im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 573 der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit“ (LudwigMaximilians-Universität München). 50 Zu den Chancen und Grenzen des New Historicism Barbara Schmidt-Haberkamp, Das Neue Achtzehnte Jahrhundert – ein Forschungsbericht, in: DAJ 22/2, 1998, 195–206. 51 Wilhelm Kühlmann, Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 3.) Tübingen 1982; Wilhelm Kühlmann/Hermann Wiegand (Hrsg.), Parnassus Palatinus. Humanistische Dichtung in Heidelberg und der alten Kurpfalz. Lateinisch/Deutsch. Heidelberg 1989; Wilhelm Kühlmann/Robert Seidel/Hermann Wiegand (Hrsg.), Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch/Deutsch. (Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 146; Bibliothek der Frühen Neuzeit, Bd. 1, Abt. 5.) Frankfurt am Main 1997; Robert Seidel, Späthumanismus in Schlesien. Caspar Dornau (1577–1631). Leben und Werk. (Frühe Neuzeit, Bd. 20.) Tübingen 1994. 52 Wilhelm Kühlmann/Joachim Telle (Hrsg.), Corpus Paracelsisticum. Bd. 1. (Frühe Neuzeit, Bd. 59.) Tübingen 2001; dies., Der Frühparacelsismus. Bd. 2. (Frühe Neuzeit, Bd. 89.) Tübingen 2004. 53 Um nur zwei Beispiele aus den zahlreichen Veröffentlichungen von Barbara Mahlmann-Bauer zum Thema zu geben: Barbara Mahlmann-Bauer, Copernicanische Astronomie und cusanische Kosmologie in Athanasius Kirchers ‚Iter exstaticum coeleste‘ (1656/1660), in: Willibald-Pirckheimer-Jahrbuch 1989/90, 69–107; dies., Die Bulle ‚contra astrologiam iudiciariam‘ von Sixtus V., das astrologische Schrifttum protestantischer Autoren und die Astrologiekritik der Jesuiten. Thesen über einen vermuteten Zusammenhang, in: Klaus Bergdolt/Walther Ludwig (Hrsg.), Zukunftsvoraussagen in der Renaissance. Wiesbaden 2005, 143−222. 54 Barbara Bauer, Jacob Pontanus SJ, ein oberdeutscher Lipsius. Ein Augsburger Schulmann zwischen italienischer Renaissancegelehrsamkeit und jesuitischer Dichtungstradition, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 47, 1984, 77−120; dies. (Hrsg.), Melanchthon und die Marburger Professoren (1527−1627). 2. Aufl. Marburg 2000 (1. Aufl.

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Darüber hinaus konkurriert die Epochenbezeichnung Mittlere Deutsche Literatur mit anderen etablierten Epochenbegriffen, im 17. Jahrhundert vor allem mit dem Begriff des Barock: Er gilt als „Verständigungs- und Arbeitsbegriff“, und als solcher ist er, so die umsichtige Einschätzung von Dirk Niefanger, heute „kaum noch umstritten“.55 Für die Forschungspraktiken im Rahmen der Literaturwissenschaft trägt dieses Urteil. Die Barockforschung hat das Diktum vom „Barockmenschen“ und allzu einschlägige, dualistische Bewertungen der Epoche überwunden.56 Auch erweist sich der Barock-Begriff mit Blick auf traditionelle Gegenstände wie das barocke Trauerspiel als praktikabel.57 Doch bleibt zu fragen, ob der Begriff den Blick auf das 17. Jahrhundert verstellt oder zumindest einschränkt: Geht er nicht vor allem von Stilphänomenen aus58, legt die Literaturgeschichte auf den Klassizismus opitzscher Prägung fest, erlaubt kaum Binnendifferenzierungen der Epoche59 und postuliert allzu scharfe Grenzen zum 16. ebenso wie vom 18. Jahrhundert?60 Der Barock-Begriff ist zu eng.61 Beispielsweise fällt es schwer, die 1999); der makrologische, aber auch im Detail kundige Aufriß von William Clark, Academic Charisma and the Origins of the Research University. Chicago 2005; dazu Valentin Groebner, Der Wüstenplanet. Unsere Universitäten und der Stolz auf die große Tradition: Ein gewaltiges Mißverständnis, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 2. Juli 2006, Nr. 26, 28. 55 Niefanger, Barock (wie Anm. 25), 11. 56 Qualifiziert man die Darstellungs- und Verstehensweisen wie diejenigen der älteren Barockforschung auch zu Recht als problematisch, so bleibt jedoch zu berücksichtigen, daß sie im Vergleich zu den Negativbegriffen der Vorzeit („Schwulst“ etc.) Fortschritte für die Erforschung des 17. Jahrhunderts ermöglichten. 57 Peter-André Alt, Der Tod der Königin. Frauenopfer und politische Souveränität im Trauerspiel des 17. Jahrhunderts. (Quellen und Forschungen zur Literatur und Kulturgeschichte, Bd. 30. [254.]) Berlin/New York 2004; Claus-Michael Ort, Medienwechsel und Selbstreferenz. Christian Weise und die literarische Epistemologie des späten 17. Jahrhunderts. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 93.) Tübingen 2003. 58 Siehe Herbert Jaumann, Art. „Barock“, in: Reallexikon (wie Anm. 11), Bd. 1, 199–204, hier 203. 59 So das Argument, das Herbert Jaumann dem Gebrauch des Barock-Begriffs entgegenhält; ebd. 200 f. 60 Für die Barockforschung ist charakteristisch, daß sie zunehmend auch das 18. Jahrhundert in den Blick nimmt: Die Jahrzehnte seit der „Querelle des anciens et des modernes“ (1670) fallen nunmehr zwischen zwei Mikroepochen. 61 Diese Kritik äußerte bereits Hans-Harald Müller; er erörtert, daß der Barock-Begriff auch in der frühen barock-begeisterten Philologie nicht zu einem integrationsfähigen Epochenbegriff ausgebildet ist; Hans-Harald Müller, Die Übertragung des Barockbegriffs von der Kunstwissenschaft auf die Literaturwissenschaft und ihre Konsequenzen bei Fritz Strich und Oskar Walzel, in: Klaus Garber (Hrsg.), Europäische Barock-Rezeption. Wiesbaden 1991, 95–112; siehe auch Wilfried Barner, Stilbegriffe und ihre Grenzen. Am Beispiel ‚Barock‘, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45, 1971, 302–325; Hans-Harald Müller, Barockforschung: Ideologie und Methode. Ein Kapitel deutscher Wissenschaftsgeschichte 1870–1930. Darmstadt 1973; Herbert Jaumann, Die deutsche Barockliteratur: Wertung – Umwertung. Eine wertungsgeschichtliche Studie in systematischer Absicht. (Abhandlungen zur Kunst-, Mu-

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humanistischen Bewegungen, welche sich gerade auch jenseits des ‚literarischen‘ Textes äußern, unter dem Vorzeichen des ‚Barock‘ angemessen aufzunehmen (z. B. die Vielschichtigkeit der Flugblätter62, die Studien zur Historia litteraria).63 Hinzu kommt das Problem der Kontinuitäten: der langfristigen Entwicklungen, die noch das beginnende und mittlere 18. Jahrhundert überdauern oder ihre Dynamik zu diesem Zeitpunkt in besonderer Weise entfalten. Zu denken ist – nicht nur in diesem Zusammenhang – an das Luthertum, dessen Wirkungsmacht auch auf die Literatur seit einigen Jahren mit Verve erforscht wird.64 Der Begriff der Aufklärung ist seinerseits als Sammelbegriff für geistige und soziale Reformbewegungen eingeführt.65 Sie fanden, wenn auch zeitlich verschoben und mit regional unterschiedlichem Verlauf, im 18. Jahrhundert in ganz Europa und den USA statt.66 Nicht zufällig spielte und spielt die sik- und Literaturwissenschaft, Bd. 181.) Bonn 1975; Knut Kiesant, Die Wiederentdeckung der Barockliteratur. Leistungen und Grenzen der Barockbegeisterung der zwanziger Jahre, in: Christoph König/Eberhard Lämmert (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Frankfurt am Main 1993, 77–91; Marcel Lepper, Typologie, Stilpsychologie, Kunstwollen. Zur Erfindung des ‚Barock‘ (1900–1933), in: arcadia 41, 2006, 14–28. 62 Wolfgang Harms (Hrsg.), Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Bde. 1–7. Tübingen 1980–2005; ders./Alfred Messerli (Hrsg.), Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450–1700). In Verbindung. mit Frieder von Ammon, Nikola von Merveldt. Basel 2002. 63 Helmut Zedelmaier, Bibliotheca universalis und Bibliotheca selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit. (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 33.) Köln/Weimar/Wien 1992; ders., Der Anfang der Geschichte. Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert. (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 27.) Hamburg 2003; Frank Grunert/Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Historia litteraria. Zur Ordnung des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 2006. 64 Siehe Johann Anselm Steiger, Die „Kirchhofgedanken“ des Andreas Gryphius (1616– 1664). Heidelberg 2000; ders., Matthias Claudius (1740–1815). Totentanz, Humor, Narretei und Sokratik. Heidelberg 2002; Andreas Gryphius, Dissertationes funebres oder Leichabdankungen (1666). Hrsg. v. Johann Anselm Steiger. Tübingen 2007; Anselm Schubert, Auf der Suche nach der menschlichen Natur. Zur erotischen Lyrik Hoffmannswaldaus, in: Daphnis 25, 1996, 423–465; ders., Nachspiel auf dem Theater. Lutherische Orthodoxie und Synkretismus zwischen Theologie und Literatur, in: Kerygma und Dogma 45, 1999, 225–250. 65 Aktuelle Diskussionen sind dokumentiert in: Helmut Reinalter (Hrsg.), Die neue Aufklärung. (Interdisziplinäre Forschungen, Bd. 7.) Thaur u. a. 1997; Monika Fludernik u. a. (Hrsg.), Das achtzehnte Jahrhundert. Trier 1998; Holger Dainat/Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Aufklärungsforschung in Deutschland. (Beihefte zum Euphorion, Bd. 32.) Heidelberg 1999. 66 Martin Fontius, Zur Lage der Aufklärungsforschung im vereinten Deutschland, in: DAJ 19/2, 1995, 193–205, bes. 202 f. – Nur wenige Ansätze begleiten die Erklärung des Aufklärungsbegriffs noch mit ‚aufklärerischer Emphase‘ für das Projekt von Freiheit und Individualität; als Beispiele seien genannt die Beiträge von Gunter Scholtz, Karol Bal und Leon Miodořski in: Ryszard Różanowski (Hrsg.), Aktualität der Aufklärung. Wrocław 2000.

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Frage nach der Ausbildung einer gebildeten Öffentlichkeit für die Aufklärungsforschung eine wegweisende Rolle.67 Dabei zeigt sich aber zunehmend, daß die großen Theorien – die Kritische Theorie, Jürgen Habermas, Niklas Luhmann, Michel Foucault – keine Orientierung mehr bieten.68 Methodische Innovation findet hier zumeist in der Form von „Umbesetzungen“ etablierter Darstellungen statt.69 Auf diese Einsicht reagiert die Literaturwissenschaft mit einer Fülle von Detailstudien.70 Spätestens seit 1995 gibt die Suche nach neuem Quellenmaterial und nach den Wissensbeständen der Literatur die Richtung vor: Das periodische Schrifttum, clandestine Manuskripte, Korrespondenzen, Tagebücher, Ikonographien, Grundbegriffe der Ästhetik und Pragmatik, Anthropologie, Enzyklopädistik, „lieux de mémoire“ – darauf konzentriert sich die gegenwärtige literaturwissenschaftliche und internationalisierte Aufklärungsforschung.71 Bereits heute zeigt sich, daß sich das Bild der literarischen Aufklärung vor dem Hintergrund dieser Studien verändern muß: Frühaufklärung und Barock rücken eng zusammen.72 Der Kanon, der sich um die Namen der Autoren Gottsched, Lessing, Wieland, die Stürmer und Dränger, die Weimarer Klassik und die Romantik ausbildete, bedarf der Korrektur. Die Entdeckung „vergessener Texte“73, Interpretationen des „inferioren Romans“74, Untersuchungen zum Literatur- und Wissenstransfer von England75,

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Mit Rückblick auf die Diskussionen über Jürgen Habermas’ „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ Timothy C. W. Blanning, The Culture of Power and the Power of Culture. Old Regime Europe 1660–1789. Oxford 2002. 68 Vgl. auch den Rückblick auf die ideologiekritische Debatte über die Aufklärung von Roland Galle/Helmut Pfeiffer (Hrsg.), Aufklärung. München 2006. 69 Lutz Danneberg/Michael Schlott/Jörg Schönert/Friedrich Vollhardt, Germanistische Aufklärungsforschung in den siebziger Jahren, in: DAJ 19/2, 1995, 172–192, bes. 192. 70 Zur Flut der Detailstudien Walter Erhart, Nach der Aufklärungsforschung?, in: Dainat/Voßkamp (Hrsg.), Aufklärungsforschung (wie Anm. 65), 99–128. 71 Dazu die Beiträge in: Michel Delon/Jochen Schlobach (Hrsg.), La Recherche dixhuitièmiste. Objets, méthodes et institutions (1945–1995). (Études internationales sur le dix-huitième siècle, 1.) Paris 1998. 72 Wilhelm Kühlmann, Frühaufklärung und Barock. Traditionsbruch – Rückgriff – Kontinuität, in: Klaus Garber (Hrsg.), Europäische Barock-Rezeption. In Verbindung mit Ferdinand van Ingen. T. 1. (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 20.) Wiesbaden 1991, 187–214. 73 Wolfgang Albrecht, „Vergessene Texte des 18. Jahrhunderts“. Anregung zur Lektüre oder Grundlage für Forschungsarbeit?, in: DAJ 23/1, 1999, 101–104. 74 Barbara Potthast, Die verdrängte Krise. Studien zum ‚inferioren‘ Roman zwischen 1750 und 1770. (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 21.) Hamburg 1997. 75 Michael Maurer, „O Britannien, von deiner Freiheit einen Hut voll“. Deutsche Reiseberichte des 18. Jahrhunderts. München 1992; Hugh B. Nisbet/Claude Rawson (Eds.), The Cambridge History of Literary Criticism. Vol. 4: The Eighteenth Century. Cambridge 1997.

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Frankreich76, Italien77, und den Niederlanden78 nach Deutschland und vice versa, der Blick auf die jüdische Aufklärung79 – um nur einige Beispiele zu nennen: All das nähert die ‚hohe Literatur‘ der gelehrten Dichtung ebenso wie der Volksaufklärung an. Nach und nach setzt sich ein gründlich revidiertes Bild des 18. Jahrhunderts zusammen, wobei zunehmend unklar wird, wie viel Aufklärung tatsächlich war. Um Worte streiten hilft bekanntlich nicht, auch nicht in diesem Fall. Die eingespielten Epochenbegriffe haben vor dem Hintergrund literaturwissenschaftlicher Traditionen ihre Berechtigung. Aber es bleibt zu fragen, ob sie angesichts der vielfältigen Kritik, die sie erfahren haben, noch zeitgemäß sind. Vor dem Hintergrund dieser Frage will ich versuchen, die Komponenten eines literaturwissenschaftlichen, aber, so hoffe ich, interdisziplinär vermittelbaren Frühneuzeit-Begriffs zu reformulieren: 1. Zeitliche Komponente. In der Geschichts- und der Literaturwissenschaft kündigt sich ein Trend an, Epochenbegriffe flexibel zu handhaben und vor allem auf die Übergänge von einer Epoche zur anderen zu achten. Dieser Trend begünstigt makrologische Begriffe wie denjenigen vom ‚langen 18. Jahrhundert‘ ebenso wie den makrologischen Begriff der Frühen Neuzeit. Zugleich lenkt dieser Trend die Aufmerksamkeit auf Daten und neutralisiert auf diese Weise Dispute über diesen oder jenen vorbelasteten Epochenbegriff – etwa in der literaturwissenschaftlichen Biedermeier-Forschung. Sie hat es mit einem Epochenbegriff zu tun, der nicht gerade für die Popularität der darunter fallenden Literatur sorgte.80 Die Biedermeier-Forschung also nennt nurmehr ungefähre Jahreszahlen, wenn sie sich über ihre Epoche verständigen will. Dieses flexible Neutralisieren der Epochendiskussion hat einiges für sich, und die Frühneuzeit-Forschung sollte meines Erachtens da76

Jens Häseler, Ein Wanderer zwischen den Welten. Charles Etienne Jordan (1700– 1745). (Beihefte der Francia, Bd. 28.) Sigmaringen 1993; Martin Mulsow, Die drei Ringe. Toleranz und clandestine Gelehrsamkeit bei Mathurin Veyssière La Croze (1661–1739). (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, Bd. 16.) Tübingen 2001; Sandra Pott, Reformierte Morallehren und deutsche Literatur von Jean Barbeyrac bis Christoph Martin Wieland. (Frühe Neuzeit, Bd. 75.) Tübingen 2002. 77 Dazu die Beiträge in Giulia Cantarutti/Stefano Ferrari/Paola Maria Filippi (Eds.), Il Settecento tedesco in Italia. Gli italiani e l’immagine della cultura tedesca nel XVIII secolo. Bologna 2001; Giorgio Cusatelli/Maria Lieber/Heinz Thoma/Edoardo Tortarolo (Hrsg.), Gelehrsamkeit in Deutschland und Italien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1999. 78 Innovationen sind hier vor allem seitens der Religionsgeschichte zu verzeichnen; um nur ein Beispiel zu nennen: Joris van Ejnatten, History, Reform, and ‚Aufklärung‘. German Theological Writings and Dutch Literary Publicity in the Eighteenth Century, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 7, 2000, 173–204. 79 Siehe zum Beispiel: Christoph Schulte, Haskala. Die jüdische Aufklärung in Deutschland 1769–1812, in: DAJ 23/2, 1999, 143–151. 80 Dazu die Beiträge in Michael Titzmann (Hrsg.), Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 92.) Tübingen 2002.

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von lernen. Einige Vorschläge: Die Jahre 1450 (Humanismus in Deutschland, Erfindung des Buchdrucks, Veränderung des Gattungssystems, Ausprägung neuer Autorrollen), 1500 oder 1520 (Beginn der Reformationen) könnten nicht mehr als Zäsuren, sondern als Übergangsdaten betrachtet werden, um eine Scharnierstelle zu markieren – die Scharnierstelle, welche die Frühe Neuzeit für Alt- und Neugermanistik darstellt. Vergleichbares könnte für 1600 (Edikt von Nantes, 1598), 1618 und 1648 (Anfang und Ende des Dreißigjährigen Krieges, Sprachreformbewegungen und ‚klassizistische Poetik‘ in deutscher Sprache), 1670/80 (Beginn der ‚Querelle des anciens et des modernes‘/die Vorlesung von Christian Thomasius zur Sittenlehre der Franzosen), die Orientierungssuche um 170081, 1720/30 (Beginn der ‚klassizistischen‘ Poetik Gottscheds), 1760/70 (Beginn der anti-klassizistischen Poetik), 1790/1800 (Französische Revolution, Romantik, Klassik) gelten.82 2. Räumliche Komponente. Bereits die zeitliche Komponente legt eine vergleichsweise große räumliche Weite des revidierten Frühneuzeit-Begriffs nahe. Ob sich dieser aber – wie bei Garber – auf „ganz Europa“ beziehen kann, bleibt zu prüfen. Die Frage nach der Räumlichkeit der Frühen Neuzeit wurde bisher bloß im Rahmen von Regionalstudien und – für wenige Fälle – im Rahmen von literaturvergleichenden oder Transfer-Untersuchungen bearbeitet. Im Blick auf solche Studien möchte ich – analog zur Gliederung der Frühen Neuzeit durch Daten – eine Gliederung nach Kulturräumen vorschlagen, die nicht auf einen Begriff von ‚Nation‘ verengt wären und auch die Frühe Neuzeit außerhalb Europas mit ihren jeweiligen zeitversetzten Entwicklungen zu berücksichtigen hätten. Für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation wäre eine Einteilung auch in die Literaturen des Elsaß, Pommerns und Schlesiens in Betracht zu ziehen.83 Zwar ist diese Einteilung unter ande81 Dirk Niefanger, Konzepte, Verfahren und Medien kultureller Orientierung um 1700, in: Sylvia Heudecker (Hrsg.), Kulturelle Orientierung um 1700. Traditionen, Programme, konzeptionelle Vielfalt. (Frühe Neuzeit, Bd. 93.) Tübingen 2004, 9–30. 82 Eine neue populäre historiographische Epochengliederung versteht die Frühe Neuzeit nurmehr als „Binnendifferenzierung“ der Neuzeit und faßt die Jahrzehnte von 1600 bis 1750 darunter; siehe Friedrich Jaeger, Art. „Neuzeit“, in: Enzyklopädie der Neuzeit. Gesamtausgabe in 16 Bden. Hrsg. v. Friedrich Jaeger im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen. Stuttgart/Weimar 2005 ff., Bd. 9, Sp. 55–63. Dieses reduzierte Konzept von ‚Früher Neuzeit‘ geht davon aus, daß sich in diesen Jahrzehnten epochale Trends abzeichnen, welche die Neuzeit prägen (von der Ausbildung des frühmodernen Staates bis hin zum Welthandel). Die Merkmalsdefinition von ‚Früher Neuzeit‘ erweist sich auch für die Literaturwissenschaft als sinnvoll, was beispielsweise die „Entfaltung des Individuums auf der Grundlage breiterer Bildungschancen“ betrifft. Gleichwohl ist die Epochenschwelle um 1600 nicht günstig angesetzt. Gerade das 16. Jahrhundert ist für die Alt- und Neugermanistik gleichermaßen bedeutsam: Die Geschichten der Reformation und des Bruchdrucks beispielsweise lassen sich nicht schreiben, ohne einen Blick auf ihre Vorgeschichte und auf ihre Wirkung zu verlieren. Das Jahrhundert sollte die Scharnierstelle Frühe Neuzeit also unbedingt weiter mitbestimmen. 83 Wilhelm Kühlmann, Zur Literatur des nachreformatorischen Humanismus in Pommern. (Garzer Museumsreden, Ausgabe 2.) Garz/Rügen 1996; ders./Walter E. Schäfer

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rem aus der problematischen ‚völkischen Germanistik‘, aber auch von Konrad Burdach bekannt84; vor dem Hintergrund der Regionalforschung kann und sollte sie neu konzipiert werden85. Darüber hinaus könnten Metropolen beziehungsweise Metropolregionen wie Hamburg (Altona eingeschlossen), Frankfurt am Main, europäischen Zentren von Kultur und Handel, wichtige Achsen für die Untersuchung frühneuzeitlicher Entwicklungen darstellen. An die Untersuchung dieser Zentren ließen sich Studien zu Transferprozessen knüpfen, die ein Desiderat darstellen: Man denke etwa an den Austausch, der durch die Akademien des 18. Jahrhunderts von Europa bis hin nach China möglich war, und der noch wenig untersucht ist. Ebenso gilt dies für ‚die arabische Welt‘, deren Wahrnehmung durch die Türkenphobie86, aber auch durch den Transfer antiken Wissens nach Europa gelenkt war87. Durch diese Sicht auf die zeitlichen und räumlichen Komponenten des Zeitraums könnte auch der Dialog der Einzelphilologien neu eröffnet werden – mit Rücksicht auf ihre je spezifischen Anforderungen: Die Romanistik beispielsweise kennt den Frühneuzeit-Begriff nicht; der Blick auf einen konkreten historischen Zusammenhang des Austauschs könnte helfen, die jeweilige Epochensystematik zu prüfen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu entdecken. 3. Mentale Komponente: ‚Entwicklung‘ sollte dabei gerade keinen einlinigen Prozeß der Modernisierung meinen, der von Stufe zu Stufe fortschreitet. Unter Entwicklung wären – im Sinne einer erneuerten mentalen Komponente – in sich komplexe und umkehrbare, hochgradig dynamische Prozesse zu verstehen, wie sie Thomas Maissen anschaulich am Beispiel von Überholmanövern auf einem unendlichen Autoparcours schildert.88 Solche Überholma(Hrsg.), Frühbarocke Stadtkultur am Oberrhein. Studien zum literarischen Werdegang J. M. Moscheroschs. (Philologische Studien und Quellen, Bd. 109.) Berlin 1983; dies. (Hrsg.), Literatur im Elsaß von Fischart bis Moscherosch. Gesammelte Studien. Tübingen 2001; Klaus Garber (Hrsg.), Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. 2 Bde. (Frühe Neuzeit, Bd. 111/1–2.) Tübingen 2005. 84 Mit einem Plädoyer, Burdachs Untersuchungen für die Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit zurückzugewinnen, Klaus Garber, Versunkene Monumentalität. Das Werk Konrad Burdachs, in: Garber/Kleymann (Hrsg.), Kulturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts (wie Anm. 10), 109–158. 85 Dazu die Beiträge in Monika Wagner-Egelhaaf (Hrsg.), Region – Literatur – Kultur. Regionalliteraturforschung heute. Bielefeld 2001. 86 Bobo Guthmüller/Wilhelm Kühlmann (Hrsg.), Europa und die Türken in der Renaissance. (Frühe Neuzeit, Bd. 54.) Tübingen 2000. 87 Siehe nur die Arbeiten zur Rezeption des Averroes von Ernest Renan, Averroès et l’averroïsme. Paris 2002 (1. Aufl. 1852); Carmela Baffioni (Ed.), Averroes and the Aristotelian Heritage. Neapel 2004; Peter Bruns (Hrsg.), Von Athen nach Bagdad. Zur Rezeption griechischer Philosophie von der Spätantike bis zum Islam. (Hereditas, Bd. 22.) Bonn 2003. 88 Maissen, Seit wann (Anm. 6). Anregend dazu auch das Merkmalsbündel, mit dem Rudolf Vierhaus die Epoche kennzeichnet: Rudolf Vierhaus, Vom Nutzen und Nachteil des Begriffs „Frühe Neuzeit“. Fragen und Thesen, in: ders. (Hrsg.), Frühe Neuzeit – frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen. Göttingen 1992, 13–25, bes. 24 f.

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növer führen auf Dauer zur Stabilisierung derjenigen kulturellen und mentalen Strukturen, welche als Neuzeit begriffen werden. Zielgerichtet wäre diese Vorstellung nur insofern, als sie mögliche Enden von Entwicklungsprozessen (oder eben: Überholmanövern) einschlösse – was nicht bedeutet, daß besagte Prozesse stromlinienförmig auf ihre Enden zulaufen müssen. Vielmehr wären gerade auch Diskontinuitäten zu berücksichtigen – ein Vorgehen, das sich besonders lohnt, wenn man etwa über lange verschüttete Texte und Texttraditionen oder Phänomene der Barock-Rezeption um 180089 oder um 192090 arbeitet. Diese Aufmerksamkeit für Diskontinuitäten sollte jedoch nicht dazu führen, etwa das Barock als ‚transhistorisches Phänomen‘ mißzuverstehen91; vielmehr könnten bestimmte Aspekte der Epoche historische Deutungsmuster mit einer gewissen „Gegenwartsanbindung“92 abgeben. Zu erproben und zu entfalten wäre die so angelegte mentale Komponente des Frühneuzeit-Begriffs am Beispiel bekannter Entwicklungsbegriffe wie denjenigen der Sozialdisziplinierung93, der Säkularisierung94, der Konfessionalisierung95, der Sakralisierung96, der Pluralisierung und der Globalisierung97. 4. Methodische Komponente: Auf diese Weise ließe sich auch erneut aufnehmen, was zum Bestand der Frühneuzeit-Forschung gehört: die methodische Komponente oder das Interesse an der mikrologischen Untersuchung. 89 Dieter Martin, Barock um 1800. Bearbeitung und Aneignung deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts von 1770 bis 1830. Frankfurt am Main 2000. 90 Kiesant, Die Wiederentdeckung (wie Anm. 61). 91 Als ‚transhistorisches Phänomen‘ wird das Barock in den Beiträgen des nachstehenden Sammelbandes aufgefaßt: Peter J. Burgard (Hrsg.), Barock. Neue Sichtweisen einer Epoche. Wien u. a. 2001; kritisch dazu die Rez. von Dirk Niefanger, in: Historische Anthropologie 10/1, 2002, 149 f. 92 Valentin Groebner, Welche Themen, wessen Frühe Neuzeit? Kulturbegriff und Gegenwartsbezug, in: Helmut Puff/Christopher Wild (Hrsg.), Zwischen den Disziplinen? Perspektiven der Frühneuzeitforschung. Göttingen 2003, 21–36, hier 31. 93 Dazu der Forschungsüberblick von Ralf Georg Bogner, Arbeiten zur Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit. Ein Forschungsbericht für die Jahre 1980–1994. T. 1, in: Frühneuzeit-Info 7/1, 1996, 127–142; Matthias Luserke, Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung. Weimar 1995. 94 Dazu die Dreier-Reihe „Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit“, die 2002/2003 im de Gruyter-Verlag Berlin/New York erschien: Sandra Pott, Medizin, Medizinethik und schöne Literatur (Bd. 1); Lutz Danneberg/Sandra Pott/Jörg Schönert/Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus (Bd. 2); Lutz Danneberg, Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers (Bd. 3). 95 Aktuelle Debatten dazu in Kaspar von Greyerz (Hrsg.), Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, Bd. 201.) Gütersloh 2003. 96 Hartmut Lehmann, Jenseits der Säkularisierungsthese: Religion im Prozeß der Säkularisierung, in: Manfred Jakubowski-Tiessen (Hrsg.), Religion zwischen Kunst und Politik. Aspekte der Säkularisierung im 19. Jahrhundert. Göttingen 2004, 178–190, hier 190. 97 Siehe Völker-Rasor, Frühe Neuzeit (wie Anm. 24), 293–314.

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Mit Blick auf die Kritik seitens der Mediävistik wäre sie um ein besonderes Augenmerk auf Prozesse der ‚longue durée‘ zu ergänzen, vor allem durch eine Aufmerksamkeit für Schwellenzeiten – vor 1450/1500 und nach 1750/1800.98 Als Ergebnis könnte sich unter anderem die Einsicht durchsetzen, daß eine Erzählform wie der Fortuna-Roman des 15. Jahrhunderts seine Fortsetzung im Schelmenroman des 17. Jahrhunderts findet, daß sich noch die ‚schöne Literatur‘ des ausgehenden 18. Jahrhunderts aus den Denk- und Wissensbeständen der Frühen Neuzeit speist und der vielgescholtenen Gelegenheitsdichtung geneigt ist.99 Die prominenten ‚Literatur und-Studien‘ konnten diese und vergleichbare Kontinuitäten – Diskontinuitäten eingeschlossen – bereits für einzelne Wissensbereiche zeigen: für Rhetorik und Poetik100, für das Naturrecht101 und die Medizin102 beispielsweise. 5. Vor diesem Hintergrund möchte ich speziell für die germanistische Literaturwissenschaft eine textuelle oder mediale Komponente ergänzen. Hier wird nämlich immer wieder der ästhetizistische Einwand laut, bei Texten der Frühen Neuzeit handele es sich nicht um ‚schöne‘ Literatur, um Literatur, die höchsten Wertmaßstäben genüge.103 Eine Literaturwissenschaft, die sich den Jahrhunderten zwischen ca. 1450 und 1750 widmet, kann sich einen sol98

Dafür plädiert schon Klaus Garber, Fragen an eine neue kulturwissenschaftliche Kategorie (wie Anm. 14), 8 f. 99 Siehe dazu Stefanie Stockhorst, Fürstenpreis und Kunstprogramm. Sozial- und gattungsgeschichtliche Studien zu Goethes Gelegenheitsgedichten für den Weimarer Hof. (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 167.) Tübingen 2002. 100 Joachim Dyck (Hrsg.), Rhetorik der frühen Neuzeit. (Rhetorik, Bd. 10.) Tübingen 1991; Georg Braungart, Hofberedsamkeit. Studien zur Praxis höfisch-politischer Rede im deutschen Territorialabsolutismus. (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 96.) Tübingen 1988; Dietmar Till, Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004; Kevin Hilliard, Philosophy, Letters, and the Fine Arts in Klopstock’s Thought. (Bithell Series of Dissertations, Vol. 12.) London 1984; Katrin M. Kohl, Rhetoric, the Bible, and the Origin of Free Verse. (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Literaturgeschichte der germanischen Völker, Bd. 92. [216.]) Berlin/New York 1990; Joachim Knape, Poetik und Rhetorik in Deutschland 1300–1700. (Gratia, Bd. 44.) Wiesbaden 2006. 101 Barbara Bauer/Wolfgang G. Müller (Hrsg.), Staatstheoretische Diskurse im Spiegel der Nationalliteraturen von 1500 bis 1800. (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 79.) Wiesbaden 1998; Merio Scattola, Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ‚ius naturae‘ im 16. Jahrhundert. (Frühe Neuzeit, Bd. 52.) Tübingen 1999; Friedrich Vollhardt, Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. (Communicatio, Bd. 26.) Tübingen 2001; Otto Dann/Diethelm Klippel (Hrsg.), Naturrecht – Spätaufklärung – Revolution. (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 16.) Hamburg 1995; Pott, Reformierte Morallehren (wie Anm. 76). 102 Dazu der ‚Review Essay‘: Sandra Pott, Literatur und Medizin im 18. Jahrhundert: Von der erneuerten Fortschrittskritik zum ‚Medical Writing‘, in: Gesnerus 63, 2006, 127– 143. 103 Heinz Schlaffer, Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München/Wien 2002, 36 und passim.

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chen, dem ‚Paradigma‘ der Weimarer Klassik entlehnten Wertmaßstab nicht leisten. Sie wird umfassender ansetzen, populäre und gelehrte Texte, komplexe Text-Bild-Verknüpfungen wie die Emblem-Literatur und Traditionen des oralen Erzählens zu berücksichtigen haben.104 Vor allem für gelehrte Texte und Kontexte wird die Literaturwissenschaft ihr Handwerkszeug noch verbessern müssen, um auch nach der textuellen Verfaßtheit und der Bedeutung nicht-fiktionaler Texte fragen zu können. Beispielsweise könnte die Narratologie helfen, eine historisch-systematische Typologie auch wissenschaftlicher Textgattungen zu erstellen: Eine Literaturgeschichte der Medizin beispielsweise wäre ein ebenso reizvolles Projekt wie eine „Medizingeschichte der Literatur“.105 Darüber hinaus bietet die Geschichte der Lese- und Schreibverfahren ein umfangreiches Tätigkeitsgebiet, das von der Textgeschichte nicht zu trennen ist: Gelehrten- und Autorenbibliotheken106, Exzerpte, Manuskripte107, Übersetzungen108, der Buchmarkt109, gelehrte Netzwerke110 – all das bleibt zu erschließen, will sich der Texthistoriker umfassend über seinen Gegenstand in der Frühen Neuzeit informieren und dem

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Dazu Jan-Dirk Müller, Literarischer Text und kultureller Text in der Frühen Neuzeit am Beispiel des „Narrenschiffs“ von Sebastian Brant, in: Puff/Wild (Hrsg.), Perspektiven der Frühneuzeitforschung (wie Anm. 92), 81–101. Mit gutem Grund wurde deshalb im Rahmen des Elitenetzwerks Bayern ein Internationales Graduiertenkolleg über „Textualität in der Vormoderne“ eingerichtet (Ludwig-Maximilians-Universität München seit 2004). 105 Dazu Pott, Literatur und Medizin (wie Anm. 102). Vergleichbares gilt für andere Wissensgebiete, etwa die Jurisprudenz; siehe beispielsweise Michael Stolleis (Hrsg.), Juristische Zeitschriften. Die neuen Medien des 18.–20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1999. 106 Vorbildlich dafür: Hans-Georg Kemper/Uwe-K. Ketelsen/Carsten Zelle (Hrsg.), Barthold Heinrich Brockes (1680–1747) im Spiegel seiner Bibliothek und Bildergalerie. Mitarbeit: Christine Krotzinger. 2 Bde. (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 80.) Wiesbaden 1998. 107 Helmut Zedelmaier/Martin Mulsow (Hrsg.), Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. (Frühe Neuzeit, Bd. 64.) Tübingen 2001; Élisabeth Décultot (Ed.), Lire, copier, écrire. Les bibliothèques manuscrites et leurs usages au XVIIIe siècle. Paris 2003. 108 Geschichten der Übersetzung wären erst noch zu schreiben; einen ersten Ansatz für das in diesem Zusammenhang bedeutsame Frankreich des 17. Jahrhunderts legt Fritz Nies vor: Geschäft des Königs, Dichters, Hungerleiders: Übersetzerischer Literaturimport in Frankreichs Grand Siècle, in: GRM 53/3, 2003, 295–308. 109 Am Beispiel der Geheimliteratur des 18. Jahrhunderts und gestützt auf ein reiche Kenntnis von Archivalien Christine Haug, „Schlimme Bücher, so im Verborgenen herumgehn, thun mehr schaden, als die im öffentlichen Laden liegen…“ Literarische Konspiration und Geheimliteratur in Deutschland zur Zeit der Aufklärung, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 11, 2001/02, 11–63. 110 Holger Zaunstöck/Markus Meumann (Hrsg.), Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue Formen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung. Tübingen 2003; Jürgen Barkhoff/Hartmut Böhme/Jeanne Riou (Hrsg.), Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne. Köln u. a. 2004.

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interdisziplinären Gespräch stimulierende Diskussionsangebote unterbreiten. Zusammenfassend: Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen FrühneuzeitForschung und ihrer Kritik verfolgte mein Beitrag drei Strategien für die Konsolidierung des Frühneuzeit-Begriffs. Erstens musterte der Vortrag makrologische und mikrologische Epochenbegriffe, um ihre jeweiligen Chancen und Grenzen abzuwägen. Im Sinne einer zweiten Konsolidierungsstrategie habe ich ein Komponenten-Modell für die Jahrhunderte von ca. 1450 bis 1800 vorgeschlagen. Es soll Synergie-Effekte durch Differenzierung ermöglichen, indem es den Begriff der Frühen Neuzeit in seine Komponenten zerlegt und flexibel zu handhaben erlaubt. Zugleich will es – im Sinne einer dritten Konsolidierungsstrategie – Vermittlung zwischen den einzelnen Forschungsinteressen stiften, indem es die einzelnen Komponenten weniger als fixe Bestandteile des Begriffs denn als Arbeitsaufträge versteht. In diesem Sinne bleibt festzuhalten: Verteilungskämpfe zwischen Alt- und Neugermanistik helfen der Frühneuzeit-Forschung nicht weiter. Die Frühe Neuzeit ist eine Epoche aus eigenem Recht: eine Makroepoche der Mikroepochen – komplex und mit einer ausdifferenzierten Forschungslandschaft, die von einer zunehmenden „Entdifferenzierung“ bedroht ist.111 Wer international und interdisziplinär im Gespräch bleiben will, muß dies anerkennen und zur Konsolidierung eines eigenständigen Forschungsgebiets Frühe Neuzeit beitragen!

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Peter Strohschneider erörtert diese Problematik für die Mediävistik: Peter Strohschneider, Hochschulreform und disziplinärer Wandel. Mutmaßungen über Zustand und Zukunft der Altgermanistik, in: Zeitschrift für Germanistik NF. 15/3, 2005, 495–506, hier 505. Die Frühneuzeit-Forschung hat jedoch mit denselben Schwierigkeiten zu kämpfen.

Argument – Kunst – Affekt Bildverständnisse einer Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit Von

Ulrich Heinen In der Kunstgeschichte meint Frühe Neuzeit selten ein Konzept oder einen „Idealtypus“. Meist dient dieser Name nur als Sammelbegriff für den Zeitraum zwischen etwa 1400 und etwa 1800 in europäischer Sicht.1 Statt dessen hält man sich – und das ist keinesfalls ein Spezifikum der deutschen Kunstgeschichte – weiter an die Epochenbegriffe Renaissance, Manierismus, Barock und Rokoko. Da sie im 19. und frühen 20. Jahrhundert aus der Kunstgeschichte zeitweise auch in andere geisteswissenschaftliche Disziplinen exportiert worden waren, bewahren sie der Kunstgeschichte heute die Erinnerung an ihre verlorene Rolle als kulturhistorische Leitdisziplin.2

1

Zur Differenzierung von Epochenbegriffen als „Namen für historische Zeitalter“ und als „Idealtypen“, die auf bestimmte Zeiträume anwendbar sind, vgl. Ernst Cassirer, Einige Bemerkungen zur Frage der Eigenständigkeit der Renaissance, in: August Buck (Hrsg.), Zu Begriff und Problem der Renaissance. Darmstadt 1976, 212–221, hier 220; vgl. auch Klaus W. Hempfer, Probleme traditioneller Bestimmungen des Renaissancebegriffs und die epistemologische ‚Wende‘, in: ders. (Hrsg.), Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Literatur – Philosophie – Bildende Kunst. Stuttgart 1993, 9–45. Für Hinweise und Diskussion meiner Darstellung danke ich Christian Hecht, Roland Krischel, Sandra Richter, Gabriele Wimböck und Cordula van Wyhe. 2 Vgl. etwa: Rüdiger Zymner, Literarischer ‚Manierismus‘. Aspekte der Forschung, in: Colloquium Helveticum 20, 1994, 11–49, hier 11–14; Hans-Harald Müller, Die Übertragung des Barockbegriffs von der Kunstwissenschaft auf die Literaturwissenschaft und ihre Konsequenzen bei Fritz Strich und Oskar Walzel, in: Klaus Garber (Hrsg.), Europäische Barock-Rezeption. 2 Bde. Wiesbaden 1991, Bd. 1, 95–112; Martin Warnke, Die Entstehung des Barockbegriffs in der Kunstgeschichte, in: ebd. Bd. 2, 1207–1223. Vgl. auch Joseph Imorde, Barock und Moderne. Zum Problem zeitgebundener Geschichtsschreibung, in: Andreas Keul (Hrsg.), Barock als Aufgabe. Wiesbaden 2005, 179–212. Schon der dritte Band von Dehios Geschichte der deutschen Kunst führte für den fraglichen Zeitraum zwar die „Neuzeit“ im Titel, ergänzte dann aber im Untertitel gleich wieder die fraglichen Stilbegriffe; Georg Dehio, Geschichte der deutschen Kunst. 4 Bde. (erste Aufl. 1919) Berlin/Leipzig 1930–1934, Bd. 3: Die Neuzeit von der Reformation bis zur Auflösung des alten Reichs. Renaissance und Barock. Ähnlich: Martin Warnke, Spätmittelalter und frühe Neuzeit. 1400–1750. (Geschichte der deutschen Kunst, Bd. 2.) München 1999. Eher als Sammelbegriff ist wohl auch die Denomination der Professur für „Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit“ in Basel zu verstehen. Zur kunsthistorischen Diskussion um frühneuzeitliche Epochengrenzen vgl. besonders die Diskussion zur Renaissance als Epoche: Erwin Panofsky, Renaissance and Renas-

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Aber auch aus systematischen und methodischen Gründen haben Kunsthistoriker das Konzept Frühe Neuzeit bisher kaum als Epochensignatur übernommen und werden auch künftig den Umgang mit diesem Begriff sorgsam abwägen müssen. So ist Kunsthistorikern durch die methodische Aufmerksamkeit auf das sichtbare Einzelne und das Detail, die Kunstwerken als spezifischen Forschungsgegenständen allein angemessen ist3, die Skepsis gegenüber makrohistorischen Thesen immer schon eigen, die sich seit mehr als zehn Jahren auch in den eher auf sprachliche Quellen gerichteten sozialund kulturhistorischen Disziplinen gegen generalisierende Paradigmen einer Geschichte der Frühen Neuzeit und zugunsten mikrohistorischer Multiperspektivität und Methodenpluralismus entwickelt hat4. Vor allem aber steht die unmittelbare visuelle Evidenz der etablierten kunsthistorischen Epochenvorstellungen einer Subsumierung der Kunstwerke unter einen aus anderen Disziplinen entlehnten, medienunspezifischen Epochenbegriff entgegen. Für die Kunstgeschichte kann ein Konzept von Früher Neuzeit, das mehr sein soll als ein Aufweichen der Konturen zwischen Renaissance, Manierismus, Barock und Rokoko in einem zeitlichen Sammelbegriff, daher nur fruchtbar werden, wenn dabei die Sonderstellung des Mediums Bild und des Systems Kunst geachtet bleibt oder gar neu konturiert wird – und wenn dieses Konzept Phänomene anschaulich macht, die in Bild- und Kunstwerken der gesamten Epoche sichtbar werden. Auch die konzeptionelle Begründung einer Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit, die von der Medialität ihres Untersuchungsgegenstandes ausgeht, hat zunächst nach der bisherigen und der künftigen kunsthistorischen Rezeption der Paradigmen zu fragen, die den Konzepten von Früher Neuzeit zunächst von der Sozialgeschichte unterlegt wurden und dann seit den 1970er Jahren von der jungen interdisziplinären Frühneuzeitforschung rezipiert – später kritisiert und diversifiziert – wurden. Unabhängig hiervon ist dann

cences in Western Art (1960). New York 1972; Martin Warnke, Die erste Seite aus den „Viten“ Giorgio Vasaris. Der politische Gehalt seiner Renaissancevorstellung, in: Kritische Berichte 5, 1977, 5–28; Ursula Link-Heer, Giorgio Vasari oder der Übergang von einer Biographien-Sammlung zur Geschichte einer Epoche, in: Hans Ulrich Gumbrecht u. a. (Hrsg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Frankfurt am Main 1985, 73–88. 3 1925 zugespitzt und auf die Grundlagen kulturwissenschaftlicher Forschung insgesamt ausgedehnt in Aby Warburgs Diktum „Der liebe Gott steckt im Detail.“ Vgl. Dieter Wuttke, Aby M. Warburgs Methode als Anregung und Aufgabe. Öffentlicher Abendvortrag aus Anlaß des XIV. Deutschen Kunsthistorikertages gehalten am 7. Oktober 1974 im Auditorium Maximum der Universität Hamburg. 2. Aufl. Göttingen 1978, 41; vgl. auch Rainer Hering, „Der liebe Gott steckt im Detail“ – Aby Warburg und die Kulturwissenschaftliche Bibliothek, in: Auskunft 14, 1994, 92–105. 4 Zu den neueren Entwicklungen mikrohistorischer Sichtweisen und Methoden vgl. etwa Sandra Pott, Perspektivierungen der Frühneuzeit-Forschung, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (http://iasl.uni-muenchen.de/).

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aber zu prüfen, welche Gemeinsamkeiten unabhängig von solchen Paradigmenimporten an Kunstwerken dieses Zeitraums anschaulich werden und sich ohne Verlust von Anschaulichkeit generalisieren lassen. Auf dieser Grundlage kann darstellbar werden, was Kunst zur Konstitution von Früher Neuzeit als Epoche beitrug, was die Kunstgeschichte zur interdisziplinären Kritik an den geschichtswissenschaftlichen Konzepten von Früher Neuzeit leistet und wie sie an der Fortentwicklung interdisziplinärer Konzepte von Früher Neuzeit mitwirken kann.

I. Kunstgeschichte und Sozialgeschichte der Frühen Neuzeit 1. Zivilisationsprozeß (Norbert Elias) Ob die Rationalisierung und die „Entzauberung der Welt“ bei Max Weber oder der Zivilisationsprozeß, der mit der Dialektik von Machtkonkurrenz und Machtagglomeration in der absoluten Monarchie, mit sozialer Differenzierung, Disziplinierung und Individualisierung einhergehe, bei Norbert Elias, ob die Sozialdisziplinierung von oben bei Gerhard Oestreich, ob Michel Foucaults Disziplinierung durch anonyme Machtinstanzen oder die Übertragung solcher Disziplinierungsparadigmen auf die Konfessionalisierungsforschung und deren Hervorhebung von Kirchenzucht: den lange klassischen und mittlerweile kritisch betrachteten Frühneuzeit-Konzepten, die zunächst in der Sozialgeschichte zur „Frühen Neuzeit“ entworfen wurden, ist ein leitendes Interesse gemeinsam: Sie rekonstruieren in dieser Epoche den langfristigen Wandel und die Ausbreitung von Verhaltensweisen und gesellschaftlichen Strukturen zur Grundlegung einer europäischen Moderne, die sie durch staatliches Gewaltmonopol, internalisierte Kontrolle sowie ökonomische und soziale Differenzierung gekennzeichnet sehen, zeigen dadurch eine funktionalistische Begründung der europäischen Staatsbildungsprozesse auf und konstruieren so der europäischen Moderne zugleich eine teleologische Orientierung.5 Sie alle behaupten mit je unterschiedlicher Ak-

5 Einen Überblick gibt Winfried Schulze, Von den großen Anfängen des neuen Welttheaters. Entwicklung, neuere Ansätze und Aufgaben der Frühneuzeitforschung, in: GWU 44, 1993, 3–18. Zur Geschichte des Begriffs „Frühe Neuzeit“ seit seiner ersten bekannten Verwendung 1939 vgl. auch ders., Die Frühe Neuzeit zwischen individueller Erfahrung und strukturgeschichtlichem Zugriff. Erfahrungen, Defizite, Konzepte, in: Helmut Neuhaus/Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas. Festschrift für Johannes Kunisch zur Vollendung seines 65. Lebensjahres. Berlin 2002, 71–90, hier 74–81. Zur Kritik am Eurozentrismus des Konzepts „Frühe Neuzeit“ vgl. Renate Dürr/Gisela Engel/Johannes Süßmann (Hrsg.), Eigene und fremde Frühe Neuzeiten. Genese und Geltung eines Epochenbegriffs. München 2003.

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zentuierung eine funktionale, oft geradezu kausale Verknüpfung von langfristigen unbewußten Wirkkräften in Politik, Gesellschaftsordnung, Kultur und Individualpsychologie, die wechselwirkend zur Stabilisierung der Vormoderne als Systemeffekt beigetragen haben sollen. Aufgenommen wurden Teilaspekte der sozialhistorischen Theoriebildung zur Frühen Neuzeit in der kunsthistorischen Spezialforschung insbesondere dort, wo die Paradigmen solcher Frühneuzeit-Konzepte in unmittelbarem Bezug auf Medien und Werke ausgebildet wurden, die auch etablierter Gegenstand von Kunstgeschichte sind – obwohl etwa Elias seinerseits neuere kunsthistorische Methoden und Erkenntnisse weitgehend ignoriert hatte.6 So hat etwa die Analyse der symbolischen Darstellung und Praxis von Macht in höfischen Wohnstrukturen und protokollarischem Zeremoniell, an denen Elias in der 1933 als Habilitationsschrift vorgelegten, aber erst 1969 erschienen „Höfischen Gesellschaft“ die Grundlage für seine Theorie vom frühneuzeitlichen Zivilisationsprozeß analysiert hat7, auch das kunsthistorische Verständnis von Hofkunst geprägt, als in den späten 1970er Jahren eine breite Elias-Rezeption in den kulturhistorischen Disziplinen einsetzte. In Elias’ These, daß eine zunehmende Verfeinerung und Ausdifferenzierung der Hofkultur – vermittelt über die forcierte Konkurrenz um Teilhabe an Macht – in funktionalem Konnex stehe mit der „Verhöflichung der Krieger“, einer fortschreitenden Verwandlung von Fremd- in Selbstzwänge sowie mit zunehmender Affektkontrolle als Grundlage der Effektivierung königlicher Herrschaft, fand dieses Segment von Kunstgeschichte ein grundlegendes Interpretament.8 Die Aufnahme von Elias’ These fiel gewiß um so leichter, als sie 6 Vgl. Konrad Hoffmann, Vom Leben im späten Mittelalter. Aby Warburg und Norbert Elias zum „Hausbuchmeister“, in: Städel Jb. NF. 12, 1989, 47–58; hierzu Birgit Franke/ Barbara Welzel, Kulturgeschichte, Hofforschung und die Kunst der burgundischen Niederlande, in: Claudia Opitz (Hrsg.), Höfische Gesellschaft und Zivilisationsprozess. Köln u. a. 2005, 59–86, hier 64. Hinsichtlich der Analyse von Funktions- und Bewegungsdiagrammen aus der Architektur seiner Zeit in die Analyse historischer Architektur ist Elias sowie etwa der Analyse der Vorstrukturieruung von Geschlechterverhältnissen durch Wohnstrukturen allerdings der akademischen Kunstgeschichte voraus; vgl. Jutta Held, Norbert Elias und die Kunstgeschichte, in: Opitz (Hrsg.), Höfische Gesellschaft, 105–118, hier 113, 115. 7 Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Neuwied/Berlin 1969. 8 Die Begründung der Paradigmen der von Elias fokussierten französischen Hofkultur des 17. Jahrhunderts wurde dabei allerdings zunehmend in die Hofkultur des späten Mittelalters zurückdatiert. Adaptionen und Revisionen – insbesondere der kunst- und kulturhistorischen Aspekte – etwa bei Jürgen Freiherr von Kruedener, Die Rolle des Hofes im Absolutismus. Stuttgart 1973; Hubert Ch. Ehalt, Ausdrucksformen absolutistischer Herrschaft. Der Wiener Hof im 17. und 18. Jahrhundert. München 1980; August Buck u. a. (Hrsg.), Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Hamburg 1981; Samuel F. Sampson, The Formation of European National States, the Elaboration of Functional Interdependence Networks, and the Genesis of Modern Self-Control, in: Contemporary Sociology 13, 1984, 22–27; Markus Reisenleitner, Die Bedeutung der Werke und Theorien

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zum Verstehen von Hofkunst im Sinne von Erwin Panofskys „Dokumentsinn“9 in das etablierte Schema der ikonologischen Methode eingetragen werden konnte. Der Kreis schließt sich, bedenkt man, daß Elias seine Habilitationsschrift bei Karl Mannheim verfaßt hatte, aus dessen Wissenssoziologie Panofsky die Ikonologie als einflußreichste kunsthistorische Methode des 20. Jahrhunderts entwickelte und insbesondere den Begriff des „Dokumentsinns“ entlehnte.10 Die von Elias aus der „Höfischen Gesellschaft“ entfaltete, 1939 publizierte These vom „Prozeß der Zivilisation“, der ausgehend von den weltlichen Eliten als notwendige Vorbedingung der Moderne die gesamten Gesellschaften der Frühen Neuzeit durchdrungen habe11, wird in der Kunstgeschichte dagegen meist nur herangezogen, um Patronagebeziehungen auszuleuchten12 oder um motivische Besonderheiten aus Umbrüchen des ZivilisationsNorbert Elias’ für die Erforschung der Frühen Neuzeit, in: Frühneuzeit-Info 1, 1990, 47–58; Volker Bauer, Die höfische Gesellschaft in Deutschland von der Mitte des 17. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Tübingen 1993; Jeroen Duindam, Myths of Power. Norbert Elias and the Early Modern European Court. Amsterdam 1995; ders., Norbert Elias und der frühneuzeitliche Hof. Versuch einer Kritik und Weiterführung, in: HA 3, 1998, 370–387; Reinhardt Butz u. a. (Hrsg.), Hof und Theorie. Annäherungen an ein historisches Phänomen. Köln/Weimar 2004; Opitz (Hrsg.), Zivilisationsprozess (wie Anm. 6). 9 Erwin Panofsky, Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst, in: ders., Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Berlin 1985, 85–97, hier 93–95; vgl. Martin Knauer, „Dokumentsinn“ – „historischer Dokumentsinn“, Überlegungen zu einer historischen Ikonologie, in: Brigitte Tolkemitt/Rainer Wohfeil (Hrsg.), Historische Bildkunde. Probleme – Wege – Beispiele. (ZHF, Beih. 12.) Berlin 1990, 38–47, bes. 41–43. 10 Vgl. Joan Hart, Erwin Panofsky and Karl Mannheim. A Dialogue on Interpretation, in: Critical Inquiry 19/3, 1993, 534–566. 11 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. 2. Aufl. Bern u. a. 1969. Zu Rezeption und Kritik vgl. Gerd Schwerhoff, Zivilisationsprozeß und Geschichtswissenschaft. Norbert Elias’ Forschungsparadigma in historischer Sicht, in: HZ 266, 1998, 561–605; Jon R. Snyder, Norbert Elias’s, ,The Civilizing Process‘ today. The Critique of Conduct, in: Giorgio Patrizi/Amedeo Quondam (Eds.), Educare il corpo, educare la parola nella trattistica del Rinascimento. Rom 1998, 23–41; Michael Hinz, Zur Affektgeladenheit und zum Bedeutungswandel des Zivilisationsbegriffs. Norbert Elias, Wilhelm E. Mühlmann und Hans Peter Duerr, in: Annette Treibel u. a. (Hrsg.), Zivilisationstheorie in der Bilanz. Beiträge zum 100. Geburtstag von Norbert Elias. Opladen 2000, 71–103; Helmut Kuzmics, Fragen an das Werk von Norbert Elias. Einige Kriterien zur kritischen Überprüfbarkeit der Zivilisationstheorie, in: ebd. 261–284; Gerd Schwerhoff, Criminalized Violence and the Civilizing Process. A Reappraisal, in: Crime, Histoire et Société 6, 2002, 103–126; siehe auch die unten angegebene Literatur in Anm. 22. 12 Vgl. etwa Bram Kempers, From Craftsman to Gentleman. Renaissance Civilisation, the Sociology of Art, and Elias, in: Soziologie in der Gesellschaft. Referate aus den Veranstaltungen der Sektionen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, der Adhoc-Gruppen und des Berufsverbandes Deutscher Soziologen beim 20. Deutschen Soziologentag. Bremen 1980, 805–809; ders., Painting, Power and Patronage. The Rise of the Professional Artist in the Italian Renaissance. London 1992.

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prozesses zu erklären. So wurden etwa in niederländischen Genreszenen Gesten, die seit den späten 1960er Jahren als moralisch intendierte erotische Anspielungen interpretiert worden waren, nun als Dokumente der bei Elias beschriebenen Zivilisierung der Eliten gelesen.13 Oder ungewöhnliche Ikonographien etwa beim Hausbuchmeister oder bei Hieronymus Bosch wurden – auch in durchaus kritischer Auseinandersetzung mit Elias’ Fixierung der höfischen Gesellschaft auf das 17. und 18. Jahrhundert – als Zeugnisse sozialen Wandels am Ende des Mittelalters gedeutet.14 Die Vorlage für solche Deutungsmuster hat Elias mit seiner Deutung von Watteaus „Einschiffung nach Kythera“ (Abb. 1) als Symbol eines Umbruchs zwischen der strengen Disziplinierung des Staates Ludwigs XIV. und der heraufziehenden bürgerlichen Gesellschaft selbst gegeben.15 Fundamentaler ansetzend und Elias mit spezifischen Thesen der kritischen Kunstgeschichte weiterentwickelnd, versuchte Martin Warnke 1979 anhand von Poussins „Urteil Salomons“ (Abb. 2) einem Kunstwerk das Potential zuzuschreiben, den von Elias beschriebenen Zivilisationsprozeß durch den Entwurf sozialer Utopien avantgardistisch anschaulich zu machen und damit sogar als normenprägende Orientierungsinstanz überhaupt erst zu befördern. Mitten in einer von höchster sozialer Spannung und machtlosem Königtum geprägten Situation habe Poussin den König als mächtigen Richter zwischen antagonistischen Klassen konzipiert, hier vertreten durch die beiden als arm bzw. reich deutlich charakteristierten Mütter. Anders als in der Gegenwart, in der Kunst die Ergebnisse des von Elias beschriebenen Zivilisierungsprozesses beständig zertrümmere und widerlege, die sie in der Frühen Neuzeit entworfen und prospektiv in die gesellschaftliche Entwicklung eingespeist hätten, habe das Kunstwerk damals den sozialen, politischen, gesellschaftlichen Wandel – hier den damals noch nicht vollzogenen Wandel zum absoluten Königtum – avantgardistisch vorweggenommen und sogar angestoßen.16 Eine Liste von Phänomenen frühneuzeitlicher Kunst, die der Zivilisierungsthese Elias’ zu entsprechen scheinen, präsentierten Jutta Held und Norbert Schneider 1981 zusammen mit einer dogmatisch-marxistischen Kri13

Vgl. Nanette Salomon, From Sexuality to Civility. Vermeer’s Women, in: Studies in the History of Art 55, 1998, 308–325. 14 Vgl. Hoffmann, Hausbuchmeister (wie Anm. 6); Paul Vandenbroeck, Jheronimus Bosch. De verlossing van de wereld. Gent/Amsterdam 2002; vgl. auch Franke/Welzel, Kulturgeschichte (wie Anm. 6), hier 64 Anm. 11. 15 Norbert Elias, Watteaus Pilgerfahrt zur Insel der Liebe. Frankfurt am Main 2000. 16 Martin Warnke, Poussins ‚Urteil des Salomo‘. Ein gemalter Königsmechanismus, in: ders., Künstler, Kunsthistoriker, Museen. Beiträge zu einer kritischen Kunstgeschichte. Luzern u. a. 1979, 35–44; eine dogmatisch-marxistische Kritik an Warnkes Versuch bei Jutta Held/Norbert Schneider, Was leistet die Kulturtheorie von Norbert Elias für die Kunstgeschichte?, in: Jutta Held (Hrsg.), Kunst und Alltagskultur. Köln 1981, 55–71, hier 63–66.

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Abb. 1: Antoine Watteau: Die Einschiffung nach Kythera, 1717, Öl auf Leinwand, 129 x 194 cm, Berlin, Schloß Charlottenburg.

Abb. 2: Nicolas Poussin: Das Urteil Salomons, 1649, Öl auf Leinwand, 100 x 150 cm, Paris, Louvre.

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tik der Thesen Elias’: Die Etablierung der perspektivischen Darstellung gehe – der Univeralität dieser Darstellungsregel wegen – mit den von Elias festgestellten Universalisierungstendenzen des Absolutismus sowie – der Subjektivierung des perspektivischen Blickes wegen – mit der ebenfalls bei Elias bemerkten Individualisierungstendenz der Frühen Neuzeit zusammen; zum anderen brächte sie die Bildfiguren, passend zu der von Elias konstatierten Distanzierung der Subjekte, in vermeßbare Distanzen. Die Steigerung des Affektausdrucks von der mittelalterlichen zur barocken Kunst entspreche sowohl als Auslotung „der Skala und Spannweite der affektiven Werte mit dem Ziel der Affektbeherrschung und -kontrolle“ als auch als Kanalisierungsinstrument „für libidinöse Wunschvorstellungen“ der Zivilisierungsthese. Oder der Übergang von den üppigen flämischen Stilleben zu den karg und abstrakter komponierten nordniederländischen korreliere mit dem Übergang „von einem feudal-ontologischen zu einem kapitalistisch-ästhetischen Kunstbegriff“.17 Abgesehen von solchen solitären Ansätzen der kritischen Rezeption ist in der Kunstgeschichte die These vom Zivilisationsprozeß zwar oft nebenbei präsent, bleibt aber meist ohne grundlegende Wirkung auf epochenweite kunsthistorische Konzepte.18 So betont etwa Thomas Kircher in seiner 1991 erschienenen wichtigen Habilitationsschrift zur französischen Kunsttheorie und -praxis des visuellen Affektausdrucks des 17. und 18. Jahrhunderts mit Bezug auf Elias zwar überzeugend, daß die mit der Rationalisierung der Affekte einhergehende Systematisierung der psychologischen Reflexion auch die Ausdruckstheorie und -praxis der Kunst geprägt habe19, doch bleibt diese Bemerkung sogar bei ihm weitgehend isoliert. So blieb bisher ungeprüft, ob nicht auch andere Teilaspekte der französischen Affektkunst um 1700 Elias’ These vom Zivilisationsprozeß zugeord17

Ebd.; diesen Ansatz fortführend: Held, Elias (wie Anm. 6), 105–118. Helds und Schneiders materialistische Sicht auf Phänomene frühneuzeitlicher Kunst schließt zudem an bei Frederick Antal, Florentine Painting and Its Social Background. The Bourgeois Republic before Cosimo de’ Medici’s Advent to Power: XIV and Early XV Centuries. London 1947; Arnold Hauser, Der Manierismus. Die Krise der Renaissance und der Ursprung der modernen Kunst. München 1964, hier bes. T. 1, Kap. 7 (wieder als ders., Der Ursprung der modernen Kunst und Literatur. Die Entwicklung des Maniersimus seit der Krise der Renaissance. München 1979, 93–113). 18 Daß hierfür eine Fixierung der Kunstgeschichte auf „die großen Werke als Vergegenständlichungen einzelner Künstler“ verantwortlich sei, darf man zumal angesichts des Fehlens einer breiteren Elias-Rezeption auch in solchen kunsthistorischen Studien bezweifeln, die sich Gestaltungen von weniger bedeutenden Künstlern widmen – so aber Held/Schneider, Kulturtheorie (wie Anm. 16). 19 Thomas Kircher, L’expression des passions. Ausdruck als Darstellungsproblem in der französischen Kunst und Kunsttheorie des 17. und 18. Jahrhunderts. Mainz 1991, 73–79. Vgl. auch den Bezug auf Elias in der Erörterung der Affektsystematik Le Brun’s bei Norman Bryson, Word and Image. French Painting of the Ancien Régime. Cambridge 1981, 29–57.

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Abb. 3:

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Carles Le Brun: L’amour simple, 1668, Zeichnung, Paris, Louvre.

net werden können. So wäre zu untersuchen, ob sich die Funktion der von Kircher festgestellten Standardisierung von Affekttheorie und -praxis in Frankreich um 1700 (Abb. 3) und die an der französischen Akademie konzipierte Disziplinierung der Bilder etwa als Einpassung in die von Elias analysierten rationalisierten Effizienzmechanismen der zunehmend zentralisierten politischen und ökonomischen Macht sowie in die daran partizipierende gesellschaftliche und ökonomische Differenzierung, Komplexitätssteigerung und Expansion begreifen läßt. Zudem könnte der rationalisierten Praxis des medialen Affektausdrucks möglicherweise ein Anteil an der von Elias diagnostizierten Steigerung und Internalisierung gesellschaftlicher Affektkontrolle zuerkannt werden. Was, so wäre zu fragen, trug die Inszenierung von körperlichen und sozialen Bloßstellungen im Bild zu den wachsenden Peinlichkeitsschwellen in der höfischen Gesellschaft bei, die Elias so sehr betont? Auch die systemische Funktion der akademisch trainierten, regulierten und manufakturartig organisierten Darstellungen von Leidenschaften, die auch halböffentlich und öffentlich präsentiert und massenmedial verbreitet wurden, verdient als Transfermittel der von Elias festgestellten akkulturierenden Diffusion der Affektzivilisierung vom Hof in die Breite der Gesellschaft gewiß ebenso kunsthistorische Aufmerksamkeit wie die gesamtgesellschaftliche Binde- und Strukturierungskraft der

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Emotionen, die gemäß den Regeln der emotionsrepräsentierenden Künste performativ moduliert wurden.20 Die Interdependenz zwischen der medialen Darstellung von Gewalt – oder auch gerade deren medialer Kodifizierung oder sukzessiver Verdrängung – und der Konzentration eines staatlichen Gewaltmonopols, die Elias mit der zunehmend individualisierten Affektkontrolle einhergehen sieht, sowie die Bedeutung medialisierter Gewalt für die Herstellung und Kommunikation von Herrschaftssicherheit erscheint ebenso wie die Konsequenzen der immer neu austarierten Grenzsetzungen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit und der Distanzierung der Subjekte, die Elias mit der Steigerung und Internalisierung der Affektkontrolle einhergehen sah, für die Wandlung von Bildgattungen und deren Rezeptionsbedingungen als kaum wahrgenommener Impuls für eine künftige Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit. Der Individualisierungs-Schub schließlich, der sich für Elias mit der Internalisierung der Affektkontrolle verband, fordert geradezu die noch ausstehende Verschmelzung mit dem in der Künstlersoziologie für die Frühe Neuzeit besonders von Martin Warnke vertretenen Paradigma einer zunehmenden Autonomisierung von Kunst und Künstler.21 Die Wechselwirkungen zwischen der Entwicklung der Formen, Theorien, Produktions- und Distributionsumstände von Kunst und den von Elias für die Epoche diagnostizierten Prozessen wurde in der Kunstgeschichte also zwar in Teilaspekten studiert, doch ist das kunsthistorische Potential der von Elias angenommenen Paradigmen der Epoche – ebenso wie das der daran entzündeten sozialhistorischen Kritik – noch lange nicht ausgeschöpft. 2. Sozialdisziplinierung (Gerhard Oestreich) Mit Elias’ Überlegungen zum Prozeß der Zivilisation ist das Paradigma der „Sozialdisziplinierung“ eng verwandt, mit dem Gerhard Oestreich 1969 die Entwicklung des „frühneuzeitlichen Machtstaates“ als Vorbereitung des modernen Staates erläuterte.22 Zwischen der wachsenden Sozialdisziplinierung 20

Mit Blick auf die konstitutive Funktion für die französische Gesellschaft um 1700 stellt diese Fragen jetzt die Theaterwissenschaftlerin Doris Kolesch, Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV. Frankfurt am Main u. a. 2006. Vgl. auch das Kapitel „Der Körper und die ‚Leidenschaften der Seele‘“ bei Jutta Held, Französische Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts und der absolutistische Staat. Le Brun und die ersten acht Vorlesungen an der königlichen Akademie. Berlin 2001, 139–178. 21 Vgl. Martin Warnke, Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers. 2. Aufl. Köln 1996 (1. Aufl. 1985). 22 Gerhard Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: VSWG 55, 1969, 329–347 (wiederabgedr. in: ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze. Berlin 1969, 179–197). Zu den Konzepten der Sozialdisziplinierung – auch mit Bezug auf Elias und Foucault – vgl. Stefan Breuer, Sozialdisziplinierung. Probleme und Problemverlagerungen eines Konzepts bei Max Weber, Gerhard Oestreich und

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– verstanden als gleichzeitige Steigerung von innerlicher Selbstregulierung und obrigkeitlicher Disziplinierung – und der Ausdehnung der machtstaatlichen Sphäre durch erhöhte Regelungsdichte und verstärkte Rationalisierung staatlicher Verwaltung erkennt Oestreich für die Frühe Neuzeit ein enges Wechselverhältnis. Hatte Max Weber die Bedeutung der protestantischen Ethik für die Rationalisierung der Epoche besonders betont23, so begreift Oestreich Rationalisierung und Sozialdisziplinierung als konfessionsunabhängige Wirkungen der Rezeption der antiken Stoa. Bereits in seiner 1954 vorgelegten Habilitationsschrift hatte er die Interdependenz von individueller Selbstkontrolle und frühneuzeitlichem Machtstaat in der ethischen und politischen Lehre des niederländischen Neostoikers Justus Lipsius (1547–1606) begründet gesehen.24 In der Kunstgeschichte hat Oestreichs Paradigma der „Sozialdisziplinierung“ kein nennenswertes Echo gefunden. Dies liegt gewiß auch daran, daß Michel Foucault, in: Christoph Sachße/Florian Tennstedt (Hrsg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Frankfurt am Main 1986, 45–69; Winfried Schulze, Gerhard Oestreichs Begriff „Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit“, in: ZHF 14, 1987, 265– 302; Günther Lottes, Disziplin und Emanzipation. Das Sozialdisziplinierungskonzept und die Interpretation der frühneuzeitlichen Geschichte, in: Westfälische Forschungen 42, 1992, 63–74, Ralf Georg Bogner, Arbeiten zur Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit. Ein Forschungsbericht für die Jahre 1980–1994. Erster Teil, in: Frühneuzeit-Info 7, 1996, 127–142; Christa Müller, Arbeiten zur Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit. Ein Forschungsbericht für die Jahre 1980–1994. Zweiter Teil, in: Frühneuzeit-Info 7, 1996, 240–252; Sabine Vogel, Sozialdisziplinierung als Forschungsbegriff?, in: Frühneuzeit-Info 8, 1997, 190–193; Wolfgang Reinhard, Sozialdispziplinierung – Konfessionalisierung – Modernisierung. Ein historiographischer Diskurs, in: Nada Boškovska (Hrsg.), Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft. Forschungstendenzen und Forschungserträge. Paderborn u. a. 1997, 39–55; Heinz Schilling (Hrsg.), Institutionen, Instrumente und Akteure sozialer Kontrolle und Disziplinierung im frühneuzeitlichen Europa. (Ius Commune, Sonderh. 127.) Frankfurt am Main 1999; Ulrich Behrens, „Sozialdisziplinierung“ als Konzeption der Frühneuzeitforschung. Genese, Weiterwirkung und Kritik. Eine Zwischenbilanz, in: Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft 12, 1999, 35–68. 23 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Tübingen 1904. Zur Kritik an dieser These vgl. etwa Manfred Bergler, Die Kontroverse zu Max Webers These über die Entstehung des modernen westlichen Kapitalismus, in: Zs. für Religions- und Geistesgeschichte 39, 1987, 24–46; James A. Henretta, The Weber Thesis Revisited: The Protestant Ethic and the Reality of Capitalism in Early America, in: ders., The Origins of American Capitalism. Boston 1991, 35–70. 24 Gerhard Oestreich, Justus Lipsius als Theoretiker des neuzeitlichen Machtstaates, in: ders., Geist (wie Anm. 22); ders., Politischer Neustoizismus und Niederländische Bewegung in Europa und besonders in Brandenburg-Preußen, in: ebd. 101–156; ders., Strukturprobleme (wie Anm. 22), hier 190, 194; ders., Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius (1547–1606). Der Neustoizismus als politische Bewegung. Hrsg. v. Nicolette Mout. (Habilitationsschrift Berlin 1954). Göttingen 1989 (dort auch die Einleitung von N. Mout); hieran anschließend Günter Abel, Stoizismus und Frühe Neuzeit. Zur Entstehung modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik. Berlin/New York 1978; vgl. die differenzierte Sicht bei Jan Waszink, Introduction, in: ders. (Ed.), Justus Lipsius. Politica. Six Books of Politics or Political Instruction. Assen 2004, 1–213, hier 49–79, bes. 10–14.

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Oestreich seine Theorie anders als Elias ohne Bezüge zu bildenden Künsten entwickelte. Die geistesgeschichtliche Verankerung von Oestreichs These hätte aber einen Brückenschlag zwischen den Disziplinen ermöglicht, der bis heute ausgeblieben ist. Denn ausgerechnet Philip Rubens (1574–1611), der Bruder des Malers, war Lieblingsschüler des Lipsius, und auch Peter Paul Rubens (1577–1649) selbst verehrte den niederländischen Philosophen und Philologen zeitlebens.25 Es wäre daher zu erwarten gewesen, daß Oestreichs Sozialdisziplinierungsthese an Rubens’ Malerei kunsthistorisch konkretisiert und an den visuellen Quellen kritisch geprüft und modifiziert worden wäre. Schon der Wehrmacht-Kunsthistoriker Hans-Gerhard Evers hatte aber 1942 – als Reflex auf seinen eigenen, nationalsozialistisch grundierten Bruch mit dem individualistischen Ästhetizismus des George-Kreises – ohne triftigen Grund Rubens und seinem Kreis einen Generationenkonflikt mit Lipsius angedichtet.26 Fatalerweise hat dann gerade die kritische Kunstgeschichte seit den 1960er Jahren diese Behauptung zu einem Kernparadigma einer ganzen Generation „kritischer“ deutscher Kunstgeschichte erhoben.27 Der

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Zu Rubens’ Lipsiusverehrung zuletzt Ulrich Heinen, in: ders./Nils Büttner, Peter Paul Rubens. Barocke Leidenschaften. Ausstellungskatalog Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum, 8. 8.–31. 10. 2004. München 2004, passim; Ulrich Heinen, Rubens’ Garten und die Gesundheit des Künstlers, in: Wallraf-Richartz-Jb. 65, 2004, 71–182; ders., Emotionales Bild-Erleben in der Frühen Neuzeit. Ein neurobiologischer Systematisierungsversuch, in: Rüdiger Zymner/Manfred Engel (Hrsg.), Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder. Paderborn 2004, 356–382; Andreas Thielemann, Sprechende Köpfe. Seneca-Bildnisse um 1600, in: Max Kunze/ Henning Wrede (Hrsg.), 300 Jahre ‚Thesaurus Brandenburgicus‘. Archäologie, Antikensammlungen und antikisierende Residenzausstattungen im Barock. Akten des Internationalen Kolloquiums Schloss Blankensee, 30. 9.–2. 10. 2000. München 2006, 167–206. 26 Hans Gerhard Evers, Peter Paul Rubens. München 1942, bes. 94; zu Evers’ Biographie vgl. Christane Fork, Art. „Evers, Hans Gerhard“, in: Peter Betthausen u. a. (Hrsg.), Metzler-Kunsthistoriker-Lexikon. Zweihundert Porträts deutschsprachiger Autoren aus vier Jahrhunderten. Stuttgart/Weimar 1999, 80–82, hier 80. – Evers’ Fehlannahme war ein folgenschwerer Rückschritt hinter die zutreffenden, allerdings sehr knappen Bemerkungen zur positiven Bedeutung von Lipsius für Rubens bei Georg Misch in den Anmerkungen zu Wilhelm Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. Abhandlungen zur Geschichte der Philosophie und Religion. (Wilhelm Diltheys Gesammelte Schriften, Bd. 2.) Leipzig/Berlin 1914, 523 Anm. zu 438, Zeile 17; Maurits Sabbe, Het Geestleven in Antwerpen in Rubens’ Tijd, in: Floris Prims, Rubens en zijne eeuw. Brüssel 1927, 63–172, hier 139–144; Emil Kieser, Antikes im Werke des Rubens, in: Münchner Jb. der Bildenden Kunst NF. 10, 1933, 110–137, hier 137. 27 Martin Warnke, Kommentare zu Rubens. Berlin 1965, insbes. 33–38; ders., Das Bild des Gelehrten im 17. Jahrhundert, in: Sebastian Neumeister/Conrad Wiedemann (Hrsg.), Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. 2 Bde. Wiesbaden 1987, Bd. 1, 1–31. Evers’ Unterstellung wurde an Warnke übermittelt über Hans Kauffmann, Peter Paul Rubens im Lichte seiner Selbstzeugnisse, in: WallrafRichartz-Jb. 17, 1955, 181–188, zitiert nach: Hans Kauffmann, Peter Paul Rubens. Bildgedanke und künstlerische Form. Aufsätze und Reden. 2. Aufl. Berlin 1978, 51–62, hier 57–59.

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vermeintliche Widerspruch zwischen der auf heftige Affekte zielenden Malerei des Peter Paul Rubens sowie seinem privaten Leben und seinem selbstbewußten öffentlichen Engagement einerseits und der Affektdisziplinierung und unmenschlichen Kälte des kalkulierten fürstlichen Machterhalts andererseits, auf die man die Schriften des Lipsius in der kunsthistorischen Barockforschung mit Oestreich immer wieder als ihren vermeintlich „stoischen“ Kern reduziert, erleichterte das lange Fortleben dieser Fehlannahme. Die exemplarische Untersuchung des Beitrags von Rubens zur frühneuzeitlichen Modernisierung blieb daher ebenso aus wie die Untersuchung der konstitutiven Bedeutung der Stoa für Rubens und andere neostoisch inspirierte Künstler. Um die durchgehende Nähe von Lipsius’ Philosophie und Rubens’ Kunst zu erfassen und so die epochale Tragweite der stoischen Philosophie auch für die Entwicklung kunsthistorischer Paradigmen von Früher Neuzeit an einem herausgehobenen Exempel in Nahsicht zu prüfen, ist daher eine Revision von Rubens’ Werk im Kontext einer gründlichen und vorurteilsfreien Relektüre der Schriften des Lipsius, ihrer Quellen und Rezeptionen erforderlich.28 Mit neuem Blick für die vielfältigen Modernisierungsimpulse der Neostoa ist zugleich die Fixierung des Oestreich’schen Frühneuzeitparadigmas auf den „neuzeitlichen Machtstaat“ aufzuheben, um die Neostoa – etwa auf der Grundlage eines langfristig angelegten Projektes von Andreas Thielemann – auch für die Kunstgeschichte als eine integrierende kulturhistorische Gesamtbewegungen der Frühen Neuzeit erst noch zu entdecken, wie es für die Literaturwissenschaft der Frühen Neuzeit seit langem vertraut ist.29

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Hierzu Ulrich Heinen, Haut und Knochen – Fleisch und Blut. Rubens’ Affektmalerei, in: ders./Andreas Thielemann (Hrsg.), Rubens Passioni. Kultur der Leidenschaften im Barock. Göttingen 2001, 70–109; Thomas Noll, ‚Der sterbende Seneca‘ des Peter Paul Rubens. Kunsttheoretisches und weltanschauliches Programmbild, in: Münchner Jb. der bildenden Kunst 52, 2001, 89–158; Ulrich Heinen, Peter Paul Rubens. Barocke Leidenschaften, in: ders./Büttner, Rubens (wie Anm. 25), 28–38; ders., Rubens’ Garten (wie Anm. 25), hier 92, 161 Anm. 78; Thielemann, Seneca-Bildnisse (wie Anm. 25), hier 170 f.; Ulrich Heinen, Text- und Bild-Formen neostoischen Wissens von den Leidenschaften, in: Werner Oechslin (Hrsg.), Wissensformen. Zürich 2008, 194–219. 29 Zur Bedeutung der Stoa für eine Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit vgl. etwa den Nachweis einer stoisch-empiristischen Idea-Lehre in der Kunsttheorie des Quattrocento bei Andreas Thielemann, Phidias im Quattrocento. Diss. Köln 1992, 78–93, 96–105, 125– 129; ders., Seneca-Bildnisse (wie Anm. 25). Diese beiden Publikationen sind Teile eines langfristig angelegten Projektes. Vgl. auch die Hinweise bei Ulrich Heinen, Rezension von: David Freedberg, The Eye of the Lynx. Galileo, his Friends, and the Beginnings of Modern Natural History. Chicago 2002, in: Historians of Netherlandish Art Newsletter 22/2, 2005, 34–35. Zur Neostoa in der Literaturwissenschaft vgl. Otto Regenbogen, Schmerz und Tod in den Tragödien Senecas, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 7, 1927/28, 167–218, hier 178– 181, 216; Eckard Lefèvre (Hrsg.), Der Einfluß Senecas auf das europäische Drama. Darmstadt 1978; zur Rezeption vgl. Erwin Rotermund, Der Affekt als literarischer

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Die protomoderne gesellschaftliche Wirkung der Stoa ging weit über die von Oestreich betonten allgemeinen Impulse zu Affektbeobachtung und Affektbewertung und die daran von Lipsius angeknüpfte taciteische Lehre des politischen Kalküls hinaus, die auch die „kritische“ Rubensforschung ihrer Ablehnung eines positiven Bezugs von Rubens zur Neostoa zugrunde legte. Die Stoa vereint Physik, Logik und Ethik in einer einheitlichen Theorie und Praxis. Entgegen dem gängigen Stoa-Zerrbild überrascht sie dabei immer wieder durch Lebensnähe, inhaltlichen Reichtum und komplexe Reflexion von Emotionalität. So begründet die stoische Philosophie das grundsätzliche Hinnehmen unkontrollierbarer Emotionen systematisch. Sie erkennt spontane intensive Trauer grundsätzlich als unwiderstehbares menschliches Vermögen an. Auch Liebe und Sexualität werden in der Stoa keinesfalls durchgängig abgewertet. So exemplifiziert die alte Stoa etwa die früheste theoretische Begründung eines allegorischen Bildverständnisses ausgerechnet an einer pornographischen Darstellung. Sogar gelegentlicher Alkoholrausch stößt bei Seneca nicht auf Ablehnung. Empirische Naturforschung mit der ihr eigenen Nüchternheit und heftigst bewegendes Schauspiel werden gleichermaßen in eine spezifisch stoische Theorie des Erhabenen eingebettet. Lipsius entwickelte das Konzept des stoischen Gartengenusses als Erfüllung stoischer Strategien zur nachhaltigen individuellen Ponderierung privater Relaxation und engagierter öffentlicher Wirkungsfähigkeit – und nicht, wie oft unterstellt, als quietistische Rückzugsstrategie. Stoa und Neostoa intensivieren zudem den netzwerkstabilisierenden Freundschafts- und Trauerkult intellektueller Eliten als wesentliche Grundlage sozialen Erfolgs. Sichtlich prägen solche Züge stoischer Lebensphilosophie Rubens’ Darstellung und Reflexion spontaner Emotionalität, seinen empirischen und analytischen Zugriff auf Natur und Affekte, seine Forcierung erhabener Wirkungen in der körperhaften Darstellung von Natur und menschlichem Leiden, seine künstlerische Thematisierung von Trauer, Liebe und Rausch, die Gestaltung seines Hauses und Gartens (Abb. 4) und seine Einbettung in einen neostoischen Freundeskreis.30 Gegenstand. Zur Theorie und Darstellung der Passiones im 17. Jahrhundert, in: Hans Robert Jauß (Hrsg.), Grenzphänomene des Ästhetischen. München 1968, 239–269, hier 242; Hans-Jürgen Schings, Consolatio Tragödiae. Zur Theorie des barocken Trauerspiels, in: Reinhold Grimm (Hrsg.), Deutsche Dramentheorie I. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland. Bd. 1. 3., verb. Aufl. Darmstadt 1980 (1. Aufl. 1971), 19–55; Reinhart Meyer-Kalkus, Wollust und Grausamkeit. Affektenlehre und Affektdarstellung in Lohensteins Dramatik am Beispiel von „Agrippina“. Göttingen 1986. Die wenigen Versuche der Literaturgeschichte, auf dieser Grundlage die Ansätze der Sozialdisziplinierungs- und Zivilisationstheorie aufzugreifen, bemerkt schon Bogner, Forschungsbericht (wie Anm. 22), hier 137–139. 30 Vgl. – jeweils mit Bezug auf die stoischen und neostoischen Quellen – Hans Joachim Raupp, Rubens und das Pathos der Landschaft, in: Heinen/Thielemann (Hrsg.), Passioni (wie Anm. 28), 159–179; Aneta Georgievska-Shine, Horror and Pity. Some Thoughts on

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Abb. 4: Jacobus Harrewijn: Hof des Rubenshauses, 1684, Radierung, 285 x 351 mm, Antwerpen, Museum Plantin-Moretus, Stedelijk Prentenkabinet.

Auch Oestreichs latente Unterstellung, Lipsius habe auf Kosten individueller Freiheit eine opportunistische Unterwerfung unter den absolutistischen Machtstaat gepredigt31, muß bei eingehender Lektüre der Quellen und angesichts des politischen Verhaltens des Philosophen verworfen werden. Lipsius the Sense of the Tragic in Rubens’ ‚Hero and Leander‘ and ‚The Fall of Phaeton‘, in: Marburger Jb. für Kunstwissenschaft 30, 2003, 217–228; Heinen, Haut und Knochen (wie Anm. 28); ders., Peter Paul Rubens – Barocke Leidenschaften, in: ders./Büttner, Rubens (wie Anm. 25), 28–38 und passim; vgl. auch die Hinweise auf die Studien von Andreas Thielemann bei Heinen, Rezension von: David Freedberg, The Eye of the Lynx (wie Anm. 29), 34 f. Zur stoischen Begründung der Bildallegorese ausgerechnet an einer pornographischen Szene vgl. Diog. Laert. 7.187–188; vgl. auch Johannes von Arnim/Max Adler (Hrsg.), Stoicorum Veterum Fragmenta. 4 Bde. Ndr. Stuttgart 1964, II.1071–1074. Zum systematischen Charakter der Neostoa bei Justus Lipsius zuletzt Jan Papy, Neostoizismus und Humanismus. Lipsius’ neue Lektüre von Seneca in der ‚Manuductio ad Stoicam philosophiam‘ (1604), in: Gábor Boros (Hrsg.), Der Einfluß des Hellenismus auf die Philosophie der Frühen Neuzeit. Wiesbaden 2005, 51–80. 31 So zugespitzt bei Martin van Gelderen, Holland und das Preußentum. Justus Lipsius zwischen niederländischem Aufstand und Brandenburg-Preußischem Absolutismus, in: ZHF 23, 1996, 29–56. Eine abgewogenere Sicht auf die Bedeutung der Stoa für die Entwicklung von Naturrechtslehre und Freiheitsvorstellungen geben die Beiträge bei Hans W. Blom/Laurens C. Winkel (Eds.), Grotius and the Stoa. Assen 2004.

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fordert im Gedenken an den Selbstmord Senecas vielmehr eine sittliche Stärkung der individuellen Unabhängigkeit selbst unter Inkaufnahme radikaler Konsequenzen für das eigene Leben und stützt ein auf Recht gegründetes und gegenüber Obrigkeiten unabhängiges Amtsverständnis. 1599 hat er mit dem direkten Bezug einer Ansprache an die Landesherren auf Senecas „De clementia“ selbst ein Beispiel unabhängigen öffentlichen Engagements gegeben. Als Hintergrundtheorie der Selbstformung und Kommunikation frühneuzeitlicher Eliten begründet die Stoa nicht etwa die Unterwerfung des Individuums unter den Machtstaat, sondern seine selbstkontrollierte und selbstgesteuerte politische Mitwirkung an der politischen und kulturellen Konstitution ziviler Lebensverhältnisse. In der Begründung von kultiviertem Bürgersinn ruht die universale Adaptierbarkeit der Stoa als stabilisierendes Ferment der Formung frühneuzeitlicher Eliten – gleich ob in Republiken oder dem Gemeinwohl verpflichteten Monarchien. Erkennt man zugleich einen lipsianisch reflektierten Machiavellismus als politiktheoretischen Kern in Rubens’ diplomatischer Korrespondenz, rücken der Antwerpener Maler und der Löwener Philosoph also auch in ihrem politischen Denken und Wirken dicht aneinander.32 Die protomodernen Impulse der Neo-Stoa und des an sie geknüpften Tacitismus erfaßten in hoher Komplexität, Vielfalt und Lebensnähe den Empirismus ebenso wie den Rationalismus, die Trauerkultur ebenso wie den Freundschaftskult, das nüchterne Hinnehmen unvermeidlicher Spontanreaktionen ebenso wie die kultivierte Forcierung naturgemäßer Emotionen bis zum Erleben des Erhabenen, Strategien zur privaten Entspannung ebenso wie die Entschlossenheit zu öffentlichem Standhalten, die Selbstdisziplinierung ebenso wie das selbstbestimmte, eigenverantwortliche Engagement. Ihre sozial-funktionale Fokussierung finden die reichen Lebensbezüge stoischen Denkens in einer vielfältigen, mit vielen Versatzstücken anderer Provenienz verknüpften, im Kern aber einheitlichen stoischen und neostoischen Theorie, in der die Ausstattung des Individuums mit selbstgesteuerten Strategien zur Verschränkung von innerer und äußerer, privater und öffentlicher Affektmodulierung und -reflexion zusammengehalten und sozial konvertibel gemacht wird sowie staatstragend und politisch konstitutiv werden kann.

32 Zur Korrektur des durch Oestreich akzentuierten Lipsiusbildes vgl. Francine de Nave, Peilingen naar de oorspronkelijkheid van Justus Lipsius’ politiek denken, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 38, 1970, 449–483; Thielemann, Sprechende Köpfe (wie Anm. 25), hier 178. Zu Rubens’ politischer Haltung und ihrer Verankerung bei Machiavelli und Lipsius zuletzt Ulrich Heinen, in: ders./Büttner, Rubens (wie Anm. 25), 154, 253–256; Gregory Martin, Rubens. The Ceiling Decoration of the Banqueting Hall. 2 Vols. London 2005, Vol. 1, 97; Ulrich Heinen, Rubens’s Pictorial Diplomacy at War (1637/1638), in: Jan de Jong u. a. (Ed.), Rubens and the Netherlands. (Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 55, 2004.) Zwolle 2006, 196–225, bes. 197 f., 220 Anm. 4.

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In diesem Sinne kann ein genauer Blick auf die Lipsius- und Stoarezeption in Rubens’ Leben und Werk Oestreichs Lipsius- und Stoabild korrigieren und seine These von der Stoa als Modernisierungsimpuls aus der Engführung auf Disziplinierung und „neuzeitlichen Machtstaat“ befreien. Rubens’ Werk belegt die Bedeutung der Stoa-Rezeption für die Kunst paradigmatisch. Nicht nur motivische Adaptionen verdankt Rubens’ Malerei der Stoa, sondern auch eine neue Akzentuierung der stilistischen Entscheidungsfreiheit zwischen einem konzentrierten, klaren Darstellungsstil, der analog zur Kürze und Schlichtheit der stoischen Antirhetorik zu begründen ist, und der analog zum stoischen Theater ausgebreiteten Demonstration starker Affekte sowie einer forcierten Präsentation körperlichen Leidens. Für die multimediale Transmission komplexer frühneuzeitlicher Modernisierungsparadigmen hat die Verflechtung von Rubens’ Kunst mit der Neostoa gewiß grundlegende Bedeutung, hat Rubens doch wie kein anderer die nord- und südeuropäische Renaissancemalerei in seinem Werk gebündelt und die Entwicklung der sich globalisierenden Bildkultur in öffentlichen Aufträgen und weit verbreiteten Reproduktionsgraphiken nachhaltig geprägt. Um als umfassendes Paradigma der frühneuzeitlich differenzierten Skala streßregulierender Bildfunktionen, der forcierten Mittel und Strategien zur Illusion körperlicher Präsenz und zur Evokation emotionswirksamer Imaginationen begreifbar zu werden, müßte die Rezeption der Stoa allerdings für die Kunst der gesamten Frühen Neuzeit konsistent nachgewiesen und an gemeinsamen visuellen Phänomenen anschaulich werden. Hierzu fehlt aber fast jede Vorarbeit. So läßt sich die Bedeutung der seit Petrarca forcierten – affirmativen wie kritisch differenzierten – Rezeption einer lebensnah wirksamen Stoa für die Konstituierung frühneuzeitlicher Kunst als wesentlicher Beitrag zu einer Kulturgeschichte eines über die Oestreich’sche Sozialdisziplinierung hinausgehenden Zivilisations- und Modernisierungsprozesses derzeit nur vermuten. 3. Konfessionalisierung (Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling) Die um 1980 von Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling zu einer komplexen Forschungsrichtung der Sozialgeschichte ausgebaute Konfessionalisierungsforschung widmet sich den konfessionsspezifischen und den gemeinsamen Mitteln zur Herausbildung konfessioneller Großgruppen insbesondere im 16. und 17. Jahrhundert. Religion und Kirche werden hierbei nicht als Subsysteme der Gesellschaft unter anderen, sondern als strukturbildende Größen frühneuzeitlicher Gesellschaften erkannt. Mit den Anfängen der Konfessionalisierungsforschung geriet auch der Beitrag wieder in den Blick, den die christlichen Konfessionen zu einer auf Sozialdisziplinierung fokussierten Modernisierung geleistet haben. Nachdem Max Weber schon 1904 die Bedeutung der „protestantischen Ethik“ für die Modernisierung in der Frühen Neu-

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zeit erläutert hatte, wurde nun mit den anderen christlichen Konfessionen auch die katholische Kirchlichkeit als modernisierende Kraft erkannt.33 Eigentlich müßte man meinen, daß Konfessionalisierungsforschung und Kunstgeschichte eine natürliche Symbiose eingehen, hat es die Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit doch großenteils mit Kunstwerken zu tun, die in konfessionell geprägten Umgebungen entstanden sind.34 So würdigt die

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Der familien- und mentalitätsgeschichtliche Nachweis eines modernisierenden Effekts des nachtridentinischen Katholizismus erstmals bei John Bossy, The Counter-Reformation and the People of Catholic Europe, in: Past and Present 47, 1970, 51–70. Grundlegend und lange zu wenig beachtet: Hubert Jedin, Katholische Reform und Gegenreformation. Düsseldorf 1962. Zur Konfessionalisierungsforschung vgl. auch Wolfgang Reinhard, Gegenreformation als Modernisierung? Prolegomena einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in: ARG 68, 1977, 226–251; Heinz Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung. Eine Fallstudie über das Verhältnis von religiösem und sozialem Wandel in der Frühneuzeit am Beispiel der Grafschaft Lippe. Gütersloh 1981; ders. (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland. Gütersloh 1986; HansChristoph Rublack (Hrsg.), Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Gütersloh 1992; Heinz Schilling, Religion, Political Culture and the Emergence of Early Modern Society. Leiden 1992; ders. (Hrsg.), Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa. (ZHF, Beih. 16.) Berlin 1994; Wolfgang Reinhard/Heinz Schilling (Hrsg.), Die katholische Konfessionalisierung in Europa. Gütersloh 1995; Heinrich Richard Schmidt, Dorf und Religion. Reformierte Sittenzucht in Berner Landgemeinden. Stuttgart 1995; Heinz Schilling, Disziplinierung oder „Selbstregulierung der Untertanen“? Ein Plädoyer für die Doppelperspektive von Makro- und Mikrohistorie bei der Erforschung der frühmodernen Kirchenzucht, in: HZ 264, 1996, 675–691; Heinrich Richard Schmidt, Sozialdisziplinierung? Ein Plädoyer für das Ende des Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung, in: HZ 265, 1997, 639–682; Victoria von Flemming (Hrsg.), Aspekte der Gegenreformation. (Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit, Bd. 1, H. 3/4.) Frankfurt am Main 1997; Wolfgang Reinhard, Diskurs (wie Anm. 22); Winfried Schulze, Konfessionalisierung als Paradigma zur Erforschung des Konfessionellen Zeitalters?, in: Burkhard Dietz/Stefan Ehrenpreis (Hrsg.), Drei Konfessionen in einer Region. Beiträge zur Geschichte der Konfessionalisierung im Herzogtum Berg vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Köln 1999, 15–30; Volker Reinhardt, Rom im Zeitalter der Konfessionalisierung. Kritische Überlegungen zu einem Epochenkonzept, in: Zeitsprünge 7, 2003, 1–18; Thomas Ertl, Religion und Disziplin. Selbstdeutung und Weltordnung im frühen deutschen Franziskanertum. Berlin/New York 2006. 34 Grundsätzliche Überlegungen zu interdisziplinären Bezügen zwischen Kunstgeschichte und Konfessionalisierungsforschung bei Siegfried Müller/Annelore Rieke-Müller, Konfession, Bildverständnis und die Welt der Dinge. Überlegungen zu einem Problemfeld, in: ARG 93, 2002, 369–390; Thomas Packeiser, Zum Austausch von Konfessionalisierungsforschung und Kunstgeschichte, in: ARG 93, 2002, 317–337; Bernd Roeck, Kunst und Konfessionalisierung – eine Skizze, in: Carl A. Hoffmann (Hrsg.), Als Frieden möglich war. Regensburg 2005, 172–181. Vgl. auch die Hinweise bei Gabriele Wimböck, Die Autorität des Bildes – Perspektiven für eine Geschichte vom Bild in der Frühen Neuzeit, in: Frank Büttner/Gabriele Wimböck (Hrsg.), Das Bild als Autorität. Die normierende Kraft der Bilder. Münster 2004, 9–41, hier 18 Anm. 33; Thomas Packeiser, Stilfragen von Konfessionalisierung. Eine ikonologische Pendenz?, in: Susanne Wegmann/Gabriele Wimböck (Hrsg.), Konfessionalisierung im Kirchenraum. Dimensionen der Sakralkunst in der Frühen Neuzeit. Leipzig 2007, 55–93.

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Kunstgeschichte seit einigen Jahrzehnten mit zunehmender Selbstverständlichkeit die lange verkannte konstitutive Bedeutung der Konfession für die Kunst des frühneuzeitlichen Protestantismus.35 Auch das aus einem konfessionell begründeten antikatholischen Affekt gespeiste populäre Klischee, die antiken Motive der Renaissance belegten heidnische Gegenbewegungen zum Christentum und insbesondere zum Katholizismus, hat seine alte Dominanz eingebüßt und einer durchgehenden Würdigung des katholischen Anteils an der Renaissance Platz gemacht. Daß sämtliche kunsthistorischen Rezensionen von Jörg Trägers zugespitzter Rekonstruktion des konfessionstypischen Vorurteils, das die Abneigung der älteren Kunstgeschichte gegen 35

Einen entscheidenden Anstoß gab Werner Hofmann (Hrsg.), Luther und die Folgen für die Kunst – Katalog der Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle. München 1983. Ein Überblick über die ältere Forschung bei Heinz Schilling, Nochmals „Zweite Reformation“ in Deutschland. Der Fall Brandenburg in mehrperspektivischer Sicht von Konfessionalisierungsforschung, historischer Anthropologie und Kunstgeschichte, in: ZHF 23, 1996, 501–524, hier bes. 519–523. Aus den zahlreichen neueren Studien seien erwähnt: Andreas Tacke, Der katholische Cranach. Zu zwei Großaufträgen von Lucas Cranach d. Ä., Simon Franck und der Cranach-Werkstatt 1520–1540. Mainz 1992; Jörg-Jochen Berns, Die Macht der äußeren und der inneren Bilder. Momente des innerprotestantischen Bilderstreits während der Reformation, in: Italo Michele Battafarano (Hrsg.), Begrifflichkeit und Bildlichkeit der Reformation. Bern/Frankfurt am Main 1992, 9–37; Jan Harasimowicz, Kunst als Glaubensbekenntnis. Baden-Baden 1996; Freya Strecker, Augsburger Altäre zwischen Reformation (1537) und 1635. Bildkritik, Repräsentation und Konfessionalisierung. Münster 1998; Jan Harasimowicz, ‚What could be better now than the Struggle for Freedom and Faith‘. Confessionalisation and the Estate’s Quest for Liberation as Reflected in the Silesiani Arts of the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in: Klaus Bussmann/Heinz Schilling (Hrsg.), 1648. Krieg und Frieden in Europa. Textbd. 2: Kunst und Kultur. Münster 1998, 297–306; Peter Blickle (Hrsg.), Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte. (HZ, Beihefte, NF., Bd. 33.) München 2002; Margit Kern, Tugend versus Gnade. Protestantische Bildprogramme in Nürnberg, Pirna, Regensburg und Ulm. Berlin 2002; Jan Harasimowicz, Evangelische Kirchenräume der Frühen Neuzeit, in: Susanne Rau/Gerd Schwerhoff (Hrsg), Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Köln 2004, 413–446; Ingrid Schulze, Lucas Cranach d. J. und die protestantische Bildkunst in Sachsen und Thüringen. Frömmigkeit, Theologie, Fürstenreformation. Bucha bei Jena 2004; Andreas Tacke, „hab den hertzog Georgen zcu tode gepett.“ Die Wettiner, Cranach und die Konfessionalisierung der Kunst in den Anfangsjahrzehnten der Reformation, in: Harald Marx (Hrsg.), Glaube und Macht. Dresden 2004, 236–245; Margit Kern, Religio und pax. Lutherische Konfessionalisierung in Wort und Bild am Wittenberger Hof, in: ARG 96, 2005, 81–108; Dietrich DiederichsGottschalk, Die protestantischen Schriftaltäre des 16. und 17. Jahrhunderts in Nordwestdeutschland. Eine kirchen- und kunstgeschichtliche Untersuchung zu einer Sonderform liturgischer Ausstattung in der Epoche der Konfessionalisierung. Regensburg 2005; Sibylle Weber am Bach, Hans Baldung Grien (1484/85–1545). Marienbilder in der Reformation. Regensburg 2006; Heimo Reinitzer, Gesetz und Evangelium. Über ein reformatorisches Bildthema, seine Tradition, Funktion und Wirkungsgeschichte. Hamburg 2006. Die theologischen Fundamente der protestantischen Bildtheologie jetzt aufgezeigt bei Johann Anselm Steiger, Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers und seiner Erben. Communicatio – Imago – Figura – Maria – Exempla. Boston 2002, bes. 107–143.

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den Katholizismus der Renaissance geprägt hatte, vor einer in der Tagespresse erschienenen Polemik Kurt Flaschs in Schutz nahmen, darf sicherlich als Indiz dafür genommen werden, daß der alte antikatholische Affekt auch in der Kunstgeschichte nicht mehr salonfähig ist.36 Der konfessionelle Anteil an vielen Kunstwerken, die während katholischer Reform und Gegenreformation entstanden, ist kunsthistorisch grundsätzlich stets bewußt gewesen. In den vergangenen Jahren wurde sie aber neu betont.37 Für bedeutende Künstler – wie etwa Nicolas Poussin – wurde 36

Jörg Traeger, Renaissance und Religion. Die Kunst des Glaubens im Zeitalter Raphaels. München 1997, bes. 11–48; Kurt Flasch, Ein dicker Franziskaner klaute den Ring der Gottesmutter. Und die Protestanten stahlen den Katholiken ihre Bilder. Jörg Träger will mit Raphaels Verlobung Mariens den heidnischen Geist aus der Rennaissance vertreiben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. 4. 1998, 38. Unter den kunsthistorischen Rezensionen sei exemplarisch genannt Marcus Frings, Rezension von: Jörg Traeger, Religion (wie Anm. 36), in: Journal für Kunstgeschichte 3, 1999, 58–63. Für andere Studien zur konstitutiven Rolle des Katholizismus für die Renaissance vgl. etwa Georg Weise, Il rinnovamento dell’arte religiosa nella Rinascita, in: La Rinascita 4, 1941, 659–680; Matthias Winner, Disputà und Schule von Athen, in: Raffaelo a Roma. Il convegno del 1983. Rom 1986, 29–45; Timothy Verdon/John Henderson (Eds.), Christianity and Renaissance. Image and Religious Imagination in the Quattrocento. Syracuse, N. Y. 1990; Peter Humfrey, The Altarpiece in Renaissance Venice. New Haven/London 1993; André Chastel, La pala d’altare del Rinascimento. Paris 1993; Eve Borsook, Italian Altarpieces 1250– 1550. Function and Design. Oxford 1994. 37 Für die ältere kunsthistorische Forschung vgl. etwa Werner Weisbach, Der Barock als Kunst der Gegenreformation. Berlin 1921; Émile Mâle, L’Art religieux après le Concile de Trente. Étude sur l’iconographie de la fin du XVIe, du XVIIe et du XVIIIe siècles en Italie, en France, en Espagne et en Flandre. Paris 1932; siehe auch die Literaturangaben bei Ulrich Heinen, Rubens zwischen Predigt und Kunst. Weimar 1996, bes. 25–44. Unter den zahlreichen neueren Publikationen vgl. etwa Robert Suckale, Das ehemalige Hochaltarretabel der Nürnberger Karmelitenkirche und sein altkirchliches Programm, in: Rainer Kahsnitz (Hrsg.), Veit Stoß. Die Vorträge des Nürnberger Symposions. München 1985, 229–244 (ein wohl so nicht mehr haltbarer Versuch, ein frühes antireformatorisches Programm nachzuweisen; den Hinweis verdanke ich Christian Hecht); Pamela M. Jones, Federico Borromeo and the Ambrosiana. Art Patronage and Reform in Seventeenth-Century Milan. Cambridge 1993; Christine Göttler, Die Kunst des Fegefeuers nach der Reformation. Kirchliche Schenkungen und Almosen in Antwerpen und Bologna um 1600. Mainz 1996; Heinen, Predigt (wie Anm. 37); Martin Seidel, Venezianische Malerei zur Zeit der Gegenreformation. Kirchliche Programmschriften und künstlerische Bildkonzepte bei Tizian, Tintoretto, Veronese und Palma il Giovane. Münster u. a. 1996; Jürgen Müller, Ripa und die Gegenreformation, in: De zeventiende eeuw 11, 1996, 56–66; von Flemming (Hrsg.), Aspekte (wie Anm. 33); Iris Krick, Römische Altarmalerei nach dem Tridentinum bis zum Pontifikat Clemens’ VIII. (1563–1605). Diss. Bonn 1996; Victor I. Stoichita, Das mystische Auge. Vision und Malerei im Spanien des Goldenen Zeitalters. München 1997; Oskar Bätschmann, Rome. A Cultural and Artistic Power, in: Bussmann/Schilling (Hrsg.), 1648 (wie Anm. 35), Textbd. 2, 215–225; Ilse von zur Mühlen, Bild und Vision. Peter Paul Rubens und der Pinsel Gottes. Frankfurt am Main 1998; Beate Johlen, Die Auswirkungen der Gegenreformation auf den Sakralbau des 17. Jahrhunderts. Reform und Tradition am Beispiel des Wiederaufbaues der ehemaligen Benediktinerabteikirche Corvey/Westfalen im Jahre 1667. Diss. phil. Bonn 2000; John W.

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eine religiöse Überzeugung als künstlerische Motivation allerdings oft unterschlagen oder in Frage gestellt.38 Das Religiöse wurde so immer wieder als nicht konstitutiv für Kunst dargestellt, sondern eher sogar als Hindernis, gegen das sich die Künstler mühsam zu behaupten gehabt hätten. Die in solchen Konstruktionen immer mitschwingende populäre Vorstellung einer zentral organisierten, systematisch wirksamen und auch die Ästhetik der Bilder in ihre Verfügung zwingende katholischen Bildpolitik darf jedoch seit Jahrzehnten als widerlegt gelten.39 So geschah die Entwicklung neuer künstO’Malley u. a. (Eds.), The Jesuits. Cultures, Sciences, and the Arts. 1540–1773. Toronto u. a. 2000; Luise Leinweber, Bologna nach dem Tridentinum. Private Stiftungen und Kunstaufträge im Kontext der katholischen Konfessionalisierung. Das Beispiel San Giacomo Maggiore. Hildesheim u. a. 2000; Sibylle Appuhn-Radtke, Visuelle Medien im Dienst der Gesellschaft Jesu. Johann Christoph Storer (1620–1671) als Maler der katholischen Reform. Regensburg 2000; Jeffrey Chipps Smith, Sensuous Worship. Jesuits and the Art of the Early Catholic Reformation in Germany. Princeton, N. J. u. a. 2002; Gabriele Wimböck, Guido Reni (1575–1642). Funktion und Wirkung des religiösen Bildes. Passau 2002; Michael Viktor Schwarz, Visuelle Medien im christlichen Kult. Fallstudien aus dem 13. bis 16. Jahrhundert. Wien u. a. 2002; Damian Dombrowski, Von der Ecclesia triumphans zur Ecclesia universalis. Zum gedanklichen Wandel in Berninis Ausstattung von St. Peter, in: Zs. für Kunstgeschichte 66, 2003, 340–392; David Ganz/Georg Henkel (Hrsg.), Rahmen-Diskurse. Kultbilder im konfessionellen Zeitalter. Münster 2004; Joseph Imorde, Affektübertragung. Berlin 2004; ders., Fest und Verehrung der Eucharistie, in: Oliver Seiffert (Hrsg.), Panis angelorum. Das Brot der Engel. Kulturgeschichte der Hostie. Ostfildern 2004, 77–98; David Ganz/Thomas Lentes (Hrsg.), Die Ästhetik des Unsichtbaren. Bildtheorie und Bildgebrauch in der Vormoderne. Berlin 2004 (mehrere Beiträge zur Frühen Neuzeit); Evonne Levy, Propaganda and the Jesuit Baroque. Berkeley 2004; Rüdiger Grimkowski, Michael Willmann. Barockmaler im Dienst der katholischen Konfessionalisierung. Der Grüssauer Josephszyklus. Berlin 2005; Eckhardt Leuschner, Antonio Tempesta. Ein Bahnbrecher des römischen Barock und seine europäische Wirkung. Petersberg 2005, passim; Nadja Horsch, Sixtus V. als Kunstbetrachter? Zur Rezeption von Niccolò Circignanis Märtyrerfresken in S. Stefano Rotondo, in: Sebastian Schütze (Hrsg.), Kunst und ihre Betrachter in der Frühen Neuzeit. Ansichten, Standpunkte, Perspektiven. Berlin 2005, 65–92; Jeffrey M. Muller, Rubens’ Altarpiece in the Antwerp Dominican Church. How Visitors and Guidebooks Saw It, in: MichèleCaroline Heck (Ed.), Le Rubénisme en Europe aux XVIIe et XVIIIe siècles. Turnhout 2005, 69–83; Michael Viktor Schwarz, Rezension von: Hans Belting, Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen. München 2005, in: Kunstchronik 9/10, 2006, 484–490; Charlene Villaseñor Black, Creating the Cult of St. Joseph. Art and Gender in the Spanish Empire. Princeton, N. J. u. a. 2006; John W. O’Malley (Ed.), The Jesuits and the Arts, 1540–1773. Philadelphia 2006; Heiko Damm, Santi di Tito (1536–1603) und die Reform des Altarbildes in Florenz. Diss. Berlin 2006. Vgl. auch die Tagung „Kunstwerke im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517–1563“, Akademietagung, 15.–17. Februar 2008, Mainz, Erbacher Hof, Akademie des Bistums Mainz in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Universität Trier. 38 Gegen Anthony Blunt kritisch angemerkt bei Marc Fumaroli, Prayers for a Secret Platonist. Poussin’s Debt to the Jesuits and Its Suppression by Anthony Blunt, in: Times Literary Suppl. 7, Oktober 1994, 22 f. 39 Zweifel an einem direkten Einfluß des Konzils von Trient auf die bildende Kunst wird bereits 1982 als „commonplace among art historians“ erkannt bei Charles Hope, Rezen-

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lerischer Formen – wie jüngst Christian Hecht etwa für die Darstellung der Glorie in der barocken Deckenmalerei gezeigt hat (Abb. 5) – weder als Erfüllung kirchlicher Vorgaben noch im Widerspruch zu solchen.40 Vielmehr begründeten die nachtridentinischen katholischen Bildtraktate aus einer systematischen Rekonstruktion und Aufwertung der Sakralmalerei als „stummer Predigt“ und der Maler als „stummer Prediger“ eine protomoderne Bildtheorie der harmonischen Integration und Synergie divergierender Rezeptionserwartungen am Bild, zwischen denen durch polyvalente Bildadressierung an eine differenzierte Publikumsstruktur ein Konfliktausgleich (consenso universale) erreicht werden sollte. Mit der Übertragung der tradierten Prinzipien der Predigtlehre hat Kardinal Gabriele Paleotti 1582 die Konfliktlinien rund um das Sakralbild, die tatsächlich weniger zwischen „den Künstlern“ und „den Theologen“ als zwischen einem gesteigerten Sensualismus der Bilder und einer vergeistigten Spiritualitätsauffassung innerhalb des katholischen Glaubens verliefen, präzise erfaßt und einen Weg zur Lösung von Konflikten zwischen Kunst und Bildpredigt beschrieben: Gebildete (letterati) fordern vor allem, daß Sakralbilder anhand bedeutender Gegenstände belehren (docere) sollen. Hierzu ist zuvorderst sachliche Richtigkeit, Text- und Dogmentreue zu beachten. Auf geistige Schau ausgerichtete sion von: Marcia B. Hall, Renovation and Counter-Reformation, in: Burlington Magazine 124, 1982, 512–514, hier 513; vgl. auch Paolo Prodi, Ricerche sulla teorica delle arti figurative nella riforma cattolica, in: Archivio Italiano per la storia della pietà 4, 1965, 121–212, hier 130; Anton Willem Adriaan Boschloo, Annibale Carracci in Bologna. Visible Reality in Art after the Council of Trent. 2 Vols. (Kunsthistorische Studiën van het Nederlands Instituut te Rome, 3.) Diss. phil. Groningen 1974, Vol. 1, 142–145; Bruno Toscano, Geschichte der Kunst und Formen des religiösen Lebens, in: Luciano Bellosi u. a., Italienische Kunst. Eine neue Sicht auf ihre Geschichte. 2 Bde. Frankfurt am Main/ Wien 1981 (ital. Originalausg. 1979), 305–349, hier 321–327; David Freedberg, The Hidden God: Image and Interdiction in the Netherlands in the Sixteenth Century, in: Art History 5, 1982, 133–153, hier 136–137; ders., Kunst und Gegenreformation in den südlichen Niederlanden, 1560–1660, in: Ekkehard Mai/Hans Vlieghe (Hrsg.), Von Bruegel bis Rubens. Das goldene Jahrhundert der flämischen Malerei, Wallraf-Richartz-Museum, Köln 4. 9.–22. 11. 1992. Köln 1992, 55–70, hier 65 f.; Stefan Kummer, Doceant Episcopi. Auswirkungen des Trienter Bilderdekrets im römischen Kirchenraum, in: Zs. für Kunstgeschichte 56, 1993, 508–532, hier 510–512. Ein Forschungsüberblick bei Heinen, Predigt (wie Anm. 37), 25–29. Zu ergänzen ist Christian Hecht, Katholische Bildertheologie im Zeitalter von Gegenreformation und Barock. Studien zu Traktaten von Johannes Molanus, Gabriele Paleotti und anderen Autoren. Berlin 1997, bes. 33–43, 404–410; Vgl. auch David Ganz, Tra paura e fascino. La funzione comunicativa delle immagini visive nel „Discorso“ di Gabriele Paleotti, in: John Casey u. a. (Eds.), Imaging Humanity. Immagini dell’umanità. Lafayette 1999, 57–68; Christian Hecht, Katholische Sakralikonographie und theologische Wissenschaft, in: Werner Oechslin (Hrsg.), Wissensformen (wie Anm. 28), 128–193; Holger Steinemann, Eine Bildtheorie zwischen Repräsentation und Wirkung. Kardinal Gabriele Paleottis „Discorso intorno alle imagini sacre e profane“ (1582). Hildesheim u. a. 2006. 40 Christian Hecht, Die Glorie. Begriff, Thema, Bildelement in der europäischen Sakralkunst vom Mittelalter bis zum Ausgang des Barock. Regensburg 2003.

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Abb. 5: Martin Knoller: Anbetung der Hl. Dreifaltigkeit und der triumphierenden Kirche, Kuppelfresko in der Benediktiner-Abteikirche von Neresheim, 1770−1775.

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Mystiker (spirituali) lehnen jeglichen Bildgebrauch eigentlich ab. Am ehesten richtet sich ihre Erwartung noch darauf, daß Bilder durch die Heiligkeit und die Emotionalität der Bilder zur Frömmigkeit bewegen (movere). Kunstkenner und Künstler schließlich (artefici) haben einen legitimen Anspruch an die Erfüllung von Kunstqualitätskriterien. Das berechtigte Interesse der Künstler selbst richtet sich zudem darauf, mit Sakralmalerei ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familien zu verdienen und darüber hinaus als stummer Prediger (taciti predicatori) göttliche Gnade zu erwerben. Während diese drei Gruppen für Paleotti gleichberechtigte Ansprüche an das Sakralbild haben, müssen sie alle drei den Ansprüchen der Laien Vorrang lassen, derentwegen Sakralbilder überhaupt nur erforderlich sind. Da sich aber auch das Interesse der Laien – wenngleich auf einem spezifisch modifizierten Niveau – auf docere, movere und delectare richte, lasse sich durch ausgewogene Berücksichtigung dieser Ziele stets allgemeine Zufriedenheit (sodifaccio universale) erreichen. Diese bei Paleotti idealtypisch durchgeführte Begründung einer polyvalenten und gleichermaßen an das Verstehen, Erleben und Genießen gerichteten Bildadressierung war Gemeingut der nachtridentinischen Bildtheorie und hatte sichtlich praktische Folgen für Künstler wie etwa Rubens oder Pietro da Cortona. Trotz einer Trennung und Komplexierung von Darstellungsprinzipien und Bildinhalten blieb diese praxisrelevante Theorie ganz im Einklang mit tradierten Prinzipien der Kirche und war mühelos in der kirchlichen Praxis der Visitationen und des Umgangs mit Künstlern adaptierbar. So konnten die Teilsysteme Kunst und Glaube im Sakralbild lange systemisch integriert bleiben. Da das Prinzip der polyvalenten Adressierung zugleich eine Effektivitätssteigerung der visuellen Kommunikation bewirken konnte, enthielt es einen systemischen Grund für den eigenen Erfolg als bildkulturelle Strategie.41 Im kunsthistorischen Nachweis, daß sich Kunst in der Frühen Neuzeit in kirchlichen Kontexten nach eigenen Regeln der Kunst weitgehend konfliktfrei entwickeln konnte, ja durch die immer komplexer werdenden kirchlichen Aufträge und Aufgaben in ihrer eigenen Entwicklung gefördert wurde, gründet nun ein entscheidender Einwand gegen eine leichtfertige interdisziplinäre Verflechtung von Kunstgeschichte mit den sozialgeschichtlichen Implikationen der Konfessionalisierungsforschung. Lange folgte die Konfessionalisierungsforschung nämlich der These, die konfessionell gefestigte Kirchenzucht habe die staatliche Kriminalzucht gefördert und sei somit als Beitrag zur Herausbildung des frühmodernen Staates und einer disziplinierten, institutionell und flächenmäßig organisierten Untertanengesellschaft zu werten. Neu angestoßen von der hieran anknüpfenden These Wolfgang Reinhards, katholische Kirchenkunst könne als Instrument der Mobilisie41

Vgl. Heinen, Predigt (wie Anm. 37), bes. 25–44, mit der älteren Literatur, und passim.

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rung, Integration, Emotionalisierung, Kontrolle und Disziplinierung aus der Konfessionalisierungsthese erklärt werden, wollen Historiker wie Peter Burschel das Vorurteil von einer katholischen Kunst, die zu institutionell vorgegebenen Zwecken instrumentalisiert, enteignet und mißbraucht worden sei, neuerdings in die Kunstgeschichte reimportieren. So wurde etwa das Konzept des Teilprojekts „Das Selbstverständnis des Papsttums und die nachtridentinische Kontroverstheologie im Spiegel der hochbarocken Bildkunst“ an der Universität Freiburg im Sonderforschungsbereich „Identitäten und Alteritäten“ von Historikern vorformuliert, um „ein längst erkanntes Desiderat der Kunstgeschichte“ zu beseitigen und „ästhetische und stilistische Entwicklungen vor dem Hintergrund einer Konfessionalisierung der Bildkunst neu zu bewerten“. Kunsthistoriker wurden dann in das Projekt „einbezogen“, um die von Burschel vorgefertigten Theoreme zu bestätigen42: Im römischen Hochbarock sei die Kunst zum Ausdruck einer „konfessionellen Identität der römischen Kirche und besonders des Papsttums“ sowie für „eine kollektive Abgrenzung sowohl vom Protestantismus als auch von der Ostkirche“ instrumentalisiert worden. Als Bezugsquelle hierfür nennt die Projektbeschreibung einen Vortrag, den Wolfgang Reinhard 1996 anläßlich der Begehung des Sonderforschungsbereichs gehalten hat, und beruft sich auf eine Bemerkung Heinz Schillings zur Bildkunst als eines „genuin katholischen Konfessionalisierungselements“43, der sich hier seinerseits auf einen Artikel von Jan Ross stützt44. Gegen Schillings generalisierende Paradigmen einer konfessionsgebundenen Differenzierung der künstlerischen Formen hat etwa Kai Wenzel angeführt, daß die Konfessionalisierung in der zweiten Hälfte des 16. und der ersten des 17. Jahrhunderts zumindest in der Architektur sogar eher mit einer Annäherung der Formensprache verbunden war. Ähnliches läßt sich etwa für Stil und Ikonographie der süd- und nord-niederländischen Historienmalerei um 1600 und im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts aufzeigen.45 Die publizierten kunsthistorischen Ergebnisse des Teilprojekts bleiben gegenüber populären Generalthesen signifikanterweise erfreulich immun, und 42

http://www.sfb541.uni-freiburg.de/B11/beschreibung.html, vom 19. 10. 2000, aufgerufen am 1. 1. 2007, wiederauffindbar bei http://www.archive.org. 43 Schilling, Brandenburg (wie Anm. 35), hier Anm. 34. 44 Jan Ross, in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 10. Februar 1996, 30. 45 Der Einwand gegen Schilling bei Kai Wenzel, Abgrenzung durch Annäherung. Überlegungen zu Kirchenbau und Malerei in Prag im Zeitalter der Konfessionalisierung, in: Bohemia 44, 2003, 29–66, bes. 29 f.; vgl. auch die abgewogene Darstellung bei Ulrich Fürst, Die Erneuerung der Sakralarchitektur im Zeitalter der konfessionellen Auseinandersetzung, in: Hoffmann (Hrsg.), Frieden (wie Anm. 34), 182–196; Meinrad von Engelberg, Renovatio Ecclesiae – die „Barockisierung“ mittelalterlicher Kirchen. Petersberg 2005, 157– 214. Für die ganz an der Historienmalerei der katholischen Habsburgischen Niederlande ausgerichtete Historienmalerei der Nordniederlande vgl. etwa Gods, Saints & Heroes. Dutch Painting in the Age of Rembrandt, National Gallery of Art. Washington 1980.

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das von Andreas Prater in diesem Rahmen verantwortete Arbeitsprojekt „Die Entstehung des neuzeitlichen Bildes“, das sich der Polyvalenz von Bildern und deren Interpretation als beabsichtigtem Bestandteil der Gesamtbedeutung widmet – von dieser Bildauffassung und ihrer kunsthistorischen Begründung wird im folgenden noch zu sprechen sein –, bewegt sich sogar explizit außerhalb des Konfessionalisierungsparadigmas, „da die Sakralkunst des römischen Hochbarock nicht nur durch theologische Entwicklungen geprägt ist, sondern auch genuin künstlerischen und stilgeschichtlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegt“.46 Nachdem die sozialhistorischen Leitparadigmen der älteren Konfessionalisierungsforschung der Kunstgeschichte weitgehend fremd blieben, verspricht eine Wende, die seit etwa zehn Jahren in der Konfessionalisierungsforschung zu beobachten ist, neue interdisziplinäre Kooperationsmöglichkeiten. Zum einen erinnern mikrohistorische Studien, die seit etwa zehn Jahren selbständig agierende regionale und nicht-obrigkeitliche Institutionen als Nukleus von Konfessionalisierung und konfessioneller Disziplinierung betrachten, zunehmend an charakteristische Methoden einer traditionell skeptischen Kunstgeschichte, die grundsätzlich detailgenaue und fallbezogene Studien zum Prüfstein von Makrothesen und freien Assoziationen macht. So haben mehrere Detailstudien von Michael Scholz-Hänsel die Fruchtbarkeit der in der Konfessionalisierungsforschung konstatierten Interdependenz von Konfessionalisierung und Modernisierung für das Verständnis konfessionalisierter Ikonographien gezeigt und sogar eine zeitweilige Resakralisierung als Motor der Modernisierung und auch des Anwachsens der Macht der Bilder deutlich gemacht.47 In diesem Sinne könnten auch Funktionsstudien zur lokalen katechetischen Funktion von Bildern bei der Festigung von Kirchenzucht und Selbstdisziplinierung – exemplifiziert etwa an den zunehmend erschlossenen didaktischen Materialien von Jesuitenkollegs oder an Egodokumenten – zu einer fruchtbaren Interdisziplinarität beitragen. 46

Wie Anm. 42. Vgl. etwa Michael Scholz-Hänsel, El Greco „Der Großinquisitor“. Neues Licht auf die Schwarze Legende. Frankfurt am Main 1991; ders./Sven Externbrink, Ribera und die „Gegenreformation“ in Süditalien. Vom Nutzen der neuen historischen Paradigmata der Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung für die Kunstgeschichte, in: Kritische Berichte 24, 1996, 20–36; Michael Scholz-Hänsel, Neapolitanische Malerei und „Konfessionalisierung“. Veränderungen im Bild der Armen von Caravaggio zu Ribera, in: ARG 93, 2002, 339–368; ders., Das Bildprogramm im Convento de los Capuchinos de la Paciencia de Cristo, um 1650, in Madrid im Kontext von Konfessionalisierung und Disziplinierung, in: Jutta Held (Hrsg.), Kirchliche Kultur und Kunst des 17. Jahrhundert in Spanien. Frankfurt am Main 2004, 279–295; ders., Der Escorial als Grablege im Kontext der Konfessionalisierung, in: Barbara Borngässer (Hrsg.), Grabkunst und Sepulkralkultur in Spanien und Portugal. Frankfurt am Main 2006. Ähnlich auch Peter Hersche, Italien im Barockzeitalter. 1600–1750. Eine Sozial- und Kulturgeschichte. Wien u. a. 1999. 47

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Zum anderen deutet Anton Schindlings Forderung, die sozialhistorische Verengung der Konfessionalisierung auf eine etatistische Teleologie um die Thematisierung individueller Erfahrungswelten und symbolischer Sinngebungen der Konfessionen zu erweitern48, auf eine Hinwendung der Geschichtswissenschaft zu den eigenen Intentionen der Konfessionen hin. Diese Korrektur der Konfessionalisierungforschung weist einiges Potential auf, Kunstgeschichte und Konfessionalisierungsforschung einander näherzubringen. In der ebenfalls fallbezogen zu rekonstruierenden Bedeutung von Kunst für die symbolischen und lebensweltlichen Dimensionen des Religiösen könnte jenseits von Sozialdisziplinierungstheorien ebenfalls eine fruchtbare Interdisziplinarität entstehen. Thomas Packeiser hat in diesem Sinne jüngst am Beispiel der Funktion des Stils im lutheranischen Kirchenbau für die Ausbildung einer konfessionell geprägten Gesellschaftsstruktur exemplifiziert, „daß erst in den Medien und Symbolen, über die Bekenntnisse sich aussprechen, die postulierte gesellschaftliche Reichweite historisch konkretisiert werden kann“.49 4. Anonyme Machtinstitutionen (Michel Foucault) Unter den Interpretamenten der postmodernen Gesellschafts- und Kulturtheorien, deren Rekurs insbesondere auf das 17. Jahrhundert in den vergangenen Jahren zunehmend betont wird50, waren Foucaults Überlegungen in den historischen Wissenschaften sicherlich am folgenreichsten. Beginnt für Elias und Oestreich die Modernisierung in der Frühen Neuzeit bei den höfischen bzw. den Verwaltungseliten, so begreift Foucault sie als Resultat autorloser Machttechnologien, die zur Grenzbestimmung der Gesellschaft die Organisation etwa von Schule, Gefängnis, Militär und Zuchthaus regelten, von dort zu Paradigmen der gesamten Gesellschaft wurden und dabei etwa in Pädagogik, Medizin oder Ökonomie wissenschaftlich systematisiert wurden. Dieser Prozeß habe unmittelbar in der Beherrschung der menschlichen Körper angesetzt. Im Militär, einem mehr und mehr überwachenden Justizwesen und einer durchorganisierten Wirtschaft sieht Foucault die menschli-

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Anton Schindling, Konfessionalisierung und Grenzen der Konfessionalisierbarkeit, in: Walter Ziegler (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter des Reformation und Konfessionalisierung. Bd. 7: Land und Konfession 1500–1650. Bilanz – Forschungsperspektiven. Münster 1997, 9–44. 49 Packeiser, Stilfragen (wie Anm. 34). 50 Vgl. etwa Walter Seitter, Zugänge zum Barock in der französischen Philosophie: Foucault, Lacan, Deleuze, in: Andreas Kreul (Hrsg.), Barock als Aufgabe. Wiesbaden 2005, 245–256; sowie die Sektion „Modernity and the Baroque“ bei der Tagung der German Studies Association, koordiniert von David Sabean, 29. 9. 2005–2. 10. 2005, Milwaukee. Ansätze auch in: Moritz Csáky u. a. (Hrsg.), Barock – ein Ort des Gedächtnisses. Interpretament der Moderne/Postmoderne. Berlin 2006.

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chen Körper zunehmend in apparative Funktionen integriert und so in den Dienst der modernen Disziplinargesellschaft gestellt.51 Ex negativo ist dabei auch Foucaults Sicht auf die Frühe Neuzeit als Vormoderne teleologisch. Gerade Foucaults Fixierung des Modernisierungsprozesses auf die apparative Vereinnahmung der Körper in der protomodernen Konzentration von Macht reizt zu kunsthistorischer Reflexion. Müßte nicht der Wandel der Körperdarstellungen als Indiz eines solchen Prozesses gelten können? War das Verfügbarmachen der Körperillusion in der frühneuzeitlichen Systematisierung der Künstleranatomie Teil dieses Vorgangs? Imaginierte die Kunst die sichtbaren Körper unter den Bedingungen ihrer Kontrollierbarkeit und erprobte diese möglicherweise? Mußten Bilder von Räumen und Körpern mit der Durchdringung der Gesellschaft durch panoptische Überwachungsvorrichtungen, wie Foucault sie beschrieben hat, anders gesehen werden? Paßte sich die Organisation künstlerischer Tätigkeit selbst der apparativen Durchorganisierung der Gesellschaft ein? Unterstützte Kunst, sei es in der Anfertigung bildlicher Hilfsmittel der apparativen Disziplinierung wie etwa Jacob de Gheyns „Wapenhandelinghe“ von 1607 (Abb. 6), dem Exerzierbuch der oranischen Armee, sei es in der Architektur von Kasernen oder Gefängnissen oder in der möglicherweise festzustellenden Übertragung von deren panoptischer Sichtbarkeitsökonomie auf weitere Architekturaufgaben diesen Prozeß aktiv?52 Oder blieb die Kunst zumindest partiell gegen die von Foucault konstatierte protomoderne Funktionalisierung immun, negierte in Renaissancen, Jenseits- und Rückwärtsutopien gar alle apparative Modernisierung und wurde so zu einem Hort antimodernen, humanen Widerstands? Auf Foucaults Thesen zur frühneuzeitlichen Disziplinierung nehmen kunsthistorische Studien gelegentlich Bezug; so etwa, wenn es um die Ikonologie der Gewalt und ihrer Darstellung geht.53 Hieronymus Boschs Darstel51

Michel Foucault, Surveiller et punir. La naissance de la prison. Paris 1975; zu Foucaults Konzept der Disziplinargesellschaft vgl. Stefan Breuer, Die Formierung der Disziplinargesellschaft. Michel Foucault und die Probleme einer Theorie der Sozialdisziplinierung, in: Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium 1983, H. 4, 257– 264; ders., Produktive Disziplin. Michel Foucaults Theorie der Disziplinargesellschaft, in: ders., Die Gesellschaft des Verschwindens. Hamburg 1995, 47–74. 52 Vgl etwa den Bezug auf Foucault bei Anthony Raynsford, Mirrors within the Wall. Enlightenment Authority and the Dialectics of Visual Desire in Ledoux’s Project for the Saline de Chaux, in: Chicago Art Journal 8, 1998, 18–30. 53 Vgl. etwa die auf Foucault Bezug nehmende These zu Darstellung und Sichtbarmachung von Hinrichtungen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit und deren Verschwinden aus der Öffentlichkeit am Ende der Epoche bei Lionello Puppi, Torment in Art. Pain, Violence, and Martyrdom. New York 1990, 8, 62 Anm. 48. Vgl. aber auch die etatistischen Argumente bei Dietmar Peil, Strafe und Ritual. Zur Darstellung von Straftaten und Bestrafungen im illustrierten Flugblatt, in: Wolfgang Harms/Alfred Messerli (Hrsg.), Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit 1450–1700. Basel 2002, 465–486; Franz Mauelshagen, Was ist glaubwürdig? Fallstudie

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Abb. 6: Jacob de Gheyn: Den Ladestock aus der Muskete ziehen, lavierte Zeichnung, 26,5 x 18,4 cm, Museum Boymans-van Beuningen, Rotterdam (Entwurf für: Wapenhandelinghe van Roers Mvsqvetten ende Spiessen, Graven Hage 1607, Haarlem 1607).

lung geistiger Behinderungen werden mit Foucaults Feststellung des gesellschaftlichen Ausschlusses geistig Behinderter in Verbindung gebracht54; oder niederländische Bordellszenen des 17. Jahrhunderts werden im Licht von Foucaults Überlegungen zu Machtbeziehungen analysiert55. Überlegungen zur Entstehung des Museums im 18. Jahrhundert, die Foucaults Feststellung eines epistemischen Bruchs in der Beziehung von Wissen und Macht am musealen Sammeln und Ausstellen exemplifizierten – beziehungsweise das Veröffentlichen von Kunst in Museen kritisch als gegenläufige, aber ebenfalls auf Kontrolle der Massen zielende Entwicklung zu dem von Foucault beschriebenen Verschwinden von Hinrichtungen aus der Öffentlichkeit deutete –, bliezum Zusammenspiel von Text und Bild bei der Beglaubigung außergewöhnlicher Nachrichten im illustrierten Flugblatt, in: ebd. 309–338. Zu diesem Segment der Mediengeschichte vgl. auch David R. Smith, Willem Buytewech as a Journalist. Perspective on Description and Narration, in: Konsthistorisk Tidskrift 60/3–4, 1991, 169–195. 54 Vgl. Thierry Boucquey, Vessel of Madness. Bosch’s Haywain as farcical ‚Intercomposition‘, in: Fifteenth Century Studies 16, 1990, 43–57; mit Bezug auf Michel Foucault, Histoire de la folie à l’âge classique – Folie et déraison. Paris 1961. 55 Vgl. Salomon, Civility (wie Anm. 13).

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ben jedoch ohne breitere kunsthistorische Resonanz.56 Für die Kunst der Frühen Neuzeit hat die Kunstgeschichte die durch Foucaults Überlegungen zur Macht aufgeworfenen Fragen in der bei ihm entfalteten Radikalität – abgesehen von diesen verstreuten Bezügen – bisher nicht systematisch gestellt und ebensowenig kritisch reflektiert. Insbesondere Foucaults konkrete Überlegungen zur Architektur des Überwachens haben für die Frühe Neuzeit vor allem Sozialhistoriker, kaum aber Kunsthistoriker aufgegriffen.57 5. Zeremonialwissenschaften (Barbara Stollberg-Rilinger) Die bisher besprochenen Makrotheorien deuten Frühe Neuzeit als Vorbereitung grundlegender Charakteristika der europäischen Moderne und konstruieren so ein politisches, gesellschaftliches, kulturelles und psychologisches Legitimationspotential sowie ein kulturgenetisches Leitziel – und sei es ex negativo wie bei den Thesen Foucaults. Mit dem von Jean-François Lyotard 1979 konstatierten „Ende der großen Erzählungen“58 sind die Grundannahmen von Frühneuzeitforschung als Wissenschaft von der Vormoderne aber grundlegend in Frage gestellt. Gegen den hiermit drohenden Verlust gesellschaftlicher Legitimierung von Geschichtswissenschaft überhaupt haben sich seither manche Versuche entwickelt, das Konzept von Früher Neuzeit aktuellen Vorstellungen von Moderne und Gegenwart anzupassen und so die Sonderstellung dieser Epoche für das Verstehen der Gegenwart und den Entwurf der Zukunft Europas neu zu konstituieren. So entwerfen etwa Mikrohistorie, Kommunalismusforschung, Konfessionalisierungsforschung und Alltagsgeschichte passend zu den seit den 1980er Jahren entwickelten Theoremen des Multikulturalismus eine plurale, von miteinander konkurrierenden und kooperierenden Kulturen geprägte Frühe Neuzeit Europas, in der sich die aktuell propagierten Leitbilder Europas spiegeln.59 56 Vgl. etwa Brandon Taylor, Displays of Power. With Foucault in the Museum, in: Circa Art Magazine 59, 1991, 22–27; Tony Bennett, The Exhibitionary Complex, in: Reesa Greenberg u. a. (Eds.), Thinking about Exhibitions. London/New York 1996, 81–112. 57 Vgl. etwa Paul Hirst, Foucault and Architecture, in: AA-files 26, 1993, 52–60. Breitere Rezeption findet Foucault für die Bild- und Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts; vgl. etwa Jonathan Crary, Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century. Cambridge, Mass. 1990; ders., Suspensions of Perception. Attention, Spectacle, and Modern Culture. Cambridge, Mass. u. a. 1999. 58 Jean-François Lyotard, La condition postmoderne. Rapport sur le savoir. Paris 1979. Siehe auch Clifford Geertz, Welt in Stücken. Kultur und Politik am Ende des 20. Jahrhunderts. Wien 1996. 59 Vgl. den Hinweis auf grundlegende Literatur bei Heinz Schilling, Europa in der werdenden Neuzeit – oder: „Was heißt und zu welchem Ende studiert man europäische Geschichte?“ Royal Netherlands Academy of Arts and Sciences Heineken Lectures 2002. Amsterdam 2003, 62–81, hier 70 f. In diesem Sinne mit Blick auf die Kunstgeschichte auch die kurze Kritik an der „beinahe kolonialistischen“ von Elias vorgetragenen soziologischen Gesellschaftsvorstellung, die von einem „Singular von kulturtragender Gesell-

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So wie sich die linearen Geschichtsmodelle einer Sozialgeschichte der Frühen Neuzeit selbst als Geschichte der Vormoderne in spezifischen Ideologien oder Strukturen der Frühen Neuzeit wie Absolutismus, Stoa oder Konfessionalisierung begründet sahen, wurde jüngst auch die postmoderne Auffassung von einer pluralen Frühen Neuzeit als Spezifikum zumindest eines Segments dieser Epoche begriffen: In oszillierender Zwischenstellung zwischen einem Epochen-, Stil- und Prinzipienbegriff wird nun das Barock als in Moderne und Postmoderne fortwirkendes Paradigma postmoderner Multiplikation von Prinzipien und Ambivalenzen begriffen.60 Gegenläufig zur postmodernen und dekonstruktivistischen Liquidierung eines zentrierenden, an den Eliten orientierten Kulturbegriffs und allen auf Ancennität gegründeten Sukzessionserwartungen wurden zugleich aber – den antagonistischen Paradigmen der Postmoderne entsprechend – auch überhistorische anthropologische Konstanten neu akzentuiert.61 Wo schließlich die These von der Sozialdisziplinierung als bedeutungsgebendem Signum der Frühen Neuzeit fortlebt, zeigt sich jetzt eine facettierte Vielfalt der Disziplinierungen von unten.62 Darüber hinaus stellen etwa Georg Schmitt und Martin van Gelderen auf der Grundlage eines anderen Modernisierungsbegriffs und in kritischer Auseinandersetzung besonders mit Gerhard Oestreich dessen Sozialdisziplinierungsthese grundlegend in Frage. Sie sehen vor allem die Entwicklung einer Vielfalt kollektiver Freiheitskonzepte als den in die Moderne und darüber hinaus wirkenden Effekt der Frühen Neuzeit.63 schaft“ ausgehe und Gruppenkonkurrenzen vernachlässige, bei Franke/Welzel, Burgundische Niederlande (wie Anm. 6), hier 64 f. 60 Vgl. etwa Ute Daniel, Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 1995, 456 ff.; Christine Buci-Glucksmann, Barock und Komplexität. Eine Ästhetik des Virtuellen, in: Peter J. Burgard (Hrsg.), Barock. Neue Sichtweisen einer Epoche. Wien u. a. 2001, 205–212 (siehe dort auch die Beiträge von Mieke Bal und Giancarlo Maiorino); Werner Oechslin und weitere Beiträger in: Csáky u. a. (Hrsg.), Barock – ein Ort des Gedächtnisses (wie Anm. 50), passim. Hierzu zuletzt auch die Konferenz Rethinking the Baroque. The University of York & Castle Howard, 5–7 July 2006 (Organisation: Helen Hills). 61 Ein knapper Überblick bei Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt am Main 2001, 297–313, bes. 304 f.; vgl. auch Valentin Groebner, Welche Themen, wessen Frühe Neuzeit? Kulturbegriff und Gegenwartsbezug, in: Helmut Puff/Christopher Wild (Hrsg.), Zwischen den Disziplinen? Perspektiven der Frühneuzeitforschung. Göttingen 2003, 21–36. 62 Vgl. etwa Schilling (Hrsg.), Institutionen (wie Anm. 22); Mathias Kälble, Die „Zivilisierung“ des Verhaltens. Zum Funktionswandel patrizischer Gesellschaften in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Gerhard Fouquet u. a. (Hrsg.), Geschlechtergesellschaften, Zunft-Trinkstuben und Bruderschaften in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten. Ostfildern 2003, 31–56. 63 Vgl. van Gelderen, Preußentum (wie Anm. 31), hier 51 f.; Georg Schmidt/Martin van Gelderen/Christopher Snigula, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Kollektive Freiheitsvorstellungen im frühneuzeitlichen Europa (1400 bis 1800). Jena 2005, 1–22. Zu den konkurrierenden Modernisierungsbegriffen hinter der Debatte um die Frühe Neuzeit als Vormoderne

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Auch jenseits aller Sozialdisziplinierungsthesen erscheint die Entwicklung des frühmodernen Staates nun oft als Funktion sozialer und ökonomischer Differenzierung und Selbstorganisation der Städte und Regionen, der Konfessionen und des Alltags.64 Hieran anbindbar entstehen in kritischer Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas’ These von der am Ende der Frühen Neuzeit vollzogenen Entfaltung der bürgerlichen, diskutierenden Öffentlichkeit aus der repräsentativen Öffentlichkeit – oder aber einem Plural von Öffentlichkeiten – neue Modernisierungsparadigmata, die jüngst vor allem mit Blick auf Postwesen, Flugblatt, Zeitung, Theater, Musik und Zeremoniell entfaltet wurden.65 Mit der neuen Fokussierung auf die Mikrohistorie ist die Geschichtswissenschaft nach ihrem Abschied von makrohistorischen Thesen zu jener Gegenstands- und Quellendichte sowie der damit verknüpften Vorstellung kultureller Pluralität zurückgekehrt, die in der kunsthistorischen Forschung seit dem 19. Jahrhundert nie aufgegeben wurde. In vielen ihrer jetzt fokussierten Themen wird sich die Geschichtswissenschaft daher nun ihrerseits an der Kunstgeschichte orientieren können. So hat die Kunstgeschichte etwa in David Freedbergs „Power of Images“ längst die entscheidenden Grundlagen zur medienhistorischen und kulturhistorischen Erforschung einer Disziplinierung von unten gelegt.66 Auch der in der Frühen Neuzeit vollzogene

vgl. Thomas Mergel, Geht es weiterhin voran? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne, in: ders./Thomas Welskopp (Hrsg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte. München 1997, 203–232. 64 Für die Konstitution von Herrschaft als „soziale Praxis“ und als „kommunikativer Prozeß“ aus einem Netzwerk multipolarer Herrschaftsbeziehungen, in denen sich unterschiedliche Akteure mit jeweils eigenen Ressourcen gegenüberstehen, vgl. etwa Markus Meumann/Ralf Pröve (Hrsg), Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse eines dynamisch-kommunikativen Prozesses. Hamburg 2004. 65 Vgl. Tim C. W. Blanning, The Culture of Power and the Power of Culture. Old Regime Europe 1660–1789. Oxford 2002; mit Bezug auf Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied 1962. Vgl. auch die Rekonstruktion eines Plurals paralleler Öffentlichkeiten bei James van Horn Melton (Ed.), Cultures of Communication from Reformation to Enlightenment. Constructing Publics in the Early Modern German Lands. Aldershot 2003; sowie mit besonderem Blick auf das um 1600 entstehende Zeitungswesen Holger Böning, Welteroberung durch ein neues Publikum. Die deutsche Presse und der Weg zur Aufklärung. Hamburg und Altona als Beispiel. Bremen 2002; Wolfgang Behringer, Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2003; Johannes Burkhardt u. a. (Hrsg.), Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit. München 2005. Vgl. aber auch Michèle Fogel, Les Cérémonies de l’information dans la France du XVIe au milieu du XVIIIe siècle. Paris 1989; Hélène Merlin, Public et Littérature en France au XVIIe siècle. Paris 1994. Zur Selbstorganisation der Städte und Regionen vgl. etwa Peter Blickle, Kommunalismus. Skizze einer gesellschaftlichen Organisationsform. 2 Bde. München 2000. 66 David Freedberg, The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response. Chicago/London 1989.

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Übergang von repräsentativen zu diskursiven Öffentlichkeiten ist – wenngleich nicht explizit – seit langem ein Thema der kunsthistorischen Erforschung von Musealisierung und Kunstkritik in der Frühen Neuzeit.67 Mit der Frage des Wandels der Öffentlichkeit wird für die Kunstgeschichte aber auch die Geschichte der Massenmedien neu zu erschließen sein. Eine besondere Rolle wird dabei sicher der Erforschung des illustrierten Flugblattes zukommen – an der die Kunstgeschichte bisher gewiß zu wenig beteiligt war, in Anbindung etwa an Forschungen zur Rezeption von Druckgraphik aber vieles beizutragen hat.68 Die symbolische Konstituierung von Geltungsansprüchen, die insbesondere im Distinktionsgewinn als Mittel im Kampf um gesellschaftliche Positionen sowie im Zermoniell gründet, hat seit etwa zehn Jahren besonders Barbara Stollberg-Rilinger als Grundlage der politisch-sozialen Ordnung frühneuzeitlicher Gesellschaften und ihrer Institutionen ins Zentrum der historischen Frühneuzeitforschung gerückt. Methodisch bindet dies an Pierre Bourdieus Überlegungen von um 1980 zur Dialektik von individuellem Habitus und den Strukturen sozialer Felder sowie zum symbolischen Kapital an, das durch gesellschaftliche Anerkennungsakte begründet wird. Mit Bourdieus Konzept der Konvertibilität von ökonomischem, kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital liegt zugleich eine einheitliche Theorie vor, auf deren Grundlage sich die älteren Thesen zu kausalen Systemeffekten zwi67 Immer noch grundlegend: Albert Dresdner, Die Entstehung der Kunstkritik im Zusammenhang der Geschichte des europäischen Kunstlebens. München 1915. 68 Dies schon kritisch bemerkt bei Carsten-Peter Warncke, Sprechende Bilder – sichtbare Worte. Das Bildverständnis in der frühen Neuzeit. Wiesbaden 1987, 255–279. Eine der wenigen Ausnahmen: Cornelia Kemp, Erbauung und Belehrung im geistlichen Flugblatt, in: Wolfgang Brückner u. a. (Hrsg.), Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. Wiesbaden 1985, 627–647. Fast ohne kunsthistorische Beteiligung erörtert die Frage der Öffentlichkeit von Flugblättern zuletzt Alfred Messerli, War das illustrierte Flugblatt ein Massenlesestoff? Überlegungen zu einem Paradigmawechsel in der Erforschung seiner Rezeption, in: Harms/Messerli (Hrsg.), Wahrnehmungsgeschichte (wie Anm. 53), 23–31. Zu verbinden ist eine Kunstgeschichte des illustrierten Flugblattes mit der Mediengeschichte der Druckgraphik. Zu Verbreitung und Rezeption von Druckgraphik in der Frühen Neuzeit zuletzt: Carsten-Peter Warncke, Das unterdrückte Bild – eine Revision der Mediengeschichte, in: Büttner/Wimböck (Hrsg.), Autorität (wie Anm. 34), 479–497, hier 482–484; Peter Parshall/Rainer Schoch, Die Anfänge der europäischen Druckgraphik. Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch, Ausstellungskatalog Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, 15. Dezember 2005–19. März 2006. Nürnberg 2005; Stephan Brakensiek, Vom Theatrum Mundi zum Cabinet des Estampes. Das Sammeln von Druckgraphik in Deutschland 1565–1821. Hildesheim 2003. Hinsichtlich der technisch begünstigten Austauschbarkeit von Bildmotiven in der Druckgraphik zeigt die Konsequenzen der Mediengeschichte der Druckgraphik für das Bildverständnis der Frühen Neuzeit Jörg Jochen Berns, Künstliche Akzeleration und Akzeleration der Künste in der Frühen Neuzeit. Eine ästhetikgeschichtliche Problemskizze, in: Marburger Jb. für Kunstwissenschaft 24, 1997, 159–177.

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schen Politik, Gesellschaft, Kultur und Individualpsychologie in der Sozialgeschichte der Frühen Neuzeit überprüfen und vereinheitlichen lassen. Die Frühneuzeitforschung stützt sich hier – passend zur neuen Betonung der Kontinuität zwischen 1000 und 1800 im Alteuropa-Konzept – erstmals auf einen Aspekt, der die Frühe Neuzeit ausdrücklich mit den angrenzenden Zeiträumen verbindet: Die Kontinuität zum Mittelalter expliziert das frühneuzeitliche Zeremoniell, und an der Unentschiedenheit der Gegenwart zwischen symbolisch-rituellen und rational-diskursiven Kommunikationsformen hat Bourdieu selbst seine Theorie entwickelt.69 Mit Bourdieus These von der Konvertibilität ökonomischen, kulturellen, sozialen und symbolischen Kapitals harmoniert auch das neuerdings verstärkte geschichtswissenschaftliche Interesse der Frühneuzeitforschung am Konflikt zwischen zeremoniellem Repräsentationsbedürfnis und Hofökonomie sowie an Patronage und Klientelismus. Deren soziale Bindekraft wird mittlerweile als höher eingeschätzt als die sozialen Schichten, von deren vordringlicher Bedeutung die

69 Pierre-Felix Bourdieu, La distinction. Critique sociale du jugement. Paris 1979; Pierre Bourdieu, Le sens pratique. Paris 1980; für die Adaptierbarkeit der Thesen Bourdieus in der Geschichtswissenschaft vgl. Sven Reichardt, Bourdieu für Historiker? Ein kultursoziologisches Angebot an die Sozialgeschichte, in: Mergel/Welskopp (Hrsg.), Theoriedebatte (wie Anm. 63), 71–94. Zur symbolischen Kommunikation in der Frühen Neuzeit vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell als politisches Verfahren. Rangordnung und Rangstreit als Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichstags, in: Johannes Kunisch (Hrsg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte. (ZHF, Beih. 19.) Berlin 1997, 91–132; dies., Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: ZHF 27, 2000, 389–405; dies., Vormoderne politische Verfahren. Tagung in Münster. (ZHF, Beih. 25.) Berlin 2001; dies., Die Wissenschaft der feinen Unterschiede. Das Präzedenzrecht und die europäischen Monarchien vom 16. bis zum 18. Jh., in: Majestas 10, 2002, 1–26; dies., Hofzeremoniell als Zeichensystem. Zum Stand der Forschung, in: Juliane Riepe (Hrsg.), Musik der Macht – Macht der Musik. Die Musik an den Sächsisch-Albertinischen Herzogshöfen Weißenfels, Zeitz und Merseburg. Bericht über das wissenschaftliche Symposion anläßlich der 4. Mitteldeutschen Heinrich-Schütz-Tage Weißenfels 2001. Schneverdingen 2003, 11–22; dies., Knien vor Gott – Knien vor dem Kaiser. Zum Ritualwandel im Konfessionskonflikt, in: Gerd Althoff (Hrsg.), Zeichen – Rituale – Werte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Münster 2004, 501–533; dies., Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Forschungsperspektiven – Thesen, in: ZHF 31, 2004, 491–527; dies., Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches. München 2008; dies. u. a. (Hrsg.), Spektakel der Macht. Rituale im Alten Europa 800–1800. Ausstellungskatalog. Darmstadt 2008. Aus der Fülle aktueller Studien zum Zeremoniell in der Frühen Neuzeit vgl. Jörg Jochen Berns/Thomas Rahn (Hrsg.), Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen 1995. Zum Alteuropakonzept: Erich Bödeker/Ernst Hinrichs, Alteuropa – Frühe Neuzeit – Moderne Welt? Perspektiven der Forschung, in: dies. (Hrsg.), Alteuropa – Ancien régime – frühe Neuzeit. Probleme und Methoden der Forschung. Stuttgart 1991, 11–50.

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im Kern stratifikatorisch angelegten sozialhistorischen Frühneuzeittheorien bis dahin ausgingen.70 In den neu akzentuierten Kontexten kommt Gegenständen, mit denen sich die Kunstgeschichte befaßt, per se zentrale Bedeutung zu. Als kulturelles Kapital sind Kunstwerke im Sinne Bourdieus mit anderen Kapitalformen konvertibel und blieben oft als einzige reale Zeugnisse solchen Tauschs bis heute erhalten. Es wundert also nicht, daß die Themen und Methoden in der Kunstgeschichte schon lange gepflegt werden, die nun ins Zentrum der geschichtswissenschaftlichen Forschung zur Frühen Neuzeit geraten sind oder geraten müssen. So greift etwa die in der geschichtswissenschaftlichen Forschung zur Frühen Neuzeit junge Patronageforschung eine Forschungsrichtung auf, die in der Kunstgeschichte seit langem verankert ist.71 Auch die – stärker in der Literaturwissenschaft als in der Geschichtswissenschaft der Frühen Neuzeit diskutierten – Konzepte erfolgreicher Hofkonversation wie sprezzatura, simulatio und dissimulatio sind seit Jahrzehnten als Paradigmen medienspezifischer Kunstqualitäten etabliert.72 Und ohne die Rekonstruk70

Das Konfliktpotential der Hofökonomie zuspitzend: Volker Bauer, Hofökonomie. Der Diskurs über den Fürstenhof in Zeremonialwissenschaft, Hausväterliteratur und Kameralismus. Wien/Köln/Weimar 1997; ders., Hofökonomie und Landesökonomie. Das Problem des Kameralismus im 17. und 18. Jahrhundert, in: Marcus Ventzke (Hrsg.), Hofkultur und aufklärerische Reformen in Thüringen. Die Bedeutung des Hofes im späten 18. Jahrhundert. Köln u. a. 2002; vgl. auch Ulf Christian Ewert, Sozialer Tausch bei Hofe. Eine Skizze des Erklärungspotentials der Neuen Institutionenökonomie, in: Butz u. a. (Hrsg.), Theorie (wie Anm. 8), 55–75. Zum Klientelismus: Heiko Droster, Patronage in der Frühen Neuzeit – Institution und Kulturform, in: ZHF 30, 2004, 555–590; Stefan Brakensiek, Herrschaftsvermittlung im alten Europa. Praktiken lokaler Justiz, Politik und Verwaltung im internationalen Vergleich, in: ders./Heide Wunder (Hrsg.), Ergebene Diener ihrer Herren? Herrschaftsvermittlung im alten Europa. Köln u. a. 2005, 1–21, hier 15–17. 71 Francis Haskell, Patrons and Painters. A Study in the Relations between Italian Art and Society in the Age of the Baroque. London 1963; Guy Fitch Lytle/Stephen Orgel, Patronage in the Renaissance. Princeton, N. J. 1981. Die Bibliography of the History of Art (BHA) verzeichnet über 15 000 Einträge zum Stichwort „Patronage“. 72 Zur sprezzatura: Roland Krischel, Jacopo Tintorettos Sklavenwunder. München 1991, 95–143; Philipp Fehl, Sprezzatura and the Art of Painting Finely. Open-ended Narration in Paintings by Apelles, Raphael, Michelangelo, Titian, Rembrandt, and Ter Borch. Groningen 1997; Axel-Christoph Gampp, „Sprezzatura“. Pontormos Portraits und das höfische Ideal des Manierismus, in: Wolfgang Braungart (Hrsg.), Manier und Manierismus. Tübingen 2000, 221–250; Maria-Isabel Pousao-Smith, Sprezzatura, Nettigheid and Fallacy of „invisible Brushwork“ in Seventeenth-Century Dutch Painting, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 54, 2003, 258–279; Valeska von Rosen, Celare artem. Die Ästhetisierung eines rhetorischen Topos in der Malerei mit sichtbarer Pinselschrift, in: Ulrich Pfisterer/Max Seidel (Hrsg.), Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance. München/Berlin 2003, 313–350. Christiane Kruse, Ars latet arte sua! Zur Kunst des Kunstverbergens im Barock, in: Ulrich Pfisterer/Anja Zimmermann (Hrsg.), Animation/Transgression. Das Kunstwerk als Lebewesen. Berlin 2005, 95–113. Zur dissimulatio: Warnke, Kommentare (wie Anm. 27), 53–58; Eckehardt Leuschner, Persona, Larva, Maske. Ikonologische Studien zum 16. bis frühen 18. Jahr-

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Abb. 7: David Teniers: Erzherzog Leopold Wilhelm in seiner Gemäldegalerie zu Brüssel, vor 1653, Öl auf Kupfer, 106 x 129 cm, Madrid, Prado.

tion der historischen Beurteilung künstlerischer Qualität frühneuzeitlicher Werke (Abb. 7), die immer zentrales Thema der Kunstgeschichte war und dies seit einigen Jahrzehnten mit neuen Impulsen ist73, wird der Tausch kulturellen gegen ökonomisches, symbolisches oder soziales Kapital auch von der neueren Geschichtswissenschaft seriös nicht zu behandeln sein. Kunstwerke konstituierten und demonstrierten soziale Distinktion in höchster Komplexität und großer historischer Dynamik, so daß der frühneuzeitliche hundert. Frankfurt am Main u. a. 1997; Victoria von Flemming, Dissimulazione. Lorenzo Lippi, Salvator Rosa und die Krise der Repräsentation, in: Christine Göttler u. a. (Hrsg.), Diletto e Maraviglia. Ausdruck und Wirkung in der Kunst der Renaissance bis zum Barock. Emsdetten 1998, 74–101; Ulrike Müller Hofstede, Künstlerischer Witz und verborgene Ironie. Zu Berninis Aeneas- und Anchisesgruppe und Bagliones ‚Cupido cruciatur‘, in: ebd. 103–127. 73 Vgl. etwa Michael Baxandall, Painting and Experience in Fifteenth Century Italy. A Primer in the Social History of Pictorial Style. Oxford 1972; Rudolf Preimesberger, Zu Jan van Eycks Diptychon der Sammlung Thyssen-Bornemisza, in: Zs. für Kunstgeschichte 54, 1991, 459–489; Heinen, Predigt (wie Anm. 37), 20–25, 80–99. Exemplarisch sei besonders hingewiesen auf die Etablierung ästhetisch vergleichender Kunstbeurteilung in den flämischen Kunstkammerdarstellungen des 17. Jahrhunderts (hierzu ebd. 92 f., 293 f. Anm. 153 f.).

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Diskurs der sich ausbildenden Kunstkritik sicher paradigmatisch für Diskurse der Distinktion überhaupt genommen werden darf – nicht zufällig entfaltete Bourdieu seine Theorie der „feinen Unterschiede“ ja an Untersuchungen zum Kunsturteil seiner Zeitgenossen. Im interdisziplinären Austausch mit den neuen Akzentsetzungen der Frühneuzeitgeschichte können solche Aspekte auch in der Kunstgeschichte mikrohistorisch weiter vertieft und makrohistorisch neu geordnet werden. Daß Bilder, Skulpturen, Architektur, Kunsthandwerk sowie Fest- und Gartenkunst Träger und Bestandteile symbolisch-ritueller Kommunikation sind, daß sie insbesondere die Konversation und als dauerhafte oder ephemere Ausstattungsstücke sowie als Geschenke das Zeremoniell begleiten, strukturieren, repräsentieren, konservieren und prospektieren, und daß dies mit medienspezifischen Mitteln geschieht, die verbalsprachlich zwar bereichernd zu begleiten, nicht aber vollständig einzuholen sind, ist der Kunstgeschichte wiederum seit langem selbstverständlich.74 Die methodische Neuakzentuie74 Für die Architektur vgl. etwa Ulrich Schütte, Höfisches Zeremoniell und sakraler Kult in der Architektur des 17. und 18. Jahrhunderts. Ansätze zu einem strukturellen Vergleich, in: Berns/Rahn (Hrsg.), Zeremoniell (wie Anm. 69), 410–431; Carsten-Peter Warncke, Der Raum der Geselligkeit. Die Lage von Sala grande und großem Salon im frühneuzeitlichen Herrschaftsbau, in: Wolfgang Adam (Hrsg.), Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Wiesbaden 1997, 155–180; Stephan Hoppe, Der Raumtypus des „Prunkappartements“ als Träger symbolischen Kapitals. Über eine räumliche Geste der zeremonialen Gastfreundschaft im deutschen Schloßbau der beginnenden Neuzeit, in: Peter-Michael Hahn/Ulrich Schütte (Hrsg.), Zeichen und Raum. Ausstattung und höfisches Zeremoniell in den deutschen Schlössern der Frühen Neuzeit. München/Berlin 2006, 229–251. Für die ephemere Architektur vgl. etwa Michael Brix, Die Trauerdekorationen für die Habsburger in den Erblanden. Studien zur ephemeren Architektur des 16. bis 18. Jahrhunderts. Diss. phil. Kiel 1971; Karl Möseneder, Zeremoniell und monumentale Poesie. Die „Entrée solennelle“ Ludwigs XIV. 1660 in Paris. Berlin 1983; Roy Strong, Feste der Renaissance 1450–1650. Kunst als Instrument der Macht. Freiburg u. a. 1991; Jill Bepler, Ansichten eines Staatsbegräbnisses. Funeralwerke und Diarien als Quelle zeremonieller Praxis, in: Berns/Rahn (Hrsg.), Zeremoniell (wie Anm. 69), 183–197; Anne Spagnolo-Stiff, Die Entrée solennelle. Festarchitektur im französischen Königtum (1700– 1750). Weimar 1996; Michail A. Bojcov, Ephemerität und Permanenz bei Herrschereinzügen im spätmittelalterlichen Deutschland, in: Marburger Jb. für Kunstwissenschaft 24, 1997, 87–107. Für die Skulptur: Carsten-Peter Warncke, Rang, Platz, Pose und Kostüm: Politische Kategorien öffentlicher Personaldenkmäler in der Frühen Neuzeit, in: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte 38, 1999, 195–208. Für die Malerei: Friedrich Polleross, Des abwesenden Prinzen Porträt: Zeremonielldarstellung im Bildnis und Bildnisgebrauch im Zeremoniell, in: Berns/Rahn (Hrsg.), Zeremoniell (wie Anm. 69), 382– 409; Frank Büttner, Ikonographie, Rhetorik und Zeremoniell in Tiepolos Fresken in der Würzburger Residenz, in: Peter O. Krückmann (Hrsg.), Der Himmel auf Erden. Tiepolo in Würzburg. 2 Bde. München 1996, Bd. 2, 52–62; Barbara Welzel, Vor den Bildern und in den Bildern. Die Gemälde von Jacques Daret in Arras 1435, in: Büttner/Wimböck (Hrsg.), Autorität (Anm. 34), 103–128. Für Tapisserien vgl. etwa Birgit Franke, Alttestamentliche Tapisserie und Zeremoniell am burgundischen Hof, in: Berns/Rahn (Hrsg.), Zeremoniell (wie Anm. 69), 332–335; dies., Tapisserien – „portable grandeur“ und Medium der Erzählkunst, in: dies./Barbara Welzel, Die Kunst der burgundischen Niederlan-

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rung der Geschichtswissenschaft läßt aber auch für die Kunstgeschichte neben der weiter ausgebauten politischen Ikonographie75 eine Intensivierung des Blicks auf Interdependenzen zwischen Zeremoniell und visuellen Medien oder Architektur sowie eine weitere methodische Fundierung solcher Studien erwarten.76 Da zeitgenössische Traktate immer wieder betonen, das Volk sei durch Prachtentfaltung weit leichter zu überzeugen als durch Gewalt oder Vernunft, wird die Kunstgeschichte Überlegungen zur Stil- und Gattungsentwicklung repräsentativer Kunst zudem jenseits aller Darstellungsinhalte neu mit der Frage nach der Machtfunktion bloßer Prachtentfaltung in künstlerischen Medien verbinden können.77 Daß die Hofarchitektur selbst auf mediale Wirkung und auf mnemonische Sicherung der Erinnerung als wesentliche Aspekte ihrer symbolischen Kommunikation angelegt war, hat vor kurzem Ulrich Schütte betont.78 In ausdrücklichem Rekurs auf Habermas’ Skizze der frühneuzeitlichen repräsentade. Eine Einführung. Berlin 1997, 121–139; dies., Zwischen Liturgie und Zeremoniell. Ephemere Ausstattung bei Friedensverhandlungen und Fürstentreffen, in: Nicolas Bock u. a. (Hrsg.), Kunst und Liturgie. Akten des internationalen Kongresses der Bibliotheca Hertziana und des Nederlands Instituut te Rome, Rom, 28.–30. 9. September 1997. München 2000, 205–216. Für die Goldschmiedekunst vgl. etwa Carsten-Peter Warncke, Johann Melchior Dinglingers ‚Hofstaat des Großmoguls‘ – Form und Bedeutung eines virtuosen Goldschmiedekunstwerkes, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1988, 159–188; ders., Allegorese als Gesellschaftsspiel. Erörternde Embleme auf dem Satz Nürnberger Silberbecher aus dem Jahre 1621, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1982, 43–62; Hans Ottomeyer/Michaela Völkel (Hrsg.), Die öffentliche Tafel. Tafelzeremoniell in Europa 1300–1900. Wolfratshausen 2002. Für Kleidung und deren Darstellung: Carsten-Peter Warncke, Rationalisierung des Dekors. Über Kleidung, Schmuck und Verschönerung in der Frühen Neuzeit, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500–2000. Wien u. a. 1998, 159–173. 75 Eine Verbindung von politischer Ikonographie und Epistemologie der Frühen Neuzeit suchen Horst Bredekamp/Pablo Schneider (Hrsg.), Visuelle Argumentationen. Die Mysterien der Repräsentation und die Berechenbarkeit der Welt. München 2006. 76 Forschungsdesiderate nennt Friedrich Polleross, „Waß anbetriefft die zier der zimmer …“ Notizen zum wissenschaftlichen Kolloquium „Das Schloß und seine Ausstattung. Zur Zeichenhaftigkeit höfischer Innenräume“ auf der Heidecksburg in Rudolstadt vom 30. 4.–2. 5. 1999, in: Frühneuzeit-Info 10, 1999, 302–314, hier 310. Vgl. auch Stephan Hoppe, Die funktionale und räumliche Struktur des frühen Schloßbaus in Mitteldeutschland. Untersucht an Beispielen landesherrlicher Bauten der Zeit zwischen 1470 und 1570. Köln 1996. 77 Vgl. Duindam, Myths (wie Anm. 8); ders., Kritik (wie Anm. 8), hier 376 Anm. 13. Dem pauschalen Hinweise auf Traktate des 18. Jahrhunderts ließen sich Beispiele aus der gesamten Frühen Neuzeit hinzufügen. 78 Ulrich Schütte, Architekturwahrnehmung, Zeichensetzung und Erinnerung in der Frühen Neuzeit. Die architektonische Ordnung des „ganzen Hauses“, in: Harald Tausch (Hrsg.), Gehäuse der Mnemosyne. Architektur als Schriftform der Erinnerung. Göttingen 2003, 123–149. Vgl. auch Matthias Müller, Das Schloß als Bild des Fürsten. Herrschaftliche Metaphorik in der Residenzarchitektur des Alten Reichs (1470–1618). Göttingen 2004.

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tiven Öffentlichkeit hat jüngst Michaela Völkel zudem die konstituierende Funktion der Veröffentlichung von Hofzeremoniell und -architektur in druckgraphischen Reproduktionen rekonstruiert, die den persönlichen Besuch von Repräsentationsbauten und Festen nicht nur ersetzen, sondern sogar übertreffen sollten. Das dort Gezeigte ging über das in der Realität Beobachtbare an Informationsgehalt und Machtdemonstration weit hinaus, bot durch medial bereitgestelltes Material für den ortsunabhängigen Vergleich Gelegenheit zur Schärfung der Konkurrenz der Höfe und sicherte das gruppenkonstituierende Gedenken.79 Mit dem Hinweis auf die durch bürgerliche Verleger betriebene Weiterverarbeitung solcher höfischen Publikationen in preiswerten Formaten hat Völkel zudem den Weg der höfischen Prinzipien von der repäsentativen in die bürgerliche diskursive Öffentlichkeit angedeutet.80 Wie diese Beipiele zeigen, ist mit der Relativierung der einst hegemonial vorgetragenen sozialhistorischen Makrothesen und mit der neuen historischen Akzentuierung symbolischer Kommunikation die interdisziplinäre Osmose von Forschungsfragen und Kooperationen zwischen geschichtswissenschaftlicher und kunsthistorischer Frühneuzeitforschung im vergangenen Jahrzehnt offensichtlich unproblematischer geworden.

II. Kunstgeschichte und Epistemologie der Frühen Neuzeit 1. Bild-Verstehen – Episteme und „Rhetorik des Sehens“ (Carsten-Peter Warncke) Gegenläufig zur Depotenzierung der sozialhistorischen Frühneuzeit-Makrothesen und sicherlich noch als später Reflex auf den einstigen Hegemonialanspruch der Geschichtswissenschaft über die Deutung der gesamten Epoche konturiert die Kunstgeschichte allerdings seit etwa zwanzig Jahren eigene Ansätze zu spezifisch kunst-, bild- und medienhistorischen Frühneuzeitkonzepten. Einen interdisziplinären Bezugspunkt boten dabei die epistemologischen Überlegungen, die Foucault mit seinen sozialhistorischen Thesen verbunden hatte. Wie die Modernisierung für Foucault Resultat autorloser Machttechnologien war, so deutete er auch die epochenprägende Struktur 79 Vgl. Michaela Völkel, Das Bild vom Schloß. Darstellung und Selbstdarstellung deutscher Höfe in Architekturstichserien (1600–1800). München/Berlin 2001; dies., Funktionen der Druckgraphik an deutschen Höfen der frühen Neuzeit, oder: wie zeremonielles Wissen in Bildern gespeichert, verbreitet und zweckentfremdet wurde, in: Achim Landwehr (Hrsg.), Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens. Augsburg 2002, 191–217, hier bes. 194–198. 80 Ebd. 210. Vgl. auch Michaela Völkel, Schloßbesichtigungen in der Frühen Neuzeit. Ein Beitrag zur Frage nach der Öffentlichkeit höfischer Repräsentation. München/Berlin 2007.

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der Diskurse über Sinn, Wissen und Wirklichkeit, die sogenannten Episteme, als Wirkung autorloser Machtinstanzen. In diesem Sinne konstatierte er für das 17. und 18. Jahrhundert einen grundlegenden epistemischen Umbruch. Das Organisationsprinzip der Ähnlichkeit und Verwandtschaft, von dem das Denksystem im Zeitalter der Renaissance noch bestimmt gewesen sei, sei im „klassischen“ Zeitalter des 17. und 18. Jahrhunderts durch eine neue Ordnung des Wissens abgelöst worden. Auf den Prinzipien von Repräsentation und Mathesis basierend, habe damals eine allgemeine Ordnungswissenschaft begonnen, Wissen nach dem Ordnungsprinzip von Identität und Differenz in Form hierarchischer Taxonomien zu ordnen.81 Wie jüngst Walter Seitter herausgestellt hat, ist Foucaults Kontrastierung von Renaissance und klassischem Zeitalters, in deren Umbruch Foucault einen als „Barock“ bezeichneten Krisenzustand der Verwirrung, Täuschung und Verwechslung begründet sah, von morphologischen Vorstellungen geprägt, die letztlich der kunsthistorischen Stilgeschichte entstammen.82 Zumal Foucault seine These vom epistemischen Bruch selbst an einem Werk der bildenden Kunst, ‚Las Meninas‘ von Diego Velázquez (Abb. 8), erläutert hat, hätte die Kunstgeschichte seine Überlegungen also leicht adaptieren und mit eigenen Vorstellungen der Stilentwicklung verbinden können.83 81

Michel Foucault, L’archéologie du savoir. Paris 1969. Zu Foucaults Theorie der Episteme und ihrer Wirkung vgl. Bernhard F. Scholz, Zur Bedeutung von Michel Foucaults These eines epistemischen Bruchs im 17. Jahrhundert für die Barockforschung, in: Garber (Hrsg.), Europäische Barock-Rezeption (wie Anm. 2), Bd. 1, 169–184. Kritisch Foucaults Rekonstruktion einer für die Renaissance charakteristischen Episteme der Ähnlichkeit beleuchtend Hempfer, Probleme (wie Anm. 1), 26–28. 82 Seitter, Zugänge (wie Anm. 50), hier 248–250. 83 Michel Foucault, Les Mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris 1966. Zur kunsthistorischen Rezeption von Foucaults These des epistemischen Umbruchs und zu seiner Analyse des Bildes vgl. auch Svetlana Alpers, Interpretation without Representation, or, the Viewing of Las Meninas, in: Representations 1, 1983, 31–42 (gipfelnd in einem soziologischen Gegenentwurf zu Foucault); Burckhart Steinwachs, Epistemologie und Kunsthistorie. Zum Verhältnis von „arts et sciences“ im aufklärerischen und positivistischen Enzyklopädismus. in: Bernard Cerquiglini/Hans Ulrich Gumbrecht (Hrsg.), Der Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Wissenschaftsgeschichte als Innovationsvorgabe. Frankfurt am Main 1983, 73–110; Joel Snyder, Las Meninas and the Mirror of the Prince, in: Critical-Inquiry 11/4, 1985, 539–572; Thomas Zaunschirm, Die Kehrseite. Velázquez und Michel Foucault, in: ders., Leitbilder. Denkmodelle der Kunsthistoriker. Klagenfurt 1993, 204–229; Nicole Dubreuil-Blondin, Le philosophe chez Velazquez. L’intrusion de Michel Foucault dans la fortune critique des Menines, in: Racar 20, 1993, 116–129; W. J. T. Mitchell, Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation. Chicago/London 1994, 58–64; Ellen Harlizius-Klück, Der Platz des Königs. Las meninas als Tableau des klassischen Wissens bei Michel Foucault. Wien 1995; Miles Ogborn, Knowing the Individual. Michel Foucault and Norbert Elias on Las Meninas and the Modern Subject, in: Steve Pile/Nigel Thrift (Eds.), Mapping the Subject. Geographies of Cultural Transformation. London 1995, 57–76; Henk Slager, Archeology of Art Theory. Amsterdam u. a. 1995; von Flemming, Dissimulazione (wie Anm. 72), 78–80 (eine grundlegende Kritik gibt Kruse, Kunstverbergen [wie Anm. 72], 105, 112 Anm. 36);

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Abb. 8: Diego Velázquez: Las Meninas, 1656, Öl auf Leinwand, 318 x 276 cm, Madrid, Prado.

Hätten nicht etwa die zwischen 1400 und 1800 entwickelten innerbildlichen Ordnungs- und Einheitsvorstellungen84 als Indikator des von Foucault herausgearbeiteten epistemischen Umbruchs gedeutet werden können? Ließen sich nicht die regional zeitverschobenen Schübe der Ablösung des Barockstils als symbolische Formen im Sinne Ernst Cassirers mit parallel verlaufenden Schüben der Etablierung der klassischen Ordnungsprinzipien in anderen James Byrnes, Viewing Foucault Viewing Velasquez’s Las Meninas, in: Albert Tricomi (Ed.), Contextualizing the Renaissance. Returns to History. Selected Proceedings from the 28th Annual Cremers Conference. Turnhout 1999, 157–169; Rainer Marx, Der Platz des Spiegels, in: Michel Foucault, Velázquez’ „Las Meninas“. Der Essay von Michel Foucault. Frankfurt am Main 1999, 57–88; Keith Broadfoot, Las Meninas and the King’s Two Bodies, in: Word and Image 17, 2001, 219–232; Anne Goalabre, Les Menines. Jacques Lacan dialogue avec Michel Foucault, in: Genevieve Barbe Coquelin de Lisle (Ed.), Velazquez aujourd’hui. Actes du colloque scientifique international. 400e anniversaire de la naissance de l’artiste. Anglet/Atlantica 2002, 305–315; Ulrike Hass, Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform. München 2005, 35–40. 84 Vgl. etwa Hans Körner, Auf der Suche nach der ‚Wahren Einheit‘. Ganzheitsvorstellungen in der französischen Malerei und Kunstliteratur vom mittleren 17. bis zum mittleren 19. Jahrhundert. München 1988; Thomas Puttfarken, The Discovery of Pictorial Composition. Theories of Visual Order in Painting 1400–1800. New Haven/London 2000. Naheliegend wären auch Analogien zwischen Bildordnungen und der Ordnung in Tanz und Exerzierreglement (zu deren anthropologischen Grundlagen vgl. William H. McNeill, Keeping Together in Time, Dance and Drill in Human History. Cambridge, Mass. 1995; vgl. auch Daniela Stocks, Die Disziplinierung von Musik und Tanz. Die Entwicklung von Musik und Tanz im Verhältnis zu Ordnungsprinzipien christlich-abendländischer Gesellschaft. Opladen 2000).

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Segmenten der Wissens- und Gesellschaftsorganisation exakt parallelisieren? Von wenigen Ausnahmen abgesehen blieb die Kunstgeschichte aber von Foucaults Überlegungen zur Episteme lange unberührt – vielleicht auch, weil Foucaults Exemplifizierung des epistemischen Umbruchs an ‚Las Meninas‘ nach der Rekonstruktion des dargestellten Realraumes im Madrider Alcázar durch Hermann Ulrich Asemissen gänzlich zurückgewiesen werden muß.85 In grundlegende Auseinandersetzung mit Foucaults Theorie eines frühneuzeitlichen epistemischen Umbruchs trat die Kunstgeschichte allerdings bei Carsten-Peter Warncke. Seinen 1987 publizierten epistemologischen Entwurf der „medienhistorischen Analyse als Methode“ entwickelte Warncke als wissenschaftssystematisches Fundament kunsthistorischer Rekonstruktion historischer Medienverständnisse.86 Exemplifiziert hat er die Rekonstruktion des Gefüges medienspezifischer Transfermechanismen, nach denen die Rezeption von Werken eines Mediums jeweils in einem anderen Medium artikuliert werden konnte, anhand des Verstehens des Mediums Bild in der Frühen Neuzeit. Als erster Kunsthistoriker bezog sich Warncke dabei schon im Titel explizit auf die Frühe Neuzeit nicht nur als Sammelbegriff, sondern als bild- und medienhistorisch konturierte Epoche.87 Signifikanterweise blieb Warnckes grundlegende Studie zum medienhistorischen Bruch zwischen frühneuzeitlichem und modernem Bildverstehen in der Kunstgeschichte, die damals zwar an methodologischen, wenig aber an epistemologischen Fragen interessiert war, lange Zeit sichtlich viel benutzt, aber wenig zitiert. Erst mit seiner jüngst erschienenen Überlicksdarstellung zu Symbol, Emblem und Allegorie88, die auf eine Darlegung der epistemischen Grundlagen weitgehend verzichtet, findet zumindest ein von Warncke rekonstruierter wesentlicher Aspekt des Bildverständnisses der Frühen Neuzeit die verdiente breite Resonanz. Warncke folgte 1987 Foucaults Überlegungen zur Episteme und stellte für das Verständnis des Mediums Bild im 17. Jahrhundert einen fundamentalen Wechsel fest. Zu Beginn des Jahrhunderts habe noch ein sprachanaloges Medienverständnis vorgeherrscht, das – etwa im Sinne der Signaturenlehre 85

Hermann Ulrich Asemissen, Las Meninas von Diego Velázquez. (Kasseler Hefte für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik, 2.) Kassel 1981. 86 Warncke, Bildverständnis (wie Anm. 68). 87 Vor Warncke wurde von einem späteren Kunsthistoriker eine philosophische Dissertation verfaßt, welche die „Frühe Neuzeit“ als Konzept im Titel führt: Gottfried Boehm, Studien zur Perspektivität. Philosophie und Kunst in der frühen Neuzeit. Heidelberg 1969. Das nächste explizit auch kunsthistorisch adressierte Buch mit Nennung der Frühen Neuzeit im Titel wurde von einer Neolatinistin und einem Germanisten herausgegeben: Christel Meier/Uwe Ruberg, Text und Bild. Aspekte des Zusammenwirkens zweier Künste in Mittelalter und früher Neuzeit. Festschrift Friedrich Ohly. Wiesbaden 1980. 88 Carsten-Peter Warncke, Symbol, Emblem, Allegorie. Die zweite Sprache der Bilder. Köln 2005.

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– eine Einheit der Zeichensysteme auf Ähnlichkeit gegründet habe. Auf dieser Grundlage seien Wort und Bild gleichermaßen als Begriffsfiguren verstanden worden, die einen Sachverhalt darstellen. Durchdrungen von den zeichentheoretischen Überlegungen Rene Descartes’ und der Schule von Port Royal habe sich dann aber ein neues Medienverständnis entwickelt, das auf einer „scheinbar distanzlosen Transparenz zwischen dem bezeichnenden Diskurs und dem von ihm bezeichneten Denken“ beruhte. Das sprachliche Zeichen galt nun als bloße „Mitteilungsgestalt“ des Denkens, zu dem es im Verhältnis einer „Fastidentität“ stehe. Diese Aufhebung der Distanz zwischen Sprechen und Denken habe – so Warncke – die materielle Beschaffenheit der Zeichensysteme suspekt gemacht und die signitive Auffassung des mimetischen Bildes im Laufe der folgenden Jahrhunderte suspendiert. Erhalten geblieben sei für das Medium Bild, da verbalsprachlich nicht einholbar, alleine der „Zeichenwert der Form“.89 Im interdisziplinären Kontext der Epistemologie der Frühen Neuzeit kontrastiert Warncke die Spezifität des frühneuzeitlichen Bildverständnisses gegen das im 18. und 19. Jahrhundert dominant werdende Bildverständnis.90 Bilder wurden in der Frühen Neuzeit wortanalog als Repräsentation von Sachen bzw. Sachverhalten verstanden: „Sprechende Bilder“ als „sichtbare Worte“. Wie Warncke an zahlreichen Beispielen demonstriert, galt dieses Medienverständnis für illustrierte Flugblätter oder wissenschaftliche Illustrationen ebenso wie für Gemälde aller Gattungen und Kontexte. Dieses universelle Bildverständnis wurde seit dem 17. Jahrhundert abgelöst durch eines, in dem das Medium Bild schließlich nur noch sich selbst auszusprechen hatte.91 Gerade indem Warncke die Mediengeschichte dieses wortanalogen Bildverständnisses rekonstruiert, betont er die grundsätzliche Eigenständigkeit des Mediums Bild.92 Als medienhistorisches Epochensignum des frühneuzeitlichen Bildverständnisses erkennt Warncke das komplex argumentieren89 Vgl. Warncke, Bildverständnis (wie Anm. 68), 9–37, 60–63, 76. Zur Signaturenlehre vgl. auch Friedrich Ohly, Zur Signaturenlehre der frühen Neuzeit. Bemerkungen zur mittelalterlichen Vorgeschichte und zur Eigenart einer epochalen Denkform in Wissenschaft, Literatur und Kunst. Stuttgart u. a. 1999. Zum Verhältnis von Wort und Bild im Medienverständnis der Frühen Neuzeit zuletzt Reinhard Krüger, Leonardo da Vinci und die Hieroglyphen – Die Bilderschrift als medienhistorisches Paradigma der Kommunikationstheorie in der frühen Neuzeit, in: Maren Huberty/Roberto Ubbiediente (Eds.), Leonardo da Vinci all’Europa. Berlin 2005, 85–107 (ein Einwand gegen Foucaults Episteme der Ähnlichkeit ebd. 100). 90 Vgl. Warncke, Bildverständnis (wie Anm. 68), 24. 91 Die Bedeutung des von Warncke rekonstruierten Medienverständnisses für die eng mit der Entwicklung der Kartographie verbundene Entstehung des Landschaftsbildes als Gattung von Malerei, Druckgraphik und Zeichnung exemplifiziert Nils Büttner, Die Erfindung der Landschaft. Kosmographie und Landschaftskunst im Zeitalter Bruegels. Göttingen 2000. 92 Zur Geschichte der „Mißachtung des Mediums Bild“ vgl. Warncke, Revision (wie Anm. 68), hier bes. 493.

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de Bild und zeigt dessen vielfältige Funktionsprinzipien an konkreten Beispielen. Als komplexeste Form des visuellen Argumentierens behandelt er ausführlich das Emblem. Da Emblemata nur in den Grenzen der Epoche in lebendigem Gebrauch waren, kann Warncke die emblematische Denkweise dabei als paradigmatisch für das Bildverständnis der Frühen Neuzeit erweisen: In Emblemata bestimmt ein Definitionsrahmen den gemeinten Sachverhalt. Bezugsfindung und Schlußfolgerung sind dann aber dem Betrachter überlassen. Das frühneuzeitliche Bildverständnis intendierte die „Eigenleistung des Betrachters als Bestandteil der bildlichen Mitteilung“. Der konstitutive und oftmals geradezu spielerische Eigenanteil des Betrachters am frühneuzeitlichen Bildverständnis war dabei zugleich eng mit der Entwicklung einer diskursiven Kultur des Verstehens der Inhalte von Bildern verbunden.93 Die bedeutungsschaffende Funktion des Betrachters gegenüber dem als grundsätzlich polyvalent erkannten Medium Bild eröffnete auch die Entwicklung von Bildern, die – je nach Adressierung – höchste Anforderungen an Intellekt, Gewitztheit und Kommunikationsfähigkeit stellen konnten.94 Die bildungsgeschichtlichen – und damit sozialhistorischen – Ursachen und Wirkungen des frühneuzeitlichen Bildverständnisses bei der Intellektualisierung der europäischen Eliten können in ihrer ganzen Tragweite für die Zivilisierung Europas nicht hoch genug eingeschätzt werden, harren aber noch einer grundlegenden Untersuchung.95 In der Zuspitzung auf ein Bildverständnis, das Bilder mit höchstem intellektuellen Anspruch systematisch ermöglichte, fügt sich Warnckes kunst93

Vgl. etwa das praktische Beispiel bei Warncke, Allegorese (wie Anm. 74), 43–62; vgl. auch Thomas Frangenberg, Der Betrachter. Studien zur florentinischen Kunsttheorie des 16. Jahrhunderts. Berlin 1990; Sebastian Schütze (Hrsg.), Kunst und ihre Betrachter in der Frühen Neuzeit. Ansichten, Standpunkte, Perspektiven. Berlin 2005. 94 Vgl. Warncke, Bildverständnis (wie Anm. 68), 161–323, bes. 171, 174, 176, 180, das Zitat 205; jetzt wieder aufgegriffen bei Warncke, Symbol (wie Anm. 88); die Deutungsoffenheit erkennt – allerdings um den Preis der Stilisierung von Emblemata als „offene Kunstwerke“ – als gattungskonstitutiv jetzt auch Rüdiger Zymner, Das Emblem als offenes Kunstwerk, in: Wolfgang Harms (Hrsg.), Polyvalenz und Multifunktionalität der Emblematik. Frankfurt am Main u. a. 2002, 9–24. Zur Polyvalenz vgl. auch das Forschungsvorhaben von Andreas Prater (http://www.sfb541.uni-freiburg.de/B11/beschreibung. html, vom 19. 10. 2000, aufgerufen am 1. 1. 2007; auffindbar bei http://www.archive.org). 95 Grundlage einer Bildungs- und Sozialgeschichte der intellektuell anspruchsvollen visuellen Bildung könnte etwa eine Untersuchung des Bildgebrauchs in Jesuitengymnasien darstellen; Material hierzu etwa bei Karel Porteman, Emblematic Exhibitions (affixiones) at the Brussels Jesuit College (1630–1685). A Study of the Commemorative Manuscripts. (Royal Library, Brussels) Brepols 1997; Dietmar Spengler, spiritualia et pictura. Die Graphische Sammlung des ehemaligen Jesuitenkollegs in Köln. Die Druckgraphik. Köln 2003. Vgl. auch Christian Rittelmeyer/Erhard Wiersing, Bild und Bildung. Ikonologische Interpretationen vormoderner Dokumente von Erziehung und Bildung. Wiesbaden 1991; Rudolf W. Keck, Zur Bedeutung der Emblematik für die Historische Pädagogik, in: Hanno Schmitt u. a. (Hrsg.), Bilder als Quellen der Erziehungsgeschichte. Bad Heilbrunn 1997, 273–290.

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historisches Frühneuzeitverständnis ganz in eine besonders von Germanistik, Romanistik und Neolatinistik geprägte, stets aber interdisziplinär ausgerichtete Frühneuzeitforschung, die insbesondere an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und in den dort eingerichteten Arbeitskreisen die Entwicklung der frühneuzeitlichen Gelehrsamkeit in den Mittelpunkt quellennaher Frühneuzeitforschung rückte und dabei deren machtbegründendes ebenso wie deren subversives Potential stets gleichermaßen im kritischen Blick behielt. Gegen die Thesen der Sozialgeschichte blieb diese interdisziplinäre Frühneuzeitforschung schon alleine deshalb lange immun, weil ihre Gegenstände in der Vielfalt der verfügbaren Quellen und Fachtraditionen in sozialhistorischen Makrothesen kaum berücksichtigt waren und sich mit ihnen auch kaum durchgehend harmonisieren ließen. Als Vormoderne sieht diese interdisziplinäre Frühneuzeitforschung die Epoche signifikanterweise vor allem hinsichtlich der damals entwickelten Strategien intellektueller Kontingenz- und Komplexitätsbewältigung etwa in Aufbau und Kultur transnationaler und oftmals auch transkonfessioneller Gelehrtennetzwerke.96 Die Grundlage für visuelles Argumentieren als Teil dieser intellektuellen Kultur ist für Warncke der in der Anordnung der Bildelemente realisierte „Zeichenwert der Ordnung“.97 Die Anordnung strukturiert die Umwandlung der medienspezifisch grundsätzlichen Simultaneität des Bildes in die ebenso grundsätzliche Sukzessivität eines verstehenden Betrachtens. Über argumentierende, textauslegende und vergegenwärtigende Bildstrukturen hinaus, die bereits das mittelalterliche Bildverstehen und -erleben kannte und weiterentwickelte98, und an diese anbindend, bildete sich in der Frühen 96

Zum Selbstverständnis der besonders in Wolfenbüttel verankerten Frühneuzeitforschung vgl. etwa: Überlieferung und Kritik. Zwanzig Jahre Barockforschung in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Hrsg. v. der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Wolfenbüttel 1993; vgl. auch die Beiträge etwa bei Neumeister/Wiedemann (Hrsg.), Institutionen (wie Anm. 27); Garber (Hrsg.), Europäische Barock-Rezeption (wie Anm. 2); Barbara Mahlmann-Bauer (Hrsg.), Scientiae et artes. Die Vermittlung alten und neuen Wissens in Literatur, Kunst und Musik. 2 Bde. Wiesbaden 2004; Johann Anselm Steiger (Hrsg.), Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit. Wiesbaden 2005; vgl. auch Puff/Wild (Hrsg.), Perspektiven (wie Anm. 61); Pott, Perspektivierungen (wie Anm. 4). 97 Warncke, Bildverständnis (wie Anm. 68), 131. Warnckes Begriff der „visuellen Argumentation“ folgt dem rhetorischen Begriff der „argumentatio“. Ein anderes Verständnis des Begriffs bei Bredekamp/Schneider (Hrsg.), Argumentationen (wie Anm. 75). 98 Vgl. besonders Hans Belting, The New Role of Narrative in Public Painting of the Trecento. Historia and Allegory, in: Herbert L. Kessler/Marianne Shreve Simson (Eds.), Pictorial Narrative in Antiquity and the Middle Ages. Washington 1985, 151–168, hier 154–156; Wolfgang Kemp, Sermo Corporeus. Die Erzählung der mittelalterlichen Glasfenster. München 1987, 266, 268; Hans Belting/Dieter Blume (Hrsg.), Malerei und Stadtkultur in der Dantezeit. Die Argumentation der Bilder. München 1989; Frank Büttner, Vergegenwärtigung und Affekte in der Bildauffassung des späten 13. Jahrhunderts, in: Dietmar Peil u. a. (Hrsg.), Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur. Tübingen 1998, 195–214; Warncke, Revision (wie Anm. 68), 479–497, hier 486–493; Ulrich Heinen,

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Neuzeit eine gesteigerte visuelle und damit auch gedankliche Komplexität der sichtbaren Argumentation. Neue bildnerische Mittel intensivierten nun aber insbesondere die Verknüpfung des Bildes und seiner sichtbaren Argumentation mit der Präsenzwahrnehmung des Betrachters, aktualisierten so die visuelle Argumentation und steigerten deren Bedeutung für dessen aktuelle Gegenwart. Innovationen in der Wahl der Bildmotive, die Bezugnahme auf bekannte Bildmuster, die Anordnung und Ausarbeitung von Formen, Farben, Helldunkel, Lichtführung, Relief und Figuren auf der Bildfläche sowie im imaginären Bildraum konstituierten komplexe inner- und außerbildliche Verweissysteme, bildeten die Grundlage für die epochentypische bedeutungsschaffende Funktion des Betrachters und eröffneten „eine Bildwelt, die eines vor allem war: eine Rhetorik des Sehens“.99 Der Schrei Isaaks im Land des Sehens. Perspektive als Predigt – Exegese als Medienimpuls. Abrahams Opfer bei Brunelleschi und Ghiberti (1401/1402), in: ders./Johann Anselm Steiger (Hrsg.), Isaaks Opferung (Genesis 22) in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit. Berlin/New York 2006, 23–152, hier 123 f. 99 Warncke, Bildverständnis (wie Anm. 68), 323. Die Blicklenkung als Schlüsselstrategie solcher Rhetorik des Sehens exemplifiziert Carsten-Peter Warncke, Starke Frauen – starke Gefühle. Zur Darstellung weiblicher Leidenschaft in der bildenden Kunst des Barock, in: Steiger (Hrsg.), Passion (wie Anm. 96), 11–38; Carsten-Peter Warncke, Stil als Bildrhetorik beim jungen Rembrandt, in: Joachim Knape (Hrsg.), Bildrhetorik. BadenBaden 2007, 347–376, bes. 352 f. Zur Epochengrenze dieses Medienverständnisses vgl. ders., Bildverständnis (wie Anm. 67), 9–16; Christian Scholl, Romantische Malerei als neue Sinnbildkunst. Studien zur Bedeutungsgebung bei Philippp Otto Runge, Caspar David Friedrich und den Nazarenern. München/Berlin 2007, 341–344. Die Bedeutung der Rhetorik für die Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit erkannten zuerst: Rensselaer W. Lee, ,Ut pictura poesis‘. The Humanistic Theory of Painting, in: Art Bulletin 22, 1940, 197–269 (allerdings mit einem Akzent auf der Poetik); Creighton E. Gilbert, Antique Frameworks for Renaissance Art Theory: Alberti and Pino, in: Marsyas 3, 1943, 87–106; Denis Mahon, Studies in Seicento Art and Theory. London 1947; Giulio Carlo Argan, La rettorica Aristotelica ed il Barocco. Il concetto die persuasione come fondamento della tematica figurativa Barocca, in: Kunstchronik 8, 1955, 91–93; ders., La rettorica e l’arte Barocca, in: Enrico Castelli (Ed.), Retorica e Barocco. Atti del III Congresso Internazionale di Studi Umanistici, Venedig, 15.–18. 6. 1954. Rom 1955, 9–14; John R. Spencer, Ut rhetorica pictura. A Study in Quattrocento Theory of Painting, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 20, 1957, 26–44; Michael Baxandall, Giotto and the Orators. Humanist Observers of Painting in Italy and the Discovery of Pictorial Composition, 1350–1450. Oxford 1971; Günther Heinz, Realismus und Rhetorik im Werk des Bartolomeo Passarotti, in: Jb. der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien NF. 32 (68), 1972, 153–169; David Summers, ‚Maniera‘ and Movement: The figura serpentinata, in: Art Quarterly 35, 1972, 269–301; Wesley Trimpi, The Meaning of Horace’s ,ut pictura poesis‘, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 36, 1973, 1–34; Gerard LeCoat, The Rhetoric of the Arts, 1550–1650. Frankfurt am Main 1975; Harvey James Jensen, The Muses’ Concord. Literature, Music, and the Visual Arts in the Baroque Age. Bloomington u. a. 1976; David Summers, Contrapposto: Style and Meaning in Renaissance Art, in: Art Bulletin 59, 1977, 336–361; Georg Kauffmann, Humanitas und Rhetorik in der deutschen Kunst um 1500, in: L’Humanisme allemand. XVIIIe Colloque international de Tours. München u. a. 1979, 493–504; Werner Welzig, Allegorese im Dienste

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Als „gefällige Belehrung“ und „bewegendes Vorbild“ zielten Bilder in der Frühen Neuzeit auf Wirkung im Intellekt und in der Emotionalität der Betrachter, um so Haltungen und Handlungen von Rezipienten durch visuelle Kommunikation zu verändern oder zu bekräftigen.100 Seit Warncke seine fundamentalen Überlegungen zur epistemischen und wirkungsästhetischen Struktur des frühneuzeitlichen Bildverständnisses dargelegt hat, ist „Bildrhetorik“ unter Anbindung an die ältere kunsthistorische Forschung zur Bedeutung der Rhetorik für Bildtheorie und -praxis zu einem gewichtigen Forschungsschwerpunkt frühneuzeitlicher Bildgeschichte geworden.101 Unter einer Titelrhetorik. Beobachtungen zum Titelkupfer einer barocken Predigtsammlung, in: Walter Haug (Hrsg.), Formen und Funktionen der Allegorie. Stuttgart 1979, 419–428; Jan Bialostocki, ‚Barock‘. Stil, Epoche, Haltung, in: ders., Stil und Ikonographie. Studien zur Kunstwissenschaft. Köln 1981, 12–42; Ursula Mildner-Flesch, Das Decorum. Herkunft, Wesen und Wirkung des Sujetstils am Beispiel Nicolas Poussins. Sankt Augustin 1983; Marc Fumaroli, L’âge de l’eloquence. Rhétorique et „res literaria“ de la Renaissance au seuil de l’époque classique. 2. Aufl. Genf 1984; Reiner Haussherr, Convenevolezza. Historische Angemessenheit in der Darstellung von Kostüm und Schauplatz seit der Spätantike bis ins 16. Jahrhundert. Mainz/Wiesbaden 1984. 100 Warncke, Bildverständnis (wie Anm. 68), 217–323. 101 Weitere Grundsatzüberlegungen zur „Bildrhetorik“ seither bei: Hubert Locher, Barockkunst und Rhetorik. Zur Tagung des Ulmer-Vereins in Bamberg, 28. 5.–31. 5. 1987, in: Kritische Berichte 15/3–4, 1987, 118–121; Charles Hope, Aspects of Criticism in Art and Literature in Sixteenth Century Italy, in: Word and Image 4, 1988, 1–10; Norbert Michels, Bewegung zwischen Ethos und Pathos. Die Wirkungsästhetik italienischer Kunsttheorie des 15. und 16. Jahrhunderts. Münster 1988; Frank Büttner, Rhetorik und barocke Deckenmalerei. Überlegungen am Beispiel der Fresken Johann Zicks in Bruchsal, in: Zs. des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 43, 1989, 49–72; Lars Olof Larsson, Der Maler als Erzähler. Gebärdensprache und Mimik in der französischen Malerei und Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts am Beispiel Charles Le Bruns, in: Volker Kapp (Hrsg.), Die Sprache der Zeichen und Bilder. Rhetorik und nonverbale Kommunikation in der frühen Neuzeit. Marburg 1990, 173–189; Carl Goldstein, Rhetoric and Art History in the Italian Renaissance and Baroque, in: Art Bulletin 73, 1991, 641–652; Frank Büttner, „Argumentatio“ in Bildern der Reformationszeit. Ein Beitrag zur Bestimmung argumentativer Strukturen in der Bildkunst, in: Zs. für Kunstgeschichte 57, 1994, 23–44; Heinen, Predigt (wie Anm. 37), mit der älteren Literatur zu Rhetorik und frühneuzeitlicher Kunst; Jens M. Baumgarten/Claudia Wedepohl, Die Sprache des Kunstwerks. Bildrhetorik als Methode, in: Frühneuzeit-Info 8/2, 1997, 224–226; Lina Bolzoni, Il modello della macchina e il fascino dell’immagine nella retorica sacra post-tridentina, in: Rosanna Alhaique Pettinelli (Ed.), L’umana compagnia. Studi in onore di Gennaro Savarese. Rom 1999, 69–85; Werner Telesko, Barocke Kunst und Rhetorik. Beobachtungen zu einem Schwerpunkt der jüngeren Kunstwissenschaft anhand einiger Neuerscheinungen, in: Frühneuzeit-Info 10, 1999, 294–301; Jens M. Baumgarten, Wirkungsästhetik und Wechselwirkungen. Kunst und Rhetorik in den Traktaten Carlo Borromeos, Gabriele Paleottis und Roberto Bellarminos in: Hartmut Laufhütte u. a. (Hrsg.), Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Wiesbaden 2000, 515–534; Kristine Patz, „Alberti Teutsch“. Zur Rezeption rhetorischer Kunstlehre in Deutschland, in: ebd. 809–822; Wolfram Prinz, Die Storia oder die Kunst des Erzählens in der italienischen Malerei und Plastik des späten Mittelalters und der Frührenaissance 1260–1460. 2 Bde. Mainz 2000; Alina Alexandra Payne, Von ornatus zu figura, in: Isabelle Frank/Freia Hartung (Hrsg.),

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Die Rhetorik des Ornaments. München 2001, 205–239; Ulrich Rehm, Stumme Sprache der Bilder. Gestik als Mittel neuzeitlicher Bilderzählung. München u. a. 2002; Charles Henebry, Figures of Speech, Figures of Thought. Rhetorical Practices and Visual Culture in the Renaissance. Diss. New York 2003, Ann Arbor 2007; Pfisterer/Seidel (Hrsg.), Topoi (wie Anm. 72); Marc Fumaroli, Retorica sacra, retorica divina. Les souches-mères de l’art dit Baroque, in: Sebastian Schütze (Ed.), Estetica barocca. Rom 2004, 13–30; Gabriele K. Sprigath, Das Dictum des Simonides. Der Vergleich von Dichtung und Malerei, in: Poetica 36, 2004, 243–280; Heinen, Bild-Erleben (wie Anm. 25); Evonne Levy, Rhetoric or Propaganda? On the Instrumentality of Baroque Art, in: Schütze (Ed.), Estetica barocca, 89–98; Ulrich Heinen, Die bildrhetorische Wirkungsästhetik im Barock. Ein Systematisierungsversuch nach neurobiologischen Modellen, in: Knape (Hrsg.), Bildrhetorik (wie Anm. 99), 113–158; Caroline van Eck, Classical Rhetoric and the Visual Arts in Early Modern Europe. Cambridge u. a. 2007. Vgl. auch die kritischen Überlegungen bei Joachim Knape, Rhetorizität und Semiotik. Kategorientransfer zwischen Rhetorik und Kunsttheorie in der Frühen Neuzeit, in: Wilhelm Kühlmann/Wolfgang Neuber (Hrsg.), Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven. Bern u. a. 1994, 507–532. Anwendungen von „Bildrhetorik“ als Analyseinstrument u. a. bei Olivier Bonfait (Ed.), Peinture et rhétorique. Actes du colloque de l’Académie de France à Rome, 10–11 juin 1993. Paris 1994; Büttner, Ikonographie (wie Anm. 74); Noh Seong-Doo, Übernahme und Rhetorik in der Kunst Caravaggios. Münster 1996; Michael Ann Holly, Past Looking. Historical Imagination and the Rhetoric of the Image. Ithaca 1996; Markus Hundemer, Rhetorische Kunsttheorie und barocke Deckenmalerei. Zur Theorie der sinnlichen Erkenntnis im Barock. Regensburg 1997; Doris Krystof, Werben für die Kunst. Bildliche Kunsttheorie und das Rhetorische in Kupferstichen von Hendrick Goltzius. Hildesheim 1997; Gerhart Schröder u. a. (Hrsg.), Anamorphosen der Rhetorik. Die Wahrheitsspiele der Renaissance. München 1997; Sible de Blaauw u. a. (Eds.), Docere Delectare Movere. Affetti, Devozione e Retorica nel Linguaggio artistico del primo Barocco Romano. Atti del Convegno organizzato dall’ Istituto Olandese a Roma e dalla Bibliotheca Hertziana (Max-Planck-Institut) in collaborazione con l’Università Cattolica di Nijmegen. Rom, 19.–20. 1. 1996. Rom 1998; Claudia Bertling Biaggini, Il Pordenone. Pictor modernus. Zum Umgang mit „Bildrhetorik“ und Perspektive im Werk des Giovanni Antonio de Sacchis. Hildesheim u. a. 1999; Christine Göttler, ‚Actio‘ in Peter Paul Rubens’ Hochaltarbildern für die Jesuitenkirche in Antwerpen, in: Joseph Imorde u. a. (Hrsg.), Barocke Inszenierung, Emsdetten/Zürich 1999, 10–31; Werner Telesko, Barocke Kunst und Rhetorik. Beobachtungen zu einem Schwerpunkt der jüngeren Kunstwissenschaft anhand einiger Neuerscheinungen, in: Frühneuzeit-Info 10, 1999, 294–301; Lars Olof Larsson, Rhetorische Aspekte im höfischen Porträt der Renaissance, in: Roy T. Eriksen (Ed.), Basilike eikon. Renaissance Representations of the Prince. Rom 2001, 117–132; Robert Suckale, Rogier van der Weydens Bild der Kreuzabnahme und sein Verhältnis zu Rhetorik und Theologie. Zugleich ein Beitrag zur Erneuerung der Stilkritik, in: Reinhard Brandt (Hrsg.), Meisterwerke der Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Andy Warhol. Leipzig 2001, 10–44; Edgar Bierende, Lucas Cranach d. Ä. und der deutsche Humanismus. Tafelmalerei im Kontext von Rhetorik, Chroniken und Fürstenspiegeln. München 2002; Gottfried Boehm, „Der Topos des Anfangs. Geometrie und Rhetorik in der Malerei der Renaissance“, in: Pfisterer/Seidel (Hrsg.), Topoi (wie Anm. 72), 49–59; Wolfgang Brassat, Das Historienbild im Zeitalter der Eloquenz. Von Raffael bis Le Brun. Berlin 2003; Markus Hundemer, Argumentative Bilder und bildliche Argumentation. Jesuitische Rhetorik und barocke Deckenmalerei, in: Herbert Karner (Hrsg.), Die Jesuiten in Wien. Zur Kunst- und Kulturgeschichte der österreichischen Ordensprovinz der „Gesellschaft Jesu“ im 17. und 18. Jahrhundert. Wien 2003, 261–273; Pfisterer/Seidel (Hrsg.), Topoi (wie Anm. 72); Wolfgang Brassat (Hrsg.), Bild-Rhetorik. Tübingen 2005; Michael Diers, Affekt und Effekt. Körpersprache und Bildrhetorik bei Velázquez. Eine Beobach-

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dem Paradigma der Sprachanalogie wurde dabei auch für andere visuelle Medien wie die Architektur oder das Relief die Frühe Neuzeit als Phase einer medienkonstitutiven Rhetorisierung erkannt. Die Epochengrenze des rhetorikorientierten Bildverständnisses fällt dabei mit der Blüteepoche der frühneuzeitlichen Rhetorik zusammen.102

tung am Rande, in: Martin Warnke (Hrsg.), Politische Kunst. Gebärden und Gebaren. Berlin 2004, 17–31; Johan Eriksson, Kondottiärfurstarnas visuella retorik. Leonello d’Este, Sigismondo Malatesta, Allesandro Sforza, Federico da Montefeltro, in: Konsthistorisk tidskrift 73/1, 2004, 27–35; Hanneke Grootenboer, The Rhetoric of Perspective. Realism and Illusionism in Seventeenth-Century Dutch Still-Life Painting. Chicago, Ill. u. a. 2005 (vor dem Hintergrund eines phänomenologischen Rhetorikverständnisses); Véronique Plesch, Painter and Priest. Giovanni Canavesio’s Visual Rhetoric and the Passion Cycle at La Brigue. Notre Dame 2006; Knape (Hrsg.), Bildrhetorik (wie Anm. 99); Reiner Zeeb, Bildrhetorik und bürgerliche Emanzipation im Augsburger Grabmal. München 2007. Die Aktualität des Themas erhellt auch daraus, daß ein Pionierwerk der bildrhetorischen Forschung jetzt neu aufgelegt wurde: Heiner Mühlmann, Ästhetische Theorie der Renaissance. Leon Battista Alberti. (Diss. phil. München 1968) Bonn 1981, 2., überarb. Aufl. Bochum 2005. 102 Zur Rhetorisierung der Architektur vgl. Alste Horn-Oncken, Über das Schickliche. Studien zur Geschichte der Architekturtheorie. Göttingen 1967; Heiner Mühlmann, Über den humanistischen Sinn einiger Kerngedanken der Kunsttheorie seit Alberti, in: Zs. für Kunstgeschichte 33, 1970, 127–142; Ernst H. Gombrich, Il Palazzo del Te. Riflescioni su un mezzo secolo di Fortuna Critica, in: Quaderni di Palazzo Te, Juni–Dezember 1984, 17–21 (dt. Übers.: Architektur und Rhetorik in Giulio Romanos Palazzo del Tè, in: ders., Neues über alte Meister. Zur Kunst der Renaissance IV. Stuttgart 1988, 113–119); Karl Noehles, Rhetorik, Architekturallegorie und Baukunst an der Wende zum Barock in Rom, in: Volker Kapp (Hrsg.), Die Sprache der Zeichen und Bilder. Rhetorik und nonverbale Kommunikation der frühen Neuzeit. Marburg 1990, 190–227; Carsten-Peter Warncke, Rhetorik der Architektur in der frühen Neuzeit, in: Klaus Bußmann (Hrsg.), Johann Conrad Schlaun, 1695–1773. Architektur des Spätbarock in Europa. Stuttgart 1995, 612–621; Kornelia Imesch Oehry, Serenissima und „Villa“. Skizze zu einer Rhetorik der architektonischen Form in Palladios venezianischen Villen der Terraferma, in: Georges-Bloch-Jb. des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Zürich 2, 1995, 74–85; Friedrich Polleroß, ‚Docent et delectant‘ – Architektur und Rhetorik am Beispiel von Johann Bernhard Fischer von Erlach, in: Wiener Jb. für Kunstgeschichte 49, 1996, 165–206, 335–350; Marina Dmitrieva-Einhorn, Rhetorik der Fassaden. Fassadendekorationen in Böhmen, in: Andrea Langer (Hrsg), Metropolen und Kulturtransfer im 15./16. Jahrhundert. Prag – Krakau – Danzig – Wien. Stuttgart 2001, 151–170, 241–253; Pauline Marie Morin, Leon Battista Alberti. Architect as Orator. Diss. Georgia Institute of Technology, Atlanta, Ga. 2002 (Ann Arbor 2003); Peter Stephan, Neuschöpfung oder Ergänzung? Gedankenspiele zur nachträglichen Realisierung des Dresdner Zwingergartens und zum Einfluss der Rhetorik auf die barocke Gartenkunst, in: Die Gartenkunst 15/1, 2003, 53–84; Tausch (Hrsg.), Gehäuse (wie Anm. 78); Katrin Bek, Achse und Monument. Zur Semantik von Sicht- und Blickbeziehungen in fürstlichen Platzkonzeptionen der Frühen Neuzeit. Weimar 2005; Caroline van Eck, Classical Rhetoric and the Visual Arts in Early Modern Europe. Cambridge u. a. 2007. Zur Rhetorisierung von Skulptur und Relief vgl. Eduard Hüttinger, Rhetorik und Skulptur. Zum Werk Francesco Piantas, in: Stil und Überlieferung in der Kunst des Abendlandes. Akten des 21. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte in Bonn 1964. Bd. 3: Theorien und Probleme. Berlin 1967, 225–229; Frank Zöllner, Andrea del Verrocchios

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Die Verknüpfungsmöglichkeiten unterschiedlicher Ordnungssysteme, durch die ein Bild – oder die Zusammenstellung mehrerer Bilder – von einem ‚Argumentum‘ im Sinne einer bloßen Gegenstandsrepräsentation zu einem ‚Argumentum‘ im Sinne einer erörternden und schlußfolgernden Begründung wird, wurden seit Beginn der Frühen Neuzeit immer komplexer.103 Besonders die mit Beginn der Frühen Neuzeit praktisch und theoretisch ausformulierte Linearperspektive erkennt Warncke – ihre grundsätzliche paradigmatische Bedeutung für die frühneuzeitliche Episteme104 funktional konkretisierend – in ihrer rhetorisch argumentierenden Funktion als „funktionale Maske“ (Abb. 9). In einer Doppelrolle war Perspektive für die gesamte Frühe Neuzeit „die Grundlage der mimetischen wie der sprachlichen Mitteilung des Bildes“. Analog zur natürlichen Grammatik der Sprache (syntax regularis) wurden in ihr „die Gesetze empirischer Realitätswahrnehmung durch den Gesichtssinn auf die Bildkomposition übertragen“. Im Bezug auf diese am „natürlichen Sehen“ orientierte bildliche Darstellungskonvention ließen sich für das Medium Bild „künstliche Ordnungssysteme“ analog zu den Redefiguren künstlicher Rede (syntax figurata) umfassend entwickeln. So wie das Zusammenspiel von syntax regularis und syntax figurata grundlegend ist „für das gesamte System der Rhetorik“, wirkt – so Warncke – das am natürlichen Sehen orientierte Bild-Ordnungssystem mit künstlichen Bild-Ordnungssystemen in einer „Grammatik sprechender Bilder“ zusammen. Die komplexe visuelle Argumentation frühneuzeitlicher Bilder beruht für Warncke also auf dem Wechselspiel zwischen der linearperspektivischen

„Christus und Thomas“ und das Dekorum des Körpers. Zur Angemessenheit in der bildenden Kunst des Quattrocento, in: Herbert Beck (Hrsg.), Die Christus-ThomasGruppe von Andrea del Verrocchio. Frankfurt am Main 1996, 129–141; Axel Christoph Gampp, ‚Diletto e maraviglia, piacere e stupore‘. Donatellos hl. Georg aus der Sicht des Francesco Bocchi oder: Die Wiedergeburt der Ethos-Figur aus dem Geiste der Gegenreformation, in: Göttler u. a. (Hrsg.), Diletto (wie Anm. 71), 253–271; Joachim Moser, Poesie und Rhetorik in Marmor. Zu Francesco Mochis Dresdener Johannes, in: Hannah Baader u. a. (Hrsg.), Ars et scriptura. Festschrift für Rudolf Preimesberger zum 65. Geburtstag. Berlin 2001, 45–62; Urszula Szulakowksa (Hrsg.), Power and Persuasion. Sculpture in Its Rhetorical Context. Proceedings of the Sixth Joint Conference of Art Historians from Britain and Poland, Leeds, April 2002/Institute of Art of the Polish Academy of Sciences (IS PAN), Warsaw. Warschau 2004; Heinen, Schrei (wie Anm. 98); Bernard Vouilloux, „L’évidence descriptive“, in: Revue La Licorne 23, 2006 (http://edel.univpoitiers.fr/licorne/document.php?id=448, aufgerufen am 31. 12. 2007); Rüdiger Campe, Aktualität des Bildes. Die Zeit rhetorischer Figuren, in: Gottfried Boehm u. a. (Hrsg.), Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen. München 2007, 163–182. 103 Vgl. Warncke, Bildverständnis (wie Anm. 68), 131. 104 Vgl. etwa Boehm, Perspektivität (wie Anm. 87); Martin Jay, Die Ordnungen des Sehens in der Neuzeit, in: Tumult. Zs. für Verkehrswissenschaft 14, 1990, 40–55. Zum Forschungsstand vgl. Nicole Gronemeyer, Optische Magie. Zur Geschichte der visuellen Medien in der Frühen Neuzeit. Bielefeld 2002.

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Abb. 9: Piero della Francesca: Die Geißelung Christi, zwischen 1458 und 1466 (?), Holz, 59 x 82 cm, Urbino, Palazzo Ducale.

Darstellung und den umfassend fortentwickelten Strategien des planimetrischen sowie körper- und raumbezogenen Komponierens. Hatte die Antike die Grammatik als „grundlegend für das gesamte System der Rhetorik“ behandelt, so war mit der Perspektive also die entscheidende Grundlage der „Bildrhetorik“ gelegt.105 Unter der mittels Perspektive erzeugten „argumentativen Maske“ der Einheit von Raum und Zeit konnten Bilder mit medienspezifischen Mitteln vom bildebenenparallelen syntaktischen Reihen zum illusionsräumlich verschränkten parataktischen Verknüpfen von Bildfiguren 105

Warncke, Bildverständnis (wie Anm. 68), 131–136, bes. 132–134. Einsichten zur fundamentalen Bedeutung der Linearperspektive für die Rhetorisierung des Mediums Bild auch bei Samuel Y. Edgerton, Giotto und die Erfindung der dritten Dimension. Malerei und Geometrie am Vorabend der wissenschaftlichen Revolution. München 2004 (engl. Originalausg. London 1991), 46–48, 84 f.; Wolfgang Kemp, Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto. München 1996, 88–99; John W. Dixon, „Donatello and the Theology of Linear Perspective“, in: Religion and the Arts 3, 1999, 159–179; Gottfried Boehm, Der Topos des Anfangs. Geometrie und Rhetorik in der Malerei der Renaissance, in: Pfisterer/Seidel (Hrsg.), Topoi (wie Anm. 72), 49–59, in unausgesprochener Anlehnung an einen Vortrag Frank Büttners beim ‚Tübinger Rhetorikgespräch. Bildrhetorik‘, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, 4. 10. 2002: Frank Büttner, Perspektive als rhetorische Form. Kommunikative Funktionen der Perspektive in der Renaissance, in: Knape (Hrsg.), Bildrhetorik (wie Anm. 99), 201–231.

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und -szenen überleiten und diese untereinander und zum Betrachter in erörternde Argumentationszusammenhänge bringen.106 Frank Büttner hat die rhetorischen Wirkungen der Perspektive – wie grundsätzlich bereits bei Warncke konzipiert – als „Propädeutik der Rhetorik“ des Bildes in diesem Sinne systematisch gegliedert: Für das Wirkungsziel der visuellen Rhetorik, das Überzeugen und Überreden (persuasio), ist die Perpektive von entscheidender Bedeutung. Sie gewährleistet die eindeutige Festlegung der Lage der Dinge zueinander im Simulationsraum sowie zum Realraum des Betrachters und damit – wie auch von einer Rede erwartet – Klarheit und Überschaubarkeit der Darstellung (perspicuitas). Durch wissenschaftlich gesicherte Darstellungswahrscheinlichkeit (verisimile) versichert sie Glaubwürdigkeit. Mit der Angleichung an die Wirklichkeitsorientierung des Betrachters stellt sie die Sache selbst gleichsam greifbar vor Augen (evidentia). Sie weckt und lenkt Aufmerksamkeit (attentum facere). Den Blick richtet sie subjektivierend – oft auch affektwirksam – aus und kann schließlich durch illusionistische Effekte den rhetorisch angestrebten Effekt der Bewunderung (admiratio) auslösen.107 1990 hat Hans Belting en passant darauf hingewiesen, daß alten Bildern in der Frühen Neuzeit gelegentlich explizit eine alten Texten vergleichbare Autorität (auctorité) zugemessen wurde.108 Gerhard Wolf ist dieser Frage nach dem für eine frühneuzeitliche Bildtheorie grundlegenden Wahrheits106 Vgl. auch Alfred Neumeyer, Der Blick aus dem Bilde. Berlin 1964, 33–67, hier 35. Zur Einheit von Raum und Zeit als „argumentativen Masken“ vgl. Warncke, Bildverständnis (wie Anm. 68), 136; Heinen, Schrei (wie Anm. 98), 101, 107–108, 121–123, 147. 107 Büttner, Perspektive (wie Anm. 105), 201–231, das Zitat 208; vgl. auch dessen weitere Studien zur Geschichte der Perspektive: Frank Büttner, Rationalisierung der Mimesis. Anfänge der konstruierten Perspektive bei Brunelleschi und Alberti, in: Andreas Kablitz/Gerhard Neumann (Hrsg.), Mimesis und Simulation. Freiburg im Breisgau 1998, 55– 88; ders., Die Macht des Bildes über den Betrachter. Thesen zu Bildwahrnehmung, Optik und Perspektive im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, in: Wulf Oesterreicher (Hrsg.), Autorität der Form – Autorisierungen – institutionelle Autoritäten. Münster u. a. 2003, 17–36; ders., Der Blick auf das Bild. Betrachter und Perspektive in der Renaissance, in: Michael Neumann (Hrsg.), Anblick/Augenblick. Ein interdisziplinäres Symposion. Würzburg 2005, 131–164. In diesem Zusammenhang wird auch die Dialektik von Poly- und Monofokalität, die sich etwa in den wechselnden Blickachsen und Verweissystemen der frühneuzeitlichen Bildsysteme darstellt, neu zu erörtern sein. Zu deren formalen Strukturen vgl. Werner Hofmann, Die Moderne im Rückspiegel. Hauptwege der Kunstgeschichte. München 1998, bes. 68–125. Vgl. insbesondere hinsichtlich der Funktion von Perspektive, durch wissenschaftlich gesicherte Darstellungswahrscheinlichkeit Glaubwürdigkeit zu vermitteln, auch den Hinweis auf die Erfindung der Perspektive als Mittel, Gott präsent zu machen, bei Samuel Y. Edgerton, Die ideologischen Wurzeln der Zentralperspektive in der Renaissance. Warum Leon Battista Alberti „Windows 1435“ erfand, in: Norbert Bolz u. a. (Hrsg.), Weltbürgertum und Globalisierung. München 2000, 127–144. 108 Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. (1. Aufl. 1990) 2. Aufl. München 1991, 483.

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anspruch der Bilder weiter nachgegangen.109 Solche Überlegungen hat nun Gabriele Wimböck in einem der wenigen kunsthistorischen Beiträge, die sich fundamental mit dem Verhältnis der Kunstgeschichte zu den sozialhistorischen Makrothesen zur Frühen Neuzeit befassen, zu der grundsätzlichen Frage nach der „Autorität des Bildes“ in der Frühen Neuzeit ausgeweitet und so eine neue Perspektive für eine Geschichte vom Bild in der Frühen Neuzeit begründet.110 Im Beitrag des Bildes zur Generierung von Autorität sowie in der Autorisierung des Mediums Bild und von Bildern, ihren Repräsentationen und Argumenten, hat sie das entscheidende Transmissionsmittel zwischen der Bildgeschichte und den sozialhistorischen Paradigmen der Sozialdisziplinierung, der Staatsbildung und der Konfessionalisierung entdeckt.111 Wimböck konstatiert, Autorität werde in der Frühen Neuzeit zunehmend medial vermittelt.112 Durchaus in Übereinstimmung mit Warnckes Analyse der komplexer werdenden visuellen Argumentation stellt Wimböck fest, daß die Kommunikationsstrukturen in der Epoche unter Einbezug sich ergänzender oder miteinander konkurrierender Medien insgesamt komplexer wurden.113 Zwei tragenden Prinzipien mißt sie dabei besonderen Geltungsanspruch zu: Der seit dem 15. Jahrhundert gesteigerten Bedeutung des Nachahmungsprinzips, das auch in der rhetorisch orientierten Kunsttheorie und -praxis mit Objektivitäts- und Wahrheitsanspruch verbunden war, sowie – dies mit direktem Bezug auf Warncke – der zeichenhaften Bildauffassung und der Evidenz visueller Argumentationsstrategien, die in einer zeichenhaften innerbildlichen Ordnung gründete.114 Daß bei deren Konstitution die Destruktion von etablierten Zeichensystemen oder -formen immer neue Argumentationsprinzipien hervorbringen konnte, die wiederum autoritativen Status gewinnen konnten, betont Wimböck als progressiven Antrieb einer Autoriätsgeschichte des frühneuzeitlichen Bildverständnisses besonders.115

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Gerhard Wolf, Gestörte Kreise. Zum Wahrheitsanspruch des Bildes im Zeitalter des Disegno, in: Hans-Jörg Rheinberger (Hrsg.), Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur. Berlin 1997, 39–62. 110 Vgl. Wimböck, Autorität (wie Anm. 34). 111 Ebd. 18. 112 Ebd. 16; mit Bezug auf: Ralph Kray u. a., Autorität. Geschichtliche Performanz und kulturelle Fiktionalität, in: dies. (Hrsg.), Autorität. Spektren harter Kommunikation. Opladen 1992, 11–21. 113 Wimböck, Autorität (wie Anm. 34), hier 16 f.; mit Bezug auf: Horst Wenzel, Repräsentation und schöner Schein am Hof und in der höfischen Literatur, in: Hedda Ragotzky/Horst Wenzel (Hrsg.), Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen. Tübingen 1990, 171–208; Michael Schilling, Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen des illustrierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700. Tübingen 1990. 114 Wimböck, Autorität (wie Anm. 34), hier 22, 26. 115 Ebd. 28 f.

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2. Bild-Genießen – Das Zeitalter der Kunst (Hans Belting) Wie seit Rensselaer W. Lees wegweisender Studie von 1940 mehr und mehr bewußt wurde, wurden seit der beginnenden Frühen Neuzeit die perspektivischen und alle weiteren „bildrhetorischen“ Wirkmittel der frühneuzeitlichen Bildkommunikation im Anschluß an die spätmittelalterliche Bildtheorie vor allem in den Termini und nach der Struktur der antiken Rhetorik und Kunsttheorie systematisch und topisch beschrieben, reflektiert geplant und kunstkritisch gewürdigt.116 Deren antike Produktions- und Wirkungsästhetik visueller Medien machten humanistische Studien schon im 15. Jahrhundert in weit systematischerer Weise zugänglich, als man lange angenommen hat.117 Die Mittel und Prinzipien der Bildproduktion und auch ihre schriftliche Systematisierung erhöhten seit etwa 1400 sichtlich die argumentative Komplexität und rhetorische Effizienz der visuellen Kommunikation, indem sie die Bildproduktion strukturierten und zugleich Bildproduktion und -rezeption koordinierten. Im Import der antiken Kunsttheorie und Rhetorik war aber von Beginn der Frühen Neuzeit an die Liquidierung von komplexer Bildargumentation und „Bildrhetorik“ unvermeidlich. Je komplexer die Mittel wurden, desto mehr wurden Bild- und Kunsttheorie zur Sache von Kunstkennern, die aus den Produktionsprinzipien wirksamer „Bildrhetorik“ Rezeptionskriterien künstlerischer Qualität destillierten.118 In der bei Warncke entfalteten Episteme einer „Rhetorik des Sehens“ lag also von Beginn des 15. Jahrhunderts an der Keim für ihre eigene Auflösung: Rhetorische Wirksamkeit ließ sich nur steigern, wenn sich neben dem Wirksamkeitanspruch der Bilder eine Theoretisierung der Wirkmittel etablierte. Diese strukturierte zunächst die Wirkmittel der „Bildrhetorik“, erweiterte durch die systematisierte Analogie zu Rhetorik und Poetik ihr Repertoire und machte sie lehr- und lernbar. Dann aber transzendierte die Theorie die 116

Vgl. Lee, ,Ut pictura poesis‘ (wie Anm. 99); zur weiteren Forschungsgeschichte umfassend Heinen, Predigt (wie Anm. 37), mit der älteren Literatur; Pfisterer/Seidel (Hrsg.), Topoi (wie Anm. 72). 117 Vgl. insbesondere die Rekonstruktion der antiken Produktions- und Wirkungsästhetik bei Nadia J. Koch, Zur Interferenz technischer Begriffe in Rhetorik und Kunstschriftstellerei, in: International Journal of the Classical Tradition 6/4, 2000, 503–515; dies., Techne und Erfindung in der klassischen Malerei. Eine terminologische Untersuchung. München 2000; dies., Bildrhetorische Aspekte der antiken Kunsttheorie, in: Brassat (Hrsg.), Bild-Rhetorik (wie Anm. 101), 1–13; Jens E. Kjeldsen, Talking to the Eye. Visuality in Ancient Rhetoric, in: Word & Image 19, 2003, 133–137; zu ihrer Rezeption in der Frühen Neuzeit zuletzt Nadia J. Koch, Phidias und Polyklet im Agon. Die neueren archäologischen und kunsthistorischen Forschungen zur Rezeption griechischer Bildhauer in der Renaissance, in: International Journal of the Classical Tradition 11, 2004, 244–265; dies., Die Werkstatt des Humanisten. Zur produktionstheoretischen Betrachtungsweise der Künste in Antike und Früher Neuzeit, in: Knape (Hrsg.), Bildrhetorik (wie Anm. 99), 161–179. 118 Vgl. Heinen, Predigt (wie Anm. 37), 24 f.

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Wirkmittel als Kriterien künstlerischer Qualität, autonomisierte sich schließlich als selbständiger Kunstdiskurs von den „bildrhetorischen“ Zweckbindungen, entwickelte die Kunstkriterien zunehmend vom Inhalt über das Erleben der Bilder zum Formalästhetischen fort und dominiert seither das gesamte Feld der Kunst.119 Man kann darin eine Entmündigung der künstlerischen Praxis durch die Theorie oder aber gerade die Konstitution autonomer Kunst als Integration von Theorie und künstlerischer Praxis lesen. Denn Künstler beteiligten sich an der Theoretisierung des Kunstdiskurses schon seit dem 15. Jahrhundert in Kunsttheorie und Kunstpraxis. Um die Integration von Theorie und künstlerischer Praxis als Charakteristikum frühneuzeitlicher Kunst zu belegen, werden – verstärkt seit etwas mehr als zehn Jahren – an Kunstwerken der Frühen Neuzeit Reflexionen der Kunstqualität und des Bildstatus im Medium Bild als Spuren der maßgeblichen Beteiligung von Künstlern am Kunstdiskurs aufgezeigt. Neben dem Nachweis impliziter und expliziter Demonstrationen und Reflexionen von Kriterien künstlerischer Qualität (siehe Abb. 1 im Beitrag von Christian Freigang)120 erklärt insbesondere die neuere deutsche Kunstgeschichte metapikturale Reflexionen einer Spannung, die zwischen dem Bild als fiktivem Ausblick auf die Wirklichkeit und dem Bild in seiner Eigenwirklichkeit besteht, sowie die visuell argumentierende Reflexion der Möglichkeiten und Grenzen von Wahrnehmung überhaupt zum Spezifikum frühneuzeitlicher Bildlichkeit.121 Solche Selbstreferenzialität und Autoreflexivität 119

Überlegungen zur Ausdifferenzierung des Kunstsystems bei Beat Wyss, Vom Bild zum Kunstsystem. Köln 2006, 125–243. Zum Übergang von inhaltlichen zu formalen Kunstkritierien vgl. etwa Victor I. Stoichita, Ars ultima. Bemerkungen zur Kunsttheorie des Manierismus, in: Colloquium Helveticum 20, 1994, 71–95; Thomas Puttfarken, Roger De Piles’ Theory of Art. New Haven/London 1985, 1–56; zum Übergang von inhaltlichen zu emotionalen Kunstkriterien s. unten S. 227–230. 120 Vgl. etwa Preimesberger, Diptychon (wie Anm. 73); Heinen, Predigt (wie Anm. 37), 80–99, mit der älteren Literatur. 121 Als Vorläufer sind anzusehen: Ernst Michalski, Die Bedeutung der ästhetischen Grenze für die Methode der Kunstgeschichte. Berlin 1932; Louis Marin, Détruire la peinture. Paris 1977. Für die neuere Entwicklung vgl. Hans Belting, Giovanni Bellini. Pietà. Ikone und Bilderzählung in der venezianischen Malerei. Frankfurt am Main 1985; ders., Vom Altarbild zum autonomen Tafelbild, in: Werner Busch (Hrsg.), Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen. München/Zürich 1987, 155–181, hier 176–180; Georges Didi-Huberman, Devant l’image. Paris 1990; Belting, Kult (wie Anm. 108), besonders 525 f., 531 f.; Gerhard Wolf, Wahrheitsanspruch (wie Anm. 108), 35–62; Victor I. Stoichita, Das selbstbewußte Bild. Vom Ursprung der Metamalerei. München 1998; Klaus Krüger/Alessandro Nova, Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit. Mainz 2000; Klaus Krüger, Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien. München 2001 (zur Steigerung des Mimetischen und zur gleichzeitigen Ausprägung der „ästhetischen Option“ und Anerkennung der „Eigenwirklichkeit als Medium“ vgl. ebd. 284); Gerhard Wolf, Schleier und Spiegel. Traditionen des Christusbildes und die Bildkonzepte der Renaissance. München 2002; Valeska von

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hatte man bis dahin nur bei Werken der klassischen Moderne angenommen, als deren bildpraxis- und bildtheorieartistische Vorbereitung nun die frühneuzeitliche Kunst erscheint. Diese Überlegungen zur Autoreflexivität visueller Medien in der Frühen Neuzeit kann man selbstverständlich auch ohne den Umweg über die sprachanaloge Rhetorisierung der Medien direkt auf Foucaults Episteme zurückführen. Der Kunst müßte man dabei sogar eine avantgardistische Funktion für die Entwicklung des von Foucault konstatierten epistemischen Bruchs zugestehen, geht die Problematisierung von Ähnlichkeitsbezügen zugunsten der neuen Reflexion des eigenen Repräsentationscharakters des Mediums Bild dem von Foucault für das 17. Jahrhundert angesetzten Umbruch zur Episteme der Repräsentation doch um mehr als zwei Jahrhunderte voraus. Es ist zu erwarten, daß die neue Konzentration auf die Autonomie frühneuzeitlicher Kunst und deren Selbstreferenzialität – jenseits der neuerdings erreichten Integration der Künstlersozialgeschichte in die Sozialgeschichte insbesondere der städtischen Gesellschaften der Frühen Neuzeit – bald auch zu einer neuen Akzentuierung einer wieder auf das Individualkünstlerische zugespitzten Künstlerbiographik führen wird.122 Wie schon die antike Kunsttheorie wird nämlich auch in der Frühen Neuzeit künstlerische Qualität durchgehend an einzelnen Kunstwerken oder herausgehobenen Künstlerpersönlichkeiten veranschaulicht. Mittels dieser funktionalen Aufwertung des individuellen Künstlers wurde schon um 1400 die psychovoyeuristische Reflexion der Künstlerindividualität selbst als Kunstqualität etabliert, als Manuel Chrysoloras erklärte, man bewundere Kunstwerke in ihren illusionistischen Qualitäten mehr als das, was sie jeweils nachahmten, da man in ihRosen u. a. (Hrsg.), Der stumme Diskurs der Bilder. Reflexionsformen des Ästhetischen in der Kunst der Frühen Neuzeit. München/Berlin 2003; Ulrich Pfisterer, Visio und veritas. Augentäuschung als Erkenntnisweg in der nordalpinen Malerei am Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit, in: Büttner/Wimböck (Hrsg.), Autorität (wie Anm. 34), 157–204; Eveliina Juntunen, Peter Paul Rubens’ bildimplizite Kunsttheorie in ausgewählten mythologischen Historien. (1611–1618). Petersberg 2005; Kruse, Kunstverbergen (wie Anm. 72). Neuerdings wird diese Fragestellung auch an spätmittelalterliche Sakralkunst herangeführt: vgl. etwa Heike Schlie, Bilder des Corpus Christi. Sakramentaler Realismus von Jan van Eyck bis Hieronymus Bosch. Berlin 2002. 122 Für Integrationen von Künstlersozialgeschichte und Künstlerbiographik in die allgemeine Institutionen- und Sozialgeschichte frühneuzeitlicher Gesellschaften vgl. etwa Andreas Tacke, Vom Handwerker zum Künstler. Thesen zu den Anfängen der deutschen Akademien nach dem Westfälischen Frieden, in: Jacques Thuillier/Klaus Bußmann (Hrsg.), 1648. Paix de Westphalie, l’art entre la guerre et la paix. Actes du colloque à Münster, à Osnabrück et à Paris 1998. Paris 1999, 319–334; Andreas Tacke (Hrsg.), ‚Der Mahler Ordnung und Gebräuch in Nürmberg‘. Die Nürnberger Maler(zunft)bücher ergänzt durch weitere Quellen, Genealogien und Viten des 16., 17. und 18. Jahrhunderts. München/Berlin 2001; ders., Dresdner Malerordnungen der Frühen Neuzeit. Ein Quellenbeitrag zur Kunstgeschichte als Handwerksgeschichte, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 2001, 29–47; Nils Büttner, Herr P. P. Rubens. Von der Kunst, berühmt zu werden. Göttingen 2006.

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nen letztlich die Seelenregungen des Künstlers sehen könne.123 Von der „Bildrhetorik“ führt also – durchaus auf dem Boden mittelalterlicher Traditionen – ein direkter Weg über die Geschichte künstlerischer Qualität und die Geschichte der Medienreflexivität zu einer neuen Thematisierung von Künstlerruhm, Künstlerpersönlichkeit und Künstlermythen als Charakteristika des Kunstdiskurses und der Selbstformung von Künstlern in der Frühen Neuzeit.124 Auch die Künstlern zunehmend eingeräumte Freiheit bei der Themenwahl weist darauf hin, daß der Autonomisierungsprozeß zunächst nicht gegen, sondern mit der Entwicklung des Bildes als Medium einsetzte125, in der Künstler schon im Mittelalter in zunehmendem Maße gerade auch als Erfinder inhaltlicher Rezeptionsangebote ernst genommen und geschätzt wurden126. Der Autonomisierungsprozeß läßt sich auch an der Etablierung von Kunst- und Graphiksammlungen als eigenständigen Sammlungsgattungen verfolgen. Zunächst neben Pretiosen, Antiken, Naturalien und Büchern gesammelt, dienten Kunstwerke in Studienkabinetten seit dem 15. Jahrhundert vor allem der Prestigedemonstration ihres Besitzers sowie der Bildung, Erbauung und Muße. Dabei fungierten Bilder als Stellvertreter für Sachverhalte und konnten daher oft auch emblematisch argumentierend zusammengestellt werden. Wo nicht die ikonographische Verherrlichung des Besitzers oder die Stimmigkeit von Bildern nach Format und Gattung zum „Decorum“ 123 Vgl. Baxandall, Giotto (wie Anm. 99), 81 f., 150–152; Cyril Mango, The Art of the Byzantine Empire, 312–1433. Sources and Documents. New Jersey 1972, 254 f. 124 Vgl. Matthias Winner, Der Künstler über sich in seinem Werk. Weinheim 1992; Catherine Sousloff, The Absolute Artist. The Historiography of a Concept. Minneapolis/London 1997; Anton W. A. Boschloo, Perceptions of the Status of Painting. The Self-Portrait in the Art of the Italian Renaissance, in: Karl Enenkel u. a. (Eds.), Modelling the Individual. Biography and Portrait in the Renaissance. Amsterdam/Atlanta 1998, 51–73; Patricia A. Emison, Creating the ‚divine‘ Artist. From Dante to Michelangelo. Leiden/ London 2004. Zur Vorgeschichte im Mittelalter: Horst Bredekamp, Das Mittelalter als Epoche der Individualität, in: Individualität. Akademievorlesungen. (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berichte und Abhandlungen, 8.) Berlin 2000, 191–240; Frances Ames-Lewis, The Intellectual Life of the Early Renaissance Artist. New Haven/London 2002. 125 Eine Aufhebung inhaltlicher Rezeptionserwartungen sieht dagegen etwa Ernst H. Gombrich, Norm und Form. (Die Kunst der Renaissance, 1.) Stuttgart 1985, 144; ders., Die Entdeckung des Sichtbaren. (Zur Kunst der Renaissance, 3.) Stuttgart 1987, 152– 155. 126 Zur mittelalterlichen Vorgeschichte der Wertschätzung des Künstlers als Erfinder effizienter Bildformen vgl. Rudolf Berliner, The Freedom of Medieval Art, in: Gazette des Beaux-Arts, Jg. 87, Bd. 28, 1945/2, 263–288, hier 278–280, 282; Martin Kemp, From Mimesis to Fantasia: The Quattrocento Vocabulary of Creation, Inspiration and Genius in the Visual Art, in: Viator 8, 1977, 347–398, hier 357–360. Zu der hiermit zusammenhängenden historischen Entwicklung der Freiheit des Künstlers, sein Werk gar nicht oder nur langsam zu vollenden, vgl. auch Albert Elsen, The Artist’s Oldest Right?, in: Art History 11, 1988, 217–230. Vgl. hierzu auch Heinen, Predigt (wie Anm. 37), 202 Anm. 134.

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eines Raumes die Anordnung in einer Sammlung bestimmten, diente die Anordnung dabei zur Abbildung der Schöpfungsordnung im Sinne eines „orbis pictus“, wirkte mit an der verschränkten Repräsentation von Mikround Makrokosmos oder schuf eine komplexe emblematische Argumentation. Solche Ordnungssystematiken, die das Bild nach seinem Darstellungsgegenstand anordneten, wurden schon seit dem frühen 16. Jahrhundert – zeitversetzt zu Foucaults Annahme eines epistemischen Umbruchs – in einem komplexen Prozeß zunehmend überlagert und schließlich abgelöst durch Klassifikationen, die sich kennerschaftlich nach Schulen, chronologischen oder alphabetischen Künstlerlisten richteten. Hatte das Zeichenverständnis vom Bild als Repräsentant eines Sachverhalts zunächst die Integration von Bildern, Naturalien und anderen Realien in Kunstkammern begründet, so entwickelten sich nun – parallel auch zu der für naturkundliche Sammlungen diskutierten Frage nach „natürlichen“ versus „künstlichen“ Ordnungssystemen und in Einklang mit deren Weg in die Spezialisierung – kennerschaftliche Klassifikationen von Kunst- und Graphiksammlungen.127 Mit der Zuspitzung der Frühen Neuzeit als Epoche der protomodernen Etablierung von autonomer Kunst und autonomem Künstler entwickelt die aktuelle Kunstgeschichte eine Rekonstruktion von Kunst als ihres eigentlichen Gegenstandes – wohl auch als Strategie der disziplinären Selbstbehauptung angesichts des Eindiffundierens der enthistorisierenden neuen „Bildwissenschaften“ in das Gegenstandsgebiet der Kunstgeschichte von der einen und der medienunspezifischen Geschichtswissenschaft von der anderen Seite. Sie setzt damit ein Programm fort, das Hans Belting 1983 gegen das

127

Für Versuche zur epistemologischen Verortung der Sammlungsgeschichte der Frühen Neuzeit vgl. Horst Bredekamp, Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin 1993 (vgl. aber etwa die Rezension von Klaus Minges, in: Kunstchronik 1994, 229–235); Victor I. Stoichita, Zur Stellung des sakralen Bildes in der Sammlung der Frühen Neuzeit, in: Andreas Grote (Hrsg.), Macrocosmos in Microcosmo. Opladen 1994, 417–436; Klaus Minges, Das Sammlungswesen der frühen Neuzeit. Kriterien der Ordnung und Spezialisierung. Münster 1998 (vgl. auch die Rezension von Ingo Herklotz, in: Kunstchronik 2001, 68–73); Brakensiek, Theatrum (wie Anm. 68). Als Brückenglied zwischen naturwissenschaftlichen und archäologischen Ordnungssystemen vgl. etwa die neuen Studien zu Cassiano dal Pozzos (1588–1657) ‚Museo Cartaceo‘: Francis Haskell/Jennifer Montague (Eds.), The Paper Museum of Cassiano dal Pozzo. A Catalogue Raisonnée. Drawings and Prints in the Royal Library at Windsor Castle, The British Museum, the Institut de France and Other Collections. 10 Vols. London 1996–2004; Ingo Herklotz, Cassiano dal Pozzo und die Archäologie des 17. Jahrhunderts. München 1999; Brigitte Sölch, Francesco Bianchini (1662–1729) und die Anfänge öffentlicher Museen in Rom. München/ Berlin 2007; vgl. auch Freedberg, The Eye of the Lynx (wie Anm. 29). Daß sich auch die Rezeptionsformen in flämischen Kunstkammerdarstellungen in diesem Sinne wandeln, bemerkt Heinen, Predigt (wie Anm. 37), 75, 274 f. Anm. 352, und 93–95, 293 f. Anm. 153 f.; danach auch Barbara Welzel, Galerien und Kunstkabinette als Orte des Gesprächs, in: Adam u. a. (Hrsg.), Geselligkeit (wie Anm. 74), 495–504.

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drohende „Ende der Kunstgeschichte“ proklamiert und seither vielfach ausformuliert hat.128 Selbst zur historischen Bildwissenschaft mutiert, erringt sie so die Hoheit über den Gegenstand Kunst als Gegenstand eines spezifischen historischen Bildverständnisses zurück. In diesem Sinne hat Belting 1990 eine aus der Bildtheologie und -praxis des Mittelalters erwachsende „Krise des Bildes am Beginn der Neuzeit“ als Beginn eines „Zeitalters der Kunst“ konstatiert. Um 1600 sei die damit ursächlich verbundene „Historisierung des alten Kultbildes“ abgeschlossen gewesen. Für die Epoche der Frühen Neuzeit stellt Belting insgesamt eine Problematisierung der sakralen Bilderverehrung und eine damit einhergehende Entkontextualisierung von Bildern fest. In den neu entstehenden Kunstsammlungen seien die funktionslos gewordenen und „ins Zwielicht“ geratenen Bilder dann „als Repräsentanten von Kunst“ umgedeutet, neu gerechtfertigt und neu funktionalisiert worden. Künstler und Kenner haben nach Beltings Auffassung im Übergang vom „Bildverständnis“ zum „Kunstverständnis“ das Medium Bild als Reich des Ästhetischen und als Anlaß metamedialer Reflexion neu konstituiert.129 Als paradigmatisch für die Autonomisierung der Kunst in der Frühen Neuzeit beschreibt Belting an anderer Stelle das autonome Gemälde – gemeint ist das gemalte und bewegliche Tafelbild. Die „Erfindung des Gemäldes“ als eigenständige Kunstgattung verortet Belting in der niederländischen Malerei des 15. Jahrhunderts, gefolgt von der „klassischen“ Phase des Gemäldes im 16. und 17. Jahrhundert, für deren Medienverständnis er auf Victor I. Stoichita verweist. Als „seltsamem Erzeugnis der europäischen Kultur“ mißt Belting dem autonomen Gemälde dabei nicht nur epochen-, sondern sogar kulturkonstituierende Bedeutung zu. Das autonome Gemälde repräsentiere „einen ersten Entwurf des Individuums der Neuzeit“, es sei „die Ikone des Menschen selber“ oder gar „Ikone der Welt“.130 Um die These einer funktionalen Ausdifferenzierung des Kunstsystems als eigenständige Wertsphäre – ein Gedanke, der sich in Niklas Luhmanns 128

Hans Belting, Das Ende der Kunstgeschichte? München 1983. Vgl. Belting, Kult (wie Anm. 108), bes. 510–545, die Zitate: ebd. 510, 523, 543. Die Grundannahme bereits durch Belting u. a. generationsprägend popularisiert in Busch (Hrsg.), Funkkolleg Kunst (wie Anm. 121), bes. 27–362. Vgl. auch Olivier Christin, Le May des orfèvres. Contribution à l’histoire de la genèse du sentiment esthetiques, in: Actes de la recherche en sciences sociales 105, 1994, 75–90; ders./Dario Gamboni, Introduction, in: dies. (Eds.), Crises de l’image religieuse. De Nicée II à Vatican II. Paris 1999, 2 f.; ders., Du culte chrétien au culte de l’art: La transformation du statut de l’image (XVe–XVIIIe siècles), in: Revue d’Histoire Moderne et Contemporaine 49/3, 2002, 176– 194. 130 Hans Belting, in: ders./Christiane Kruse, Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei. München 1994, 9–15, 33–93 (das Zitat ebd. 35); Belting bezieht sich hier auf Stoichita, Metamalerei (wie Anm. 121), vgl. ders., in: Belting/Kruse, Erfindung (wie Anm. 130), 10. 129

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globale Theorie eines Übergangs von stratifikatorischer zu funktionaler Ausdifferenzierung sozialer Systeme in der Frühen Neuzeit131 einpassen läßt – durchhalten zu können, besteht Belting 1990 auf einem per se unüberbrückbaren Widerspruch zwischen Kunst und einer Theologie, die immer wieder versucht habe, „materiellen Bildern ihre Macht zu entreißen, wenn diese im Begriff waren, zuviel Macht in der Kirche zu gewinnen“.132 Folgt man Belting hierin, kann man mit ihm Sakralkunst spätestens ab 1600 tatsächlich nur noch mit dem Klischee des „Inszenierungsrauschs des Barock“ beschreiben, der aus dem von der Kirche fortgeführten „Anachronismus des Bildkultes, der dennoch nicht zugegeben wird“, habe folgen müssen.133 Daß sich Kunst und Glaube in der Sakralkunst der Frühen Neuzeit jedoch vor wie nach 1600 überwiegend in Einklang miteinander entwickelten oder daß der Gehalt des christlichen Kultes und Glaubens auch noch für das frühneuzeitliche Bildverständnis und die frühneuzeitliche Medienpraxis medienkonstitutiv sein konnte, haben neuere Studien etwa von Michael Viktor Schwarz gezeigt.134 Zudem wurde oben bereits auf die bildtheoretische Forderung Kardinal Paleottis nach einer systematischen Integration von Kunst, belehrendem Inhalt und emotionaler Erbauung in einem „consenso universale“ der Sakralmalerei hingewiesen, eine Strategie, die zum gegenseitigen Vorteil sichtlich auch die Wechselbeziehung von Theologen und Künstlern katholischer Sakralmalerei bis ins 19. Jahrhundert bestimmte.135 Die frühneuzeitliche katholische Theologie trennte die Kunst nicht ab, sondern integrierte sie vielmehr als Wesensmerkmal ihres Begriffs des Sakralbildes. So vollzog sich die Entwicklung eines segregierten Systems Kunst signifikanterweise gerade im kirchlichen katholischen Milieu eher schleppend. Beltings Konstruktion einer Ausdifferenzierung von Religion und Kunstsystem in der Frühen Neuzeit und das von ihm proklamierte Monopol der Kunstkenner, Bilder nicht mehr naiv zu betrachten136, muß angesichts einer derart subtilen und zugleich realitätsnahen Reflexion und Konzeption von Adressatendifferenzierung für die frühneuzeitliche Sakralmalerei also er131

Vgl. Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. 4 Bde. Frankfurt am Main 1993–1999 (1. Aufl. 1980– 1995). 132 Belting, Kult (wie Anm. 108), bes. 11–27, hier 11. 133 Ebd., bes. 539. 134 Überlegungen hierzu zuletzt bei Schwarz, Medien (wie Anm. 37), u. a. 18 f.; ders, Rezension (wie Anm. 37), 488–490; Ulrich Heinen/Johann Anselm Steiger, Vorwort, in: dies. (Hrsg.), Opferung (wie Anm. 98), V–XI. Vgl. auch die in Anm. 37 genannte Literatur. Eine fundamentale Kritik an Beltings und Stoichitas These einer Säkularisierung des Bildes in der Frühen Neuzeit mit Blick auf das 17. und 18. Jahrhundert bei Muller, Rubens’ Altarpiece (wie Anm. 37). 135 Ein knapper Hinweis schon bei Warncke, Bildverständnis (wie Anm. 68), 294. Umfassend: Heinen, Predigt (wie Anm. 37), bes. 25–44, mit der älteren Literatur, und passim. 136 Belting, Kult (wie Anm. 108), 526.

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heblich relativiert werden. So konturiert sich etwa in Gabriele Bickendorfs Studie zur Historisierung der Kunstbetrachtung seit einigen Jahren jenseits dieses Schemas ein deutlicher Anteil sogar der nachtridentinischen katholischen Kirchengeschichtsschreibung an der Entwicklung der Geschichte der Kunst und Kunsttheorie der Frühen Neuzeit.137 Kardinal Paleotti begründete – vermittelt über die Predigtlehre – sein Modell der polyvalenten Adressatendifferenzierung und die Systematisierung der Wirkungsmittel des Sakralbildes letztlich aus der Rhetorik. So ergänzt Warnckes Hinweis auf Paleotti seine Rekonstruktion des frühneuzeitlichen Bildverständnisses aus der Episteme der Analogie von Sprache und Bild und seine Feststellung einer darauf aufbauenden „Rhetorik des Sehens“. Die frühneuzeitliche Rhetorisierung des Bildes stellt die Brücke dar zwischen dem kultischen Bildverständnis des Mittelalters – das in der Sakralmalerei ohne zwanghaften Bruch zunehmend durch wirkungsvollere Formen der Glaubensvermittlung und des Glaubensbezuges ersetzt wurde – und dem aus der „Bildrhetorik“ über die Systematisierung künstlerischer Qualität ausdifferenzierten und schließlich autonomisierten und antirhetorisch gewendeten Kunstdiskurs. Während die leitende Bedeutung von Kultbild und Bildkult nicht bis zur Mitte, wohl aber bis zum Ende der Frühen Neuzeit schwindet und das Kunstbild seinen Weg in die Moderne antritt, erlebt das rhetorisch argumentierende Bild in seiner funktionalen Verknüpfung sowohl mit dem Kultbild als auch mit dem Kunstbild vom 15. bis zum 18. Jahrhundert in Theorie und Praxis seine Blüte. Die katholische Bildtheorie verteilte Bild-Verstehen, -Erleben und -Genießen zwar idealtypisch auf verschiedene Gruppen, war sich aber stets auch dessen bewußt, daß in jeder der drei Rezeptionsformen die anderen beiden mitwirkten, mitwirken durften und auch mitwirken sollten. So erleichtert für Paleotti der Bild-Genuß den Zugang zum Bild-Verstehen, und das Bild-Erleben vollendet wie in einer Rede das Bild-Verstehen. Der sinnliche Genuß hoher Kunstqualität erhöht nach Paleottis Auffassung für das Bild-Erleben die spirituelle Freude und das Verlangen nach der Schau Gottes, der die sichtbare Welt geschaffen hat. Analog hierzu kann man in der Kunsttheorie der Epoche beobachten, daß in der kennerschaftlichen Kunstreflexion sowohl das Bild-Verstehen als auch – und dies mit der Etablierung emotionalisierter Bilderfahrungen als Kunsterfahrungen in der Epoche zunehmend – das Bild-Erleben den Bild-Genuß steigern können und sollen. Hierzu passend folgte die diskursive Praxis des frühneuzeitlichen Bildund Kunstdiskurses, die nicht nur – wie oben ausgeführt – die Bestimmung der Themen und Inhalte der Werke umfaßte, sondern – wie Valeska von Ro137

Die Bedeutung des Katholizismus für die Entwicklung der Kunstgeschichtsschreibung im 17. und 18. Jahrhundert zeigt Gabriele Bickendorf, Die Historisierung der italienischen Kunstbetrachtung im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 1998.

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sen etwa mit Blick auf die Dialogstruktur kunsttheoretischer Traktate herausgestellt hat – auch den kennerschaftlichen Diskurs über die künstlerische Qualität betraf138, zwanglos dem Paradigma des von Warncke entwickelten Bildverständnisses, das den Eigenanteil des Betrachters an der Rezeption betonte, und – etwa mit der grundsätzlich bereits bei Warncke berücksichtigten Adressatendifferenzierung Paleottis – eine differenzierte Adressierung von Bild-Verstehen, -Erleben und -Genießen forderte. Bild- und Kunstdiskurs waren gesellschaftlich bedeutende Träger von „Dialogizität“ als epistemischem Charakteristikum der Frühen Neuzeit.139 Die inhaltliche und die ästhetische Komplexität der Werke sowie die Komplexität der durch sie und an ihnen entfalteten Diskurse um Bild und Kunst waren funktional mit der Etablierung von Intellektualität und ästhetischer Bildung von Künstlern und Kunstpublikum verbunden und legten so den Grund für die Entwicklung von Kennerschaft als eines bedeutenden, über die Frühe Neuzeit hinauswirkenden sozialen Distinktionskriteriums. Warnckes Rekonstruktion der frühneuzeitlichen „Bildrhetorik“ ist also in jeder Hinsicht als funktional wirkendes missing link in der Ablösung der Dominanz des bildtheologisch und liturgisch fundierten mittelalterlichen Bildverständnisses durch den modernen autonomen Kunstdiskurs zu identifizieren und verbindet zugleich die Bild- und Kunstgeschichte mit der Sozialgeschichte. 3. Bild-Erleben – ein Ausblick Warnckes Systementwurf des frühneuzeitlichen Bildverständnisses fokussiert zwar auf das bei ihm umfassend rekonstruierte System des Bild-Verstehens, läßt sich aber zwanglos mit dem – von ihm durchaus gewürdigten, nicht aber ausführlich behandelten – Bild-Erleben und dem bei ihm ganz fehlenden Bild-Genießen funktional verbinden. So erläutert Warncke selbst in seinem Schlußkapitel, wie die in der Frühen Neuzeit eingesetzten bildnerischen Mittel auf die Aktualitätswahrnehmung und die Emotionalität des Betrachters zielten, um ihn rhetorisch zu überzeugen.140

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Vgl. Valeska von Rosen, Multiperspektivität und Pluralität der Meinungen im Dialog. Zu einer vernachlässigten kunsttheoretischen Gattung, in: dies. u. a. (Hrsg.), Diskurs (wie Anm. 121), 317–336. Beispielhaft entfaltet eine multiperspektivische Bildanalyse schon Erasmus Weddigen, Des Vulkan paralleles Wesen. Dialog über einen Ehebruch mit einem Glossar zu Tintorettos ‚Vulkan überrascht Venus und Mars‘. München 1994. 139 Zur Dialogizität in der Frühen Neuzeit vgl. Hempfer, Probleme (wie Anm. 1). 140 Vgl. besonders das Kapitel „das bewegende Vorbild“ bei Warncke, Bildverständnis (wie Anm. 68), 255–294.

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Ausgehend vor allem von den um 1970 verfaßten Arbeiten Heiner Mühlmanns zur emotionalen Wirkung frühneuzeitlicher Kunst141, die erstmals Norbert Michels 1985 angemessen aufgriff, ist im Kontext eines regelrechten Booms interdisziplinärer Affektforschung seit Mitte der 1980er Jahre die Forschung zur Affektwirkung frühneuzeitlicher Bilder zu einem eigenen Schwerpunkt der Renaissance- und Barockkunstgeschichte geworden.142 Als entscheidend für solche Wirkungen frühneuzeitlicher Bilder wurde dabei die Aktivierung der Imagination erkannt. Angelehnt an die Wirkungsästhetik der antiken Kunsttheorie und Rhetorik entwickelte und reflektierte die frühneuzeitliche Kunsttheorie und -praxis ein System grundlegender Strategien, solche Aktivierung zu provozieren. So wurden insbesondere die bildnerischen Mittel zur Erzeugung lebensnaher Präsenzwirkungen (enargeia) mit dem Konzept der lebendigen emotionalen Wirksamkeit verknüpft (energeia).143 Aber auch Strategien der spätmittelalterlichen Mystik wurden für die Ausgestaltung imaginationsgesteuerter Affektwirkungen genutzt.144 Diente die Aktivierung emotionalen Erlebens von Bildern im 15. Jahrhundert dabei noch ganz der „Bildrhetorik“, so entwickelte sich im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert das Bild-Erleben zu einer eigenen Kategorie des Bildgenusses.145

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Heiner Mühlmann, Über den humanistischen Sinn einiger Kerngedanken der Kunsttheorie seit Alberti, in: Zs. für Kunstgeschichte 33, 1970, 127–142; ders., Leonard et la representation du mouvement humain, in: Gazette des Beaux-Arts 113, 1971, 353–356; ders., Theorie (wie Anm. 101). 142 Vgl. besonders Michels, Bewegung (wie Anm. 101); Heinen, Predigt (wie Anm. 37), 18–20; Sebastian Schütze, Die Sterbende Mutter des Aristeides. Ein Archetypus abendländischer Affektdarstellung und seine Restitution durch Cesare Fracanzano, in: Jb. des Kunsthistorischen Museums in Wien NF. 4/5, 2002–2003, 164–189; Imorde, Affektübertragung (wie Anm. 37); Klaus Herding/Bernhard Stumpfhaus (Hrsg.), Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten. Berlin 2004 (besonders einige Beiträge zu Teil III: Das Kunstwerk als Feld des emotionalen Ausdrucks); Ulrich Heinen, in: ders./ Büttner, Rubens (wie Anm. 25), passim; ders., Wirkungsästhetik (wie Anm. 101), mit der älteren Literatur. 143 Zu Enargeia und Energeia zuletzt ebd. 113–158, hier 132–138, mit der älteren Literatur; nachzutragen sind: Valeska von Rosen, Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des Ut-pictura-poesis und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept, in: Marburger Jb. für Kunstwissenschaft 27, 2000, 171–208. 144 Vgl. etwa Heinen, Predigt (wie Anm. 37), 35 f.; Jörg-Jochen Berns, Film vor dem Film. Bewegende und bewegliche Bilder als Mittel der Imaginationssteuerung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Marburg 2001; Jörg-Jochen Berns, Rosarium und Bilddrift. Zur präcinematischen Bedeutung des Rosenkranzgebetes, in: Urs-Beat Frei/Fredy Bühler (Hrsg.), Der Rosenkranz. Andacht – Geschichte – Kunst. Bern 2003, 302–319; ders., Liebe und Hiebe. Unvorgreifliche Gedanken zur mnemonischen Kraft christlicher Schmerzikonographie, in: Barbara Hüttel u. a. (Hrsg.), Re-Visionen. Zur Aktualität von Kunstgeschichte. Berlin 2002. 247–262. 145 Heinen, Bild-Erleben (wie Anm. 25), hier 371 f.; ders., Leidenschaften (wie Anm. 25), 28–38, hier 29.

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Vor allem dem Ziel der Präsenz- und Affektwirkung hat offensichtlich die seit Beginn des 15. Jahrhunderts zu beobachtende Intensivierung der präsentierenden und der repräsentierenden Körperdarstellung sowohl nördlich wie südlich der Alpen gedient. Die große Aufmerksamkeit für die bildnerische Repräsentation des menschlichen Körpers eint von Masaccio (Abb. 10) bis zu Jacques Louis David (Abb. 11) die Bildwelten der gesamten Epoche der europäischen Frühen Neuzeit in einem anschaulichen Begriff. Nach der Antike schuf erst wieder die Frühe Neuzeit methodische Darstellungsmittel, um Repräsentationen gesteigerter Körperlichkeit zu schaffen, in die der Betrachter seine eigene Emotionalität ohne mediale oder imaginative Barrieren projizieren konnte. Selbst die ab der Mitte des 16. Jahrhunderts unter dem Diktum der „Lebendigkeit“ vorkommende malerische Auflösung der Körperoberfläche146 wurde so eingesetzt, daß sie durch die Dichotomie von malerischer Delikatesse und bloß imaginativ angeregter Körper- und Handlungsvorstellung die Affektwirkung zusätzlich steigerte. Gelegentlich wurde der Malakt selbst in diesem Sinne sogar als affekthafter Zugriff auf die Maloberfläche inszeniert und so auch für den Betrachter als Spur mit einer physischen Operation am lebenden Körper nachvollziehbar gemacht.147 In aller Vielfalt der Darstellungsmethoden wurde die empathieprojektive Körperdarstellung zur kunsthistorischen Signatur der Epoche des affektwirksam argumentierenden Bildes. Die mit allen bildnerischen Mitteln der Körperillusion – und zunehmend auch der realräumlichen visuellen Immersion148 – unterstützte „Bildrheto-

146

Zur vivacità als Kategorie der frühneuzeitlichen Kunsttheorie vgl. Lee, ,Ut pictura poesis‘ (wie Anm. 99), 219; Mary E. Hazard, The Anatomy of Liveliness as a Concept in Renaissance Aesthetics, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 33, 1974/75, 407–418, hier 408–411; Marek Komorowski, Donatello’s ‚St. George‘ in a Sixteenth-Century Commentary by Francesco Bocchi. Some Problems of the Renaissance Theory of Expression in Art, in: Ars Auro Prior. Studia Ianni Bialostocki Sexagenario Dicata. Warschau 1981, 61–66, hier 64; Norman E. Land, ‚Ekphrasis‘ and Imagination. Some Observations on Pietro Aretino’s Art Criticism, in: Art Bulletin 68, 1986, 207–217, hier 209 f.; David Summers, The Judgment of Sense. Renaissance Naturalism and the Rise of Aesthetics. Cambridge u. a. 1987, 22, 27; Jeroen Stumpel, The Province of Painting. Theories of Italian Renaissance Art. Diss. phil. Utrecht 1990, 53–55; vgl. Heinen, Predigt (wie Anm. 37), 196 Anm. 101; Frank Fehrenbach, Calor nativus – Color vitale. Prologomena zu einer Ästhetik des ‚Lebendigen Bildes‘, in: Pfisterer/Seidel (Hrsg.), Topoi (wie Anm. 72), 151–170; ders., Lebendigkeit, in: Ulrich Pfisterer (Hrsg.), Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Stuttgart/Weimar 2003, 222–227; Fredrika Herman Jacobs, The Living Image in Renaissance Art. Cambridge 2005. 147 Vgl. Heinen, Fleisch (wie Anm. 28); Daniela Bohde, Haut, Fleisch und Farbe. Körperlichkeit und Materialität in den Gemälden Tizians. Emsdetten/Berlin 2002, bes. 339– 342. Vgl. auch die Studien zur Inkarnatdarstellung bei Daniela Bohde/Mechthild Fend (Hrsg.), Weder Haut noch Fleisch. Das Inkarnat in der Kunstgeschichte. Berlin 2007. 148 Ein Überblick bei Oliver Grau, Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart. Visuelle Strategien. Berlin 2001. Vgl. auch Irving Lavin, Bernini and the Unity of the Visual

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Abb. 10: Masaccio: Der Hl Petrus lehrt, Fresko (Detail), Florenz, Brancacci-Kapelle.

Abb. 11: Jacques-Louis David: Der Schwur der Horatier, Öl auf Leinwand, 330 x 425 cm, Paris, Louvre. Ç

rik“ ist an Bildern der Epoche unmittelbar anschaulich. Idealtypisch genommen, suggeriert das frühneuzeitliche Bild lebendige Körperlichkeit, regt lebhafte Imaginationen an, löst Affekte aus oder moderiert sie und fordert Arts. 2 Vols. New York u. a. 1980; David Ganz, Barocke Bilderbauten. Erzählung, Illusion und Institution in römischen Kirchen 1580–1700. Petersberg 2003.

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intellektuelle, ästhetische und emotionale Auslegung als Eigenleistung des Betrachters. Insbesondere wegen der zentralen Bedeutung der Imagination an der Schnittstelle zwischen Sinnen, Geist und Körper liegt im Sinne von Hans Beltings „Bild-Anthropologie“ ein spezifisches kulturanthropologisches Potential im „bildrhetorischen“ Medienverständnis der Frühen Neuzeit.149 Kulturanthropologisch betrachtet, betrifft die von Gabriele Wimböck aufgebrachte Frage nach der „Autorität des Bildes“ also nicht bloß die semantische Zuordnung von Wahrheitsbehauptungen zur visuellen Repräsentation oder die soziale Zuordnung eines Geltungsanspruchs, sondern einen zugleich geistigen, affektiven und körperlichen Vorgang mit unmittelbaren Konsequenzen für die körperlichen und mentalen Streßzustände sowie für die Handlungsplanung und -reflexion von Individuen und Gruppen, die Bilder betrachten und sich vor diesen versammeln. Mit Blick auf das Bild-Erleben muß die Funktion der frühneuzeitlichen Körperbilder in der sozialen Koordination und Differenzierung der Gesellschaften Europas und den daraus folgenden individuellen und kollektiven Wirkungen neu gestellt werden. In der gesamten Frühen Neuzeit bedrohten mohammedanische Eroberung, Ausbeutung und Unterdrückung den Kontinent und wirkten kontinuierlich als signifkanter Faktor auf die internen und externen Dynamiken der europäischen Gesellschaften ein. Die andauernde Bedrohung und die Erinnerung an die vergangenen und gegenwärtigen Niederlagen und Unterdrückungen von Christen durch Mohammedaner können als externer Bestimmungsgrund zur Ausbildung einer kontinentalen europäischen Kultur in der Frühen Neuzeit betrachtet werden. Vor dieser Folie begründete die europäische Kultur ihre Identität150 und entfaltete ihre eigene globale Eroberungsmacht, so daß sie auf kolonialer und imperialer Basis gegen Ende der Epoche die mohammedanische Dauergefahr zumindest für zwei Jahrhunderte ideologisch, kulturell, ökonomisch und militä149

Vgl. Hans Belting, Bild-Anthropologie: Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München 2001, bes. 98–106, 189–211. 150 Vgl. etwa Winfried Schulze, Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung. München 1978; Reinhold F. Glei, Pius Aeneas und der Islam. Der Brief des Papstes an den Eroberer Konstantinopels, in: Gerhard Binder/Konrad Ehlich (Hrsg.), Religiöse Kommunikation – Formen und Praxis vor der Neuzeit. Trier 1997, 301–325; Bodo Guthmüller/Wilhelm Kühlmann (Hrsg.), Europa und die Türken in der Renaissance. Tübingen 2000; Stefan Hohmann, Türkenkrieg und Friedensbund im Spiegel politischer Lyrik. Auch ein Beitrag zur Entstehung des Europabegriffs, in: Zs. für Literaturwissenschaft und Linguistik 28, 1998, 128–158; Johannes Helmrath, Reden auf Reichstagsversammlungen im 15. und 16. Jahrhundert, in: Lotte Kéry u. a. (Hrsg.), Licet preter solitum. Ludwig Falkenstein zum 65. Geburtstag. Aachen 1998, 265–286, bes. 272–277 (in der genannten Literatur u. a. Hinweise auf die konstitutive Rolle der Türkengefahr für die Etablierung der Rhetorik); Marlene Kurz u. a. (Hrsg.), Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie. Wien 2005; Thomas Kaufmann, Türckenbüchlein. Zur christlichen Wahrnehmung „türkischer Religion“ in Spätmittelalter und Reformation. Göttingen 2008.

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risch bewältigt hatte. Die Erwartung, es gebe kausale Verknüpfungen zwischen der ideologischen, kulturellen, ökonomischen und militärischen Entwicklung einer Gesellschaft, die Grundlage der Fortschrittsvorstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts wurde, beruhte auch auf dieser Erfahrung der Frühen Neuzeit, die als konsistente Erfolgsgeschichte interpretiert wurde. Welche Rolle spielte in diesem europäischen Abwehr- und Globalisierungsprozeß die an frühneuzeitlichen Bildern so anschauliche Körperrhetorik, die Europa in der Frühen Neuzeit in die gesamte Welt zu exportieren begann? Nur die abendländische Kultur hat ein selbständiges lehr- und lernbares System der Rhetorik ausgebildet.151 Im selben Sinn stellt die „Bildrhetorik“ der Frühen Neuzeit eine abendländische Exklusivität dar, durch deren Export nicht-westliche Gesellschaften seit dem 16. Jahrhundert grundlegend verwestlicht wurden.152 In außereuropäischen Gesellschaften erkannte man 151

Vgl. George A. Kennedy, Comparative Rhetoric. An Historical and Cross-cultural Introduction. New York u. a. 1998, bes. 211 f., 215–219). Zumindest in der Zeit der Völkerwanderung war diese kulturelle Exklusivität sehr bewußt, wie ein im Auftrag des Ostgotenkönigs Athalarich (516–534 n. Chr.) verfaßter Staatsbrief Cassiodors (450–583 n. Chr.) an den römischen Senat zeigt: „Die Barbarenkönige bedienen sich ihrer [der Rhetorik, U. H.] nicht: sie verbleibt bei den gesetzlichen Herrschern. Waffen und das Übrige haben auch die anderen Völker: Aber die Beredsamkeit steht einzig den Herren der Römer zu Gebote.“ (Cassiodorus Senator: Variae 9,21; ed. Theodor Mommsen u. a. [Monumenta Germaniae historica, Auctores antiquissimi, 12.] Berlin 1894, 286; Übers. nach Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 11. Aufl. Tübingen/Basel 1993, 84 f.). 152 Die Forschung zu interkulturellen Diffusionsprozessen der abendländischen „Bildrhetorik“ steht noch am Anfang. Ansätze hierzu bei Serge Gruzinski, La colonisation de l’imaginaire. Sociétés indigènes et occidentalisation dans le Mexique espagnol XVIe–XVIIIe siècle. Paris 1988; ders, La guerre des images. De Christophe Colomb à „Blade Runner“ (1492–2019). Paris 1990; Jean-Michel Sallmann u. a. (Eds.), Visions indiennes, visions baroques. Les métissages de l’inconscient. Paris 1992; Marc Augé, La guerre des Rêves. Exercices d’ethno-fiction. Paris 1997; Adriano Prosperi, Fantasia versus intelletto. Strategie missionarie per la conversione dei popoli, in: de Blaauw u. a. (Eds.), Docere Delectare Movere (wie Anm. 101), 15–26; Hans Belting, Bild-Anthropologie (wie Anm. 149), 51–53, 60; Samuel Y. Edgerton, Theaters of Conversion. Religious Architecture and Indian Artists in Colonial Mexico. Albuquerque/New Mexico 2001; Claire Bosc-Tiessé, The Use of Occidental Engravings in Ethiopian Painting in the 17th and 18th Centuries: from the Success of the Book Evangelicae Historiae Imagines by Nadal at King Susniyos’ Court (c. 1610–11) to the Murals in the Narga Sillase Church (c. 1738– 50), in: Manuel João Ramos (Ed.), The Indigenous and the Foreign in Christian Ethiopian Art. On Portuguese-Ethiopian Contacts in the 16th–17th Centuries. Papers from the Fifth International Conference on the History of Ethiopian Art (Arrábida, 26–30 November 1999). Lissabon u. a. 2004, 83–102; Ulrich Heinen/Johan Verberckmoes, Einleitung, in: Steiger (Hrsg.), Passion (wie Anm. 96), 879–887, hier 879 f.; Gerhard Wolf, Ananas und Tiara. Die Gregorsmesse von Auch. Eine Bildgabe an Papst Paul III. aus Mexiko, in: Wolfram Pichler u. a. (Hrsg.), Detail. Was aus dem Bild fällt. Festschrift für F. T. Bach. Wien 2005, 333–347; Franz Reitinger, Bildtransfers. Der Einsatz visueller Medien in der Indianermission Neufrankreichs, in: Image [Magdeburg], 6. Juli 2007, http://www. bildwissenschaft.org, aufgerufen am 11. 12. 2007; Jens Baumgarten, Rhetorik, Mission

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die zentrale Bedeutung von Bildmedien für die kulturelle Durchsetzungsfähigkeit Europas. Dies bezeugen etwa die japanischen „Tretbilder“ des Schmerzensmannes, der Immaculata, der Rosenkranzmadonna oder der Pietà. Nachdem man während der japanischen Christenverfolgung Katholiken gezwungen hatte, auf diese Bilder zu treten, die zunächst aus bemaltem Papier, dann aus Holz und schließlich um der besseren Haltbarkeit willen aus Messing verfertigt wurden, mußte später etwa in Nagasaki die gesamte Bevölkerung alljährlich zum Neujahr in einem bürokratisch kontrollierten Ritus auf diese Bilder treten, um so ihre Distanzierung vom Christentum zu kontrollieren.153 Es bleibt zu fragen, was die spezifisch europäische Körperrhetorik in der Frühen Neuzeit für die Bereitschaft der Einwohner Europas bedeutete, sich immer von neuem zum Widerstand gegen die Türkengefahr und zur ozeanischen Expansion zu mobilisieren und diese Bereitschaft in zunehmend komplexe und expandierende technologische, ökonomische und militärische Koordination umzusetzen? Immerhin hatte schon Roger Bacon (um 1220 bis nach 1292) seine medienhistorische Neukonzeption einer ansichtigkeitsbezogenen „Bildrhetorik“, die in nuce bereits den für die frühneuzeitliche Körperdarstellung so charakteristischen Einsatz der Regeln der Linearperspektive vorwegnahm, ausdrücklich mit der Hoffnung auf eine wirksamere visuelle Medialität begründet, aus der die Fähigkeit und Bereitschaft der Christen zur Gegenwehr gegen die das Christentum bekämpfenden Mohammedaner gestärkt werden könne.154 Die motivierende Bedeutung von Märtyrerdarund bildende Kunst. Mitteleuropäische Jesuiten in Nordbrasilien, in: Karen Buttler/Felix Krämer (Hrsg.), Jacobs-Weg. Auf den Spuren eines Kunsthistorikers. Hommage an den Forscherfreund und Lehrer Fritz Jacobs zum 70. Geburtstag. Weimar 2007, 133–145. Für vergleichbare Überlegungen für die Missionsfunktion von Musik vgl. Johan Verberckmoes, Feest overzee. Zuid-Nederlandse jezuïten en musiek in de Nieuwe Wereld, in: ders. (Ed.), Vreemden vertoond. Opstellen over exotisme en spektakelcultuur in de Spaanse Wereld. Löwen 2002, 207–219. 153 Vgl. etwa Carolin Reimers, Aus der Zeit der Christenverfolgung in Japan (1587– 1873). Das Tretbild mit der Rosenkranzmadonna im Rautenstrauch-Joest-Museum, in: Kölner Museums-Bulletin 2000/4, 33–41. 154 Vgl. Edgerton, Giotto (wie Anm. 105), u. a. 47; Heinen, Schrei (wie Anm. 98), 23–152, hier 151. Ein analoges Phänomen bilden etwa die „Türkenreden“ Enea Silvio Piccolominis als Initialpunkt zur Etablierung der Rhetorik in der politischen Rede der Renaissance: Johannes Helmrath, Enea Silvio Piccolomini (Pius II.).Ein Humanist als Vater des Europagedankens?, in: Rüdiger Hohls (Hrsg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte. Festschrift für Hartmut Kaelble zum 65. Geburtstag. Wiesbaden 2005, 361–369; Johannes Helmrath, Der europäische Humanismus und die Funktion der Rhetorik, in: Thomas Maissen/Gerrit Walther (Hrsg.), Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur. Göttingen 2006, 18–48, hier 37–42. Ohne Berücksichtigung der rhetorischen Effekte der Linearperspektive für die Steigerung der Körperlichkeitsillusion einerseits und der Intellektualisierung des argumentierenden Bildes andererseits arbeitet neuerdings die Linearperspektive als kulturell diffe-

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stellungen sowie von Bildern und Visionen insbesondere in der kulturellen und militärischen Selbstbehauptung etwa in entscheidenden Schlachten gegen inner- und außereuropäische Gegner ist für die europäischen Kulturen der Frühen Neuzeit vielfach belegt.155 Der Zusammenhang der Rhetorisierung und Verkörperlichung kampfmotivierender Bildlichkeiten in der frühneuzeitlichen Kunst und ihr Verhältnis zu der im Mittelalter geläufigen und bis in die Antike zurückführenden Bedeutung von Bildern als Palladien156 ist ein noch zu behandelndes Thema der Bildanthropologie der Frühen Neuzeit. Neben den mobilisierenden Wirkungen muß schließlich auch die kollektiv und individuell entspannende Wirkung visueller Kommunikation, in der Körperlichkeit ein ebenso effizientes Wirkmittel darstellte, in ihrer Kulturfunktionalität und kulturgenetischen Bedeutung neu bewertet werden.157 Es muß also untersucht werden, inwieweit die Erfindung der empathieprojektiven Körperdarstellung nicht nur irgendein Charakteristikum europäischer Bildkunst der Frühen Neuzeit, sondern Teil des funktionalen Kerns europäischer Identitäts- und Gesellschaftskonstitution war. Ganz gleich ob in der multikulturalistischen Doktrin einer Dominanz kultureller vor individuellen Rechten oder vor neuen etatistischen Kräften: Seit renzierendes Kriterium zwischen Europa und der sogenannten islamischen Welt heraus Hans Belting, Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks. 2. Aufl. München 2008. 155 Zur Bedeutung von Märtyrerdarstellungen als Rollenmodelle der Glaubensbeständigkeit vgl. David Freedberg, The Representation of Martyrdoms during the Early Counter-Reformation in Antwerp, in: Burlington Magazine 118, 1976, 128–138; Kirstin Nereen, Ecclesia militantis triumphi: Jesuit Iconography and the Counter Reformation, in: Sixteenth Century Journal 29/3, 1998, 689–715; Johan Verberckmoes, Immer kloekmoedig. Emoties van zeventiende-eeuwse japanse christelijke martelaars, in: Marc van Voeck u. a. (Eds.), De steen van Alciato. Literatuur en visuele cultuur in de Nederlanden. Opstellen voor K. Porteman bij zijn emeritaat. Löwen 2003, 615–632; ders., Overseas Passions and the Self. Japanese Martyrs in the Ecclesiastical History of the Entire World by Cornelius Hazart, in: Steiger (Hrsg.), Passion (wie Anm. 96), 917–928; Peter Burschel, Sterben und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der frühen Neuzeit. München 2004. Zur motivationalen Bedeutung von Bildern und Visionen in Schlachten der Frühen Neuzeit vgl. etwa Trevor Johnson, „Victoria a deo missa?“: Living Saints on the Battlefields of the Central European Counter Reformation, in: Jürgen Beyer u. a. (Eds.), Confessional Sanctity (c. 1500–c. 1800). Mainz 2003, 319–335; vgl. auch Oskar Bätschmann, Rome. A Cultural and Artistic Power, in: Bussmann/Schilling (Hrsg.), 1648 (wie Anm. 35), Textbd. 2, 215–225, hier 215–218; Sibylle Appuhn-Radtke, Mulier fortis und Corredemptrix. Zur Entwicklung des Bildtyps „S. Maria de Victoria“ im 17. Jahrhundert, in: Werner Telesko/Leo Andergassen (Hrsg.), Iconographia christiana. Festschrift für P. Gregor Lechner OSB zum 65. Geburtstag. Regensburg 2005, 197–214. 156 Vgl. Belting, Kult (wie Anm. 108), hier bes. 14, 48, 66 f., 74–79, 245. 157 Vgl. Heiner Mühlmann, Die Natur der Kulturen. Entwurf einer kulturgenetischen Theorie. Wien/New York 1996. Vgl. auch die Identifizierung von Bauern- und Satyrdarstellungen als „Temperamentsventil“ bei Aby Warburg, Arbeitende Bauern auf burgundischen Teppichen, in: ders., Ausgewählte Schriften. Baden-Baden 1992, 165–171.

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über zehn Jahren ist in den westlichen Gesellschaften das Ende der Individualisierung zu beobachten. Begleitet wird dies von neuen Selbstthematisierungen auch in Darstellungen historischer Grundlagen, die als Erfolgsgeschichte der einen oder anderen Sicht europäischer Identität normative Kraft erhalten.158 Ob die Kunstgeschichte als Beitrag zur Geschichte der Konsolidierung und Profilierung Europas eine Geschichte der mobilisierenden, der relaxierenden und der homöostasierenden, aber auch der intellektualisierend zivilisierenden „Bildrhetorik“ als eines systematischen Clusters spezifisch europäischer Kulturmerkmale schreiben wird159, kann in diesem Zusammenhang weniger anhand der wissenschaftlichen als anhand der politischen Ethik und der politischen Ziele zu entscheiden sein, denen sich eine Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit ebenso wie andere historische Disziplinen in einer nach-modernen Welt zu stellen beginnt.

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Diese Entwicklung erkennt – ihr allerdings entgegentretend durch die Forderung nach einer Geschichtswissenschaft, welche die Singularität der „irreversiblen Moderne“ erklärt – Mergel, Modernisierungstheorie (wie Anm. 62); vgl. auch Helwig Schmidt-Glintzer, Rezension von: Andreas Anter, Die Macht der Ordnung. Tübingen 2004, in: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 35, 2005, 91–98, hier 91–94. 159 Andeutungen hierzu bei Heinen, Wirkungsästhetik (wie Anm. 101), hier 145–149.

Teil 4 Frühe Neuzeit als Epoche für Religion und Forschung: Vorstellungen des Umbruchs

Unsichtbare Grenzen Noch einmal zum reformatorischen Gewissensbegriff und dessen Deutung als Signatur der Neuzeit Von

Philippe Büttgen I. Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaft, oder: Was heißt es, gut zu periodisieren? In der Periodisierungsdiskussion wird früher oder später immer wieder ein Punkt erreicht, an welchem die von Historikern konzipierten Periodisierungsmuster mit Periodisierungen anderer Art konfrontiert werden müssen, wie sie seit etwa mehr als zweieinhalb Jahrhunderten von der Geschichtsphilosophie produziert worden sind.1 Das Verhältnis von Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaft ist bekanntlich kein friedliches. Wenn hier erneut einige Überlegungen in dieser Richtung angestellt werden sollen, dann nicht etwa in der Absicht, die Periodisierungen der Historiker einer Revision, Verbesserung oder gar Belehrung unterziehen zu wollen, wie dies bei Philosophen nur allzu oft geschieht, wenn sie auf Historiker treffen. Bekanntlich gilt Distanz gegenüber spekulativem Pathos im Umgang mit Periodisierungen als eminenter Ausdruck für eine kompetente Aneignung von wissenschaftlichen Denkmustern und Arbeitsweisen: Nicht zuletzt in dieser Kompetenz liegt das Berufsethos des zeitgenössischen Historikers. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie, wie sie hier skizzenhaft vorgenommen werden soll, ist dann zwar von Nutzen, wenn sie den Zweck erfüllt, über das nachzudenken, was Historiker tatsächlich tun und lassen sollen, wenn sie periodisieren. Sie wirft jedoch auch die Frage auf, worin Kompetenz in Sachen Periodisierung eigentlich besteht. Was heißt es, gut zu periodisieren, worin besteht überhaupt eine „richtige“ Periodisierung, und über welche Kriterien verfügen wir, um über die Exaktheit einer Periodisierung der Frühen Neuzeit insbesondere zu urteilen? Die Antwort auf die Frage, worin denn nun eine gelungene Periodisierung besteht, liegt irgendwo zwischen einer Metaphysik der Weltalter und nüchterner chronologischer Kalkulation: Ein weites Feld, zu dessen Untersuchung sich lediglich eine indirekte Herangehensweise empfiehlt.

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Für den Druck wurde die Vortragsform beibehalten.

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Im folgenden soll Luthers ,Gewissenslehre‘ – dies als etablierte Bezeichnung dessen, worum es gehen soll – und dessen späterer Gebrauch als Symbol der entstehenden Neuzeit als ein Beispiel für eine Fehlperiodisierung bzw. für eine Periodisierung, die trotz der ansehnlichen Genealogie ihrer Vertreter nach wie vor ein gewisses Unbehagen hervorruft, behandelt werden. Die folgenden Ausführungen zielen vor allem auf eine kritische Hinterfragung sowohl der betreffenden Periodisierung als auch des damit zusammenhängenden Unbehagens. Letzteres dürfte als sinnvoll erscheinen, wenn man die zentrale Bedeutung des Gegenstandes bedenkt – die Bedeutung nämlich, die individuellem Gewissen und Innerlichkeit als Hauptcharakteristika der Neuzeit noch heute von der Forschung zugewiesen wird. Dabei befasse ich mich bewußt mit keinem neuen Thema, obwohl auch festzustellen ist, daß seit der sogenannten Lutherrenaissance und der berühmten Bezeichnung der Religion Luthers als „Gewissensreligion“ bei Karl Holl in seiner Rede zur Reformationsfeier 1917, gefolgt von den „Drei Kapiteln zu Luthers Lehre vom Gewissen“ des Göttinger Theologen Emanuel Hirsch (1941, 1954 erschienen), fast niemand mehr diesen einst beliebten Gegenstand der Lutherforschung in Form einer Monographie abgehandelt hat.2 Um so mehr fällt auf, daß dieses altmodisch anmutende Thema nach wie vor einen vertrauten Eindruck erweckt, und dies nicht nur bei Theologen – ja es scheint fast so, als ob es nie richtig aus dem Blick geraten wäre, auch wenn es nicht mehr ausdrücklich angesprochen wurde. Dies hat freilich 2

Vgl. Karl Holl, Was verstand Luther unter Religion?, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. Bd. 1: Luther. 7. Aufl. Tübingen 1948, 1–110, bes. 35; Emanuel Hirsch, Drei Kapitel zu Luthers Lehre vom Gewissen, in: Lutherstudien I. Gütersloh 1954, Nachdr. Waltrop 1998. Zwischen Holl und Hirsch s. Günter Jacob, Der Gewissensbegriff in der Theologie Luthers. Tübingen 1929, Nachdr. Nendeln, Liechtenstein 1966, mit starker heideggerianischer Prägung; Theodor Siegfried, Luther und Kant. Ein geistesgeschichtlicher Vergleich im Anschluß an den Gewissensbegriff. Gießen 1930; Yrjö J. E. Alanen, Das Gewissen bei Luther. (Annales Academiae Scientiarum Fennicae, Ser. B, 29/2.) Helsinki 1934. Zum Kontext s. Heinrich Asselt, Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance – Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910–1935). (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 72.) Göttingen 1994. Später – aber auch nicht in jüngster Zeit – in Aufsatzform Gerhard Ebeling, Gewißheit und Zweifel. Die Situation des Glaubens im Zeitalter nach Luther und Descartes (ZThK 64, 1967), in: ders., Wort und Glaube. Bd. 2. Tübingen 1969, 138–183, sowie ders., Das Gewissen in Luthers Verständnis. Leitsätze (1984), in: ders., Wort und Glaube. Bd. 3. Tübingen 1985, 108–125; Hermann Dörries, Das beirrte Gewissen als Grenze des Rechts. Eine Juristenpredigt Luthers (1968), in: ders., Wort und Stunde. Bd. 3: Beiträge zum Verständnis Luthers. Göttingen 1970, 271–326; Bernhard Lohse, Gewissen und Autorität bei Luther (1974), in: ders., Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation. Zum 60. Geburtstag des Autors. Hrsg. v. Leif Grane, Bernd Moeller, Otto Hermann Pesch. Göttingen 1988, 265–286. Zum Gewissensbegriff aus philosophiehistorischer Sicht jetzt grundlegend Étienne Balibar, Art. „Conscience“, in: Barbara Cassin (Ed.), Vocabulaire européen des philosophies. Dictionnaire des intraduisibles. Paris 2004, 260–274.

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Ursachen, die weit über den Bereich der Wissenschaft hinausgehen. Die eigentlichen Gründe liegen bekanntlich in einer protestantischen Konfessionskultur, in der Luthers Berufung auf das Recht seines Gewissens auf dem Reichstag zu Worms 1521 zum „Symbol reformatorischen Bekennermuts“ geworden ist und somit die besondere Stellung eines Erinnerungsortes eingenommen hat.3 Die Entstehungsbedingungen dieses nicht nur konfessionell-lutherischen, sondern auch gesamtprotestantischen Gewissenspathos sollten freilich nicht zur Annahme verleiten, daß die wissenschaftliche Luther- und Reformationsgeschichtsschreibung stets gegen solche konfessionellen Eingriffe immun gewesen sei. Es genügt hier der Hinweis etwa auf Rudolf Herrmanns emphatische Charakterisierung Luthers als des „Entdeckers des Gewissens“, die unter vielen anderen die eigentümliche Problematik solcher Formulierung sinnfällig vor Augen führt.4 Tatsächlich fungieren solche in der Fachliteratur beinahe zum Überdruß begegnende Formulierungen wie „die Erfindung von“, „L’invention de“ oder „the making of“ (hier etwa ergänzt um: modern consciousness) seit längerem und weit über den engen Bereich des postmodernen Konstruktivismus hinaus als Embleme geschichtswissenschaftlicher Herangehensweise schlechthin. Das Beispiel des nicht gerade postmodernen Theologen Rudolf Hermann zeigt allerdings, daß damit keineswegs zwangsläufig eine Loslösung von überkommenen Sichtweisen verbunden sein muß, wie es sich viele vielleicht gewünscht haben, wenn sie noch in jüngster Zeit auf solche oder ähnliche Formulierungen rekurrierten.5 Das Eigenartige dürfte dann anderswo liegen, und zwar in der scheinbar unerschütterlichen Ritualität, mit der die sogenannte „Entstehung des modernen Gewissens“ evoziert wird. Analytisch gesehen beruhen sämtliche Untersuchungen zum Thema des „Gewissens bei Luther“ und der „Entstehung des modernen Gewissens“, ungeachtet ihrer jeweiligen Provenienz, auf einer gemeinsamen Basis: Es wird nämlich von der Parallelität zweier Prozesse ausgegangen, von welchen der eine die Entstehung einer Epoche namens „Neuzeit“ und der andere die Entstehung einer moralischen, psychologischen, anthropologischen, aber auch theologischen Instanz namens „Gewissen“ beschreibt. Beide Prozesse decken einander in dem über sie gehaltenen

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Vgl. Heiko A. Oberman, Martin Luther: Vorläufer der Reformation (1982), in: ders., Die Reformation. Von Wittenberg nach Genf. Göttingen 1986, 163, sowie zur Interpretation der Rede Luthers vor dem Wormser Reichstag 1521 weiterhin anregend ders., Werden und Wertung der Reformation: Thesen und Tatsachen, in: ebd. 24–29. Vgl. auch Gérald Chaix, Die Reformation, in: Étienne François/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 2. München 2001, 9–27. 4 Vgl. Rudolf Hermann, Gesammelte und nachgelassene Werke. Bd. 1: Luthers Theologie. Göttingen 1967, 219 Anm. 2. 5 Dafür exemplarisch Heinz-Dieter Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt am Main 1991 (Neudr. 2000).

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Diskurs fast restlos ab. Diese Äquivalenz soll im folgenden kritisch hinterfragt werden. In einem ersten Schritt soll der Entstehung des Parallelismus von Gewissen und Neuzeit nachgegangen werden. Der zweite Teil thematisiert das bisherige Unvermögen, diesen Parallelismus zu überwinden. Schließlich werden einige Vorschläge zu einer neuen Sicht des Problemkomplexes „Luther und das Gewissen der Frühen Neuzeit“ skizzenhaft vorgestellt.

II. „Gewissen“ und „Neuzeit“: Zur Genealogie einer Äquivalenz Aus dem bisher Gesagten dürfte deutlich geworden sein, daß die hier vorgeschlagenen Überlegungen keineswegs die Frage beantworten wollen, ob Luther das moderne Gewissen tatsächlich „erfunden“ hat.6 Statt dessen sollen die Hintergründe untersucht werden, vor welchen sich die Frage überhaupt stellen konnte. Da eine vollständige Genealogie innerhalb des vorgegebenen Rahmens nicht möglich ist, wird hier ein Denkexperiment aus einigen loci classici aus Hegels Berliner Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie und zur Philosophie der Geschichte aus den 1820er Jahren vorgenommen. Zwischen beiden Vorlesungsreihen, die auch als Klassiker der Periodisierungsdebatte gelesen werden können, bedarf es hier keiner näheren Unterscheidung, da in beiden eine einheitliche Deutung der Reformation als Anfang der Neuzeit enthalten ist.7 Hegels Ausführungen über den historischen Stellenwert der Reformation befinden sich an entscheidenden Stellen seiner Vorlesungen, nämlich vor jenen Abschnitten, die von Hegel selbst als Geschichte der „Neuzeit“ bzw. der

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Auf eine generelle Stellungnahme in der Periodisierungsdiskussion in bezug auf die Reformation und das sogenannte ‚konfessionelle Zeitalter‘ wird hier mit Absicht verzichtet, um auf ‚Innerlichkeit‘ und ‚Gewissen‘ als einige deren tragende Faktoren zu fokussieren. Vgl. zuletzt Thomas Kaufmann, Die Reformation als Epoche?, in: Verkündigung und Forschung 47, 2002, 49–63. 7 Zu Hegels Reformationsverständnis s. zuletzt Elisabeth Weisser-Lohmann, „Reformation“ und „Friedrich II.“ in den geschichtsphilosophischen Vorlesungen Hegels, in: dies./ Dietmar Köhler (Hrsg.), Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. (Hegel-Studien, Beih. 38.) Bonn 1998, 95–121, sowie den Beitrag von Jörg Dierken, Hegels ‚protestantisches Prinzip‘. Religionsphilosophische Implikationen einer geschichtsphilosophischen Denkfigur, in: ebd. 123–146. Vgl. auch Christoph Johannes Bauer, „Das Geheimnis aller Bewegung ist ihr Zweck“. Geschichtsphilosophie bei Hegel und Droysen. Hamburg 2001; Christophe Bouton, L’histoire dont les événements sont des pensées. Hegel et l’histoire de la philosophie, in: Revue philosophique de Louvain 98, 2000, 294–317. Weiterhin instruktiv Reinhart Maurer, Hegels politischer Protestantismus, in: HansGeorg Gadamer (Hrsg.), Stuttgarter Hegel-Tage 1970. (Hegel-Studien, Beih. 11.) Bonn 1974, 384–415.

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„neueren Philosophie“ bezeichnet werden.8 Die berühmte Sicht der Reformation als Angelpunkt, um den sich die gesamte Welt- und Philosophiegeschichte dreht, und als Ort, an dem genau sich das Neue vom Alten scheidet, beruht auf einer Argumentation, die hier nochmals zusammengefaßt werden soll. Die Reformation stellt für Hegel die Fortsetzung eines seit der Renaissance aktiven Prinzips dar; gemeint ist das „Prinzip des eigenen Denkens des Menschen, des eigenen Wissens, seiner Tätigkeit, seines Rechts, seines Zutrauens zu sich.“ Im Vergleich zur Renaissance sei aber die Reformation einen Schritt weiter gegangen, da in ihr das Prinzip eines „Geltens des Subjektiven“ eine „höhere“, ja die „höchste Bewährung“ in der „religiösen Bewährung“ erreicht habe. Im Unterschied zur „bloßen Subjektivität, bloßen Freiheit des Menschen“ sei das „Prinzip der eigenen Geistigkeit, der eigenen Selbständigkeit“ „in der Beziehung auf Gott und zu Gott“ erkannt worden.9 Durch diese religiöse Bewährung habe sich das Prinzip des freien und autonomen Denkens allmählich auf weitere Sphären der geschichtlichen Wirklichkeit erstrecken können, insbesondere auf den Staat, dessen „Versöhnung“ mit der Kirche die Reformation vollzogen habe.10 Für Hegel kann die gesamte Geschichte Europas als Wirkung der Reformation gedeutet werden, die sich in der Bildung von Staaten niedergeschlagen habe: Denn sobald sie sich der Sache der Reformation angenommen hätten, hätten die Staaten damit begonnen, die „allgemeinen Gesetze der Freiheit“ „bewußt“ zu realisieren.11 Hegel zufolge kam allerdings das „Prinzip der Subjektivität“ zu Beginn der Reformation im Individuum, und noch nicht im Staat, zur Geltung. Die religiöse Bewährung des Autonomieprinzips mache es notwendig zu bestimmen, unter welchen Bedingungen das menschliche Individuum „mit dem göttlichen Geiste erfüllt“ werden könne.12 Eine weitere Nachschrift dersel8

Mit Absicht wird hier aus verschiedenen Nachschriften zitiert, um die nie richtig stabilisierte Vortragsform dieser Texte, die inzwischen in den Kanon der akademischen Philosophiegeschichte aufgenommen worden sind, wieder hörbar zu machen. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Sämtliche Werke [künftig zitiert als: SW]. Hrsg. v. Hermann Glockner. Bd. 11: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. 4. Aufl. Neudr. Stuttgart 1961, Vierter Theil: Die germanische Welt, Dritter Abschnitt: Die neue Zeit, 517–548 = ders., Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte [künftig zit. als: V]. Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Berlin 1822/23. Hrsg. v. Karl Heinz Ilting, Karl Brehmer u. Hoo Nam Seelmann. Hamburg 1996, 494–507, sowie SW. Bd. 19: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Dritter Band. 4. Aufl. Neudr. Stuttgart 1965, 253–262 = V, Bd. 9: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. T. 4: Philosophie des Mittelalters und der neueren Zeit. Hrsg. v. Pierre Garniron. Hamburg 1986, 61–70. 9 Hegel, SW 19, 255 = V 9, 61 f. 10 Hegel, SW 11, 532. 11 Hegel, SW 11, 535 f. 12 Hegel, SW 11,523.

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ben Vorlesung über die Geschichtsphilosophie formuliert dies anders, indem sie auf den Prozeß des „Sicheigenmachens der objektiven Wahrhaftigkeit“ hinweist.13 Die Stelle berechtigt die Einsetzung Hegels in die Periodisierungsdiskussion, geht es hier doch schließlich um den inzwischen beliebt gewordenen Begriff der ‚Aneignung‘14: „Die Subjektivität macht sich nun den objektiven Inhalt, d. h. die Lehre der Kirche, zu eigen. In der lutherischen Kirche ist die Subjektivität und Gewißheit des Individuum ebenso notwendig als die Objektivität der Wahrheit“.15 Die Aneignung des Wahren geschieht durch eine Neubewertung dessen, was Hegel den „Luther-Glauben“ nennt, den er im Kontrast zu einer „Gewißheit von bloß endlichen Dingen“ definiert als ein „Verehren Gottes im Geist“ durch ein Subjekt, das seine „Partikularität“ „negiert“ haben müsse.16 Soweit zum ‚systematischen‘ Teil der hegelschen Deutung der Reformation. Deren Einzelheiten dürfen übersprungen werden, soweit sie die Rekonstruktion der historischen Entwicklung, die nach Hegel die Entstehung der lutherischen Gewissenslehre ermöglicht hat, nicht beeinflussen. Hier nimmt das Hegelsche Narrativ die spezifische Form einer Geschichte der Innerlichkeit an. Das der Reformation vorangehende „Verderben der Kirche“ im Spätmittelalter wird in den Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte als maßloses Überhandnehmen des sinnlich-äußerlichen Elements geschildert, sei es in Form der „Sklaverei der Autorität“, des Wunderglaubens oder des Ablaßhandels. Formuliert wird dieser Befund als „Äußerlichkeit innerhalb der Kirche selbst“. Hegel fährt fort: Die Reformation sei zu einem Zeitpunkt entstanden, wo die Kirche „hinter den Weltgeist getreten sei“, denn dieser sei bereits dazu gekommen, „das Sinnliche als Sinnliches, das Äußerliche als Äußerliches zu wissen“.17 Luthers historische Rolle habe folglich darin bestanden, die neue, profane, selbständige Subjektivität, die sich etwa in der Gestalt des Renaissance-Ingenieurs verkörpert, wieder religiös aufzuladen. Damit wird die bereits erwähnte „religiöse Bewährung“ des Autonomieprinzips um den Gedanken einer „absoluten Idealität alles Sinnlichen und Äußerlichen“ ergänzt, die außerdem auch als „absolute Idealität des Innern“ in einer anderen Nachschrift derselben Vorlesung formuliert wird.18 Hervorge-

13

Hegel, V 12, 501. Vgl. die historiographische Bestandsaufnahme bei Marian Füssel, Von der Formalität der Praktiken zu den Künsten des Widerstands. Theoretische und historiographische Kontexte des Begriffs der Aneignung bei Michel de Certeau, in: Philippe Büttgen/Christian Jouhaud (Eds.), Lire Michel de Certeau. La formalité des pratiques – Michel de Cereau lesen. Die Formalität der Praktiken. (Zeitsprünge, 12/1–2.) Frankfurt am Main 2008, 237–255. 15 Hegel, SW 11, 523 f. 16 Hegel, SW 11, 522–524 = V 12, 499–501. 17 Vgl. Hegel, SW, 519 f. = V 12, 496 f. 18 Vgl. Hegel, SW 11, 522, und V 12, 499. 14

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hoben werden in diesem Zusammenhang alle theologischen Innovationen, die in der Auseinandersetzung der Reformatoren mit den Formen kirchlicher Weltflucht im Spätmittelalter eingesetzt worden sind, wie etwa allgemeines Priestertum, Abschaffung der Mönchsgelübde, Moralisierung der Arbeit. Die Reformation erscheint demnach als eine radikale Neubezauberung der Welt: An der Schwelle zur Neuzeit sei eine radikale „Entfernung des Äußerlichen“ vollzogen worden, der eine tiefgreifende Reorganisation des Religiösen um Geist, Herz und Gewissen des Individuums entspreche. Hegel faßt dies in einem Kontrast zusammen: Während die übrige Welt „hinaus ist nach Ostindien, Amerika, aus ist, Reichtümer zu gewinnen, eine weltliche Herrschaft zusammenzubringen […] ist es ein einfacher Mönch“, der das „Bedürfnis des Innersten in Schutz genommen habe“.19 Damit sei auch durch Luther eine neue Instanz im Subjekt aufgedeckt worden. Die folgenden Zeilen aus der Vorlesung zur Philosophiegeschichte fassen Hegels Ausführungen wiederum zusammen: „Es ist damit ein Ort in das Innerste des Menschen gesetzt worden, auf den allein es ankommt, in dem er nur bei sich und bei Gott ist; und bei Gott ist er nur als er selbst, im Gewissen soll er zuhause sein bei sich. Dies Hausrecht soll nicht durch Andere gestört werden können; es soll niemand sich anmaßen, darin zu gelten. Alle Äußerlichkeit in Beziehung auf mich ist verbannt […]“.20

Aus dem bisher Gesagten geht bereits hervor, daß das Gewissen – jener „Ort“ im „Innersten des Menschen, auf den es allein ankommt“ – hier geradezu als Metonymie der Reformation, als pars pro toto, fungiert, ebenso wie die Reformation bei Hegel als Metapher – Emblem, Symbol und Signatur – der Neuzeit in Anspruch genommen wird. Es drängt sich aber gleich die Frage auf, was heute noch mit Hegel und seinen Klischees eines lutherisierenden Großpreußentums – „Dieß ist die Fahne, unter der wir dienen, und die wir tragen“21 – anzufangen ist. Von Klischees zu reden, impliziert jedoch auch, daß wir durchaus verstehen, was gemeint ist, wenn es um „Gewissen“, „Innerlichkeit“, „Äußerlichkeit“ oder „das Innerste des Menschen“ geht. Ein radikaleres Verfahren bestünde aber darin, den Hegelschen Bericht über Entstehung und Leistung der Reformation so zu lesen, als wüßten wir tatsächlich nicht, was mit diesen Begriffen bezeichnet ist. Der ethnologische Ansatz scheint in der Argumentation selbst begründet, hat doch Hegel selbst ausdrücklich konstatiert, daß „das Innerste“ nicht allen Völkern und besonders nicht den „romanischen Völkern“ „eigen“ sei.22 Hegels Sprachduktus weist allerdings auch für Deutschsprachige eine exotische Dimension auf, die ihn ungeachtet aller billigen Ironie interessant macht. 19 20 21 22

Hegel, SW 11, 522. Hegel, SW 19, 256 f. = V 9, 63. Hegel, SW 11, 524 = V 12, 502. Hegel, SW 11, 529.

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Aus diesem Experiment mehr oder weniger bewußter Ignoranz ergibt sich für die hier eingenommene Perspektive ein wichtiger Befund. Mangels näherer Definitionen bleibt nämlich in bezug auf das „Gewissen“ und das „Innerste“ des Menschen zunächst nur festzuhalten, daß dies Dinge sind, die man nicht sieht, weil sie nicht zu sehen sind. Dadurch wird man zur Feststellung gebracht, daß der sogenannte Übergang zur Neuzeit bzw. die Geburt der Neuzeit aus dem Geiste der Reformation mit indiskutabler Selbstverständlichkeit in einer Instanz verortet wird, die nicht nur nicht zu sehen ist, sondern sich jeglichem Blick entziehen muß, soll man ein „Äußeres“ von einem „Inneren“ überhaupt unterscheiden können. Jedem Vorwurf der Naivität zum Trotz ist ausdrücklich zu betonen, wie wenig selbstverständlich es ist, daß Zeitumbrüche dem Bereich des absoluten Unsichtbaren zugewiesen werden, und wie wenig selbstverständlich es außerdem ist, daß Transformationen, die die gesamte Staaten- und Menschengemeinschaft betreffen, in einem sogenannten „Innersten“ des Einzelnen verortet werden. Es mag sein, daß das hier angedeutete Verfahren nichts anderes tut, als um das Rätsel aller idealistischen Geschichtsdeutung zu kreisen. Das größte Rätsel lautet aber dennoch: Wie konnte sich der Glaube an das „Prinzip der Innerlichkeit“23 überhaupt durchsetzen, d. h. woher stammt jener Anschein der Selbstverständlichkeit, den ich zu dekonstruieren versucht habe? Ich möchte hier eine Hypothese aufstellen, die mich wieder zu der anfangs erwähnten Parallelität von Gewissen und Neuzeit zurückführt. Weder „Neuzeit“ noch „Gewissen“ sind an sich selbstverständliche Begriffe. Was hingegen selbstverständlich sein dürfte bzw. was den Anschein der Selbstverständlichkeit erweckt, ist die Korrelation von beiden. Die Unsichtbarkeit des Gewissens bzw. des ‚Inneren‘ scheint für den allumfassenden Charakter der Neuzeit als eines gesamtgeschichtlichen Prozesses (etwa als „Übergang“ zur Neuzeit bezeichnet) zu bürgen. Je weniger sichtbar und greifbar, desto entscheidender und ‚epochemachender‘ das betreffende Phänomen. Invisibilität tritt damit als Signatur einer Epoche als Epoche in Funktion; sie markiert den Abschied vom Alten und den Aufbruch zum Neuen: Dieses Theorem liegt der seit Hegel stets wiederkehrenden Assoziation von Innerlichkeit, Gewissen und Neuzeit zugrunde. Ob dieses proportionale Verhältnis von Unsichtbarkeit und Epoche nicht letztlich auf magische Wurzeln zurückzuführen ist, sei dahingestellt.

III. Unüberwindliche Verinnerlichung? Die hier aufgestellte Hypothese liefert eine Erklärung dafür, weshalb die Frühneuzeitforschung noch immer nolens volens in so starkem Maße vom 23

Hegel, SW 11, 548.

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Hegelschen ‚Prinzip der Innerlichkeit‘ abhängig ist. Der mehr oder weniger reflektierte Gebrauch von Kategorien wie der der ‚Verinnerlichung‘ oder der ‚Individualisierung‘ als angebliche Charakteristika der sogenannten ‚Frühen Neuzeit‘ dürfte dabei als Symptom gelten. Dies gilt etwa für die Definition des Pietismus in der Vorrede zur Neuauflage eines berühmten und im übrigen durchaus nützlichen Einführungsbuchs, die in totalem Vertrauen auf ihre Selbstverständlichkeit weiterhin auf die genannten Begriffe zurückgreift, wobei das, was zur Definition dienen soll, mit dem verwechselt wird, was es überhaupt zu definieren gilt – dies, um ein Beispiel aus der Kirchengeschichte zu nennen.24 Für die allgemeingeschichtliche Frühneuzeitforschung gilt ebenso, daß diese in Sachen ‚Individualisierung‘ kaum Konkurrenz zu fürchten braucht. Man spricht zwar nicht mehr vom ‚Prinzip der Subjektivität‘, sondern von ‚Subjektivierung‘, nicht mehr vom ‚Prinzip der Innerlichkeit‘, sondern von ‚Verinnerlichung‘, womit Prozesse an die Stelle von Prinzipien zu treten scheinen.25 Es fragt sich aber, ob damit tatsächlich ein entscheidender Fortschritt erreicht wird, war doch Hegel selber mehr als kein zweiter von der prozessualen Natur der Innerlichkeit überzeugt: Es genügt hier der bloße Hinweis auf die „Phänomenologie des Geistes“ von 1807. Man wird zu Recht einwenden können, daß die Inspiration der neueren Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit (es sei hier wiederum auf Kittsteiner verwiesen) alles andere als hegelianisch gewesen ist. Dies mag zutreffen, was die Inspiration anbelangt, eine Inspiration, die übrigens längst an polemischer Schärfe verloren hat. Die praktische Umsetzung dieser Inspiration ist aber ein anderes Kapitel. Zwar wird immer wieder davon ausgegangen, daß Gewissen und Innerlichkeit nicht als ‚feste Größen‘ – dies als Standardbezeichnung dessen, was es zu verwerfen gilt – aufzufassen sind. Nichtsdestoweniger werden aber weiterhin Bücher zur Entstehung des modernen Gewissens oder zur Affektenlehre in der Frühen Neuzeit publiziert, und diese Bücher stoßen in der Öffentlichkeit auf ein weitaus regeres Interesse als Bücher, die sich etwa Themen der frühneuzeitlichen Wirtschafts- oder Technikgeschichte widmen. Wenn man einmal zugibt, daß Wirtschaft und Technik an sich keine grundsätzlich lebensferneren Themen als Psychologie seien; ferner, daß es keinen Grund gibt, die neuere Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit auf die Echtheit ihres anti-idealistischen bzw. postmodernen Anliegens hin mißtrauisch zu befragen, dann bleibt eigentlich nur eine schlüssige Erklärung für die weiterhin eminente Rolle von Forschungsparadigmen wie der ‚Verinnerlichung‘ und ‚Individualisierung‘ in der Frühneuzeitforschung: 24

Johannes Wallmann, Der Pietismus. Göttingen 2005, 12. Vgl. etwa Stefan Deines/Stephan Jaeger/Ansgar Nonning (Hrsg.), Historisierte Subjekte – Subjektivierte Geschichte. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte. Berlin/New York 2003. 25

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Beide Konzepte vermitteln nämlich den Eindruck, daß sowohl das Ganze als auch das Eigentümliche der Neuzeit durch sie greifbar zu erfassen sei, und dies vor allem deshalb, weil sie selbst nichts Greifbares darstellen. Darin dürfte man die Fortsetzung des Glaubens an das (protestantische) Innere als Metonymie der Neuzeit sehen, welche selber auf der angenommenen Parallelität von Unsichtbarkeit und geschichtlichem Wandel beruht. Der einzige Unterschied besteht darin, daß ein Fetischismus der Verinnerlichung an die Stelle des Pathos der Innerlichkeit getreten ist.

IV. Vorschläge zu Luthers Gewissenslehre Anhand von Luthers Aussagen über das Gewissen soll hier ein Ausweg aus dem Problem zumindest angedeutet werden.26 Die Bestandsaufnahme, d. h. die Zusammenstellung und systematische Anordnung sämtlicher Treffer von ‚conscientia‘, ‚gewissen‘ und deren assoziierten Formen in der elektronischen Weimariana bestätigt den Befund, daß nirgendwo eine solche Konzentration des theologischen Diskurses auf die Instanz des ‚Gewissens‘ zu beobachten ist wie bei Luther, und dies in sämtlichen Genres, die von Luther gepflegt wurden, sei es Predigt, Bibelexegese und Kontroverstheologie. In dieser Hinsicht erscheint es durchaus gerechtfertigt, von einem Umbruch zu sprechen und diesen Umbruch im Diskurs Luthers über das Gewissen verorten zu wollen.27 Die Tatsache, daß jeder theologischen Lehraussage Luthers, sei es über Schöpfer und Geschöpf, Glaube und Werk, Gesetz und Evangelium, eine andere Aussage entspricht, in der das Verhältnis des Gewissens zum entsprechenden Theologoumenon ausdrücklich zur Sprache kommt, darf als Spezifikum des lutherschen Denk- und Sprachduktus angesehen werden.28 Die Instanz, in der die ‚Bewährung‘ theologischen Unterrichtes – um hier bewußt auf den hegelschen Terminus zurückzugreifen – erfolgt, heißt bei Luther tatsächlich „conscientia“ bzw. „Gewissen“. Allerdings fehlt hier noch der Aspekt, unter welchem der systematischtheologische Befund in eine geschichtswissenschaftliche Herangehensweise des lutherischen Themenkomplexes ‚Gewissen‘ umzuwandeln wäre. Die systematisch-theologische Lutherforschung hat sich naturgemäß der theologischen Bedeutung jener Konzentration des reformatorischen Diskurses auf das ‚Gewissen‘ gewidmet, nicht aber der Konzentration selber, d. h. dem Phänomen der lexikalisch-semantischen Verdichtung auf den Begriff ‚Ge-

26

Die folgende Skizze beruht auf den ersten, vorläufigen Ergebnissen eines laufenden Buchprojekts zum Thema Conscience et intériorité chez Luther. 27 Vgl. Lohse, Gewissen und Autorität (wie Anm. 2), 266. 28 Vgl. Philippe Büttgen, Art. „Luther, Martin“, in: Élisabeth Décultot/Michel Espagne/ Jacques Le Rider, Dictionnaire du Monde Germanique. Paris 2007, 678–680.

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wissen‘, zunächst einmal als statistische Konstante in Luthers Schreib- und – soweit die vielen Nachschriften von Luthers Predigten auch zum Untersuchungsfeld gehören – Redeart. Die daraus resultierende Fehlinterpretation, die man im Sinne Pierre Bourdieus als eine Form der ‚scholastischen Illusion‘ bezeichnen könnte29, schlägt sich nicht zuletzt in dem immer wieder vorgenommenen Zitieren derselben Textstellen nieder, die zwar als solche zu denken geben, deren Wiederholung aber den Verdacht einer Exegese zweiter Hand erweckt.30 Die Tatsache, daß Luthers theologischer Diskurs sich auf das Gewissen konzentriert, bedeutet nicht, daß Luther definitorische Zwecke verfolge, geschweige denn, daß er je an einer Theorie des Gewissens arbeitete. Deshalb wird auch das Ziel verfehlt, wenn sich der Lutherforscher darum bemüht, etwa gegen die Hegelsche Interpretation geltend zu machen, daß das Gewissen für Luther kein Prinzip sittlicher Autonomie gewesen sei, kein Meilenstein also einer Erfolgsgeschichte menschlicher Selbstbehauptung gegenüber dem göttlichen Anspruch, sondern der Ort eines „Gegenüber von Mensch und Gott“.31 Das Unbehagen wird dann dadurch erweckt, daß man es hier lediglich mit der Kehrseite des Hegelschen Anachronismus zu tun hat, wobei übrigens auch alte apologetische Zwecke verfolgt werden, wenn es beispielsweise bei Lohse darum geht, Luthers Glaubenslehre gegen die katholischen Vorwürfe des Subjektivismus und der Müßigkeit in Schutz zu nehmen.32 Kaum weniger unangebracht erscheint der Versuch, eine künstlich rekonstruierte Gewissenstheorie Luthers anhand der mittelalterlichen Diskussion über die verschiedenen Stufen dessen gewinnen zu wollen, was wir ‚Gewissen‘ nennen. Luther sollte nämlich ziemlich bald auf die Bonaventura und Thomas von Aquin gängigen Distinktionen von ‚suneidesis‘ und ‚conscientia‘ aristotelischer Provenienz verzichten, wie er auch auf jeden akademischen Beitrag zur Natur des Gewissens verzichtete.33 Ein weiterer, für die 29

Zum Begriff der „illusion scolastique“ s. Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt am Main 1998, wo der Begriff erstmals begegnet. 30 Vgl. etwa bei Ebeling, Gewißheit und Zweifel (wie Anm. 2), das erneute Anführen des zwanzig Jahre später durch Karl-Heinz zur Mühlen berühmt gewordenen „extra nos“-Zitats aus dem Galaterbriefkommentar 1531 (s. Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 40/I. Weimar 1911, 589, 8–10: „Ideo nostra theologia est certa, quia ponit nos extra nos: non debeo niti in conscientia mea […]“, und Karl-Heinz zur Mühlen, Nos extra nos. Luthers Theologie zwischen Mystik und Scholastik. [Beiträge zur historischen Theologie, Bd. 46.] Tübingen 1972) sowie weiterer für den Lutherforscher vertraut klingende Passagen („Qui hoc credit, habet“, „via in coelum est linea indivisibili puncti: conscientiae“ usw.), deren Zusammenhang als solcher nie reflektiert wird. 31 Lohse, Gewissen und Autorität (wie Anm. 2), 266. 32 Ebd. 272. 33 Vgl. Michael G. Baylor, Action and Person. Conscience in Late Scholasticism and the Young Luther. (Studies in Medieval and Reformation Thought, Vol. 20.) Leiden 1977. Zur Einführung weiterhin nützlich Timothy C. Potts, Conscience, in: Norman Kretzmann/Anthony Kenny/Jan Pinborg (Eds.), The Cambridge History of Later Medieval

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hier eingenommene Perspektive wichtigerer Befund ist jedoch die Feststellung, daß jeder Aussage Luthers über die ‚conscientia‘ oder das ‚gewissen‘ (Singular) eben so viele Aussagen über die ‚conscientiae‘ und die ‚gewissen‘ (im Plural) entsprechen: was sie empfinden, was sie tun und lassen sollen, wie man sie darauf leiten kann etc. Es wäre demnach irreführend, Luthers Gewissen-Aussagen ‚scholastisieren‘, d. h. ausschließlich im Kontext eines definitorisch-wissenschaftlichen Ansatzes deuten zu wollen, zumal bei Luther ‚conscientiae‘ und ‚Gewissen‘ als Termini öfters mit anderen Termini wie ‚animae‘, ‚Seelen‘, ‚Herzen‘, ‚animi‘, ‚Geister‘ ziemlich willkürlich assoziiert werden, was die Begrenztheit einer allzu scharfen Begriffsdefinition vor Augen führt. Was kann aber dann an die Stelle der scholastischen Illusion treten? Ein Blick auf die Verbformen, die mit ‚gewissen‘ und ‚conscientia‘ bei Luther am häufigsten verbunden sind, gibt darüber Auskunft: „Conscientias confirmare“, ,‚die Gewissen stärken“, „consolare“, „trösten“, „ducere“, „führen“, „erigere“, „aufrichten“, „fatigare“, „illaqueare“, „binden“, „irretire“, „ligare“, „liberare“, „lösen“, „freimachen“, „pacare“, „stillen“, „praedicare“, „regere“, „regieren“ oder „gubernare“ bezeichnen Operationen, die an dem Gewissen bzw. an den Gewissen vollzogen werden, um in ihnen Zustände hervorzurufen oder aber um solche zu beseitigen, die mittels solcher Verbformen wie „Conscientias confidere“, „laetari“, „liberari“ bzw. „angi“, „confundi“, „dubitare“, „mordere“, „beißen“ oder „inquietari“ beschrieben werden. Diese Operationen beziehen sich wiederum ganz eindeutig auf einen Bereich, dessen Rolle in Luthers Lebenswerk erst jetzt aufgedeckt ist, nämlich den der Seelsorge bzw. der Pastoraltheologie.34 Ein ähnlicher Test kann auf der Grundlage der von Luther verwendeten Adjektivformen gemacht werden: Manche Treffer – etwa „anxia“, „ängstlich“, „capta“, „captiva“, „gefangen“, „certa“, „incerta“, „erronea“, „irrig“, „pacata“, „tranquilla“, „still“, „pusillanimis“, „scrupulosa“, „tristis“, „betrübt“ – haben nur sehr indirekt zu tun mit jenem „Gegenüber“ von Mensch und Gott, das die neuere Theologie rekonstruiert zu haben glaubt. Sie beziehen sich vielmehr auf Philosophy. From the Rediscovery of Aristotle to the Disintegration of Scholasticism 1100–1600. Cambridge u. a. 1982, 687–704. Zuletzt grundlegend auch für die Renaissanceforschung Christian Trottmann, Syndérèse et contemplation. Problèmes de sources et enjeux philosophiques à l’entrée dans la Renaissance, in: ders. (Ed.), Vers la contemplation. Études sur la syndérèse et les modalités de la contemplation de l’antiquité à la Renaissance. Paris 2007, 193–213. 34 Vgl. Gerhard Ebeling, Luthers Seelsorge. Theologie in der Vielfalt der Lebenssituation. An seinen Briefen dargestellt. Tübingen 1999. Ebelings Weg vom Gewißheit-Aufsatz (wie Anm. 2) zum erneuerten Interesse an Luthers Seelsorgetechniken durfte hier als exemplarisch gelten. Eine ähnliche Entwicklung ist in der Melanchthon-Forschung zu beobachen; s. z. B. Martin H. Jung, Frömmigkeit und Theologie bei Philipp Melanchthon. Das Gebet im Leben und in der Lehre des Reformators. (Beiträge zur historischen Theologie, Bd. 102.) Tübingen, 1998.

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präzise Fragestellungen der Seelsorge, die nicht unbedingt als Spuren ‚mittelalterlicher‘ Borniertheit bzw. Verankerung zu interpretieren sind, sondern den beruflichen Sitz im Leben für Luther als Priester bzw. Prediger und Seelsorger darstellen. Freilich lauten die Antworten, die Luther auf die überlieferten Fragen der spätmittelalterlichen Seelsorge gibt, grundsätzlich anders als die seiner Vorgänger.35 Aus eben diesem Grunde darf man von diesen Antworten und generell von der Beobachtung der von Luther unter Hinweis auf Recht und Leiden der Gewissen bzw. conscientiae angewandten Seelsorgetechniken einen sichereren Zugang zur Eigenart des lutherschen Gewissensbegriffs erhoffen, als es durch die Fixiertheit auf jene Fragen der Auto- und Heteronomie geschieht, mit denen allzuoft der Begriff des Mittelalterlichen bzw. des Neuzeitlichen metonymisch verwechselt wird. Das frömmigkeitsgeschichtliche Interesse an den Seelsorgetechniken, das sich unlängst in den Begriff der ‚normativen Zentrierung‘ von Religion und Gesellschaft im Reich des Spätmittelalters und des frühen 16. Jahrhunderts niedergeschlagen hat36, beweist somit, daß es die Texte Luthers nicht als bloße Illustrationen für eine breitere Forschungshypothese zu behandeln weiß, sondern daß es auch einen positiven Beitrag zu deren Interpretation leistet.

V. Schluß Es mag ironisch anmuten, einen Zusammenhang zwischen der geschichtsphilosophischen Deutung der Reformation als Anfang der Neuzeit, dem heutzutage florierenden Verinnerlichungs- oder Individualisierungsbegriff und den seelsorgerlichen Techniken der Gewissenspflege zu suggerieren. Dennoch gibt es nicht so viele andere Wege, die gangbar sind, um die von Luther vollzogene Transformation des Gewissensbegriffs aufzuzeigen, ohne dabei dem Pathos der Innerlichkeit, dem damit verbundenen metonymischen Gebrauch des Neuzeitbegriffs und dessen Konsequenz, dem Glauben an die Proportionalität von Neuzeit und Unsichtbarkeit zu verfallen. Denn Luther entwickelte tatsächlich, wenn nicht ein neues Konzept, zumindest ein neues Verständnis dessen, was Gewissen ist und welche Rolle dieses in Glauben, Politik und Moral zu spielen habe. Wenn ich hier vorschlage, diese 35 Dazu Sven Grosse, Heilsungewißheit und scrupulositas im späten Mittelalter. Studien zu Johannes Gerson und den Gattungen der Frömmigkeitstheologie seiner Zeit. (Beiträge zur historischen Theologie, Bd. 85.) Tübingen 1994. 36 Vgl. Berndt Hamm, Von der spätmittelalterlichen reformatio zur Reformation: Der Prozeß normativer Zentrierung von Religion und Gesellschaft in Deutschland, in: ARG 84, 1993, 7–82; ders., Wie innovativ war die Reformation?, in: ZHF 27, 2000, 481–498, sowie ders., The Reformation of Faith in the Context of Late Medieval Theology and Piety. (Studies in the History of Christian Thought, Vol. 110.) Leiden u. a. 2004.

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Transformationen im Gewissen-Diskurs einem Wandel der Seelsorgetechniken zuzuweisen, anstatt sie verfrüht als Zeichen einer entstehenden ‚Subjektivität‘ zu interpretieren, so bedeutet dies nicht, daß Themen wie Subjektivität bzw. Innerlichkeit aus dem Zuständigkeitsbereich der Geschichtswissenschaft auszuschließen wären. Im Gegenteil gewinnt man dabei eine Folie, auf welcher gegen spekulative Entgleisungen immune geschichtswissenschaftliche Untersuchungen erst denkbar sind. Ein solcher Pragmatisierungsvorschlag in bezug auf Vorstellungen von Subjektivität kann schließlich dazu beitragen, das ‚Gewissen‘ bei Luther nicht nur im Kontext der mythologischen Ursprünge der Neuzeit, sondern auch im Kontext einer geschichtswissenschaftlichen Reflexion über die Besonderheit der Frühen Neuzeit zu untersuchen.

Katholische Konfessionalisierung – ein Epochenphänomen der Frühneuzeit zwischen Spätmittelalter und Aufklärung Von

Andreas Holzem Die geläufige Epochenimagination „Frühe Neuzeit“ bewegt sich im Raster dreier großer Zahlen: 1500/17, 1648, 1800/06. Sie alle markieren einschneidende Themen der Gesellschaftsgeschichte des Christentums, der deutschen zumal: die Reformation, den Westfälischen Frieden als Ende eines Religionskrieges, die Französische Revolution und in ihrem Gefolge die Säkularisation. Und so dürfte man erwarten, daß sich gerade der Religionshistoriker am derzeit dominierenden Epochenkonzept „Frühe Neuzeit“ erbaut die geistigen Hände wärmt. Bei näherem Zusehen auf die Forschungslandschaft aber ergeben sich im Blick auf alle drei erhebliche Probleme. Sehr skizzenhaft sollen diese im folgenden markiert werden, vor allem für das 17. und 18. Jahrhundert auch im Hinblick auf eigene regionalgeschichtliche Forschungsergebnisse. Das Fazit versucht dennoch, die „Frühe Neuzeit“ aus der Perspektive der Christentumsgeschichte typologisch zu klassifizieren und spezifische Besonderheiten gegenüber Mittelalter und Moderne herauszuarbeiten. Das zwingt zu teils geradezu lakonisch knappen Bezügen auf die umfangreiche Landschaft der Überblicksdarstellungen und Detailstudien.

I. 1500/1517 – Die Reformation und der Beginn der Frühen Neuzeit Als Gerhard Ritter nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg Martin Luther als den „ewigen Deutschen“ beschrieb, der schlechthin „wir selber“ sei, griff er auf eine Epochenimagination zurück, die bereits Heinrich von Treitschke in seiner nationalprotestantischen Lutherdeutung zum 400. Geburtstag des Reformators am 7. November 1883 über „Luther und die deutsche Nation“ formuliert hatte: Luther sei, in einer brisanten Verflechtung von Religiösem und Politischem, das Idealbild von „deutschem Wesen“ und „deutschem Glauben“, der „urwüchsige deutsche Bauernsohn“, in dessen „tiefen Augen […] der alte Heldenmut der Germanen [blitzte]“, der Inbegriff der deutschen Kultur, „Blut von unserem Blute“, der Garant von wissenschaftlicher und bürgerlicher Freiheit. Und, so Treitschke, „weil die historische Welt die Welt des Willens ist, weil nicht der Gedanke, sondern die Tat das Schicksal der Völker bestimmt, darum beginnt die Geschichte der modernen Mensch-

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heit nicht mit Petrarca, nicht mit den Künstlern des Quattrocento, sondern mit Martin Luther“.1 Es war diese Perspektive, welche 1500 als Epochengrenze in die Geschichtswissenschaft einführte und gleichzeitig festlegte, daß das Epochale daran zunächst einmal auf einem religiösen Ereignis fußte: Es war – wie immer man es nimmt – die „Wiederentdeckung des reinen Evangeliums“ oder der Aufstand gegen den „Papstesel zu Rom“, der die Zeit um 1500 als Beginn der Neuzeit und das medium aevum als irgendwie despektierliche Zwischenzeit qualifizierte. Auf diesem Wege wurde einer konfessionsgeprägten Weltsicht der Charakter der Wissenschaftlichkeit beigelegt, obwohl sie zunächst der alerten Angriffslust der Humanisten gegen die „Dunkelmänner“ und dann dem Selbstbild der protestantischen Aufklärung entsprungen war, mit der Reformation beginne die Epoche der Gewissens- und Geistesfreiheit. Erst Heiko Oberman hat endgültig sehen gelehrt, daß das mit Luthers Selbstverständnis nichts gemein hatte – nicht etwa als Mann der Neuzeit, sondern als Prediger der Endzeit hat er sich stets gesehen.2 Für das katholische Geschichtsbild des 19. Jahrhunderts war 1500 eine Zäsur mit umgekehrten Vorzeichen. Johannes Janssen faßte in seiner „Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters“3 die Vorreformationszeit, von der protestantischen Nationalhistorie einseitig zu einer Periode des Verfalls stilisiert, in genauer Umkehrung als die eigentlich reformatorische Phase der deutschen Kirche wie Gesellschaft wie Nation. Das Spätmittelalter erscheint als eine geistige, kulturelle, soziale und politische Blütezeit. Um so ungeheuerlicher mußte erscheinen, worauf Janssen sie zurückführte, nämlich auf „die noch alle Gemüther beherrschende Lehre der 1

Hartmut Lehmann, „Er ist wir selber: der ewige Deutsche“. Zur langanhaltenden Wirkung der Lutherdeutung von Heinrich von Treitschke, in: Gerd Krumeich/Hartmut Lehmann (Hrsg.), „Gott mit uns“. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 162.) Göttingen 2000, 91–103. Dort auch die Belege für Treitschkes Luther-Rede: 102, 92, 95 f., 93. 2 Heiko A. Oberman, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel. Berlin 1982, 17–21. 3 Johannes Janssen, Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters. Bd. 1: Deutschlands allgemeine Zustände beim Ausgang des Mittelalters. 15., stark vermehrte Aufl. Freiburg 1890, Bd. 2: Vom Beginn der politisch-kirchlichen Revolution bis zum Ausgang der socialen Revolution von 1525. 15., verbesserte Aufl. Freiburg 1889, Bd. 3: Die politisch-kirchliche Revolution der Fürsten und der Städte und ihre Folgen für Volk und Reich bis zum sogenannten Augsburger Religionsfrieden von 1555. 15., vermehrte Aufl. Freiburg 1891, Bd. 4: Die politisch-kirchliche Revolution seit dem sogenannten Augsburger Religionsfrieden vom Jahre 1555 bis zur Verkündigung der Concordienformel im Jahre 1580 und ihre Bekämpfung während dieses Zeitraumes. 13., verbesserte Aufl. Freiburg 1890, Bd. 5: Die politisch-kirchliche Revolution und ihre Bekämpfung seit der Verkündigung der Concordienformel im Jahre 1580 bis zum Beginne des dreißigjährigen Krieges im Jahre 1618. 1. bis 12. Aufl. Freiburg 1886, Bd. 6: Kunst und Volksliteratur bis zum Beginn des dreißigjährigen Krieges. 1. bis 12. Aufl. Freiburg 1888. (Weitere Bde. ergänzt und hrsg. durch Ludwig Pastor).

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Kirche von der Verdienstlichkeit der guten Werke für das ewige Leben“.4 Der gesamte Komplex von Frömmigkeit, Wissenschaft, Nationalleben, Kunst und Sozialfürsorge wurde eingebunden in die katholische Rechtfertigungslehre, was den Protestantismus als Abirrung von der ideellen Schubkraft wahrer Humanität scharf abgrenzte. Diese Theorie war ein gewaltiger und aktualistischer Angang des weltanschaulichen Gegners: Die Blütezeit des späten 15. Jahrhunderts beruhte auf einem Theologoumenon, welches die lutherische Reformation gezielt zerstört hatte. Bei Janssen wurde die Reformation zum Fanal des Verfalls in jeder Beziehung, zur einleitenden Periode geistigen Abbruchs und Substanzverlustes, kultureller und sittlicher Verwilderung, politischer Fürstenegozentrik und sozialer Verelendung. In seinen Briefen spricht Janssen von der „Spitzbubengalerie des 16. Jahrhunderts“ und von den „Wut-, Sauf- und Fluchgesellen“5 im protestantischen Lager, und Bismarck erschien als direkter Nachfahre dieser Reformationsfürsten.6 Ich kann hier nur andeuten, in welchem Maß die jüngere Spätmittelalterund Reformationsforschung diese in allem Bewertungsstreit doch einmütige Haltung, die Reformation als Zäsur und als Beginn der Neuzeit zu betrachten, aufgelöst hat. Dabei spielt es praktisch kaum eine Rolle, ob man mit Berndt Hamm die Tendenzen zur „normativen Zentrierung“ von Religion und Gesellschaft zur Frömmigkeitstheologie analysiert und dennoch das „Systemsprengende“ bzw. den „Systembruch“ der Reformation festhält7, ob man mit Bernhard Jussen und Craig Koslofsky nach der Auflösung und Neukonstituierung von Sinnformationen fragt, welche „das Ineinander von religiösen und moralischen Vorstellungen und sozialer Ordnung“ repetieren

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Janssen, Geschichte des deutschen Volkes (wie Anm. 3), Bd. 1, 8; vgl. Andreas Holzem, Weltversuchung und Heilsgewißheit. Kirchengeschichte im Katholizismus des 19. Jahrhunderts. (Münsteraner Theologische Abhandlungen, Bd. 35.) Altenberge 1995, 180–190, hier: 184 f. 5 Janssen an Onno Klopp, 16. 1. 1882; Janssen an Alexander Baumgartner S. J., 6. 3. 1882; in: Ludwig Freiherr von Pastor (Hrsg.), Johannes Janssens Briefe. Bd. 1: 1847–1873. Bd. 2: 1874–1891. Freiburg 1920, hier: Bd. 2, 127, 130. 6 Holzem, Weltversuchung und Heilsgewißheit (wie Anm. 4), 180–187. 7 Vgl. Berndt Hamm, Reformation als normative Zentrierung von Religion und Gesellschaft, in: Jb. für Biblische Theologie 7, 1992, 241–279; ders., Von der spätmittelalterlichen reformatio zur Reformation. Der Prozeß normativer Zentrierung von Religion und Gesellschaft in Deutschland, in: ARG 84, 1993, 7–82; ders., Bürgertum und Glaube. Konturen der städtischen Reformation. Göttingen 1996, 73–76 und passim (Lit.); ders., Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert. Beobachtungen zu Religiosität, Theologie und Ikonologie, in: ZHF 26, 1999, 163–202; ders., Was ist Frömmigkeitstheologie? Überlegungen zum 14. bis 16. Jahrhundert, in: Hans-Jörg Nieden/Marcel Nieden (Hrsg.), Praxis Pietatis. Beiträge zu Theologie und Frömmigkeit in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Wolfgang Sommer. Stuttgart 1999, 9–45. Aber von Seiten der Reformationsforschung wird hier keineswegs einheitlich argumentiert; vgl. Berndt Hamm/Bernd Moeller/Dorothea Wendebourg, Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation. Göttingen 1995.

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und bestätigen8, oder wie Thomas Lentes die produktive Kraft der spätmittelalterlichen Frömmigkeitstransformation besonders betont, die dazu führte, „dass die Positionen, die im späten Mittelalter nebeneinander standen und durchaus fruchtbar aufeinander einwirkten, sich im Laufe des 16. Jahrhunderts von einander trennten“9 – überall werden die Theologie und die religiöse Kultur der Reformation zum Ergebnis spätmittelalterlicher Formierungsprozesse. Die entscheidende Gemeinsamkeit der Argumentation läßt sich zusammenfassen in der Einsicht, daß die diskursive und praktische Pluralität der spätmittelalterlichen Theologie und Religiosität ihren Spannungsreichtum in miteinander konkurrierende religiöse Gemeinschaften hinein entlud, welche theologisch wie institutionell in sehr unterschiedlichem Ausmaß an die divergierenden Kontinuitätslinien zum Mittelalter anknüpften, um sie in Abgrenzung und Anverwandlung als reformierend, d. h. die unverfälschte Urkirche wiederherstellend zu begreifen, zu proklamieren und zu verteidigen. Eine so perspektivierte Geschichte der Reformation – samt allen ihren sozial- und politikgeschichtlichen Implikaten – muß den Zäsurcharakter der Jahre 1500/1517 erheblich relativieren. Darum ist es für unseren Fragezusammenhang müßig, die teils heftigen internen Debatten dieser Forschungsansätze mit abzubilden.10 Entscheidend ist, daß sie alle aus der Perspektive einer Religiositäts- und Kulturgeschichte des Spätmittelalters heraus die Epochenzäsur um 1500 in Frage stellen: Berndt Hamm: „Von der Passionstheologie eines Johann von Staupitz führt die Linie unmittelbar weiter zur Kreuzestheologie Luthers.“11 Bernhard Jussen deutet die Reformation als „das konfliktträchtige gesellschaftliche Aushandeln neuer begrifflicher Standardisierungen“ und als einen Prozeß, in dem „eine immer schon an den Rändern präsente [religiöse und gesellschaftlich-kulturelle, A. H.] Argumentationsfigur als dominante Formel durchgesetzt wurde. Auf diese Weise findet auch die große Offenheit für die reformatorischen Lehren und die allgemeine Verunsicherung, die Angst und der Hunger nach Sicherheit eine plausible Erklärung: [… nämlich] dass über viele Generationen keine dominante Formel für die Formulierung morali-

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Bernhard Jussen/Craig Koslofsky, „Kulturelle Reformation“ und der Blick auf die Sinnformationen, in: dies. (Hrsg.), Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400–1600. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 145.) Göttingen 1998, 13–27. 9 Vgl. Thomas Lentes, „Andacht“ und „Gebärde“. Das religiöse Ausdrucksverhalten, in: Jussen/Koslofsky (Hrsg.), Kulturelle Reformation (wie Anm. 8), 29–67, hier 65. Vgl. weiter Arnold Angenendt/Thomas Braucks/Rolf Busch/Thomas Lentes/Hubertus Lutterbach, Gezählte Frömmigkeit, in: FMSt 29, 1995, 1–70. 10 Vgl. Berndt Hamm, Wie innovativ war die Reformation?, in: Andreas Holzem (Hrsg.), Normieren – Tradieren – Inszenieren. Das Christentum als Buchreligion. Darmstadt 2004, 141–155. 11 Hamm, Normative Zentrierung (wie Anm. 7), 200.

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scher und religiöser Ordnung zu erkennen war.“12 Thomas Lentes schließlich verweist darauf, daß der vermeintliche reformatorische „Durchbruch“ in der „Eigendynamik und Innovation der spätmittelalterlichen Frömmigkeit begründet“ sei und „die produktive Kraft der Interiorisierungs- und Rationalisierungsprozesse der spätmittelalterlichen Frömmigkeit“ zur konsequenteren Um- und Neugestaltung des religiösen Selbst nutze – mit entsprechenden Konsequenzen für die theologische Durchdringung und Ausformulierung wie für die liturgische Praxis und die Einbindung der Religion in die politischen, sozialen und kulturellen Sphären der Gesellschaft. „Insofern bricht die reformatorische Bewegung nicht mit den spezifischen Koordinaten der spätmittelalterlichen Frömmigkeit; vielmehr zieht sie einlinig jenen Strang aus, der das Innere zunehmend vom äußeren Verhalten löst und den inneren Menschen fern seines äußeren Ausdrucksverhaltens zum eigentlichen Träger des religiösen Subjektes – wenn nicht des Menschseins überhaupt – erklärt.“13 Allen Modellen ist – bei aller Kontroverse im einzelnen – die Einsicht gemeinsam, daß die reformatorische Theologie nur deshalb gruppenbildend wirksam werden konnte, weil sie den religiösen Verinnerlichungsprozeß des Spätmittelalters voraussetzen konnte. „Wenn dies alles zutrifft, dann wäre die Reformation zu allererst als ein Produkt zu begreifen, das am Ende des beschriebenen Transformationsprozesses des religiösen Ausdrucksverhaltens steht und in diesem auch zutiefst gründet.“ Erst in den Legitimitäts- und Rechtsdiskursen, die diese Entwicklung begleiten und begründen sollten, d. h. in der Erfahrungsgeschichte und in der Geschichte der religiös-sozialen Selbstpositionierung der entstehenden Konfessionsgruppen, entstanden jene Vorstellungen, welche bis in die Nationalgeschichtschreibung hinein 1500 als Epochenzäsur und die Reformation als Beginn der (Frühen) Neuzeit erscheinen ließen. Deren Dekonstruktion faßte Heinz Schilling in die provozierende Frage: „Ist damit … die Reformation abhanden gekommen, zerrieben zwischen vorreformatorischer ‚gestalteter Verdichtung‘ des späten Mittelalters einerseits und nachreformatorischem ‚eigentlichen‘ Formierungsund Modernisierungsschub im konfessionellen Zeitalter andererseits?“14 12

Jussen/Koslofsky (Hrsg.), „Kulturelle Reformation“ (wie Anm. 8), 26. Vgl. Lentes, „Andacht“ und „Gebärde“ (wie Anm. 9), 65; das folgende Zitat ebd. Vgl. weiter Angenendt/Braucks/Busch/Lentes/Lutterbach, Gezählte Frömmigkeit (wie Anm. 9), 66. Vgl. auch Thomas Lentes, Auf der Suche nach dem Ort des Gedächtnisses. Thesen zur Umwertung der symbolischen Formen in Abendmahlslehre, Bildtheorie und Bildandacht des 14.–16. Jahrhunderts, in: Klaus Krüger/Alessandro Nova (Hrsg.), Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit. Mainz 2000, 21–46. 14 Heinz Schilling, Reformation – Umbruch oder Gipfelpunkt eines Temps des Réformes?, in: Bernd Moeller (Hrsg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch. (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, Bd. 199.) Gütersloh 1998, 13–34, hier: 14. 13

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Die Einsicht freilich, daß die Reformation und ihre Wirkungsgeschichte allein die Epoche „Frühe Neuzeit“ nicht sinnvoll zu konstituieren vermag, wird in konfessionell getönten Deutungen mit starken optionalen Setzungen zu verleugnen versucht. Auf evangelischer Seite hat Gottfried Seebaß jüngst die oben genannten Forschungsentwicklungen zugleich zugestanden und kassiert15, um – auf der Basis von systematischen, nicht historischen Überlegungen, die einerseits auf die klassisch lutherischen sola-Formulierungen16 und andererseits auf entfernter Max-Weber-Rezeption beruhen – den Epochencharakter der Reformation auch über Deutschland hinaus mindestens europaweit zu retten. Dabei ist längst deutlich, daß diese sola-Formulierungen spätmittelalterliches Religiositätsgut darstellen, welches Luther aufnimmt, nicht (er)findet17, daß die soziale Verfaßtheit der bürgerlichen Stadtreformation auf den Entwicklungsprozessen der spätmittelalterlichen Kommunalität aufruht18 und daß die klassische Max-Weber-These nur sehr bedingt hilfreich ist, um die Entstehung der bürgerlich-kapitalistischen westlichen Moderne zu verstehen, ja daß diese These vielmehr ein Spiegel bestimmter kulturprotestantischer Strömungen um 1900 war.19 Auf katholischer Seite will, nun freilich in negativer Wendung, Walter Ziegler festgehalten wissen, daß die Reformation als Epochenschnitt die Einheit der mittelalterlichen ecclesia

15 Gottfried Seebaß, Geschichte des Christentums III: Spätmittelalter – Reformation – Konfessionalisierung. (Theologische Wissenschaft, Bd. 7.) Stuttgart 2006, 17–21. 16 Sola scriptura, solus Christus, sola gratia, sola fide. 17 Vgl. z. B. Klaus Schreiner, „Die wahrheit wirt uns menschen verkündt durch Gottes Wort mündlich und schriftlich.“ Debatten über das geschriebene und ungeschriebene Wort Gottes in volkssprachlichen deutschen Theologien der Frühen Neuzeit, in: Holzem (Hrsg.), Normieren – Tradieren – Inszenieren (wie Anm. 10), 177–223; Hamm, Normative Zentrierung (wie Anm. 7), 200. Vgl. zur Spätmittelalter- und Reformationsrezeption im 19. und 20. Jahrhundert auch Thomas Lentes, Die Deutung des Scheins. Das symbolische Verhalten im Spätmittelalterbild (1830–1945), in: Berndt Hamm/Thomas Lentes (Hrsg.), Spätmittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis. Tübingen 2001, 1– 23. 18 Vgl. z. B. Hamm, Bürgertum und Glaube (wie Anm. 7), 15–140; Klaus Schreiner, Laienfrömmigkeit – Frömmigkeit von Eliten oder Frömmigkeit des Volkes? Zur sozialen Verfaßtheit laikaler Frömmigkeitspraxis im späten Mittelalter, in: ders. (Hrsg.), Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. Formen, Funktionen, politisch-soziale Zusammenhänge. (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, Bd. 20.) München 1992, 1–78. 19 Vgl. Joachim Radkau, Max Weber – die Leidenschaft des Denkens. München 2005; Gert Albert (Hrsg.), Das Weber-Paradigma. Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm. Tübingen 2005; Wolfgang Schluchter/Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.), Asketischer Protestantismus und der ‚Geist‘ des modernen Kapitalismus: Max Weber und Ernst Troeltsch. Tübingen 2005; Wolfgang Schluchter, Handlung, Ordnung und Kultur. Studien zu einem Forschungsprogramm im Anschluss an Max Weber. Tübingen 2005; Guenther Roth, Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von Max Webers „Protestantischer Ethik“, in: Bertram Schefold (Hrsg.), Max Weber und seine „Protestantische Ethik“. Vademecum zu einem Klassiker der Geschichte der ökonomischen Rationalität. Düsseldorf 1992, 43–68.

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universalis gezielt „zerstört“ habe.20 Die in der Konfessionalisierungsforschung weithin behauptete strukturelle Parallelität der frühneuzeitlichen Konfessionskirchen mit ihren Zentren in Rom, Wittenberg und Genf lasse das strikt unterschiedliche Verhältnis, das diese Christentümer zur mittelalterlichen Tradition einnähmen, in einem unterschiedslos Neuen aufgehen; denn „die Frage nach der Wahrheit der Religion“, für die Zeitgenossen des 16. Jahrhunderts so offenkundig zentral, verschwinde hinter einem dem Strukturalismus und der sogenannten ‚zweiten Aufklärung‘ verpflichteten Relativismus, der sich nur noch für die „Ausprägung von Gesellschaft, Staat, Kultur und Brauchtum durch eine beliebige der Konfessionen“21 interessiere. Ziegler postuliert, aufgrund der dogmatischen Wahrheitsfrage „einen Hauptstamm und Abzweigungen davon“22 in der abendländischen Christentumsgeschichte unterscheiden zu können, muß im Rahmen dieser historischen Kontinuitätsbehauptungen aber alle jene Impulse spätmittelalterlicher Religiosität, Gesellschaft und politischen Kultur unberücksichtigt lassen, die nicht in den tridentinischen Reformkatholizismus der Frühen Neuzeit einflossen, sondern in den europäischen Protestantismen ihre Wirkungsgeschichte fanden. Man wird mit Ziegler nicht bestreiten wollen, daß die antagonistische Beantwortung der Wahrheitsfrage das 16. und 17., ja noch das frühe 18. Jahrhundert zutiefst prägten, daß der Mittelalter-Bezug in der katholischen Konfessionalisierung ein weitgehend positiver, in den protestantischen Denominationen hingegen ein weitgehend negativer war. Aber es bleibt eben auch zu berücksichtigen, daß der Identitätsausgriff auf die Urkirche und das Christentum der Antike allen Konfessionen gemeinsam war und damit keine von ihnen in ihren identitätskonkreten Ursprungsvorstellungen den Gedanken zulassen konnte, etwas mit dem 16. Jahrhundert beginnendes „Neues“ zu sein. Alles das kann im Grunde nur für eine verstärkte Berücksichtigung von Theologie-, Religiositäts- und kirchlicher Institutionengeschichte im bleibend wichtigen sozial-, mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Rahmen der Konfessionalisierungsthese sprechen – der Ab20 Walter Ziegler, Kritisches zur Konfessionalisierungsthese, in: Peer Frieß/Rolf Kießling (Hrsg.), Konfessionalisierung und Region. (Forum Suevicum, Bd. 3.) Konstanz 1999, 41–53, hier 46. Diese Kritik wurde auch in früheren Publikationen weitgehend unverändert vorgetragen, vgl. ders., Typen der Konfessionalisierung in katholischen Territorien Deutschlands, in: Wolfgang Reinhard/Heinz Schilling (Hrsg.), Die katholische Konfessionalisierung. (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, Bd. 135.) Münster 1995 (zugleich: Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, Bd. 198. Gütersloh 1995), 405–418; ders., Altgläubige Territorien im Konfessionalisierungsprozeß, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650. Bd. 7: Bilanz – Forschungsperspektiven – Register. (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, Bd. 57.) Münster 1997, 67–90. 21 Ziegler, Kritisches zur Konfessionalisierungsthese (wie Anm. 20), 42 f. 22 Ebd. 42.

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gleich von Unterschieden wird dabei an Gewicht gewinnen. Denn die von Ziegler faktisch vollzogene, von Dieter J. Weiss jüngst mit identischen Begründungen nachgespurte Rückkehr zu Konzeptionen Hubert Jedins (‚Katholische Reform und Gegenreformation‘)23 übersieht deren konzeptionelle Schwächen und muß jene Kritik erneut auf sich ziehen, die seit den 1960er Jahren zu Recht daran geübt worden ist. Auf evangelischer wie katholischer Seite wird also der epochale Charakter der Reformation – verbunden mit starken Wertungen – genau dort aufrecht zu erhalten versucht, wo historische Konstruktionen erneut stark in die identitätskonkrete Memoria von Gruppen eingebunden werden sollen. Die Differenzierungsgewinne der jüngeren Forschungsgeschichte bleiben demgegenüber ganz unterbestimmt. Wenn also die Frühe Neuzeit aus einer christentumsgeschichtlichen Perspektive als um 1500 einsetzende Epoche weiter Sinn machen soll, muß sich ihr diesbezüglicher, vom Mittelalter unterscheidbarer Charakter bestimmen lassen, ohne auf die Schemata antagonistisch gefaßter Konfessionshistorien um 1900 zurückgreifen zu müssen (vgl. IV.).24

II. 1648 – Typologieprobleme der katholischen Konfessionalisierung Für die Nachreformationszeit haben sich in der westdeutschen Kirchen- und Religionsgeschichte in den vergangenen zwei bis drei Forschungsgenerationen im wesentlichen drei Konzepte abgelöst: Für die katholischen Gebiete des Alten Reiches hatte sich lange Zeit die Unterscheidung Hubert Jedins zwischen „Gegenreformation“ als antiprotestantischer Rekatholisierung mittels staatlichen Zwangs und „Katholischer Reform“ als Überzeugungsarbeit innerhalb der eigenen Konfession durchgesetzt.25 Schon Ernst Walter Zeeden jedoch erkannte die Problematik des Begriffes „Gegenreformation“ 23

Vgl. Dieter J. Weiss, Katholische Reform und Gegenreformation. Ein Überblick. Darmstadt 2005, 9–17. 24 Vgl. für den katholischen Bereich Andreas Holzem, Die Geschichte des „geglaubten Gottes“. Kirchengeschichte zwischen „Memoria“ und „Historie“, in: Andreas Leinhäupl-Wilke/Magnus Striet (Hrsg.), Katholische Theologie studieren: Themenfelder und Disziplinen. (Münsteraner Einführungen: Theologie, Bd. 1.) Münster/Hamburg/London 2000, 73–103; ders., Weltversuchung und Heilsgewißheit (wie Anm. 4), 140–194. Für die Protestantismen die forschungsgeschichtlichen Bemerkungen bei Oberman, Luther (wie Anm. 2); Moeller (Hrsg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch (wie Anm. 14); Hermann Fischer, Protestantische Theologie im 20. Jahrhundert. Stuttgart 2002, 9–109; Thomas Kaufmann/Harry Oelke, Evangelische Kirchenhistoriker im „Dritten Reich“. (Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, Bd. 21.) Gütersloh 2002. 25 Hubert Jedin, Katholische Reformation oder Gegenreformation? Ein Versuch zur Klärung der Begriffe. Luzern (1946), Ndr. in: Ernst Walter Zeeden (Hrsg.), Gegenreformation. (Wege der Forschung, Bd. 311.) Darmstadt 1973, 46–81.

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als Epochensignatur. Sein Begriff „Konfessionsbildung“ hielt dagegen die grundlegende Einsicht fest, daß die Bildung der Konfessionen nicht nur zeitlich, sondern auch strukturell ein weitgehend paralleler Vorgang war.26 Die Ausgestaltung der bekenntnisgebundenen Lehrgebäude wurde begleitet von Impulsen zu einer umfassenden Verchristlichung des kirchlichen, aber auch des gesellschaftlichen Lebens. Das von Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling zunächst nach Konfessionen getrennt entwickelte, nun aber in seiner relativen Gleichläufigkeit zusammengeführte Konzept der „Konfessionalisierung“ betont zusätzlich, daß die neue konfessionelle Konkurrenz tiefgreifende Folgewirkungen auch für die sozialen und politischen Institutionen hatte.27 Der Konfessionalisierungsprozeß erfaßte nicht nur die getrennten Kirchen, sondern auch die Staaten und Gesellschaften, in denen sie sich einhausten. Eine einlinige Vorstellung, der zufolge die Konfessionalisierung gleichsam automatisch die Staatsbildung und die Modernisierung der Gesellschaft gefördert habe, wird heute vielfach differenziert und auch von den Nestoren des Konzepts erheblich umakzentuiert.28 Aber daß Fürstenterrito26

Ernst Walter Zeeden, Die Entstehung der Konfessionen. Grundlagen und Wege der Konfessionsbildung im Zeitalter der Glaubenskämpfe. München 1965; ders., Das Zeitalter der Gegenreformation. Freiburg/Basel/Wien 1967; ders., Grundlagen und Wege der Konfessionsbildung in Deutschland im Zeitalter der Glaubenskämpfe, in: ders. (Hrsg.), Gegenreformation (wie Anm. 25), 85–134; ders., Konfessionsbildung. Studien zur Reformation, Gegenreformation und katholischen Reform. (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit. Tübinger Beiträge zur Geschichtsforschung, Bd. 15.) Stuttgart 1985. 27 Zum Begriff: Wolfgang Reinhard, Gegenreformation als Modernisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in: ARG 68, 1977, 226–252; ders., Zwang zur Konfessionalisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in: ZHF 10, 1983, 257–277; ders., Reformation, Counter-Reformation, and the Early Modern State. A Reassessment, in: The Catholic Historical Review 75, 1989, 383– 404; ders., Die lateinische Variante von Religion und ihre Bedeutung für die politische Kultur Europas, in: Saeculum 43, 1992, 231–255, hier: 248–253; ders., Was ist katholische Konfessionalisierung?, in: Reinhard/Schilling (Hrsg.), Die katholische Konfessionalisierung (wie Anm. 20), 419–452; Heinz Schilling, Die Konfessionalisierung im Reich. Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620, in: HZ 246, 1988, 1–45; ders., Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft – Profil, Leistung, Defizite und Perspektiven eines geschichtswissenschaftlichen Paradigmas, in: Reinhard/Schilling (Hrsg.), Die katholische Konfessionalisierung (wie Anm. 20), 1–49; Heinrich Richard Schmidt, Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 12.) München 1992. – Zur interkonfessionellen Erprobung: Heinz Schilling (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte. (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, Bd. 195.) Gütersloh 1986; Hans Christoph Rublack (Hrsg.), Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte. (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, Bd. 197.) Gütersloh 1992; Reinhard/ Schilling (Hrsg.), Die katholische Konfessionalisierung (wie Anm. 20). 28 Vgl. z. B. Heinz Schilling, Die Konfessionalisierung des lateinischen Christentums und das Werden des frühmodernen Europa – Modernisierung durch Differenzierung, Integration und Abgrenzung, in: Richard Schröder/Johannes Zachhuber (Hrsg.), Was hat

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rien, geistliche Herrschaften und Reichsstädte in der konfessionellen Gemengelage des Alten Reiches und im Prozeß der Ausbildung der europäischen Großkonfessionen ihrerseits tiefgreifendem Wandel unterlagen, ist zu einer Grundeinsicht der Forschung geworden, selbst dort, wo das Konfessionalisierungskonzept als solches, teils freilich nicht ohne Verkürzungen, substanziell in Frage gestellt wurde.29 Die Validität des Konzeptes für die gesamteuropäische Religionskultur und Staatenbildung ist ein eigenes Thema, das vor allem im Umfeld des Jubiläums des Westfälischen Friedens diskutiert wurde.30 Gleichzeitig aber taugt der Konfessionalisierungsbegriff beim derzeitigen Diskussionsstand kaum durchgehend, um die Frühe Neuzeit religionsgeschichtlich als Epoche zu charakterisieren.31 Das erste Problem liegt darin, wie Religion, Politik und Gesellschaft bzw. Kultur zueinander ins Verhältnis uns das Christentum gebracht? Versuch einer Bilanz nach zwei Jahrtausenden. (Religion – Staat – Kultur, Bd. 2.) Münster/Hamburg/London 2003, 97–115, hier 112–115. Er beschreibt hier die Folgen der Konfessionalisierung als Differenzierung, welche Integration und Separation und darin Partikularisierung und Autonomisierung beförderte; am Modernisierungs- und Staatsbildungspotential dieser Prozesse wird hier freilich entschieden festgehalten. 29 Wichtige Teilproblematisierungen bei Heinrich Richard Schmidt, Sozialdisziplinierung? Ein Plädoyer für das Ende des Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung, in: HZ 265, 1997, 639–682; Thomas Kaufmann, Die Konfessionalisierung von Kirche und Gesellschaft. Sammelbericht über eine Forschungsdebatte, in: Theologische Literaturzeitung 121, 1996, 1008–1025 und 1112–1121; Anton Schindling, Konfessionalisierung und Grenzen der Konfessionalisierbarkeit, in: Schindling/Ziegler (Hrsg.), Die Territorien (wie Anm. 20), 9–44; Helga Schnabel-Schüle, Vierzig Jahre Konfessionalisierungsforschung – eine Standortbestimmung, in: Frieß/Kießling (Hrsg.), Konfessionalisierung und Region (wie Anm. 20), 23–40; Rudolf Schlögl, Differenzierung und Integration: Konfessionalisierung im frühneuzeitlichen Gesellschaftssystem. Das Beispiel der habsburgischen Vorlande, in: ARG 91, 2000, 238–284; Frauke Volkland, Konfession und Selbstverständnis. Reformierte Rituale in der gemischkonfessionellen Kleinstadt Bischofszell im 17. Jahrhundert. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 210.) Göttingen 2005, 9–30. Zur über- wie teils auch verzeichnenden Fundamentalkritik bei Ziegler, Kritisches zur Konfessionalisierungsthese (wie Anm. 20). 30 Schindling/Ziegler (Hrsg.), Die Territorien (wie Anm. 20), 7 Bde. (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, Bd. 49–53, 56–57.) Münster 1989– 1997; Johannes Burkhardt, Die entgipfelte Pyramide. Kriegsziel und Friedenskompromiß der europäischen Universalmächte, in: Klaus Bußmann/Heinz Schilling (Hrsg.), 1648. Krieg und Frieden in Europa. Textband I: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft (Ausstellungskatalog). München 1998, 51–60; Heinz Schilling, Krieg und Frieden in der werdenden Neuzeit – Europa zwischen Staatenbellizität, Glaubenskrieg und Friedensbereitschaft, in: ebd. 13–22; Heinz Duchhardt, Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte. (HZ, Beihefte, NF., Bd. 26.) München 1998. 31 Vgl. als Versuch einer die bisherigen Probleme und Weiterentwicklungen aufgreifenden konzeptionellen Neuausrichtung Andreas Holzem, Die Konfessionsgesellschaft. Christenleben zwischen staatlichem Bekenntniszwang und religiöser Heilshoffnung, in: ZKiG 110, 1999, 53–85.

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gesetzt werden. Michael Prinz formulierte noch Anfang der neunziger Jahre, die Konfessionalisierung rücke „von einem Nebenschauplatz des Rationalisierungs-, Disziplinierungs- und Zivilisationsprozesses gleichsam in die Mitte jenes Weges, der zur ‚Entstehung des modernen Menschen‘ […] führte“, indem ‚Konfessionalisierung‘, ‚Staatsbildung‘ und ‚Modernisierung‘ als „Bestandteile eines einzigen Diskurses“, gleichsam als „verschiedene Aspekte derselben Sache“ erschienen.32 Das hat sich geändert; mehr und mehr ist die Religion der Frühen Neuzeit nur noch im Kontext der Staats- und Nationsbildungsprozesse Europas von Interesse. Das 1648-Jubiläum hat zu dieser Perspektivverschiebung erheblich beigetragen. Immer weniger gilt der Faktor „Religion“, näherhin der Christentumsfaktor „Konfession“, als das spezifisch Unterscheidende. Aus dem Religionskrieg wird ein Staatenkrieg des sich formierenden nationalen Mächteeuropa; Friedensverhandlungen und Friedensschluß eliminierten den Wahrheitsanspruch konfessioneller Christentümer aus dem Bereich des Politischen (wenn auch im Prozeß der Konfessionalisierung nicht aus der Gesellschaft). Der Religions- und Konfessionskrieg und die Moderne – das gilt implizit als unvereinbar und mit 1648 überwunden: ein epochaler Durchbruch auf dem Weg zur Modernisierung Europas. An dieser Stelle müssen zwei Beispiele für diese Denkform als Hinweis hinreichen33: Johannes Burkhardt begründet seine Theorie über die Friedlosigkeit Europas in der Frühen Neuzeit nicht von der Religion, sondern von der „Herausbildung der modernen Staaten“ und von ihren „Konstituierungsproblemen“ her.34 Das Christentum erscheint erst dort relevant, wo es zum Stützmittel einer noch unfertigen Staatlichkeit erklärt wird: „Die frühmodernen Konfessionsstaaten nahmen die Religion für den Staatszweck in Anspruch, handelten sich damit aber auch die strukturelle Intoleranz der frühneuzeitlichen Konfessionsbildungen ein.“35 Zugespitzt: Europas Bellizität gründete nicht auf Religion; im strengen Sinne waren die Kriege des 16. und 17. Jahrhunderts keine Religions-, sondern Staatenbildungskriege, in denen Religion 32 Michael Prinz, Sozialdisziplinierung und Konfessionalisierung. Neuere Fragestellungen in der Sozialgeschichte der frühen Neuzeit, in: WestfF 42, 1992, 1–25, hier 14. 33 Ausführlich demnächst in Andreas Holzem, Gott und Gewalt. Kriegslehren des Christentums und die Typologie des „Religionskrieges“, in: Dieter Langewiesche (Hrsg.), Kriegstypologien. Tübingen 2006 (Lit.). Zur Religiositätsgeschichte des Dreißigjährigen Krieges vgl. weiter Anton Schindling, Das Strafgericht Gottes. Kriegserfahrungen und Religion im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Erfahrungsgeschichte und Konfessionalisierung, in: Matthias Asche/Anton Schindling (Hrsg.), Das Strafgericht Gottes. Kriegserfahrungen und Religion im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Münster 2001, 11–51. 34 Johannes Burkhardt, Die Friedlosigkeit der frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: ZHF 24, 1997, 509–574, hier 512. 35 Ebd. 550.

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eine zu überwindende „Pubertätslaune“, aber eben kein dauerhafter Charakterfehler des modernen Staates war. Heinz Schilling teilt diesen Ansatz im Prinzip, aber der Faktor Religion wird doch stärker gewichtet. Schilling spricht vom Zusammentreffen „zweier säkularer Prozesse“: neben den „Aufstieg des frühmodernen Staates […] auf dem Weg zum Nationalstaat des 18. und 19. Jahrhunderts“ stellt er eigenständig die „nicht weniger langfristige Veränderung um die Erneuerung von Religion und Kirche“.36 Weil beide Prozesse in ihrer extremen Konfliktträchtigkeit sich jeweils auf die Gesamtgesellschaft bezogen, wurde der Krieg „endemisch“. Die Konfessionalisierungsdynamik kann, aber muß mit der Staatsbildungsdynamik nicht konform verlaufen; sie können sich wechselseitig ebenso verstärken wie stören oder ausschließen. Dementsprechend sieht Schilling um 1600 „die Konfessionskonflikte mit den Staatsbildungsund Staatenkriegen zu […] Weltanschauungs- und Machtkriegen zusammenfl[ieß]en, unter denen der Dreißigjährige nur der ausgedehnteste und erbittertste war“.37 Neben die Theorie der Bellizität stellt er aber auch eine Theorie der Friedensfähigkeit Europas. Weil Politik und Religion auch institutionell und ämtertheoretisch zunehmend auseinandergehalten werden konnten, war es „die dualistische Verfassung der lateinischen Christenheit, die Raum und die entscheidende Legitimation für eine grundsätzliche Revision des politischen Konfessionalismus bot“. Diesen Grundzug der europäischen Zivilisation deutet Schilling als Zug zur Säkularisierung. Säkularisierung eliminiere Religion nicht aus der Gesellschaft, aber aus der Politik; und gerade diese Tendenz werde zur Legitimierung des pragmatischen Friedens als christlichem Frieden eingesetzt. Auch hier könnte man also zuspitzen: Die Friedenspotentiale Europas lagen nicht in der Religion, sondern gerade in ihrer Überwindung als politischem Faktor. Hier nun zeitigen beide Modelle die gleiche Konsequenz: Das Verhältnis von Christentum und Politik sei im Verlauf der Frühen Neuzeit in Auflösung begriffen; sei zu begreifen als ein solches der Entkoppelung. 1648 sei deshalb zäsurbildend, weil es Religion in der Gesellschaft, aber nicht mehr in den sich bildenden Staaten gebe. Konfessionalisierung wird im Prozeß der Modernisierung eine immer marginalere Größe, tauglich für Legitimationen und Ideologisierungen, aber im eigentlichen Strukturgeschehen eigentümlich bedeutungslos. Gleichzeitig aber zeigen die Studien, die den Prozeß der Konfessionalisierung von ihrem religiösen Kerngeschehen her aufrollen, mindestens für den katholischen Bereich ein Bedingungsgeflecht, in dem diese Separierungsprozesse gar nicht stattfinden durften und auch faktisch nicht stattfanden, sollte 36

Schilling, Krieg und Frieden in der werdenden Neuzeit (wie Anm. 30), 13. Das folgende Zitat ebd. 37 Ebd. 16; die folgenden Zitate und Bezüge ebd. 17, 19 f.

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„Konfessionalisierung“ denn irgend Platz greifen. Der weithin akzeptierte Zäsurcharakter des Epochenjahres 1648 ist aus christentumsgeschichtlicher Perspektive weitestgehend fiktiv.38 Schon für Hubert Jedin begannen die ineinandergreifenden Vorgänge der „katholischen Reform“ und der „Gegenreformation“ mit dem Trienter Konzil, gelangten mit dessen Ende 1563 zum „Durchbruch“ und reichten in der ortskirchlichen Umsetzung bis etwa 1655.39 Dezidiert verwahrte sich Jedin gegen eine Ausdehnung der „tridentinischen Epoche“ bis ins 19. Jahrhundert, gar bis vor die Tore des Zweiten Vatikanischen Konzils. Wohl zu Recht betonte er die durch die Aufklärung und die Französische Revolution gesetzten Zäsuren, ließ allerdings die etwa 150 Jahre zwischen der Mitte des 17. Jahrhunderts und dem Eintritt dieser Umwälzungen als eine Phase des „Verlust[es] der geistigen Führung durch die Kirche“40 eigentümlich im Unbestimmten. Die aus den Forschungen Ernst Walter Zeedens und seiner Schule hervorgegangene Konzeption der „Konfessionsbildung“ periodisierte nicht neu: Die Entstehung der Konfessionen reichte auch hier bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts; die vorrangig benutzten Visitationsakten schienen diese Grenzziehung quasi materiell zu bestätigen.41 Die Periodisierungsvor38

Alle jüngeren Regionalstudien bestreiten den epochalen Einschnitt 1648, vgl. Alexander Jendorff, Reformatio catholica. Gesellschaftliche Handlungsspielräume kirchlichen Wandels im Erzstift Mainz 1514–1630. (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, Bd. 142.) Münster 2000; Werner Freitag, Pfarrer, Kirche und ländliche Gemeinschaft. Das Dekanat Vechta 1400–1803. (Studien zur Regionalgeschichte, Bd. 11.) Bielefeld 1998; Renate Dürr, Politische Kultur in der Frühen Neuzeit. Kirchenräume in Hildesheimer Stadt- und Landgemeinden 1550–1750. (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, Bd. 77.) Gütersloh 2006; Christian Plath, Konfessionskampf und fremde Besatzung. Stadt und Hochstift Hildesheim im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges (ca. 1580–1660). (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, Bd. 147.) Münster 2005, 67–71; Schnabel-Schüle, Vierzig Jahre Konfessionalisierungsforschung (wie Anm. 29), 25. 39 Vgl. Hubert Jedin (Hrsg.), Handbuch der Kirchengeschichte. Bd. 4: Reformation, katholische Reform und Gegenreformation. Freiburg/Basel/Wien 1967, 449–683, vor allem 449 f. und 683; vgl. auch ders., Katholische Reformation oder Gegenreformation (wie Anm. 25); vgl. auch die den Weg dieser Begriffsbildung nachzeichnenden Beiträge in Zeeden (Hrsg.), Gegenreformation (wie Anm. 25). 40 Hubert Jedin (Hrsg.), Handbuch der Kirchengeschichte. Bd. 5: Die Kirche im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung. Freiburg/Basel/Wien 1970, V. 41 Vgl. Zeeden, Grundlagen und Wege der Konfessionsbildung (wie Anm. 26), vor allem 88 f. (Definition und zeitlicher Ansatz); ders., Die Entstehung der Konfessionen (wie Anm. 26); ders., Das Zeitalter der Glaubenskämpfe: 1555–1648. München 1980; Ernst Walter Zeeden/Hansgeorg Molitor (Hrsg.), Die Visitation im Dienst der kirchlichen Reform. (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, Bd. 25/26.) 2. Aufl. Münster 1977; Ernst Walter Zeeden/Peter Thaddäus Lang (Hrsg.), Kirche und Visitation. Beiträge zur Erforschung des frühneuzeitlichen Visitationswesens in Europa. (Spätmittelalter und frühe Neuzeit, Bd. 14.) Stuttgart 1984; ders., Konfessionsbildung (wie Anm. 26), für diesen Zusammenhang vor allem 60–66. Weitere territoriale Beispielarbeiten aus der Zeedenschule bei Reinhard, Gegenreformation als Modernisierung? (wie Anm. 27), 232.

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gaben wurden so prägend, daß Alois Hahns wichtige Untersuchung über den Trierer Pfarrklerus sich ebenfalls weitgehend auf die ersten einhundert Jahre nach Trient beschränkte, allerdings erstmals konstatierte, daß innerhalb dieses Zeitraumes Konfessionsbildung auf dem Lande weitgehend ein Fehlschlag war.42 Auch die unter dem Leitkonzept „Konfessionalisierung“ erarbeiteten Studien nehmen die Mitte des 17. Jahrhunderts als mehr oder minder fixe Epochenschwelle.43 Heinz Schilling betrachtet die 1570er/1580er Jahre als „Kernzeit“ der Konfessionalisierung; das späte 16. Jahrhundert erscheint als „Vorsattelzeit der Moderne“; mit Berndt Hamm nimmt Schilling eine „sich steigernde normative Zentrierung vom 15. bis zum 17. Jahrhundert“ an, ein Ansatz, der die spätmittelalterlichen Reformimpulse einbezieht, ohne den „Systembruch“ der Reformation einzuebnen.44 Würde man einen solchen zeitlichen Ansatz übernehmen, müßte man für zahlreiche geistliche Territorien auf der Ebene der in Kirche und Politik dominierenden Eliten von einem über weite Strecken und für die Ebene der Pfarreien und damit die Masse der frühneuzeitlichen Christenmenschen von einer gänzlich gescheiterten Konfessionalisierung sprechen und gleichzeitig alle zeitlich späteren Wandlungsprozesse übergehen, in denen programmatisch formulierte Ziele der Konfessionalisierung gestuft und gruppenspezifisch umgesetzt wurden. Beides führte in die Irre, und so wird hier von den Quellen her ein neues Periodisierungsschema für die breite Masse der katholischen Bevölkerung vorgeschlagen. Bereits Wolfgang Brückner nahm bei der „Einkreisung des Barockfrommen“45 wahr, daß „katholische Reform“ vor Ort, in den Pfarreien, oft erst zwischen 1600 und 1630 zu greifen begonnen habe, durch den Dreißigjährigen Krieg vielfach wieder an den Anfangspunkt zurückgeworfen worden sei und Ausläufer bis tief ins 18. Jahrhundert aufweise. 42

Alois Hahn, Die Rezeption des tridentinischen Pfarrerideals im westtrierischen Pfarrklerus des 16. und 17. Jahrhunderts. Untersuchungen zur Geschichte der katholischen Reform im Erzbistum Trier. (Publications de la Section Historique de l’Institut G.-D. de Luxembourg, Vol. 90.) Luxemburg 1974, 383–391. 43 Schindling/Ziegler (Hrsg.), Die Territorien (wie Anm. 20), 3; Schmidt, Konfessionalisierung (wie Anm. 27), 24–44. 44 Schilling, Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft (wie Anm. 27), 31–33. Vgl. Hamm, Reformation als normative Zentrierung (wie Anm. 7), 251 u. 279; ders., Einheit und Vielfalt der Reformation – oder: was die Reformation zur Reformation machte, in: Hamm/Moeller/Wendebourg (Hrsg.), Reformationstheorien (wie Anm. 7), 57–127, hier: 64–85. Plausible Kritik am Begriff des „Systemsprengenden“, der das „Gemeinsame“ der Reformation konstituieren soll: Jussen/Koslofsky (Hrsg.), Kulturelle Reformation (wie Anm. 8), 13–27, und weitere Beiträge dieses Bandes. 45 Vgl. Wolfgang Brückner, Zum Wandel der religiösen Kultur im 18. Jahrhundert. Einkreisungsversuche des „Barockfrommen“ zwischen Mittelalter und Massenmissionierung, in: Ernst Hinrichs/Günter Wiegelmann (Hrsg.), Sozialer und kultureller Wandel in der ländlichen Welt des 18. Jahrhunderts. (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 19.) Wolfenbüttel 1982, 65–83, hier: 65–70.

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Gerade der Zusammenhang von Konfessionskultur und Krieg markiert die zentralen Probleme einer strukturgeschichtlichen Einordnung der Konfessionalisierung des nordwestdeutschen Raumes, aber auch zahlreicher weiterer „konfessionalisierungsverspäteter“ Reichsterritorien. Westfalen war seit dem Beginn der Reformationszeit aufgrund der unterschiedlichen frömmigkeitsgeschichtlichen und politisch-dynastischen Optionen der herrschenden Eliten in seiner teilweise sehr kleinkammerigen Territorialstruktur zu einem der zentralen Konflikträume der Glaubensauseinandersetzungen am Beginn der Frühen Neuzeit geworden. Die Reformations- und Konfessionsbildungskriege46 des 16. und 17. Jahrhunderts, insbesondere der Kölnische Krieg, der Jülisch-Klevische Erbfolgestreit, der Spanisch-Niederländische und der Dreißigjährige Krieg, hatten diese Tendenz zur agonalen Struktur der westfälischen Konfessionslandschaften zunächst angeheizt; erst nach 1648 durfte der Raum als religionspolitisch wirklich befriedet gelten; freilich setzten vor allem die französischen Expansionskriege das bellizistische Elend lange fort.47 Daher dürfte eine der Besonderheiten der westfälischen Konfessionskulturen darin liegen, daß sie den Religionskrieg und sein Ergebnis, den Westfälischen Frieden von 164848, im Grunde strukturgenetisch voraussetzen mußten. Während für Bayern und Habsburg auf katholischer, die beiden Sachsen oder Kurhessen, dann teils auch Württemberg und natürlich die böhmischen Länder auf protestantischer Seite die praktisch zum Abschluß gekommenen Konfessionsbildungen das konfessionskulturelle Klima so ver-

46 Zur Begrifflichkeit im Rahmen einer Typologie westlicher Religionskriege vgl. Franz Brendle, Um Erhalt und Ausbreitung des Evangeliums. Die Reformationskriege der deutschen Protestanten, in: ders./Anton Schindling (Hrsg.), Religionskriege im Alten Reich und in Alteuropa. Münster 2006, 69–90; Franz Brendle/Anton Schindling, Religionskriege in der Frühen Neuzeit. Begriff, Wahrnehmung, Wirkmächtigkeit, in: ebd. 15–52. 47 Vgl. Burkhardt, Die Friedlosigkeit der frühen Neuzeit (wie Anm. 34); Holzem, Gott und Gewalt (wie Anm. 33). 48 Vgl. jüngst Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg. Frankfurt am Main 1992; Bußmann/Schilling (Hrsg.), 1648. Krieg und Frieden in Europa (wie Anm. 30); Duchhardt, Der Westfälische Friede (wie Anm. 30); Horst Lademacher/Simon Groenveld (Hrsg.), Krieg und Kultur. Die Rezeption von Krieg und Frieden in der niederländischen Republik und im Deutschen Reich 1568–1648. Münster 1998, 3–19; Konrad Repgen, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Studien und Quellen. Paderborn 1998; Heinz Medick/Benigna von Krusenstjern (Hrsg.), Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe. Göttingen 1999; Asche/Schindling (Hrsg.), Das Strafgericht Gottes (wie Anm. 33); Axel Gotthard, Der deutsche Konfessionskrieg seit 1619. Ein Resultat gestörter politischer Kommunikation, in: HJb 122, 2002, 141–172; Johannes Burkhardt, Auf der Suche nach dem Dissens. Eine Bemerkung zu einer kritischen Auseinandersetzung mit meinem „Dreißigjährigen Krieg“, in: HJb 123, 2003, 357–363; Martin Heckel, Konfessionalisierung in Koexistenznöten. Zum Augsburger Religionsfrieden, Dreißigjährigen Krieg und Westfälischen Frieden in neuerer Sicht, in: HZ 280, 2005, 647–690.

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schärften, daß sie zur Voraussetzung für das Scheitern des Augsburger Religionsfriedens49 und den Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges wurden50, gehört die Geschichte des institutionellen, mentalen und kulturgeographischen Durchbruchs mindestens der katholischen Konfessionalisierung in Nordwestdeutschland in den Rahmen einer Rezeptionsgeschichte des Westfälischen Friedens. Die institutionellen Kräfte in den politischen, religiösen, spirituellen und sozialen Zentren konnten erst identitätsbildend tätig werden, als der landschaftlich mit dem Begriff ‚Westfalen‘ umrissene Nordwesten Deutschlands reichspolitisch gleichsam hatte still gestellt werden können. Das hat möglicherweise auf den Konstituierungsprozeß konfessioneller Kulturen in erheblichem Maße strukturverändernd gewirkt. Weil der unmittelbare Anlaß der Konfessionalisierung, die Konkurrenzkämpfe um das auf beiden Seiten des Grabens beanspruchte „uralte, allein wahre und selig machende“ apostolisch gegründete Christentum, beendet war, wendeten sich die durch das religiös-politische Vertragswerk geschaffenen Voraussetzungen gleichsam nach innen. In Folge einer bereits 1555 eingeleiteten Entwicklung bedeutete der Westfälische Friede eine „Politisierung, Neutralisierung und Säkularisierung des religiösen Anliegens in der Reichsverfassung“.51 Der große Krieg, Symptom der „Krise der Religionsverfassung des Reiches“52, wurde beendet durch das Einfrieren der konfessionellen Besitzstände auf die Lage des Stichtages 1. Januar 1624. Das ist gewertet worden als „das krude weltliche Ergebnis allen inbrünstigen wie brutalen Ringens um die christliche Wahrheit und Einheit in Kirche und Reich, das vor vier Generationen um Ablaß und Buße, Sakrament und Glaube, Schrift und Tradition begonnen hatte“, dieses Ergebnis und sein formaler Charakter aber bezeichnen gleichzeitig „die ganze Schwere der Rechtsnot der Zeit“.53 Die Reichs49

Vgl. Axel Gotthard, Der Augsburger Religionsfrieden. (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, Bd. 148.) Münster 2004; Carl A. Hoffmann/Markus Johanns (Hrsg.), Als Frieden möglich war. 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden. Begleitband zur Ausstellung im Maximilianmuseum Augsburg. Regensburg 2005; Winfried Schulze, Augsburg und die Entstehung der Toleranz, in: Johannes Burkhardt/Stephanie Haberer (Hrsg.), Das Friedensfest. Augsburg und die Entwicklung einer neuzeitlichen Toleranz-, Friedens- und Festkultur. (Colloquia Augustana, Bd. 13.) Berlin 2000, 43–60; ders., Pluralisierung als Bedrohung: Toleranz als Lösung. Überlegungen zur Entstehung der Toleranz in der frühen Neuzeit, in: Duchhardt (Hrsg.), Der Westfälische Friede (wie Anm. 30), 115–140; Wolfgang Wüst, Die Pax Augustana als Verfassungsmodell: Anspruch und Wirklichkeit, in: Burkhardt/Haberer (Hrsg.), Das Friedensfest (wie Anm. 49), 72–100. 50 Instruktiv: Gotthard, Der deutsche Konfessionskrieg seit 1619 (wie Anm. 48), 141– 172. 51 Martin Heckel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter. Göttingen 1983, 199. 52 Martin Heckel, Die Krise der Religionsverfassung des Reiches und die Anfänge des Dreißigjährigen Krieges, in: Konrad Repgen (Hrsg.), Krieg und Politik 1618–1648. Europäische Probleme und Perspektiven. München 1988, 107–131, vor allem 107. 53 Heckel, Deutschland (wie Anm. 51), 200.

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politik war gezwungen, Religion in weltlich-juristische Formen zu gießen, so daß „die Entkonfessionalisierung, die Entideologisierung der internationalen Beziehungen“54 die Reichsebene prägte. Auf der Ebene der Territorien aber geschah das Gegenteil: die gänzliche Durchdringung der Politik mit religiösen Gehalten. Auf der Ebene des Reiches war man gezwungen, um des Friedens willen eine Parität zuzulassen und die Trennung der Konfessionen formal wie einen unausgetragenen innerkirchlichen Lehrkonflikt zu behandeln. Kurz: Außenpolitisch maß kein europäischer und deutscher Staat dem Konfessionellen noch handlungsleitende Priorität zu; gerade dadurch aber wurde das Konfessionelle „allenthalben ein wesentliches Element der Innenpolitik“.55 Das hatte einschneidende Konsequenzen: Die Herausbildung eines Strukturgitters katholischer Konfessionskultur arbeitete sich nicht mehr am Protestantismus, sondern an der vorreformatorisch-spätmittelalterlichen Ausgangssituation religiösen Lebens und sozialer Praxis ab, wie sie als Ausgangssituation der Zeit um 1500 auf dem Land weitgehend bestehen geblieben, ja durch die Permanenz von Kriegsnot und lebensweltlicher Beeinträchtigung eher noch verschärft worden war.56 Dem durch das Täuferreich57 stark in Mitleidenschaft und sozialen wie geistigen Umbruch gezogenen Regionalzentrum Münster gelang erst sehr verspätet und unter schweren kommunalen Verwerfungen ein gleichsam abgeleiteter, aus Süddeutschland importierter Wandel des religiösen Stils und des damit verbundenen sozialen Habi54 Konrad Repgen, Über die Geschichtsschreibung des Dreißigjährigen Krieges: Begriff und Konzeption, in: ders. (Hrsg.), Krieg und Politik 1618–1648 (wie Anm. 52), 1–84, vor allem 31. 55 Konrad Repgen, Art. „Dreißigjähriger Krieg“, in: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 9. Berlin/New York 1982, 169–188, hier 170. 56 Zur Kriegserfahrung und ihrer religiösen Verarbeitung vgl. generell Johannes Burkhardt, „Ist noch ein Ort, dahin der Krieg nicht kommen sey?“ Katastrophenerfahrungen und Kriegsstrategien auf dem deutschen Kriegsschauplatz, in: Lademacher/Groenveld (Hrsg.), Krieg und Kultur (wie Anm. 48), 3–19. In Westfalen: Andreas Holzem, Der Konfessionsstaat 1555–1802. (Geschichte des Bistums Münster, Bd. 4.) Münster 1998, 171– 219; Helmut Lahrkamp, Dreißigjähriger Krieg, Westfälischer Frieden. Eine Darstellung der Jahre 1618–1648 mit 362 Bildern und Dokumenten. Münster 1997. Jüngere Fallstudien zum deutschen Südwesten Asche/Schindling (Hrsg.), Das Strafgericht Gottes (wie Anm. 33); Andreas Holzem, Religiöse Semantik und Kirchenkrise im „konfessionellen Bürgerkrieg“. Die Reichsstadt Rottweil im Dreißigjährigen Krieg, in: Horst Carl/HansHenning Kortüm/Dieter Langewiesche/Friedrich Lenger (Hrsg.), Kriegsniederlagen. Erfahrungen und Erinnerungen. Berlin 2004, 233–256; ders., Konfessionskampf und Kriegsnot. Religion und Krieg in Ravensburg 1618–1648, in: Andreas Schmauder (Hrsg.), Hahn und Kreuz. 450 Jahre Parität in Ravensburg. (Historische Stadt Ravensburg, Bd. 4.) Konstanz 2005, 41–74; ders., „…zum seufzen und wainen also bewegt worden“: Maria im Krieg – das Beispiel Rottweil, 1618–1648, in: Brendle/Schindling (Hrsg.), Religionskriege (wie Anm. 46), 191–216. 57 Vgl. jüngst Hubertus Lutterbach, Der Weg in das Täuferreich von Münster. Ein Ringen um die heilige Stadt. (Geschichte des Bistums Münster, Bd. 3.) Münster 2006.

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tus.58 Das Fürstbistum Münster, das ich anhand der Sendgerichte intensiv untersucht habe59, hat daher im um 1570 begonnenen, aber eigentlich erst nach 1648 Fuß fassenden Prozeß der Konfessionalisierung insgesamt drei Phasen durchlaufen; eine vierte Phase, engstens mit dem Ergebnis der voraufgehenden verflochten, reichte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Im folgenden wird es darum gehen, eine Typologie der Interaktionsmuster der beteiligten Personen, Gruppen und Institutionen in den einzelnen Verlaufsphasen für das Fürstbistum Münster zu skizzieren, mit anderen regionalen Forschungsergebnissen zu vergleichen und damit die Validität des Epochenjahres 1648 für die Zeit- und Verlaufsstruktur der Konfessionalisierung im Rahmen einer christentumsgeschichtlichen Qualifizierung der Frühen Neuzeit zu prüfen. 1. Anschubphase (bis nach 1650) Die Konfessionalisierung benötigte im katholischen Raum vielfach eine extrem lange Anschubphase; das gut untersuchte Bayern muß längst darauf hin befragt werden, ob ihm nicht statt besonderer Repräsentativität eher ein Sonderstatus zuzuerkennen ist.60 Während der angeblichen „Kernzeit“ der Konfessionalisierung konnte ein tridentinisch geprägter Katholizismus im 58

Nach wie vor instruktiv: Ronnie Po-chia Hsia, Gesellschaft und Religion in Münster 1535–1618. (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster, NF., Bd. 13.) Münster 1989. 59 Einzelnachweise zum Folgenden in: Andreas Holzem, Religion und Lebensformen. Katholische Konfessionalisierung im Sendgericht des Fürstbistums Münster 1570–1800. (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 33.) Paderborn 2000; ders., Der Konfessionsstaat (wie Anm. 56). Zu Entwicklung und Funktion des Sendgerichts vgl. Holzem, Religion und Lebensform (wie Anm. 59), 55–154, dort ältere Lit. Zur Genese des bischöflichen Sendgerichtes im frühen Mittelalter jüngst sehr instruktiv: Wilfried Hartmann, „Sozialdisziplinierung“ und „Sündenzucht“ im frühen Mittelalter? Das bischöfliche Sendgericht in der Zeit um 900, in: Jb. des Historischen Kollegs 2005, 95–119. 60 Angelo Turchini, Bayern und Mailand im Zeichen der konfessionellen Bürokratisierung, in: Reinhard/Schilling (Hrsg.), Die Katholische Konfessionalisierung (wie Anm. 20), 394–404; Manfred Weitlauff, Die Reichskirchenpolitik des Hauses Bayern im Zeichen gegenreformatorischen Engagements und österreichisch-bayerischen Gegensatzes, in: Hubert Glaser (Hrsg.), Um Glauben und Reich. Kurfürst Maximilian I. Beiträge zur bayerischen Geschichte und Kunst 1573–1657. München 1980, 48–76; Walter Ziegler, Bayern, in: Schindling/Ziegler (Hrsg.), Die Territorien (wie Anm. 20), Bd. 1: Der Südosten. (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, Bd. 49.) Münster 1989, 56–70 (Lit); Reinhold Baumstark (Hrsg.), Rom in Bayern. Kunst und Spiritualität der ersten Jesuiten (Ausstellungskatalog). München 1997; Hubert Glaser, …nadie sin fructo. Die bayerischen Herzöge und die Jesuiten im 16. Jahrhundert, in: Baumstark (Hrsg.), Rom in Bayern (wie Anm. 60), 55–82; Hubert Glaser/Elke Anne Werner, Die siegreiche Maria – religiöse Stiftungen Maximilians I. von Bayern, in: Bußmann/Schilling (Hrsg.), 1648 – Krieg und Frieden in Europa. Textband 2: Kunst und Kultur. München 1998, 141–151; Gerhard P. Woeckl, Pietas Bavarica. Wallfahrt, Prozession und Ex-Voto-Gabe im Hause Wittelsbach in Ettal, Wessobrunn, Altötting und der Landeshauptstadt München von der Gegenreformation bis zur Säkularisation und der „Renovatio Ecclesiae“. Weissenhorn 1992.

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Fürstbistum Münster nicht etabliert und stabilisiert werden. Ausschlaggebend dafür waren politische, militärische und ständische bzw. dynastische Großkonstellationen. Weder geistliche Landesherren noch ständische Zwischengewalten profitierten von konfessioneller Eindeutigkeit.61 Der Pfarrklerus, weitgehend abgeschlossen von frühmodernen Bildungschancen, konzentrierte seine Anstrengungen auf eine quasibäuerliche Subsistenzwirtschaft, oft unter Einschluß von Konkubinat, Elternschaft und familialen Beziehungsformen.62 Zugleich beanspruchte er eine kultische Stellvertreterrolle für die Gemeinde gegenüber dem Heiligen, gefaßt als religiös-materielle Austauschbeziehung zwischen Pfarrer und Dorf. Die verschiedenen Instanzen geistlicher und weltlicher Herrschaft zwangen ihm eine taktisch motivierte Uneindeutigkeit auf.63 Was im späten 16. Jahrhundert christliche Religion auf der Ebene der breiten Bevölkerung bedeutete, kann beim derzeitigen Bestand an Quellen kaum über die obigen Andeutungen hinaus formuliert werden. Die Herstellung einer „kritischen Masse“, die auf allen Ebenen den Prozeß der Konfessionalisierung unumkehrbar einleitete, bedurfte einer erst langwierig zu konstruierenden Balance verschiedenster Kräfte: politisch: geistliche Herrschaft als Sekundogenitur einer konfessionell eindeutigen Dynastie; kulturell: ein deutlich markierter neuer fürstbischöflicher Lebensstil, der primär vom geistlichen Amtsauftrag her entworfen war, und die Anpassung der geistlichen Standesvertreter des regionalen Adels an diesen Stil; religiös/spirituell: die Implementierung eines neuen religiös, gesellschaftlich und politisch umzusetzenden katholischen Selbstverständnisses durch die Jesuiten.64 Deren Aktivitäten führten dazu, daß einer nachwachsenden Generation die veränderten religiösen Großkonstellationen von innen her plausibel wurden. Das Jesuitengymnasium, die marianischen Sodalitäten, die Predigtarbeit und der Umlauf religiöser Lektüre erzogen – in durchaus scharfer Auseinandersetzung mit den nun des Laxismus bezichtigten Alten – bereits unter den Bedingungen des Dreißigjährigen Krieges eine in ihren Lebenshaltungen durchgreifend veränderte Multiplikatorengeneration, die 61

Holzem, Der Konfessionsstaat (wie Anm. 56), 34–69, 121–169. Holzem, Religion und Lebensformen (wie Anm. 59), 155–236. Zur „Familiarität“ des westfälischen Klerus bis ins späte 16. Jahrhundert: Freitag, Pfarrer, Kirche und ländliche Gemeinschaft (wie Anm. 38), 92–98; Holzem, Der Konfessionsstaat (wie Anm. 56), 284– 286. Sehr instruktiv auch die an vergleichbaren Regionen durchgeführten Forschungen von Werner Freitag: Werner Freitag, Konfessionelle Kulturen und innere Staatsbildung. Zur Konfessionalisierung in westfälischen Territorien, in: WestfF 42, 1992, 75–191. 63 Herbert Immenkötter (Hrsg.), Die Protokolle des Geistlichen Rates in Münster (1601– 1612). (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, Bd. 104.) Münster 1972 (Beispiele: 86, 88, 113, 150, 190, 242, 316, 336, 340 f. 396, 400 und passim). Weitere Einzelnachweise: Holzem, Religion und Lebensformen (wie Anm. 59), 155–177. 64 Hsia, Gesellschaft und Religion (wie Anm. 58); Holzem, Der Konfessionsstaat (wie Anm. 56), 83–117. 62

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tridentinischen Katholizismus in die adlige Standeserziehung und damit in das Selbstverständnis des clerus primarius, in das städtische Bürgertum und seine die kirchlichen Mittelinstanzen dominierenden Funktionsträger, aber über diese Gruppen und Schichten vielfach vermittelt auch in den ländlichen Pfarrklerus hineintrug.65 „Barockfrömmigkeit“ war also „keine genuin ländliche Kulturleistung“66, sondern ein aus städtischer Bildung und städtischen Formen hervorgewachsenes Angebot, das in den Minderstädten und dörflichen Kirchspielen in einer selektiven Traditionsaneignung mit einer gewissen Eigenständigkeit verarbeitet wurde.67 Ein solcher Generationenwechsel der Multiplikatoren vollzog sich in einer krisenhaften Auseinandersetzung mit der älteren Klerikergeneration, ihrem Bildungsniveau, ihren geringen Ansprüchen an ihre religiöse Praxis vor dem Hintergrund deutlich gestiegener Verhaltenserwartungen, aber auch ihren familiären und sozialen Verpflichtungen, die sich aus der „moralischen Ökonomie“ einer auf vorkonfessionellen Grundlagen aufruhenden Lebensform erklären und die nicht einfach abzustreifen waren. Die harten Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges reduzierten religiöses und kulturelles Leben auf Rudimente68; das Ergebnis war – aus der Sicht tridentinischer Reformer – oft erschreckend banal. Das Ende dieser Anschubphase fiel mit dem Ende des großen Krieges zusammen; fast ein Jahrhundert nach dem Ende des Konzils von Trient stand also wenig mehr als die personelle und institutionelle Infrastruktur bereit, mit der auf dem Land tridentinischer Katholizismus hätte umgesetzt werden können.

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Vgl. Alwin Hanschmidt, Zwischen bürgerlicher Stadtautonomie und fürstlicher Stadtherrschaft (1580–1661), in: Franz Josef Jakobi (Hrsg.), Geschichte der Stadt Münster. Bd. 1. Münster 1993, 249–299. Einzelbelege für diesen Prozeß der Verbindung von Familien niederadliger und bürgerlicher Reformkreise und aus ihnen rekrutierter städtischer Reformkleriker in Holzem, Religion und Lebensformen (wie Anm. 59), 65–103. Zum Gesamtprozeß Holzem, Der Konfessionsstaat (wie Anm. 56), 34–69, 151–169. 66 Vgl. Brückner, Zum Wandel der religiösen Kultur (wie Anm. 45), 70–72. 67 Das deckt sich mit jüngsten Ergebnissen der französischen Forschung: Marie-Juliette Marrinus beschreibt die Städte als „centre de l’action et de formation cléricale“; daher sei es legitim, von einer „Contre-Réforme à deux vitesses“ zu sprechen; Marie-Juliette Marrinus, Une Contre-Réforme à deux vitesses. La christianisation des campagnes et des villes dans les Pays-Bas méridionaux au 17e siècle, in: Jean-Pierre Massaut/MarieÉlisabeth Henneau (Eds.), La christianisation des campagnes. Actes du colloque du C. I.H.E.C. (25–27 août 1994). Vol. 2. (Bibliothèque/Institut Historique Belge de Rome, Vol. 38.) Brüssel/Rom 1996, 355–364, hier: 364; Marie-Élisabeth Henneau ergänzt: „La ville et la campagne ne doivent peut-être pas être distinguées de manière aussi nette […] La campagne se christianise au contact de la ville, plus lentement certes, mais peut-être aussi plus sûrement“; Marie-Élisabeth Henneau, Christianisation des campagnes au diocèse de Liège: questions et réponses des gens d’Église, in: Massaut/Henneau (Eds.), La christianisation des campagnes, 387– 406, hier: 397. 68 Lit. vgl. Anm. 46.

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2. Phase der interrelativen Konfessionalisierung (bis um 1700/1715) Die Trägerschicht katholischer Konfessionalisierung unter den geistlichen Eliten praktizierte nach 1650 etwa zwei bis drei Generationen lang einen geradezu harschen Zugriff auf Elemente, Formen und Inhalte städtischer und ländlicher Religiosität. Die Quellen dieser Zeit offenbaren in scharfen Neigungen zur geistlichen Strafe, wie massiv die obrigkeitlichen Anstrengungen waren, tridentinischen Katholizismus bis in die letzte Bauerschaft zu tragen. Stets mehr als die Hälfte, teils bis zu zwei Drittel der erwachsenen Bevölkerung waren davon betroffen.69 Und diese teils empfindlichen Strafen, deren Auferlegung zunächst öffentlicher, später mindestens halböffentlicher Wahrnehmung unterlag, konnten in der Regel durchgesetzt und beigetrieben werden. Symbolisch hohe oder öffentliche Strafen verlangten zudem glaubwürdige, umfängliche Gebärden der Selbstdemütigung und des Eingeständnisses von Schande. In diesem Zeitraum war Konfessionalisierung für die Masse der Menschen – alle Schichten – eine einschneidende religiöse und soziale Erfahrung. Der bisweilen verzweifelt-angestrengte Tonfall der Quellen legt Zeugnis davon ab, wie heftig die Konflikte um diese Veränderungsversuche gewesen sein müssen. Hier vollzog sich, mit der Verspätung, die durch die Heranbildung von Multiplikatoren bedingt war, von neuem jener Prozeß von Unterwerfung, Aneignung und kultureller Reproduktion, der für die Adligen und Bürgerlichen als Trägerschicht der religiösen Institutionen in der Anschubphase kennzeichnend gewesen war. Diese zweite Phase ländlicher Konfessionalisierung war auf der Seite der Betroffenen von ganz unterschiedlichen Erfahrungen geprägt: von der Erfahrung, daß dörfliche Regelsysteme, und seien ihre Verhaltensstrukturen noch so „agonal“, streitbar und undifferenziert, durch neue Verhaltens- und Konfliktformen ersetzt werden sollten; von der Erfahrung eines zunächst unverständlichen Zwangs, der mit den gegebenen Lebensordnungen und -formen scharf konkurrierte70; nicht zuletzt von der Erfahrung eines neuen habituellen und moralischen Anspruchs, der den Umgang mit dem Heiligen und dessen Integration in lebensweltliche Basisereignisse zu dominieren trachtete. Der Einzelne und die Parochie als Ganze wurden zum „Sakralen“ in ein neues, intensiveres Verhältnis gesetzt. Die Visualisierung, Deutung und Durchsetzung einer abgegrenzten, ehrfurchtgebietenden Sakralität erscheint als inhaltliches Kernelement katholischer Konfessionalität.71 Dem entsprach ein neuer Kodex angemessenen äußeren Verhaltens und innerer Disposition gegenüber dem kirchlich vermittelten göttlichen Heil. Die Sphäre des Heiligen wurde gleichsam schärfer modelliert und abgegrenzt; man beanspruchte

69 70 71

Vgl. Holzem, Religion und Lebensformen (wie Anm. 59), 55–154. Ebd. 285–454. Ebd. 237–283.

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für sie ein höheres Maß an Dignität. Das verlangte eine differenziertere Annäherung und einen durch Erziehung geformten Umgang. Den Klerus bestimmte ein neues Standesideal: Er war als Teil dieser sakralen Sphäre herausgehoben aus dem Stand der Laien und gleichzeitig der lokale Vermittler göttlicher Zuwendung an diesen. Zahlreiche Konflikte begleiteten die Umsetzung: Der Geistliche löste sich aus seiner Eingebundenheit in die dörfliche Sozialität zunehmend heraus, verzichtete auf eine familienähnliche Hauswirtschaft und Lebensform und wechselte von einer bäuerlichen Eigenwirtschaft zu einer Renten- und Abgabenwirtschaft. Seine Kleidung und sein Gebaren änderten sich ebenso wie seine Sprache, sein Bildungsvorrat und seine Vorstellung von angemessenen religiösen Vollzügen. Wo die Geistlichen noch des 16. und frühen 17. Jahrhunderts vor allem Teil des gesellschaftlichen Gefüges ihrer Gemeinde gewesen waren, nahmen sie nun – kaum weniger spannungsreich – eher eine Gegenüberposition ein; das Sendgericht bestrafte mangelnde Anerkenntnis scharf.72 Vereinzelte Negativbeispiele im Niederklerus noch des 18. Jahrhunderts verdeutlichen Richtung und Intensität dieses auch unter den Priestern gestuft sich vollziehenden Wandels. Daraus erwuchs ebenso ein neuer Anspruch an die Laien: Im Zusammenspiel mit einer bewußt und korrekt vollzogenen Liturgie erwartete die hohe und niedere Geistlichkeit, daß der Messe und der Predigt, der Wallfahrt und der Prozession, nicht zuletzt der rituellen Begleitung der Lebenswenden von Geburt, Heirat und Sterben ungeteilte und demütig-reverente Aufmerksamkeit zuteil wurde.73 Der Anspruch wurde unterstrichen 72

Beispiele: Bistumsarchiv Münster (im folgenden: BAM), GV Münster St. Martini A 9, Ennigerloh, 13. 3. 1629; A 10/31, Ennigerloh, 9. 9. 1733. Ebd., GV Münster St. Mauritz A 5/2, Hoetmar 18. 4. 1667; A 5/7, Ottmarsbocholt, 21. 8. 1680. Zum tridentinischen Klerus insgesamt vgl. Holzem, Religion und Lebensformen (wie Anm. 59), 177–224; Freitag, Pfarrer, Kirche und ländliche Gemeinschaft (wie Anm. 38), dort jeweils Lit.; Ulrich Pfister, Geschlossene Tabernakel – saubere Paramente: Katholische Reform und ländliche Glaubenspraxis in Graubünden, 17. und 18. Jahrhundert, in: Norbert Haag/Sabine Holtz/ Wolfgang Zimmermann (Hrsg.), Ländliche Frömmigkeit. Konfessionskulturen und Lebenswelten 1500–1850. Stuttgart 2002, 115–141. 73 Vgl. die grundlegenden Bewertungskriterien bei: Wolfgang Brückner, Die Neuorganisation von Frömmigkeit des Kirchenvolkes im nachtridentinischen Konfessionsstaat, in: Jb. für Volkskunde NF. 21, 1998, 7–32, hier: 13–20. Die Forderung „devote ac reverenter audiendum sacrum Missæ Officium“ konkretisierte sich in zahlreichen Einzelvorschriften für Zelebranten und Volk; vgl. Holzem, Religion und Lebensformen (wie Anm. 59), 383–398. Vgl. z. B. Staatsarchiv Münster (im folgenden: STAM), Fstm. Münster, Edikte B 1 Bl. 13; Bd. A 2 Bl. 76; Bd. A 3 Bl. 12. BAM, GV Bistum Münster IV. Bistumsverwaltung, Nr. 156, fol. 53vf. Ebd., GV Münster St. Martini A 10/20, Ennigerloh, 30. 7. 1676 und Herzfeld, 7. 8. 1676; A 10/22, Oelde, 30. 8. 1690; A 10/23, Diestedde, 8. 9. 1691; A 11/4, Wadersloh, 13. 8. 1739. Ebd., GV Münster St. Mauritz A 5/4, Selm, 13. 6. 1674; A 5/8, Lüdinghausen, 11. 10. 1685 und Amelsbüren, 2. 5. 1689. – Als Fallstudien zur Wallfahrt: Werner Freitag, Volks- und Elitenfrömmigkeit in der frühen Neuzeit. Marienwallfahrten im Fürstbistum Münster. (Veröffentlichungen des Provinzialinstituts für Westfälische Landes- und Volksforschung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Bd. 29.) Paderborn

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von einer bis dahin ungekannten Prachtentfaltung selbst bescheidenen ländlichen Kirchentums: helle, klare und ausgerichtete Raumstrukturen, Farbigkeit und Glanz, edle Metalle und Gewänder, eindrucksvolle Altardispositionen, Bilder und Bücher etc.74 Alles dies verlangte nicht nur ein gewandeltes Teilnahmeverhalten und eine geschärfte Sensibilität der Kirchenleute für Schicklichkeit, sondern auch eine rationelle Bewirtschaftung. Die Kontrolle der Kirchengüter und Armenfonds erzwang moderne Formen der Administration auch auf dem Land. Alle diese Impulse konkurrierten mit den vorrangig instrumentellen Umgangsformen und Wirkungserwartungen, welche die Pfarreingesessenen herkömmlich dem Heiligen entgegenbrachten. Man erfaßt diese religiöse Attitüde nur sehr unvollkommen, wenn man sie als magisch-animistisches (Rest-)Heidentum oder als autochthone Volkskultur gegen die geistige Welt der Eliten auffaßt und dementsprechend die weiten Landstriche Alteuropas in der Frühneuzeit gleichsam als Missionsland qualifiziert.75 Christliche Religion hatte in einer überaus harten Welt, die nichts an Gelingen, gar Glück von sich aus gab, ihren spezifischen Ort und Zweck. Sie konnte kaum begriffen werden als spiritueller Weg innerer Gottannäherung, den zu beschreiten individualisierende Seelen-Sorge bedeutet und bewirkt hätte. Religion wurde gelebt mit einem hohen Maß an Habitualität, die sich den Menschen durch eine traditionale Sozialisation des Miterlebens und Mittuns vermittelte. Christentum erschien im Horizont des Erfahrungslernens vor allem als ein Ensemble von Praktiken, deren erhoffte Sinnhaftigkeit sich auf die räumlich enge und emotional nahe Umgebung bezog. Kirche war nicht Weltkirche, sondern eine lokale Gemeinde. Ihre Heilsbedeutung mußte immer konkret 1991; Andreas Holzem, Religiöse Orientierung und soziale Ordnung. Skizzen zur Wallfahrt als Handlungsfeld und Konfliktraum zwischen Frühneuzeit und Katholischem Milieu, in: Reinhard Blänkner/Bernhard Jussen (Hrsg.), Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 138.) Göttingen 1998, 327–354. 74 Eine auf liturgische Praxis, mentale Disposition und kulturelle Praktiken bezogene Bearbeitung von Kirchenräumen steht weitgehend aus. Vgl. einstweilen exemplarisch Dürr, Politische Kultur in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 38); Andreas Holzem, Die sieben Hauptkirchen Roms in Schwaben. Bildprogramm und Handlungskonzepte eines konfessionalisierten Kirchenraums, in: Renate Dürr/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Kirchen, Märkte und Tavernen. Erfahrungs- und Handlungsräume in der Frühen Neuzeit. (Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit, Bd. 9, H. 3/4.) Frankfurt am Main 2005, 459– 496. Für Westfalen Holzem, Der Konfessionsstaat (wie Anm. 56), 378–384. 75 Vgl. zu dieser kritischen Auseinandersetzung mit bestimmten Konzepten von „Volksreligiosität“ bzw. „popularer Religion“ Andreas Holzem, „Volksfrömmigkeit“. Zur Verabschiedung eines Begriffs, in: Theologische Quartalschrift 182, 2002, 258–270; ders., Art. „Volksfrömmigkeit V. Röm.-kathol. Kirche (Reformationszeit – Neuzeit)“, in: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 35. Berlin/New York 2003, 214–248, 234–240; ders., Personen – Beziehungen zu Personen der Überwelt, in: Peter Dinzelbacher/Michael Pammer (Hrsg.), Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum. Bd. 5: 1750– 1900. Paderborn/München/Wien/Zürich 2007, 239–285.

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applizierbar sein und sich im unmittelbaren Bezugsfeld der Familie, der Nachbarschaft oder der Gemeinde und ihrer Flur niederschlagen. Das in Predigten und Edikten allseits gezeichnete Bild des Lohn und Strafe genau zumessenden Gottes, der keine Sünde übersah76, traf sich mit einem Kultverständis der Parochianen, das sich auf die Leistungskraft eigener religiöser Handlungen und vor allem auf das Gnadenversprechen konfessionalisierter Kultakte verließ.77 Die Individualität einer persönlichen Glaubensbiographie war dadurch nicht ausgeschlossen, weil zwischen verweigerter oder nachlässiger Partizipation und inbrünstigem Mitvollzug ein breites Repertoire an Selbstverortung im etablierten Christentum gelebt werden konnte und wurde. Die strafbewehrten Normen der geistlichen Obrigkeit wurden in einer jedem einzelnen zur Verfügung stehenden Bandbreite situativer Entscheidungen perzipiert. Dennoch wurde das Christentum vorwiegend in funktionalen Bezügen aufgefaßt. Es diente der Lebensbewältigung im weitesten Sinne und sollte den Hausbewohnern das (Über-)Leben, der Saat das Gedeihen, dem Vieh Nahrung und Gesundheit, dem Hof den Schutz und den Toten Frieden und Erlösung sichern. Obwohl religiöses Handeln von der Vorstellung von Leistung und Gegenleistung dominiert war, handelte es sich keinesfalls um einen unfrommen Schacher. Daß man mit Gott nicht pietätlos handeln konnte, ergab sich nicht nur aus dem allseits gepredigten Bild eines höchsten Richters, der zwar auch gütig, aber vorrangig auf eine undurchschaubare Weise gerecht war. Diese Einsicht wurde gestützt durch die alltägliche Erfahrung mißlingenden Lebens: Nur zu oft läßt sich das religiöse Handeln einfacher Menschen als verzweifelte Anstrengung und untertänige Bitte charakterisie76

Über hundert Meß-, Prozessions-, Buß- und Gebetsanordnungen aus Anlaß konkreter und allgemeiner Katastrophen wie Krieg, Hunger, Viehseuchen, Dürre, überlange Winter und Regenzeiten (Fürstbistum Münster, ca. 1570–1800) formulierten den Zusammenhang von Tun und Ergehen, indem „der Gerechter GOTT vns wiederumb mit der scharffen Geissel […] heimbsuchet / und daß Wir ohne zweiffel solche grosse Straff durch Vnsere Vndanckbarkeit und newe schwäre Sünden werden von Gott abgenöhtiget haben […]“; Beispiel: Edikt zur Fastenordnung, zu Bittgottesdiensten, Prozessionen und Messen, 2. 10. 1692; STAM, Fstm. Münster, Edikte, Bd. B 5 Bl. 25. Weitere Belege: Holzem, Religion und Lebensformen (wie Anm. 59), 285–310. Es handelt sich bei dieser Vorstellung um ein konfessionsübergreifendes Konzept; auch die calvinistische Sündenzucht wie die lutherische Predigt begründeten ihren Kontroll- und Strafauftrag mit der Prävention des Gotteszorns im Horizont einer durch die Vergeltungslehre begründeten Vergesetzlichung, vgl. Heinrich Richard Schmidt, Dorf und Religion. Reformierte Sittenzucht in Berner Landgemeinden der Frühen Neuzeit. (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte, Bd. 41.) Stuttgart/Jena/New York 1995; Sabine Holtz, Theologie und Alltag. Lehre und Leben in den Predigten der Tübinger Theologen 1550–1750. (Spätmittelalter und Reformation, Neue Rh., Bd. 3.) Tübingen 1993. 77 Verhaltensformen dieser Art wurden religionsgeschichtlich lange, auch von mir, als Erscheinungsform des Prinzips ‚do ut des‘ interpretiert. Wichtige kritische Beobachtungen zu Genese und Defiziten dieses Interpretaments nun jedoch bei Dagmar Stonus, „Do ut des“. Herkunft und Funktion eines Erklärungsbegriffs, in: Jb. für Volkskunde NF. 19, 1996, 41–59.

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ren, deren Einlösung ungewiß blieb.78 Weil Christentum vor allem als Kult erlebt und gedacht wurde, als (erhofft) wirksamer Vollzug von Sakramenten, Sakramentalien und Segnungen, haftete dieser ländlichen Christianität ein Zug zum Objektivismus an, der durch die Sakramentenlehre des Konzils von Trient nur verstärkt worden war: Entscheidend war der Ritus als solcher, weniger die Bereitung des inneren Selbst.79 Insofern wurde im Priester vor allem der Kultdiener gesehen, der in einer Bringschuld gegenüber der Gemeinde stand. Materielles und Geistliches, aber auch Profanes und Heiliges gehörte ungeschieden zu einer eng verflochtenen lebensweltlichen Christianität des Alltags; konfliktreich wog man Einsatz und Ertrag ab. Gerade wegen dieses instrumentellen Religionsverständnisses erhielt die katholische Konfessionskirche nicht jene Exklusivität zugeschrieben, die sie aufgrund ihres Wahrheitsanspruchs für sich reklamierte. Eine kombinatorische Technik des Umgangs mit Leid und Kontingenz suchte Hilfe dort, wo sie sich zu bieten schien. So blieb neben der Welt der christlichen Heilsvermittlung der Kosmos des Wahrsagens und der weißen Magie lebendig und wurde komplementär zur Bewältigung und Deutung stets gefährdeten Lebens in Anspruch genommen. Entscheidend ist die Wahrnehmung, daß die Sendgerichte vermeintlich superstitiöse Handlungen bestraften, aber den inkriminierten Praktiken ihre Plausibilität zunächst nicht nahmen. Gleichzeitig ist deutlich geworden, daß diese „Volksmagie“ keine (rest-)heidnische Gegenwelt darstellte: Sie bediente sich unbefangen christlicher Symbole, Texte und Gebärden. Ihre Vertreter verstanden sich als Helfer gegen die teuflische schwarze Magie, die Dämonen in der Natur und die unruhigen Geister der Verstorbenen.

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In diesen Bereich gehören das Votivwesen und die Wallfahrt ebenso wie die als Aberglauben denunzierte Praxis der „weißen Magie“; Beispiele: BAM, GV Münster St. Martini A 10/20, Hövel, 25. 8. 1676; A 10/22, Herzfeld, 2. 9. 1690; A 10/25, Bockum, 1. 9. 1698; vgl. Holzem, Religion und Lebensformen (wie Anm. 59), 439–454. 79 Vgl. Wolfgang Brückner, Devotio und Patronage. Zum konkreten Rechtsdenken in handgreiflichen Frömmigkeitsformen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, in: Schreiner (Hrsg.), Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter (wie Anm. 18), 79–91. – Marc R. Forster kennzeichnet die Konfessionalisierung des Bistums Speyer als im Sinne der tridentinischen Reformer erfolglos: Kennzeichnend sei eine „local religion“, die auf dem hergebrachten „traditional catholicism“ beruhe, „which gave rural communes control of the local church.“ Katholisches Bewußtsein bleibe „corporate, focused on the village, commune and parish“, ja wurzele in „village communalism“. Er benennt aber auch die Gründe für diese (Nicht-)Entwicklung: Das Fehlen zentraler staatlicher oder kirchlicher Strukturen und einer städtischen religiösen Elite sowie die bleibende Bedeutung adligständischer Autonomie- und Privilegieninteressen. Vgl. Marc R. Forster, The CounterReformation in the Villages. Religion and Reform in the Bishopric of Speyer, 1560–1720. Ithaca/London 1992, 244–247. – Das Konzept transzendenzbezogener religiöser Kommunikation als wirkmächtiger Wechselbeziehung durch Ritus und Sprache im Medium des Andachtsbuches ist erläutert in: Andreas Holzem, Das Buch als Gegenstand und Quelle der Andacht. Beispiele literaler Religiosität in Westfalen 1600–1800, in: ders. (Hrsg.), Normieren – Tradieren – Inszenieren (wie Anm. 10), 225–262.

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Religiöses Tun diente zudem nicht nur der Heilssorge im Diesseits und Jenseits, sondern auch der Selbstdarstellung, Repräsentation und Reproduktion der Gesellschaft. Religiosität war eingebettet in Kommunikation, Fest und Geselligkeit, ohne daß die Ebenen streng getrennt worden wären. Der mit den Wirtschaften konkurrierende sonntägliche Kirchgang, die Disziplinlosigkeiten in der Kirche, aber auch das ungehemmte Durchbrechen rüden Verhaltens bei Kindelbieren, auf Hochzeiten und Bruderschaftsfesten oder in der Fastnacht wurde zigfach als Unehrerbietigkeit gestraft.80 Oft genug wurde der liturgische Teil eines Begängniszusammenhangs in einer Weise an den Priester delegiert, daß dem Klerus das Verhalten der Laien als unernst und verantwortungslos erschien. Als Ergebnis der Disziplinierung wird zunächst ein äußerer Verhaltenswandel greifbar. Man akkomodierte sich langsam und teils unvollständig den neuen religiösen Anforderungen, ohne die angelagerten sozialen Bedeutungsebenen preiszugeben. Gerade der Weg des Erfahrungslernens, die religiöse Traditionsvermittlung durch Mittun, führte von Generation zu Generation vom Fremdzwang zum Selbstzwang. Der veränderte Schicklichkeits- und Verhaltensstandard fügte sich dem Gesamthabitus der Kirchengemeinden nach und nach ein. An seine immanenten Grenzen stieß dieser Prozeß, wo es um die Bildung von Wissen und Gewissen ging: Gegen die Lernunlust und die bleibend lockere Verankerung von Glaubenswahrheiten kamen auch Schule, Christenlehre und Glaubensexamen im Sendgericht nur begrenzt an.81 So blieb alle erzwungene oder ererbte Anerkenntnis tridentinischer Katholizität geprägt durch eine enge Nachbarschaft von Ritus und Brauchumgebung. Auf der anderen Seite stand die Erfahrung, welche spirituelle Energie, welche tröstende Kraft, welche integrative Bestätigung von dem ausgehen konnte, was an neuen, disziplinierten und zivilisierten religiösen Artikulationsmöglichkeiten nun zur Verfügung stand. Dörfliche und kleinstädtische Parochien haben diese Artikulationsmöglichkeiten für sich genutzt, sich dar80

Wenige Beispiele aus nur einem Archidiakonat: BAM, GV Münster St. Martini A 8, Bockum, 10. 3. 1627; A 9, Bockum, 21. 3. 1628, Heessen, 24. 9. 1628, Oelde, 2. 10. 1631 und 26. 8. 1652; A 10/17, Oelde, 9. 12. 1665; A 10/20, Herzfeld, 7. 8. 1676; A 10/21, Ostenfelde, 23. 9. 1688, Vellern, 24. 9. 1688; A 10/22, Oelde, 30. 8. 1690, Dolberg, 5. 9. 1690, Lippborg, 4. 9. 1690, Bockum, 8. 9. 1690; A 10/23, Diestedde, 8. 9. 1691, Lippborg, 11. 9. 1691, Hövel, 14. 9. 1691, Lippborg, 14. 9. 1693; A 10/30, Ennigerloh, 10. 9. 1715; A 10/30, Ostenfelde, 12. 9. 1715; A 11/4, Wadersloh, 13. 8. 1739. 81 Andreas Holzem, „…quod non miserit prolem ad scholam“ – Religiöse Bildung, Schulalltag und Kinderwelten im Spiegel von Sendgerichtsprotokollen des Fürstbistums Münster, in: AKG 78, 1996, 325–362 (Lit.); Beispiele aus dem Glaubensexamen des Sendgerichts: BAM, GV Münster St. Mauritz A 5/2, Hoetmar 18. 4. 1667; A 5/4, Enniger, 14. 11. 1672; A 5/7, Selm, 21. 6. 1682. Ebd., GV Münster St. Martini A 10/30, Lippborg, 21. 9. 1715. BAM, GV Borken St. Remigius A 102, fol. 29v, Emsdetten, 2. 7. 1723; A 102, fol. 65v, Sendenhorst, 19. 8. 1723: hier allein 12 Verurteilungen, unter anderem auch wegen Unkenntnis des Dekalogs, der fünf Kirchengebote und der drei Personen Gottes; ebd., fol. 89v–90v, Dingden, 4. 10. 1723. Allein hier 44 Verurteilungen.

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in wiedererkannt, Räume, Bilder, Gebete und Bewegungen angenommen, um ihr Leben in „riskierten Zeiten“82 zu bewältigen, zu feiern, und in Verbindung zu halten mit der übermächtigen Welt des Jenseitigen. Der ‚EigenSinn‘ der Parochianen widersetzte sich solchen ‚überschießenden‘ Sinnangeboten nicht, wenn sie sich lebensweltlich einfügen ließen; hier bewies auch die tridentinische Frömmigkeit und Kirchlichkeit eine „Überschreitungsfähigkeit“83, die sich nicht mehr allein auf den herkömmlichen Interessenhorizont kommunaler Selbstthematisierung zurückführen läßt. Die Erfahrung des Zwangs und die Erfahrung der Chance waren untrennbar ineinander verwoben. Und genau diese Vermischung, dieses ambivalente, aber offenbar hoch wirksame Zusammentreffen des Gegensätzlichen, machte das ‚Neue‘ aus, das die katholische Konfessionalisierung von allen bisherigen Perioden kirchlichen Lebens schied, obwohl sie in vordergründiger Kontinuität mit genau deren Mitteln lebte und arbeitete. In diese zweite Phase der Konfessionalisierung gehörte neben den religiösen auch der Kampf um neue soziale Standards. Es ging nicht darum, die Ständegesellschaft in Frage zu stellen. Ebensowenig zielte die Auseinandersetzung dahin, die Geschlechterhierarchie einzuebnen oder die sozialen Schranken niederzulegen. Aber die Leitidee der religiösen Gesellschaft lud die „moral economy“ der ländlichen Welt christlich auf und lieferte ihr eine neue theologische Grundlage. Gleichzeitig stand nun den Schwächeren, den Alten und den Kindern, den Frauen und dem Gesinde, wenigstens sporadisch eine schützende Instanz zur Seite. Dies bezog sich vor allem auf materielle und sexuelle Ausbeutung sowie alle Formen regelloser Sexualität, Entzug der Lebensgrundlagen, Vorenthalt der geistlichen Heilsgüter, Übervorteilung und Gewalt.84 Auf dieser Ebene förderte und unterstützte der institutionelle 82

Paul Münch, Lebensformen in der Frühen Neuzeit 1500–1800. Berlin 1992, 11–23. Berndt Hamm bezeichnet als „Überschreitungsfähigkeit“ der reformatorischen Theologie, Frömmigkeit und Kirchlichkeit ihre letzthinnige Unableitbarkeit allein aus politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten und Interessen und damit „ihre Eigenschaft, Menschen unterschiedlicher sozialer, ökonomischer und kultureller Verortungen […] ansprechen und zu einer gewissen Gemeinsamkeit des Glaubens, des theologischen Nachdenkens, des Bekennens und des kirchenpolitischen Agierens verbinden zu können“; Hamm, Einheit und Vielfalt (wie Anm. 44), 107 f.; solche Merkmale lassen sich auch für die Wirkungsgeschichte und Bindungskraft katholischer Konfessionskulturen beobachten. 84 Beispiele für verschiedene Deliktfelder: BAM, GV Münster St. Martini A 8, Oelde, 3. 8. 1622, 4. 3. 1624 und 8. 10. 1625 sowie Wadersloh, 3. 8. 1622, Heessen, 18. 3. 1626, Dolberg, 8. 3. 1627; A 9, Wadersloh, 8. 10. 1631 und Bockum, 10. 10. 1631; A 10/11, Ostenfelde, 14. 9. 1644; A 10/20, Ennigerloh, 30. 7. 1676; A 10/21, Ennigerloh, 26. 9. 1688 und Bockum, 2. 10. 1688; A 10/22, Lippborg, 4. 9. 1690; A 10/23, Herzfeld, 10. 9. 1691; A 11/3, Ostenfelde, 31. 7. 1738. Ebd., GV Münster St. Mauritz A 5/1, Senden, 9. 9. 1621 und Westkirchen, 16. 9. 1621; A 5/2, Ottmarsbocholt, 2. 5. 1667; A 5/3, Vorhelm, 5. 10. 1671; A 5/6, Olfen, 3. 5. 1678; A 5/7, Hoetmar, 29. 5. 1683; A 5/9, Seppenrade, 29. 6. 1696; A 6/4, Ottmarsbocholt, 11. 6. 1674. Ebd., GV Borken St. Remigius HS 134, fol. 195v–198, Greven, 18. 7. 1791. 83

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Strafzwang der Konfessionalisierung das Selbstheilungsbestreben der Gemeinwesen. Hier fand tatsächlich so etwas wie „Gerichtsnutzung“ (Heinrich Richard Schmidt)85 statt und verstanden sich kirchliche Instanzen, auch Gerichtsinstanzen, als stabilisierende Friedensstifter, die hinter aller Strafe auch auf den frommen Konsens einer wahrhaft christlichen Gemeinde bedacht waren. Dennoch war die Wirkung der geistlichen Rechtsprechung erneut mehrdeutig. Hergebrachte soziale Verfahrensformen blieben trotz mannigfacher Bestrafung von Delinquenten in Geltung, selbst wenn sie sozial unzuträglich waren. Die ‚Spielregeln‘ vor- und außerehelicher Sexualität waren von außen kaum aufzubrechen. Weil im Dorf und in der Minderstadt nicht der Konsens des Paares, sondern der Konsens der beteiligten Gruppen die Ehe sozial konstituierte, blieb deren Beginn einschließlich der Aufnahme sexueller Beziehungen fließend, auch wenn das Ergebnis formal vor dem Pfarrer ‚veröffentlicht‘ wurde. Den Vorstellungen des Tridentinischen Ehedekretes Tametsi86 entsprach das nur sehr bedingt. Die Disziplinierung lief um so mehr ins Leere, als das Sendgericht die schwache Position schwangerer Frauen oder lediger Mütter bei der Durchsetzung von verantwortungslos gegebenen Heiratsversprechen nicht stärkte. Die Entscheidung, unter Absehung von den dörflichen Riten der Eheanbahnung streng nach kirchlichem Recht allein die „Unzucht“ (fornicatio) zu strafen, aber die Bedingungen und Absichten zu ignorieren, unter denen sie zustande gekommen war, führte an den Regelungsbedürfnissen der Gemeinden vorbei. Die strafbewehrte Kontrolle der Sexualität Jugendlicher und junger Erwachsener blieb bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein weitgehend folgenlos: Die sozialen Voraussetzungen, unter denen Ehen überhaupt geschlossen werden konnten, änderten sich ebensowenig wie die Riten, die ihrer Absicherung dienten. Unverändert hoch aber blieb die Zahl der ‚Opfer‘ dieses Systems.87 Auch der Versuch, die stete Latenz von Streit und Gewalt einzudämmen, führte zu ambivalenten Ergebnissen. Obwohl die gleichsam automatische Eskalation vom Wortwechsel über Spott, Injurie und Fluch bis hin zu handgreiflichen, bewaffneten und blutigen Auseinandersetzungen zurückge85 Schmidt, Dorf und Religion (wie Anm. 76), 171; ders., Sozialdisziplinierung? (wie Anm. 29), 682. 86 Vgl. Konzil von Trient, Kanones über eine Reform der Ehe: Dekret „Tametsi“ (11. Nov. 1563), in: Heinrich Denzinger/Peter Hünermann (Hrsg.), Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen – Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum. 39. Aufl. Freiburg im Breisgau/Basel/Rom/ Wien 2001, Nr. 1813–1816, 576 f. 87 Vgl. Holzem, Religion und Lebensformen (wie Anm. 59), 341–367; Ulrike Strasser, Vom „Fall der Ehrer“ zum „Fall der Leichtfertigkeit“: Geschlechtsspezifische Aspekte der Konfessionalisierung am Beispiel Münchner Eheversprechens- und Alimentationsklagen (1592–1649), in: Frieß/Kießling (Hrsg.), Konfessionalisierung und Region (wie Anm. 20), 227–246.

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drängt wurden, blieb das dahinterliegende Muster der sozialen Beziehungen, konstituiert durch das Gegensatzpaar „Ehre“ und „Schande“, in Geltung und suchte sich lediglich gewandelte Austragungsformen. Die unvollkommene, als irrational gewertete kämpferische Selbstregulierung von Konflikten wurde substituiert, indem die Obrigkeit als Schiedsrichter auftrat und mit dieser Rolle ein eigenes, rational-juristisches Verfahren durchsetzte. Diese Entwicklungen – wie gesagt – vollzogen sich erst in den zwei bis drei Generationen nach dem Dreißigjährigen Krieg. Das bedeutet, daß eine Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit mit der Wahrnehmung erheblicher Ungleichzeitigkeiten zu arbeiten hat. Keineswegs sind diese Ungleichzeitigkeiten so zu fassen, daß für die geistlichen und politischen Eliten gleichsam ein mindestens partieller Säkularisierungs- oder Modernisierungsvorsprung vor der Masse der einfachen Bevölkerung postuliert werden könnte. Vielmehr stellte sich Konfessionalisierung aus dieser Perspektive als sozialer Aushandlungsprozeß dar, wie jene „Christianität“, die unhinterfragt und bleibend für Gesellschaft, Kultur und Politik (!) die Grundlage bildete, in pragmatisches, aber regelgebundenes Alltagsleben zu übersetzen war. Erst danach folgte eine dritte Phase konfessioneller Konsolidierung. 3. Phase der öffentlichen Religiosität und des Institutionenwandels (bis ca. 1760/1770) Das spannungsreiche Verhältnis von Akkomodation, Resistenz und Anverwandlung, das die zweite Phase ländlicher Konfessionalisierung im Fürstbistum Münster prägte, wandelte sich durch generationenspezifisch sehr verschiedene Integrationsleistungen der aus Straffurcht geborenen Anpassung, der lebensweltlich vermittelten Gewöhnung oder der sozialisationsbedingten Anerkenntnis und Einfügung in das Geflecht „normalen“ wie „normierten“ Verhaltens hinein. „Konfessionalisierte“ oder „barockfromme“ Religiosität wurde auf diese Weise zu einem öffentlichen und privaten Verhaltensstandard, der institutionell durch kirchliche Anleitung und Aufsicht und – das war neu – auch semiöffentlich durch das „Dorfauge“ abgesichert wurde, wobei sich die „Normendifferenz“ zunehmend verringerte.88 Das betraf zunächst das Verhältnis von Klerus und Gemeinde. Man billigte nunmehr dem Priester an präzise umgrenzten Stellen eine hohe Autorität und eine hohe Macht zu und erwartete gleichzeitig, daß er diese zum Nutzen des Gemeinwesens wie zum Segen und Heil des einzelnen einsetzte. Hier

88

Beispiele zu den Stationen dieser Entwicklung: BAM, GV Münster St. Martini A 10/20, Ostenfelde, 1. 8. 1676; A 10/23, Oelde, 5. 9. 1691, Wadersloh, 9. 9. 1691 und Lippborg, 11. 9. 1691. Ebd., GV Münster St. Mauritz A 5/9, Olfen, 6. 10. 1702. Ebd., GV Borken St. Remigius HS 124, fol. 5r, Rheine, 19. 2. 1749. Ebd., GV Münster St. Mauritz Hs 118, Selm, 4. 8. 1777.

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folgten die Anerkenntnis der Rolle und die Heilserwartung ganz dem Rubrizismus und Formalismus der liturgisch-theologischen Konzeptionen. Und man war zunehmend bereit, an dieser Stelle den aktiven Beitrag disziplinierter Präsenz zu leisten. Gleichzeitig aber ist festzuhalten, daß sich ein wirklicher Wandel der Prinzipien innerdörflicher Vergesellschaftung dennoch nicht herbeiführen ließ. Die sozialen Bezüge der Gemeinschaftsfeste (Sonntag, Heiligentag, Patronatsfest, Kirchweih, Flurumgang) sowie der individualbiographischen Passageriten (Geburt, Hochzeit, Krankheit, Tod) veränderten sich. Man trennte – zeitlich und räumlich – diszipliniert-religiöses und erst vor diesem Hintergrund als „rauh“ oder „ungeschliffen“ und gleichzeitig ausschließlich „weltlich“ erscheinendes Verhalten. Dessen Dauerhaftigkeit zeigt, wie weit „Konfessionalisierung“ reichte: Man akkommodierte sich zunehmend den strikt religiösen Anforderungen, man beteiligte sich an einem korrekten und würdigen Vollzug des Kultus, und man schöpfte daraus als einer Quelle individueller und gemeinschaftlicher Identität. Auf diese Weise wollte man tun, was man tun mußte. Dieses Changieren zwischen Zwang und Selbstzwang aber war offen für komplexe Räume und subtile Refugien geistiger Freiheit, denn der allgemein geübten Liturgie und Religiosität wohnte eine große Bandbreite je stände-, schicht- und geschlechtsspezifischer Verständnisse inne. Dennoch wirkte der fortschreitende äußere Konfessionalisierungsprozeß unumkehrbar auf den religiösen Habitus ein: Eine fromme Gesellschaft zu sein wurde eine feste, geradezu unerschütterliche Selbstzuschreibung. Deren Kehrseite waren spezifische Ausgrenzungsmechanismen gegenüber Außenseitern: Fastenbrechern, offen Unkirchlichen oder Friedlosen, verlorenen Existenzen und ‚verkommenen Subjekten‘. Die ländliche Gesellschaft formulierte das Christliche im Bezugsfeld der Ehre. „Honor and purity“89 konnten nun auch in religiösen Zusammenhängen öffentlich dargestellt werden, etwa am Platz in der Kirche, an der zu kirchlichen Anlässen getragenen Kleidung, an den sonn- und festtäglich gepflegten kommunikativen Beziehungen und am frommen Aufwand, den man betrieb. Daraus folgten auch neue Investitionen in Heiligenstatuen, Wegkreuze, Kapellen und Bilder. Die barocke Sakrallandschaft als Gestaltungsaufgabe der Parochianen gehört eigentlich in diese Phase. Gleichzeitig dokumentierte die Persistenz des angelagerten „Brauchtums“ und der abweichenden Religiosität, daß die offiziellen religiösen Vollzüge nicht die gesamte soziale Wirklichkeit zu tragen und zu repräsentieren vermochten, die der gemeinschaftlichen Bearbeitung bedurfte. Daraus entstand ein spannungsreiches, aber lange Zeit toleriertes Nebeneinander von normierter und dem korporativen Selbstverständnis inhärenter religiöser Praxis, umrahmt von nicht konkurrierenden, aber je eigene Bedeutungsstrukturen 89

Vgl. James R. Farr, The Pure and Disciplined Body: Hierarchy, Morality, and Symbolism in France during the Catholic Counter-Reformation, in: JInterH 21, 1991, 391–414.

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und Heilshoffnungen tragenden Verhaltens- und Brauchtumsformen. Konfessionalisierung war auch in dieser Phase außerstande, zentrale Elemente einer katholischen Moral gegen die Ehrbarkeitsmentalität, die diffizilen Regeln des Sexuallebens und Heiratsmarktes, und nicht zuletzt gegen die Praktiken des magisch durchsetzten Wahrsagens und Heilens durchzusetzen. Dies gilt für die Masse der katholischen Bevölkerung bis in die 1770er Jahre hinein.90 Das alles bedeutet in schlichter Klarheit, daß im Blick auf eine Religionsoder Christentumsgeschichte der Frühen Neuzeit dem Jahr 1648 kein eigentlicher Epochen- oder Zäsurcharakter zukommt. Es wäre mit den Vertretern einer politikzentrierten Strukturgeschichte eigens zu klären, welche Valenz den Begriffen der „Säkularisierung“ und der „Modernisierung“ zukommt, wenn die „Konfessionalisierung“ – wie zustimmungsfähig angenommen – die Frühe Neuzeit als Epoche wesentlich mit qualifiziert. Diese Entwicklung auf den unteren, für die Masse und gesellschaftliche Geltung des Christentums ausschlaggebenden Ebenen wirkte auf die institutionelle Ebene kirchlicher Obrigkeit zurück. Aus den für Westfalen untersuchten Sendgerichten, einer ehemaligen Sanktionsinstanz mit ihrem Charakter als geistlichem „Straftheater“ (Richard van Dülmen), wurde zunehmend eine Bürokratie mit dem Anstrich einer verwaltenden „Dienstaufsicht“ über Kleriker, Küster und Kirchenfinanzen. Auf diese Weise verdünnte sich die Institution gleichsam. Ihre Bedeutung lag nicht mehr so sehr im konkreten Ahndungsvollzug als in der vorwegnehmenden Herbeiführung von Gehorsam im Gefühl der steten Gegenwärtigkeit von Kontrolle, so daß mit wachsender Akzeptanz der neuen religiösen Inhalte obrigkeitliche Überwachung und kommunale Selbstregulierung partiell verschmolzen. Insofern blieb der Umgang mit den programmatischen Versatzstücken des katholischen Konfessionalismus eklektisch. Dieser Eklektizismus aber war kein typisches Merkmal allein dörflicher Religiosität, gar „Volks“- oder „Unterschichten“-Religiosität. Der auswählende Umgang mit religiösen Normen und Sinngehalten eignete ebenso der Frömmigkeit und den Lebensformen des Adels, des an der Adelskultur partizipierenden clerus primarius wie des bürgerlich-städtischen oder kleinbürgerlich-ländlichen Niederklerus. Dieser weithin geübte ‚systemimmanente‘ Eklektizismus führte dazu, daß auch die religiöse Praxis des Konfessionalismus die sozialen und ständischen Grenzziehungen der Gesellschaft reproduzierte. So stellte das sozial integrative Moment der vielbeschworenen Barockfrömmigkeit gleichzeitig deren Barrieren und feine Unterschiede heraus: Tridentinische Frömmigkeit war 90

Als Konzeptionalisierungsversuch vgl.: Andreas Holzem, Bedingungen und Formen religiöser Erfahrung im Katholizismus zwischen Konfessionalisierung und Aufklärung, in: Paul Münch (Hrsg.), „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte. (HZ, Beihefte, NF., Bd. 31.) München 2001, 317–332.

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weder im religiösen noch im gesellschaftlichen Bereich eindeutig; ihr konnten höchst unterschiedliche gruppenspezifische Signifikanzen angelagert werden. Kurz: was integrierte, trennte zugleich.

III. 1800/1806 – Katholische Aufklärung und das Ende der Frühen Neuzeit Nur noch in Form von Andeutungen und Problemskizzen kann ich mich dem dritten Zentraldatum der Epochenimagination „Frühe Neuzeit“ aus der Perspektive einer katholischen Religionsgeschichte zuwenden. Das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts wurde traditionellerweise als „katholische Aufklärung“ beschrieben und bis in die 1970er Jahre hinein gleichsam als zur Frühen Neuzeit eigentlich nicht passender Rest, teils gar als überschießende Verirrung ausgeschieden.91 Der vor allem für süddeutsche oder habsburgische Territorien postulierte Gegensatz von „Volksfrömmigkeit“ und „katholischer Aufklärung“, von brauchtümlicher Beharrung und bürokratischer „Religions-Polizey“, oder von rituellem und rationalistischem Christentumsverständnis hat sich in der Einzelforschung als nicht tragfähig erwiesen.92 Denn hier wurden die Auseinandersetzungen nicht eigentlich um die Inhalte der Frömmigkeit, sondern um die Formen ihrer Ausübung geführt. Vor allem die Koexistenz von religiösen und gesellschaftlichen Bezügen rituellen Handelns verfiel unnachsichtiger Kritik und Sanktion. Die Trennung des Sakralen und Profanen wurde gleichsam nochmals schärfer markiert, indem das Sakrale sich aus sämtlichen profanen Bezügen zu lösen hatte, das Profane aber der Verfleißigung und Ernüchterung unterworfen wurde.93

91 Die Forschungsgeschichte und den Stand der Debatte repräsentiert Harm Klueting (Hrsg.), Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland. (Studien zum 18. Jahrhundert, Bd. 15.) Hamburg 1993. 92 Vgl. Christof Dipper, Volksreligiosität und Obrigkeit im 18. Jahrhundert, in: Wolfgang Schieder (Hrsg.), Volksreligiosität in der modernen Sozialgeschichte. (GG, Sonderh. 11.) Göttingen 1986, 73–96. Zur Problematik des Konzepts ‚Volksfrömmigkeit‘ oder ‚populare Religion‘ vgl. die kritischen Anmerkungen zu Begriff und Sache bei Wolfgang Brückner, Art. „Volksfrömmigkeit. I. Begriffsgeschichtlich“, in: Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Aufl., Bd. 10. Freiburg 2001, Sp. 858 f.; sowie sehr pointiert und völlig zutreffend ders., Probleme der Frömmigkeitsforschung. Religiöse Volkskunde im öffentlichen Bewußtsein (1998), in: ders., Frömmigkeit und Konfession. Verstehensprobleme, Denkformen, Lebenspraxis. (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte, Bd. 86: Volkskunde als historische Kulturwissenschaft. Gesammelte Schriften von Wolfgang Brückner, 10.) Würzburg 2000, 75–92. – Weiterhin: Holzem, „Volksfrömmigkeit“ (wie Anm. 75); Michael N. Ebertz, Von der Religion des Pöbels zur popularen Religiosität, in: Jb. für Volkskunde 19, 1996, 169–183; Holzem, Art. „Volksfrömmigkeit“ (wie Anm. 75). 93 Vgl. Holzem, Religion und Lebensformen (wie Anm. 59), 330–341, 398–412, 439–454.

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Die Rhetorik der Verwerfung übte hier einen seltsamen Effekt, indem sie eine durch Konfessionalisierung stark gewandelte soziale Praxis mit stets den gleichen Begriffen verurteilte und insofern die Wirkung generationenlanger Disziplinierung unbewußt und unbeabsichtigt verleugnete. Denn die religiösen Regulierungsbestrebungen nicht nur in den geistlichen Territorien des Nordwestens, sondern explizit auch des Südens verstanden sich nicht als Absetzungsbewegungen, sondern im Grunde als intensivere und effektivere Fortsetzung der Tridentinisierungsbemühungen des konfessionellen Zeitalters. Diese Kontinuität aber wurde nicht verstanden; ihre Rezeption daher weitgehend verweigert. Die Verkirchlichungs- und Sakralisierungstendenz des katholisch-aufgeklärten Politikstils zielte nun vornehmlich auf jene hergebrachten Lebensformen, die an der Nahtstelle von Individuum, Familie, Kirchspiel und Gesamtterritorium die religiöse und die gesellschaftliche Existenz miteinander verklammert und beides in eine typische Form von parochialem Zusammenleben hinein überführt hatten. Es gehörte zu den Eigentümlichkeiten gerade der katholischen Konfessionalisierung, daß sie den Glauben eng an die ihn vertretenden staatlichen und kirchlichen Institutionen gebunden und die ungebrochen in der Tradition stehende Kirche zu einem Gegenstand besonderer religiöser Verehrung erhoben hatte. Nun aber mußte es der breiten Bevölkerung scheinen, als verrieten kirchliche und staatliche Institutionen genau jene gemeinsame Basis der Verflechtung von Religion und Alltag, Herrschaft und Gesellschaft. Denn nun fiel das Weltliche der Verfleißigung und das Festliche der Ernüchterung anheim. Davon konnte das Religiöse nicht unberührt bleiben, obwohl es in programmatischer Konstanz zur konfessionellen Ära unverändert Bestand haben sollte: Es unterlag der Abstraktion und löste sich aus den dichten Bezügen zu alltäglichen Formen der Gesellschaftlichkeit.94 Wenn es unter modernisierungstheoretischem Blick-

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Wichtige Fallstudien zu Epochengrenze und -übergang aus religiositätsgeschichtlicher Perspektive: Rudolf Schlögl, Glaube und Religion in der Säkularisierung. Die katholische Stadt – Köln, Aachen, Münster – 1700–1840. München 1995; Vadim Oswalt, Staat und ländliche Lebenswelt in Oberschwaben 1810–1871. (K)ein Kapitel im Zivilisationsprozeß? (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde, Bd. 29.) Leinfelden-Echterdingen 2000; Werner K. Blessing, Gedrängte Evolution: Bemerkungen zum Erfahrungs- und Verhaltenswandel in Deutschland um 1800, in: Helmut Berding/Etienne François/Hans Peter Ullmann (Hrsg.), Deutschland und Frankreich im Zeitalter der Französischen Revolution. Frankfurt am Main 1989, 426–451; ders., Reform, Restauration, Rezession. Kirchenreligion und Volksreligiosität zwischen Aufklärung und Industrialisierung, in: Schieder (Hrsg.), Volksreligiosität (wie Anm. 92), 97–122; Thomas Mergel, Zwischen Klasse und Konfession. Katholisches Bürgertum im Rheinland 1794–1914. (Bürgertum, Bd. 9.) Göttingen 1994; Franz Xaver Bischof, Das Ende des Bistums Konstanz. Hochstift und Bistum Konstanz im Spannungsfeld von Säkularisation und Suppression (1802/03– 1821/27). (Münchener Kirchenhistorische Studien, Bd. 1.) Stuttgart/Berlin/Köln 1989; jetzt zusammenfassend Holzem, Personen (wie Anm. 75).

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winkel säkularisierende Wirkungen der Disziplinierung gegeben hat, dann an dieser Stelle und nicht nur unbeabsichtigt, sondern geradezu gegen alle Absicht. Die in Verbindung mit konkreter Frömmigkeit geübten Lebensformen hatten Gott und die Heiligen geerdet, hatten Sinn und Stabilität erzeugt und hatten in einem intensiven Austausch mit dem Jenseits verhindert, sich ausschließlich mit der irdischen conditio humana, für die auf dem Land vor 1800 kaum ein achtenswerter Fortschritt auszumachen war, „vertrösten“ zu müssen. Deren fortdauernde Härte ist unserer Anschauung und Erfahrung weitestgehend entzogen, muß aber nachdrücklich in die historische Argumentation eingeführt werden, wenn man zu erklären versucht, warum sich im ausgehenden Ancien Régime religiöse Bewußtseinslagen und Handlungsformen so rasch und konfliktreich auseinanderentwickelten. Wirklicher Wandel dieser frühneuzeitlichen conditio humana wurde der Landbevölkerung erst im späten 19. Jahrhundert erfahrbar. Religiositätsgeschichtlich war daher erneut die katholische Aufklärung als solche nicht eigentlich eine Zäsur. Es war eben jene konfliktreich implementierte „Barockreligiosität“, die eine Breiten- und Tiefenwirkung der (sich selbst christlich verstehenden) Aufklärung blockierte und die einen breiten Strom geprägten Verhaltens in das frühe 19. Jahrhundert überleitete: ein Faktor, der noch unter den Bedingungen der Urbanisierung, Industrialisierung und Milieubildung des Kaiserreichs – freilich vielfach gebrochen und neben anderen – Wirkung zeigte.95 95

Mittlerweile „klassisch“ zu nennende Überblicke: Thomas Nipperdey, Religion im Umbruch. Deutschland 1870–1918. München 1988; Kurt Nowak, Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. München 1995; Theoretische Grundlagen des Milieubegriffs: Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte (AKKZG) Münster, Katholiken zwischen Tradition und Moderne. Das katholische Milieu als Forschungsaufgabe, in: WestfF 43, 1993, 588–654; Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte (AKKZG) Münster, Konfession und Cleavages im 19. Jahrhundert. Ein Erklärungsmodell zur regionalen Entstehung des katholischen Milieus in Deutschland, in: HJb 120, 2000, 357–395; Andreas Holzem, Dechristianisierung und Rechristianisierung. Der deutsche Katholizismus im europäischen Vergleich, in: Kirchliche Zeitgeschichte. Internationale Halbjahresschrift für Theologie und Geschichtswissenschaft 11, 1998, 69–93. Wichtige Fallstudien: David Blackbourn, Wenn Ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen – Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes. Hamburg 1997; Michael Fischer, Ein Sarg nur und ein Leichenkleid. Sterben und Tod im 19. Jahrhundert. Zur Kultur- und Frömmigkeitsgeschichte des Katholizismus in Südwestdeutschland. Paderborn 2004; Nicole Priesching, Maria von Mörl (1812–1868). Leben und Bedeutung einer „stigmatisierten Jungfrau“ aus Tirol im Kontext ultramontaner Frömmigkeit. Brixen 2004; Wilhelm Damberg, Moderne und Milieu (1802–1998). (Geschichte des Bistums Münster, Bd. 5.) Münster 1998; ders., Abschied vom Milieu? Katholizismus im Bistum Münster und in den Niederlanden 1945–1980. (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Rh. B, Forschungen, Bd. 79.) Paderborn/München/Wien/Zürich 1997; Christoph

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IV. Fazit – Die Frühe Neuzeit als Epoche der Christentumsgeschichte Die Frühe Neuzeit als Epoche aus der Perspektive der Christentumsgeschichte zu charakterisieren, macht insofern Sinn, als sie grundlegend durch religiös determinierte Großprozesse bestimmt war: Reformation und Konfessionalisierung, die keineswegs Mitte des 17. Jahrhunderts in eine Stagnations- oder Dekompositionsphase überging. Allein im Blick auf Religion, Kirchen und Konfessionen aber kann die Frühneuzeit nicht qualifiziert werden; dafür reichen die Wurzeln des Reformatorischen zu tief ins späte Mittelalter hinein (vgl. I.) und die Ausläufer der katholischen Konfessionalisierung zu weit ins 19. Jahrhundert hinüber (vgl. III.). Vielmehr erweist sich als bestimmend, daß die Religion im Kontext der Frühen Neuzeit in stärkerem Maße als je auf Stützmittel zurückgriff, die sie selbst institutionell nicht produzieren konnte. Diese Stützmittel waren vor Kösters, Katholische Verbände und moderne Gesellschaft. Organisationsgeschichte und Vereinskultur im Bistum Münster 1918–1945. (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Rh. B: Forschungen, Bd. 68.) Paderborn/München/Wien/Zürich 1995; Antonius Liedhegener, Christentum und Urbanisierung. Katholiken und Protestanten in Münster und Bochum 1830–1933. (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Rh. B: Forschungen, Bd. 77.) Paderborn/München/Wien/Zürich 1997; Tobias Dietrich, Konfession im Dorf. Westeuropäische Erfahrungen im 19. Jahrhundert. (Industrielle Welt, Bd. 65.) Köln/Weimar/Wien 2004; Andreas Holzem, Kirchenreform und Sektenstiftung. Deutschkatholiken, Reformkatholiken und Ultramontane am Oberrhein 1844– 1866. (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Rh. B: Forschungen, Bd. 65.) Paderborn/München/Wien/Zürich 1994; Andreas Holzem, Das katholische Milieu und das Problem der Integration: Kaiserreich, Kultur und Konfession um 1900, in: Rottenburger Jb. für Kirchengeschichte 21, 2002, 13–39; Barbara Stambolis, Religiöse Festkultur. Zu Umbruch, Neuformierung und Geschichte katholischer Frömmigkeit in der Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, in: GG 27, 2001, 240–273. Weil die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Grundlagen der religiösen Entwicklung des 19. Jahrhunderts sich von denen der Frühen Neuzeit fundamental unterschieden, halte ich die kritische Diskussion um Olaf Blaschkes Konzept der „Zweiten Konfessionalisierung“ im 19. Jahrhundert für berechtigt; vgl. dazu Olaf Blaschke/Frank-Michael Kuhlemann, Religion in Geschichte und Gesellschaft. Sozialhistorische Perspektiven für die vergleichende Erforschung religiöser Mentalitäten und Milieus, in: dies. (Hrsg.), Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen. (Religiöse Kulturen der Moderne, Bd. 2.) Gütersloh 1996, 7–56; Olaf Blaschke, Das 19. Jahrhundert: Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter?, in: GG 26, 2000, 38–75; ders., Bürgertum und Bürgerlichkeit im Spannungsfeld des neuen Konfessionalismus von den 1830er bis zu den 1930er Jahren, in: Andreas Gotzmann/Till van Rahden (Hrsg.), Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800–1933. Tübingen 2001, 33–66; ders., Der „Dämon des Konfessionalismus“: Einführende Überlegungen, in: ders. (Hrsg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: Ein zweites konfessionelles Zeitalter. Göttingen 2002, 13–69; dagegen zentral: Anthony J. Steinhoff, Ein zweites konfessionelles Zeitalter? Nachdenken über die Religion im langen 19. Jahrhundert, in: GG 30, 2004, 549–570.

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allem zwei: die Intensivierung religiös motivierter Gruppenbildungen auf der einen Seite, auf der anderen Seite die konfessionelle Legitimierung von Institutionalisierungs- und Verstaatlichungsprozessen. Diese Doppelkonstellation erst räumte der Religion und ihrem ethischen System ganz ungewöhnliche Zugriffsmöglichkeiten auf Gestalt und Selbstbild der Gesellschaft als Ganzes, in Teilen oder selbst in dissidentischen Gruppen ein. Die Reformation in Deutschland verlief selbst als ein solcher DoppelProzeß, um dann in Europa sehr differenzierte Folgeprozesse dieser beiden Typen auszulösen. Und erst diese Gemengelage – nicht allein der Staatsbildungsprozeß, nicht allein der religiöse Intensivierungsprozeß einer „temps des reformes“ – erklärt die Konfliktträchtigkeit der Frühen Neuzeit ebenso wie die weit über die Mitte des 17. Jahrhunderts hinaus führenden religiösen und sozialethischen Anstrengungen. Diese Perspektive erlaubt, die Konfessionalisierung von der Staatsbildung (und implizit: Modernisierung) so weit abzutrennen, daß die in europäischer Perspektive höchst fragmentierten Träger dieses Stützungsprozesses angemessen berücksichtigt und nicht als Störfälle eliminiert werden müssen: neben dem entstehenden Staat, teilweise in konfessionellen Mischregionen hart konkurrierend, waren das neue oder erneuerte geistliche Institutionen, Adelsgruppierungen oder Stände, städtische und dörfliche Kommunen, religiöse Bewegungen, alle sie auch mit spezifischeren sozialen und politischen Zielsetzungen etc. Kennzeichnende Voraussetzung für die Frühe Neuzeit ist also die aus dem Spätmittelalter herauswachsende Konkurrenz religiöser Gruppenbildungen, die, anders als in den häretischen Bewegungen des Mittelalters, sich als auf Dauer unüberwindbar erwies. Die Entstehung und Verdichtung von Konfessionen konnte sich so nicht nur punktuell, sondern dauerhaft mit sozialen und politischen Strukturmerkmalen der Staaten- und Territorienbildung und – wichtig – den ihr entgegengesetzten Kräften verbinden. Beides, das hat im Prinzip schon Johannes Burkhardt gesehen, führte zu einer Verzahnung von religiösen Bewegungen und religiösem Streit mit staatlichen und kirchlichen Institutionenbildungen; und eben auch deren Gegnern – dies betont Heinz Schilling. Nur auf der Ebene des Reiches aber führte das dazu, die politischen Folgen konfessioneller Konkurrenz dissimulierend auszuschalten – bei aller Verzweiflung in der Rechtstheorie. Ansonsten blieb Konfessionalisierung als religiöser Formierungsprozeß von oben und von unten mit engen Verflechtungen in Gesellschaft, Kultur und eben auch Politik ein bestimmendes Signet der Frühen Neuzeit; über das „bis“ ließe sich nun gruppenspezifisch und regionalgeschichtlich trefflich streiten. Für konfessionshomogen-katholische Territorien, so viel scheint klar, muß selbst die so apostrophierte „Katholische Aufklärung“ als Ausläufer des Konfessionalisierungsprozesses verstanden werden. Welche Auswirkungen das auf Bildung und Kultur hatte, ist relativ gut erforscht; sehr wenig wissen wir hingegen bislang zu den ökonomischen und sozialen Kon-

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sequenzen, weil wir uns mit Max Webers Protestantismus-KapitalismusThese allzu lang bequem eingerichtet glaubten.96 Daher ist das „Epochale“ der Frühen Neuzeit nur unvollständig erfaßt, wenn die Religion nur als Kitt institutionell unfertiger Staaten beschrieben wird. Fragt man nach Funktionslücken und Paßungenauigkeiten des Konfessionalisierungskonzepts in den Studien der letzten fünf Jahre, gerade auch auf europäischer Ebene, drängt sich die Einsicht auf: „It’s the state – stupid!“97 Auch in meinen eigenen Untersuchungen hat die Zusammenführung 96

Vgl. Andreas Holzem, Katholizismus als „Ethik des Vormodernen“? Max Webers Blick auf die Konfessionen und die Katholizismusforschung heute, in: zur debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern 35/3, 2005, 26–28. 97 Genauere Analysen zum Verhältnis von Konfessionalisierung und Staatsbildung und die Entwicklung eines flexiblen Merkmalsclusters zur differenzierten Analyse solcher Überlagerungsprozesse frühneuzeitlicher Entwicklungslinien habe ich versucht in: Holzem, Die Konfessionsgesellschaft (wie Anm. 31), hier umfangreiche, auch regionalgeschichtliche und lokalgeschichtliche Lit. Diese Überlegungen setzten sich vor allem mit der sogenannten Etatismus-Debatte auseinander, die durch Kritiken in den und AntiKritiken der Arbeiten Heinrich Richard Schmidts ausgelöst worden ist; vgl. z. B. Schmidt, Sozialdisziplinierung? (wie Anm. 29), 639–682; dazu Heinz Schilling, Disziplinierung oder „Selbstregulierung der Untertanen“? Ein Plädoyer für die Doppelperspektive von Makro- und Mikrohistorie bei der Erforschung der frühmodernen Kirchenzucht, in: HZ 264, 1997, 677–680. Schilling formulierte, vor allem in seinen konzeptionell weiterentwikkelnden Aufsätzen, die Rolle des Staates und die Tendenz zur Modernisierung vorsichtiger: „Der Begriff soll bezeichnen einen gesellschaftlichen Fundamentalvorgang, der in meist gleichlaufender, bisweilen auch gegenläufiger Verzahnung mit der Herausbildung des frühmodernen Staates, mit der Formierung einer neuzeitlich disziplinierten Untertanengesellschaft, die anders als die mittelalterliche Gesellschaft nicht personal-fragmentiert, sondern institutionell-flächenmäßig organisiert war, sowie parallel zur Entstehung des modernen kapitalistischen Wirtschaftssystems das öffentliche und private Leben in Europa tiefgreifend umpflügte. […] Dabei wirkten die kirchlich-religiösen, politischen, sozialen und ökonomischen Kräfte nach Art eines Syndroms […] von an sich jeweils originären Wirkfaktoren, die in wechselseitiger Beeinflussung gemeinsam die Gesamtrichtung des Wandels bestimmen.“ Schilling, Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft (wie Anm. 27), 4. Für das Verständnis der Debatte um den ‚Etatismus‘ in der Konfessionalisierungsforschung ist zu beachten, daß Reinhard den Begriff enger faßt. Er löst bei ihm zwar als „sozialwissenschaftlich angereicherte Variante der Deutung des Phänomens“ Zeedens Begriff der ‚Konfessionsbildung‘, nicht aber den des ‚Konfessionellen Zeitalters‘ ab. ‚Konfessionalisierung‘ meint hier ausschließlich einen „genau definierten und beschriebenen, von den Obrigkeiten betriebenen (!) Prozeß“, der nicht alle Alternativen des Zeitalters mit umgreifen muß; vgl. ders., Rez. „Heinrich Richard Schmidt, Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert“, in: ZHF 22, 1995, 267–269, Zitate 268 f.; Dietmar Willoweit, Katholischer Konfessionalismus als politisches und rechtliches Ordnungssystem, in: Reinhard/Schilling (Hrsg.), Katholische Konfessionalisierung (wie Anm. 20), 228–241, 232, faßt Konfessionalisierung zugleich als „Reform des politischen Gemeinwesens“ und „Stabilisierung des Obrigkeitsstaates“, welche Entwicklung des Fundamentes der „alle Untertanen in gleicher Weise verpflichtenden Religion“ unabdingbar bedurfte. Allerdings sieht er diese Tendenz als Fortschreibung spätmittelalterlich-landesherrlichen Engagements für kirchliche Reform und Disziplin und fragt hypothetisch, „ob nicht eine entsprechende Entwicklung auch unter den Bedingungen

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von Konfessionalisierung und Staatsbildung besonders schlecht funktioniert98; im Ergebnis sind die Träger und institutionellen Stützen der Konfessionalisierung äußerst vielfältig; und damit rücken neben der Staatsbildung die kirchliche Institutionenverdichtung und -vervielfältigung, die religiöse Praxis und ihre kulturelle und mentale Eigenlogik, aber eben auch die Gesellschaftsformierung und die (möglicherweise konkurrierende) regionale und lokale Identitätsbildung in den Vordergrund der Konfessionalisierungsforschung.99 einer fortbestehenden Einheitskirche hätte ablaufen müssen“. Daher erhält bei ihm „religionspolitische Territorialisierung“ den Vorrang vor „Konfessionalisierung“. – Mein eigener Ansatz hingegen versteht sich als Versuch, möglichst umfassend die in der derzeitigen Diskussion benannten Faktoren im Rahmen der Großdimensionen „Konfessionalisierung“ – „Staatsbildung/Sozialdisziplinierung“ – „Kommunalität – lokale Lebenswelt“ zueinander in Beziehung zu setzen (Holzem, Die Konfessionsgesellschaft [wie Anm. 31], 82–87) und dabei die „enge Verzahnung von Religion und Gesellschaft bzw. Staat und Kirche“ (Schilling, Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft [wie Anm. 27], 41) zu visualisieren. Dennoch müssen die drei Hauptdimensionen als einander flexibel zugeordnet vorgestellt werden: Sie erlauben dann jeweils neue Bezüge zwischen den prinzipiell als gleichrangig wirksam zu verstehenden „Feldern“ neuzeitlichen Wandels. Zudem behalten die drei zentralen Dimensionen des Prozesses eine von den jeweils anderen Feldern nur bedingt beeinflußbare Eigengesetzlichkeit und Eigendynamik. Gegen den Vorwurf einer teleologischen Fixierung auf ‚Staat‘ und ‚Moderne‘ ist das Konfessionalisierungsparadigma nur durch einen ergebnisoffenen Ansatz zu sichern, welcher der Christentums- und Religiositätsgeschichte einen gleichsam ‚entfunktionalisierten‘ Eigenraum zugesteht. Das heißt nicht, daß ein solcher Ansatz – wie bei Ziegler postuliert – die Binnenlogik der jeweiligen konfessionellen Christentümer fortzuschreiben hätte, derzufolge der Katholizismus als Hauptstamm, die Protestantismen als Abzweigungen zu gelten hätten (vgl. oben bei Anm. 20–22). – Anhand der These der ‚Ergebnisoffenheit‘ deckt sich meine Konzeption mit der nachfolgenden Interpretation Schlögls, der am Beispiel der Habsburgischen Vorlande ‚Konfessionalisierung‘ behandelt als „offenes Geschehen […], das multizentrisch ablief und auf unterschiedlichen Ebenen der sozialen Ordnung auch unterschiedliche Erfahrungswirklichkeiten produzierte“; Schlögl, Differenzierung (wie Anm. 29), 281. 98 Das bestätigt Alexander Jendorff für das geistliche Kurfürstentum Mainz: „Weiterführender aber als die zunehmend schärfer werdende Diskussion historischer Schulen muß dagegen die Frage nach dem immer noch gängigen Staatsbild und -verständnis erscheinen. Denn allen Konzessionen zum Trotz bleibt das Bild des werdenden starken Staates im Hintergrund beinahe unversehrt bestehen. […] ,Staat‘ und staatliche Verwaltung [sind] nicht eo ipso als starke und ebensowenig automatisch gleichgesinnte Elemente zu begreifen. […] Die Auswirkungen auf das teleologische Epochenverständnis der Konfessionalisierungsforschung sind nicht zu unterschätzen. Während sie nämlich auf die Ausbildung neuer bürgerlich dominierter Großgruppen durch den Territorialstaat vor dem Hintergrund der Konfessionalisierung hinwies, übersah sie sowohl die Entwicklung der traditionellen Beziehungsgeflechte als auch deren soziale Mechanismen im Umgang mit Wandel jeder Art und insbesondere mit kirchlich-religiösem Wandel.“ Vgl. Jendorff, Reformatio catholica (wie Anm. 38), 16–18. 99 Vgl. ebd. 19: „Nicht der monarchisierende, monodynastisch regierte, protoabsolutistische Fürstenstaat, sondern der in seinen klientelistisch-korporativen Bezugsweisen nach anderen Mechanismen funktionierende geistliche Staat, der sich vom säkularen Fürsten-

Katholische Konfessionalisierung

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Es waren die Französische Revolution und in ihrem Gefolge die Napoleonischen Kriege und der Zusammenbruch des Alten Reiches mit Reichsdeputationshauptschluß und Säkularisation, der diese epochebildende Struktureigentümlichkeit der Frühen Neuzeit zerbrach.100 Religion war nun gehalten, sich in grundlegend veränderten Konstellationen in gesellschaftliche und kulturelle Tiefen- und Breitenwirkung hinein zu institutionalisieren. Mit der Ausbildung des „Katholischen Milieus“ ist das dem Katholizismus vergleichsweise effizient und nachhaltig gelungen. Daß der Protestantismus, aber auch das Judentum hier ganz andere Wege gingen, erklärt viel von den Ungleichzeitigkeiten der Moderne selbst, nicht zuletzt vom scharfen Gegensatz der relativ abgeschlossenen Konfessionskulturen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein.

staat in Dynamik und Wirkkraft unterschied, war der eigentliche Träger der kirchlichkatholischen Reform. Er besaß darüber hinaus den strukturellen Vorteil der ,natürlichen‘ Identität von Land und Kirche/Konfession, das durch ein theoretisches Expansionspotential innerhalb der Bistumsgrenzen erweitert wurde. Daraus resultiert die Frage, ob für die katholische Konfessionalisierung der Aspekt der Staatswerdung generell unter denselben Prämissen beurteilt werden darf, wie dies für die protestantischen Fürstenstaaten der Fall ist, oder ob nicht die Entwicklung hin zum modernen Macht- und später Nationalstaat nur einen spezifischen Zwang für den im 16. Jahrhundert noch nicht hinreichend gefestigten und deshalb unter Rechtfertigungs- und Weiterentwicklungsdruck stehenden säkularen, monodynastischen Fürstenstaat ausdrückt.“ 100 Vgl. aus der anhand des Jubiläumsjahres 2003 erschienenen Lit. Volker Himmelein/ Hans Ulrich Rudolf (Hrsg.), Alte Klöster – Neue Herren. Die Säkularisation im Deutschen Südwesten 1803. 2 Bde. Ostfildern 2003; Peter Blickle/Rudolf Schlögl (Hrsg.), Die Säkularisation im Prozess der Säkularisierung Europas. (Oberschwaben – Geschichte und Kultur, Bd. 13.) Epfendorf 2005, darin u. a. Andreas Holzem, Säkularisation in Oberschwaben. Ein problemgeschichtlicher Aufriss, 261–299; mit Überlegungen zur Strukturund Religiositätsgeschichte der Säkularisation jenseits des regionalgeschichtlichen Aspekts; Harm Klueting (Hrsg.), 200 Jahre Reichsdeputationshauptschluss. Säkularisation, Mediatisierung und Modernisierung zwischen Altem Reich und neuer Staatlichkeit. Tagung der Historischen Kommission für Westfalen vom 3.–5. April 2003 in Corvey. (Schriften der historischen Kommission für Westfalen, Bd. 19.) Münster 2005; Rolf Decot (Hrsg.), Kontinuität und Innovation um 1803. Säkularisation als Transformationsprozeß: Kirche – Theologie – Kultur – Staat. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. für abendländische Religionsgeschichte, Beih. 65.) Mainz 2005; vgl. weiter Rudolf Vierhaus, Säkularisation als Problem der neueren Geschichte, in: Irene Crusius (Hrsg.), Zur Säkularisation geistlicher Institutionen im 16. und im 18./19. Jahrhundert. Göttingen 1996, 13–30; Kurt Andermann, Die geistlichen Staaten am Ende des Alten Reiches, in: HZ 271, 2000, 593–619.

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Christian Grosse Wenn Historiker sich der „Zeit“ zugewandt haben, sind sie zu wenigstens zwei Schlußfolgerungen gekommen: Erstens ist die Zeit kein natürlicher Maßstab, sondern ein kulturelles Erzeugnis. Sie ist unter verschiedenen Gesichtspunkten oder nach sozialen Notwendigkeiten und kulturellen Bedingungen organisiert und charakterisiert. Das heißt, zweitens, daß eine Pluralität von Zeitlichkeiten innerhalb einer Gesellschaft koexistiert. Fernand Braudel hat zum Beispiel gezeigt, daß verschiedene Realitäten auch unterschiedliche Zeitspannen definieren.1 Jacques Le Goff erinnert uns daran, daß sich innerhalb einer Epoche verschiedene Zeitempfindungen überschneiden. Er unterscheidet innerhalb der „zahlreichen erlebten Zeitspannen“ die „zyklische Zeit der Liturgie“ von der „linearen Zeit“ der Geschichte und der „sakralen und orientierten“ Zeit der Theologen.2 David Cressy hat bemerkt, daß sich die Erfahrung der Zeit je nach Situation oder sozialer Position unterscheidet.3 Eric J. Hobsbawm hat seinerseits die Idee verworfen, daß die Tradition eine natürliche, aus der Geschichte hervorgegangene Größenordnung sei, indem er ihr den Begriff von Erfindung zuordnete: die „Erfindung der Traditionen“ ist, so Hobsbawm, ein vergangenheitsbezogener „Formalisierungs- und Ritualisierungsprozeß“. Er beobachtete dazu, daß „der wirkliche Entstehungsprozeß solcher ritueller und symbolischer Einheiten von den Historikern nicht angemessen untersucht wurde“, und merkte auch an, daß zu den Disziplinen, die eine Erfassung der symbolischen Bedeutung der Traditionen erlauben, auch die „Untersuchung der Liturgie“ gehöre.4

1

Fernand Braudel, Histoire et sciences sociales. La longue durée, in: ders., Ecrits sur l’histoire. Paris 1969, 41–83. Ich danke Christel Grosse für die Übersetzung der ersten Fassung dieses Textes, und Christoph Conrad, Sylvie Gentizon und Johannes Lackner für die Korrektur des deutschen Textes. 2 Jacques Le Goff, Au Moyen Âge: temps de l’Eglise et temps du marchand, in: ders., Pour un autre Moyen Âge. Temps, travail et culture en Occident. Paris 1977, 46–65; ders., Temps, in: Dictionnaire raisonné de l’Occident médiéval. Paris 1999, 1113–1122. 3 David Cressy, The Protestant Calendar and the Vocabulary of Celebration in Early Modern England, in: The Journal of British Studies 29/1, 1990, 32; eine ähnliche Perspektive findet man in Robert W. Scribner, Cosmic Order and Daily Life: Sacred and Secular in Pre-Industrial German Society, in: ders., Popular Culture and Popular Movements in Reformation Germany. London/Ronceverte 1987, 1–16. 4 Eric Hobsbawm, Introduction: Inventing Traditions, in: Eric Hobsbawm/Terence Ranger (Eds.), The Invention of Tradition. Cambridge 1983, 1–14.

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Es sind diese Formalisierungs- und Ritualisierungsprozesse, die ich hier analysieren möchte. In dieser Perspektive wird die Liturgie als ein zentrales Instrument der Formalisierung und Bestimmung der zeitlichen Repräsentationen gesehen. Die liturgische Aktion strukturiert die Zeit und setzt die zelebrierende Gemeinde in verschiedene Zeitlichkeiten ein. Diese Funktion der Liturgie wird im Rahmen der Reformierten Kirchen im französischen Sprachgebiet zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert untersucht. Diese lange Zeitspanne ermöglicht einerseits, die Rolle der Liturgie in der Festigung einer gemeinsamen Tradition zwischen den geographisch zerstreuten reformierten Kirchen während des 16. und 17. Jahrhunderts zu analysieren, andererseits ermöglicht sie auch, die gründlichen Reformen der liturgischen Ordnung, die am Ende des 17. Jahrhunderts und am Anfang des 18. Jahrhunderts stattfanden und die einen Bruch in dieser Tradition bewirkten, in einem Blick zu erfassen. * Nach seiner Rückkehr nach Genf im Jahr 1541 machte sich Calvin sofort daran, die kirchlichen Ordnungen5, den Katechismus6 und die Liturgie7 zu verfassen. Diese Texte definierten die gesetzlichen und theologischen Grundlagen der Kirche und das rituelle System, innerhalb dessen sich das religiöse Leben nunmehr abspielt. Durch den neuen liturgischen Kalender, der zwischen 1541 und 1550 definitiv geregelt wurde, wurde die religiöse Einrahmung der Zeit von Grund auf verändert: alle Festtage wurden abgeschafft, sogar Weihnachten wurde nicht mehr als ein Festtag betrachtet; der Sonntag, der zur Erinnerung und zum Nachdenken über die Predigten genutzt werden mußte, blieb der einzige arbeitsfreie Tag.8 Ein einfacher und gleichförmiger liturgischer Kalender, der den Ablauf der Zeit mit Kontinuität zu prägen versuchte und der mehr in Übereinstimmung mit der sozialen Zeit stand, ersetzte den komplexen mittelalterlichen liturgischen Kalender, der im Gegenteil die Zeit durch eine differenzierte religiöse Deutung der Tage mit

5 Jean-François Bergier et al. (Eds.), Registres de la Compagnie des Pasteurs de Genève. 13 Vols. Genf 1962–2001, Vol. 1, 1–13. 6 Olivier Fatio (Ed.), Confessions et catéchismes de la foi réformée. Genf 1986, 25–110. 7 Joannis Calvini Opera quae supersunt omnia. Ed. Guilielmus Baum, Eduardus Cunitz, Eduardus Reuss. 59 Vols. Braunschweig/Berlin 1863–1900, Vol. 6, c. 173–202. 8 Über die Reformen des liturgischen Kalenders in Genf: Supplementa Calviniana. T. 7: Erwin Mülhaupt (Hrsg.), Psalmpredigten, Passions-, Oster- und Pfingstpredigten; Sermones selectorum Psalmorum. Neukirchen-Vluyn 1981, XLII–XLVII; T. 8: Willem Balke/ Wilhelmus H. Th. Moehn (Eds.), Sermones in Acta Apostolorum cap. 1–7; Sermons on the Acts of the Apostles chap. 1–7. Neukirchen-Vluyn 1994, IX–XI; Marianne Carbonnier-Burkard, Jours de fêtes dans les Églises réformées de France au XVIIe siècle, in: Études théologiques et religieuses 68/3, 1993, 347–358; Max Engammare, L’ordre du temps. L’invention de la ponctualité au XVIe siècle. Genf 2004, 47–81.

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Kontrasten zu prägen versuchte.9 In der reformierten Sicht haben die Tage keinen eigenen religiösen Wert, keine eigene Funktion; der liturgische Kalender entspricht nur der Notwendigkeit, die Christen zu gewissen Zeiten zu versammeln, um den Gottesdienst zu feiern. Ein polemisches Traktat deutete diese Lehre klar: „Les jours sont tous égaux, et l’un n’est point plus sainct que l’autre de sa nature, ne par l’ordonnance de Dieu“.10 Von einer Säkularisierung der Zeit durch eine Entsakralisierung der Tage kann aber nicht gesprochen werden. Die Regelmäßigkeit des reformierten liturgischen Kalenders erfüllte eher die Notwendigkeit, die soziale und die religiöse Zeit eng zu verbinden. Sie schuf die Verhältnisse, in denen eine kontinuierliche religiöse Erbauung im Rahmen des Alltags stattfinden konnte. Typisch für diese Vorstellung der Zeit ist die von den Predigern befolgte Regel der lectio continua: der tägliche Kommentar der biblischen Texte von der Kanzel, von Tag zu Tag, sollte eine kontinuelle Vertiefung des Glaubens bilden.11 Die verschiedenen Gottesdiente in der Woche – die täglichen Predigten, die öffentlichen Gebete, die einmal in der Woche gefeiert wurden, die sonntäglichen Gottesdienste und der Katechismus, der auch am Sonntag stattfand –, sie alle bildeten auch einen eigenen Rhythmus, der zur Heiligung der Gläubigen beitrug. Jeder der verschiedenen Gottesdienste hatte seine eigene Liturgie, welche aber der Liturgie des sonntäglichen Gottesdienstes angepaßt war. Die je abwechselnde Betonung der Gottesdienste auf einem Kommentar der Bibel durch die Predigt, auf Gebet, Buße, Unterricht oder auf einer Danksagung, prägte den alltäglichen Zeitablauf. Durch die Abschaffung der Festtage wurde eigentlich aus jedem Tag ein Tag für die Erfüllung der Heiligung gemacht. Dieser liturgische Rhythmus der Woche fügte sich außerdem in eine quasi trimestrielle Struktur ein, welche durch die vier jährlichen Abendmahlsgottesdienste bestimmt wurde. Das Abendmahl wurde nämlich an Weihnachten, Ostern, Pfingsten und am ersten September-Sonntag gefeiert. Dieser Kalender war ein Kompromiß zwischen der calvinistischen Forderung von wenigstens einem Abendmahl monatlich und den lokalen Gewohnheiten, 9

Pierre-Marie Lafrasse, Etude sur la liturgie dans l’ancien Diocèse de Genève. Genf 1904, 53–69; Francesco Maiello, Histoire du calendrier de la liturgie à l’agenda. Trad. de l’italien par Nathalie Bauer. Paris 1996, 58 f. 10 [Agostino Mainardo,] Anatomie de la messe et du messel… s.l. [Jean Crespin] 1552, 62. 11 Rodolphe Peter, Rhétorique et prédication selon Calvin, in: Revue d’histoire et de philosophie religieuse 55/2, 1975, 260–262; Olivier Millet, Calvin et la dynamique de la parole. Étude de rhétorique réformée. Paris/Genf 1992, 207–224; Max Engammare, Le Paradis à Genève: Comment Calvin prêchait-il la chute aux Genevois?, in: Études théologiques et religieuses 69/3, 1994, 334–339; Elsie McKee, Calvin and His Colleagues as Pastors: Some New Insights into the Collegial Ministry of Word and Sacraments, in: Calvinus Præceptor Ecclesiæ. Papers of the International Congress on Calvin Research. Princeton, August 20–24 2002. Genf 2004, 32 f.

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welche nur drei Abendmahlsfeiern kannten: Weihnachten, Ostern und Pfingsten.12 Die so gebildete trimestrielle Struktur verband die Erinnerung an die wichtigsten Ereignisse in der Geschichte des Heils mit einer Regelmäßigkeit, welche die Abendmahlsfeier in den alltäglichen Zeitablauf einbrachte. Somit waren geistliche und weltliche Zeiten aufeinander abgestimmt. Einer mittelalterlichen Struktur, in der die Heiligenfeiern im bürgerlichen und wirtschaftlichen Leben als Referenz gedient hatten13, folgte eine eher gleichförmige Zeit. Die Einführung dieser Zeitstruktur hatte entscheidende Folgen. Im Umfeld der vier Abendmahlsfeiern entwickelte sich eine ganze Reihe von Gebräuchen und Ritualen, die das liturgische System der Kommunion bildeten.14 Die Abendmahlsfeiern fanden in der Tat nicht ohne verschiedene vorbereitende Prozeduren in den zwei Wochen vor der Feier statt. Während des Gottesdienstes am Sonntag vor dem Abendmahl erteilten die Pastoren Mahnungen und Ermunterungen von der Kanzel.15 Leute, die der Gemeinschaft fremd waren, die zum ersten Mal kommunizierten, bestätigten bei dieser Gelegenheit ihren Glauben; Kinder bestätigten ihn innerhalb einer feierlichen Zeremonie.16 Das Konsistorium hielt in dieser Woche zwei Sitzungen ab statt, wie gewohnt, nur eine.17 Dazu wurden fast doppelt so viele Leute eingeladen. In dieser Woche versuchte das Konsistorium, in größerer Dringlichkeit alle Verfahren zu erledigen. Die in Konflikt stehenden Parteien wurden aufgefordert, sich zu versöhnen. Die skandalösen Sünder mußten sich während

12

Bergier et al. (Eds.), Registres de la Compagnie des Pasteurs de Genève (wie Anm. 5), Vol. 1, 9. 13 Eamon Duffy, The Stripping of the Altars. Traditional Religion in England 1400–1580. New Haven/London 1992, 11–52. 14 Markus Jenny, Die Einheit des Abendmahlsgottesdienstes bei den elsässischen und schweizerischen Reformatoren. Zürich/Stuttgart 1968, 134–136; Bernard Roussel, Comment faire la cène? Rite et retour aux Écritures dans les Églises réformées du Royaume de France au XVIe siècle, in: Evelyne Patlagean/Alain Le Boulluec (Eds.), Les retours aux Écritures, fondamentalismes présents et passés. Löwen/Paris 1993, 198. 15 Christian Grosse, „Le mystère de communiquer à Jésus-Christ“. Sermons de communion à Genève au XVIe siècle, in: Matthieu Arnold (Ed.), Annoncer l’Évangile. Permanences et mutations de la prédication. Actes du colloque international de Strasbourg (20–22 novembre 2003). Paris 2006, 161–182. 16 Joannis Calvini Opera (wie Anm. 7), Vol. 6, 193–197; Bergier et al. (Eds.), Registres de la Compagnie des Pasteurs de Genève (wie Anm. 5), Vol. 1, 9 und 11, Vol. 2, 139; Wilhelm Niesel, Die Konfirmation nach einem reformatorischen Formular, in: Evangelische Theologie 1, 1934, 296–307; Rodolphe Peter, L’abécédaire genevois ou catéchisme élémentaire de Calvin, in: Revue d’histoire et de philosophie religieuse 45, 1965, 11–45; Thomas A. Lambert, Preaching, Praying and Policing the Reform in Sixteenth-Century Geneva. PhD Madison 1998, 540. 17 Archives d’État de Genève (künftig: AEG), RC 35, f. 549 (4 april 1542).

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des Gottesdienstes einer öffentlichen Buße unterziehen. Zu dieser Zeit wurde eine bedeutende Anzahl von Gläubigen von der nächsten Kommunion ausgeschlossen, um die Sakralität des Abendmahls zu schützen. Diese disziplinäre Aktion reichte bis in die Familien: Hausbesuche wurden organisiert, besonders vor der Osterkommunion.18 Auch das Leben der staatlichen und kirchlichen Institutionen nahm in dieser Vorbereitungsphase eine besondere Orientierung an. Mitglieder aller dieser Institutionen unterwarfen sich einer vertraulichen und gegenseitigen Prüfung der Ausführung ihrer Ämter.19 In den Wochen vor und nach der Kommunion waren die Gerichtsprozesse ebenfalls unterbrochen.20 Das gemeinsame Leben wurde somit durch den Rhythmus des liturgischen Systems maßgeblich bestimmt. In einer durch die Aufhebung der Festtage abgeflachten Zeit waren die Abendmahlsfeiern ein spiritueller Höhepunkt, deren Auswirkungen sich in allen Sphären des sozialen Lebens bemerkbar machten. Die Zeit des Abendmahls war zwar, so Bernard Roussel, „eine Zeit außerhalb der Zeit“, weil dann eine spezifische Sprache benutzt wurde, die stark von Metaphern und Analogien geprägt war.21 Diese außerordentliche Zeit blieb aber, besonders durch die disziplinarischen Verfahren, die zur Vorbereitungsphase gehörten, eng mit der gewöhnlichen Zeit verknüpft. So war die Gegenwart in eine Geschichte des Heils eingefügt, die ihr einen transzendenten Wert gab; außerdem wirkte die Kommunion wie eine regelmäßige Aufforderung des Heiligungsprozesses. Jede Abendmahlsfeier war ein kompletter Zyklus der Buße, des Vergebens und der Erbauung, der auf einer gemeinschaftlichen Ebene erlebt wurde. In jedem Abendmahl erkannte die Gemeinde, daß sich ihre Gegenwart in der Zeitspanne zwischen Sündenfall und Heiligung befand. Diese kollektive Einschreibung in die spirituelle Zeit der Heiligung entsprach nicht allein der Struktur des liturgischen Kalenders. Sie entstand auch auf Grund der Geschichte, die die Liturgie wiedergab und die die Glaubensgemeinschaft während des Abendmahls aktualisierte. Die wichtigsten Etappen der Heilsgeschichte wurden ja in der Liturgie der Reihe nach betont. 18

Robert M. Kingdon, The Control of Morals in Calvin’s Geneva, in: Lawrence P. Buck/ Jonathan W. Zophy (Eds.), The Social History of the Reformation. Columbus, Oh. 1972, 3–12; E. William Monter, The Consistory of Geneva, 1559–1569, in: Bibliothèque d’humanisme et Renaissance 38, 1976, 467–484; Scott M. Manetsch, Pastoral Care East of Eden: The Consistory of Geneva, 1568–82, in: Church History 75/2, 2006, 274–313. 19 Bergier et al. (Eds.), Registres de la Compagnie des Pasteurs de Genève (wie Anm. 5), Vol. 1, 5; Émile Rivoire/Victor van Berchem (Eds.), Sources du Droit du Canton de Genève. 4 Vols. Aarau, 1927–1935, Vol. 3, 52, 54, 150, 249, 262, 281, 22; AEG, RC 65, f. 16v–17. 20 Rivoire/van Berchem (Eds.), Sources du Droit (wie Anm. 19), 470, 499. 21 Bernard Roussel, „Faire la Cène“ dans les Églises réformées du Royaume de France au seizième siècle (ca 1555–ca 1575), in: Archives de sciences sociales des religions 85, 1994, 103 f.

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Der Gottesdienst begann mit einem Gebet, das an einen Ursprung erinnert. Es begann mit der Anerkennung der göttlichen Figur als Schöpfer allen Lebens.22 Das folgende Glaubensbekenntnis erinnerte dann an ein anderes Geschehen: den Sündenfall und seine Folgen für die Menschheit.23 Nach der Predigt wurden im großen Fürbittegebet die Leiden der Gläubigen und der gesamten Kirche aufgezählt.24 Die Gegenwart wurde somit als die Zeit charakterisiert, in der der Glaube der Christen auf die Probe gestellt wurde. Diese Stelle in der Liturgie wies direkt auf die historischen Realitäten hin, die die reformierten Kirchen erfuhren: die konfessionellen Konflikte, die Verfolgung der Reformierten, sogar ihr Martyrium wurden hier genannt.25 Mit der darauf folgenden Erzählung der Gründung des Abendmahls wurde ein grundlegendes spirituelles Ereignis aus der Vergangenheit erwähnt und gleichzeitig eine Perspektive in die Zukunft eröffnet. Dieses liturgische Motiv wurde durch ein Gebet eingeleitet, das daran erinnerte, daß „nostre Seigneur Jesus, non seulement t’a une fois offert en la croix son corps et son sang, pour la remission de noz pechez: mais aussi les nous veult comuniquer, pour nourriture en vie eternelle“.26 Dies war eine wichtige theologische Grundlegung: Das Gebet betonte, im Gegensatz zur römischen Lehre, die die Messe als Wiederholung des Opfers Christi betrachtete, daß dieses erlösende Opfer ein einzigartiges Ereignis sei, das der Vergangenheit angehört, dessen spiritueller Einfluß jedoch weiterhin spürbar ist. Der Text, direkt von Paulus übernommen, war derart verfaßt, daß eine Figur der Vergangenheit, nämlich die des leibhaftigen Christus, der Gemeinde eine für ihre Zukunft wichtige Botschaft vermittelte.27 Die Glaubensgemeinschaft befand sich also in der Mitte zwischen einem Ereignis der Vergangenheit, das die Geschichte des Christentums begründete, und einer Zukunft, die durch die Erlösung der Sünde identifiziert wurde. Die darauf folgende liturgische Rede erklärte die22

„Nostre aide soit au Nom de Dieu, qui a faict le Ciel et la terre, Amen“; Joannis Calvini Opera (wie Anm. 7), Vol. 6, 173. 23 „Seigneur Dieu […] nous confessons et recongnoissons sans feinctise, devant ta saincte Majesté, que nous sommes paovres pecheurs, conceuz et nez en iniquité et corruption“; ebd. 24 „O Dieu de toute consolation, nous te recommandons tous ceux que tu visite et chastie, par croix et tribulation. […] Finalement, O Dieu et Pere, concede nous aussi à nous, qui sommes icy congregez au Nom de ton Filz Jesus, à cause de sa Parolle et de sa saincte Cene, que nous recongnoissions […] en quelle perdition nous sommes naturellement“; ebd. 177. 25 „Singulierement nous te recommandons tous nos povres freres, qui sont espars sous la tyrannie de l’Antechrist, […] mesme qui sont detenus prisonniers ou persectuez par les ennemis de ton Evangile: qu’il te plaise […] les fortifier par la vertu de ton Esprit, tellement qu’ils ne defaillent jamais, mais qu’ils persistent constamment en ta saincte vocation […] afin qu’ils te glorifient tant en la vie qu’en la mort“; ebd. 177 Anm. 4. 26 Ebd. 179. 27 Roussel, Comment faire la cène? (wie Anm. 14), 199.

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sen Text, indem sie beschrieb, wie man die Kommunion empfangen müsse, so daß sie als Glaubensbekräftigung im Heil und nicht als Zeichen einer Verdammung erlebt werden konnte. Diese Rede erinnerte an alle Vorbereitungen für die Kommunion und erklärte, daß diese Vorbereitungen es ermöglichten, sich über die körperliche Existenz zu erheben, um die spirituellen Realitäten des Sakramentes zu erfassen. Und diese spirituelle Erhebung (sursum corda) war gerade der Sinn des heiligenden Vorgangs. So umfaßte und erneuerte die Abendmahlsfeier die spirituelle Arbeit, die sich im Rahmen der sozialen Zeit vollendete. Die rituelle Form, die durch das eucharistische Sakrament angenommen wurde, soll zeigen, daß die reformierte Identität sich unter anderem durch eine spezifische Beziehung zur Geschichte unterschied. Die Einfachheit dieser rituellen Form sollte nämlich die Treue zu dem von Christus eingeführten Ritual und zu den Gewohnheiten der Urkirche ausdrücken. Eine kurze Erklärung erinnerte in der Tat daran, daß das einzige Mittel, die Korruption, die sich in der Messe eingeschlichen hat, zu beseitigen, darin bestand, „de revenir à la pure institution de Jesus Christ, laquelle nous ensuyvons simplement“.28 Die Liturgie führte also eine Kontinuität ein, welche die reformierten Christen des 16. Jahrhunderts mit der Ersten Kirche verband, hinweg über Jahrhunderte mittelalterlicher Geschichte des Christentums. Eine ganze Reihe von Ritualen und Reden sollte also eine Tradition vernichten. Indem sie die Abendmahlsfeier auf ihre Weise begingen, proklamierten die Reformierten, daß eine besondere, durch Treue geprägte Beziehung zum Ursprung der Schlüssel zu ihrer konfessionellen Identität sei. Aber dies bedeutete nicht, daß die Geschichte ausgelöscht war. Die Treue zum Ursprung war nicht mit Imitation gleichzusetzen. Das reformierte Abendmahl war keine Nachahmung des ursprünglichen Abendmahls. Die Kommunikanten saßen zum Beispiel nicht am selben Tisch wie die Apostel um Jesus, sondern gingen hintereinander – Männer und Frauen getrennt – an die zwei Tische, der eine für Männer, der andere für Frauen, die sich nächst zur Kanzel befanden. So wurde klar, daß die Gemeinschaft, die das Abendmahl feierte, sich geschichtlich von der Gruppe der Apostel unterschied. Andere Zeiten, andere rituelle Formen.29 Das Wichtige war die Treue zur Gesinnung, die der sakramentalen Symbolik zugrunde lag. Durch die Einhaltung des Gleichgewichtes zwischen geschichtlicher Distanz und Geistestreue betonten die reformierten Kirchen die Kontinuität mit der Ersten Kirche, und daher auch ihre Stellung als Erben der einzigen „wahren“ Tradition. Nach der Kommunion wurden die Gläubigen nach einer letzten Segnung in ihre Häuser zurückgeschickt. Dieser Segen brachte sie wieder in den All28

Joannis Calvini Opera (wie Anm. 7), Vol. 6, 202. Jean Calvin, Institution de la religion chrestienne. Ed. par Jean-Daniel Benoit. 5 Vols. Paris 1957–1963, III, III, 17; IV, X, 30 f. 29

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tag zurück mit der Aufgabe, von dem spirituellen Erlebnis zu zeugen: Die Führung der Gläubigen sollte von der Ethik der Erhebung, welche das Sakrament ihnen verlieh, geprägt sein. Das Konsistorium achtete darauf, daß dies respektiert wurde, und bestrafte alle Gläubigen, die sich nach Ausgang der Feier oder in den folgenden Tagen eines Skandals schuldig machten. Der liturgische Kalender organisierte also den Alltag und gab ihm eine Orientierung, indem er ihn als Rahmen des Heiligungsvorgangs darstellt; er integrierte die Gegenwart in einem geistlichen Prozeß, der sie transzendierte; die liturgische Feier der Kommunion seinerseits erinnerte und aktualisierte die Erzählung dieser Geschichte und gab der reformierten Kirche einen Platz in einer religiösen Geschichte, die ihren Sinn aus einer Treue zu der Zeit der Gründung des Christentums bezog. In diesem Sinne war die Liturgie das Instrument einer Teilnahme der zelebrierenden Gemeinde an einer Zeitlichkeit, die der Geschichte entging. Zu dieser Analyse der liturgischen Darstellung der Zeitlichkeiten fehlte aber noch eine Seite der von der Liturgie aufgebauten zeitlichen Erfahrung. Die Liturgie begründete eine Tradition, indem sie die gottesdienstliche Ordnung aufstellt, die fortbestehen sollte. Somit wurde sie Träger der Geschichte der Kirchen, die die gleichen Rituale teilten. Dieses Ergebnis war aber nicht notwendig. Zu Anfang, als Calvin die liturgische Ordnung aufsetzte, schrieb er sie nicht als einen unveränderbaren Text. Er dachte im Gegenteil, daß sie angepaßt werden könnte, solange man nicht an ihrer „Substanz“ rüttelte. Die Liturgie ist in diesem Sinne eine Zusammensetzung von zwei Elementen: eines „notwendigen“ und daher unveränderlichen Teiles – die Lehre in der liturgischen Rede (necessaria). Diese abzuändern, hätte dem Gottesdienst seinen Sinn genommen. Dieser wesentlichen Rede fügten sich andere Elemente an – Gesten, Haltungen, Dekorationen, Kostüme und so weiter –, die als „unwesentlich“ galten, und sich deshalb leicht an die lokalen Gebräuche oder an durch die Zeit bedingte Variationen anpassen konnten (adiaphora). In Wirklichkeit aber war der Unterschied zwischen dem Wesentlichen und dem Unwesentlichen niemals leicht zu erkennen. Das haben die Zeit und die „Erfindung“ einer reformierten Tradition bewiesen. Kraft dieser Einstellungen zögerte Calvin zuerst nicht, die Liturgie abzuändern. Jede der zehn Ordnungen, die zwischen 1542 und 1552 erscheinen, wies Korrekturen auf. Einige davon änderten den Ton des Textes wesentlich, ohne natürlich den spirituellen Wert zu entstellen.30 Hingegen wurden nach 1552 keine Neuerungen in die liturgische Ordnung mehr eingebracht. Diese wurde also ohne Variationen während 150 Jahren beibehalten und durch

30 Christian Grosse, Les rituels de la cène. Le culte eucharistique réformé à Genève (XVIe–XVIIe siècles). Genf 2008, 151–158.

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den Hugenottischen Psalter massiv verbreitet.31 So wurde sie schließlich als symbolischer Text für den reformierten Glauben betrachtet, genauso wie der Katechismus oder die Glaubensbekenntnisse. Diese symbolische Funktion verstärkte sich nach dem Tod Calvins. Als die Gründerfigur verblaßte, wurden die Texte wie auch die Liturgie und die Rituale, die sie regelten, teilweise zum öffentlichen Ausdruck der Kontinuität der reformierten Kirchen. Zur selben Zeit spielte übrigens die Verhärtung der reformierten Orthodoxie die gleiche Rolle. Dieses Phänomen verschärfte sich noch nach dem Tod von Théodore de Bèze (1519–1605), Calvins Nachfolger. Die ersten Konflikte in der Genfer Kirche, die die religiösen Gewohnheiten betrafen, entstanden bezeichnenderweise kurz nach dem Tod von Théodore de Bèze. Ihr Gegenstand war gerade die Erhaltung einer rituellen Tradition. Man beobachtete unter diesen Umständen, daß die Gebräuche, welche Calvin als „unwesentlich“ bezeichnete, zu Trägern von Bedeutung wurden und darum nicht mehr als abänderbar betrachtet werden konnten.32 Nachdem die reformierte Kirche zuerst besonders die Autorität der Tradition verwarf, wurde sie also in weniger als einem Jahrhundert durch ihre eigenen Traditionen gebunden. Diese Situation blieb während des ganzen 17. Jahrhunderts bestehen. Entwicklung der Lebensgewohnheiten, religiöse und kulturelle Erwartungen, die „Abkühlung des Eifers der Gläubigen“, über die sich die Pastoren dauernd beklagten33, ließen eine Anpassung der Liturgie an diese neuen Bedingungen als immer notwendiger erscheinen. Von Zeit zu Zeit wurden, mit Vorsicht und nach langen Diskussionen, sehr geringe Abänderungen der liturgischen Gebräuche vorgenommen.34 Größere Reformvorschläge stießen jedoch auf starken Widerstand. In dieser Zeit der Orthodoxie wurde jede Neuerung der Gewohnheiten als Zeichen einer theologischen Unbeständigkeit verstanden, und sie wurden sofort von seiten der konfessionellen Gegner als Beweis für Häresie interpretiert.35 „L’Histoire des variations des Eglises protestantes“ (1688) von Bossuet charakterisierte diese Ausnützung der Abweichungsversuche von der Tradition in der Polemik, die die Refor31

Pierre Pidoux, Le psautier huguenot du XVIe siècle. Mélodies et documents. 2 Vols. Basel 1962; [Jean-Daniel Candaux,] Le Psautier de Genève, 1562–1865. Images, commentaires et essai de bibliographie. Genf 1986. 32 Christian Grosse, La coupe et le pain de la discorde. Emergence d’une orthodoxie rituelle au début du XVIIe siècle, in: Maria-Cristina Pitassi (Ed.), Edifier ou instruire? Les avatars de la liturgie réformée du XVIe au XVIIIe siècle. Paris 2000, 33–55. 33 AEG, R. Cp. Past. R. 14, p. 223 (12. Mai 1682). 34 AEG, R. Cp. Past R. 7, 21v (8. Mai 1621), 68 (26. März 1624); R. 8, 8 (15. April 1625), f. 314 (9. Dezember 1636), 383 (9. August 1639); R. 11, 40 (3. September 1658); Rivoire/ van Berchem (Eds.), Sources du Droit (wie Anm. 19), Vol. 4, 19 f. (4. August 1623), 422 f. (3 April 1675). 35 Roger Stauffenegger, Église et société: Genève au XVIIe siècle. 2 Vols. Genf 1983/84; Maria-Cristina Pitassi, De l’orthodoxie aux Lumières. Genève 1670–1737. Genf 1992.

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mierten gegen Neuerungen schützte.36 Aber in der Praxis fand doch eine Entwicklung in kleinen Schritten statt. Unterdessen wurde die liturgische Ordnung von den Druckern weiter in alter Form herausgegeben. Im Gegensatz zur rituellen Wirklichkeit, die sich unmerklich veränderte, verkörperte die Ordnung die Treue zum Ursprung und die Kontinuität der reformierten Tradition. Diese Blockierung bezüglich der Tradition lockerte sich jedoch am Ende des 17. Jahrhunderts. Die Bedingungen für Veränderungen wurden in dieser Zeit besser, teils, weil die reformierten Kirchen Frankreichs wegen der Widerrufung des Edikts von Nantes verstreut wurden und teils, weil eine Generation von Theologen, die als Hüter der Tradition und der Orthodoxie galt, ausstarb. Dies kam einer Generation zugute, die eine kritischere Ansicht der Vergangenheit hatte. Nachdem mehrere Versuche zu einer Neubearbeitung der Übersetzung der Bibel, der Psalmen und der Liturgie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gescheitert waren, gelang es schließlich den Genfer Pastoren, innerhalb von zwölf Jahren eine neue Formulierung dieser Texte durchzusetzen.37 Ursprünglich war das Ziel nur, diese Texte den Veränderungen der französischen Sprache anzupassen; diese Revision betraf aber dann auch die Struktur und Substanz der Liturgie.38 36 Jacques Bénigne Bossuet, Histoire des variations des églises protestantes. Paris 1688; Alfred Rébelliau, Bossuet historien du protestantisme: étude sur l’histoire des variations et sur la controverse entre les protestants et les catholiques au XVIIe siècle. Paris 1891; Georges Tavard, La tradition au XVIIe siècle en France et en Angleterre. Paris 1969, 155–194. 37 Orentin Douen, La révocation de l’Edit de Nantes à Paris, d’après des documents inédits. Vol. 1. Paris 1894, 297–301, 366–373; François Laplanche, L’écriture, le sacré et l’histoire. Erudits et politiques protestants devant la Bible en France au XVIIe siècle. Amsterdam/Maarssen 1986, 362, 561; Pitassi, De l’orthodoxie aux Lumières (wie Anm. 35); dies., De l’instruction à la piété: le débat liturgique à Genève au début du XVIIIe siècle, in: dies. (Ed.), Edifier ou instruire? (wie Anm. 32), 91–109; Olivier Fatio, Le Christ des liturgies, in: Maria-Cristina Pitassi (Ed.), Le Christ entre Orthodoxie et Lumières. Actes du colloque Genève, août 1993. Genf 1994, 11–30; Nicolas Scharpia, Un professionnel des Lettres au XVIIe siècle. Valentin Conrart: une histoire sociale. Seyssel 2003, 313–318. 38 Ein neuer Psalter erschien im Jahr 1695 (Les Psaumes de David mis en vers françois par Cl. Marot et Th. de Bèze; retouchez par Monsieur Conrart; revus et aprouvez par les pasteurs et les professeurs de l’Eglise et de l’Académie de Genève; avec la liturgie, le catéchisme et la confesion de foi des églises réformées. A Genève: pour la Compagnie, 1695), und neue liturgische Texte erschienen in mehreren Etappen während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Prieres qui se doivent lire dans l’Eglise de Geneve, le Lundi au soir, le Mardi au matin, et le Vendredi au soir. A Geneve: Pour la Compagnie des Libraires, 1711; Les prières ecclésiastiques et les liturgies du Batême, de la Sainte Cene, et du Mariage, revues par les Pasteurs et les Professeurs de l’Eglise et de l’Académie de Genève. A Geneve: chez Gabriel de Tournes et Fils, Marchands Libraires, et Imprimeurs Ordinaires de la République et de l’Academie, 1724; Les prieres ecclesiastiques et les liturgies du bateme, de la Ste Cene et du Mariage; revües, par les Pasteurs et les Professeurs de l’Eglise et de l’Academie de Genève. A Geneve: Chez Fabri et Barillot, 1730;

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Die Lockerung der Tradition, die durch diesen Revisionsprozeß entstand, geschah in einem konfliktreichen Klima. Viele, besonders die Gläubigen, die an den Texten hingen und sie verinnerlicht hatten, waren dagegen. Durch den Archaismus der Sprache, in der diese Texte ausgedrückt waren, erschienen sie vielen Gläubigen als das beste Zeichen der langen Geschichte der Reformierten Kirchen und als Symbol der reformierten Tradition. Auch eine gewisse Anzahl von Pastoren im Exil hatte sich der Revision dieser Texte widersetzt. Der Widerstand kam insbesondere aus Holland, wo er vom Pastor Pierre Jurieu geleitet wurde.39 Die Gegner dieser Reform warfen der Genfer Kirche vor, die Wurzeln der reformierten Kirchen auszureißen, gerade als diese Kirchen sich nach dem Widerruf des Edikts von Nantes zersprengten und diese Bindung an die Ursprünge um so wichtiger war. Da im Verlauf dieser Revision die Liturgie in wichtiger Weise abgeändert worden war, wurde auch die Art, wie sie die Zeit organisierte und qualifizierte, verändert. Der liturgische Kalender war zwar nicht ganz verwandelt, da der Rhythmus der vier jährlichen Kommunionen beibehalten wurde, doch wurde nun eine neue Reihenfolge der wöchentlichen Gottesdienste vorgeschrieben. Die Abendmahlsgottesdienste verteilten sich auf zwei bis drei Wochen, so daß sich der Höhepunkt des geistlichen Lebens, der sich früher nur auf den Sonntag dieser Feier beschränkte, abschwächte. Die Vorbereitung auf das Abendmahl bekam einen feierlicheren Charakter und war nicht mehr so bußfertig. Die Instruktion, insbesondere die moralische Instruktion, wurde auch wichtiger als der Zyklus der Bekenntnisse, der Reumütigkeit und der Vergebung. Das Programm der Gottesdienste wurde seinerseits gelockert: die verschiedenen Gottesdienste der Woche wurden unterschiedlicher. Sie übernahmen verschiedene Funktionen; es wurde mehr Platz eingeräumt für Bibellesung, für Gebet wie auch für die „Anbetung“ – zum Nachteil der Predigt. Auch darum wurden die Gottesdienste durch die Liturgien mehr voneinander unterschieden: sie waren also nicht mehr an die Liturgie des sonntäglichen Gottesdienstes gebunden. Im liturgischen Jahr wurden wieder Feste aufgenommen, die im 16. Jahrhundert abgeschafft worden waren: die Weihnachtstage, Himmelfahrt und der 1. Januar wurden von nun an mit

La liturgie ou la maniere de celebrer le service divin dans l’Église de Genève. Revüe par la Compagnie des Pasteurs et Professeurs. A Genève: Chez Henri-Albert Gosse et Compagnie, 1743). 39 Frederick Reiner Jacob Knetsch, Pierre Jurieu, réfugié unique et caractéristique, in: Bulletin de la Société de l’Histoire du Protestantisme Français 115, 1969, 445–478; Elisabeth Labrousse, Conscience et conviction. Etudes sur le XVIIe siècle. Paris/Oxford 1986, 159–237; Jacques Le Brun, Les œuvres spirituelles de Pierre Jurieu, in: ders., La jouissance et le trouble. Recherche sur la littérature chrétienne de l’âge classique. Genf 2004, 339–362.

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besonderen Gebeten gefeiert.40 Es schien so, als würde hiermit wieder eine größere Trennung zwischen dem linearen Ablauf des Alltags und der liturgischen Zeit vorgenommen: diese Feste waren durch ihren festlichen Charakter wie aus dem Alltag herausgenommen. Der liturgische Text wurde ebenfalls so abgeändert, daß er einen anderen Sinn erhielt. Der Begriff der „Bußfertigkeit“ wurde aufgehoben. Die Kommunion erschien weniger als eine Heiligung und mehr als „eine der feierlichsten Aufgaben der Religion“.41 Diese Auslegung war also mehr moralischer als geistlicher Art. Die Teilnehmer standen eher in einer alltäglichen Verbindung mit ihren Zeitgenossen als in einer spirituellen Perspektive. Gleichzeitig verblaßte die Figur Christi. Die Liturgie drückte sich im 18. Jahrhundert mit größerem Vertrauen auf die Fähigkeit des Christen aus, die Stellung als Sünder zu meistern, und rechnete weniger mit der Vermittlung Christi. Das Verhalten des Gläubigen wurde so in den Vordergrund gerückt und seine Abhängigkeit von dem historischen Geschehen des Opfers des Erlösers gelockert.42 Aber das Eindrucksvollste am Revisionsprozeß der Liturgie war der Beginn einer Periode von fortlaufenden Reformen. So erstarrt die Liturgie und auch die Theologie in der vorigen Periode auch waren, so wurden sie nun in eine kontinuierliche Revision getrieben. Dies geht aus den sechs Revisionen hervor, die während des 18. Jahrhunderts in Genf erschienen und die alle Abänderungen enthielten. Diese Bewegung gab es allerdings nicht nur in Genf. Die reformierten Kirchen im französischen Sprachgebiet kannten zunächst alle dieselbe Liturgie; ihre Zerstreuung nach dem Widerruf des Edikts von Nantes hatte einen Zerfall ihrer liturgischen Tradition zur Folge und brachte jede dazu, eine eigene liturgische Ordnung aufzustellen. Diese Ordnungen, wie auch die von Genf, wurden anschließend regelmäßig überprüft. In diesem Sinne begann am Anfang des 18. Jahrhunderts für die reformierten Kirchen eine neue Geschichtsperiode. Da die Liturgie von ihrer Rolle als Traditionsträger befreit wurde, drückte sie die neue Art aus, wie ein Teil der reformierten Leiter das Verhältnis zwischen Reform und Geschichte betrachtete. Diese Eliten begannen in der Tat, die Reform als ein kulturelles Ereignis zu sehen, das aus bestimmten geschichtlichen Umstän-

40 Carbonnier-Burkard, Jours de fêtes dans les Églises réformées (wie Anm. 8); Henry Meylan, Fêter Noël ou pas? Une controverse dans l’Église neuchâteloise du XVIe siècle, in: Revue d’histoire et de philosophie religieuse 54/1, 1974, 49–67; Maria-Cristina Pitassi, Entre liberté et nostalgie. Noël à Genève aux XVIIe et XVIIIe siècles, in: Roger Durand (Ed.), C’est la faute à Voltaire. C’est la faute à Rousseau. Recueil anniversaire pour Jean-Daniel Candaux. Genf 1997, 321–330. 41 Bruno Burki, Cène du Seigneur – eucharistie de l’Église. Le cheminement des Églises réformées romandes et françaises depuis le XVIIIe siècle, d’après leurs textes liturgiques. Fribourg 1985, Vol. 17a, 28, 31. 42 Fatio, Le Christ des liturgies (wie Anm. 37).

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den entstand und deshalb dazu bestimmt ist, mit seiner Zeit zu gehen. Die regelmäßigen Revisionen der Liturgie waren der konkrete Ausdruck dieser neuen Auffassung, welche schließlich zum Zeichen der reformierten Identität wurde. Die heute von zahlreichen Reformierten so beliebte Devise, die zur Zeit der Orthodoxie undenkbar war, faßt diese Auffassung zusammen: ecclesia reformata semper reformanda.

Teil 5 Lebensformen und Raumverständnis in der Frühen Neuzeit

Gibt es eine typisch frühneuzeitliche Raumwahrnehmung? Von

Axel Gotthard Sind die Todesanzeigen, wieder einmal, verfrüht aufgegeben worden? Der einigermaßen aufgeklärte Westeuropäer ging mit der festen Überzeugung ins neue Jahrtausend, Lebensräume wie zu eng gewordene alte Kleider abgestreift zu haben. In den Sozialwissenschaften und in der Geographie war die Relevanz raumbezogener Elemente personaler und kollektiver Identifikationsprozesse seit geraumer Zeit schon bezweifelt worden. Die Beschäftigung damit sei obsolet geworden, hieß es, weil moderne Sozialsysteme kommunikativ, kaum noch interaktiv strukturiert seien. Es wurde schick, die „Raumschrumpfung“ auf den Punkt des ubiquitären Global Village zu verkünden oder darüber zu lamentieren, „daß es nur noch Zeit gibt, aber keinen Raum mehr“ (Worte des Schriftstellers Heiner Müller1). Eine Zeitrevolution fegte den Raum hinweg, spülte uns „from place to flow, from spaces to streams“2 und decouvrierte jene „territorial fallacy“ der vorglobalen Zeit, die das Selbst an Orte gekettet hatte. Doch scheint sich der Wind schon wieder zu drehen. Man raunt neuerdings von der „Wiederkehr des Raumes“.3 Im Internet, dem großen Raumverschlinger der 1990er Jahre, fluten die Räume nur so heran.4 Das Feuilleton

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Im Gespräch mit Alexander Kluge klagte Müller, „daß es nur noch Zeit oder Geschwindigkeit oder Verlauf von Zeit gibt, aber keinen Raum mehr“: Alexander Kluge/ Heiner Müller, „Ich schulde der Welt einen Toten“. Gespräche. Hamburg 1995, 80. 2 Scott Lash/John Urry, Economies of Signs and Space. London/Thousand Oaks/New Delhi 1994, 323. „Does not this intense mobility of objects and subjects produce placelessness?“, ebd. 325. 3 Der Historiker und Essayist Karl Schlögel, der dem Zeitgeist schon seit geraumer Zeit kongenial, nämlich wendig und geistreich auf der Spur ist, legte 2003 gleich zwei Monographien vor, die den „Raum“ im Titel tragen: ders., Kartenlesen. Oder: Die Wiederkehr des Raumes. Zürich 2003; ders., Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München/Wien 2003. Es genügt ihm dort nicht, eine „Erneuerung der geschichtlichen Erzählung“ zu proklamieren, die „die kulturalistischen Engführungen hinter sich“ lassen werde, ihm sind „Räumlichkeit und Verräumlichung menschlicher Geschichte“ sogar der „Punkt der Reorganisation“ und „Neu-Konfiguration“ des nichtnaturwissenschaftlichen Fächerspektrums, „von Geographie bis Semiotik, von Geschichte bis Kunst, von Literatur bis Politik“ (ders., Im Raume, 12). 4 Man nehme: eine beliebige Suchmaschine sowie die Suchbegriffe „spatial turn“, „topographical turn“ und „cartographical turn“. – Ich habe soeben eine Monographie fertiggestellt, die sich ausführlich mit dem „spatial turn“, seinen Chancen und Grenzen, methodischen Innovationspotentialen und Klippen befaßt: Axel Gotthard, In der Ferne.

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der Frankfurter Allgemeinen Zeitung attestierte den Geschichtswissenschaften einen „spatial turn“ und, an anderer Stelle, den Geisteswissenschaften überhaupt ihren „cartographical turn“.5 In der Tat, in Nachbardisziplinen läßt sich Ähnliches beobachten. So wurde jüngst in der Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft6 der Vollzug eines „topographical turn“ ausgerufen, der „als theoretischer Fluchtpunkt der immer wieder beschworenen ,linguistic‘ und ,pictorial turns‘ betrachtet werden“ könne. Dem Bericht über eine Tagung im Literarischen Colloquium Berlin über „Topographie und Literatur“ im März 2006 konnte man entnehmen, daß dort offenbar „die Rückkehr der physischen Landkarte beschworen“7 und eine „Neue Geopoesie“ ausgerufen wurde, „der Raumbegriff kehre zurück“. Und die Geographie? Angeblich wissen ihre Vertreter vor lauter Raumeuphorie nicht, wie ihnen geschieht, „insgesamt reichen die geographischen Reaktionen auf den spatial turn von der Freude über die neue Popularität des eigenen Gegenstandes bis hin zur Sorge um das Alleinstellungsmerkmal der geographischen Fachwissenschaft“.8 Demnach wäre die Verflüchtigung des Raumes allzu hurtig verkündet worden – wieder einmal.9 Schon 1843 notierte Heinrich Heine, anläßlich der Eröffnung einer der ersten EisenbahnDie Wahrnehmung des Raumes in der Vormoderne. Frankfurt am Main/New York 2007. Hier beschränke ich mich deshalb bewußt auf einige wenige Zitate, die aus heterogenen Kontexten gerissen, aber doch als Partikel einer Zeitströmung lesbar sind. – Erste, noch flüchtige und gleichsam essayistisch hingeworfene Überlegungen sind bereits publiziert: Axel Gotthard, Wohin führt uns der „Spatial turn“? Über mögliche Gründe, Chancen und Grenzen einer neuerdings diskutierten historiographischen Wende, in: Wolfgang Wüst/Werner K. Blessing (Hrsg.), Mikro – Meso – Makro. Regionenforschung im Aufbruch. Erlangen 2005, 15–49. 5 Christoph Albrecht, Materialistischer Schuß vor den Bug der Geschichte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Oktober 2003 („Neue Sachbücher“); „L. J.“, Geisteswissenschaften: Die Landvermesser, in: Jahresrückblick 2003 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung; vgl. ferner Friedmar Apel, Topographische Wende, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. November 2002, Seite „Geisteswissenschaften“. 6 Vgl. Sigrid Weigel, Zum ‚topographical turn‘. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften, in: KulturPoetik 2, 2002, 153; ich zitierte oben den Untertitel dieser neuen Zeitschrift. 7 Oder, weniger ontologisierend: „der Raum als Fluchtpunkt, als Imagination, als Verdichtung und Seismograph der Zeit stand im Zentrum“ – ich muß mich auf einen Tagungsbericht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. März 2006, 39, berufen. 8 Julia Lossau/Roland Lippuner, Geographie und spatial turn, in: Erdkunde 58, 2004, 202. Jedenfalls breite sich allenthalben die „Überzeugung“ aus, „die Beschäftigung mit Raum und Räumlichem sei (wieder) relevant geworden, wenn nicht ins Zentrum sozialwissenschaftlicher Theoriebildung gerückt“. 9 Die Raumschrumpfungsdiskurse der 1990er Jahre waren die soundsovielste Reprise. Alle Beschleunigungsschübe der letzten zweihundert Jahre lösten vergleichbare Prognosen aus; vgl. Gotthard, In der Ferne (wie Anm. 4). Hier muß, pars pro toto, ein HeineZitat hinreichen: Heinrich Heine, Lutetia. Berichte über Politik, Kunst und Volksleben (57. Stück des zweiten Teils, datiert auf den 5. Mai 1843), in: ders., Sämtliche Schriften. Bd. 5. Hrsg. v. Klaus Briegleb u. Karl Heinz Stahl. München 1974, 217–548, hier: 449.

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linien: „Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unserer Anschauungsweise und in unsern Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig.“

I. Mit dieser voreiligen Prognose aus der Vergangenheit habe ich schon den Sprung in mein Metier geschafft, denn dieser Sammelband will ja nicht in die Zukunft blicken (oder doch allenfalls in die des Faches), sondern die Frühe Neuzeit konturieren. War diese Frühe Neuzeit eine Zeit stabiler lebensräumlicher Verankerung? Geographen, Volkwirte, Politologen, kurz: Gegenwartskundler sind häufig dieser Ansicht. Noch die enthusiastischsten Propheten von Global Village und Virtual Reality konzedieren, daß es jene raumbezogenen Identitätssegmente, die sich derzeit verflüchtigten oder schon verschwunden seien, früher durchaus gegeben habe – vor jener Globalisierung, die Gegenwartskundler für einen noch jungen Prozeß halten, und ganz gewiß in der vorindustriellen „guten, alten Zeit“. Stimmt dieser Anfangsverdacht? Und welche Räume empfand der vormoderne Mensch als identitätsstiftende Rahmungen, erfuhr er als ihn bergend? Das ist verblüffend schwer zu sagen, nicht nur, weil sich die Geschichtswissenschaft traditionell als „immaterielle Zeitwissenschaft“10 verstand, auch ihrer Quellen wegen. Das Gefühl heimatlicher Geborgenheit stellt sich ein (oder nicht), ist aber selten Gegenstand selbstreflexiver Denkanstrengungen und wird nie ungefragt, ohne besonderen Anlaß, ausgebreitet. Man spricht nicht darüber, meistens noch nicht einmal mit sich selbst. Ich habe vor einiger Zeit versucht, den Raumbezügen des 16. und 17. Jahrhunderts in Aufzeichnungen auf die Spur zu kommen, die vom Reisen oder Um10

Diese pointierte, aber treffende Formel fand ich bei Alfred Heit, Raum. Zum Erscheinungsbild eines geschichtlichen Grundbegriffs, in: Georg Jenal (Hrsg.), Gegenwart in Vergangenheit. Beiträge zur Kultur und Geschichte der Neueren und Neuesten Zeit. Festgabe für Friedrich Prinz zu seinem 65. Geburtstag. München 1993, 369–390, hier: 384. „Vor die formale Alternative Raum oder Zeit gestellt, optierte die überwältigende Mehrheit aller Historiker für eine theoretisch nur schwach begründete Dominanz der Zeit“: Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt am Main 2000, 81. Daß „die Kategorie des ‚Raumes‘“ für Historiker „lange Zeit … diskreditiert“ gewesen sei, konstatierten zuletzt auch Marian Füssel und Stefanie Rüther – „wenn über Räume geredet wurde, geschah dies meist eher in wissenschaftlichen Nischen“: Marian Füssel/Stefanie Rüther, Einleitung, in: Christoph Dartmann/Marian Füssel/Stefanie Rüther (Hrsg.), Raum und Konflikt. Zur symbolischen Konstituierung gesellschaftlicher Ordnung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Münster 2004, 9–18, hier: 11. Ich muß auch hinsichtlich einer Vertiefung solcher kritischer Fragen an das traditionelle Selbstverständnis des Faches auf meine in Anm. 4 genannte Monographie verweisen.

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herziehen durch Mittel- und Südeuropa künden.11 Gewiß, solche Texte wurden keinesfalls in der Absicht verfaßt, uns etwa über die Heimaten des Reisenden zu belehren, renommieren vielmehr mit Erlebnissen in der Fremde! Aber gerade die Begegnung mit dem Ungewohnten provoziert Aussagen, die sich für die Suche nach raumbezogener Identität fruchtbar machen lassen: Man stößt durch Vergleich, Abgrenzung und ,Befremden‘ auf Eigenart, erfährt Grenzüberschreitungen. Ich will zunächst – ehe ich dann in einem zweiten Schritt nach dem Epochalen, nach ,typisch Frühneuzeitlichem‘ frage – kurz12 die wichtigsten Beobachtungen Revue passieren lassen. Zunächst einmal überraschte mich, daß die Fremde häufig hinter dem Kirchturmshorizont begann. Das Vaterland auch der mobilen frühneuzeitlichen Menschen war kleinräumig. Die Heimat, nach der man sich in der Fremde zurücksehnt, die Patria, in die man endlich heimkommt: das ist fast immer eine bestimmte Stadt. Einen jener Handwerksgesellen, von denen wir gern mehr Aufzeichnungen besäßen, treibt „große Sehnsucht nach Breslau, meinem Vaterland“, auf der Apenninhalbinsel und in Süddeutschland offenbar ständig um13, schließlich kehrt er „durch Teutschland über Sachsen nach Schlesien ins Vaterland“ zurück.14 „Deutschland“ hieß das Vaterland dieser Reisenden nicht. Die Gegenprobe – wer firmiert in Lebensaufzeichnungen als „frembder“? – produziert vergleichbare Resultate. Für einen Reichsstädter war der Bewohner des nächstgelegenen Dorfes „frembder“, oder jener Architekt, den der Magistrat der Stadt mit Bauarbeiten beauftragt hatte, wiewohl er nicht der betreffenden Bürgerschaft angehörte; aber Reiseberichte operieren nicht mit diesem Begriff. Wohl kennen sie, gelegentlich, den „Landsmann“. Der jahrelang in Frankeich umherziehende Lukas Geizkofler erwähnt genau einen solchen „Landsmann“, namens „Paul von Welsperg“.15 Die Welspergs besaßen bei Bruneck ein Dorf und ein Schloß gleichen Namens, waren im

11 Vgl. zum Folgenden Axel Gotthard, Vormoderne Lebensräume. Annäherungsversuch an die Heimaten des frühneuzeitlichen Mitteleuropäers, in: HZ 276, 2003, 37–73. 12 Ich kann in diesem (quantitativ vorgegebenen) Rahmen nur ganz sparsam belegen, ja, muß vieles einfach behaupten. Vgl. zu den Nachweisen schon Gotthard, Vormoderne Lebensräume (wie Anm. 11), vor allem aber ders., In der Ferne (wie Anm. 4). 13 Vgl. Curt Rudolf Vincentz (Hrsg.), Die Goldschmiede-Chronik. Die Erlebnisse der ehrbaren Goldschmiede-Ältesten Martin und Wolfgang, auch Mag. Peters Vincentz. Hannover [1918]; die Gesellenreisen des Wolfgang Vincentz von 1547 bzw. 1551, ebd. 130–157 bzw. 179–249; ein besser zugänglicher Teilabdruck bei Wolfram Fischer (Hrsg.), Quellen zur Geschichte des deutschen Handwerks. Selbstzeugnisse seit der Reformationszeit. Göttingen 1957, 30–55 (Breslau als „Vaterland“ ebd. 34, 37, 42, 46, 47). Auch in anderen, nicht den Gesellenreisen gewidmeten Passagen ist Breslau immer wieder „Vaterland“, ich nenne noch exemplarisch Vincentz (Hrsg.), Chronik, 371. 14 Vincentz (Hrsg.), Chronik (wie Anm. 13), 155. 15 Vgl. Adam Wolf (Hrsg.), Lukas Geizkofler und seine Selbstbiographie 1550–1620. Wien 1873, 34.

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Hochstift Brixen ökonomisch und politisch aktiv16; da Geizkofler aus Sterzing stammte, qualifizierte seinen einzigen „Landsmann“ an der Seine hierzu sicherlich anderes und Kleinräumigeres denn die Zugehörigkeit zur „teutschen nation“. Der in Tripolis inhaftierte Ulmer Hans Ulrich Krafft bekam unerwartet Besuch, von einem Juden, wie er, durchaus indigniert, feststellte. „Der Mörcktt auch bald, daß Ich ein schwab werd sein, mit vermelden, er haltte darfür, wir seyen Landtsleüth“. Er verspricht, sich „als ein Trewer Landtsman“ für Krafft einzusetzen, diesen Mitschwaben, der ihm da „als meinem leiblichen bruder vertrawen“ könne17, und verwendet sich tatsächlich für seine Freilassung. Die deutsche Nation ist es nicht, die da emotional gezündet hat, selbst der (trennende) Glaube tritt zurück, in Tripolis hilft der Schwabe dem Schwaben. Vaterland, Landsmann: das waren einfach handhabbare Zugriffe, gewissermaßen Suchworte. Nicht so griffig ist die Frage, wie Begegnende rubriziert werden, welche einsortierenden Attribute ihnen beigelegt werden. Stoßen wir auf „den Teutschen“? Ja, in Berichten über weite Reisen, ferne Länder kommt er schon des öfteren vor. Am häufigsten erwähnt werden „teutsche“ Wirtshäuser, sie haben offenbar zahlreiche Reisende gesucht bzw. gezielt angesteuert. Aber auch Personengruppen werden als „teutsch“ charakterisiert, doch folgt meistens eine Auffächerung nach subnationalen Großräumen wie „Svaben“, „Beigern“ oder „Franken“. Überhaupt gehörte zu den für mich überraschendsten Ergebnissen meiner Sondierung in Reiseaufzeichnungen, wie geläufig die Zuschreibung zu bestimmten subnationalen Großregionen (sollen wir von „Stammesnamen“ sprechen?18) gewesen ist – „Schwob“ und „Bayer“ inflationär, „Franke“ oder „Sax“ verbreitet. Nicht durchgehend, aber auch nicht ganz selten wird sodann nach Konfessionen rubriziert. Samuel Kiechel registriert auf einem die Donau befahrenden Floß „allerley volck … als wüdertäuffer, Jesuitten, Martinisten und Papisten, auch allerley handwercksburst und frauen, wüe … allerley gesind“.19 Konfession rangiert hier vor Beruf und Geschlecht! Nicht nur Personen, auch Städte hat der Reisende verortet – aber in welchen Räumen? Zunächst einmal, durchgehend und in oft ermüdender Gründlichkeit, in Reichsterritorien. In den zumeist von Pilgerfahrten kün16

Ich entnahm das den einschlägigen Lexika; über „Paul von Welsperg“ selbst habe ich nichts gefunden. 17 K[onrad] D[ietrich] Hassler (Hrsg.), Reisen und Gefangenschaft Hans Ulrichs Kraffts. Stuttgart 1861, 189 f. 18 Mediävisten ist die Vorstellung von ursprünglich germanischen „Stämmen“ ja problematisch geworden, manche würden am liebsten auf den eingeführten Forschungsterminus verzichten. Vgl. zuletzt Axel Gotthard, Einleitung, in: Werner Künzel/Werner Rellecke (Hrsg.), Geschichte der deutschen Länder. Entwicklungen und Traditionen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Münster 2005, 7–33, zu den vermeintlichen „Stämmen“ ebd. 8–11. 19 Hartmut Prottung (Hrsg.), Die Reisen des Samuel Kiechel 1585–1589. München 1987, 11; „Martinisten“ meint: Anhänger Martin Luthers.

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denden Reiseaufzeichnungen des späten Mittelalters setzt das zwar sehr zögerlich ein – ihre spezifische, gleichsam punktuelle Raumwahrnehmung20 wird noch unser Thema sein. Aufzeichnungen des 16. Jahrhunderts hingegen prunken geradezu mit Territorialnamen, viele fügen sie jedem durchreisten Flecken hinzu, oder sie traktieren uns wieder und wieder damit, welchem Fürsten bzw. welcher Dynastie die allfälligen Ortschaften gehörten. Man möge es dem Verfasser, der bei Erlangen am Rand des Nürnberger „Reichswalds“ an der Schwabach wohnt, nachsehen, wenn er von aberhunderten denkbarer Beispiele dieses anführt: „Den 4. sein mir van hier auf Beirstorpf zogen, ist ein Flecken, 1 Ml.21 Van da bis Erlang, 1 Ml., sein beide marggreves. Es fleust hier die Schwabach. Van da durch den Nurenberger Walt bis jen Nurenberk 3 Meil, ist eine Richstat.“ Dort gibt es einen besonders tiefen Brunnen und eine besonders alte, von Kaiser Maximilian I. gepflanzte Linde, man bleibt über Nacht. „Den 5. sein mir auf Schwabach kummen 2 Ml. Van da auf Rott 2 Ml., beide Stete sein dem Markgraven van Anßbach zustendich.“22 Bei Reisen durch territorial nicht exzessiv zerklüftete Teile des Reiches addieren sich solche Zuschreibungen häufig zu ermüdenden Reihungen: Dieser Markt untersteht dem Fürsten X (der auch schon bei den 20

Der Terminus „Raumwahrnehmung“ könnte mißverständlich sein. Ich will damit keinem naiven Naturalismus das Wort reden. Räume sind ja, recht besehen, keinesfalls materiell vorgegeben. Von materieller Qualität sind lediglich die Elemente (Punkte der Erdoberfläche, Dinge, Lebewesen), die der Mensch durch Syntheseleistung zu einem Raum verknüpft. „Raum“ ist nichts objektiv, unabhängig vom Menschen Existentes. Gerade deshalb lohnt es, danach zu fragen, wie Eliten aller Zeitalter durch welche soziale Praktiken welche Räume konstituiert bzw. – das ist die zentrale Fragestellung dieser Studie – wie Menschen vormoderner Zeiten aufgrund welcher individuellen, doch gesellschaftlich vorgeprägten Syntheseleistungen welche Ensembles von Dingen, Lebewesen und Orten als Räume wahrgenommen haben. Wenn ich wiederholt, abkürzend, von „Raumwahrnehmung“ spreche, ist genau das gemeint: nicht die Wahrnehmung eines objektiv, ohne alles menschliches Zutun, eben vorhandenen Raumes, sondern die Synthetisierung materiell vorhandener, beispielsweise vom Reisenden vorgefundener Dinge zu Räumen. Natürlich entstanden diese Räume im Kopf des Beobachters. Individuelle und doch zeitgebundene Syntheseleistung, Kopfgeburt: All das mag man mitdenken, wenn im folgenden immer wieder von „Raumwahrnehmung“ die Rede ist – bei der ich es denn der sprachlichen Einfachheit halber bewenden lasse. 21 Meile! Die Aufzeichnung, der das oben gebotene Textschnipsel entnommen wurde, kann nicht nur in ihrer durchgehenden politischen Zuordnung der Reisestationen exemplarisch für Hunderte vergleichbarer Texte stehen, sondern auch darin, daß sie die Reisebewegung (vermeintlich) exakt portioniert. Texte der ersten Hälfte der Frühen Neuzeit prunken mit Meilenangaben. 22 Max Bär (Hrsg.), Lupold von Wedels Beschreibung seiner Reisen und Kriegserlebnisse 1561–1606, in: Baltische Studien 45, 1895, 1–609, hier 54. Wedel zieht von Baiersdorf nach Erlangen an der Schwabach, beide Orte sind „markgräflich“ (werden nämlich vom Markgrafen von Brandenburg-Bayreuth regiert); von da durch den heute so genannten „Reichswald“ nach Nürnberg (das als Reichsstadt keinem anderen Territorialherrn untersteht); von da in den Ort Schwabach und nach Roth, beide Städte unterstehen dem Markgrafen von Brandenburg-Ansbach.

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letzten sieben Orten genannt worden war), das nächste Dorf untersteht ihm ebenso und noch jene Stadt… Irrtümer kommen vor23, aber sporadisch. Die vormoderne Herrschaftstopographie war den damaligen Reisenden geläufig. Überraschender ist, daß auch im Zusammenhang mit Städtenamen gar nicht selten die altüberkommenen Stammesräume genannt werden: „Ulm liegt in Schwaben oder Suevia“24, Augsburg „ist ein reichsstatt, leidt im Schwobenlandt“25. Die Verbreitung derartiger, in ihrer Beiläufigkeit gleichsam selbstverständlicher Zuordnungen legt die Vermutung nahe, daß die der territorialen Wirklichkeit des 16. oder 17. Jahrhunderts kaum entsprechenden, objektiv gesehen archaischen hochmittelalterlichen Gentilnamen den frühneuzeitlichen Menschen subjektiv lebendige Realität gewesen sind – vielen von ihnen halfen sie dabei, fremde Erfahrungen ordnungsstiftend zu rastern. Wie werden Grenzüberschreitungen erlebt, werden sie markant hervorgehoben, sind sie mit Erfahrungen verbunden, die wir heutzutage als „Kulturschock“ apostrophieren würden? Welche Grenzen finden die Aufmerksamkeit dessen, der sie passiert: regionale, nationale, die Sprachgrenze? Wie verhält es sich damit bei Lupold von Wedel, der zwischen 1561 und 1606 eigentlich immer auf Reisen war und dessen Aufzeichnungen über 600 Druckseiten füllen? Penibel genau registriert er die regional obwaltenden politischen Herrschaftsverhältnisse, durch Zuschreibungen der von ihm angesteuerten Ortschaften: gehört dem Herzog X, dem Bischof Y. Neben diesem – gewissermaßen sekundär verräumlichten – Punkteraster begegnen schon auch Trennlinien, so zwischen diesen für Wedel offenbar präzise umgrenzbaren Großlandschaften: „Endet sich Francken und geet Schwaben an“, „fleust hisilbest der Lech, welcher Schwaben und Beigern schedet“. Die Reichsgrenze hingegen kommt in dem dicken Buch nicht vor. Offensichtlich hat der Raum der „teutschen Nation“ für Wedel keine nennenswerte Rolle gespielt, viel wichtiger sind dem Reisenden die Parameter für seine Mobilität. Von England absegelnd, hält er fest: „Hier enden sich die engelischen Meilen und fangen die teutschen an“. Nach mehr als einem Jahr aus dem Orient zurückkehrend, notiert er, nach Basel, das: „Hier enden sich die schwitzer Meilen und gehn die teutschen an“.26

23 Einige Beispiele schon in Gotthard, Vormoderne Lebensräume (wie Anm. 11), Anm. 95. 24 So der englische Jurist Fynes Moryson, der 1592 auf einer Pilgerfahrt Süddeutschland durchreiste; ein Auszug seiner Aufzeichnungen ist abgedruckt bei Hildebrand Dussler (Hrsg.), Reisen und Reisende in Bayerisch-Schwaben und seinen Randgebieten in Oberbayern, Franken, Württemberg, Vorarlberg und Tirol. Bd. 2. Weißenhorn 1968, 97–103, hier 101. 25 Hans Rott (Hrsg.), Itinerar Ottheinrichs von Pfalz-Neuburg, in: Mitteilungen zur Geschichte des Heidelberger Schlosses 6, 1912, 66–153, hier 66. 26 Wedel, Reisen (wie Anm. 22), die Zitate: 54 f., 368, 214.

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Wir konnten uns Wedels Führung anvertrauen, weil seine wenig einschneidende Grenzerfahrung typisch27 ist. In Texten des 15. Jahrhunderts präsentiert sich Europa ohnehin als grenzenloses Netz von geselligen und politischen Knotenpunkten: „Von Perpian ritt mein herr auf Munphalir28, das ist ein schone stat. Und wolten do nit bleiben, wann es starb gar ser zu dem mal. Do von dann ritt wir auf Avian29, ist gar ein schone grosse stat und gehort dem pabst zu“, folgen einige „schone ding“ aus dem Stadtbild. „Da von auss ritt wir auf Susa zu über ser gross hoch berg und bösen weg. Auf dem weg ward mein stalbruder herr Achatz Frodner krank, das ich mich verwegen het, wir musten jn dohinten lassen. Susa ist ein schone stat, und leit unter einem berg. Man sagt, der pabst nem sich umb die selben stat an. Von dann ritt wir auf Meilant zu, und ritten und ritten durch Langedock und Prynnen, das ist ser ein gut fruchtbar, wolgestift land. Mein herr schicket mich und seinen herold vor hin umb gleit zum herzogen30. Der was nit zu Meilant, und funden jn funf meil von Meilant …“, folgt ausführlich, was man in Mailand so trieb („schön junkfrauen hat’s“). „Von Meilant ritt wir in der Venediger land, auf Bern und Vincenz und Padua. Sein grossser mächtiger stät drey …“31 Alle für Reiseaufzeichnungen des 16. und 17. Jahrhunderts besonders bezeichnenden Modi der Raumerfahrung ließen sich an diesem Text schon embryonal ausmachen: Wir sehen beispielsweise, daß Grenzen (wie die zwischen dem damals spanischen32 Perpignan und dem französischen Montpellier) keine Rolle spielen; daß Punkte allenfalls gleichsam sekundär, durch politische Zuschreibungen („gehort dem pabst zu“), in Räume gestellt werden; daß am Unterwegs nur mehr als zwei Worte wert ist, was besonderes Ungemach bescherte; daß „gutes“ Land fruchtbares Ackerland ist; oder die Stereotypie der gelegentlichen Situierungen von Städten in Natur, noch nicht Landschaft („leit unter einem berg“). Aber diese Interpretationen sind doch etwas gekünstelt. Kündet unser Text bei unbefangener Lektüre nicht von einer punktuellen Raumerfahrung? Europa, ein Punkteraster! 27

Das gilt für meinen Untersuchungsraum: ein weit nach Westen und südlich über die Alpen erweitertes Mitteleuropa. Mit anderen Worten: Ich habe nicht systematisch untersucht, wie Skandinavien, England oder Osteuropa erreist und wahrgenommen wurden. 28 Also: von Perpignan nach Montpellier. 29 Nach Avignon. 30 Also: um den Herzog (Galeazzo Maria, den Sohn des kurz vorher gestorbenen berühmten Kondottiere Francesco Sforza) um einen Geleitbrief zu bitten. 31 J. A. Schmeller (Hrsg.), Des böhmischen Herrn Leo’s von Rozmital Ritter-, Hof- und Pilger-Reise durch die Abendlande 1465–1467. Beschrieben von zweien seiner Begleiter. Stuttgart 1844, 192 f. 32 Für die 1460er Jahre müßte man präziser sagen: aragonesischen. Das Roussillon mit Perpignan wird erst im Pyrenäenfrieden von 1659 staatsrechtlich an Frankreich fallen. Freilich mußte es Johann II. 1462 vorübergehend an Frankreich verpfänden. Daß in unseren Reiseaufzeichnungen keine scharfkonturierten Länderblöcke begegnen, hat eben neben seiner wahrnehmungsgeschichtlichen auch eine politik- und rechtsgeschichtliche Seite.

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Das ändert sich der Frühen Neuzeit zu, aber nicht in jeder Hinsicht. In dieser schon: neuzeitliche Aufzeichnungen prunken mit Entfernungs- und Richtungsangaben, ferner, wie wir ja schon wissen, mit kleinräumigen politischen Zuschreibungen. Hinsichtlich der Abgrenzung von Völkern oder Nationen dagegen ändert sich nichts. Die vielen südwärts ziehenden Pilger interessieren sich nicht dafür, wie weit sich das Reich über die Alpen oder die Apenninhalbinsel hinab erstreckt; Frankreichreisende geraten gewissermaßen sukzessive in dieses Land hinein – nein, das ist mißverständlich formuliert, weil es so etwas wie ein „Kernfrankreich“ voraussetzt, auf das wir in der ersten Hälfte der Frühen Neuzeit noch gar nicht stoßen, man besucht ein Städtlein des Herzogs von Bourbon, reist durch „das Delphinat“ oder durch „Champagnien“.33 Wir werden weder mit französischer Sprache noch mit französischem Wesen konfrontiert, sowieso nicht plötzlich, vor dem 18. Jahrhundert auch nicht sukzessive, es werden eben nach und nach deutsch klingende Ortsnamen seltener. Umgekehrt kommen Reichsgrenze wie deutsche Sprachgrenze kaum je vor. Untypisch deutlich notierte 1680 Adam Ebert, nach einer dreijährigen Europareise, in Trient: „Hier war zuerst Teutsch Traktament und Bier, von welchem man fast neu geboren.“34 Bezeugt diese Bierseligkeit vormodernen deutschen Nationalismus? Dem schon erwähnten Samuel Kiechel fällt, von Skandinavien ins Reich zurückkehrend, in Warnemünde aussteigend nicht etwa auf, daß er jetzt wieder auf deutschem Boden stehe, sondern das: „Schlug die Glocke zwölf. Nun waren wir sehr hungrig.“35 Reichspatriotismus trieb den Mann offenbar nicht um. Von teutschem Nationalbewußtsein findet sich in voraufklärerischen Reiseaufzeichnungen durchweg keine Spur – nicht in denen, die für Freunde und Nachkommen angefertigt worden sind, nicht in den wenigen zur Publikation bestimmten.

II. Und das Epochale? Stoßen wir denn nun in Reiseaufzeichnungen auf eine spezifisch frühneuzeitliche Raumwahrnehmung? Zunächst einmal zum Unmodernen unserer Texte! Wir finden in ihnen eher Punkte als Flächen, stoßen auf kleine urbane Rauminseln, keine Landschaften, auch keinen homogenen Raumcontainer namens „Nationalstaat“. Unsere Autoren reisen, um anzukommen. Sie wollen ein Ziel erreichen, nicht unterwegs sein – das wird sich erst mit der Erfindung des Wanderns im

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So häufig für die Dauphiné bzw. für die Champagne – aber das sind nur beliebig herausgegriffene Beispiele. 34 Adam Ebert, Reiseaufzeichnungen, Teilabdruck in: Dussler (Hrsg.), Reisen und Reisende in Bayerisch-Schwaben (wie Anm. 24), 156–160, hier 157. 35 Prottung, Kiechel (wie Anm. 19), 107.

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18. Jahrhundert ändern, erst jetzt wird der Weg das Ziel. Reiseaufzeichnungen des ausgehenden Mittelalters, des 16., noch über weite Strecken des 17. Jahrhunderts interessiert schlechterdings nicht, was zwischen den von ihnen angesteuerten Städten liegt. Naturräume werden entweder gar nicht registriert, oder es genügen einige immergleiche karge Landschaftsrequisiten: „ist waldig“, „wenig fruchtbar“. Geben sich unsere Reisenden schon früh der Logik der Straße hin, die vorwärtstreibt und alles rechts wie links zum vorbeiziehenden Panorama entwirklicht? Stößt der heutige Leser, der Landschaft womöglich für jene Kulisse hält, die am ICE-Fenster vorbeizieht, hier auf moderne Wahrnehmungsweisen? Bei einem damaligen Reisetempo von drei bis sieben Stundenkilometern bietet sich eine andere Interpretation an. Natur als Landschaft zu genießen – das scheint keine frühneuzeitliche Alltagserfahrung gewesen zu sein. Von manchen Humanisten, wie Piccolomini, vielleicht auch schon Petrarca antizipiert, blieb es doch ein Elitenphänomen, das vormoderne Reiseaufzeichnungen nicht erreicht. Auch eine im Quattrocento einsetzende Entwicklung der Malerei – vereinfacht gesagt: vom Goldgrund mit einzelnen Landschaftsrequisiten zum Fensterdurchblick, ja, zur Landschaftsbühne, die die in ihr spielende „storia“ zur Nebensache degradieren kann –, sie machen unsere Texte nicht mit. Es bleibt der Zeit der „Sentimental Journeys“, der Romantik, Reiseberichten des Biedermeier vorbehalten, majestätische Ausblicke zu beschwören, trunken vor Sonnenuntergängen zu stehen und solang goldene Sonnenbälle versinken zu lassen, bis das, etwa schon bei Heine36, nur noch in ironischer Brechung zu ertragen ist. Mit gefühliger Naturseligkeit können nun gefühlige Vaterlandswonnen einhergehen, man schwelgt in schöner deutscher Natur. Noch vergleichsweise unpathetisch formuliert ein Wanderführer von 1840, er wolle „Leitfaden dessen sein, der mit empfänglichem Herzen für das Schöne und für den Anklang der Poesie, eine Uebersicht über unser Vaterland sich zu eigen machen will“.37 Sollen wir 36

Schon dieser verspätete Romantiker zeigt uns immer wieder, wie nach spätaufklärerischer Naturerkundung (man denke nur an den Goslarer „Philister“ auf dem Weg zum Brocken in der „Harzreise“!) recht rasch auch romantische Naturbestaunung abgegriffen zu werden beginnt. Damit ist sie massentauglich geworden. – Der Leser wird die Szenerie kennen: nachdem besagter Philister endlich weg ist, Rausch der Synästhesien. Der währt nicht, denn auf dem gar nicht einsam ragenden Gipfel wartet schon alles darauf, programmgemäß von romantischer Naturseligkeit ergriffen zu werden: Der „Feuerball“ beginnt zu versinken, das gemischte Völkchen der Betrachter wirft sich in die bereits üblich gewordene Pose ergriffener Naturandacht, mit glühenden Gesichtern über gefalteten Händen, aus der immerhin auch alle einenden Stille scheinen sich die weitgreifendsten Gedanken und weitherzigsten Gefühle zu erheben, bis – einer der köstlichsten Sätze der Weltliteratur in die Feier hineinplatzt: „Während ich so in Andacht versunken stehe, höre ich, daß neben mir jemand ausruft: ‚Wie ist die Natur doch im allgemeinen so schön!‘“ Das Zitat: Karl Wolfgang Becker (Bearb.), Heinrich Heine. Säkularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Bd. 5. Berlin/Paris 1970, 42. 37 Gustav von Heeringen, Wanderungen durch Franken. Leipzig o. J. [wohl 1840], 6. Das Buch erschien im Rahmen einer Reihe, die ganz Deutschland („das malerische und ro-

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solch biedermeierliche Harmlosigkeit dafür haftbar machen, daß nochmals einige Jahrzehnte später, um 1900, Wandersmann Friedrich Ratzel, der Erfinder des nationalsozialistischen „Lebensraums“, in Deutschlands Gauen das Volkswesen schauen wird? In unseren vormodernen Reiseaufzeichnungen ist das nationalstaatliche 19. Jahrhundert noch sehr fern. Unsere Reisenden sehnen sich nicht nach deutscher Erde, sondern in eine bestimmte Siedlung zurück. Die in der Fremde bewußtwerdende, deshalb auf den Begriff gebrachte Heimat ist kleinräumig. Gewiß ließen sich dem andere Textsorten entgegenstellen, die pathetisch die deutsche Nation preisen, man konnte sich dieses größeren Vaterlandes aus gegebenem Anlaß feierlich erinnern; alltäglich waren offenbar viel kleinräumigere Bezüge. Im alltäglichen Lebensvollzug war die Nation nach Ausweis unserer Lebens- und Reiseaufzeichnungen kaum je der primäre identitätsstiftende Rahmen: Begegnende werden als Angehörige einer Landschaft, eines „Stammes“, auch einer Glaubensgemeinschaft rubriziert, nicht als Repräsentanten einer Nation, eines Staatsvolks. Wenn überhaupt einmal eine Grenze erwähnt wird, zirkelt sie Provinzen, Regionen, Herzogtümer oder „Stammesgebiete“, nicht Nationen, die deutsche Sprachgrenze ist so unerheblich wie eine etwaige Reichsgrenze. Ist das unmodern? Oder in einer Zeit, da manche vom „Europa der Regionen“ träumen, topaktuell? Sollte die Nationalisierung der Heimat ein kurzes weltgeschichtliches Intermezzo gewesen sein, vorübergehendes Kennzeichen eines langen 19. Jahrhunderts? Wann hat es begonnen? Der Kaufmann Johann Daniel Mutzenbecher hielt 1819 auf der Rheinbrücke bei Kehl folgendes fest: „Da stand ich nun an der Gränze meines Vaterlandes, das Alles einschloß, was mir lieb und theuer auf Erden war … und schaute hinüber in das Land, dessen Bewohner, in Sitte und Gesinnung so sehr von uns abweichend, wir wohl fürchten, aber nicht lieben …“38 Das war eine neue Melodie. Sie wurde rasch tonangebend. Erst jetzt wird der Schritt aus Deutschland hinaus zur markanten Fremderfahrung. Soviel zum „noch nicht“ unserer vormodernen Aufzeichnungen! Und das „schon“? Zunächst einmal ist bemerkenswert, daß Reiseberichte des 16. und 17. Jahrhunderts in oft ermüdender Gründlichkeit durchreiste Orte bestimmten Territorien zuschreiben. Sie interessieren sich zwar nicht weiter für Grenzüberschreitungen, ordnen aber die besuchten Punkte politisch genau und ganz unskrupulös zu. Das könnte ein alltagsgeschichtliches Indiz dafür sein, daß der longue-durée-Trend der Territorialisierung politischer Herrschaft seinen entscheidenden Schub bereits an der Schwelle zur Neuzeit erfahren hat. mantische Deutschland“) erwanderbar machen wollte, insofern meint „Vaterland“ in diesen Bänden schon das Ganze der Nation, doch ohne jede ethnische Aufladung. 38 [Johann Daniel Mutzenbecher,] Bemerkungen auf einer Reise aus Norddeutschland über Frankfurt nach dem südlichen Frankreich im Jahr 1819. Leipzig 1822, 88.

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Sagt uns nicht auch der beiläufige, wie selbstverständliche Umgang mit exakten Entfernungsangaben, die oft ermüdende, weil regelmäßige Portionierung des Reisens etwas über die Raumwahrnehmung? Seit dem ausgehenden Mittelalter erreisen unsere Autoren ein homogenes Kontinuum. Soweit war die Malerei der Zeit auch schon – noch nicht Giotto, mit seiner gleichsam fragmentierten Plastizität, seinen euklidischen Objekten im aristotelischen Raum39, aber dann doch seine nach immer ausgefeilteren Regeln für die Linearperspektive arbeitenden Nachfolger im Quattrocento. Dem kunstgeschichtlichen Befund korrespondiert die Raumerfassung durch die frühneuzeitliche Politik, und korrespondieren in gewisser Weise auch unsere Aufzeichnungen. Unsere Reisenden durchziehen einen homogenen isotropen Raum, von der mittelalterlichen Texten eigenen „Inselraumstruktur“40 kann keine Rede mehr sein – einerseits. Andererseits dürfen wir über der Herauspräparierung einzelner Textelemente nicht die Proportionen, umgangssprachlich: über einzelnen Bäumen nicht den Wald aus dem Blick verlieren. Gewiß, unsere Reisenden ordnen Orte politisch ein, schreiben sie damit Räumen zu, und sie scheinen sogar zu 39

Die Malerei trat damals, 1305 in der Kapelle dell’Arena in Padua, oder schon einige Jahre früher in der Franziskus-Basilika in Assisi, in ihre jahrhundertelange Phase virtuoser Oberflächenrealität ein; aber während einzelne Dinge oder auch kleinere Ensembles bei Giotto schon dreidimensional anmuten, präsentiert sich das Bild als Ganzes noch nicht als einheitlicher physikalischer Raum, es ist nicht kontinuierlich. – Zum nicht mehr unterschreitbaren Standard für zeitgemäße Malerei wird die mathematisch-optische Technik der Linearperspektive seit den 1420er Jahren, als beispielsweise der feste Beobachterstandpunkt fürs ganze Bild bei Masaccio oder die planperspektivischen Verfahren Brunelleschis die fortan gültigen Maßstäbe setzen. Mit der physikalischen Realität überhaupt gewinnt, neben dem anatomisch korrekten menschlichen Körper, die stimmig und stimmungsvoll abgeschilderte Natur als Landschaftsszenerie ungemein an Gewicht: Es beginnt das materialistische Zeitalter der abendländischen Malerei. Der Bildraum wird im Quattrocento kontinuierlich, homogen, isotrop. 40 Der Germanist Bernhard Jahn attestierte spätmittelalterlichen Texten eine solche „Inselraumstruktur“: Bernhard Jahn, Raumkonzepte der Frühen Neuzeit. Zur Konstruktion von Wirklichkeit in Pilgerberichten, Amerikabeschreibungen und Prosaerzählungen. Frankfurt am Main 1993. Der Buchtitel ist doppelt mißverständlich: Jahn untersucht Werke des ausgehenden Mittelalters, vor allem aus den Jahrzehnten vor und um 1500; und er gewinnt seine prägnantesten Ergebnisse in fiktionalen Texten, hat nur einige wenige der zahlreichen spätmittelalterlichen Reiseberichte angeschaut. Der Befund, pointiert zusammengefaßt: Die Erde ist ein Patchwork qualitativ besonderer Rauminseln, die mit je eigenem Personal (Riesen oder Zwergen, spezifischen Helden und Schurken) ausgestattet und nicht gleichermaßen für jedermann zugänglich (womöglich sogar „verwunschen“) sind. – Daß mittelalterliche Texte von einer anderen Raumerfahrung künden als moderne, ist mehr oder weniger beiläufig auch schon anderen Philologen aufgefallen. Ich zitiere noch Peter Czerwinski, Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und zyklische Zeiten, Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter. München 1993; er spricht insbesondere im Hinblick auf höfische Epen von „aggregativ nebeneinander liegenden, qualitativ verschiedenen Räumen … zwischen denen die wichtigste Form der Vermittlung der Sprung ist“ (58 f.); ebd. 24 ist die Rede von „qualitativ verschiedene[n] Gegenden im Raum“, „in solche isolierten Raumblöcke gelangt man nur mit einer sprunghaften Bewegung“.

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wissen (freilich selten für nennenswert zu halten), wo diese Räume aneinanderstießen. Aber unbefangen gelesen, bieten Reiseaufzeichnungen des 16., noch des 17. Jahrhunderts doch ein Nacheinander von ausdehnungslosen Punkten. Essentielle Grundelemente sind Orte und Entfernungsangaben zwischen diesen Reiseetappen, nicht Räume. Man reist, um anzukommen, will ein Ziel erreichen, nicht unterwegs sein. Das Unterwegs besteht aus Mühseligkeiten, aus Hindernissen. Landschaften finden wir vor dem ausgehenden 17. Jahrhundert keine. Politische Räume (Herzogtümer, Grafschaften usw.) werden genannt, gewiß, aber sie werden nicht verlebendigt und erhalten auch keine identitätsstiftende historische Tiefendimension – im Gegensatz zu den wichtigeren unter den Städten, deren vermeintliche „Geschichten“, deren Lokaltraditionen, bisweilen auch Gründungsmythen erzählt werden. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten (insbesondere politischen) Raum ist Attribut des Ortes, also eines Punktes, die Grenzen wiederum ergeben sich implizit aus den Attributwechseln bei nacheinander durchreisten Orten: Ort A „gehört“ Fürst X, Ort B aber Herzog Y, dazwischen liegt eine politische Trennlinie, deren Verlauf unproblematisch und so ziemlich jedermann bekannt ist, die aber nicht zu den vorrangig registrierten Kategorien gehört. Die aus unseren Reiseaufzeichnungen sprechende Raumwahrnehmung ist zuallererst punktuell. Kleine Räume sind viel relevanter als „Reich“ oder „Nation“, aber alle Räume sind sekundär. Insofern präsentiert sich die Frühe Neuzeit von der Raumwahrnehmung her als Übergangsphase41 zwischen den mittelalterlichen, qualitativ geschiedenen „Inselräumen“ und jenem euklidischen, homogenen Raumcontainer, der wahrnehmungsgeschichtlich einem langen 19. Jahrhundert anzugehören scheint; der sich im 18. langsam aufgebaut hatte42, im 20. unmerklich an Verbindlichkeit einzubüßen begann. Doch fragen wir uns, ehe postmoderne Entwicklungen in den Blick kommen, zunächst nach möglichen Gründen für den eigentümlich diskontinuier41

Ist das überraschend? Für mein Empfinden ist das eigentliche Faszinosum dieses Zeitraums (der „Hexen“ folterte und Schloßanlagen um zusätzlich noch als Treppenaufgang nutzbare gestufte Zeremonialbühnen herum plante, andererseits den bürokratischen Anstaltsstaat hervorbrachte, innere wie zwischenstaatliche Politik ungemein professionalisierte) das fast unentwirrbare Ineinander von vermeintlich Fremdem und scheinbar schon ganz Vertrautem. Manche Frühneuzeitler betonen ersteres stärker, andere die Modernisierungsleistung der Frühen Neuzeit. 42 Denn (um stichwortartig zusammenzustellen, was teilweise schon ausgeführt wurde, teilweise weiter unten noch thematisiert wird): Einzelne Naturrequisiten setzen sich sukzessive zu Landschaften zusammen, insofern füllen sich nun die interstädtischen Leerräume flächig; Länderblöcke kündigen sich an, wenn auch noch keine scharf umrissenen (die Grenzüberschreitung als Kulturschock gehört dem 19. Jahrhundert an), mit ihnen Räsonnements über den ‚Nationalcharakter‘ – der im 19. Jahrhundert so dominante euklidische Raumbehälter namens „Nationalstaat“ hat wahrnehmungsgeschichtliche Wurzeln im 18. Jahrhundert.

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lichen Raum vormoderner Texte! Warum stoßen wir in Reiseaufzeichnungen des 14. und 15. Jahrhunderts auf ein Punkteraster, warum präsentieren sich noch Berichte der beiden nächsten Säkula vor allem als Abfolgen allein interessanter Zielorte? Daß sich eine diskontinuierliche, fragmentierte, inhomogene Raumwahrnehmung ,irgendwie‘ zu Gesellschaften fügt, die man mit Ethnologen als „segmentär“, mit der Systemtheorie als „stratifikatorisch“ charakterisieren kann, mag in einem ganz allgemeinen Sinne evident sein. Aber mit wissenschaftlichen Instrumentarien erhärten läßt es sich nicht. Sicher darf man nicht einfach von sozialer Homogenität auf homogene Raumerfahrungen schließen – warum sollte unsere „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ sonst neue Verinselungserfahrungen produzieren? Ich will, hoffentlich weniger kurzschlüssig, zwei43 anderen Spuren folgen. Naheliegend ist ein Blick auf die zeitüblichen Praktiken der Ortsveränderung. Im 18. Jahrhundert sorgten erhebliche Fortschritte beim ,Reisewesen‘ – übrigens mehr im logistischen als im technologischen Bereich – dafür, daß Reisen (zwar noch nicht wesentlich schneller, aber) viel sicherer wurde. Konstanz und Berechenbarkeit machten abenteuerliches Improvisieren obsolet. Zu den Folgen gehört, daß man sich, wandernd, den neuen Routinen bald schon wieder zu entwinden sucht; und daß Natur so ,ungefährlich‘ geworden ist, daß man sie als Landschaft genießen kann.44 Man müßte eigentlich auch vertiefen, was in der hier notwendigen Verallgemeinerung banal klingt: daß sowohl das kleine Grüppchen der Humanisten als auch die Schar der Aufklärer irdische Realität in den Mittelpunkt menschlicher Aufmerksamkeit rückten. Die Welt war einem wackeren Aufklärer nicht mehr möglichst unbe-

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Für weitere Überlegungen muß ich auf Anm. 4 verweisen. Beispielsweise ist für mittelalterliche Texte auch der Stand der Kartographie mitzubedenken! 44 Ein für seine Entstehungszeit fast schon antiquiert anmutender Text über eine Reise durch die südfranzösische Berglandschaft im Jahr 1791 läßt diese Zusammenhänge erahnen: „Wir befanden uns zwischen zwey Ketten von Felsen eingeschlossen, und von einer dritten aufgehalten, deren Wände und ein großer Fichtenwald unsern Schritten Schranken setzten. Wie schön sind diese Wüsten! rief einer von unserer Gesellschaft, zu welchen erhabenen und neuen Ideen begeistern sie nicht den Menschen! Ja, meine Herren; aber um das Vergnügen dieses auffallenden Schauspiels in dem fürchterlichen Chaos dieser Berge, und unter diesen ungeheuern Felsenmassen, deren erhabene Difformität eben so viel Entsetzen als Erstaunen einflößt, recht genießen zu können, muß man auch gewiß seyn, einen Weg zu finden, der einen wieder herausführt, und uns verkündigt, bald wieder menschliche Wesen anzutreffen“ ([Anonym,] Briefe aus einer Reise durch das südliche Frankreich, in: Auswahl kleiner Reisebeschreibungen und anderer statistischen und geographischen Nachrichten. Bd. 14. Leipzig 1791, 59 f.; Kursivsetzungen von mir). Noch ist die Berglandschaft etwas unheimlich, aber man schaudert gern, weil man weiß, daß der Spuk bald vorüber ist, man fühlt sich dieser unkultivierten Natur nicht mehr ausgeliefert. Existentielle Angst ist auf wohligen Schauder zusammengeschrumpft. Selbst dieser wird sich immer weiter auf hohe Gipfel zurückziehen, wird sich bald nicht mehr vor Hügeln und Fichtenwäldern einstellen, die somit dem angstfreien Blick des Naturbeobachters freigegeben sind.

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schadet zu durcheilendes irdisches Jammertal, sondern nutzbar zu machendes und zu optimierendes Ziel all seiner Anstrengungen. Sie war grundsätzlich beherrschbar und hatte nichts Abgründiges mehr an sich, war vielmehr die „beste aller Welten“ (wie sie Leibniz herbeiphilosophiert und Brockes trivialisiert hat). Die – erneute schreckliche Vereinfachung! – ,typisch aufklärerische‘ Überzeugung, Natur beherrschen zu können, mag erst jene Distanz geschaffen haben, die dann auch den neugierigen Blick, ihm folgend ästhetische Empfindungen ermöglicht hat. Die interstädtischen Leerräume füllen sich. Haben die trotz der neuzeitlichen Portionierung der Routen noch eigentümlich diskontinuierlichen Räume unserer voraufklärerischen Reisenden auch damit zu tun, daß sie nicht in ihrer Kindheit (beispielsweise im Mathematikunterricht, oder weil sie in der Erdkundestunde Landkarten ausmalten) darauf getrimmt worden waren, ihre Wahrnehmung in einen kontinuierlichen euklidischen Raumbehälter einzupassen? Die zur Raumbildung notwendige individuelle Syntheseleistung – Orte, Gegenstände, Lebewesen werden vom Beobachter zu Räumen zusammengefügt – ist ja zweifelsohne gesellschaftlich vorgeprägt. Sie erfolgt in der Regel wenig reflektiert: Der einzelne hält die von ihm synthetisierten Räume für historisch oder naturräumlich vorgegeben, reproduziert sie nach seinem eigenen Empfinden ohne viel Aufhebens. Tatsächlich sind alle Räume, als Kopfgeburten, beeinflußt von der Raumvorstellung des Synthetisierenden, die er im Verlauf seiner Sozialisation entwickelt hat. In der Moderne wurde er so erzogen, daß er seine voreuklidische und präperspektivische45 kindliche Raumwahrnehmung sukzessive und nicht ohne Mühen in einen homogenen Raumcontainer einpaßte. Wird dieser seine Plausibilität behalten? Manche Vertreter der nordamerikanischen Urban Studies, neuerdings auch deutschsprachige Soziologen konstatieren oder prophezeien eine durch neue Medien, massenhafte Flugreisen und veränderte Sozialisationserfahrungen induzierte „Verinselung der Lebenswelten“46 – so diese Diagnose bzw. Prognose zutrifft, wird das die Raumwahrnehmung künftiger Generationen nicht unbeeinflußt lassen. Fernsehgerät und Computer mit Internetanschluß holen heutzutage per Knopfdruck oder Mausklick ferne Räume in den Wohnraum herein. Man nähert sich solcher „Ferne“ nicht mehr langsam und sukzessive an, springt gleichsam dorthin oder holt sie sich in Echtzeit nach Hause. Die Fernbedie-

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Entwicklungspsychologen haben das wiederholt gezeigt. Ich nenne exemplarisch Jean Piaget/Bärbel Inhelder, Die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde. Stuttgart 1975. 46 So formuliert es die Soziologin Martina Löw, Raumsoziologie. Frankfurt am Main 2001, 130; ebd. 85: „Verinselungssozialisation“; ebd. 265: „‚verinselte‘ Vergesellschaftung, die Raum als einzelne funktionsgebundene Inseln erfahrbar macht“.

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nung zappt von diesem elektronisch verfügbaren Raumfragment zu jenem und rasch immer weiter. Der vom Internet aufgespannte ,elektronische Raum‘ kann nicht als Behälter, als euklidischer Container begriffen werden, weder ist er homogen noch muß man sich in ihm kontinuierlich in einer bestimmten Reihenfolge sukzessive von A über B nach C vorarbeiten. Werden unsere Nachfahren die Welt als Benutzeroberfläche wahrnehmen, über die sie wie per Mausklick hin- und herspringen, auf der sie sich nach Belieben mal hier und anschließend unverzüglich da einlinken können? Soziologische Untersuchungen ergaben, daß Heranwachsende47 ihren Lebensraum nicht mehr als homogenen erleben, der sich in das Elternhaus umschließenden konzentrischen Kreisen allmählich ausweite (was wissenschaftliche Studien bis in die 1960er Jahre hinein dokumentierten), sondern als Nebeneinander isolierter Inseln (namens Tennisplatz, Musikschule oder Ballettsaal), zwischen denen sie ihre Eltern eilends hin- und hertransportieren. Derzeit heranwachsenden Kindern bestehe ihre Lebenswirklichkeit „aus einzelnen separaten Stücken, die wie Inseln in einem größer gewordenen Gesamtraum48 verstreut sind, der als ganzer bedeutungslos und weitgehend unbekannt bleibt“.49 Verknüpfen ließen sich diese Inseln allenfalls noch – wie die Datenströme zwischen den vielbeschworenen Global Cities – netzartig.50 Nach Ansicht ihrer wohlmeinenden, zu Chauffeuren mutierenden Eltern sind die Zwischenräume im wenig kindgerechten Großstadtdschungel wohl vor allem gefährlich; hüpfen heutige Kinder deshalb von Zivilisationsinsel zu Zivilisationsinsel, wie unsere Reisenden um 1500? Übrigens scheint sich das Neue wieder einmal, wie einst im Quattrocento, in der Kunst zuerst angekündigt zu haben, mit der Fragmentierung des Raums im Kubismus und im Futurismus: Ein halbes Jahrtausend nach der Eroberung des Tiefenraums gab ihn die Malerei wieder preis, zugunsten von aperspektivischen oder doch perspektivisch gebrochenen Kompositionen. Für die Wegbereiter der neuen Kunst korrespondierte ihrer neuen Raumer47

Unter Rückbindung an die weiter oben (vgl. Anm. 45) erwähnten Untersuchungen beispielsweise Piagets müßte man ergänzen: auch nachdem jene ersten Lebensjahre vorbei sind, in denen Kinder ohnehin nur „landmarks“ wahrnehmen, keine Räume synthetisieren können. 48 Man merkt wieder einmal, wie sich alltagssprachlicher und wissenschaftlich sinnvoller Raumbegriff in die Quere kommen – natürlich hat diese Studie ständig mit dem Problem zu kämpfen. Was hier als „Gesamtraum“ apostrophiert wird, ist im Sinne meiner wahrnehmungsgeschichtlichen Studie kein Raum. Was nicht als solcher wahrgenommen wird, ist ein mit physikalischen Instrumenten vermeßbares Stück Erdoberfläche, aber eben kein Raum. Konsequent vermochte ich diesen Sprachgebrauch auch nicht durchzuhalten. 49 Hartmut J. Zeiher/Helga Zeiher, Orte und Zeiten der Kinder. Soziales Leben im Alltag von Großstadtkindern. Weinheim/München 1994, 27. 50 Löw, Raumsoziologie (wie Anm. 46), 268, spricht, unter Berufung vor allem auf nordamerikanische Untersuchungen, vom „fließend vernetzten Raum“.

Gibt es eine typisch frühneuzeitliche Raumwahrnehmung?

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fahrung eine neue Anthropologie. Das stabile Ich, das souverän seiner Umwelt gegenübertretende, diese Umwelt ordnend beobachtende Subjekt löste sich auf, wurde Medium, in dem sich diskontinuierliche Kraftfelder überkreuzten und ineinanderschoben. Einer der Hohepriester der damals neuen Ästhetik hat es so formuliert: „Person bedeutet nun eine labile Geschehnisgruppe, die von anderen seelischen Gruppen oder Ereignissen durchquert wird. Damit aber wird das substanzenhaft stabile Ich aufgegeben, und an seine Stelle tritt ein labiles Funktionssimultané“.51 Dieses Ich ist nicht mehr kohärent gegen Außenwelt abgesetzt, sondern für alle ihre Einwirkungen durchlässig, damit so vielsinnig wie die anbrandende moderne – und das meinte damals natürlich: großstädtische – Umwelt. Nachdem Aufklärung und Romantik den Raum beherrschbar, dann anheimelnd gemacht hatten, kehrte nach 1900 im „Großstadtdschungel“ die Gefährdung des Subjekts durch das Anbranden ungebändigter, oft unheimlicher Umgebung zurück. Beschleunigung und Reizüberflutung im Großstadtdschungel gebaren eine neue Raumästhetik. Ob ihr das trägere Alltagsempfinden von Frau Jedermann nachfolgen wird? Welche Raumkonzepte wird der neueste, gern „Globalisierung“ genannte Beschleunigungsschub gebären? Weil seine Propheten selten weit in die Geschichte zurückblicken, halten sie ihre Polemik gegen ein Ich, das sich scharf von Außenwelt abgrenzt („warum sollten wir solch eine Truhe sein?“), ihr Plädoyer für „das poröse, vermischte Ich“ für so originell wie ihre Zweifel am modernen Alltagsverständnis von Räumlichkeit: „Ganz offensichtlich ist der euklidische Körper, den wir zu bewohnen glauben, ein Unding, in dem man gar nicht leben kann“.52 Werden künftige Generationen mental in ganz anderen Räumen zuhause sein? Der Historiker hat im arbeitsteilig organisierten Wissenschaftsbetrieb keine andere einleuchtende Spezialkompetenz für die Zukunft. Er kann nur plausibel machen, daß dieser euklidische Raumcontainer schon seit einiger Zeit an Evidenz einbüßt, vor allem aber wahrnehmungsgeschichtlich gar nicht so alt ist, wie wir für selbstverständlich halten.

51 Carl Einstein, Zur Ausstellung „Abstrakter Kunst“ in Zürich [von 1929], in: ders., Werke. Bd. 3. Hrsg. v. Marion Schmid, Liliane Meffre. Wien/Berlin 1985, 264. 52 Michel Serres, Atlas. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Berlin 2005, 78 f.

Mediterrane Diasporas Plurale Loyalitäten an der Schnittstelle von „Nationen“ Von

Desanka Schwara Der Mittelmeerraum zeichnet sich durch seine Heterogenität aus: Pflanzen, Nahrungsmittel oder Tiere, die heute als mediterrane Wahrzeichen gelten, stammten ursprünglich aus allen Teilen der Erde, ebenso die Menschen.1 Dieser Raum dient als Ausgangslage, da hier diasporische Lebensformen das Gesicht der Geschichte über die Jahrhunderte geformt haben. Insbesondere die hybride Bevölkerung in den Hafenmetropolen dachte und lebte in großräumlichen Zusammenhängen.2 Ihre Wahrnehmungen waren getragen von nichträumlichen, raumübergreifenden kulturellen Bindungen. Ich will der Frage nachgehen, wann und wie die „Nation“ frühneuzeitliche Organisationsformen und politische Modelle ablöste und zum zugehörigkeitsbildenden Element konstruiert wurde. Von zentraler Bedeutung ist die Frage, welche Entwicklungslinien bzw. Entwicklungsbrüche bezüglich Formen der Loyalität, Solidarität und kulturell bedingtem Zeitverständnis aufgezeigt werden können. Lebensformen und Raumverständnis in der Frühen Neuzeit sind selbstredend je nach Bevölkerungsgruppe, sozialer Schichtung, Berufsgruppe oder religiöser Gemeinschaft, Bildungs- und Erfahrungsstand verschieden. Entsprechend läßt sich die lebhafte Diskussion über Periodisierungen um einige 1 Fernand Braudel, Mediterrane Welt, in: Maurice Aymard/Fernand Braudel/Georges Duby, Die Welt des Mittelmeeres. Zur Geschichte und Geographie kultureller Lebensformen. Frankfurt am Main 1996, 7–15, hier: 8 f. Dieser Aufsatz gründet auf einer Projektskizze, die ich 2004 beim Schweizerischen Nationalfonds in Bern eingereicht habe (Entgrenztes Europa: Die Diasporas als transkulturelle und gebietsübergreifende Verbindungselemente, 1492–1918) und auf meiner englischen Arbeit zu Raumkonzepten (Rediscovering the Levant. A Heterogeneous Structure as a Homogeneous Historical Region, in: European Review of History/Revue européenne d’Histoire [Topical issue „Geschichtsregionen, Concept and Critique“, ed. by Stefan Troebst.] 10/2, 2003, 233–251.) „Entgrenztes Europa“ ist eine erste Konsequenz der Forschungsarbeit zu meiner Habilitationsschrift (die ich ebenfalls 2004 eingereicht habe, an der Universität Basel) in den Archiven von Wien, Triest, Dubrovnik, Belgrad, Jerusalem und New York (Desanka Schwara, Unterwegs. Reiseerfahrung zwischen Heimat und Fremde in der Neuzeit. Göttingen 2007). 2 Weiterführend zum postkolonialen Hybriditätsbegriff siehe María do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld 2005; Kien Nghi Ha, Ethnizität und Migration Reloaded. Kulturelle Identität, Differenz und Hybridität im postkolonialen Diskurs. Berlin 2004; Kien Nghi Ha, Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus. Bielefeld 2005.

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Komponenten erweitern. Ereignisse, die in der Historiographie jeweils zu Zäsuren führten, haben sowohl geographisch als auch schichtspezifisch verschieden gewirkt. Wir wissen aus der jüdischen Geschichte, daß hier die zeitlichen Akzente anders gesetzt werden müssen als in der christlichen. Die jüdische Haskala erfolgte gut hundert Jahre nach der christlichen Aufklärung. Das „goldene Zeitalter“ der einen Bevölkerungsgruppe nahm oft mit dem Beginn goldener Zeiten einer anderen sein Ende.3 Im Mittelmeerraum können Merkmale, die uns für gewöhnlich Einteilungen und Abgrenzungen ermöglichen, nicht greifen. Sprachliche Grenzen ziehen sich kreuz und quer durch die Méditerranée, ebenso sozioökonomische oder religiös-kulturelle. Selbst die Kontinente – Europa, Asien und Afrika – sehen sich durch die See mit ihrem dichten Kommunikationsnetz verbunden. In der von Globalisierungserfahrungen geprägten modernen Weltgeschichtsschreibung werden traditionelle Periodisierungen als eurozentrisch kritisiert. Ein Hauptanliegen dieser „World History“, die unter anderem an die französische Annales-Schule anknüpft, ist die historiographische Überschreitung von räumlichen und zeitlichen Grenzen. Es geht um die Abkehr von eurozentrischen, das heißt westeuropäisch-christlichen Perspektiven in der Deskription und Interpretation der Menschheitsgeschichte. Die traditionelle, nationalstaatliche Perspektive soll überschritten werden, damit Verflechtungen, wie sie jedes spezifische historische Thema mit sich bringt, sichtbar gemacht werden können. Einerseits geht es um „cross-cultural interactions“ in geographischen Räumen, die von historischen Themen und nicht von politischen Grenzen bestimmt werden, andererseits um Entwicklungen, Muster und Strukturen in bestimmten Zeiträumen.4 Die Fokussierung auf Dinge, die zunächst peripher erscheinen mögen, eröffnet nicht nur neue Lesearten von Texten und Kommentaren sowie von Bildern und Interpretationen, sondern erlaubt auch eine radikale Hinterfragung kultureller Hierarchien5, 3 Mark Mazower, Salonica. City of Ghosts. Christians, Muslims and Jews 1430–1959. London 2004. 4 Weiterführend zu „World History“: Janet Abu Lughod, Before European Hegemony. The World System A. D. 1250–1350. Oxford 1989; Jerry H. Bentley, Cross-Cultural Interaction and Periodization in World History, in: AHR 101/3, 1996, 749–770; Jerry H. Bentley/ Herbert Ziegler, Traditions and Encounters. A Global Perspective on the Past. 3rd Ed. Boston 2006; Patrick Manning, Navigating World History. New York 2003; William Hardy McNeill, The Rise of the West. A History of the Human Community. 5th Ed. Chicago 1964; Jürgen Osterhammel/Niels P. Peterson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen. München 2003; Wolfgang E. Weber, Universalgeschichte, in: Michael Maurer (Hrsg.), Aufriß der Historischen Wissenschaften. Bd. 2: Räume. Stuttgart 2001, 15–98; Immanuel Wallerstein, World-Systems Analysis. An Introduction. London 2004. 5 Christina Lutter/Lutz Musner/Gotthart Wunberg (Eds.), Cultural Turn. Zur Geschichte der Kulturwissenschaften. Wien 2001, 7 f. Mit disparat gehaltenen Einzelstudien ist es den Herausgebern gelungen, wichtige Aspekte der „kulturalen Wende“ (Cultural Turn) in den Humanwissenschaften während des 20. Jahrhunderts sichtbar zu machen. Vgl. auch Hartmut Böhme/Peter Matussek/Lothar Müller, Orientierung Kulturwissenschaft.

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eines der Hauptanliegen der Postcolonial Studies, die Kultur, Identität und Subjektivität unter kolonialen Bedingungen untersuchen. Dabei geht es sowohl um die Veränderung der kolonisierten Bevölkerung und ihrer Kultur als auch um die der Kolonialherren.6 Im Prozeß der Kolonialisierung findet ein mit Gewalt erzwungener Kulturkontakt statt. Eine Kultur erobert die andere und formt sie nach ihren Vorstellungen um. Im Bestreben, sie zu beherrschen, verändert und zerstört sie das vorgefundene kulturelle System. Diese Veränderung erfolgt durch Gewalt und die Macht des Benennens und der Definition. Die Europäer definieren, was „westlich“ und „europäisch“ ist, was „orientalisch“, „asiatisch“ oder „türkisch“; aber auch die Westeuropäer benennen, was „östlich“ oder „balkanesisch“ ist.7 Ist die Kultur des kolonisierten Raumes erst einmal zerstört, sind die westlichen Beschreibungen oft das einzige Zeugnis, das von dieser vernichteten Kultur übrig bleibt. Postkoloniale Ansätze untersuchen den paradoxen Prozeß der Selbstfindung von Gruppen und Individuen aus ehemaligen Kolonien, die in ihrem Denken auch nach der Befreiung kolonisiert bleiben. Da eigene kulturelle Praktiken durch die Fremdherrschaft verlorengegangen sind, kann sogar ein Rückgriff auf die eigene Kultur und Tradition wegen der Überlagerung fremder kultureller Werte und Definitionen nur in einer von den Kolonialherren erlernten Art und Weise erfolgen. Die Kolonisierung hat nicht nur Spuren bei den Kolonisierten hinterlassen, sondern auch bei den Kolonialherren und ihren Familien. Postkoloniale Ansätze folgen den Spuren des Kolonialismus auch in Europa und zeigen, wie das Selbstverständnis der Was sie kann, was sie will. Reinbek 2000; Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt am Main 1994; Roger Bromley/ Udo Göttlich/Carsten Winter (Hrsg.), Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung. Lüneburg 1999; Clifford C. Geertz, The Interpretation of Cultures. Selected Essays. New York 1994; Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt am Main 2001; Christina Lutter/Markus Reisenleitner, Cultural Studies. Eine Einführung. Wien 1998. 6 Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton, N. J. 2000; Frantz Fanon, Das kolonisierte Ding wird Mensch. Ausgewählte Schriften. Leipzig 1986; ders., Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt am Main 2001; ders., Schwarze Haut, weiße Masken. Frankfurt am Main 1985; Stuart Hall, Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften. Hamburg 2004; ders., Rassismus und kulturelle Identität. 2. Aufl. Hamburg 2000; Toni Morrison, Playing in the Dark: Whiteness and the Literary Imagination. Cambridge, Mass. 1992; Edward W. Said, Freud und das Nichteuropäische. Zürich 2004; ders., Culture and Imperialism. New York 1993; María do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld 2005; Nghi Ha, Ethnizität (wie Anm. 2); Nghi Ha, Hype um Hybridität (wie Anm. 2). 7 Siehe zur Wahrnehmung des „Balkans“ und ihrer Funktion im Westen: Maria Todorova, Die Erfindung des Balkans. Darmstadt 1999 (zuerst New York 1997); zur historischen Kontroverse: Holm Sundhaussen, Europa balcanica. Der Balkan als historischer Raum Europas, in: GG 25, 1999, 626–653, zit. Textfragmente ebd. 628; Maria Todorova, Der Balkan als Analysekategorie: Grenzen, Raum, Zeit, in: GG 28, 2002, 470–492, zit. Textfragmente ebd. 492.

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Europäer und Europäerinnen durch die Berührung mit außereuropäischen Kulturen verändert wurde. In ihrer Grundstruktur unterscheidet sich die hier vorliegende Arbeit in ihren Prämissen insofern von den Postcolonial Studies, als es nicht primär um die politischen und kulturellen Folgen von Kolonialherrschaft und die Betonung autochthoner Strukturen und eine Wiederentdeckung und Rückeroberung des Eigenen durch die kolonisierten Zivilisationen geht, sondern umgekehrt um Diasporagruppen, die sich in die bestehenden Herrschaftsstrukturen eingliedern mußten. Auch wurden sie in die Diaspora nicht verschleppt wie zum Beispiel afrikanische Sklaven nach Übersee, sondern hatten ihre Ziele frei gewählt. Eine Begebenheit aus dem 10. Jahrhundert brachte mich auf den Gedanken, mich raum- und zeitübergreifender Loyalität und Solidarität zu widmen. Chasdaj Ibn Schafrut, ein jüdischer Arzt, Mäzen und Staatsmann, der um 940–975 bei den Kalifen Abderrahman III. und Al-Hakim II. auf der Iberischen Halbinsel in hohem Ansehen stand, hatte die Idee, an den chasarischen Chagan einen Brief zu schreiben.8 Zu diesem Zeitpunkt wußte er nicht einmal mit Bestimmtheit, ob es diesen und sein sagenumwobenes Reich überhaupt gab. Handelsreisende hatten ihm Gerüchte von einem jüdischen Staat irgendwo im Osten überbracht. Sie sollten nun auch seinen Brief dahin befördern. Ein erster Versuch über Byzanz mißlang. Chasdaj Ibn Schafrut erwog bereits, Reisende, die sich über Ägypten und Palästina in Richtung Schwarzes Meer begeben wollten, mit seinem Anliegen zu beauftragen. Da gelang es deutsch-jüdischen Kaufleuten, über Osteuropa ins Chasarenreich zu gelangen und seine Botschaft zu überbringen. Es dauerte jedoch Jahre, bis der Brief sein Ziel erreichte, und noch einmal Jahre, bis Chasdaj Ibn Schafrut die Antwort des Chagan Josef in seinen Händen hielt. Obwohl er in seiner angestammten Heimat als bedeutende Persönlichkeit galt, identifizierte sich Chasdaj Ibn Schafrut interessanterweise in seinem Brief mit diesem unbekannten König, dessen Existenz noch nicht einmal als gesichert galt. Trotz des hohen Ansehens, das er unter muslimischer Herrschaft genoß, stufte Chasdaj Ibn Schafrut die religiöse Zugehörigkeit offensichtlich höher ein als die soziale. Er äußerte gar den Wunsch, sich in diesen jüdischen Staat aufzumachen, wenn er denn existierte. Tatsächlich folgte nach einigen Jahren die Antwort des Chagan Josef aus dem Chasarenreich. Diese Briefe führen uns direkt in die verschiedenen Möglichkeiten eines Selbstverständnisses von Individuen, in Bereiche, an denen Empfindungen der Zugehörig8 Zu den Chasaren, Chasdaj Ibn Schafrut und dem berühmten Briefwechsel siehe u. a. Kevin Alan Brook, The Jews of Khazaria. Northvale, N. J. 1999; Douglas Morton Dunlop, The History of the Jewish Khazars. Princeton, N. J. 1954; Jehuda Halevi, Das Buch Kusari. Zürich 1990; Arthur Koestler, Der dreizehnte Stamm. Das Reich der Chasaren und sein Erbe. Bergisch-Gladbach 1989; Svetlana Aleksandrovna Pletneva, Die Chasaren. Mittelalterliches Reich an Don und Wolga. Wien 1979; Alfred H. Posselt, Geschichte des chasarisch-jüdischen Staates. Wien 1982.

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keit festgemacht werden können, und in die Problematik einer Doppelloyalität, die besonders den Juden wiederholt vorgeworfen wurde. Sie führen aber auch in die Sphäre eines vermeintlichen Verrats; ein Vorwurf, mit dem Menschen, die zwischen und innerhalb verschiedener Kulturen existieren, häufig konfrontiert worden sind.9

I. Das Zeitempfinden in verschiedenen religiös-kulturellen Kontexten Nicht nur der Raum, sondern auch die Zeit bildet in der Historiographie keine Konstante. Das damalige geographische Wissen spielte für die Autoren historiographischer Werke im hohen und späten Mittelalter, für die Europa tertia pars mundi war, eine große Rolle. Am Ausgang der Reflexion über die Gestalt der Welt stand augenscheinlich eine Zweiteilung zwischen Europa und Asien. Diese auf den Fragmenten des Hekataios von Milet fußende Zweiteilung ist aber im Werk Herodots einer differenzierteren Dreigliederung gewichen. Herodot schließt Libyen – also Afrika bzw. jene Küstenregion des Kontinents, von der er bereits Kenntnis hatte – in seine Vorstellungen der Welt mit ein.10 Der engere Europabegriff geht auf die Vorstellung vom Abendland zurück, das infolge der Teilung der christlichen Kirche dem Morgenland gegenübergestellt wurde. Die Eroberung weiter Teile Osteuropas durch die Mongolen und Osmanen verstärkte diese Spaltung.11 Hier können wir mit den verschiedenen Zeitvorstellungen anknüpfen. Nicht nur Periodisierungen hängen vom thematisch-methodischen Zugang ab und von der Frage, die wir forschungstechnisch ins Zentrum rücken, sondern das Zeitverständnis an sich. Die Werkzeuge der Kommunikation und die damit eng verbundenen identitätsstiftenden Elemente gehen weit über die Sprache und visuell wahrnehmbare Äußerlichkeiten, selbst über Hören, Riechen, Schmecken oder Tasten hinaus.12 Hinter Phänomenen wie zum Beispiel dem Zeitempfinden können sich ganze Sicht- und Erfahrungsweisen verbergen. 9

Als Beispiel sei hier lediglich Doña Marina angeführt, die Eingeborene, die Hernando Cortés bei seinen blutigen Eroberungszügen durch Mexiko als Übersetzerin diente; Stephen Greenblatt, Marvelous Possessions. The Wonder of the New World. Oxford 1991, Kapitel 5: „The Go-Between“. 10 Klaus Oschema, Europa in der mediävistischen Forschung – eine Skizze, in: Rainer C. Schwinges/Christian Hesse/Peter Moraw (Hrsg.), Europa im späten Mittelalter. Politik – Gesellschaft – Kultur. (HZ, Beihefte, NF., Bd. 40.) München 2006, 11–32, hier 12. 11 Andreas Kappeler, Osteuropäische Geschichte, in: Maurer (Hrsg.), Aufriß der historischen Wissenschaften, Bd. 2 (wie Anm. 4), 198–265, hier 199 f. 12 Desanka Schwara, Sprache und Identität: Disparate Gefühle der Zugehörigkeit, in: Klaus Hödl (Hrsg.), Jüdische Identitäten. Einblicke in die Bewusstseinslandschaft des österreichischen Judentums. Innsbruck 2000, 141–169.

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Die Grundlage aller bekannten Kalender bilden die Zeiteinheiten Tag, Monat und Jahr, die durch den Wechsel von Tag und Nacht, durch sich wiederholende Mondphasen und den Verlauf der Jahreszeiten bestimmt sind. Ihre Größe ist durch verschiedene astronomische Beobachtungen festgelegt. Entsprechend gibt es für diese drei Einheiten mehrere Definitionen. Die einen Kalender richten sich nach dem Mond, die anderen nach der Sonne. Das Mondjahr ist ungefähr elf Tage kürzer als das Sonnenjahr. Um über längere Perioden einen Gleichlauf dieser Kalender mit dem Mond- oder Sonnenlauf zu erreichen, müssen Jahre unterschiedlicher Länge aufeinander folgen, das heißt, daß bei bestimmten Jahren Schalttage eingefügt werden müssen. Die Christen übernahmen den 46 v. d. Z. reformierten Kalender Julius Cäsars, den julianischen Kalender, der erst im Jahre 1582 durch Papst Gregor XIII. modifiziert und als gregorianischer Kalender weiter geführt wurde. Dies geschah zunächst allerdings nur in Italien, Spanien und Portugal, dann allmählich in allen katholischen Ländern. Die reformierten Länder folgten erst von 1699 an, Großbritannien sogar erst 1752, Schweden 1753. Die orthodoxe Kirche behielt den julianischen Kalender bis in die 1920er Jahre: die UdSSR bis 1918, Griechenland bis 1923, Rumänien bis 1924. In der muslimischen Türkei wurde der gregorianische Kalender 1927 eingeführt. Der muslimische Kalender beginnt die Jahreszählung mit Mohammeds Auswanderung nach Medina 622 n. d. Z. Er rechnet wie der alte arabische Kalender mit reinen Mondjahren: Das Jahr hat 12 Monate und 354 Tage, mit abwechselnd 30 und 29 Tagen.13 Im jüdischen Kalender wird der Beginn der Zeitrechnung seit dem 10. Jahrhundert auf das Jahr 3761 v. d. Z. datiert, der Erschaffung der Welt. In seiner noch heute gültigen Form im 4. Jahrhundert n. d. Z. festgelegt, geht es vom Unisolarjahr bzw. gebundenen Mondjahr aus. Dieses ist bereits 1700 v. d. Z. in Babylon nachweisbar und berücksichtigt sowohl den Wechsel der Mondphasen als auch den Ablauf der Jahreszeiten. Zum Ausgleich der fehlenden Tage wird in regelmäßiger Folge ein zusätzlicher 13. Monat, ein Schaltmonat, eingefügt. Erst während der babylonischen Gefangenschaft kamen die jetzt üblichen hebräischen Monatsnamen in Gebrauch. Die in größerer Entfernung von Jerusalem lebenden Juden verlängerten die Dauer aller religiösen Feierlichkeiten – mit Ausnahme von Jom Kippur – um einen Tag, um den richtigen Zeitpunkt des gemeinsamen Feierns mit Sicherheit nicht zu verpassen. Durch die Diaspora gestaltete sich auch die ursprüng13

Zum muslimischen, christlichen und jüdischen Zeitempfinden siehe Éliane Amado Lévy-Valensi/ Claude-Roland Souchet/Moncef Chelli, Trois visions du temps. Paris 1993. Zu den Zeitrechnungen siehe Azriel Louis Eisenberg, The Story of the Jewish Calendar. London 1958; Joachim W. Ekrutt, Der Kalender im Wandel der Zeiten. 5000 Jahre Zeitberechnung. Stuttgart 1972; Greville Stewart Parker Freeman-Grenwille, The Muslim and Christian Calendars. Being Tables for the Conversion of Muslim and Christian Dates from the Hijra to the Year a. D. 2000. 2nd Ed. London 1977; Rudolf Wendorff, Tag und Woche, Monat und Jahr. Eine Kulturgeschichte des Kalenders. Opladen 1993.

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liche Tradition, den aktuellen Monatsbeginn durch einen Boten verkünden zu lassen, zunehmend schwieriger. Dies führte zu der Entscheidung, einen konstanten Kalender einzuführen, der es ermöglichen sollte, auch ohne besondere Fachkenntnisse die Neumonde jederzeit genau bestimmen zu können.14 Lange schien niemand an Zeitrechnungen interessiert gewesen zu sein. Die Notwendigkeit, die Zeit zu messen, ist laut Sylvie Anne Goldberg, die sich in ihrer Studie über das Zeitempfinden mit der Pluralität der Zeit befaßte, mit den Geschichtswissenschaften eng verbunden. Das Bild, das sich das Abendland von der „Zeit“ mache, sei das Produkt jahrhundertelanger Beschäftigung mit der Vergangenheit und spiegle Glaubensüberzeugungen und Hoffnungen wider. „Die Menschen der Gegenwart versuchen, etwas über die Zukunft in Erfahrung zu bringen; um dies zu tun, wenden sie sich an die Vergangenheit.“15 Die zeitgenössischen Inhalte des Begriffs „Zeit“ variieren ebenso wie die Berechnungsmethoden. Narrative über die Zeit spiegeln die Art und Weise, wie man sie sich vorstellte. Die Analyse einer „jüdischen“ Zeitkonzeption zeigt, wie die Vergangenheit im Geflecht der gezählten Zeit und der erzählten Geschichte Sinn macht. Die Konstruktion der Zeit, die Glauben, Wissen und Macht vermengt, ist kein uniformes Phänomen. Die Koexistenz einer Vielfalt von Zeitmessungen erlaubt, je nach historischen Notwendigkeiten, die Zeit und die Geschichte in das einzuordnen, was jede Epoche an Einzigartigkeit besitzt. Die mannigfaltigen Zeitrechnungen wurden im Verlauf der Jahrhunderte, den historischen Bedürfnissen entsprechend, unterschiedlich eingesetzt und angepaßt. Neben den pragmatischen Bedürfnissen haben überall religiöse Vorstellungen in der Entwicklung des Kalenders eine Rolle gespielt. Die Evolution der Zeitvorstellung, das Spiel mit der Zeitlichkeit, die Entdeckung der Epochen in ihrer variablen Dauer, waren von Glaubensüberzeugungen, Machtkämpfen und der Erwartung des Messias geprägt. Goldberg verwirft die Idee einer linearen „jüdisch-christlichen“ Zeitentwicklung, ebenso wie die von der Natur ausgehende Einzigartigkeit der Zeit, um den Zeitbegriff vielmehr nach seiner Genese, seiner Entstehungsgeschichte und seiner Herkunft zu befragen. Sie räumt ein, daß die Juden auf eine konfessionelle Definition verwiesen bleiben, hebt allerdings hervor, daß in der Vergangenheit diese Art der gesellschaftlichen Zuordnung anders zu fassen sei: Man war jüdisch, ebenso wie jeder Mensch „etwas“ war. Es ging um die Einteilung in eine Gesellschaftsordnung, um die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, einer Gemeinschaft, einer bestimmten Form der Zivilisation. Die Juden schrieben sich – ebenso wie die Christen – einer viel umfassenderen konzeptionellen Ordnung zu als jener, die durch die Syn14

Sylvie Anne Goldberg, La Clepsydre. Essai sur la pluralité des temps dans le judaïsme. Paris 2000, 305. 15 Ebd. 11.

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agoge oder die Kirche bestimmt war. Obwohl nach eigenen Gesetzen organisiert, ist das der jüdischen Welt eigene Gedankensystem eng verflochten mit den Bewegungen des kulturellen Milieus, dem es entstammt, als auch mit der Umgebung, in der es sich entfaltet. Diese jüdische Zeitlichkeit, die sich nach liturgischen Rhythmen bewegt, nach Kalendern und der Art und Weise, in der man sich den Raum anpaßte, ist eine soziale Gegebenheit. Die Juden kümmerten sich seit ihrer Zerstreuung ebensowenig um die Vergangenheit wie um den Augenblick, und ihre Religion war mehr in der Zukunft verankert als in der Gegenwart.16

II. Die Relativität der Zeit Aufgrund von Textsequenzen aus vielen Jahrhunderten ergeben sich drei Zeitrechnungen des Judentums. Bei der ersten identifiziert sich der Mensch mit der Erde, auf der er lebt; die zweite, nach der Zerstörung des Tempels, markiert das Ende der Wechselbeziehung zwischen den Juden und ihrem Land. Bei der dritten steht längst fest: Die Juden sind zerstreut unter die Völker; sie besitzen weder Territorium noch Tempel, Garant für die Heiligkeit und die Präsenz Gottes unter ihnen. Erst in diesem universellen Rahmen entwerfen die Juden eine Geschichte, die mit der Entstehung der Welt beginnt. Da es im Judentum keine Autorität gibt, die als die höchste anerkannt wäre, gibt es auch keine Spuren eines rabbinischen Traktates, das zu einem bestimmten Zeitpunkt und Ort die Standardisierung der Daten geregelt hätte. Von den drei hier vorgestellten Zeitrechnungen ist eine universell, die beiden anderen sind ausschließlich jüdisch. Die jüdischen Zeiten sind bestimmt von einem wechselnden Gebrauch des Universellen und des Spezifischen, variierend und sich den Epochen anpassend. Die Erschaffung der Welt und die Hoffnung auf Erlösung aber sind universell. Eine Tabelle mit den erstaunlichen Lebensaltern einiger unserer berühmten Vorfahren – deren Abweichungen in den verschiedenen Textquellen, jüdischen oder christlichen Ursprungs, noch bemerkenswerter sind – zeigt die Relativität menschlichen Zeitverständnisses. So soll Adam einer der Berechnungen zufolge 930 Jahre lang gelebt haben, Methusalem gar 969.17 Die Angaben in den Textsequenzen anderen Ursprungs weichen zwar von diesen Zahlen ab, doch auch sie übertreffen unsere heutigen Lebenserwartungen bei weitem. Diese Reflexion über den Gebrauch von Denkkategorien bietet drei Varianten zum Umgang mit der Geschichte an: Die weit verbreitete und übliche, die Schüler schwitzend über entscheidenden historischen Daten brüten und ein Jahr mehr oder weniger nicht gelten läßt; die wissenschaftlich 16 17

Ebd. 305. Ebd. 341 f.

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vorbildlichste, die sich der Parallelität verschiedener Zeitsysteme bewußt ist; oder die dritte, die sich der Zeitrechnungen als Denkvarianten bedient und nicht zuletzt aufgrund ihrer Variabilität das kulturell-soziale Milieu untersucht, in dem sie entstanden sind oder in dem sie gepflegt wurden.

III. Eine geheiligte und eine profane Zeit Die komplexe Diskussion um die Periodisierung der Geschichte wird hier um eine besondere Herausforderung erweitert. Es gilt, sich die Parallelität der Zeit – über die Infragestellung christlich-europäischer Zeitrechnung oder historiographischer Periodisierung für das gesamte Universum hinaus – selbst innerhalb vermeintlicher kultureller Einheiten bewußt zu machen. So läßt sich zum Beispiel beim Zeitverständnis im jüdischen Kulturkreis eine Einteilung vor und nach der Haskala vornehmen und somit der Grad der Zugehörigkeit zu einer bestimmten geistigen Strömung bestimmen.18 Vor der jüdischen Aufklärung und allmählicher säkularer Ausrichtung herrschte in allen Texten, die aus jüdischer Feder stammten, sogar in Reiseberichten, klar die jüdische Zeitrechnung vor. Im Zuge der Haskala ergänzten viele Reisende ihre Notizen um das Datum der christlichen Zeitrechnung. Mit zunehmender Anpassung an die christliche Mehrheitsgesellschaft verdrängte das christliche Datum das jüdische in weltlichen Belangen vollkommen. Mit der Stärkung eines jüdischen Nationalbewußtseins gewann die jüdische Zeitrechnung im Zuge zionistischer Bestrebungen allmählich wieder an Bedeutung. Einen interessanten Aspekt werfen die Berichte der Mitarbeiter der Jewish Colonisation Association zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf. Weltlich orientiert, wie sie waren, spielte das jüdische Zeitempfinden für sie offenbar keine Rolle mehr. Sie hatten aber sehr wohl das kulturelle Umfeld zur Kenntnis genommen, in dem sie sich bewegten: Während sie – im Gegensatz zu religiösen Juden – das jüdische Datum nicht vermerkten, zogen sie konsequent die Daten zweier Kalender durch ihre Briefe aus christlich-orthodoxen Gebieten an die JCA-Stelle im katholischen Paris: die des julianischen und jene des gregorianischen. Mehrmals betonten sie gar „bei uns“ und „bei ihnen“, damit Paris diese doppelten Daten auch richtig einzuordnen wußte.19 Vor der Haskala war den Juden bewußt, daß sie sich mit ihrer Zeitlichkeit außerhalb der sozialen Norm der Länder befanden, in denen sie lebten. Die Vorstellung von der Zeit ist eine soziale Konstruktion, die die Summe von Erfahrungen einer bestimmten Gruppe im Verlauf der Jahrhunderte zum Ausdruck bringt. Eine sakrale und eine profane Zeit umreißen in etwa das, 18

Ausführlich dazu Schwara, Empfindungen der Zugehörigkeit (wie Anm. 1). JCA, CAHJP Jerusalem, als Beispiel dienen verschiedene Korrespondenzen zwischen 1905 und 1914. 19

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was als ein eigener jüdischer zeitlicher Raum verstanden werden kann.20 Aus dem Blickwinkel einer Zeitlichkeit, die sich als jüdisch versteht, werden die verschiedenen Elemente sichtbar, die ein Spiel zwischen der Zeit der anderen Völker und der Zeit der Juden erlauben. Diese doppelte Zeitmessung – für Reisende durch katholische, protestantische, christlich-orthodoxe und muslimische Länder vor der jeweiligen Anpassung an den gregorianischen Kalender sogar fünffache – begleitete die Juden über die Epochen und die Kontinente. Ein profanes und ein sakrales Zeitempfinden vermischten sich, wo weltliche und religiöse Juden aufeinandertrafen.

IV. Lebensmodelle als mögliche Grundlage von Periodisierungen Flora Randegger, eine moderne Triestiner Jüdin, reiste 1856 nach Palästina, um dort eine Mädchenschule zu eröffnen.21 Bei einem Zwischenhalt in Alexandria führte sie der arabische Vermittler, der weder Französisch noch Italienisch verstand, als erstes ins Kloster der Barmherzigen Schwestern. Aufgrund ihrer Erscheinung und ihrer Sprachkenntnisse wurde Flora Randegger automatisch dem europäisch-christlichen Kulturkreis zugeordnet. Ein Italiener habe ihr schließlich freundlicherweise den Weg zum Haus des Rabbiners gezeigt.22 Schon auf dem Schiff hatte sich ein Reisender in den Kopf gesetzt, sie wolle bestimmt in Jerusalem Nonne werden. Sie habe ihn in diesem Glauben gelassen.23 Mit einem französischen Schiff ging es wenige Tage später in Richtung Jaffa. Auf dem Schiff versuchten mehrere europäische Reisende, ihr den Mut zu nehmen, indem sie ihr schreckliche Geschichten über die Beduinen erzählten und sie aufforderten zu bedenken, wie ausgeliefert ihnen eine allein reisende Frau sein würde.24 Zu Pferd und mit Kamel ging es weiter nach Jerusalem, mit einer Karawane von über fünfzig Reisenden, fast alle „Türken“ oder „Polen“. Wen Flora Randegger mit diesen undifferenzierten Sammelbegriffen genau meinte, kann aus historischer Sicht nicht zuverlässig entschieden werden. Mit „Türken“ bezeichneten Westeuropäer in der Regel osmanische Untertanen muslimischen Glaubens. Manchmal unterschied man zwischen „Türken“ und „Arabern“. Weitere Unterscheidungsmöglichkeiten scheinen sich Europäern Mitte des 19. Jahrhunderts in der Regel nicht erschlossen zu haben. Mit „Polen“ kann Flora Randegger sowohl jüdische als auch christliche Pilger aus Osteuropa gemeint haben. Ein „Türke“ führte 20

Goldberg, Clepsydre (wie Anm. 14), 305. Flora S. C. Friedenberg, Un po’ di tutto. Seconda Strenna Israelitica, Maestra approvata in Triest. Triest 1869. 22 Ebd. 8. 23 Ebd. 7. 24 Ebd. 12. 21

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sie, ein „Jude“ diente als Übersetzer. Unterwegs fand die multireligiös zusammengesetzte Reisegruppe in christlichen, von Mönchen oder Nonnen geführten Klöstern Unterkunft.25 In Jerusalem ließ sich Flora Randegger in einem Haus im jüdischen Viertel nieder. Kaum hatte sich die Kunde ihrer Ankunft verbreitet, wurde sie sowohl von aschkenasischen als auch von sefardischen Juden besucht und begrüßt. Mit der Dauer ihres Aufenthalts in Palästina differenzierte sie die verschiedenen Bevölkerungsgruppen immer mehr, allerdings nur jene, die zum Kulturkreis gehörten, in dem sie sich täglich bewegte. Sie war oft krank, konnte keine Schüler finden, die den Unterricht hätten bezahlen können, und unterrichtete gratis. Flora Randegger sah ein, daß der Traum von einer Schule, wie sie ihr vorschwebte, nicht zu verwirklichen war. Die Aschkenasim verboten eine solche Schule, da dort jüdische Knaben und Mädchen eine fremde Sprache und Schrift lernen würden. Ihr Argwohn gegenüber Fremden und Fremdem war auf Schritt und Tritt spürbar. Sie waren davon überzeugt, daß einem Wandel in Sprache und Schrift schon bald eine Verwandlung in Gedanken und Taten folgen würde. Bei den Sefardim fand sie mehr Offenheit. Sie unterrichtete sechs Mädchen und drei Jungen in Italienisch, jener Sprache, die dem „verderbten spanischen Dialekt“, der hier unter den Leuten verbreitet sei, am nächsten komme. Floras innere Haltung gegenüber ihren jüdischen Glaubensgenossen, die ihr aber kulturell fremd waren, äußert sich in solch wertenden Formulierungen. Nach wie vor fehlten die finanziellen Mittel. Flora Randegger fand keine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt in Jerusalem zu bestreiten, und entschloß sich 1858 zur Rückkehr nach Triest.26 Die finanziellen Mittel reichten nicht aus, und die abweisende Haltung der aschkenasischen Gemeinde in Jerusalem machte die Gründung einer Schule unmöglich. Es wurde gar der Bann über jeden verhängt, der mit der Schule in einer Verbindung stand; über Schüler, Eltern und Lehrer. Die Sefardim schlossen sich diesem kompromißlosen Widerstand nicht an. Aus ihrer Mitte stammten die ersten Schülerinnen. Flora Randegger konnte den finanziellen Schwierigkeiten, dem gesellschaftlichen Druck und dem trostlosen Leben in Jerusalem – es herrschten Cholera, Malaria, Augenkrankheiten und Hunger – nicht mehr standhalten und kehrte nach Triest zurück. Das Gefühl, das die Reisenden auf dem Schiff erzeugen wollten, stellte sich schließlich ein, wenn auch nicht schreckliche Beduinen es auslösten: Sie verlor den Mut.27 25

Ebd. 15. Ebd. 44. Zu Flora Randeggers Aufenthalt in Jerusalem und etwas ausführlicher bezüglich der Reaktionen des Jischuv in Jerusalem auf ihr erzieherisches Vorhaben siehe Daniel Carpi, Sulle orme di Flora Randegger-Friedenberg. I viaggi di una giovane maestra da Trieste a Gerusalemme (1856, 1864), in: Annuario di Studi Ebraici 11, 1988, 271– 291; Daniel Carpi, Trieste to Jerusalem. In the Steps of Flora Randegger-Friedenberg, in: Ariel 61, 1985, 58–65. 27 Friedenberg, Un po’ di tutto (wie Anm. 21), 48. 26

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Im Frühling 1858 – im gleichen Jahr, in dem Flora Randegger nach Triest zurückkehrte – war klar: Wollte man einen totalen Zusammenbruch der jüdischen Gemeinden in Palästina vermeiden, mußte Geld gesammelt werden. Wie schon in vergangenen Jahrhunderten in ähnlichen Notlagen entsandten die Gemeinden Schadarim, heilige Männer, mit ihren Gebeten und Segnungen und einem Quittungsbuch ins Ungewisse. Ausgewählt wurden Gelehrte, die sich durch ihre Ehrlichkeit, Weisheit und ihren Mut auszeichneten. Sie schwärmten in alle Himmelsrichtungen aus, um bei ihren Glaubensgenossen um Brot für die jüdischen Gemeinden im Heiligen Land zu bitten. Während dieser Hungerjahre in Jerusalem wurde Rabbi Yaakov Sapir als Schadar ausgesandt, um bei Juden in arabischen Ländern und Indien Spenden für die jüdischen Gemeinden in Palästina zu sammeln.28 In den entlegensten Winkeln des Zarenreiches sammelten diese Gesandten für ihre Glaubensgenossen Geld, ebenso im Osmanischen Reich, in arabischen Ländern oder westeuropäischen. Über Jahrhunderte existierten die jüdischen Gemeinden in Jerusalem, Safed und anderen heiligen Städten von dieser Kollekte, die das Tora-Studium im Heiligen Land am Leben erhalten sollte. Im ganzen Mittelmeerraum, im Nahen Osten und in Europa waren diese Schadarim legendär. Manchmal kehrten sie mit Taschen voller Geld zurück, manchmal zerlumpt und hungrig, manchmal gar nicht.29 Im Juni 1858 schiffte sich Rabbi Yaakov Sapir in Jaffa ein. Seine Reise sollte ihn durch Ägypten, Indien, Australien und Neuseeland führen. Sein Ziel war klar formuliert: Er sollte für den Lebensunterhalt der Juden in Jerusalem sammeln, für die Errichtung einer Synagoge und für eine Knabenschule. Eine Reise durch Jemen hatte er nicht vorgesehen. Von Ägypten wollte er direkt nach Indien reisen, um wohlhabende jüdische Kaufleute in Bombay zu besuchen. Aber ein „Vertrauensmann“ betrog ihn um sein Reisegeld. Rabbi Yaakov konnte nur noch bis Aden reisen. Schlechtes Wetter zwang die Reisenden, in einem kleinen jemenitischen Hafen an Land zu gehen. Yaakov blieb nichts anderes übrig, als in Jemen nach jüdischen Gemeinden zu suchen und in diesem verarmten Land um Spenden zu bitten. Rabbi Yaakov Sapir mußte aufgrund seines Status vieles erdulden. Im Gegensatz zu Flora Randegger war seine religiöse Zugehörigkeit äußerlich sichtbar. Zum einen war er in der Tat religiös und entsprechend gekleidet. Eine Anpassung an die muslimischen Gepflogenheiten und ein muslimisches Erscheinungsbild wäre ihm sicherlich schwergefallen. Zum anderen hätte eine zu große Anpassung an muslimische kulturelle Codes das eigentliche Ziel seiner Reise gefährdet: Um Geld für Juden sammeln zu können, mußte er natürlich als Schadar sichtbar und zu erkennen sein. Auf dem Weg von 28

Yaakov Lavon (Ed.), My Footsteps Echo. The Yemen Journal of Rabbi Yaakov Sapir. Feldheim 1997. 29 Ebd. IV.

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Suez nach Jiddah beschimpften ihn muslimische Reisende als unrein, sobald sie ihn als jüdisch erkannten. Er berichtet, mehrere Male hätten sie ihn ins Wasser werfen wollen, obwohl er nie das Wort an sie gerichtet hätte, ihnen nie in den Weg gekommen sei und aufgepaßt habe, sie nicht zu berühren. Es sei für ihn eine große Ehre gewesen, wenn die Sklaven zu ihm sprachen, um etwas Bakschisch zu bekommen oder einen Brocken Weizenbrot, das er mitgebracht hatte. Sie aßen es im Geheimen, damit es die Araber nicht bemerkten. Rabbi Sapir befürchtete, diese könnten seinem Leben jeden Augenblick ein Ende setzen.30 Doch auch Rabbi Yaakovs Einstellung veränderte sich während seiner Reise. Auch wenn Angst seine ständige Begleiterin war – ihn gewiß auch vor tatsächlicher Gefahr warnte –, so akzentuierten die Erfahrungen mit anderen Herrschaftssystemen sein Verhältnis zum Osmanischen Reich neu. Fünf Jahre lang sollte Yaakov unterwegs sein, per Schiff, auf Eselsrücken und zu Fuß. Häufig erinnert er sich an das Leben unter osmanischer Herrschaft und findet nur positive Worte für das Osmanische Reich.31 Selbst in Jemen unter arabischer Herrschaft hätten die Juden besser gelebt als unter den Briten. Erst seit die Briten hier regierten, seien die Juden völlig verarmt. Sie mußten neue Häuser bauen, Unrat dürfe man nicht mehr auf die Straße werfen, und man müsse sauber gekleidet sein. Unter arabischer Herrschaft habe es genügt, wenn sie arm ausgesehen hätten und eine Bescheidenheit an den Tag gelegt hätten; jetzt seien sie tatsächlich bitterarm.32

V. Cross-cultural interactions und nationale Selbsterfindung In frühneuzeitlichen Gesellschaften stellte die religiöse Zugehörigkeit den wichtigsten Faktor der Inklusion oder Exklusion von Individuen dar. Im Zuge der Aufklärung, vor allem aber im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts wurde diese theokratische Gesellschaftsform allmählich von Nationalstaaten mit einer „nationalen“ Kultur verdrängt. Diese neuen soziokulturellen Konstrukte schufen ihre eigenen Ideologien und Gesellschaftsmodelle und stärkten ihre nach zuvor unbekannten Kriterien konstruierte Gemeinschaft durch traditionserfindende Symbole, gesellschaftliche Codes, nationenbildende Diskurse, die nicht zuletzt auf Ausschluß „fremder“ Elemente fußten.33 Die Selbstbeschreibung, die Selbsterfindung konnte nur in der Polarität entstehen, durch die Fremdbeschreibung und Fremderfindung. Der Sinn einer

30

Ebd. 5 f. Ebd. VII f. 32 Ebd. 266 f. 33 Shulamit Volkov, Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland. München 1992. 31

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hegemonialen nationalen Kultur konnte nur durch Abgrenzung zu anderen Kulturen geschaffen werden. Diese säkularen staatlichen Sinnstiftungsversuche und von religiöser Zugehörigkeit (theoretisch) unabhängigen Identitätsangebote konnten aber auch das Gegenteil von dem bewirken, was sie eigentlich beabsichtigten. Gerade diese Säkularisierungstendenzen, die zur Formierung unterschiedlichster weltlich orientierter Gruppierungen führten, stärkten zugleich religiös definierte Identitäten. Menschen, die säkulare Modernisierungsversuche des Staates ablehnten und ihre religiöse Zugehörigkeit als ihre eigentliche Identität empfanden, erkannten innerhalb dieser neuen Rahmenbedingungen ihren eigenen Wert, den ihrer religiös bestimmten Kultur deutlicher, da sie sich gegen den Einbruch säkularer Einflüsse abgrenzen mußten, wenn sie ihre herkömmliche Identität und Kultur bewahren wollten. Die nationalstaatliche Gesellschaft der Moderne mit ihren neuen Ideologien und Emblemen führte dazu, daß Gemeinschaften, die diesen modernen Wertvorstellungen nicht entsprachen (oder nicht entsprechen wollten), die Sinnbilder und Werte ihres eigenen soziokulturellen Milieus bewußter wahrnahmen und explizit definierten und verteidigten. Die Stellung von Religion und „Nation“ mußte neu verhandelt, ihre Bedeutung zueinander in Bezug gesetzt werden. Die Hafenstädte rund um das Mittelmeer waren von vielfältigen kulturellen Einflüssen geprägt und fungierten als Zentren der Mobilität und Kommunikation. Diese Welt wurde erst durch die Nationalstaatsbildungen im 19. Jahrhundert aufgebrochen. Den unterschiedlichsten lokalen und internationalen Einflüssen ausgesetzt und in einer Vielzahl von Kulturen heimisch, bildeten diese Diaspora-Gruppen ein transterritorial verbindendes Element. In der vormodernen Zeit, als die verschiedenen Diasporas konstitutiver Teil eines multikulturellen Systems waren und die Interkulturation – verstanden als Gegenteil der Akkulturation – die Lebenswelten der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in weiten Teilen Europas prägte, können viele Ähnlichkeiten und Überschneidungen auch in territorial weit voneinander entfernten Diaspora-Gemeinschaften nachgewiesen werden.34 Die Entwicklungen auf dem Balkan und der Apenninenhalbinsel schufen infolge der Natio-

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Josef Engel, Von der spätmittelalterlichen respublica christiana zum Mächte-Europa der Neuzeit, in: Theodor Schieder (Hrsg), Handbuch der Europäischen Geschichte. Bd. 3: Die Entstehung des neuzeitlichen Europa. Stuttgart 1971, 1–443, hier 359–384 (§ 8: Das neue Völkerrecht und die Ausbildung des ständigen Gesandtschaftswesens); Garrett Mattingly, Renaissance Diplomacy. London 1965; Gerhard Rill, Fürst und Hof in Österreich von den habsburgischen Teilungsverträgen bis zur Schlacht von Mohaćs (1521/22– 1526). Bd. 1: Außenpolitik und Diplomatie. Wien 1993; Firenze e la Toscana dei Medici nell’Europa del Cinquecento. La corte, il mare, i mercanti. Florenz 1980; Johannes Kleinpaul, Das Nachrichtenwesen der deutschen Fürsten im 16. und 17. Jahrhundert. Leipzig 1930; Friedrich Hermann Schubert, Ludwig Camerarius 1573–1651. Eine Biographie. München 1955.

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nalstaatsbildungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch für die vielen Diaspora-Gruppen neue Bedingungen – und zwar andere, als für jene Teile der Bevölkerung, die sich nun zu „nationalen“ Mehrheiten zusammenschlossen.35 Der Nationalismus war zweifelsohne eine der mächtigsten politischen und kulturellen Strömungen des 19. Jahrhunderts. Indem sich nationale Vordenker und Propagandisten aller Völker auf die jeweils spezifische Herkunft und Besonderheit ihrer Gemeinschaft bezogen, verhielten sie sich vollkommen analog; sie dachten im gleichen Rahmen und verwendeten dieselbe Denkfigur. Nationalismus war in diesem Sinne eine universale Ideologie.36 Als auf dem Berliner Kongreß 1878 die Delegierten die Frage der internationalen Anerkennung für die neuen Nachfolgestaaten des Osmanischen Reiches auf dem Balkan erörterten, wurde allmählich klar, daß man durch die vielen Grenzziehungen die Lebensgrundlage vieler ethnischer und religiöser Gruppen zerstörte. Insbesondere jene, denen die Basis – ein entsprechendes Territorium – für eine eigenständige territoriale Selbstbestimmung fehlte, mußten sich innerhalb der jungen Nationalstaaten neu positionieren. Über Jahrhunderte hatten die großen Vielvölkerreiche bzw. die Staatenwelt auf der Apenninenhalbinsel, die nach den 1860er Jahren allmählich zu einem geeinigten Staat Italien zusammenwuchs, dieses Nebeneinander unterschiedlicher ethnischer und religiöser Gruppen lediglich koordiniert, eine „nationale“ Homogenität nicht ausdrücklich angestrebt. Das Hauptanliegen vormoderner Staatengebilde multiethnischer und -religiöser Vielvölkerreiche war das Bestreben, ihre Untertanen so einzusetzen, daß sie dem Staat den größtmöglichen Nutzen stifteten. Für Minderheiten, die den einigenden Kriterien der Nationalstaaten nicht entsprachen, war in den neuen, nationalen Konstruktionen kein Platz vorgesehen. Der Nationalstaat war daher oft mit einer Marginalisierung traditioneller – meist religiöser – Gruppen verbunden. 35

Stephan Wendehorst/Rainer Liedtke (Eds.), Emancipation of Catholics, Jews and Protestants. Minorities and the Nation State in Nineteenth-Century Europe. Manchester 1999; Armin Nassehi (Hrsg.), Nation, Ethnie, Minderheit. Beiträge zur Aktualität ethnischer Konflikte. Georg Weber zum 65. Geburtstag. Köln/Weimar/Wien 1997; Israel Bartal, The Emergence of Jewish Nationalism, in: Hebrew University Jerusalem, Nation States and Nationalism in the Middle East. Jerusalem. 1993, 23–32; Barbara Linner, Die Entwicklung der frühen nationalen Theorien im osteuropäischen Judentum des 19. Jahrhunderts. Eine Studie zur Theorie und geistesgeschichtlichen Entwicklung des nationaljüdischen Gedankens in seinem Zusammenhang mit der Haskalah. Frankfurt am Main 1984; Beate Binder/Wolfgang Kaschuba/Peter Niedermüller (Hrsg.), Inszenierungen des Nationalen. Geschichte, Kultur und die Politik der Identitäten am Ende des 20. Jahrhunderts. Köln 2000; Theodor Schieder, Nationalismus und Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa. 2. Aufl. Göttingen 1992; Jonathan Frankel, Prophecy and Politics. Socialism, Nationalism, and the Russian Jews 1862–1917. Cambridge 1981; Frank Golczewski/Gertrud Pickhan, Russischer Nationalismus. Die russische Idee im 19. und 20. Jahrhundert. Darstellung und Texte. Göttingen 1998. 36 Michael Maurer, Europäische Geschichte, in: ders. (Hrsg.), Aufriß der historischen Wissenschaften, Bd. 2 (wie Anm. 4), 99–197, hier 155 f.

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Erscheinungsformen transkultureller, transnationaler und transterritorialer Prozesse haben in Narrativen, die sich auf nationalstaatliche Entwicklungen konzentrieren, in der Regel keinen Platz. Das Präfix „trans-“ bezeichnet ja gerade Prozesse, die jede Art von fest gesetzten Grenzen, die für Nationalstaaten charakteristisch sind, ignorieren bzw. durchdringen. Sowohl die Lokal-, als auch die Regional-, National- und Kontinentalgeschichte arbeitet mit spezifischen räumlichen Modellen für die wissenschaftliche Erschließung und Aneignung historischer Sachverhalte. Alle diese partikularen Erfassungsweisen umschließt sach- und wissenschaftslogisch die Universalgeschichte als diejenige Perspektive, die sich bemüht, den globalen Geschichtsraum zu umgreifen. Sie bietet sich als Geschichte einer vernetzten, gemeinsamen Welt an.37 Im Gegensatz etwa zu einer identitäts-orientierten Nationalgeschichte können im Rahmen der Universalgeschichte gerade „intermixing and interacting identities“ aufgezeigt werden.38 Es gilt, nicht nur räumlich, sondern insgesamt konzeptionell nationale Prämissen zu überwinden und sich dem jeweiligen historischen Gegenstand anders zu nähern.

VI. Was ist „frühneuzeitlich“ an Quellen aus dem 19. Jahrhundert? An den Reiseberichten von Flora Randegger und Rabbi Yaakov, beide aus mediterranen Diasporagemeinschaften stammend, kann exemplarisch gezeigt werden, wie Lebensmodelle, die historiographisch in der Regel verschiedenen Perioden zugeordnet werden, zeitgleich parallel verlaufen können und sich sogar in Interaktion befinden. Die uns in diesen Reiseberichten mitgeteilten Kommunikations- und Wahrnehmungsmuster entlarven die Stellung, die sich Reisende in einem fremden Umfeld zusprechen, und die Folgen, die der Aufenthalt in der Fremde für sie mit sich brachte. Bei all ihrer virtuellen Liebe zu Jerusalem, die aus jeder Zeile ihres Reiseberichts spricht, wird Flora Randeggers problematisches Verhältnis insbesondere zu den dort lebenden aschkenasischen Juden deutlich, wenn sie von den Schwierigkeiten berichtet, die sie ihr bereitet hatten. Auch ihre persönliche, grundsätzliche Haltung bleibt kein Geheimnis, selbst den ihr freundlicher gesinnten Sefardim gegenüber. Flora Randegger war zweifellos eine an westeuropäische christlich-kulturelle Normen assimilierte, den damaligen Triestiner Sitten- und Moralvorstellungen entsprechende junge Jüdin. Dies entnehmen wir dem Umstand, daß sie auf dem Schiff für eine Christin gehalten wurde, 37

Weber, Universalgeschichte (wie Anm. 4), 15 f. Bruce Mazlish, Psychohistory and the Question of Global Identity, in: Psychohistory Review 25, 1997, 165–176, hier 166; Weber, Universalgeschichte (wie Anm. 4), 25 f. 38

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als auch ihrer stolzen Genugtuung, mit der sie diese Verwechslung zur Kenntnis nahm. Sie empörte sich nicht über diese – an sich nicht ganz richtige – Zuordnung. Abgesehen von ihrem jüdischen Glauben scheint sie sich selbst ebenfalls mit dem ihr zugeschriebenen Milieu identifiziert zu haben. Dies entnehmen wir nicht zuletzt Äußerungen, die ihre Glaubensgenossen in Jerusalem betreffen – die aber einer anderen „Periode“ entstammten, auch wenn sie mit ihr gemeinsam im fortschrittsbegeisterten und technikhörigen 19. Jahrhundert lebten.39 Dem westeuropäischen Kulturkreis entsprechend, dem sie entstammte, nannte Flora Randegger die Sprache ihrer Glaubensbrüder und -schwestern in Jerusalem, der Sefardim, einen „verderbten spanischen Dialekt“, analog zum „verderbten deutschen Dialekt“, den die andere große Gruppe der Juden in Jerusalem sprach, die Aschkenasim. Daß sie eine Tochter der jüdischen Aufklärung war, spricht aus jeder ihrer Zeilen, auch wenn sie sich nirgendwo explizit als eine solche klassifizierte. Sie ging mit einem Sendungsbewußtsein nach Jerusalem, mit der Absicht, die jüdische Gemeinde in Jerusalem nach westeuropäischem Modell der Moderne zu reformieren. Man kann von einem Export von Lebensmodellen – wenn auch zunächst nur von einem mißlungenen Export-Versuch – im Zuge der jüdischen Aufklärung sprechen. Die Reisemotive Rabbi Yaakovs hingegen entsprachen einem gänzlich jüdisch-religiösen Lebensmodell, einer alten jüdischen Tradition folgend: Religiöse Juden, die ihr Leben in heiligen Städten ausschließlich dem Studium religiöser Schriften widmeten und mit Beten verbrachten, sollten mit den gesammelten Geldern unterstützt werden, und gläubige Juden in aller Welt wurden um Spenden gebeten. Bei Reisenden tritt an die Stelle eines territorial festgemachten Heimatverständnisses eine virtuelle „Heimat“, die Menschen über alle territorialen Grenzen hinweg zu verbinden vermag und die Zugehörigkeit und kulturelle Loyalität zu einem spezifischen Territorium als unbedeutend in den Hintergrund treten läßt. Dieses Phänomen läßt sich generell bei Diaspora-Gruppen beobachten. Ein zuordnendes Kriterium konnte durchaus die geographische Herkunft von Individuen und Gruppen bilden, doch erwies sich auch hier der kulturelle Hintergrund, der mit eben dieser geographischen Herkunft verbunden war, als eigentlich relevant. Auf Reisen wurden die zu Hause üblichen Gruppen teilweise aufgebrochen, und es entstanden andere. Doch auch die Reisenden selbst formten zuvor undenkbare Gruppen. Flora Randegger fand sich aufgrund ähnlicher kultureller Codes auf dem Schiff bald in Gesellschaft von christlichen Mitreisenden, während sie sich in Triest hauptsächlich in einem jüdischen Milieu bewegt hatte. Die Bereitwilligkeit, mit der sie von ihren Mitreisenden aufgenommen wurde, entsprang aller39

Hier sei zum Beispiel an die imposante Weltausstellung 1850 in London und den spektakulären „Crystal Palace“ von Joseph Paxton erinnert.

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dings dem Umstand, daß die Mitreisenden ihre „Jüdischkeit“ nicht erkannten. Ob die Reisenden religiöse Gebote thematisierten, ob sie beschrieben, daß sie darunter litten, wenn sie sie nicht erfüllen konnten, oder ob sie sich ganz weltlichen Dingen zuwandten, läßt auf ihren religiösen oder säkularen Hintergrund schließen und legt die vielen Schattierungen zwischen den beiden extremen Polen dieser beiden Grundhaltungen offen. Um sich ein Bild von sich selbst zu machen, ist der Mensch stets von einem Gegenüber abhängig. Die Konstituierung seines Selbst ist durch sein kulturelles Umfeld bedingt und in diesem verwurzelt. In der Fremde ist der Mensch allerdings nicht als „ich“ unterwegs, sondern als „Franzose“, „Jude“, „Triestiner“, „Türke“ oder „Europäer“. Bei Flora Randegger läßt sich ein Spiel mit der Varietät an Möglichkeiten feststellen. Ein Teil ihres Selbst blieb in jüdischer Kultur verhaftet und dieser loyal, aber durchaus im Versuch, diese durch die Errungenschaften der Moderne, der Zäsur der Moderne folgend, zu modernisieren. Die neuen Werte sollten in die traditionellen Werte einfließen und diese gerade durch die Erneuerungen erhalten. Besonders auffallend bei Flora Randegger ist der Umstand, daß das „ich“ in Begegnungen mit anderen kulturellen Ausdrucksformen bewußter wird, klarer umrissen, da Unterscheidungsmerkmale erst durch ein Gegenüber sichtbar werden können. Innerhalb des eigenen kulturellen Rahmens kann sich das „ich“ als einzigartig absetzen, indem es erinnerte, tradierte, gelernte Normen mißachtet. Im 19. Jahrhundert befand sich ganz Europa in einem wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Wandel. Die jüdische säkulare Intelligenz repräsentierte verschiedene Strömungen der Assimilation, entsprechenden politischen Kontexten verbunden. Bis in die 1860er Jahre dominierte die deutsche Haskala. Ihre Anhänger bewunderten die deutsche Kultur und die deutsche Aufklärung. In diesen Kontext gehören die Modernisierungsbestrebungen der jungen Triestiner Jüdin, die pädagogischen Modellen aufgeklärter Berliner Juden folgte. Religiöse Juden bildeten die Opposition zu den säkularen, an die deutsche Kultur assimilierten Juden.40 Zu dieser kulturellen Strömung gehörte Rabbi Yaakov, dessen Eltern aus dem Zarenreich nach Palästina eingewandert waren, um hier ein tief religiöses Leben in der Nähe der heiligen Stätten führen zu können. An den sehr unterschiedlichen Lebensmodellen Flora Randeggers und Rabbi Yaakovs habe ich zu zeigen versucht, daß die Zäsuren, die historiographischen Periodisierungen zugrunde liegen, nicht alle Personengruppen gleichermassen erfassen bzw. sie auf eine unterschied-

40 Frank Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen, 1881–1922. Wiesbaden 1981, 60; ders., Rural Antisemitism in Galicia before World War I, in: Chimen Abramsky/Maciej Jachimczyk/Antony Polonsky (Eds.), The Jews of Poland. Oxford 1986, 97–102; Peter Pulzer, The Rise of Political Antisemitism in Germany and Austria. Cambridge, Mass. 1988, 122 f.

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liche Art und Weise betreffen; gewisse nur indirekt, insofern als sie sich mit den Herausforderungen der Moderne auseinanderzusetzen haben. Hier läßt sich nicht nur ein nach Religion und Kultur jeweils verschiedenes Zeitempfinden zeigen, sondern auch die Brüche innerhalb einer vermeintlichen kulturellen Einheit, da sie durch gesellschaftliche Neuerungen aufgebrochen wurde. Was ist „frühneuzeitlich“ an Quellen aus dem 19. Jahrhundert? Die frühneuzeitliche bzw. epochenübergreifende Lebensform Rabbi Yaakovs und Flora Randeggers Versuch, diese epochenübergreifenden jüdischen Lebensformen in die Neuzeit zu begleiten und ihre Reise von einer Epoche in die andere helfend zu unterstützen. Dies soll keinesfalls ein Plädoyer für die Aufhebung historiographischer Epochen sein. Es ist sinnvoll, Zeiträume zu Einheiten zusammenzufassen; nicht zuletzt, um abweichende Strukturen oder eine zeitverschobene Parallelität von spezifischen Entwicklungen festzustellen. Periodisierungen – und die historischen Ereignisse, die zu bestimmten Zäsuren veranlassen – sollen vielmehr als Instrumentarium bei der Suche nach Übereinstimmungen und Abweichungen bei verschiedenen Teilen der Bevölkerung, die Seite an Seite zur gleichen Zeit in der gleichen Region lebten, und zu regionalen und epochalen Periodisierungsunterschieden in einer globalen Perspektive dienen.

Teil 6 Annäherungen an das Politische in der Frühen Neuzeit: Diskurse, Theorien, Praktiken

Vorstellungen von Herrschaft im 16. Jahrhundert Grundzüge europäischer politischer Kommunikation Von

Luise Schorn-Schütte I. Einleitung Das Denken über Politik hat auf alle Historiker stets eine besondere Faszination ausgeübt. Wie selbstverständlich wurden Kontinuitäten angenommen und Texte der europäischen Theoretiker des Politischen als Geschichte einer steten Weiterentwicklung charakterisiert. Diese Sichtweise hat ihre Wirkung nicht verfehlt, sie bleibt aber ein Konstrukt der Wissenschaftler. Denn jeder Entwurf zur Deutung politischer Ordnungszusammenhänge, zur Legitimation von Herrschaft, zum Recht auf Gegen- oder Notwehr, zur Verteilung von Macht, zum Recht auf Teilhabe und anderes mehr hat einen je zeitgebundenen Hintergrund, ist Antwort auf eine spezifische Problemlage, auf die keineswegs nur die großen Denker, sondern ebensosehr, vielleicht noch präziser die beteiligten Amtsträger und politischen Berater geantwortet haben. Dabei war das Anknüpfen an Legitimationstraditionen selbstverständlich, sogar Voraussetzung der Akzeptanz. In der westeuropäischen Forschung der letzten Jahrzehnte hat diese Beobachtung zu dem Ergebnis geführt, daß das politische Denken und Handeln der Vergangenheit nicht als Reduktion auf die sogenannte „Höhenkammliteratur“, das Denken also einiger weniger, von den Historikern im Nachhinein als „groß“ bezeichneter politischer Theoretiker faßbar sei. Statt dessen erweist es sich als sinnvoll, den Austausch der Zeitgenossen über ihre praktische politische Ordnung, das Sprechen, Schreiben, Darstellen kurz: ihre Kommunikation über das Politische zu rekonstruieren. Die damit behauptete Existenz einer „politischen Sprache“ der Zeitgenossen (political language im Sinne der Cambridge School)1 erschließt sich dem Historiker in der Untersuchung des Wandels von Begriffen, der in den Konflikten vor Ort ebenso gut greifbar ist wie in den theoretischen Abhandlungen der Zeit oder auch in den Texten, die Rechtsnormen setzten. Der damit aufscheinende methodisch-theoretische Gegensatz zwischen der deutschen Begriffsgeschichtsschreibung und der angelsächsischen New

1 Siehe dazu Eckhart Hellmuth/Christoph von Ehrenstein, Intellectual History Made in Britain: Die Cambridge School und ihre Kritiker, in: GG 27, 2001, 149–172.

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History of Ideas beschäftigt die Forschung seit geraumer Zeit.2 Einerseits bestehen gravierende Unterschiede in der Bestimmung des Verhältnisses von historischer Realität und Sprache, andererseits ist das Problem der Kriterien für die Auswahl sogenannter Schlüsselbegriffe ungelöst; denn mit deren Festlegung werden nur bestimmte Teile vergangener Wirklichkeit in die Untersuchung einbezogen, andere bleiben ausgegrenzt.3 Unabhängig vom Ausgang solcher Diskussionen eröffnet die angedeutete Umorientierung im methodischen Zugang neue Perspektiven für die Erforschung der Geschichte der Frühen Neuzeit. Zum ersten wird die europäische Dimension solcher Debatten vom 16. bis 18. Jahrhundert sichtbar, die Sonderwegsthese ist revisionsbedürftig. Zum zweiten wird deutlich, daß für diese Debatten die Wiederbelebung traditionaler Teilhaberechte eine entscheidende Rolle spielte. Damit gerät der modernisierungstheoretische Blick, der die deutsche Geschichtsschreibung in den vergangenen Jahrzehnten dominiert hat, unter Rechtfertigungsdruck; andere Modelle zur Erklärung von historischem Wandel müssen geprüft werden. Wandel in der Frühen Neuzeit stellt sich, so ist die These, nicht mehr ausschließlich dar als immer raschere Konzentration von Herrschaft, die als Vorstufe „des“ modernen Staates zu beschreiben ist; vielmehr ist es möglich, „einen Begriff von Politik […] zu entfalten, der nicht in erster Linie die traditionsstiftenden Kontinuitäten [als Vorgeschichte des modernen Staates, d. Vf.in], sondern die historischen Differenzen betont.“4 Um diese Aussage zu erhärten, erweist es sich als notwendig zu klären, wie das Verhältnis zwischen Tradition und Wandel in der Frühen Neuzeit verstanden wurde. Dieses ist zwar keine gänzlich neue Frage, aber ihre Richtung unterscheidet sich sichtbar von der modernisierungstheoretischen „Meistererzählung“5. Gefragt wird statt dessen nach den Normen und Werten, mit deren Hilfe im frühneuzeitlichen Europa Herrschaft a) begründet 2 Siehe dazu mit weiteren Nachweisen Luise Schorn-Schütte, Politische Kommunikation in der Frühen Neuzeit: Obrigkeitskritik im Alten Reich, in: GG 32, 2006, 273–314, hier 276–281, sowie dies., Historische Politikforschung. Eine Einführung. München 2006, 77– 83, und Günther Lottes, Neue Ideengeschichte, in: Joachim Eibach/Günther Lottes (Hrsg.), Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch. Göttingen 2002, 216–219. 3 Siehe dazu auch differenziert Volker Seresse, Politische Normen in Kleve-Mark während des 17. Jahrhunderts. Argumentationsgeschichtliche und herrschaftstheoretische Zugänge zur politischen Kultur der Frühen Neuzeit. Epfendorf 2005, 84–99. 4 Rudolf Schlögl, Vergesellschaftung unter Anwesenden. Zur kommunikativen Form des Politischen in der vormodernen Stadt, in: ders. (Hrsg.), Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt. Konstanz 2004, 9–60, hier 11. 5 Zum Begriff und methodischen Konzept der Meistererzählung aus der Sicht der Zeitgeschichtsschreibung Konrad Jarausch/Martin Sabrow, „Meistererzählung“ – Zur Karriere eines Begriffes, in: dies. (Hrsg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945. Göttingen 2002, 9–31; aus der Sicht der Mediävistik Frank Rexroth, Meistererzählung und die Praxis der Geschichtsschreibung. Eine Skizze zur Einführung, in: ders. (Hrsg.), Meistererzählungen vom Mittelalter.

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wurde, b) in Frage gestellt wurde, c) sich neuerlich stabilisierte und d) sich ihre Ausübung anhand von Korrektur und Traditionserneuerung veränderte. Derartige Prozesse der Neu- oder Umordnung von Überlieferungen waren der Motor historischen Wandels in der Frühen Neuzeit, wie dies unter anderem Literatur-, Kunst- und Philosophiegeschichtsschreibung in jüngster Zeit herausgearbeitet haben.6 An diese Forschungsansätze soll für den Bereich der politischen Herrschaft angeknüpft werden; dafür spricht, daß der Blick auf die politische Kommunikation, auf den Wandel der Verwendung von Begriffen7 die epochenspezifische Relevanz von Traditionen sichtbar werden läßt. Im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert erwies sich Legitimität von Herrschaft gerade durch den Nachweis der Bewahrung oder Wiederherstellung einer als gut befundenen politischen Ordnung. Die reformatorische Bewegung nahm dieses Argumentationsmuster ausdrücklich auf, indem von reformatio als renovatio gesprochen wurde.8 Im Europa des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts haben gelehrte Theologen und Juristen gemeinsame oder einander ähnliche Formen der Kommunikation verwendet, um sich über die Inhalte, die Argumentationsmuster, die sprachlichen Konventionen zu verständigen, mit deren Hilfe festgelegt wurde, was als politisch-theologische Tradition zu gelten habe.9 Es ist deshalb hilfreich, sich sowohl den Wissensordnungen dieser Gruppen als auch den Wissensinhalten zuzuwenden, die diskutiert und verarbeitet wurden, um zu klären, was „als politische Tradition galt“.10 Epochenimaginationen und Verlaufsmuster in der Praxis mediävistischer Disziplinen. München 2007, 1–22. 6 Siehe dazu Wilhelm Schmidt-Biggemann, Die Modelle der Human- und Sozialwissenschaften in ihrer Entwicklung, in: Walter Rüegg (Hrsg.), Geschichte der Universität in Europa. Bd. 2: Von der Reformation bis zur französischen Revolution (1500–1800). München 1996, 391–424, sowie Barbara Mahlmann-Bauer (Hrsg.), Scientiae et artes: Vermittlung alten und neuen Wissens in Literatur, Kunst und Musik. 2 Bde. Wiesbaden 2004. 7 Siehe prägnant dazu Terence Ball, Conceptual History and the History of Political Thought, in: Iain Hampsher-Monk/Karin Tilmans/Frank van Vree (Eds.), History of Concepts: Comparative Perspectives. Amsterdam 1998, 75–86. 8 Die Frage nach der Verzahnung von Religion und Politik als Muster der Innovation wird diskutiert in Robert von Friedeburg/Luise Schorn-Schütte (Hrsg.), Politik und Religion: Eigenlogik oder Verzahnung? München 2007; zur Traditionsgeschichte des Begriffs der politischen Theologie siehe Merio Scattola, Teologia politica. Bologna 2007, bes. 77– 111 zur Frühen Neuzeit. 9 Siehe dazu mit ersten Hinweisen Merio Scattola, Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ‚ius naturae‘. Tübingen 1999; Schorn-Schütte, Kommunikation (wie Anm. 2), bes. 281 ff.; Seresse, Normen (wie Anm. 3), mit einer Fülle von Belegen zum politischen Vokabular der klevischen Stände im 17. Jahrhundert und Vergleichbares zum Vokabular der österreichischen Stände von 1550–1650 in der vorzüglichen Studie von Arno Strohmeyer, Konfessionskonflikt und Herrschaftsordnung. Widerstandsrecht bei den österreichischen Ständen. Mainz 2006. 10 So die Charakterisierung bei Merio Scattola, Krieg des Wissens – Wissen des Krieges. Konflikt, Erfahrung und System der literarischen Gattungen am Beginn der Frühen Neuzeit. Padua 2006, 3.

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Mit dieser Blickrichtung wird zugleich deutlich, daß die Debatten über die Legitimität von Herrschaft im Europa des 16./17. Jahrhunderts nicht in regional unterschiedlichen Geschwindigkeiten geführt wurden, sondern sich als parallel und miteinander verzahnte Kommunikation beschreiben lassen, die Regionen übergreifend stattfand. Daß dafür sprachliche Überlieferung weiterhin von zentraler Bedeutung war, zeigen jüngere Forschungen zum Verhältnis von Sprache und politischer Realität: sie gehen von einer spezifischen Beziehung zwischen Gemeinschaftsbildung und sprachlicher Artikulation zeitgenössischer politischer Normen aus.11

II. „Politische Sprachen“ in der Frühen Neuzeit Als „Faszination des Staats“, so wurde jüngst die seit dem 19. Jahrhundert andauernde Beschäftigung mit dem sogenannten Werden der Staatsgewalt bezeichnet.12 Trotz aller Differenzierungen dominiert bis heute die Annahme eines gradlinig verlaufenden Prozesses der stetigen „Verstaatung“ aller Bereiche politisch-sozialer Ordnung. Um dieser Begrenzung durch Eröffnung anderer (d. h. nicht besserer!) Perspektiven zu begegnen, wird der Blick auf die Kommunikation der Zeitgenossen vor Ort, ihre politischen Sprachen gelenkt. Das Konzept der political language entstammt der angelsächsischen Debatte bereits der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Gegen die Interpretation politischer Ideen als allein auf die Erforschung des Denkens der „großen Geister“ gerichtet, wurde die Notwendigkeit betont, die Sprache all der zahlreichen Zeitgenossen in den Blick zu nehmen, die an den aktuellen Debatten um die politische Ordnung teilhatten. Dies waren überall in Europa gelehrte Juristen und gelehrte Theologen aller drei christlicher Konfessionen, die unter anderem als Politikberater an den Höfen, bei den ständischen Versammlungen, aber auch als selbst handelnde Politiker zum Beispiel in den großen Städten seit der Mitte des 16. Jahrhunderts immer sichtbarer wurden. Im Einklang mit dieser methodisch natürlich unbestrittenen, weil fachspezifisch unverzichtbaren Kontextbezogenheit geht es nunmehr darum, den größeren Kreis der an der Kommunikation über die Legitimation und die Ausübung von Herrschaft Beteiligten in die Analyse einzubeziehen. Dabei soll der Wandel der Begriffe analysiert werden, die die alltäglichen poli11 Siehe dazu jüngst Peter Burke, Languages and Communities in Early Modern History. Cambridge 2004. Diese Betonung bedeutet keine Ablehnung des Konzepts der sogenannten symbolischen Kommunikation, es wird nur unterstrichen, daß der sprachliche Austausch unabhängig von allen anderen Formen weiterhin zentral blieb. 12 Markus Meumann/Ralf Pröve, Die Faszination des Staates und die historische Praxis. Zur Beschreibung von Herrschaftsbeziehungen jenseits teleologischer und dualistischer Begriffsbildungen, in: dies. (Hrsg.), Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse eines dynamisch-kommunikativen Prozesses. Münster 2004, 11–49.

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tischen Debatten prägten, sie als strittige Debatten kennzeichneten oder Konsens stifteten. Die Bestimmung der Normen und Beurteilungsmaßstäbe, die für diese Debatten maßgeblich waren, ist das eigentliche Problem der Forschung. Mit dem Hinweis auf Cervantes, der mit der Figur des Don Quixote das Altwerden von aktuellen Normen versinnbildlicht, hat der englische Historiker Terence Ball 1998 ein sehr einprägsames Bild für diese Problematik gefunden. Indem der Ritter an den traditionalen Tugenden seines Standes festhält, verkennt er deren Bedeutungslosigkeit für die Zeitgenossen. „Thus Cervantes helps us to recognize the reality of conceptual change.“ Um jene traditionalen Überzeugungen, Glaubensinhalte und Lebenspraktiken in ihrer ganzen Fremdheit für den Historiker, in der ganzen Relevanz für die Zeitgenossen erkennen zu können, ist die schnörkellose Benennung der eigenen Deutungsmuster unverzichtbar. „One of the tasks of the conceptual historian is to adress this sense of strangeness, of difference, not to make it less strange or different, but to make it more comprehensible, to shed light on past practises and beliefs, and in so doing to stretch the linguistic limits of present-day political discourse.“13 Dieses selbstverständlich anmutende Plädoyer für die Einsicht in die relative Verständnislosigkeit der eigenen, zeitgebundenen Begriffe des Historikers markiert einen der größten Schwachpunkte der Begriffsgeschichtsschreibung, wie er eingangs schon erwähnt wurde. Lösbar erscheint das Problem nicht durch die Flucht in „das Erzählen“, denn es geht nicht um das Ende analytischer historischer Forschung. Vielmehr muß es um die Reflexion der Kategorie „Wandel“ in vormodernen Gesellschaften gehen, für die der Begriff in anderen Koordinaten stand als für die Gesellschaften des 21. Jahrhunderts. Jüngere Untersuchungen haben sichtbar machen können, daß es Schlüssel- oder Leitbegriffe gab, die in regelmäßiger Wiederkehr im Kontext politischer Konflikte der Frühneuzeit Wandel markierten. Dazu gehörten unter anderem: Gemeinwohl, altes Herkommen, gute Ordnung, necessitas, conservatio status, Schutz und Schirm, Wahrung der Privilegien, Gegenwehr und Notwehr.14 Allein diese schlichte Aufzählung macht deutlich, daß es sich vornehmlich um Konflikte zwischen politischen Ständen handelte, innerhalb derer ein und derselbe Begriff unterschiedlichen gruppenspezifischen Deutungen unterlag. Um jeden einzelnen dieser Begriffe entstand ein Kranz von weiteren Begriffen, so daß nicht zu Unrecht von politischen Sprachen „des“ Widerstandes, „des“ Gemeinwohls, „der“ necessitas, „der“ conservatio status usw. gesprochen wird.15 Eine systematische Zusammenschau der Untersu13

Ball, Conceptual History (wie Anm. 7), 75. Siehe dazu Herfried Münkler/Harald Bluhm, Einleitung: Gemeinwohl und Gemeinsinn als politisch-soziale Leitbegriffe, in: dies. (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn. Historische Semantiken politischer Leitbegriffe. Berlin 2001, 9–30; Seresse, Normen (wie Anm. 3); Strohmeyer, Konfessionskonflikt (wie Anm. 9). 15 Siehe beispielhaft Strohmeyer, Konfessionskonflikt (wie Anm. 9), 94–129, 177–198 und öfter. 14

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chungen, die unterschiedliche europäische Regionen betreffen, steht noch aus, eine Erweiterung des Vokabulars, der politischen Sprachen ist wahrscheinlich. Zu dieser Systematisierung soll die hier vorgelegte Untersuchung einen Beitrag leisten. Methodisch geht es dabei um Historische Semantik, die in den letzten Jahren in allen Sparten der Geschichtsschreibung intensiv rezipiert wurde.16 Für die Geschichtsschreibung zur Frühen Neuzeit ist die Einordnung der Leit- und Schlüsselbegriffe in ihren historischen Entstehungszusammenhang ein noch junges Arbeitsfeld, dessen systematische Implikationen aber intensiv diskutiert wurden.17 Dem Vergleich der europäischen politischen Sprachen, die sich der Entstehung und der Legitimation von politischer Herrschaft widmen, dem Vergleich ihres Vokabulars, ihrer Trägergruppen und Institutionalisierungen wurde allerdings kaum Interesse gewidmet. Ein solcher Versuch soll als „historische Politikforschung“ bezeichnet werden.18 Zentrum der Untersuchungen ist die Benennung der Schnittstellen, an denen sich die Semantik von Schlüssel- und Leitbegriffen veränderte und unter Umständen eine veränderte Richtung einschlug. Zu berücksichtigen ist dabei, daß alle hier identifizierten Begriffe in Traditionen stehen, die ihre je eigene Entstehungsgeschichte haben. Mit Hilfe des Konzepts der „kommunikativen Absicht“ ist es möglich, deutlich zu machen, daß jeder noch so innovativ anmutende Sprechakt nur vor dem Hintergrund konventioneller, in Traditionen eingebundener Kommunikationsformen verstanden werden kann. Politische Sprachen setzen sich zusammen aus einem Vokabular, das die Traditionen seines Gebrauchs immer noch mit sich trägt; der Umschwung hin zu einem anders gewichtenden Gebrauch kann langsam und allmählich einsetzen, in der Mehrzahl der Fälle gibt es keinen abrupten Schnitt. Diese Kommunikation über das Politische, die Verwendung von politischen Sprachen war ergebnisoffen, sie mußte keineswegs im Konsens vollzogen werden, auch die Zuspitzung von Problemen war denkbar, der Gebrauch der politischen Sprache war nicht notwendig erfolgreich, und es war schließlich ohne Belang, wie die Richtung des Wandels zu bewerten sei. Politische 16

Siehe aus der Fülle der Literatur u. a. Achim Landwehr, Geschichte des Sagbaren. Einführung in die historische Diskursanalyse. 2. Aufl. Tübingen 2004; Lottes, Ideengeschichte (wie Anm. 2); Bernhard Jussen/Reinhard Blänkner, Institutionen und Ereignis. Anfragen an zwei alt gewordene geschichtswissenschaftliche Kategorien, in: dies. (Hrsg), Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens. Göttingen 1998, 9–16. 17 Unter anderem bei Barbara Stollberg-Rilinger, Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, in: dies. (Hrsg), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Berlin 2005, 9–24; Schorn-Schütte, Politikforschung (wie Anm. 2). 18 Ein erster, europäische Entwicklungen integrierender Versuch des Vergleichs legte Scattola vor, der die politische Sprache des Krieges, der kriegerischen Auseinandersetzungen betrachtete. Dieser Arbeit ist der hier vorgelegte Aufsatz sehr verpflichtet: Scattola, Krieg (wie Anm. 10).

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Kommunikation war an Institutionalisierungen gebunden, verstanden als Verstetigung und/oder Begrenzung von Prozessen der Verteilung von politischer Herrschaft.19 In jedem politischen Gemeinwesen werden diese Institutionen getragen von sozialen Gruppen und/oder Individuen. Für deren Funktionieren gibt es Regeln und Verfahrensweisen, sie sind der Analyse zugänglich.

III. Kommunikation über Herrschaft in Europa In allen Regionen der europäischen Frühen Neuzeit des 16./17. Jahrhunderts gab es vergleichbare, wenn auch in Einzelheiten immer wieder voneinander abweichende Institutionen der Kommunikation.20 Allen aber war gemeinsam, daß Herrschaft als begrenzte Ausübung von Macht, verteilt auf verschiedene Teilnehmer angesehen wurde, ihre Ausübung bedurfte des Konsenses.21 Die Kommunikation über diese Normen hatte unterschiedliche Erscheinungsformen ebenso wie es unterschiedliche Formen der Konsensfindung bzw. des Austrags von Konflikten über sie gab. Das allgemein zur Verfügung stehende politiktheoretische Vokabular war die aristotelische Lehre von den Herrschaftsformen der Aristokratie, der Demokratie und der Monarchie. Debatten über deren Vorzüge gab es überall dort, wo die vorhandenen Mechanismen in Zweifel gezogen wurden, und das war aufgrund der Verzahnung von politisch-dynastischen und religiösen Konflikten seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in ganz Europa der Fall. Es ist deshalb nicht erstaunlich, daß trotz aller Unterschiede überregionale Gemeinsamkeiten identifizierbar sind, wie sie sich unter anderem in den Debatten um die Legitimität von Gegenwehr, Notwehr und des Rechtes zur Obrigkeitskritik (correctio principis) zeigten. Das gilt auch und gerade für das Alte Reich im 16. Jahrhundert, die Kontroversen haben hier sogar ihren Anfang genommen. In jüngeren Veröffentlichungen ist wiederholt auf die intensive Verzahnung zum Beispiel der englischen, niederländischen und deutschen Debatten verwiesen wor19

So Herfried Münkler/Marcus Llanque, Politische Kommunikation in Ideengeschichte und politischer Philosophie, in: Otfried Jarren (Hrsg.), Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft. Ein Handbuch mit Lexikonteil. Opladen 2000, 65–80, hier 66. 20 Zum Institutionenbegriff siehe Blänkner/Jussen, Institutionen und Ereignis (wie Anm. 16). 21 Horst Dreitzel hat in seinem Standardwerk „Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft. Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz“. 2 Bde. Köln/Weimar/Wien 1991, vier Formen solcher Herrschaftsmodelle in der deutschen Debatte der Frühen Neuzeit skizziert. Sie alle gehen von der Relevanz der Monarchie aus, allerdings mit unterschiedlicher Gewichtung von Teilhabeformen und Machtbegrenzung; an diese Forschungen wird hier angeknüpft.

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den.22 Ihren Anfang nahmen jene im Konflikt zwischen Kaiser Karl V. und den protestantischen Reichsständen, der sich im Umkreis der Interimskrise (1548–1555) weiter verschärfte.23 Die seit den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts europaweit geführte Debatte um die Legitimität von Notwehr/ Gegenwehr knüpfte an spätmittelalterliche Traditionen an, worauf alle Beteiligten stets ausdrücklich verwiesen haben.24 Damit wird deutlich, daß die Zeitgenossen selbst diese Auseinandersetzungen als eine legitime Debatte um die Verteilung von Herrschaftsrechten betrachteten. Wie vollzog sich diese Kommunikation im europäischen Rahmen? Wer trug die Debatten und wie, wenn überhaupt, wurden wechselseitige Impulse weitergegeben? Die Trägergruppe bestand aus gelehrten Juristen und Theologen aller drei christlicher Konfessionen; deren soziale Herkunft war nach regionalen Traditionen verschieden, mehrheitlich aber entstammte sie dem gelehrten und/oder Stadtbürgertum, im Falle von England, Frankreich oder Spanien häufig auch dem niederen Adel. Diese juristisch-theologische Kommunikationsgemeinschaft hatte die Aufgabe der Politikberatung, das galt für ganz Europa. Damit besaßen die Amtsträger eine Deutungskompetenz, die sie sich einerseits mit Hilfe ihrer Studien angeeignet hatten, die sie andererseits aufgrund ihrer Teilhabe am gelehrten Diskurs besaßen, der aus je aktuellem Anlaß in regionaler Eigenständigkeit in Gestalt von Predigten, Gutachten, Druckschriften und ähnlichem in der gelehrten und/oder politischen „Öffentlichkeit“25 geführt wurde. Jüngst hat der italienische Philologe Merio 22 Siehe unter anderem Martin van Gelderen, Antwerpen, Emden, London 1567. Der Streit zwischen Lutheranern und Reformierten über das Widerstandsrecht, in: Luise Schorn-Schütte (Hrsg.), Das Interim 1548/50. Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt. Gütersloh 2005, 105–116; Robert von Friedeburg, Widerstandsrecht und Konfessionskonflikt. Notwehr und Gemeiner Mann im deutsch-britischen Vergleich 1530–1669. Berlin 1999; Schorn-Schütte, Kommunikation (wie Anm. 2); Ronald G. Asch, Ein neues Interim? Die englische Kirche und die Via Media zwischen Genf und Rom um 1600, in: Schorn-Schütte (Hrsg.), Interim (wie oben), 47–66; Esther Hildebrandt, The Magdeburg Bekenntnis as a Possible Link Between German and English Resistance Theories in the Sixteenth Century, in: ARG 71, 1980, 227–253. 23 Siehe dazu Gabriele Haug-Moritz, „Ob wir uns auch mit Gott/Recht und gutem Gewissen / wehren mögen / und Gewalt mit Gewalt vertreiben?“ Zur Widerstandsdiskussion des Schmalkaldischen Kriegs 1546/47, in: Schorn-Schütte (Hrsg.), Interim (wie Anm. 22), 488–510; Merio Scattola, Widerstandsrecht und Naturrecht im Umkreis von Philipp Melanchthon, in: Schorn-Schütte (Hrsg.), Interim (wie Anm. 22), 459–487. 24 Zu diesen Traditionen Diethelm Böttcher, Ungehorsam oder Widerstand? Zum Fortleben des mittelalterlichen Widerstandsrechtes in der Reformationszeit (1529–1530). Berlin 1991. 25 Öffentlichkeit im 16./17. Jahrhundert unterschied sich von dem, was als aufgeklärte Öffentlichkeit am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts angenommen werden kann. Öffentlichkeit bezieht sich auf jene Gruppe der Gelehrten, die aufgrund unter anderem gemeinsamer Bildung an der gleichen Universität oder in der Lektüre gleicher Texte über eine gemeinsame Basis des Austausches verfügten; dazu unter anderem Luise SchornSchütte (Hrsg.), Gab es Intellektuelle in der Frühen Neuzeit? Berlin 2010 (im Druck).

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Scattola auf die besondere Rolle der gemeinsamen akademischen Formen dieser europäischen Gelehrtenkultur und auf ihre gemeinsamen juristischen und theologischen Sprachen hingewiesen, die er für das „Wissen vom Krieg“ herausgearbeitet hat.26 Dabei konnte er, wie schon in früheren Studien27, deutlich machen, daß es sowohl Parallelitäten bei den Inhalten als auch bei den Formen der politischen Sprachen gab, d. h. Vergleichbarkeiten in der „Grammatik“, der äußeren Form, im Stil der Argumentation und entsprechende Vergleichbarkeiten bei den Gegenständen, über die debattiert wurde. Die Voraussetzung gemeinsamer gelehrter Kommunikation war also keineswegs die wechselseitige direkte Rezeption allein, obwohl auch sie existierte. Gewichtiger war die Existenz paralleler europäischer Traditionen, deren Wirkung jenseits konfessioneller, fachspezifischer und regionaler Kulturen zu beobachten ist: „aber daneben und mit gleichem Recht kann man auch eine polygenetische Erklärung gelten lassen und annehmen, dass dieselben oder sehr ähnliche Lehren im 16. Jahrhundert gleichzeitig und unabhängig voneinander formuliert wurden, und dass unterschiedliche und weit voneinander entfernte Traditionen zu analogen Ergebnissen kamen, obwohl sie von unterschiedlichen Ausgangspunkten anfingen und zum Teil auch entgegen gesetzte Absichten verfolgten“.28 Die Annahme einer europäischen Ordnung der politischen Sprachen im 16. Jahrhundert erscheint als durchaus tragfähig. Sie wird im folgenden weiter verfolgt.29 1. Das Alte Reich In einer glänzenden, forschungsprägenden Studie hat vor gut 25 Jahren der Heidelberger Historiker Eike Wolgast die „Religionsfrage als Problem des

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Scattola, Krieg (wie Anm. 10), 10 ff. und 28 ff. Siehe vor allem Scattola, Naturrecht (wie Anm. 9). 28 Scattola, Krieg (wie Anm. 10), 30 f.; als Beleg verweist er ebd. 31 f. auf die parallelen Debatten um die Tyrannislehre im Europa des 16. Jahrhunderts, die sowohl von den Gelehrten der Schule von Salamanca formuliert wurden als auch durch Philipp Melanchthon in Wittenberg und durch Johannes Althusius in Emden. 29 Dies ist eine ausdrückliche Gegenposition zur These von Cornel A. Zwierlein, der schon die Annahme einer durch die Magdeburger Confessio vermittelten Rezeption vergleichbarer Positionen im Europa des 16. Jahrhunderts als „historiographischen Mythos“ bezeichnete. Siehe dazu Cornel A. Zwierlein, Heidelberg und „der Westen“ um 1600, in: Christoph Strohm/Joseph S. Freedman/Herman J. Selderhuis (Hrsg.), Späthumanismus und reformierte Konfession. Tübingen 2006, 27–92, hier 32 f. und ders., La loi de Dieu et l’obligation à la defense: de Florence a Magdebourg 1494–1550, in: Paul-Alexis Mellet (Ed.), ‚Et de sa bouche sortait un glaive.‘ Monarchomaques au XVIème siecle. Paris 2006, 31–75. Auch die Interpretation, die Quentin Skinner in seinem Werk: The Foundations of Modern Political Thought. 2 Vols. Cambridge 1978, vorlegte, hat die europäische Verzahnung nicht ausreichend erkannt; seine Arbeit bleibt bei der nationalen Blickrichtung stehen. 27

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Widerstandsrechts im 16. Jahrhundert“ charakterisiert.30 Seine damalige Sicht ist bis heute unbestritten, wonach mit der Konfessionsspaltung eine neue Dimension in die dem Mittelalter wohlvertraute Widerstands- und Notwehrdebatte eingefügt worden sei. Sein Fazit: In der Magdeburger Confessio von 1550, jener politisch-theologischen Schrift gegen Kaiser Karl V., die von den Theologen und Juristen der belagerten Stadt gemeinsam verfaßt wurde, sind neue Argumentationen zusammengetragen worden, aber „der neue Ansatz der Magdeburger Lehre vom Widerstandsrecht jedes magistratus inferior [ist] in Deutschland nicht weitergeführt worden“.31 Angesichts der Fülle der zeitgenössischen Debatten über die Notwehrfrage, die im Umkreis des Schmalkaldischen Krieges (1546/47) im Alten Reich geführt wurden32, muß diese Feststellung weitergeführt werden. Es kann gezeigt werden, daß die Magdeburger Confessio 1. in einer langen Traditionslinie steht, die zudem 2. nicht mit dem Augsburger Religionsfrieden (1555) endet und sich 3. in eine europaweite Kommunikation über das Notwehrund Gegenwehrrecht einbinden läßt. 1.1. Aufschlußreich für diese Argumentation ist ein frühes Gutachten des Wittenberger Stadtpfarrers Johannes Bugenhagen (1485–1558).33 Auf die Frage nach dem Recht der Kurfürsten, sich gegen einen mit militärischer Gewalt drohenden Kaiser zu wehren, gab Bugenhagen am 29. September 1529 seinem Landesherrn, Kurfürst Johann dem Beständigen (1468–1532), eine mit Belegen aus Altem und Neuem Testament argumentierende Antwort. Darin benannte er die Grenzen sowohl für den gewaltbereiten Kaiser als auch für die zur Abwehr bereiten Kurfürsten. Bugenhagen anerkannte die aristokratische Struktur der Reichsverfassung: die Unterherren, die magistratus inferiores (konkret: die Kurfürsten) sind auch selbst Obrigkeiten. Der Kaiser aber ist der Oberherr, der magistratus superior, den sie gewählt haben, so daß sie ihm in den Dingen, die er als christliche Obrigkeit regelt, zu gehorchen haben.34 30

Eike Wolgast, Die Religionsfrage als Problem des Widerstandsrechts im 16. Jahrhundert. Heidelberg 1980. 31 Ebd. 27. 32 Siehe dazu umfassend Gabriele Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund 1530– 1541/42. Leinfelden-Echterdingen 2002. 33 Abgedruckt in Heinz Scheible (Hrsg.), Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten 1523–1546. Gütersloh 1969, 2. Aufl. 1982, 25–29. 34 Der Charakter der Reichsverfassung war der Streitpunkt in der Reichsreformdebatte seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert; diese Stellungnahme Bugenhagens ist die früheste von seiten der Reformatoren, siehe zum Ganzen noch immer maßgeblich Eike Wolgast, Die Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Stände. Studien zu Luthers Gutachten in politischen Fragen. Gütersloh 1977; sodann von Friedeburg, Widerstandsrecht (wie Anm. 22); für die mittelalterlichen Traditionen maßgeblich Diethelm Böttcher, Ungehorsam oder Widerstand? Zum Fortleben des mittelalterlichen Widerstandsrechtes in der Reformationszeit (1529–1530). Berlin 1991; zu Bugenhagens Position auch Schorn-Schütte, Kommunikation (wie Anm. 2).

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Sobald er sich aber aus dieser Amtsführung heraus begibt, entstehen für die Unterherren Rechte der Abwehr; das geschieht dann, wenn der Kaiser als Mörder oder als Verfolger des Evangeliums auftritt. Bugenhagen verband in seiner Antwort den Brief des Paulus an die Römer, Kap. 13 mit dem alttestamentlichen Buch der Könige, Kap. 13: Gewalt, die der Obrigkeit von Gott gegeben ist, ist nur so lange legitim, wie sie sich nicht gegen Gottes Wort wendet. Wer als christliche Obrigkeit aus diesem Auftrag selbst heraustritt, wird von Gott verworfen. Die Konsequenzen für die Unterherren (magistratus inferiores) sind bemerkenswert: einer Obrigkeit, die keine mehr ist, muß niemand gehorchen. Aber keine Einzelperson, kein Individuum darf deshalb Widerstand leisten. Eine Gewaltanwendung, die Bugenhagen sehr wohl zugesteht, wird dadurch rechtmäßig, daß die Unterherren (die Reichsfürsten im konkreten Fall) als Obrigkeiten gegenüber ihren eigenen Untertanen eine Schutzpflicht vor Mord und Gewaltanwendung haben. Und nur deshalb haben die magistratus inferiores in diesem Fall das Recht des militärischen Eingreifens. Da es sich um Abwehr unrechter Gewalt handelt, kann dies im Sprachgebrauch der Zeitgenossen als Notwehrrecht oder auch – unter Berufung dann allerdings auf das Recht des Lehnsmannes gegenüber seinem Lehnsherrn – als Recht der Gegenwehr bezeichnet werden.35 In den folgenden Jahren differenzierten die protestantischen Theologen ihre Argumentationen weiter aus. Gewichtig ist dabei die Position Melanchthons, der seit 1535 weltlicher Obrigkeit den Schutz beider Tafeln des Gesetzes zuwies (custodia utriusque tabulae); die Verletzung dieser Pflicht begründet das Recht der Untertanen, sich gegen solch ungerechte Herrschaft zu wehren.36 Es ist Teil des Naturrechts, das Melanchthon gleichsetzt mit dem göttlichen Recht; in der jüngeren Forschung wird dies deshalb auch als „Naturrecht vor dem Naturrecht“ charakterisiert.37 Entscheidend ist die Richtung der Argumentation: indem sich der Angegriffene in Gestalt eines Hausvaters, Vaters oder Ehemannes für seine Schutzbefohlenen zur Wehr setzt, stellt er die natürliche, göttliche Ordnung wieder her; im strengen Sinne leistet er nicht Widerstand, sondern schützt das Recht, anstatt es zu verletzen. Auf das politisch aktuelle Machtverhältnis innerhalb des Reiches angewandt,

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Zu diesen aus dem Mittelalter bekannten Unterscheidungen, an die die theologischen Argumentationen anknüpften, siehe Böttcher, Ungehorsam (wie Anm. 34), 25 f., HaugMoritz, Bund (wie Anm. 32). 36 Zur frühen Position Melanchthons in der Widerstandsfrage siehe Böttcher, Ungehorsam (wie Anm. 34), 82–98; zur Weiterentwicklung seiner Argumentation die kluge Arbeit von Isabelle Defler, Lex und ordo. Eine rechtshistorische Untersuchung der Rechtsauffassung Melanchthons. Berlin 2005, 205–209, sowie Scattola, Widerstandsrecht (wie Anm. 23). 37 Siehe dazu Scattola, Naturrecht (wie Anm. 9), sowie Defler, Lex und ordo (wie Anm. 36), 42–51.

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wird damit die Notwehr/Gegenwehr der Kurfürsten gegen einen mörderischen, den wahren Glauben nicht schützenden Kaiser gerechtfertigt und zugleich die aristokratische Struktur der Reichsverfassung anerkannt. Bugenhagen und Melanchthon standen nicht allein mit dieser Auffassung; in einer großen Zahl von Gutachten und Predigten vor allem auch solcher Theologen, die vor Ort in Städten und Gemeinden tätig waren, finden sich diese Argumentationen seit dem Beginn der dreißiger Jahre des 16. Jahrhunderts immer wieder. Als Beispiel soll das Gutachten des Gothaer Superintendenten Friedrich Myconius aus dem Jahre 1545 dienen, das jener für den sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich im Vorfeld der kriegerischen Auseinandersetzungen des Schmalkaldischen Bundes mit Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel erstellte.38 Auch Myconius anerkannte ein natürliches Selbstverteidigungsrecht, das der niederen gegenüber der höheren Obrigkeit zusteht; eine Obrigkeit, die ihre Schutzaufgabe nicht erfüllt, ist keine mehr. Die Pflicht ihr zu widerstehen, entsteht dadurch, daß derjenige, der sich gegen eine solche, als tyrannisch charakterisierte Obrigkeit selbst verteidigt, die natürliche Ordnung wiederherstellt, also Recht schützt, anstatt es zu verletzen. Wie Bugenhagen argumentierte auch Myconius mit dem Verweis auf die private Schutzpflicht des Vaters gegenüber seinen Kindern.39 Und wie Bugenhagen und Melanchthon war auch er davon überzeugt, daß der Kaiser keine unbegrenzte Gewalt hatte, diese vielmehr durch die Kur- und anderen Fürsten des Reichs begrenzt werde.40 Bugenhagen, Melanchthon und Myconius formulierten die theologische Parallele zur Position der hessischen und sächsischen Juristen, die seit 1539 im Rahmen der Debatten des schmalkaldischen Bundes das Recht des Widerstandes der Kurfürsten gegen einen ungetreuen Lehnsherrn mit römischrechtlichen Traditionen legitimierten.41 Beide Argumentationslinien waren zu diesem Zeitpunkt eng miteinander verzahnt, die theologischen und juristischen Berater der Häupter des Bundes, des hessischen Landgrafen und des sächsischen Kurfürsten, kannten ihre wechselseitigen Argumentationen offensichtlich genau. Wer hier wen rezipiert hat und ob es überhaupt eine Rezeption war, kann im eingangs erläuterten Sinne offenbleiben. Die Bewertung durch Scattola trifft den Sachverhalt am sichersten; er spricht von parallelen Deu38

Siehe zum Ganzen die mustergültige Edition und einleitende Kommentierung des Gutachtens durch Ernst Koch, „Wer es besser versteht, dem soll mein Geist gern unterworfen sein.“ Ein Gutachten von F. Myconius zum Krieg des Schmalkaldischen Bundes … im Jahre 1545, in: Zs. für bayerische Kirchengeschichte 73, 2004, 3–19. 39 Die Aufgabe der Obrigkeit nach Myconius: „Do ein ider schuldig, sein untrthanen, gesind, kinder den Tyrannen, wütrichen und bluthunden gar nicht fur zuwerffen […] so(n)dder wu sie konnen, yhnen die selsben heraus reissen.“ Gutachten Myconius (wie Anm. 38), 11. 40 Siehe ebd. 17. 41 Siehe dazu Wolgast, Wittenberger Theologie (wie Anm. 34), 165–173; Haug-Moritz, Bund (wie Anm. 32), 70–92.

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tungsstrategien bei Theologen und Juristen, die „tief greifenden Strukturen des juristischen, politischen und theologischen Denkens entsprachen“.42 Für den Zeitraum, den wir hier für das Alte Reich betrachten, paßten die Argumentationsmuster, die politische Sprache von Juristen und Theologen nahtlos zueinander.43 Zwei Linien lassen sich in der juristischen Argumentation unterscheiden: zum ersten das reichsrechtliche Argument, das auch als Recht der Gegenwehr bezeichnet wird. Kaiser und Reichsfürsten sind im Lehnsverband Reich als Lehnsherr und Lehnsleute miteinander verbunden; bricht der Lehnsherr seinen Schutzeid, so entfällt die Gehorsamspflicht der Lehnsleute. Zum zweiten wird mit dem römischen natürlichen Recht der Selbstverteidigung (Notwehr) argumentiert, das auch bei den Theologen Verwendung fand, ohne daß diese explizit auf die Traditionen hingewiesen hätten. Der unrechtmäßig angegriffene Vater, Hausvater, Ehemann hat das Recht sich zu wehren; dadurch, daß das als Individualrecht zulässige Selbstverteidigungsrecht auf das Verhältnis zwischen Kaiser und Reichsfürsten übertragen wurde44, erhielt das Notwehrrecht reichsrechtliche Legitimation. Zusammenfassend ist festzuhalten: Seit den ausgehenden zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts verbanden sich im Alten Reich in der Debatte um die Legitimität der kurfürstlichen Abwehr eines zum Angriff bereiten Kaisers reichsrechtliche, römischrechtliche und theologische Argumentationen. Sie alle standen in wohl bekannten Traditionen, deshalb können jene als politisch-theologische Sprache der Herrschaftsbegrenzung und -legitimation bezeichnet werden. An diesen Fundus knüpfte die Magdeburger Confessio an. Von einer völlig neuen Theorie protestantischen Widerstandes kann nicht die Rede sein. Allerdings wurde der Kreis der Trägergruppen des Widerstands um die Gruppe der niederen Magistrate erweitert; und zu diesen zählte die Confessio ausdrücklich auch die Vertreter der Reichsstädte, des reichsstädtischen Bürgertums also.45 1.2. Wolgast hatte betont, daß „die Magdeburger Theorien in Deutschland Episode“ geblieben seien.46 Auch diese Aussage kann differenziert werden. Sicherlich ist es richtig, daß sich die Debatten nach 1555 auf die Ebene der Territorien und in die Städte verlagerten, so daß es eine große Vielfalt von

42

Scattola, Widerstandsrecht (wie Anm. 23), 486 f. Siehe dazu die Tabelle im Anhang. 44 Dies kann unter anderem verfolgt werden in den Schriften des Jenenser Juristen Basilius Monner, Von der Defension und Gegenwehre, Ob man sich wider der Oberkeit Tyranney und unrechte Gewalt wehren, und gewalt mit gewalt (iure) vertreiben müge. O. O. 1632 (1. Aufl. Erfurt 1546), 12–14, 18. 45 Zur Rolle des Magdeburger Rates und der Magdeburger Prediger in der Publikationsoffensive der Magdeburger Confessio siehe Thomas Kaufmann, Das Ende der Reformation. Magdeburgs „Herrgotts Kanzlei“ (1548–1551/2). Tübingen 2003, 120–207. 46 Wolgast, Religionsfrage (wie Anm. 30), 28. 43

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parallel laufenden regionalen Auseinandersetzungen um die Teilhabe an Herrschaft und um deren Begrenzung gab. Immer deutlicher aber wurde, daß die Frage nach den Trägern von Notwehr/Gegenwehr beantwortet werden mußte. Deshalb ist die Beobachtung wichtig, daß in diesen Konflikten die Drei-Stände-Lehre, also die Annahme eines Zusammenwirkens von status politicus, status ecclesiasticus und status oeconomicus immer klarere Konturen gewann. Auch in der Magdeburger Confessio nahm sie dadurch eine zentrale Stelle ein, daß dem status ecclesiasticus eine Wächterrolle zugeordnet wurde, die es der neuen protestantischen Geistlichkeit zur Aufgabe machte, die Obrigkeit an die Erfüllung ihrer Aufgaben zu erinnern. Denn nur ein pius magistratus kann den Gehorsam der anderen Stände erwarten.47 Angesichts der Zuweisung dieser obrigkeitskritischen/mahnenden Rolle an den status ecclesiasticus wird verständlich, warum die Frage nach den Grenzen zwischen Kirche und Welt speziell im Protestantismus des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts immer drängender wurde. In zahlreichen Konflikten vor Ort, in einer Fülle von Druckschriften ist die Debatte greifbar. Sie wurde – dies ist zu betonen – durch gelehrte Theologen und Juristen gemeinsam, wenn auch nicht immer mit dem gleichen Ergebnis geführt; in der juristischen Fachliteratur allerdings tauchten die systematischen Überlegungen erst mit einiger zeitlicher Verzögerung auf.48 Das der Stände-Lehre zugrunde liegende Modell der Teilung von Herrschaft war zugleich das Modell für deren Kontrolle, denn Herrschaftsteilung führt zur Herrschaftsbegrenzung.49 In diesem Sinne war die Drei-Stände-Lehre Teil der politica christiana, der christlichen Herrschaftslehre, die im Unterschied zum zeitgenössischen Aristotelismus auf eine gemäßigte Monarchie, eine 47 Siehe dazu Luise Schorn-Schütte, Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit. Deren Anteil an der Entfaltung frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft. Gütersloh 1996, 393–448. Zur Argumentation des Gehorsams allein gegenüber einem pius magistratus ist auf die lange Tradition der Figur einer frommen Obrigkeit zu verweisen, die bis in die spätantike Interpretation der berühmten Römerbriefstelle durch Theodoret zurückreicht. Ich danke meinem Kollegen Hartmut Leppin herzlich für diesen zentralen Hinweis, der aus einem gemeinsamen Seminar innerhalb des Internationalen Graduiertenkollegs 1067 „Politische Kommunikation von der Antike bis in das 20. Jahrhundert“ erwuchs. „Clarum est autem, si cum pietate: non enim, si Dei praeceptis repugnent, magistratibus obsequi permittitur.“ Theodoret, Römerbrief 13,1, in: Patrologia Graeca 82, 194, Cap. XIII,V.1. 48 Siehe Martin Heckel, Staat und Kirche nach den Lehren der evangelischen Juristen Deutschlands in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. München 1969, 127–131. 49 Wie stark die protestantischen Theologen die zeitgenössischen politischen Lehren in ihrer akademischen Ausbildung rezipierten, hat herausgearbeitet Michael Philipp, Theologen als Politologen. Zur Bedeutung der Politikwissenschaft des 17. Jahrhunderts für die akademische Ausbildung protestantischer Geistlicher, in: Friedemann Maurer/Rainer O. Schultze/Theo Stammen (Hrsg.), Kulturhermeneutik und kritische Rationalität. Festschrift für Hans-Otto Mühleisen zum 65. Geburtstag. Lindenberg 2006, 575–594.

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monarchia temperata mit deutlich geringerer Herrschaftszentrierung zielte.50 In den Texten, die seit 1548 zahlreich vorliegen, beanspruchte die Geistlichkeit als gleichrangige Ordnung ein Wächteramt gegenüber den beiden anderen Ständen. Da sich mit dieser Argumentation die soziale Identität der neuen protestantischen Geistlichkeit in der ständischen Ordnung des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts verband51, war die Drei-Stände-Lehre aus der politischen Kommunikation bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts nicht mehr wegzudenken. Das Argument, jede Ordnung/jeder Stand habe nach ihrem/seinem „Beruf“ zu handeln, erhielt damit eine gewichtige politische Funktion. Die Konkurrenz zwischen den Ständen wuchs. Solche Konflikte wurden als Auseinandersetzung um die Grenze zwischen externum und internum, zwischen Kirche und Welt und damit als Streit um den Charakter weltlicher Obrigkeit, um Umfang und Rolle des status politicus innerhalb des corpus christianum ausgetragen.52 Von seiten der Geistlichkeit wurde das Kräfteverhältnis zwischen den Ständen als aristokratisches, von seiten des status politicus aber als hierarchisches charakterisiert. Im Rahmen dieser Konflikte wurde an der Möglichkeit, sich einer unchristlichen Obrigkeit zu widersetzen, nachdrücklich festgehalten. Anschaulicher Beleg sind einerseits die Auseinandersetzungen, die sich seit 1561 innerhalb des niedersächsischen Reichskreises an der Praxis öffentlicher Kanzelkritik entzündeten und im August 1562 mit einem öffentlichen Mandat der Stände dieses Kreises beantwortet wurden.53 Beleg sind andererseits die Debatten um das Verhältnis von gelehrten Ständen und Adel, die sich als Adels- und Hofkritik artikulierten.54 1.2.1. Die Geistlichkeit betrachtete das Lüneburger Mandat einhellig als Eingriff in das Amt des status ecclesiasticus und lehnte dessen Befolgung ab. M. Chemnitz machte 1567 sogar die Zusage zur Übernahme des Superintendentenamtes in Braunschweig von der ungehinderten Übung des geistlichen 50

Zum Folgenden ausführlich Schorn-Schütte, Kommunikation (wie Anm. 2), 273–314; entsprechend Dreitzel, Monarchiebegriffe, Bd. 2 (wie Anm. 21), 484–499, besonders ebd. 490 unterstreicht er das Festhalten der christlichen Herrschaftslehre an der traditionalen Bindung des Monarchen an Göttliches und Naturrecht und an die Fundamentalgesetze. 51 Dies wurde als „Sonderbewußtsein“ charakterisiert; siehe dazu Schorn-Schütte, Geistlichkeit (wie Anm. 47), 393 f. 52 Siehe dazu Heckel, Staat und Kirche (wie Anm. 48), 139–162. 53 Siehe dazu ausführlich mit weiteren Nachweisen Schorn-Schütte, Geistlichkeit (wie Anm. 47), 399–406, sowie Inge Mager, Die Konkordienformel im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel. Entstehungsbeitrag, Rezeption, Geltung. Göttingen 1993. 54 Auch dazu siehe Schorn-Schütte, Geistlichkeit (wie Anm. 47), 407–410; Ronald G. Asch, Bürgertum, Universität und Adel. Eine württembergische Kontroverse des Späthumanismus, in: Klaus Garber (Hrsg.), Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit. Bd. 1. Tübingen 1998, 384–410.

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Wächteramtes abhängig. Weitere Theologen, die dem Lüneburger Mandat öffentlich widersprachen, waren J. Mörlin, der Vorgänger des Chemnitz in Braunschweig, die Mecklenburger Theologen D. Chyträus, S. Paul und C. Pistorius sowie die führenden Gnesiolutheraner M. Flacius (Jena), N. Gallus (Regensburg) und T. Heshusius (Magdeburg).55 Ähnlich wie bereits in der Magdeburger Confessio betonten sie das jeweils eigene Recht des status ecclesiasticus und des status politicus und zwar sowohl unter Berufung auf Gottes Gebot als auch auf „altes Kayserliches Recht“.56 Der neutestamentliche Satz: „So lasst euch nun weisen ihr Könige, Lehrer aber gehet hin und prediget in alle Welt“ wurde als Begründung des geistlichen Lehr- und Strafamtes herangezogen; dessen Wahrnehmung sei deshalb kein Eingriff in das Amt der Obrigkeit.57 Vielmehr verstoße der, der die Geistlichkeit an dessen Ausübung hindere, auch gegen Reichsrecht, wonach „die Bischöffe wider die Wölffe und Feinde der Wahrheit wachen sollten“58, ohne daß ein weltlicher Regent seine Erlaubnis dazu zu geben habe. Die rechtfertigende Verbindung von alt- und neutestamentlicher Obrigkeitsmahnung mit dem Rückgriff auf obrigkeitskritische Traditionen, die bereits in den vorreformatorischen Reformbewegungen eine große Rolle gespielt hatten59, verliehen der Position des status ecclesiasticus politische Brisanz. Der Anspruch der Geistlichkeit, das geistliche Amt als autonomes, nach außen wirksames Amt zu führen, wurde zusätzlich unterstrichen durch die Kontroversen um das Recht der Predigervokation, die sich durch zeitgleich publizierte Schriften unter anderem von Mörlin, Heshusius und Chemnitz verschärften. In ihnen stand die Rolle des status politicus im corpus christianum zur Diskussion.60 In zahllosen Konflikten stellte sich das immer gleiche Problem: während die Geistlichkeit auf ihrem Recht bestand, an Berufung und Entlassung der Pfarrer im Rahmen der Drei-Stände-Ord55

Siehe zu den Einzelheiten Christian August Salig, Vollständige Historie der Augsburgischen Konfession. Halle a. d. Saale 1735, Bd. 3, 766 ff. Auf weitere, zeitlich parallele und thematisch eng verwandte Auseinandersetzungen in Jena, Magdeburg und Augsburg verweist Martin Kruse, Speners Kritik am landesherrlichen Kirchenregiment und ihre Vorgeschichte. Witten 1977. Die Verbindungen zwischen den Konflikten im niedersächsischen Reichskreis, denjenigen, die Kruse erwähnt und den zeitlich ebenfalls eng benachbarten Auseinandersetzungen in Sachsen (1560–1564 und 1582–1589, 57–78), sind bislang noch nicht aufgearbeitet worden. 56 Salig, Historie (wie Anm. 55), 771. 57 Das Zitat ebd. 58 Ebd. 59 Siehe dazu Otto Gerhard Oexle, Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im frühen und hohen Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Wissens, in: František Graus (Hrsg.), Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme. (Vorträge und Forschungen, Bd. 35.) Sigmaringen 1987, 65–117. 60 Dazu ausführlich Schorn-Schütte, Geistlichkeit (wie Anm. 47), 401–406, sowie Dreitzel, der diese Diskussionen über das Verhältnis zwischen status politicus und status ecclesiasticus als einen der zentralen Aspekte für die zeitgenössische Debatte um die Struktur der Monarchie herausstellt: Dreitzel, Monarchiebegriffe, Bd. 2 (wie Anm. 21), 487.

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nung beteiligt zu sein, betonten die Stadträte bzw. die Landesherren ihr obrigkeitliches Herrschaftsrecht, wonach Einstellung und Entlassung der Geistlichkeit als Amtsträger allein dem status politicus zustehe. Chemnitz hat in seiner Schrift von 1569 die Notwendigkeit des Gleichgewichts der Drei Stände der Kirche auch theologisch begründet und sich damit gegen Dominanzansprüche von allen Seiten gewandt. „Derhalben gehoeret die bestellung der Ministerien nicht unter die Politischen Regalien und Hoheiten der Weltlichen Obrigkeit/ Sondern weil Obrigkeit wenn sie Christlich ist/ein Gliedmaß ist der Kirchen… sondern [soll] mit ihrem Ampt der Kirchen pflegerin und förderin sein.“61 Fast wortgleich argumentierten auch etliche Juristen, das gemeinsame politische Vokabular (politische Sprache) beider gelehrter Gruppen wurde weiter gepflegt. Im Konflikt um die Grenzen zwischen geistlichem und weltlichem Amt argumentierte unter anderem in Bremen Anfang 1562 der juristisch gebildete Bürgermeister Daniel von Büren gegenüber seinem innerstädtischen Gegner, dem Bürgermeister Johannes Esich: „Es ist richtig, die Obrigkeit ist Hüterin auch der ersten Gesetzestafel. Aber ihre Macht erstreckt sich keineswegs über die äußere Disziplin hinaus. Das Urteil aber über die Lehre steht jedenfalls der ganzen Kirche zu.“ Und in anderem Zusammenhang wiederholte er: „Und offwoll J:E:W: alse de Ouericheit Custodes primae tabulae und syn, so höred doch dat ordell van der lehre der ganzen Kercken tho deren de Ouericheit men ein deill ys.“62 1.2.2. Die Obrigkeit als ein Gliedmaß der Kirche: dieses Bild, diese Vorstellung war Dreh- und Angelpunkt der theologiepolitischen und damit auch sozialordnenden Konzeptionen, die unter gelehrten Amtsträgern seit der zweiten Hälfte des 16. und während des frühen 17. Jahrhunderts diskutiert wurden. In sie einbezogen war eine Debatte über die Rolle des Adels, die sich einerseits in adelskritischen Schriften artikulierte, andererseits in der wachsenden Hofkritik, die zum bevorzugten Gegenstand der Hofprediger ebenso wie zahlreicher juristisch gebildeter Politikberater im Umkreis der Höfe wurde.63

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Zitat nach ebd. 404 mit Anm. 89. Hervorhebung durch die Vf.in. Zitate nach Chang Soo Park, Die Dreiständelehre als politische Sprache in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts am Beispiel des T. Heshusius (1527–1588), in: Bremisches Jb. 83, 2004, 50–69, hier 60 und 61; dazu ausführlich auch Schorn-Schütte, Kommunikation (wie Anm. 2), 308–310. 63 Zur zeitgenössischen Adels- und Hofkritik siehe Schorn-Schütte, Geistlichkeit (wie Anm. 47), 407–410 und 434–439, sowie zuletzt Albrecht Pius Luttenberger, Miseria vitae aulicae. Zur Funktion hofkritischer Reflexion im Reich während der Frühen Neuzeit, in: Klaus Malettke (Hrsg.), Hofgesellschaft und Höflinge an europäischen Fürstenhöfen in der Frühen Neuzeit. Münster 2001, 459–490; aus kunsthistorischer Sicht exzellent Margit Kern, Tugend versus Gnade. Protestantische Bildprogramme in Nürnberg, Pirna, Regensburg und Ulm. Berlin 2002, 261 ff.; ebenso anregend Susan Tipton, Res publica bene ordinata. Regentenspiegel und Bilder vom guten Regiment. Rathausdekorationen in der Frühen Neuzeit. Hildesheim 1996, 87 ff. 62

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Adels- und Hofkritik sollte den hohen wie niederen Adel an seine Aufgaben erinnern, das Wächteramt der Geistlichkeit wurde praktiziert. Für den Fall, daß die Obrigkeit sich aus der Grundnorm, dem Gleichgewicht der Stände, herauszubegeben beabsichtigte, war die Aufforderung zur Abwehr derartiger ungerechter Politik legitimiert. Wir finden darin die Fortführung der Argumentation, die bereits für die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts gegolten hatte: eine Abwehr unchristlichen Handelns der adligen Obrigkeit war Gegenwehr im Sinne der Wiederherstellung der gerechten, rechtmäßigen und von Gott geschaffenen Ordnung. Daß dies auch im ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert keine theoretischen Spielereien blieben, zeigt unter anderem die Hof- und Adelskritik des Ortenburger Pfarrers Thomas Rorer (1521– 1582).64 Unter Berufung auf das alttestamentliche Vorbild des Propheten Ezechiel charakterisierte Rorer 1566 das Verhältnis zwischen geistlichem und weltlichem Amt65: als treuer Wächter des Wortes leitet der Prediger das Wort an die weltliche Obrigkeit weiter; nicht als stummer Hund soll er das obrigkeitliche Handeln erdulden, sondern jene mit Kritik und Mahnungen vom falschen politischen Tun abhalten. Diese Aufgabenverteilung ist der Kern des Obrigkeitsverständnisses des Geistlichen. Weltliche Obrigkeiten haben ihre Gewalt von Gott, sie sollen sie einerseits so handhaben, wie dies von getreuen Lehnsleuten erwartet werden kann; andererseits ist Herrschaftsübung an die Einhaltung göttlicher Gebote gebunden, diese umfassen die externa, den Schutz der Kirche nach außen. Fürsorgepflichten für die interna, die geistlichen und theologischen Aufgaben der Kirche nach innen aber schloß Rorer nachdrücklich aus.66 Vielmehr hielt auch er am Gleichgewicht der Stände, am Bild von der Obrigkeit als einem Gliedmaß der Kirche fest. Der Prediger betonte die Wechselseitigkeit der Herrschaftsbeziehungen im Blick auf das Verhältnis zwischen Obrigkeiten und Untertanen. Indem der Oberherr für den äußeren Schutz der Kirche sorgt, erweist er sich als pater patriae, als christliche Obrigkeit. Erfüllt er diese Schutzpflicht nicht, so bringt dies die Untertanen vom wahren Glauben ab; damit endet das durch den Treueid begründete Gehorsamsgebot, die Obrigkeit wird zum Tyrannen. „Wir werden gelehret / dem gewalt / so von Gotte ist / ehre zu beweisen / Aber doch solche / die dem Glauben nicht zuwider ist.“ Sobald eine Obrigkeit anderes verlangt, „da sollen die unterthanen wissen / das sie zu gehorsamen nicht schuldig sind“.67 Auch zahlreiche gelehrte juristische Berater am Hof oder in den städtischen Rathäusern argumentierten in dieser Logik. Die Parallelität der Legi64 Zu den biographischen Einzelheiten siehe die Nachweise bei Schorn-Schütte, Kommunikation (wie Anm. 2), 291 ff. 65 Thomas Rorer, Fürstenspiegel/Christliche und notwendige vermanung… Schmalkalden 1566 [Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Sign.: 132.7Pol(1)]. 66 Ebd. Vorrede fol. Ir; fol. H Ir; fol. H Iir+v. 67 Ebd. fol. G VIIr und H VIr und fol. IIIr+v. Hervorhebungen durch die Vf.in.

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timationsstrategien von Juristen und Theologen blieb bis ins frühe 17. Jahrhundert bestehen. Differenzierungen gab es innerhalb der beteiligten Gruppen gelehrter Amtsträger, so daß die politischen Koalitionen mit und gegen den Landesherrn sehr unterschiedliche Fraktionierungen aufweisen konnten. Beleg dafür ist eine Auseinandersetzung, die seit 1566 zwischen dem sächsischen Herzog Johann Wilhelm (1530–1573), unterstützt durch seinen Statthalter und „wesentlichen Rat“ Eberhard von der Tann (1495–1574) und fünf weiteren juristisch geschulten, bürgerlichen und adligen Räten am sächsischen Hof ausgetragen wurde.68 Kern der Kontroverse war die Frage, wie weit das Recht des Herzogs gegenüber der Kirche gehe, die Frage also nach der Grenze zwischen interna und externa in Kirchendingen. Ausgelöst wurde der Konflikt durch die von Herzog Johann Wilhelm verfügte Aufhebung des von seinem Vorgänger eingeführten Glaubensbekenntnisses, das philippistischen Charakter trug, während Johann Wilhelm Vertreter eines strikt orthodox-lutherischen Kurses war. Ziel der herzoglichen Politik war es, durch die Aufhebung des Glaubensbekenntnisses einen geistlichen Elitentausch durchzusetzen, denn die philippistischen Theologen, die erst 1562 berufen worden waren, sollten durch die seinerzeit abgelösten Anhänger eines streng lutherischen Kurses ersetzt werden; massenhafte Konflikte um das Vokationsrecht waren zu erwarten. Diese Sorge bewegte die Gruppe der oppositionellen Räte zum Einspruch gegen die herzogliche Politik. Unter Hinweis auf den unverrückbaren Grundsatz der Wahrung des Gleichgewichts der Stände „in ecclesia“ bestritten die Juristen das Recht des Herzogs, in die interna der Kirche einzugreifen. In einem Gutachten vom 19. August 1566 für den Herzog formulierten vier von ihnen: „Das Fürstenamt: den das hochste Ampt eines furstenn […] ist, das er sich vmb die Religionn mit rechtem Ernst annehme […] das der weltlichen Oberigkeit zugelassen sey, negotia ecclesiastica zu administrirenn. Dann es gebueret keinem Weltlichem Magistrat, das er die Kirche, das ist die lehre oder ipsum dogma der heiligen gotlichen schrifft durch sich selbst oder seine Rethe wolle reformierenn, oder denn Predigernn vorschreibenn, was sie Lernenn sollen. Sondern das Amt wie gehoret, erstrecket sich allein dahin, das fromme gelerte vnd gotfurchtige leuthe zue Lerenn vnd Predigernn verordenet an vnd aufgenhomenn werden.“69 68

Ich verdanke den Hinweis auf diese bemerkenswerte Überlieferung in Archiv und Bibliothek Gotha Herrn Dr. Park (Potsdam), dem ich nachdrücklich dafür danke. Ein Forschungsvorhaben, das die Bestände im größeren thematischen Rahmen untersucht, ist unter Beteiligung von Dr. Park in Vorbereitung. Die fünf Hofräte waren: Peter Premm, Lukas Tangel, Stephan Klödt, Mattias von Wallenrod und Heinrich Etzdorf; siehe dazu Daniel Gehrt, Pfarrer im Dilemma. Die ernestinischen Kirchenvisitationen von 1562, 1569/79 und 1573, in: Herbergen der Christenheit 25, 2001, 45–71. 69 Matthias von Wallenrod, Lucas Thangel, Stephan Klödt und Heinrich von Etzdorf an Johann Wilhelm, Coburg 19. 8. 1566, in: Thüringisches Hauptstaatsarchiv Gotha, EGA, Reg. N. 425, Bl. 4.

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Dieser Auffassung trat der enge Vertraute des Herzogs, der Rat und fränkische Reichsritter, Eberhard von der Tann am 7. September 1566 in einer an Johann Wilhelm adressierten Replik entgegen. Er betonte, daß zum Amt einer christlichen Obrigkeit die Fürsorge für beide Gesetzestafeln (utriusque tabulae) gehöre, so dass die Sorge um die Bewahrung der rechten Lehre keineswegs als Eingriff in das Amt des status ecclesiasticus zu bewerten sei, das Gleichgewicht der Stände also nicht gestört werde. „Nach dem aber daruber einen jeden Christlichen obrigkeit ferner aufferlegt ist, vnd beuohlen das sie als Custodes primae et secundae Tabulae Nutricij et Advocati Ecclesiae schuldigk seindt, fur andern, Ihr Christlich bekenntnis offentlich an den tagk zugeben reine lahre zupflantzen […]. So bestehe Ich nochmals darauff, das einer jeden Christlichen obrigkeit vnd zuforderts E. F. G. […] bey verlierung gottes gnat vnd Ihrer Seelen Seeligkeit, ambts halben geburen will, das sie als Custodes Nutricij et aduocati Ecclesiae schuldig seindt […] Ire gestelte vnd vor vielen jahren publicirte Confutationes zu Exequiren […] vnd […] falsche lahr vnd Corruptelen Im Ihrem Furstentumb auszurotten.“70 Von der Tann war ein angesehener politischer Berater, dessen Positionen bereits im Schmalkaldischen Bund Gewicht gewonnen hatten, sich danach in seinen Beraterfunktionen bei verschiedenen Landesherren verstetigten und ihn schließlich als Vertreter der Protestanten im Fürstenrat auf dem Reichstag zu Regensburg 1556 zu einer Person der Reichspolitik werden ließen.71 Um so einflußreicher war seine Stellungnahme, die er im Konflikt mit seinen rätlichen Kollegen am sächsischen Hof 1566 formulierte. Als Mitglied der Reichsritterschaft, der zugleich gelehrter Jurist war, verkörperte von der Tann eine soziale Gruppe, deren politisch-theologische Positionen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sehr wichtig waren, aber kaum hinreichend bekannt sind.72 Aufgrund seiner Beraterrolle im Schmalkaldischen Bund hat von der Tann die aktuelle Debatte über die Struktur der Reichsverfassung und die Notwehr-/Gegenwehrlegitimation ebenso praktisch erlebt wie er sie im Kontakt mit gelehrten Universitätstheologen und -juristen, wie J. Menius und B. Monner, auch in der theoretischen Begründung rezipiert zu haben scheint.73

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Mein Eberharts von der Tann […] Replica auff der Rethe bedenckenn […] de datis den siebenden Septembris Anno etc 1566, in: Thüringisches Hauptstaatsarchiv Gotha, EGA, Reg. N. 425, Bl. 54v–56. 71 Zur Person und Bedeutung im Schmalkaldischen Bund Haug-Moritz, Bund (wie Anm. 32), bes. 655–666; Biographisches bei Hans Körner, E. v. d. Tann (1495–1574), fränkischer Reichsritter und sächsischer Rat und die Reformation, in: Zs. für bayerische Kirchengeschichte 58, 1989, 71–80. 72 Ein erster sehr gelungener gruppenbiographischer Versuch bei Haug-Moritz, Bund (wie Anm. 32), 551–567. 73 Siehe ebd. sowie die Widmung im Text Monner.

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Allein diese Feststellung ist für unseren Argumentationszusammenhang wichtig, wird doch damit belegt, daß die juristisch geschulten Politikberater einerseits die theologiepolitischen Debatten kannten und andererseits sehr wohl unterschiedliche Positionen vertreten haben, daß es jene monolithische Juristenfront, von der in der Forschung gerne gesprochen wird, kaum gegeben hat. Zusammenfassend ist festzuhalten: Gelehrte Juristen und Theologen kannten ihre wechselseitigen Argumentationen sehr genau, ein gemeinsames politisches Vokabular für die Ordnung von Herrschaft und deren Begrenzung bis hin zum Recht auf Gegen- und Notwehr bot die Drei-StändeLehre aufgrund des Gleichgewichtspostulats zwischen den drei Ordnungen. Die hier skizzierten Positionen der Juristen und der Theologen belegen die politisch-praktische Präsenz der politica christiana, der christlichen Herrschaftslehre seit der Mitte des 16. Jahrhunderts. Auf dieser Grundlage waren wechselnde Koalitionen zwischen adliger Obrigkeit und den gelehrten theologisch beziehungsweise juristisch geschulten Beratern zur Durchsetzung praktischer politischer Ziele keine Seltenheit. In den hier skizzierten Kontroversen überwog die traditionale Grundlegung der Herrschaftsbindung. Damit wird das Bemühen sichtbar, aktuelle, inhaltlich neue Herausforderungen durch Erweiterung und Umdeutung des vorhandenen politischen Vokabulars zu bewältigen. Die Ebenen der Debatten hatten sich gegenüber der frühen Phase des 16. Jahrhunderts verschoben: nicht mehr die Reichsebene dominierte, sondern die Ebene der Territorien. Dies könnte eine Erklärung dafür sein, daß die Forschung die Relevanz dieser Politikdebatten kaum zur Kenntnis genommen hat. 2. Westeuropa 2.1. Ein drittes Mal ist auf Wolgasts Forschungen zurückzukommen. Seine These, die die europäischen Entwicklungen betraf, lautete, daß „die konfessionellen Konflikte in England und Schottland, und der Bürgerkrieg in Frankreich zum Anlaß intensiver Erörterungen über das Wesen der Staatsgewalt und ihrer Grenzen sowie über die Pflichten der Fürsten und die Rechte der Korporationen und der einzelnen Untertanen“74 wurden. Diese Aussagen sind bis heute gültig. In der Perspektive der für das Alte Reich skizzierten Traditionen politischer Kommunikation seit dem Ende der zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts erscheinen sie aber in neuem Licht. Denn die Debatten im Reich hatten ebenso wie diejenigen in Frankreich, England, Schottland, den Niederlanden und anderswo ihren Kern in der Reflexion der Stellung des status politicus gegenüber den anderen Ständen, in der Begrenzung der Herrschaftsausübung, die sich zur Debatte über das Verhältnis zwi74

Wolgast, Religionsfrage (wie Anm. 30), 28.

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schen Kirche und Welt entwickelte schließlich in der Diskussion über die Legitimität der Not- und Gegenwehr, die zugleich eine Reflexion war über die Ausübung legitimer Gewalt.75 Angesichts dieser parallelen Strukturen des Fragens ist die jüngere Forschung auf der Suche nach den Verbindungsund Rezeptionswegen, mit deren Hilfe die europäische Debatte zur Einheit zusammengewachsen ist; damit können die einleitenden methodischen Überlegungen wieder aufgenommen werden. Denn einerseits gibt es nachweisbare personenbezogene Rezeptionen, andererseits existierten parallele Denk- und Wissensstrukturen, die sich nicht allein mit Hilfe von Einzelpersonen, sondern an Argumentationsweisen und -mustern identifizieren lassen. Ein sehr sichtbarer Weg der Weitergabe der obrigkeitskritischen Konzeptionen, die in der Magdeburger Confessio zusammengefaßt waren, war deren Rezeption durch die englischen Glaubensflüchtlinge, die unter Maria Tudor seit 1553 (–1558) das Land verlassen mußten. Sie verdankten ihre Kenntnisse dem Austausch mit den gelehrten Zeitgenossen in den großen Exulantenzentren wie Frankfurt am Main, Straßburg oder Basel. Nachweislich wurden ihre theologiepolitischen Konzeptionen nach der Rückkehr nach England weitergeführt; darüber hinaus wurden sie auch über den Umweg der Rezeption in Schottland nach Frankreich weitergetragen. In der angespannten Lage der frühen siebziger Jahre des 16. Jahrhunderts wurden sie von den französischen gelehrten Theologen und Juristen situationsbezogen aktiviert.76 In den dichter werdenden europäischen Debatten zwischen 1550 und 1580 lassen sich jenseits der von Individuen getragenen Rezeption vier gemeinsame Aspekte der Kommunikation identifizieren, die systematischer Natur waren und in den parallelen Wissensstrukturen ihre Wurzeln hatten77: 1. Die Machtstellung des Monarchen ist begrenzt, die königliche Gewalt durch natürliches, göttliches und/oder positives Recht gebunden. 2. Das Verhältnis zwischen Kirche und Welt ist umstritten, die Stellung der weltlichen Obrigkeit gegenüber der Kirche, die Beziehung zwischen interna und externa ist offen.

75

Die Gewaltfrage ist in der deutschen Forschung der letzten Jahre als Phänomen auch der politischen Kommunikation kaum ausreichend beachtet worden; anregend sind deshalb insbesondere die italienischen Forschungen, unter anderem: Angela De Benedictis, Una guerra d’Italia, una resistenza di popolo. Bologna 1506. (Collana di storia dell’economia e del credito, Vol. 13.) Bologna 2004. Zu den vier Aspekten der Herrschaftsdebatte siehe Dreitzel, Monarchiebegriffe (wie Anm. 21), 487. 76 Diese personenbezogenen Rezeptionswege sind unbestritten, siehe dazu Skinner, Foundations (wie Anm. 29), Vol. 2, 206–224, sowie Robert M. Kingdon, Calvinism and Resistance Theory, in: James Henderson Burns (Ed.), The Cambridge History of Political Thought 1450–1700. Cambridge 1991, 193–218. 77 So auch Wolgast, Religionsfrage (wie Anm. 30), 29 f.

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3. Der vertragsbrüchige Fürst, der mit Hilfe von Gewalt seine Macht ausübt, ist ein Tyrann. Die Debatte knüpfte damit an die antik-scholastische Tyrannenlehre an. Die damit verbundene Frage nach der Legitimität von Gewalt gewann in England wie im Alten Reich seit den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts, in Frankreich seit den sechziger Jahren an Aktualität. 4. In den englischen und französischen Debatten spielte die seit der Magdeburger Confessio präsente Figur des magistratus inferior eine bemerkenswert große Rolle. Unter bestimmten Bedingungen nahm dieser das Recht des Widerstandes wahr. 2.2. England. In den englischen Debatten dominierte seit dem Ende der Herrschaft der Königin Maria Tudor (1558) zunächst die Frage nach der legitimen Begrenzung der monarchischen Herrschaft. 1553 hatte John Bale (1495–1563), ein aus London nach Straßburg vertriebener Bischof unter König Eduard, Luthers „Warnung an seine lieben Deutschen“ einschließlich des Melanchthonschen Vorwortes übersetzt und dabei das ihm offensichtlich wichtige Thema der Rechtmäßigkeit der Notwehr integriert.78 Sein Argument lautete, hier Bugenhagen aufs engste verwandt, daß Obrigkeiten, die sich gegen Gottes Wort und ihre Heimat (country) wenden, keine Obrigkeiten (magistrates) mehr seien, weshalb eine Pflicht zum Gehorsam ihnen gegenüber nicht bestehe, vielmehr die Abwehr ihres gewaltsamen Angriffs als Wiederherstellung der göttlichen Ordnung, also als Notwehr legitimiert sei. Einige Jahre später (1558) griff der im Genfer Exil lebende Theologe Christopher Goodman (1520–1603) in einer zunächst als Predigt veröffentlichten Schrift mit der Definition der „niederen Magistrate“ die Frage auf, die wenige Jahre zuvor bereits im Alten Reich als entscheidende diskutiert worden war: Wer sollten die Gruppen sein, die das Recht der Not- bzw. Gegenwehr legitimerweise wahrzunehmen hätten? Neben dem Adel zählte Goodman alle Amtsträger aus Städten und ländlichen Bezirken dazu; er identifizierte also eine sehr große Gruppe. Sobald die christliche Obrigkeit – und diese Charakterisierung entspricht den zeitgenössischen Debatten im Alten Reich – ihrer Aufgabe des Schutzes der Unschuldigen und Einfältigen sowie der Bestrafung der Bösen und der Sünder, der Gotteslästerer und gewalttätigen Unterdrücker des wahren Glaubens79 nicht mehr nachkomme, sei es Pflicht dieser Amtsträger, durch Ungehorsam die göttliche Ordnung wiederherzustellen, denn Gehorsam gegenüber einer Gott nicht gehorsamen Obrigkeit sei Ungehorsam gegen Gott. Zu Recht ist auf die Schwierigkeit hingewiesen worden, die der offensichtlich aus den deutschen Debatten übernommene Begriff der niederen Magi78

Siehe zu den englischen Debatten knapp Wolgast, Religionsfrage (wie Anm. 30), 30– 36, Skinner, Foundations (wie Anm. 29), Vol. 2, 48 f. und 99 f., sowie von Friedeburg, Widerstandsrecht (wie Anm. 22), 101 (zu Bale). 79 Ebd. 102.

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strate für die englische politische und Verfassungsordnung mit sich bringt: Anders als im Alten Reich gab es in England nicht die Möglichkeit, eine doppelte Obrigkeit als politische Institution anzuerkennen. Dies betonte denn auch der nach Straßburg geflüchtete John Ponet (1514–1556), der unter König Eduard Bischof von Winchester gewesen war, in seiner einflußreichen Schrift „A short Treatise of politike power…“, die 1556 gedruckt wurde. Ponet charakterisierte die politische Ordnung Englands als res publica mixta, um damit die Grenzen monarchischer Herrschaft besser bestimmen zu können. Die Legitimation der Herrschaft des englischen Königs beruhe auf der Mischung des erblichen dominium regale (der König regiert nach von ihm gegebenen Gesetzen) mit dem dominium politicum, worunter in der englischen Verfassungstradition die Zustimmung der Bürger zu den Gesetzen verstanden wurde. Wenn Ponet diese englische Erbmonarchie als res publica mixta bezeichnete, so verstand er darunter keineswegs ein generelles Zustimmungsrecht der im Parlament versammelten Stände. Vielmehr betonte der Theologe damit den gebundenen Charakter einer christlichen Obrigkeit. Als christlicher Fürst sei der König verpflichtet, sein Amt als Schutz- und Zuchtamt auszuüben; sobald er dies nicht mehr tue, statt dessen die Gesetze Gottes breche, werde er zum Tyrannen. Da das göttliche Recht, das christliche Naturrecht wie es auch im Alten Reich anerkannt war, die Vertreibung der Tyrannen erlaube, ja sogar gebiete, damit die Schöpfungsordnung wiederhergestellt werde, sei es Aufgabe der Untertanen, die Vertreibung zur Not auch mit Gewalt vorzunehmen. Ein Individualrecht auf Selbstverteidigung meinte Ponet damit nicht; unter Berufung auf das Alte Testament anerkannte er ein Notwehrrecht, das bestimmte Amtsträger für die Mehrheit der Untertanen (subditi) wahrzunehmen hätten; die Amtsträger bezeichnete Ponet als niedere Magistrate.80 Die institutionelle Verankerung des Notwehrrechtes blieb allerdings sehr unscharf. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß sich mit dem Regierungsantritt Elisabeths I. 1559 und der Rückkehr der Mehrzahl der Glaubensflüchtlinge das Notwehrrecht der Amtsträger zum Gegenstand scharfer Kontroversen entwickelte. In den Augen der Königin waren die skizzierten Positionen, zu denen noch diejenige des Schotten J. Knox (1514–1572) hinzukam, in hohem Maße rebellionsverdächtig, denn sie selbst hielt an ihrem ungeteilten Herrschaftsrecht, dem dominium regale, fest. Das änderte aber nichts an der Notwendigkeit über Beratungsinstanzen monarchischer Gewalt insbesondere in einer monarchia mixta zu reflektieren. In den sechziger und siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts setzte sich die Auffassung durch, daß das königliche „Herrschaftshandeln als gebunden an bestimmte Kanäle, beispielsweise das Parlament und gebunden an das

80

Ebd. 109.

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Common Law“ begriffen werden könnte.81 Damit waren die aus der Diskussion im Reich bekannten niederen Magistrate in der englischen Debatte erneut präsent. Hinzu kam, daß auch die Religionspolitik unter Elisabeth stark umstritten war. Vor diesem Hintergrund ist die Veröffentlichung einer Schrift bemerkenswert, die der spätere Bischof von Winchester, Thomas Bilson (1546–1616), 1585 unter dem Titel vorlegte: „The true Difference between Christian Subjection and Unchristian Rebellion.“82 In Gestalt eines Dialogs zwischen einem Jesuiten und einem Vertreter der Position der englischen Kirche wurden zu einem Zeitpunkt, in dem auch in Frankreich katholische Widerstandstheorien eine wichtige Rolle spielten, die vorhandenen Argumentationen zur Rechtfertigung von Notwehr/Gegenwehr durchgemustert. Bilson ging es darum, einen Spielraum zu lassen für protestantischen Widerstand gegen einen katholischen Monarchen, ohne zugleich zuviel Material für den Widerstand gegen einen protestantischen Herrscher zu liefern. Um so bemerkenswerter ist es, daß der Theologe dazu den Blick auf den Schmalkaldischen Krieg und die Zeit des Interim im Alten Reich richtete. Bilson unterstrich, daß der Kampf Hessens und Kursachsens sowie der Stadt Magdeburg nicht in erster Linie mit theologischen Argumenten legitimiert worden sei, sondern mit Hilfe reichsrechtlicher und römischrechtlicher Belege. Die herrschaftliche Begrenzung der Autorität des Kaisers im Reich habe es gerechtfertigt, ihm unter Umständen auch mit militärischer Gewalt entgegenzutreten, wenn er die Gesetze mißachtet.83 Auf England lasse sich derartiges aber nicht übertragen, denn der deutsche Kaiser sei gewählt, während die Königin von England ein erbliches Amt besäße; das Recht der Herrschaft stehe ihr deshalb uneingeschränkt zu. Obgleich er diesen Vorbehalt unterstreicht, kann Bilson über einen anderen Weg zur Rechtfertigung an die Notwehrargumentation anknüpfen, die in Europa aus den Debatten des Alten Reichs bekannt war. Auch er betont, daß der Herrscher sich dann als Tyrann erweisen kann, wenn er die Gesetze Gottes bricht und also sein Amt als christliche Obrigkeit verletzt. Für Adel und Bürgertum entsteht dann das Recht, sich zusammenzutun, um die alten Freiheiten zu verteidigen; es geht auch den englischen Zeitgenossen, wie schon aus den Argumentationen im Alten Reich bekannt, um die Wiederherstellung der Rechtsordnung; damit war auch „Ungehorsam“ zu rechtfertigen. Auch in England blieb die Grenze zwischen status politicus und status ecclesiasticus umstritten. Diese Problematik verschärfte sich vor allem in den Anfangsjahren der Herrschaft der Königin Elisabeth. Etliche Theologen äußerten ihre deutliche Kritik an den Eingriffen der Monarchin in den Bereich der Kirche und begründeten diese Obrigkeitskritik wie ihre Amtsbrüder im 81 82 83

Ebd. 113. Dazu ausführlich Asch, Neues Interim (wie Anm. 22), 47–66. Ebd. 55.

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Alten Reich mit dem Wächteramt des status ecclesiasticus gegenüber weltlicher Obrigkeit.84 Prädestiniert für derartige Kritik waren die Hofprediger, jene Gruppe also, die auch in den Territorien des Alten Reichs eine sehr ähnliche Rolle übernommen hatte. In einer Predigt vor der Königin zu Beginn des Jahres 1570 übte der Hofkaplan und Professor an der Universität Cambridge, Edward Dering (1540–1576), sehr deutliche Kritik an der Reformpolitik der englischen Kirche durch die Königin. Dering erinnerte sie an ihre Pflichten als christliche Herrscherin: der Schutz und die Fürsorge für die äußere Bewahrung der Kirche gehöre an vornehmster Stelle dazu, deren Vernachlässigung müsse zur Bestrafung durch Gottes Zorn führen. Unter Hinweis auf das Alte Testament begründete er seine Aufgabe damit, daß die Geistlichkeit wie der Prophet Jeremia die Pflicht habe, die weltliche Obrigkeit an ihre Aufgaben zu erinnern. Die Prediger müssen, so die Argumentation weiter, die Fürsten im Sinne Gottes leiten; jenen bleibe allein die fromme Demut als Geschöpf Gottes.85 Dering hat seine Predigt ohne Unterbrechung halten können. Auch deren Drucklegung wurde durch die Königin nicht, wie noch in anderen Fällen vorher geschehen, verboten. Die harsche Kritik des Hofkaplans war Teil einer dichten Polemik der englischen protestantischen Geistlichkeit gegen die Königin, die seit dem Ende der siebziger Jahre an Schärfe zunahm und sich neben den Predigten in Disputationen und einer Fülle von Streitschriften äußerte. Der König/die Königin wird darin wiederholt als Teil der Kirche bezeichnet. In dieser wird die Geistlichkeit den weltlichen Herrschern sogar übergeordnet. „Now the kinges an Emperours, who haue their first auctoritie by the positiue lawe of nations, not by supernaturall grace from God as priests haue: who can haue no more power then the people hath, ofwhom they take their temporall iurisdiction: who euer haue ben obedient to the priestes and Bischops, whom God hath set ouer his church,whereof Christen princes are a part: […], shall we saye, that such kings and Emperours haue auctoritie to rule the church, whose sonnes they are?“86 Mit dieser Argumentation gingen die englischen Hofprediger über die Zielsetzungen ihrer Amtsbrüder im Alten Reich hinaus. Während die englischen Geistlichen, wie zitiert, die Legitimation des Herrschers durch Gott selbst in Frage stellten und ihnen die Prediger als Teil der christlichen Ge84

Zum folgenden grundlegend Elisabeth Natour, Die frühen elisabethanischen Theologen und ihr Verhältnis zur Macht, in: Schorn-Schütte (Hrsg.), Intellektuelle (wie Anm. 25). 85 Die Einzelheiten bei Natour, Theologen (wie Anm. 84), sowie Patrick Collinson, A Mirror of Elizabethan Puritanism. The Life and Letters of ‚Godly Master Dering‘, in: ders., Godly People. Essays on English Protestantism and Puritanism. London 1983, 289–323. 86 Thomas Harding, A Confutation of a Booke intituled… Antwerpen 1565 [12], 351, [9] Blätter, 4°, SCT 2. Aufl. 12762; das Zitat nach Natour, Theologen (wie Anm. 84).

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meinde sogar überordneten, betonten die protestantischen Geistlichen im Alten Reich stets die Einsetzung weltlicher Obrigkeit durch Gott. Aufgrund ihrer Einbindung in die Drei-Stände-Ordnung war deren Machtfülle aber ebenso begrenzt, wie dies die englischen Theologen unterstrichen. Eine Rezeption der Drei-Stände-Lehre fehlt in den englischen Debatten. Dieser knappe Hinweis macht deutlich: Vergleichbare Argumentationen, die die englischen und deutschen Zeitgenossen verwendeten, waren keineswegs allein auf persönliche Rezeption zurückzuführen. Mindestens ebenso wichtig waren parallele theologische Kenntnisse und Argumentationen (unter anderem auf der Basis der Theologie des Alten Testamentes). Ihr Einsatz in den regionalen, voneinander abweichenden Machtkonstellationen führte zu sehr verschiedenen Konsequenzen. Die Begrenzung der Machtfülle des Monarchen aber war das Ziel in den Ordnungsmustern beider Gruppen. 2.3. Frankreich und die Niederlande. Der Begriff der „niederen Magistrate“ ist als Schnittstelle der Vermittlung der Debatten um das Notwehr-/Gegenwehrrecht auch für die französische Debatte identifiziert worden; diese Feststellung bleibt trotz jüngster Kritik zutreffend.87 In einem Aufsatz von 1955 hat der nordamerikanische Historiker R. Kingdon herausgearbeitet, daß es offensichtlich Anregungen aus der Debatte um die Magdeburger Confessio im Alten Reich waren, die der französische Reformator Theodor Beza (1519–1605) aufgenommen und zu einer Differenzierung des Begriffes der niederen Magistrate für die aktuelle französische Situation verwendet hat.88 Die Generalstände traten für ihn als Träger des Widerstandsrechts in den Hintergrund zugunsten der Festlegung von Pflichten und Rechten der Amtsträger, die an der Herrschaftsausübung Teil hatten.89 Aufgrund ihrer Funktion trugen die höheren Magistrate Verantwortung für die Gesamtheit. Sie nahmen das Recht der Absetzung einer tyrannischen Herrschaft wahr. Wie auch Wolgast noch einmal hervorhebt, hat Beza diese Differenzierung und Zuordnung in ausdrücklicher Wiederaufnahme der Magdeburger Konzeption formuliert.90 Es sei aber daran erinnert, daß es sich bei den Formulierungen der Confessio von 1550 nicht um eine völlig neue protestantische Widerstandstheorie handelte; vielmehr ist deren Einbindung in eine lange Tradition zu betonen, und eben deshalb war sie anschlußfähig für die französischen Zeitgenossen. 87

Siehe dazu oben bei Anm. 29 die Auseinandersetzung mit der Kritik durch Cornel A. Zwierlein. 88 Robert M. Kingdon, The First Expression of Theodore Beza’s Political Ideas, in: ARG 46, 1955, 88–100; dazu weiterführend Cynthia Grant Shoenberger, The Confession of Magdeburg and the Lutheran Doctrine of Resistance. PhD Thesis Columbia University 1972. 89 Wolgast, Religionsfrage (wie Anm. 30), 37 f. 90 Ebd. 39–41.

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Nicht über Bezas Rezeption allein wirkte die europäische Debatte in Frankreich; ebenso gewichtig war die Vermittlung über den italienischen Theologen und ehemaligen Augustinermönch Peter Martyr Vermigli (1500– 1562), der während der Regierungszeit des englischen Königs Eduard in England gewirkt hatte und ebenfalls 1556 in Straßburg Zuflucht gefunden hatte. Dort verfaßte er mehrere Kommentare zu Teilen des Neuen und des Alten Testaments, in denen er die im Reich erfolgreiche ständisch- und amtsbezogene Lösung der Frage nach den Trägern des Notwehrrechtes verarbeitete: römischer Senat und deutsches Kurfürstenkolleg seien Beispiele für „politische Körper“, d. h. Institutionalisierungen der legitimen Ausübung des Notwehrrechtes.91 Anders als in England war in Frankreich eine Institution als Träger des Notwehrrechtes in Gestalt einer Ständeversammlung sehr wohl vorhanden; auch Beza und Hotman (1524–1590) stützten sich auf diese Verfassungswirklichkeit. Die Debatten in den Niederlanden der sechziger Jahre des 16. Jahrhunderts waren geprägt vom Gegensatz zwischen Lutheranern und Reformierten, einer Opposition, die die verschiedenen Entwicklungswege besonders prägnant sichtbar werden läßt.92 Seit den sechziger Jahren lebten lutherische und reformierte Gemeinde in Antwerpen nicht immer friedlich miteinander in der Stadt. Wilhelm von Oranien versuchte zunächst auch mit Erfolg zu vermitteln. Am Ende des Jahres 1566 zeigten sich aber in Abendmahlsfrage und Widerstandslehre unüberbrückbare Gegensätze. In einem 1567 erschienenen „Bekenntnis derer Kirchen binnen Antorff“ wiesen die beiden deutschen lutherischen Prediger C. Spangenberg und M. Flaccius darauf hin, daß ihr Wirken auf einem Vertrag mit Bürgermeister und Statthalter beruhe; christliche Obrigkeit habe die Pflicht zu schützen und zu züchtigen, dazu sei ihr das Schwert verliehen worden. Geistliches Amt, das Amt des Hausvaters und das Amt weltlicher Obrigkeit bildeten zusammen die Gemeinde, in deren wechselseitiger Abgrenzung und Fürsorgepflicht sei die natürliche, die Schöpfungsordnung vorgegeben. Immer dann aber, wenn die Obrigkeit ihrer Schutz- und Zuchtpflicht nicht mehr gerecht werde, sei es Aufgabe der beiden anderen Stände/Ämter, zu mahnen, zu kritisieren und im Fall eines ungerechtfertigten Angriffes auch die Pflicht, jener unchristlichen Obrigkeit durch Ungehorsam zu widerstehen; damit werde die Schöpfungsordnung wiederhergestellt. Diese Auffassung entsprach der Position der Lutheraner im Alten Reich. In den Niederlanden hatte sie seit dem Ausgang der sechziger Jahre keine weiterreichende Wirkung mehr. Denn in der Flut der Druckschriften, die von Theologen und Juristen gleichermaßen verbreitet wurde, galten als Legitimation eines Notwehr- und Gegenwehrrechtes die traditionsreichen 91 92

Siehe dazu Kingdon, Calvinism (wie Anm. 76), 205 f. Zum Folgenden van Gelderen, Antwerpen (wie Anm. 22), 105–116.

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Herrschaftsverträge. Diese Linie der europäischen Widerstandsdebatte war, wie skizziert, den Debatten des Alten Reiches keineswegs fremd; schließlich gab es auch dort die Argumentation, das Recht der kurfürstlichen Gegenwehr könne aus dem obrigkeitlichen Charakter des Reichfürstenkollegs abgeleitet werden. Nach 1552 trat dieses Rechtfertigungsmuster im Alten Reich mehr in den Hintergrund als in den Niederlanden. Die deutschen Diskussionen konzentrierten sich vornehmlich auf die christliche Obrigkeit und deren Schutz- und Zuchtpflichten. Gerade weil diese eigenständigen Wege beschritten wurden, kann keiner als der Königsweg der europäischen Notwehrund Widerstandsdebatte behauptet werden. Denn auf beiden Linien der Argumentation galt die Begrenzung fürstlicher Macht als zentrales Ziel.

IV. Ergebnisse Ein kursorischer Überblick über einige Jahrzehnte europäischer Geschichte kann keine abschließenden Antworten auf alte, nur neu gestellte Fragen formulieren. Drei Aspekte aber lassen sich zusammenfassend festhalten: 1. Selbstverständlich sind die hier skizzierten Rezeptionen und Wechselwirkungen im Europa des 16. Jahrhunderts als Teil der jeweils nationalen Geschichte allseits bekannt. Nicht neue Quellenfunde galt es zu präsentieren, nicht grundlegende Einsichten der Forschung aus den vergangenen Jahrzehnten in Frage zu stellen, sondern die vorliegenden Ergebnisse aus einem veränderten Blickwinkel zu betrachten, so daß dominierende Deutungsmuster differenziert werden können. Dieser Blickwinkel der politischen Kommunikation, der Debatte über das Politische, beleuchtet die von Juristen und Theologen „vor Ort“ geführte Auseinandersetzung, in der verwandte, parallel strukturierte Ordnungsmuster verwendet wurden, die europaweit bekannt waren. 2. Die Konzentration auf einen gewichtigen Teil dieser politischen Sprache, die Not- und Gegenwehrdebatte seit der Mitte des 16. Jahrhunderts, hat ein Verlaufsmuster gezeigt, das die bisherigen Sichtweisen weiterführt. Die Debatte intensivierte sich zunächst im Alten Reich der zwanziger und dreißiger Jahre, wobei nachdrücklich an spätmittelalterliche Traditionen angeknüpft wurde; aufgrund der Auseinandersetzungen um die Einführung des kaiserlichen Interims gewannen die Auseinandersetzungen um die Legitimität von Not- und Gegenwehr an Intensität und erhielten inhaltlich neue Akzente. Die Träger der Kommunikation waren Juristen und Theologen gemeinsam, wenn sie auch nicht immer zu den gleichen Ergebnissen kamen. 3. Neben der persönlich getragenen Rezeption gab es eine Parallelität der Wissensbestände, die Grundlage war für eine gemeinsam geführte europäische Debatte. Es muß deshalb festgehalten werden, daß die „Widerstandsdebatte“ auch und gerade im deutschsprachigen Raum nicht mit 1555 ab-

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brach. Sie verschob sich auf die Ebene der Territorien und wurde deshalb inhaltlich wie institutionell vielschichtig. Die Anregungen, die aus der Debatte des Alten Reichs in Westeuropa aufgenommen wurden – und nur in diese Richtung konnte hier geblickt werden –, zeigen vergleichbare Strukturen und Inhalte zwischen dem Alten Reich und England, belegen Parallelen zwischen Frankreich und den Niederlanden. Sehr rasch aber intensivierten sich gerade in diesen Ländern eigene Schwerpunkte, die sich unter anderem aus spezifischen institutionellen Rahmenbedingungen ergaben. Gerade weil die Debatten zunächst in engem inhaltlichen Bezug zueinander geführt wurden und sich erst später differenzierten, ist es nicht länger möglich, von regionalen Sonderwegen zu sprechen. Einen Königsweg, an dem die Geschwindigkeit von Wandel in der Frühen Neuzeit gemessen werden könnte, sucht man deshalb vergeblich. Für alle Träger europäischer politischer Kommunikation im 16. Jahrhundert galt eine christliche Obrigkeit als gute Obrigkeit, sie hatte sich zu orientieren am Bild der Hauseltern. Herrschaftswandel vollzog sich als „Umordnung von Traditionen“, dies war der Motor historischen Wandels im 16. und 17. Jahrhundert.

Fakten und Normen Frühneuzeitliche Reaktionen auf die Res durae des Politischen Von

Thomas Nicklas Im März 1793 begann im Neuen Teutschen Merkur, der von Christoph Martin Wieland in Weimar herausgegebenen bedeutendsten literarisch-kulturellen Zeitschrift im Heiligen Römischen Reich1, eine Debatte über die Problematik des Politischen, die vor dem Erfahrungshorizont frühneuzeitlicher Geschichte geführt wurde. Am Anfang stand dabei die elementare Frage nach der Berechtigung von Herrschaft überhaupt. Diesem Gegenstand eignete wenige Wochen nach der Hinrichtung des französischen Königs Ludwig XVI. in Paris die denkbar größte Aktualität und Brisanz. Die Leser des Blattes aus Weimar sahen einen Willen zur Vereinfachung komplexer Sachverhalte am Werk, wenn es im Neuen Teutschen Merkur hieß, daß sich in der Diskussion über die Befugnis zum Herrschen zwei Parteien gegenüberständen, deren Positionen allerdings gegensätzlicher kaum gedacht werden könnten: „Die erste Parthey […] ist diejenige, welche behauptet, die Herrschaft eines Einzigen oder einer geringen Anzahl sey schlechterdings ungerecht und die Dienstbarkeit schändlich; die zweyte diejenige, welche behauptet, die Herrschaft Weniger über Viele sey zum Glück und zur Ruhe der Menschen schlechterdings notwendig und der Ungehorsam ruchlos.“2 Damit sind in der Tat konträre Positionen umrissen, die zwei Pole des frühneuzeitlichen Denkens und Sprechens über die Macht kennzeichnen. Bei so viel grundsätzlichen Infragestellungen scheint die von ihm selbst angestoßene und zu verantwortende Auseinandersetzung über das Politische schließlich auch dem Herausgeber Wieland selbst Unbehagen bereitet zu haben. Er salvierte sich mit einer Stellungnahme, in der er das Machtproblem aufgrund der im 18. Jahrhundert erzielten Fortschritte der politischen Theorie und der Verfassungspraxis für gelöst erklärte. Wieland zufolge war der

1 Vgl. Volker Schulze, Der Teutsche Merkur (1773–1810), in: Heinz-Dietrich Fischer (Hrsg.), Deutsche Zeitschriften des 17. bis 20. Jahrhunderts. Pullach 1973, 87–102; Claude Miquel, C. M. Wieland, directeur du ‚Mercure allemand‘ (1773–1789), un dessein ambitieux, une réussite intellectuelle et commerciale. Bern 1990; Thomas C. Starnes, Bertuch und Der Teutsche Merkur, in: Gerhard R. Kaiser (Hrsg.), Friedrich Justin Bertuch (1747–1822). Verleger, Schriftsteller und Unternehmer im klassischen Weimar. Tübingen 2000, 465–479. 2 Neuer Teutscher Merkur 1793, Bd. 1, 267–307, 360–386 (hier 268).

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Beginn der Neuzeit politisch unendlich dunkel. Das 16. Jahrhundert war durch die „Regierung der Despoten und Tyrannen“ gekennzeichnet. Namentlich genannt werden Kaiser Karl V., Franz I. von Frankreich, Heinrich VIII. von England, Katharina von Medici sowie die französischen Könige Karl IX., der Monarch der Bartholomäusnacht, sowie Heinrich III., der 1588 die Ermordung der beiden Herzöge von Guise angeordnet hatte.3 Im Blick auf diese düsteren Zeiten konstatierte Wieland erleichtert die Verbesserungen, die auf den Gebieten der politischen Theorie und Praxis seither eingetreten waren. Er bringt dies mit dem Denken Montesquieus in Verbindung, der für die Klarheit der politischen Begriffe gesorgt hatte, indem er die wesentlichen Unterschiede von Demokratie, Aristokratie, Monarchie, Despotismus und Tyrannei herausarbeitete. Die englische Glorious Revolution von 1688 hatte schließlich den Durchbruch zu einem Verfassungsmodell gebracht, das die „Rechte des Volkes mit den Rechten der Regierung in eine schöne Harmonie“ gesetzt habe.4 Auf diesem funktionierenden Gleichgewicht beruhten Großbritanniens Macht in der Welt und sein glänzender Wohlstand in der Heimat. Mit diesen Beschwörungsformeln im Sinne eines frühliberalen Common Sense distanzierte sich Wieland vom Ungestüm seines jungen Mitarbeiters Johann Benjamin Erhard, eines Nürnberger Handwerkersohnes und kantianisch geprägten Philosophen, der die radikale Frage nach der Berechtigung von Herrschaft in seinem Beitrag zum Neuen Teutschen Merkur kühn aufgeworfen hatte.5 Erhard war jedoch viel zu sehr Realist und als Schüler Kants ein stringenter Logiker, als daß er in seinem Beitrag für die Weimarer Zeitschrift der vollständigen Anarchie das Wort geredet hätte.6 Für ihn war Machtausübung ebenso wie die Tatsache des Eigentums eine unabänderliche Konstante menschlicher Geschichte. Ohne Herrschaft war für ihn die Kultur undenkbar. So stellte er die Frage, ob „wir dem Beherrschtwerden nicht unsere ganze Ausbildung, unsern ganzen Wohlstand schuldig sind“.7 Sofern Herrschaft die Menschenwürde achtet, ist sie zu respektieren. Politik ist eine eigenständige Sphäre neben der Moral, doch geht ihre Zweckbestimmung nicht im rein Politischen auf: „Die Moral verbindet uns zu uneigennützigen Handlungen; aber die Politik soll dafür sorgen, daß der Eigennutz nicht die Gesellschaft zerstöre“.8 Bei dem jungen Nürnberger Philosophen Erhard spielte sich wie bei den meisten frühneuzeitlichen Denkern des Poli3

Ebd. 306. Ebd. 5 Zu Johann Benjamin Erhard (1766–1826) zuletzt ausführlich: Dieter Henrich, Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus, Tübingen – Jena (1790–1794). Bd. 2. Frankfurt am Main 2004, 1189–1392 (1201–1222). 6 Neuer Teutscher Merkur 1793, Bd. 2, 209–242; 1793, Bd. 3, 329–393. 7 Ebd. 1793, Bd. 2, 210. 8 Ebd. 1793, Bd. 3, 369. 4

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tischen die Suche nach neuen Normen jenseits der biblischen Offenbarung ab. Sie stehen somit für eine auf die Fakten bezogene, realistische Einschätzung von Politik, für eine spezifische frühneuzeitliche Ratio scripta des Politischen.9 Während er selbst das Existenzrecht einer bestimmten Zielen verpflichteten Herrschaft bekräftigte, rief Erhard im Neuen Teutschen Merkur als Zeugen der Gegenseite Etienne de La Boétie auf. Dieser hatte also die Partei zu vertreten, „welche behauptet, die Herrschaft eines Einzigen oder einer geringen Anzahl sey schlechterdings ungerecht und die Dienstbarkeit schändlich“. So hat Erhard La Boéties Discours de la servitude volontaire aus dem Jahre 1548 für seinen Beitrag in dem Weimarer Journal erstmals ins Deutsche übersetzt. Zwischen den beiden Denkern entspann sich ein Dialog über das Politische, der den gesamten Zeitraum der Frühen Neuzeit überbrückt. Somit wird hier auch das frühmoderne Sprechen über diesen besonderen Bereich menschlicher Tätigkeit exemplarisch erfaßbar.

I. La Boétie oder das Sprechen von der Freiheit Bei Etienne de La Boétie findet die Rede von der Freiheit einen markanten Ausdruck. Es überrascht daher nicht, wenn Erhard ihn 1793 als Zeugen für eine bestimmte Vision des Politischen aufrief. La Boétie war von humanistischer Begeisterung für die Antike ebenso inspiriert wie von zeitgenössischer Politikerfahrung. 1530 im westfranzösischen Sarlat geboren, entstammte er einer Familie, die im stetigen Aufstieg in den Adel begriffen und mit der juristischen Funktionselite des frühmodernen französischen Staates vielfach verbunden war.10 In seine Jugend fallen prägende Erfahrungen mit der Realität des „Steuerstaates“, als welcher sich die Machtorganisation des frühneuzeitlichen Staates in den Augen der Untertanen präsentierte: „Ohne Steuer kein Staat“.11 Die Macht der französischen Monarchie beruhte seit dem Hundertjährigen Krieg des 15. Jahrhunderts ganz wesentlich auf dem stetigen Eingang der Steuerzahlungen, die von der Bewilligung ständischer Versammlungen unabhängig waren, insbesondere der Taille genannten

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Der Begriff der Ratio scripta nach Carl Schmitt. Die Formung des französischen Geistes durch die Legisten, in: ders., Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969. Hrsg., mit einem Vorwort und mit Anmerkungen versehen v. Günther Maschke. Berlin 1995, 184–217 (hier 188). 10 Anne-Marie Cocula, Etienne de La Boétie. Bordeaux 1995, 13–38. 11 Andreas Schwennicke, „Ohne Steuer kein Staat“. Zur Entwicklung und politischen Funktion des Steuerrechts in den Territorien des Heiligen Römischen Reichs (1500– 1800). Frankfurt am Main 1996; „Aber letztlich hing alles vom regelmäßigen Eingang immer höherer Steuern ab“: Wolfgang Reinhard, Das Wachstum der Staatsgewalt. Historische Reflexionen, in: Der Staat 31, 1992, 59–75, hier 68 f.

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Kopfsteuer.12 Daneben suchte die stets auf Mehrung ihrer Einnahmen bedachte Monarchie mit der Verbrauchssteuer Gabelle, die auf das für damalige Verbraucher schlechterdings unverzichtbare Salz erhoben wurde, ihre Einkünfte zu steigern. Diese Steuererhöhungen führten jedoch 1548 in der Guyenne zu schweren Unruhen, die von der Krone mit härtester Gewalt unterdrückt wurden. Dieses Vorgehen der Herrschaft, als willkürlich empfundene Steuererhöhungen und gewaltsame Repression, warf elementare politische Fragen auf: Durfte ein Monarch eigenmächtig Steuern einführen, erhöhen und einziehen? War Widerstand gegen eine ungerechte und im Widerspruch zu herkömmlichen Freiheiten handelnde Obrigkeit erlaubt oder sogar geboten? Welchen Stellenwert hat die Freiheit des Einzelnen und der Gesellschaft unter monarchischer Alleinherrschaft? Der junge La Boétie bezog als Zeitgenosse dieser Ereignisse von 1548 eine klare Position. Für ihn war die willkürliche Besteuerung der Untertanen das wesentlichste Kennzeichen der Tyrannei. In einer Monarchie, in der die Macht allein dem Einzelnen zusteht und die er daher leidenschaftlich mit der Tyrannis in eins setzt, scheint es nichts Öffentliches und nichts Privates mehr zu geben, da der Alleinherrscher alles für sich beansprucht. Tatsächlich leiteten königliche Juristen in Frankreich aus einer der Konstitutionen Justinians die Behauptung ab, daß im Staate alles dem Fürsten zustehe. Dagegen beriefen sich die Opponenten auf den sehr alten Grundsatz des Quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet.13 Sie sahen in den fiskalischen Maßnahmen der Krone und in der grausamen Unterdrückung der Aufstände von 1548 das Recht des Volkes zur Gehorsamsverweigerung als gegeben an. In dieser Stimmung hat La Boétie den vom Schwung antiker Freiheitsrhetorik getragenen Discours de la servitude volontaire verfaßt, der die politischen Positionen der antimonarchischen Opposition wiedergibt.14 Nicht nur ein Plädoyer gegen alle Tyrannen findet sich darin vor, sondern auch eine scharfsinnige Analyse der Machtmechanismen, die dazu führten, daß am Ende eines Prozesses der Unterjochung die Untertanen selbst die Erinnerung an ihre alte Freiheit einbüßen und sich an die Dienstbarkeit gewöhnen, ja sie zuletzt sogar zu lieben beginnen. Positiver Bezugspunkt des 12

Martin Wolfe, The Fiscal System of Renaissance France. New Haven 1972; zum Funktionieren der von ihm als eigener verfassungspolitischer Typus erkannten französischen „Renaissance-Monarchie“: James Russell Major, From Renaissance Monarchy to Absolute Monarchy: French Kings, Nobles and Estates. Baltimore 1994; vgl. auch den Tagungsband: Jean-Philippe Genet (Ed.), Genèse de l’Etat moderne. Prélèvement et redistribution. Actes du colloque de Fontevraud. Paris 1987. 13 Yves Congar, „Quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet“, in: Revue historique de droit français et étranger 36, 1958, 210–259. 14 Unter vielen seien hier eine französische und eine deutsche Ausgabe genannt: Etienne de La Boétie, De la servitude volontaire ou Contr’Un. Ed. by Malcolm Smith. Genf 1987; Etienne de La Boétie, Über die freiwillige Knechtschaft des Menschen. Übersetzt u. hrsg. v. Horst Günther. Frankfurt am Main 1980.

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Werkes ist freilich nicht die Anarchie, sondern die aristokratische Republik Venedig, deren Bewohner frei sind, weil sie über sich keinen anderen Herrn erkennen als das Gesetz und die Vernunft. Somit gehört Etienne de La Boétie in die Reihe beredter Apologeten ständischer Freiheiten gegen den nach Alleinherrschaft strebenden monarchischen Fürstenstaat der Frühen Neuzeit. Sein kurzes Leben endete demnach auch nicht im Kampf gegen das Königtum. Ein früher Tod beendete 1563 La Boéties loyale Mitarbeit in den Institutionen der „gemischten Monarchie“, der sich dieser Angehörige einer regionalen Verwaltungselite zutiefst verbunden wußte und die auch den meisten Zeitgenossen als das politische Ideal galt. Für Frankreich hatte zuletzt Claude de Seyssel (1450–1520), gelehrter Jurist und Bischof von Marseille, in seinem 1519 erschienenen Werk Grand’ Monarchie de France festgestellt, daß sich im Königreich monarchische und aristokratische Elemente die verfassungspolitische Waage hielten, so daß der Staat insgesamt in einem stabilen Gleichgewicht bleibe.15 Nach Auffassung des zeitgenössischen Juristen Louis Le Caron (1536–1613) verkörperte sich in den Parlamenten und Gerichtshöfen des Königreiches das aristokratische Element seiner Verfassung.16 So war es keineswegs Selbstverrat, wenn La Boétie als feuriger Anwalt der Freiheit und scharfer Kritiker monarchischer Alleinherrschaft nach erfolgreichem Jurastudium an der Universität Orléans 1554 selbst in den Dienst einer Institution des Königreiches, nämlich des Parlamentes von Bordeaux, eintrat. Er hat dann bis zu seinem Tod im zweiten Jahr der Religionskriege, 1563, dieser Einrichtung mit großer Hingabe gedient. Es bezeugt daher ein gewisses Mißverständnis und die völlige Vergessenheit, der die Traditionen der gemischten Monarchie in zwei Jahrhunderten absolutistischer Königsherrschaft in Frankreich anheim gefallen sein mußten, wenn La Boétie in Wielands Neuem Teutschen Merkur im Revolutionsjahr 1793 als Advokat schrankenloser Freiheit und Anarchie angerufen wurde, gegen den der Herausgeber die Errungenschaften des britischen Konstitutionalismus ins Feld führen zu müssen glaubte. Dies hängt nun freilich mit der Rezeptionsgeschichte des Discours und seinem spezifischen Platz in der Ratio scripta des Politischen zusammen. Dieser zirkulierte zunächst nur als

15

Claude de Seyssel, La monarchie de France et deux autres fragments politiques. Ed. par Jacques Pujol. Paris 1961, 82 und 120. Vgl. zuletzt Jack H. Hexter, The Vision of Politics on the Eve of the Reformation: More, Machiavelli and Seyssel. New York 1973. 16 „En nostre Roy se monstre la Monarchie en ses Parlements, Conseils et Sénats, qui jugent souverainement sous sa Majesté, et ont quelque gouvernement des affaires de la République, doit apparoistre l’Aristocratie: et aux trois ordres et Estats ou autres assemblées publiques que le Roy permet au peuple, se trouve quelque Démocratie“: Lucien Pinvert, Louis le Caron (1536–1613), dit Charondas, in: Revue de la Renaissance 2, 1902, 1–9, 69–76, 181–188 (6); zu Theorie und Praxis der Monarchie mixte siehe auch: MarieThérèse Caron, Noblesse et pouvoir royal en France, XIIe–XVIe siècle. Paris 1994.

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Manuskript. Erst nach der Bartholomäusnacht 1572 bemächtigten sich protestantische Aktivisten dieser Anklageschrift gegen die Tyrannei, die sich als Munition für ihre eigenen Angriffe auf das Königtum zu eignen schien. Die hugenottischen Monarchomachen nahmen den Text für ihre eigenen Belange in Anspruch. Er wurde als willkommenes Versatzstück in antimonarchische Veröffentlichungen einmontiert, sei es in den Réveille-Matin des Françoys von 1574 oder in die Mémoires de l’Estat de France sous Charles Neufiesme, die der kämpferische Genfer Pastor Simon Goulart 1577 herausgab. Bei Goulart erhielt die Schrift auch den knappen Titel Contr’un, der ihre Stoßrichtung gegen den absolutistischen Alleinherrscher bezeichnen sollte. Sie entsprach ganz dem monarchomachischen Konzept, das sich gegen die Macht des Einzelnen richtete, weil in ihr immer die Gefahr des Mißbrauches eingeschlossen war. Die Gegner dieser Richtung sahen es anders. Bekanntlich war es der Engländer William Barclay, der in einem im Jahre 1600 in Paris erschienenen Traktat den Begriff der Monarchomachie zum ersten Mal benutzte, unter dem er die von ihm befehdeten „Zerstörer der Reiche und Monarchien“ subsumierte: „qui Regna et Monarchias demoliri atque in Anarchias redigere conati sunt“.17 Diese polemische Zuspitzung verfehlte aber ihr Ziel. Wer im 16. Jahrhundert von der Freiheit sprach, wollte eben nicht die monarchischen Staaten in völlige Anarchie auflösen. Vielmehr ging es dabei um die oft berechtigte Kritik an der einsamen Ausübung von Macht, die nach dem Verständnis der mit dem Etikett ‚Monarchomachen‘ versehenen Gruppe eine illegitime Veränderung der Verfassung bedeutete. Das Anliegen des Angreifers Barclay war es aber gerade, das Reden von der Freiheit überhaupt zu diskreditieren und mit der Zerstörungsarbeit am monarchischen Staat gleichzusetzen. Anarchisten sind aber die Autoren nicht gewesen, die im 16. Jahrhundert den Diskurs über die Freiheit vorantrieben. Freilich hatten sie als belesene Humanisten einige Echos aus der Antike aufgenommen, die den Architekten des modernen Staates bedrohlich in den Ohren klingen konnten. Michel de Montaigne berichtet in seinen Essais über den Freund La Boétie, an dessen Leben und Sterben er großen Anteil genommen hatte, daß er von einer Aussage des griechischen Historikers und Philosophen Plutarch zu den politischen Reflexionen fortgerissen worden sein könnte, die schließlich ihren Niederschlag im Discours de la servitude volontaire gefunden hatten. Plutarch 17

William Barclay, De regno et regali potestate adversus Buchanan, Brutum, Boucherium et reliquos monarcomaquos libri sex. Paris 1600. Ausdrücklich nennt der Titel den schottischen Calvinisten George Buchanan, Autor von „De jure regni apud Scotos“ (1579), das Pseudonym Brutus des ebenfalls calvinistischen Verfassers der „Vindiciae contra tyrannos“ (1579) und den katholischen Geistlichen Jean Boucher, der in der Zeit der Pariser Liga 1588–1594 gegen die französischen Könige Heinrich III. und Heinrich IV. publiziert hatte.

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äußerte nämlich die Ansicht, daß die Bewohner Asiens nur deshalb der willkürlichen Machtausübung ihrer Alleinherrscher unterworfen seien, weil sie es nicht gelernt hätten, eine einzige Silbe auszusprechen, nämlich das kleine Wort „nein“.18 Das Geschäft des Humanisten war es, in den Worten Montaignes, diese und andere Wahrheiten auf den Marktplatz zu bringen. La Boétie formuliert die Bemerkung Plutarchs zu einem Aufruf um: „Faßt den Entschluß, nicht mehr zu dienen und ihr seid mit einem Mal frei. Ich verlange nicht, daß ihr Hand an den Tyrannen legt, um ihn zu stürzen, aber ertragt ihn einfach nicht länger. Dann werdet ihr sehen, daß er schwankt wie ein großer Koloß, dem man den Sockel wegzieht: sein eigenes Gewicht wirft ihn um und läßt ihn zerbrechen.“19 Nicht um Tyrannenmord im Sinne antiker oder mittelalterlicher Widerstandstraditionen geht es dabei, sondern um die massenhafte Verweigerung des Gehorsams, die der willkürlichen Herrschaft den Boden unter den Füßen wegzieht. Dabei kann man La Boétie nicht den Vorwurf machen, diejenigen zu übersehen, die hinter dem Tyrannen stehen, die mit ihm stehen und fallen müssen. Er dachte auch an sie und ihre Rolle, indem er ihr Höflingsunglück beschrieb.20 Waren dies Diskurse, die auf dem Marktplatz geführt werden durften, wie Montaigne meinte und hoffte? Andererseits war er selbst so vorsichtig, das Manuskript von La Boéties Discours, das nach dem frühen Tod des Freundes 1563 in seinen Besitz übergegangen war, nicht zu veröffentlichen, sondern es nur in Abschriften zirkulieren zu lassen, von denen dann eine allerdings in die Hände militanter Calvinisten gelangte, die davon nach der Bartholomäusnacht in der beschriebenen Weise Gebrauch machten. So war eine Diskussion eröffnet, die nicht immer offen geführt werden durfte und die dennoch die gesamte Frühneuzeit hindurch andauerte. Vorsicht war bei der Debatte jedenfalls geboten. Man durfte den Leviathan nicht leichtfertig umstürzen, nachdem er mit so vielen Mühen, Opfern und Unkosten aufgerichtet worden war. Der Philosoph Pierre Mesnard, selbst ein gebranntes Kind der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, wollte in der Argumentation Plutarchs und in seiner Nachfolge La Boéties vom gewaltfreien Widerstand gegen die Tyrannis 18

„Il y a dans Plutarque beaucoup de discours estandus, très-dignes d’estre sceus, car à mon gré c’est le maistre ouvrier de telle besogne; mais il y en a mille qu’il n’a que touché simplement: il guigne seulement du doigt par où nous irons, s’il vous plaist, et se contente quelquefois de ne donner qu’une attainte dans le plus vif d’un propos. Il les faut arracher de là et mettre en place marchande. Comme ce sien mot, que les habitants d’Asie servoient à un seul, pour ne sçavoir prononcer une seule sillabe, qui est Non, donna peut estre la matiere et l’occasion à la Boitie de sa Servitude Volontaire“; Michel de Montaigne, Essais. Texte établi et annoté par Albert Thibaudet. Paris 1946, Vol. 1, 167 f. 19 „Soiés resolus de ne servir plus, et vous voilà libres; ie ne veux pas que vous le poussies ou lesbranlies, mais seulement ne le soustenés plus, et vous le verres comme un grand colosse a qui on a desrobé la base, de son pois mesme fondre en bas et se rompre“; Œuvres complètes d’Estienne de La Boétie. Ed. par Louis Desgraves. Paris 1991, 73. 20 Ebd. 91–96.

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durch Verweigerung jeden Gehorsams eine spezifisch „humanistische Lösung des Autoritätsproblems“ erkennen.21 Das vom Humanismus geprägte 16. Jahrhundert hat aber auch andere Ansätze entwickelt, um dem Problem herrschaftlicher Willkür zu Leibe zu rücken. Man konnte Tyrannen wohl bekämpfen, sie töten oder ihnen den Gehorsam aufkündigen. Konnte man sie aber auch erziehen und bessern? Nicht die Macht selbst war das zu lösende Problem, sondern die Frage, wie sich der Machtmißbrauch der Mächtigen beschränken ließ. Dazu mußte man freilich immer genau wissen, was im Politischen gut oder schlecht war.

II. Anti-Machiavell oder das Sprechen von der Macht Die Meister der im 16. Jahrhundert geführten Diskurse ermittelten bestimmte Richtwerte des Politischen, wobei sie sich zur Festsetzung von Werten auch einer Methode ex negativo bedienten. Sie stellten gleichsam einen diabolischen Kodex des Politischen auf, dessen Gegensatz wiederum zur Kodifizierung des Guten diente. So wollte es jedenfalls der lutherische Stadtpfarrer von Gießen, Georg Nigrinus (1530–1603), verstanden wissen. Er legte daher 1580 eine deutsche Übersetzung von Innocent Gentillets „Anti-Machiavell“ vor. Der hochgelehrte hessische Theologe, als fruchtbarer Autor und Übersetzer mit allerdings stark polemischer Tendenz ausgewiesen22, betrachtete das Politische nicht von der individuellen Freiheit, sondern von der staatlichen Ordnung her. Auch ihm blieb die Sorge vor tyrannischem Gebrauch der Macht nicht fremd, doch glaubte er, die Mißbräuche durch gute Lehren und scharfe Mahnungen an die Machthabenden bekämpfen zu können. So widmete er seine Übertragung von Gentillets Anti-Machiavell einem Fürstensohn und Landeserben, dem späteren Grafen Johann VII. von Nassau-Siegen (1561–1623).23 Es war symptomatisch für die Strategie eines deutschen Humanisten, wenn er dem künftigen Landesregenten von Nassau ein „Buch wider die Gottlose Lehrpuncten und Satzungen Machiavelli deß Florentiners und Lehrmeisters aller tyrannischen Bubenstück“ ans Herz leg21

Pierre Mesnard, L’Essor de la philosophie politique au XVIe siècle. Paris 1936 (2. Aufl. 1951), 400. 22 Immer noch finden sich die nützlichsten Informationen bei: Arthur Venn, Die polemischen Schriften des Georg Nigrinus gegen Johann Nas. Witten 1933. Problematisch dagegen: Friedrich Müller, Georg Nigrinus in seinen Streitschriften: „Jüdenfeind, Papistische Inquisition und Anticalvinismus“, in: Beiträge zur Hessischen Kirchengeschichte 12, 1941, 105–152. 23 Regentenkunst / oder Fürstenspiegel. Gründtliche erklärung / welcher massen ein Königreich und jedes Fürstenthumb rechtmessig und rühsam könne und solle bestellet und verwaltet werden […] geschriben wider den beschreyten Italienischen Scribenten / Nicolaum Machiavellum, Historicum unnd Secretarium der Statt Florentz. Frankfurt am Main 1580.

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te.24 Für den Gießener Geistlichen Nigrinus war auch das Politische eine Bühne, auf der Gott und Teufel kämpften. Gute Räte der Fürsten, denen die Glückseligkeit des Staates in Frieden und Wohlstand über alles ging, stritten sich mit den bösen Beratern, denen Satan List und Trug einblies, damit sie den Staat verwirrten, Unfrieden stifteten und Gewalt übten. Der Name Machiavellis wird hier wie andernorts zur Chiffre für alle diabolischen Depravationen des Politischen: „Dan der alte Lehrmeister aller Tyranney unnd unrechtes Gewalts/ aller Lügen unnd Mordts/ hat nit allein diesen Welschen Schreiber erweckt/ der unter dem Schein der Regentenkunst/ die gröste Tyranney unnd Bubenstück seine Nachfolger gelehrt hat.“25 Der Sekretär von Florenz war demnach nichts anderes als der Schriftführer des Leibhaftigen. Andere tun freilich, was er nur schrieb. Gegen sie richtet sich das Buch. Nigrinus mußte freilich einräumen, daß die Werke des Florentiners, die bis dahin nur in italienischer, lateinischer und französischer Sprache gedruckt vorlagen, nur wenig Einfluß in deutschen Landen ausübten. Gleichsam auf dem Wege der Antizipation fanden sie hier jedoch Eingang in die politische Praxis.26 Dieser Anfänge galt es zu wehren. Gänzlich ähnlich wie Georg Nigrinus sollte auch Simon Patericke argumentieren, der im Jahre 1602 eine englische Übersetzung von Gentillets Anti-Machiavell anfertigte.27 Es ging Patericke ebenfalls darum, die bösen politischen Lektionen aus Florenz klar zu benennen, um vor ihnen zu warnen, so wie ein Arzt die Beschaffenheit der tödlichen Gifte schildert, damit heilsame Gegengifte zur Anwendung gebracht werden können.28 Es kam nicht von ungefähr, wenn Patericke in seiner Londoner Edition und Nigrinus in der Frankfurter Ausgabe gleichförmig argumentierten. Sie wollten ihre guten Engländer oder Deutschen vor den Folgewirkungen jenes politischen Giftes aus Italien bewahren. Diese Übereinstimmung hatte auch einen klaren Grund, beruhten beide Übersetzungen doch auf der lateinischen Übertragung des französischen Anti-Machiavell, die ein hugenottischer Flüchtling 24

Ebd. Vorrede, II. Ebd. III. 26 „Dann ob wol Machiavelli Schrifften in Teutschlanden nicht vil bekannt / so seyen doch leider seine Gebott und Practicken nicht gar so fremd und unbekannt/ unnd seyen wol bey etlichen in besserer ubung / dann sie Machiavellus je auff die Ban bracht hat“; ebd. II. 27 Simon Patericke, A Discourse upon the Meanes of Wel Governing and Maintaining in Good Peace, a Kingdome, or Other Principalitie […]. Against Nicholas Maciavell the Florentine. London 1602. 28 Zu Paterickes Ausgabe zuletzt: Nigel W. Bawcutt, The ‚Myth of Gentillet‘ Reconsidered: An Aspect of Elizabethan Machiavellianism, in: The Modern Language Review 99, 2004, 863–874; Sydney Anglo, Machiavelli – The First Century. Studies in Enthusiasm, Hostility, and Irrelevance. Oxford 2005, 359 f.; zu den Verständnissen und Mißverständnissen um das Werk Machiavellis immer noch höchst nützlich: Augustin Renaudet, Machiavel. Etude d’histoire des doctrines politiques. Paris 1942 (2. Aufl. 1956). 25

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1577 in Genf herausgegeben hatte.29 Diese Genfer Ausgabe warnte schon ausdrücklich vor der Gefahr, daß die giftigen Keime von Machiavellis verheerender Doktrin auch einen gesunden Staatskörper wie den englischen infizieren könnten. Das politische Denken des 16. Jahrhunderts war in starkem Maße von der seit der Antike verbreiteten Ansicht beherrscht, der zufolge jedes Gemeinwesen einem Organismus gleiche, der anfällig für Krankheiten und Gebrechen jeder Art, aber mit guten Medikamenten auch wieder heilbar sei. Diese Auffassung beherrschte auch den eher trockenen Juristen und keineswegs mitreißenden Autor Innocent Gentillet (1535–1588). Sie bewegte ihn dazu, jenes Buch zu verfassen, dem bald der einfache und schlagende Titel AntiMachiavel zugelegt wurde und auf dem seine Bekanntheit bis heute beruht.30 Nach der Bartholomäusnacht von 1572 aus Toulouse nach Genf geflohen, machte sich der eifrige Hugenotte daran, gegen das von ihm an seinen Wirkungen erkannte tödliche Gift im französischen Staatskörper anzukämpfen. Eine Vorübung für den politischen Arzt Gentillet war bereits zuvor eine Ermahnungsschrift an den eben auf den Thron gelangten französischen König Heinrich III. gewesen, die der Exilierte 1574 in Frankfurt am Main erscheinen ließ.31 Darin versuchte Gentillet, das Trauma der Bartholomäusnacht zu verarbeiten. War es nicht, so mutmaßte er, eine Folge der bedauernswerten Tatsache, daß fremde, aus Italien importierte Staatslehren in Frankreich um sich griffen, wenn Franzosen ihre eigenen Landsleute ermordeten, wenn tyrannische Maßregeln und brutale Gewalt an die Stelle des bewährten Gleichgewichts der herkömmlichen französischen Verfassung traten? Die Pariser Bluthochzeit galt Gentillet wie anderen Zeitgenossen auch als der Höhepunkt einer intellektuellen Verrohung und Brutalisierung von Politik, für die nur noch Machterhaltung und Machtmehrung um jeden Preis zählten, ohne daß auch nur die geringsten moralischen Bedenken und christlichen Gefühlsregungen eine Rolle spielten. Metaphorisch und medizinisch gespro29

Commentariorum de regno aut quovis principatu rectè & tranquillè administrando, libri tres […]. Adversus Nicolaum Machiavellum Florentinum. Genf 1577. In der Forschung wird Lambert Daneau (1530–1596), ein rigider calvinistischer Prediger, der bereits 1560 aus Orléans nach Genf geflohen war, als Autor vermutet: Antonio D’Andrea, Machiavelli, Satan and the Gospel, in: Yearbook of Italian Studies 1, 1971, 156–177; Pamela D. Stewart, Innocent Gentillet e la sua polemica antimachiavellica. Florenz 1969, 118–124. 30 Der eigentliche Titel, den auch die Übersetzungen übernahmen: Discours sur les moyens de bien gouverner et maintenir en bonne paix un royaume ou autre principauté […]. Contre Nicolas Machiavel florentin. Genf 1576. Die heute zu benutzende Edition bedient sich allerdings des knappen Titels: Anti-Machiavel. Edition de 1576. Ed. par C. Edward Rathé. Genf 1968; vgl. aber: Discours contre Machiavel: A New Edition of the Original French Text with Selected Variant Readings. Ed. by Antonio D’Andrea, Pamela Stewart. Florenz 1974. 31 Remonstrance au Roy Henri III sur le faict des deux edicts donnez à Lyon, l’un du X. de Septembre, et l’autre du XIII. D’Octobre, touchant la necessité de paix et les moyens de le faire. Frankfurt am Main 1574. Vgl. dazu: Anglo, Machiavelli (wie Anm. 28), 281 f.

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chen, sorgte der italienische Saft im französischen Körper für schwere Unruhe. Die wichtigste Voraussetzung für die Wiederherstellung der inneren Ruhe in dem von heftigen Fieberanfällen des Bürgerkrieges geschüttelten Land war demnach die vollständige Verbannung der Lehren Machiavellis aus Frankreich. Dies gebot demnach nicht nur die Staatsmedizin, sondern auch die christliche Moral, denn der Sekretär der Republik Florenz war für Gentillet der größte Lügner und Betrüger aller Zeiten!32 Seine Doktrinen mochten vielleicht für Italien angemessen erscheinen, wo es darum geht, das arme Volk in abergläubischer Furcht vor seinen Machthabern zu erhalten, mit der politischen Kultur Frankreichs wie auch anderer Länder seien solche Verfahrensweisen jedoch nicht zu vereinbaren. Diesen in der Ermahnung an König Heinrich III. 1574 formulierten Gedanken legte Gentillet auch seiner größeren Schrift von 1576 zugrunde, die ihm Bekanntheit sicherte und die ausweislich der lateinischen Version Daneaus und der deutschen Übersetzung Nigrinus’ rasche Verbreitung erfuhr. Der Erfolg des keinesfalls brillant geschriebenen Buches beruhte wohl darauf, daß es den Zeitgenossen komplexe politische Vorgänge wie die blutigen Konflikte des konfessionellen Zeitalters, die mit der Ausformung moderner Staatlichkeit und dem Aufstieg der europäischen Mächte verbunden waren, verständlich zu machen schien. Für die Schrecken blutiger Tyrannei und das Grauen des religiösen Bürgerkriegs gab es in der verhaßten Gestalt des florentinischen Sekretärs einen vermeintlich Schuldigen, auf den alle Sünden der Macht geworfen werden konnten. Nach Ansicht des Reformierten Gentillet war es aber noch nicht zu spät. Man konnte den intriganten Höflingen, denen es nur um die Macht und die eigenen Interessen zu tun war, jene vergifteten Texte Machiavellis, die sie wie ihren Koran hochhielten, noch aus der Hand schlagen, ehe weiteres Unheil erfolgte. Man mußte dem absoluten Bösen nur die Maske vom Gesicht reißen und ihm einen Namen geben. So hat sich der nach Genf geflohene fromme Jurist einer für ihn sicherlich sehr schmerzhaften Übung unterzogen, indem er den Principe und die Discorsi intensiv in dem Bemühen las, daraus ein Gegengift zu destillieren. Am Ende extrahierte er fünfzig Maximen aus den Schriften des geschmähten Autors, in denen sich dessen gefährliche Weltsicht ausdrückte. Der erste Teil von Gentillets Werk handelt von den Ratgebern der Fürsten, der zweite von der Funktion der Religion im Staat, der dritte und längste vom Verhalten des Herrschers, also von der politischen Praxis. Sein Buch behält einen zentralen Stellenwert in der Rezeptionsgeschichte des Machiavellischen Werkes, es konnte die Menschheit aber nicht nachhaltig bessern. Die Herrscher des 16. Jahrhunderts dürften die Schriften Machiavellis schon allein deshalb gelesen haben, weil seine Ratio des Politischen ihren eigenen Erfahrungen und Erwartungen am nächsten kam. Je32

Remonstrance (wie Anm. 31), 130–132.

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denfalls berichtete der venezianische Homme de lettres Francesco Sansovino 1567 von Kaiser Karl V., dieser habe überhaupt nur einige wenige Bücher gelten lassen, in denen er regelmäßig las und aus denen er seine Weltsicht schöpfte: den Cortegiano Castigliones als Informationsquelle für alle Fragen des höfischen Lebens, das Werk des Polybios für den Bereich des Militärischen und eben den Principe und die Discorsi Machiavellis für die Politik.33 Eine spanische Übersetzung der Discorsi erschien 1552 mit einem Privileg Karls V. und einer Widmung an seinen Sohn Philipp (II.).34 Der Habsburger war nicht nur selbst ein eifriger Leser der beiden Schriften des Florentiners, er hat auch seine jungen aufstrebenden Mitarbeiter an diese Lektüren herangeführt, in denen er wohl eine Schule des Politischen sah, aus der Gültiges und Nützliches erlernt werden konnte. So erging es auch Lazarus von Schwendi (1522–1583), einem vom Besuch der Basler und Straßburger Hohen Schulen christlich-humanistisch vorgeprägten jungen Mann von großem Ehrgeiz, der dem Kaiser im Schmalkaldischen Krieg herausragende militärische und diplomatische Dienste geleistet hatte. Um sich weiter zu qualifizieren, las Schwendi am Brüsseler Hof Karls V. im Winter 1548/49 die eben herausgekommene französische Übersetzung der Discorsi von Jacques Gohory. Beim Studium des Textes hat Schwendi das Exemplar, das sich erhalten hat, mit zahlreichen Anmerkungen versehen, die von intensiver Auseinandersetzung mit dem Gelesenen zeugen.35 Es ist eine reizvolle Vorstellung, daß Karl V. seinen aufstrebenden Mitarbeiter nach beendeter Lektüre über die Früchte seines Machiavelli-Studiums ausgefragt haben könnte. Wir werden somit die Tatsache zu akzeptieren haben, daß seit dem 16. Jahrhundert zwei Rationes scriptae des Politischen koexistierten, eine für das Volk, die wir in La Boéties Rede von der Freiheit vorfinden, und eine für die Fürsten, die sich doch wohl eher in dem von Karl V. geschätzten Werk Niccolò Machiavellis ausdrückte als in den zahlreichen Produktionen der Anti-Machiavellisten vom Schlage Innocent Gentillets. An der Spitze des 33 Herfried Münkler, Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1987, 69; Anglo, Machiavelli (wie Anm. 28), 18 f., dort Anm. 4 auch das vollständige Zitat aus Sansovinos „Il simolacro di Carlo quinto imperadore“ von 1567. „Eine systematischere und breiter angelegte Analyse von Karls Regierungsmethoden im Lichte von Machiavellis ‚Fürsten‘ ließe wahrscheinlich deutlich werden, daß Karl in mancherlei Hinsicht sich politischer Verfahrensweisen des Florentiners bediente“: Horst Pietschmann, Karl V. und Amerika: Der Herrscher, der Hof und die Politik, in: Alfred Kohler/Barbara Haider/Christine Ottner (Hrsg.), Karl V. 1500– 1558. Neue Perspektiven seiner Herrschaft in Europa und Übersee. Wien 2002, 533–547, hier 540. Dieser Vermutung möchte ich nachdrücklich zustimmen. 34 Anglo, Machiavelli (wie Anm. 28), 202 mit Anm. 32. 35 Anglo, Machiavelli (wie Anm. 28), 90–97; Lina Baillet, Schwendi, lecteur de Machiavel, in: Revue d’Alsace 112, 1986, 119–192; Thomas Nicklas, Um Macht und Einheit des Reiches. Konzeption und Wirklichkeit der Politik bei Lazarus von Schwendi (1522–1583). Husum 1995, 46–50.

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modernen Staates standen unvermeidlich Machttechniker, denen das Politische als autonome Sphäre galt, abgesondert von den anderen Bereichen menschlicher Aktivität, wie Religion oder Moral. Die Mächtigen fanden bei Machiavelli, was sie suchten, nämlich eine empirische und praxisnahe Erfassung von Grundtatsachen des Politischen.

III. Rationes status Wir kennen die heftige und ausufernde Diskussion, die von den Denkern der Frühen Neuzeit über die Ratio status geführt wurde, über die Zwecke, Methoden und Befugnisse des modernen Staates.36 Wir wissen auch recht gut Bescheid über Kräfte und Wirkungen, die das Bauwerk dieses modernen Staates zusammenhielten.37 Man hat sich längst daran gewöhnt, auf die Redeweise von den Interessen des Staates mit der Frage nach den Gruppeninteressen derjenigen zu erwidern, die Staatsgewalt innehaben.38 Einige Unklarheiten bestehen aber noch immer um die Ratio status, die der Geschichtswissenschaft neue Aufgaben stellen. Wie wurde eine spezifische Rationalität beim Reden und Schreiben über den Staat konstruiert? Man hat auf die besondere Rolle der französischen Legisten für das Entstehen einer bestimmten Vorstellung von Staat hingewiesen.39 In der Zeit der religiösen 36

Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte. Hrsg. u. eingeleitet v. Werner Hofer. 4. Aufl. München/Wien 1976; Heinrich Lutz, Ragione di stato und christliche Staatsethik im 16. Jahrhundert. 2. Aufl. Münster 1976; Günther Heydemann/Eckart Klein (Hrsg.), Staatsräson in Deutschland. Berlin 2003; vgl. auch Herfried Münkler, Staatsräson. Die Verstaatlichung der Politik im Europa der Frühen Neuzeit, in: Gerhard Göhler/Kurt Lenk/Herfried Münkler/Manfred Walther (Hrsg.), Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch. Opladen 1990, 190–202; Herfried Münkler/Rüdiger Vogt/ Ralf Walkenhaus (Hrsg.), Demaskierung der Macht. Niccolò Machiavellis Staats- und Politikverständnis. Baden-Baden 2004. 37 Charles Tilly, The Formation of National States in Western Europe, Princeton, N. J. 1975; Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999; siehe auch: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt am Main 1976, 42–64. 38 Reinhard, Das Wachstum der Staatsgewalt (Anm. 11), 65. Zum politischen Interessenbegriff: Dieter Nohlen/Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.), Lexikon der Politik I: Politische Theorien. München 1995, 217–225. 39 Roman Schnur, Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts, in: Hans Barion/Ernst Forsthoff/Werner Weber (Hrsg.), Festschrift für Carl Schmitt zum 70. Geburtstag, dargebracht von seinen Freunden und Schülern. 3. Aufl. Berlin 1994, 179–219 (ausführlicher als Monographie unter demselben Titel erschienen in Berlin 1962). Vgl. auch: Mathias Eichhorn, Carl Schmitts Verständnis des Staates als einer geschichtlichen Größe, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Mythos Staat. Carl Schmitts Staatsverständnis. Baden-Baden 2001, 59–82.

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Bürgerkriege in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts haben einige von ihnen den Staat als abstrakte rechtliche Einheit konstruiert, die von einem kollektiven Willen getragen wird und mit legitimer Macht ausgestattet ist. Im Staat verkörpert sich nach dieser Auffassung das allgemeine Interesse und das öffentliche Wohl, unabhängig von der Person des Königs, von dem alle wußten, daß er auch Tyrann werden konnte. In erster Linie ist der Staat demnach nicht organisierte Macht, sondern wirkendes Gesetz. Einer von denen, die in diesem Sinne Staat konstruierten, war Etienne Pasquier (1529–1615). Er war ein Mann des Rechtes und hatte eine erstklassige Juristenausbildung in Paris, Toulouse, Pavia und Bologna durchlaufen.40 Advokat am Parlament von Paris seit 1549, hatte er dank einer reichen Heirat auch die Möglichkeit, seinen Neigungen zur Dichtkunst und zur Geschichtsforschung zu frönen. Sein Lebenswerk im besten Sinne des Wortes wurden die Recherches de la France, von denen das erste Buch 1560, das zweite 1565 herauskam. Erweiterte Fassungen erschienen 1595, 1607 und 1611, in die jeweils veränderte Sichtweisen, Erkenntnisfortschritte und Quellenfunde des Autors Eingang fanden. Selbst Jurist, hat Pasquier in seinem Werk die juristische Auffassung vom Staat begründet und aus der Geschichte hergeleitet. Er wollte Frankreich verstehen, weshalb es ihm erforderlich schien, seine politische Verfassung und seine Institutionen in ihrer historischen Entwicklung zu untersuchen. Es sind dies jene Institutionen der gemischten Monarchie, der sich auch La Boétie verpflichtet wußte, weil sie ein Gegengewicht gegen absolutistische Neigungen und tyrannische Gelüste der Herrscher abgaben: der legislative und judikative Staat. Zwar ist Frankreich für Pasquier von den Herrschern geschaffen, doch es lebt in seinen Institutionen, die ihm Dauer über die Lebenszeit der Könige hinaus verleihen: Generalstände, Notablenversammlungen und die Parlamente genannten Gerichtshöfe.41 Sein Beharren auf der staatlichen Legitimität brachte Pasquier in den Machtkämpfen des französischen Bürgerkrieges persönliche Nachteile ein. Der Respekt vor der staatlichen Ordnung zwang ihn trotz aller persönlichen Kritik an den absolutistischen Neigungen Heinrichs III. auch zur Loyalität zur Person des Königs. Mit dieser Einstellung setzte sich der Jurist den Angriffen der Gegner der Valois-Monarchie unter den katholischen Ligisten aus. Er floh im Oktober 1588 aus Paris und zog mit den übrigen 40

Robert Butler, Nationales und universales Denken im Werke Etienne Pasquiers. Basel 1948; Dorothy Thickett, Estienne Pasquier (1529–1615). The Versatile Barrister of 16thCentury France. London 1979; Paul Bouteiller, Recherches sur la vie et la carrière d’Etienne Pasquier, historien et humaniste au XVIe siècle. Paris 1989; Etienne Pasquier et ses Recherches de la France. (Cahiers V.-L. Saulnier, Vol. 8.) Paris 1991. 41 Zu den Institutionen der französischen Monarchie am Beginn der Neuzeit vgl. London A. Fell, Origins of Legislative Sovereignty and the Legislative State. Part 3: Bodin’s Humanistic Legal System. Boston 1987, 112 f.; Marcel Pinet (Ed.), Histoire de la fonction publique en France. Tome 2: Du XVIe au XVIIIe siècle. Paris 1993, 24 f.

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royalistischen Parlamentsräten nach Tours. Seine in Paris verbliebene Frau wurde von der Liga in Paris inhaftiert und starb kurze Zeit nach ihrer Flucht aus dem Gefängnis.42 Pasquiers stattliches Wohnhaus in Paris wurde ausgeplündert, seine wertvollen Bücher und unersetzlichen Manuskripte zerstreut. Erst nach dem Ende der Liga konnte er im Gefolge König Heinrichs IV. im März 1594 wieder nach Paris zurückkehren. Die Ratio des Staates, für die Etienne Pasquier einstand und für die er schrieb, verlangte auch persönliche Opfer. Sie griff somit aus der Theorie in die Praxis über. Außerdem ließ sie, bei aller Immanenz, auch noch Wunder zu. Dieser Tatsache muß sich stellen, wer die Rationalität des Staates bei einem hervorragenden Legisten wie Pasquier verstehen will. So war für ihn die Krise Frankreichs in der Zeit des Hundertjährigen Krieges ein historischer Stoff, den er in seinen Recherches immer wieder untersuchte, um zu verstehen, was den Staat letztlich zusammenhielt. Die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts interessierte ihn, weil sie dem französischen Staat den Untergang in einem völligen Chaos zu bringen schien („jamais ne fut plus grand chaos par la France“).43 Wenn die Staatlichkeit aus dieser Prüfung erneuert und gestärkt hervorging, so handelt es sich dabei laut Pasquier um eine Folge göttlichen Eingreifens. Zwar war König Karl VII. für seine schwierige Aufgabe kaum gerüstet. Ohne Energie und unselbständig, unterlag er dem Einfluß von Beratern, die nur an ihre eigenen Interessen dachten. Er hätte somit zum Tyrannen werden können. Wundersamer Weise traten ihm jedoch Helfer zur Seite, die den Kampf für den bedrohten Staat zu ihrer Sache machten. Pasquier nennt, stellvertretend für viele, Johanna von Orléans.44 Wenn wir, wie es sich für Historiker gehört, einen wichtigen Staatskonstrukteur des 16. Jahrhunderts wie Etienne Pasquier ernst nehmen wollen, so müssen wir erkennen, daß zu seiner Ratio status auch noch das Wunderbare gehörte. Man wird dies wie so vieles zu bedenken haben, wenn es darum geht, das Politische der Frühen Neuzeit neu zu vermessen. Dabei müssen wir die Politik nicht mehr neu erfinden, denn sie ist bereits da. Alle Versuche, seit der Französischen Revolution von 1789 eine „neue Politik“ zu machen, sind gescheitert und führten zu den erschreckendsten Formen des Despotismus. Ähnlich wird wohl auch den Versuchen, die politische Geschichte von den Füßen auf den Kopf zu stellen, kaum größerer Erfolg beschieden sein, wenn sie sich zu weit von den Tatsachen der Macht und Herrschaft entfernt. Der Geschichtsphilosoph Hippolyte Taine (1828–1893) ist kaum zu korrigie42

Bouteiller, Recherches (wie Anm. 40), 41–48. Etienne Pasquier, Œuvres complètes I: Les Recherches de la France. Amsterdam 1723 (Ndr. Genf 1971), Sp. 531. 44 „Il y eut du miracle très-exprés de Dieu au retablissement des affaires de la France. En ce que sous un Roy aucunement addonné à ses plaisirs, & qui par foiblesse d’opinion se laissoit assez mal à propos gouverner par uns & autres favoris, Dieu luy envoya de bons & fideles Capitaines pour le secourir, mesme notre Pucelle“; ebd. Sp. 536. 43

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ren, wenn er die Politik als mal nécessaire bezeichnete. Dabei bleibt es jedem selbst überlassen, ob er sie vor allem als Übel oder eher als Notwendigkeit sehen möchte. Zum einen geht es gewiß um die bisweilen unedlen Machenschaften der Mächtigen und nach Macht Strebenden, zum anderen aber auch um die immer neu gestellte Aufgabe, der Gewalt zu wehren und eine leidlich menschenwürdige Ordnung in der Gesellschaft zu stiften. Man mag mit Etienne de La Boétie in der Herrschaft einen Fluch sehen, weil sie immer die Macht der Wenigen über die Vielen bedeutet, oder eine Chance zur bestmöglichen Form des Zusammenlebens, zur Abwehr von Gefahren und zur Kanalisierung der stets gegenwärtigen Gewalt. Machiavellianer und AntiMachiavellisten stritten sich letztlich immer nur über den richtigen Weg zum selben Ziel. Dabei führt vermutlich auch kein Weg an der Einsicht vorbei, daß Niccolò Machiavelli eben der Vater der „objektiven“ Betrachtung von Politik und damit des wissenschaftlichen Sprechens über Politik ist.45 Ein Konzept von Politikgeschichte, das sich dieser „machiavellianischen“ Wende am Beginn der Neuzeit stellt46, wird Ereignis- und Ideengeschichte, Praktiken und Diskurse, in Einklang bringen müssen. Aber die machiavellianischen Prinzipien von Beobachtung, kritischer Prüfung und Beschreibung werden Richtschnur bleiben, da es nun einmal keine Wissenschaft des Sein-Sollens gibt. Eine so aufgefaßte Politikgeschichte wird in ihren Texten der Zerbrechlichkeit von Macht Ausdruck geben, die, in den Worten Paul Valadiers, eingewurzelt ist in eine unüberwindliche Spaltung der Gesellschaft und gezeichnet von der Unbeständigkeit einer Welt, in der weder Vorsehung noch Naturgesetze einen Plan vorgeben.47 Mit Paul Ricoeur ist daran festzuhalten, daß die Politik eben nur eines von zahlreichen Feldern menschlicher Tätigkeit ist. Zum Glück gibt es auch andere Felder. Aber sie ist eben auch nicht die eigentliche Spielwiese der Bosheit, wie die naiven Antimachiavellisten einst vermuteten, weshalb sie das Politische entweder moralisieren oder ganz verdrängen wollten. Eindringendes Nachdenken zeigt dagegen, wie Paul Ricoeur betonte, daß die Politik eben nur deshalb als der eigentliche Ort des Bösen und des Übels auf der Welt ausgemacht werden kann, weil sie eine so überragende Position innerhalb der menschlichen Existenz einnimmt.48 Dies ist eben ein ganz wesentli45

„Machiavel…le père de l’observation ‚objective‘ de la politique, le père de la ,politique scientifique‘“; Pierre Manent, Naissances de la politique moderne: Machiavel, Hobbes, Rousseau. Paris 1977, 9. 46 James Burnham, Machiavellians: Defenders of Freedom. Washington, D. C. 1987. 47 „…la fragilité de tout pouvoir, enraciné dans une division sociale insurmontable et voué à l’instabilité d’un monde que ne commandent ni dessein providentiel ni substantialité naturelle“; Paul Valadier, Machiavel et la fragilité du politique. Paris 1996, 116. 48 „Nicht, daß die Macht böse wäre. Aber die Macht ist eine Größe des Menschen, die für das Böse außerordentlich anfällig ist; vielleicht ist sie in der Geschichte der größte

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cher Grund dafür, daß Politikgeschichte weiterhin unverzichtbar bleibt. Es wäre ein Schritt zur Selbstzerstörung der Geschichtswissenschaft, wenn sie diesen hervorragenden Bereich menschlicher Tätigkeit, wie es das Politische nun einmal ist, sträflich unbeachtet ließe.

Tummelplatz und die nachhaltigste Entfaltung des Bösen. Und das, weil die Macht eine sehr gewichtige Sache ist, weil die Macht das Instrument der historischen Rationalität des Staates ist“; Paul Ricoeur, Geschichte und Wahrheit. Übersetzt und mit einer Einleitung versehen v. Romain Leick. München 1974, 258.

Akzeptanzorientierte Herrschaft Überlegungen zur politischen Kultur der Frühen Neuzeit Von

Stefan Brakensiek In den letzten zwanzig Jahren hat sich ein bemerkenswerter Wandel in der Beurteilung der Herrschaftsverhältnisse der Frühen Neuzeit vollzogen. Noch 1983 stellte Peter Blickle in seinem begriffsgeschichtlichen Aufsatz „Untertanen in der Frühneuzeit“ fest, im Verlauf des 16. Jahrhunderts sei das Begriffspaar „Gemeiner Mann“ und „Herrschaft“ ersetzt worden durch die Dichotomie von „Untertan“ und „Obrigkeit“. Dem entspreche der verfassungsgeschichtliche Befund, daß in dieser Zeit die Stadtkommunen, die Landgemeinden und die ständischen Vertretungskörperschaften ihre Satzungsautonomie, ihre politischen Mitwirkungsrechte und ihre eigenständige Gerichtsbarkeit weitgehend einbüßten. Dieser Wandel sei in erster Linie der Fürstenmacht zugute gekommen, während die Reichsorgane und die obrigkeitliche Gewalt des Niederadels ebenfalls an Bedeutung verloren hätten: Dem Reich sei eben kein eigener Untertanenverband zugewachsen, und der landsässige Adel habe letztlich akzeptieren müssen, daß seine Hintersassen zugleich Untertanen eines Landesherrn waren, mit den entsprechenden fiskalischen, militärischen und alltagspolitischen Konsequenzen.1 In eine ähnliche Richtung zielt auch die bekannte Formulierung von Heide Wunder aus dem Jahr 1986, im Verlauf der Frühen Neuzeit habe sich ein Wandel von einer „Herrschaft mit Bauern“ zur „Herrschaft über Bauern“ zugetragen.2 Nimmt man die damals noch ziemlich unangefochtenen Konfessionalisierungs- und Sozialdisziplinierungsparadigmen hinzu, dann stand die Vorstellung eines territorialstaatlichen Absolutismus im Reich des 17. und 18. Jahrhunderts vor zwanzig Jahren in voller Blüte. Die neueren Forschungen zur politischen Bedeutung der Reichsinstitutionen und der Landstände haben deutlich gemacht, daß die zeitgenössische Figur der majestas die Befehlsgewalt des Landesherrn auf völlig unrealistische Weise absolut setzte.3 Selbst wenn man die Beziehungen der Fürsten zu

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Peter Blickle, Untertanen in der Frühneuzeit. Zur Rekonstruktion der politischen Kultur und der sozialen Wirklichkeit Deutschlands im 17. Jahrhundert, in: VSWG 70, 1983, 483–522. 2 Heide Wunder, Die bäuerliche Gemeinde in Deutschland. Göttingen 1986. 3 Johannes Burkhardt, Der Westfälische Friede und die Legende von der landesherrlichen Souveränität, in: Jörg Engelbrecht/Stephan Laux (Hrsg.), Landes- und Reichsgeschichte. Festschrift für Hansgeorg Molitor zum 65. Geburtstag. (Studien zur Regional-

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den privilegierten Ständen nicht berücksichtigt und nur auf die Untertanen in Stadt und Land schaut, erscheint ihre Macht ausgesprochen begrenzt. Die neueren Arbeiten aus den Bereichen Kriminalitätsgeschichte4, Policeyforschung5, Militärgeschichte6 und Alltagsgeschichte von Herrschaft und Verwaltung7 betonen, wie durchsetzungsschwach die Reichsterritorien im geschichte, Bd. 18.) Bielefeld 2004, 199–220. Siehe dazu die maßgebliche begriffs- und ideengeschichtliche Studie: Horst Dreitzel, Monarchiebegriff in der Fürstengesellschaft. Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz. Köln/Weimar/Wien 1991. Eine Zusammenfassung seiner Befunde enthält: Horst Dreitzel, Absolutismus und ständische Verfassung in Deutschland. Ein Beitrag zu Kontinuität und Diskontinuität der politischen Theorie in der Frühen Neuzeit. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beih. 24.) Mainz 1992. Das aktuellste verfassungsgeschichtliche Konzept bietet: Bernd Marquardt, Das Römisch-Deutsche Reich als segmentäres Verfassungssystem (1348–1806/48). Versuch zu einer neuen Verfassungstheorie auf der Grundlage der lokalen Herrschaften. (Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte, Bd. 39.) Zürich 1999. Die Gemeinsamkeiten der Staatsbildungsprozesse in Europa (einschließlich der Reichsterritorien) betont dagegen: Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1999, insbes. 52–59. 4 Einen hervorragender Forschungsüberblick bietet: Gerd Schwerhoff, Aktenkundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die Historische Kriminalitätsforschung. (Historische Einführungen, Bd. 3.) Tübingen 1999. Die thematische Vielfalt der Forschungsbemühungen im deutschsprachigen Raum verdeutlicht: Andreas Blauert/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne. (Konflikte und Kultur, Bd. 1.) Konstanz 2000. 5 Vgl. Michael Stolleis/Karl Härter/Lothar Schilling (Hrsg.), Policey im Europa der Frühen Neuzeit. (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 83.) Frankfurt am Main 1996; Karl Härter/Michael Stolleis, Einleitung, in: Karl Härter (Hrsg.), Repertorium der Policeyordnungen der frühen Neuzeit. Bd. 1: Deutsches Reich und geistliche Kurfürstentümer (Kurmainz, Kurköln, Kurtrier). (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 84.) Frankfurt am Main 1996, 1–36; Karl Härter (Hrsg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft. (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 129.) Frankfurt am Main 2000; Thomas Simon, „Gute Policey“. Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit. (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 170.) Frankfurt am Main 2004. 6 Ralf Pröve (Hrsg.), Klio in Uniform? Probleme und Perspektiven einer modernen Militärgeschichte der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 1997; Stefan Kroll/Kersten Krüger (Hrsg.), Militär und ländliche Gesellschaft in der frühen Neuzeit. (Herrschaft und soziale Systeme in der frühen Neuzeit, Bd. 1.) Münster 2000; Jutta Nowosadtko, Krieg, Gewalt und Ordnung. Einführung in die Militärgeschichte. (Historische Einführungen, Bd. 6.) Tübingen 2002. 7 Überblicke bei Stefan Brakensiek, Neuere Forschungen zur Geschichte der Verwaltung und ihres Personals in den deutschen Staaten 1648–1848, in: Jb. für europäische Verwaltungsgeschichte 17, 2005, 297–326; ders., Fonctionnaires d’État et bourgeoisie urbaine en Allemagne, in: Histoire, Économie et Société. Époques moderne et contemporaine 2, 2005, 253–278. Vgl. weiterhin die aktuellen Sammelbände: Markus Meumann/ Ralf Pröve (Hrsg.), Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse eines dynamisch-kommunikativen Prozesses. (Herrschaft und soziale Systeme in der frühen Neuzeit, Bd. 2.) Münster 2004; Stefan Brakensiek/Heide Wunder (Hrsg.), Ergebene Diener ihrer Herren? Herrschaftsvermittlung im alten Europa. Köln/Weimar/Wien 2005; Ronald G. Asch/Dag-

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17./18. Jahrhundert vielfach waren. In manchen Darstellungen erscheint der einst als durchgreifend kontrollierend und disziplinierend imaginierte Fürstenstaat nurmehr als ein Papiertiger.8 Diese relativierende Sicht ist kein deutsches Spezifikum, sondern Teil des Mainstreams der internationalen Forschung. Die Dekonstruktion des Absolutismus betrifft bekanntlich nicht nur die Reichsterritorien, sondern auch die großen europäischen Monarchien, allen voran Frankreich.9 Nach einer Phase der Dekonstruktion ist bei vielen Historikerinnen und Historikern derzeit das Bedürfnis erkennbar, alternative Erklärungen für die Funktionsweise von Fürstenherrschaft zwischen dem Westfälischen Frieden und dem Ende des Alten Reichs zu finden. Das geschieht sowohl auf den Feldern der zeitgenössischen Konzepte und der symbolischen Repräsentation10 als auch im Bereich der üblichen Herrschaftspraktiken11. Zwar bringt das den Absolutismus nicht wieder auf die Agenda, es werden dadurch aber Grundlagen des fürstlichen Regiments deutlicher. An dieser Stelle sollen einige besonders wichtige herrschaftliche Praxisformen thematisiert werden, und damit die Art und Weise, wie die Landesherrschaften im Reich und ihre Untertanen miteinander kommunizierten und dadurch das politische Alltagsleben jenseits der Haupt- und Staatsaktionen mar Freist (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozeß. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 2005. 8 Jürgen Schlumbohm, Gesetze, die nicht durchgesetzt werden – ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates, in: GG 23, 1997, 647–663. 9 Nicholas Henshall, The Myth of Absolutism. Change and Continuity in Early Modern European Monarchy. London 1992; Sheilagh Ogilvie, The State in Germany. A NonPrussian View, in: John Brewer/Eckhart Hellmuth (Eds.), Rethinking Leviathan. The Eigtheenth-Century State in Britain and Germany. (Studies of the German Historical Institute London.) Oxford 1999, 167–202. 10 Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: ZHF 27, 2000, 389–405; dies. (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (ZHF, Beih. 35.) Berlin 2004. 11 Hohe Bedeutung kommt Fragen nach der Beschaffung und Nutzbarmachung von Informationen über „Land und Leute“ zu. Dazu immer noch höchst anregend: Gerd Spittler, Abstraktes Wissen als Herrschaftsbasis. Zur Entstehungsgeschichte bürokratischer Herrschaft im Bauernstaat Preußen, in: KZSS 32, 1980, 574–604. Aktuelle Arbeiten: Marcus Sandl, Ökonomie des Raumes. Der kameralwissenschaftliche Entwurf der Staatswirtschaft im 18. Jahrhundert. (Norm und Struktur, Bd. 11.) Köln/Weimar/Wien 1997; Peter Becker/William Clark (Eds.), Little Tools of Knowledge. Historical Essays on Academic and Bureaucratic Practises. Ann Arbor 2001; Daniel Schlögl, Der planvolle Staat. Raumerfassung und Reformen in Bayern 1750–1800. (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 138.) München 2002; Lars Behrisch, „Politische Zahlen“. Statistik und die Rationalisierung der Herrschaft im späten Ancien Régime, in: ZHF 31, 2004, 551–577; Karin Gottschalk, Wissen über Land und Leute. Administrative Praktiken und Staatsbildungsprozesse im 18. Jahrhundert, in: Peter Collin/Thomas Horstmann (Hrsg.), Das Wissen des Staates. (Schriften zur Rechtspolitologie, Bd. 17.) Baden-Baden 2004, 149–174.

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gestalteten. Diese Zusammenhänge sind in den letzten Jahren Gegenstand intensiver Forschungen gewesen. Es wird der Versuch unternommen, einen gemeinsamen Nenner für die Resultate dieser Bemühungen zu finden. Zuletzt hat der Terminus „konsensgestützte Herrschaft“ Beachtung gefunden: Von mehreren Seiten ist der Versuch unternommen worden, diesen Begriff, der zunächst auf das Ratsregiment in den Städten des Mittelalters gemünzt war12, zeitlich auf die Frühneuzeit13 und sachlich auf das fürstliche Regiment auszudehnen. Zunächst fand ich diese Idee vielversprechend, mittlerweile hege ich allerdings Zweifel, ob das eine glückliche Begriffswahl ist. Was spricht dagegen? In den größeren frühneuzeitlichen Städten, zumal in den Reichsstädten, nahm das Ratsregiment im Alltag ähnlich obrigkeitliche Züge an wie das fürstliche in den Territorien. Ich zitiere Gerd Schwerhoffs Ausführungen zu Köln: Die Partizipation der Stadtbürger „erschöpfte sich weitgehend in symbolischen Akten, eine wirkliche Machtkontrolle fand nicht statt“.14 Er führt allerdings weiter aus, daß dies nur die halbe Wahrheit sei. In Zeiten der Krise, wenn die Stadt von außen bedroht wurde oder wenn die Schuldenlast den Rat nötigte, die Abgaben massiv zu erhöhen, erschollen aus den Reihen des politisch im Rat nicht vertretenen Stadtbürgertums regelmäßig Forderungen nach Kontrolle des Rats und nach Partizipation am Regiment. Diese Forderungen stützten sich sowohl auf die lokale Tradition des Protests, als auch auf ein Set von im weitesten Sinne republikanischen Ideen. Angesichts solcher situativ aktivierbarer Partizipationsvorstellungen geriet ein allzu unverblümt obrigkeitlich agierender Rat rasch an die Grenzen seiner Legitimitätsreserven. In Krisenzeiten waren die Magistrate nicht nur in Köln deshalb oftmals genötigt, das zeitweise Mitregiment von Bürgerausschüssen hinzunehmen. Die Idee von der „konsensgestützten Ratsherrschaft“ geht aber noch einen Schritt weiter: Danach hat das Wissen um die eigene politische Schwäche nach innen und die Furcht vor fürstlichen oder kaiserlichen Interventionen von au12 Der Begriff „konsensgestützte Herrschaft“ zuerst bei: Ulrich Meier/Klaus Schreiner, Regimen civitatis. Zum Spannungsverhältnis von Freiheit und Ordnung in alteuropäischen Stadtgesellschaften, in: dies. (Hrsg.), Stadtregiment und Bürgerfreiheit. Handlungsspielräume in deutschen und italienischen Städten des Späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit. (Bürgertum, Bd. 7.) Göttingen 1994, 9–34. 13 Wolfgang Mager, Genossenschaft, Republikanismus und konsensgestütztes Ratsregiment. Zur Konzeptionalisierung der politischen Ordnung in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen deutschen Stadt, in: Luise Schorn-Schütte (Hrsg.), Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. Politische Theologie – Res Publica-Verständnis – konsensgestützte Herrschaft. (HZ, Beihefte, NF., Bd. 39.) München 2004, 13–122. 14 Gerd Schwerhoff, Öffentliche Räume und politische Kultur in der frühneuzeitlichen Stadt: Eine Skizze am Beispiel der Reichsstadt Köln, in: Rudolf Schlögl (Hrsg.), Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt. (Historische Kulturwissenschaft, Bd. 5.) Konstanz 2004, 113–136, hier 136.

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ßen die Magistrate dazu veranlaßt, sich regelmäßig der Zustimmung der Bürgerschaft zu versichern. Es war ein Gebot politischer Klugheit, die Einführung von neuen fiskalischen oder policeylichen Maßnahmen durch informelle Absprachen über den engeren Kreis der politisch Berechtigten hinaus vorzubereiten. Weiterhin galt es, die Einmütigkeit der gesamten Bürgerschaft in weltlichen und in religiösen Ritualen sinnfällig zum Ausdruck zu bringen.15 Rudolf Schlögl hat jüngst darauf hingewiesen, daß all dies jedoch nicht dazu führte, daß die städtischer Politik zugrunde liegenden segmentären und hierarchischen Strukturbildungsprinzipen dauerhaft diskreditiert oder gar beseitigt worden wären.16 Wenn schon in der Stadt als dem originären Geltungsbereich des Konzepts der „konsensgestützten Herrschaft“ für die Frühe Neuzeit solche Relativierungen angebracht erscheinen, dann sollte man dessen Erweiterung auf den Fürstenstaat noch einmal überdenken. Dort reichten konsensuale Verfahren jedenfalls nicht herunter bis auf die Ebene der bäuerlichen und stadtbürgerlichen Haushaltsvorstände. Und doch ist die Vorstellung, die Fürsten im Reich hätten des Einvernehmens ihrer Untertanen überhaupt nicht bedurft, sicherlich keine angemessene Beschreibung der politischen Wirklichkeit. Daß Herrschaft ohne die Kooperation zumindest von Teilen der ihr Unterworfenen nicht funktionieren kann, ist freilich eine Universalie, die selbstverständlich auch für die frühneuzeitlichen Fürstenstaaten galt. Obrigkeitliche Befehle mußten an die Adressaten kommuniziert, Informationen von und über Untertanen gesammelt und an die Herrschaft übermittelt, Soldaten ausgehoben, Steuern und Abgaben eingezogen und Dienste nutzbringend verwendet werden. Als übergreifender Begriff hat sich für solche Kommunikation unter Ungleichen der etwas unglückliche Begriff „Aushandeln von Herrschaft“17 eingebürgert. Solches Aushandeln bedurfte nicht der Einmütigkeit zwischen Obrigkeiten und Untertanen, sondern lediglich der grundsätzlichen 15

Christopher Richard Friedrichs, Politik und Sozialstruktur in der deutschen Stadt des 17. Jahrhunderts, in: Georg Schmidt (Hrsg.), Stände und Gesellschaft im Alten Reich. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte, Beih. 29.) Stuttgart 1989, 151–170. 16 Rudolf Schlögl, Vergesellschaftung unter Anwesenden. Zur kommunikativen Form des Politischen in der vormodernen Stadt, in: ders. (Hrsg.), Interaktion und Herrschaft (wie Anm. 14), 9–60. 17 Entwicklung des Konzepts bei Alf Lüdtke, Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis, in: ders. (Hrsg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozialanthropologische Studien. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 91.) Göttingen 1991, 9–63. Kritik an der Begriffsbildung übt: Wolfgang Reinhard, Zusammenfassung: Staatsbildung durch „Aushandeln“?, in: Asch/Freist (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozess (wie Anm. 7), 429–438. Reinhard bevorzugt demgegenüber den englischen Begriff „negotiating“ – einen klaren Unterschied zu „Aushandeln“ vermag ich freilich nicht zu erkennen. Vgl. dazu: Michael Braddick/John Walter (Eds.), Negotiating Power in Early Modern Society. Order, Hierarchy and Subordination in Britain and Ireland. Cambridge 2001.

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Bereitschaft zur Kooperation – sei es aufgrund taktischer Überlegungen der Beteiligten, sei es aufgrund prinzipieller gegenseitiger Anerkennung. Für die spezifischen Formen der Kooperation zwischen frühneuzeitlichen Fürstenobrigkeiten und Untertanen möchte ich den Begriff „akzeptanzorientierte Herrschaft“ vorschlagen. Dabei handelt es sich nicht um eine zeitgenössische Terminologie, sondern um eine begriffliche Neuschöpfung, die mir geeignet erscheint, die zahlreichen Befunde der aktuellen Forschungen zur Herrschaftspraxis analytisch zu bündeln. Der Begriff verweist auf die Agenden des fürstlichen Regiments, vor allem aber auf die kommunikativen Praktiken, auf denen fürstliche Herrschaft beruhte. Zunächst kurz zu den Agenden: Da sich Fürsten als christliche Obrigkeiten verstanden, denen von Gott zuvörderst der Schutz und die Förderung des rechten christlichen Glaubens, die Wahrung des Friedens, die Handhabung des Rechts und die Förderung des allgemeinen Besten aufgetragen waren, durften ihre Anordnungen keineswegs herrschaftlicher Willkür entspringen, sondern mußten religiösen, ethischen bzw. juristischen Normen entsprechen. Es mag naiv erscheinen, diese Forderungen an eine rechte christliche Obrigkeit wörtlich zu nehmen. Gleichwohl blieb das angedeutete ethische Programm für die gute Fürstenherrschaft in Geltung, zumal es auf breite Akzeptanz in der Untertanenschaft rechnen konnte. Und es handelte sich dabei auch nicht um eine bloße Vorspiegelung falscher Tatsachen, um Ideologie, denn die Landesherrschaften unternahmen beachtliche Anstrengungen, diesem Bild wenigstens ansatzweise zu entsprechen. Um Land und Leute gegen äußere Feinde zu schützen, den inneren Frieden zu wahren und die Frevler zu strafen, war einem jeden Fürsten von Gott das Schwert gegeben. Physischer Zwang zur Durchsetzung politischer Ziele bildete immer nur die ultima ratio, denn die legitimatorischen Kosten von Gewalt waren den Zeitgenossen durchaus bewußt. Angesichts der Allgegenwart des Krieges in der Frühneuzeit drohten von hier erhebliche Gefahren für die Akzeptanz des fürstlichen Regiments, denn es konnte ja zumeist keine Rede davon sein, daß sie ihre Untertanen vor äußeren Feinden zu schützen vermochten. Um so dringlicher war der Schutz des rechten Glaubens, der mit großem Eifer betrieben wurde. Darüber hat uns die Konfessionalisierungsforschung eingehend informiert. Wenn Obrigkeiten glaubhaft machen wollten, dem Recht zu dienen, mußten sie Gerichte und Appellationsinstanzen unterhalten, die für die Rechtsuchenden zugänglich waren. Die Kriminalitätsgeschichte und die Überlegungen zur Justiznutzung18 haben sich intensiv damit auseinandergesetzt. Ob ein fürstliches Regiment bei der Bevölkerung auf 18

Die theoretische Grundlegung mit zahlreichen Beispielen für die empirische Anwendung des Konzepts liefert: Martin Dinges, Justiznutzungen als soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit, in: Blauert/Schwerhoff (Hrsg.), Kriminalitätsgeschichte (wie Anm. 4), 503–544.

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Akzeptanz stieß19, hing ganz wesentlich davon ab, daß es eine Gerichtsbarkeit bereitstellte, die man zur Regulierung von Konflikten anrufen konnte. Akzeptanz erbrachte schließlich auch das glaubhafte Versprechen, dem Gemeinen Besten dienen zu wollen. Hier setzte mit der guten Policey die dynamische Seite herrschaftlichen Handelns an, dies ebenfalls ein wichtiges Feld aktueller Forschung. All diese Agenden fürstlichen Handelns haben einen gemeinsamen Nenner: Ihre Umsetzung bedurfte regelmäßiger Kooperation zwischen Obrigkeiten und Untertanen. Diese Kooperation wurde überwiegend nicht durch konsensuale Verfahren ermöglicht, sondern durch institutionalisierte Formen der Kommunikation, in die das hierarchische Gefälle bereits eingelagert war.20 Solche Herrschafts-Kommunikation beschränkte sich jedoch nicht auf Gebote und Verbote, die den Untertanen als Befehle entgegentraten. Hinzu kam das Fundamentalrecht des Gehör-Findens. Nur diejenige Obrigkeit, die für die Bitten und Klagen der Untertanen ein offenes Ohr hatte, galt als eine rechte christliche Obrigkeit.21 Jederzeit Gehör zu gewähren, unterschied das legitime Regiment von der Tyrannis. So sorgten in den Fürstenstaaten des Alten Reichs zahlreiche fest institutionalisierte Kommunikationswege dafür, daß fürstliche Anordnungen von den Betroffenen als angemessen empfunden werden konnten, zumindest nicht als unbillige Härte erlebt wurden. Dem Anspruch nach waren in diese institutionalisierte Kommunikation das obrigkeitliche Herrschaftspersonal, die kommunalen Honoratioren, die Körperschaften und jeder einzelne Haushaltsvorstand zu integrieren. Diese Kommunikationsformen sind in den letzten Jahren Gegenstand von Forschungsprojekten, Tagungen und Sammelbänden gewesen: Kirchliche und weltliche Visitationen22, gerichtliche Klagen und Appellatio19

Stefan Brakensiek, Lokale Amtsträger in deutschen Territorien der Frühen Neuzeit. Institutionelle Grundlagen, akzeptanzorientierte Herrschaftspraxis und obrigkeitliche Identität, in: Asch/Freist (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozess (wie Anm. 7), 49–67. 20 Vgl. Stefan Brakensiek, Herrschaftschaftsvermittlung im alten Europa. Praktiken lokaler Justiz, Politik und Verwaltung im internationalen Vergleich, in: Brakensiek/Wunder (Hrsg.), Ergebene Diener ihrer Herren? (wie Anm. 7), 1–21. 21 Peter Blickle, Beschwerden und Polizeien. Die Legitimation des modernen Staates durch Verfahren und Normen, in: Peter Blickle/Peter Kissling/Heinrich Richard Schmidt (Hrsg.), Gute Policey als Politik im 16. Jahrhundert. Die Entstehung des öffentlichen Raumes in Oberdeutschland. (Studien zu Policey und Policeywissenschaft.) Frankfurt am Main 2003, 549–568. 22 Kersten Krüger, Politische Ämtervisitation unter Landgraf Wilhelm IV., in: Hessisches Jb. für Landesgeschichte 27, 1977, 1–36; Ernst Walter Zeeden/Peter Thaddäus Lang (Hrsg.), Kirche und Visitation. Beiträge zur Erforschung des frühneuzeitlichen Visitationswesens in Europa. (Spätmittelalter und frühe Neuzeit, Bd. 14.) Stuttgart 1984; Helga Schnabel-Schüle, Kirchenvisitation und Landesvisitation als Mittel der Kommunikation zwischen Herrschaft und Untertanen, in: Heinz Duchhardt/Gert Melville (Hrsg.), Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. Soziale Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. (Norm und Struktur, Bd. 7.) Köln/Weimar/Wien 1997, 173–186; Rudolf Schlögl,

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nen23, regelmäßige Berichte von kommunalen und herrschaftlichen Amtsträgern24, „Laufen gen Hof“25 und schriftliche Suppliken26 von Korporationen, Gemeinden und einzelnen Untertanen, Anzeigen und Rügen27, all diese Praktiken trugen dazu bei, daß zwischen Landesherrschaft und Bevölkerung lebhafte Kommunikationsprozesse im Gange waren. Hinzu kamen in vielen Territorien die Landstände, die mit ihren Gravamina Informationen aus der Geistlichkeit, dem Adel und den Städten in den Gesetzgebungsprozeß und in den alltäglichen Gang der Verwaltung einspeisten.28 So entsprangen fürstliche Ordnungen vielfach den Anregungen von Privilegierten, aber auch von Bedingungen dörflicher Kommunikation. Gemeindliche Öffentlichkeit und Visitation im 16. Jahrhundert, in: Werner Rösener (Hrsg.), Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 156.) Göttingen 2000, 241–261; Peter Thaddäus Lang, Visitationsprotokolle und andere Quellen zur Frömmigkeitsgeschichte, in: Michael Maurer (Hrsg.), Aufriß der Historischen Wissenschaften. Bd. 4: Quellen. Stuttgart 2002, 302–324; Thomas Klingebiel, Ein Stand für sich? Lokale Amtsträger in der Frühen Neuzeit. Untersuchungen zur Staatsbildung und Gesellschaftsentwicklung im Hochstift Hildesheim und im älteren Fürstentum Wolfenbüttel. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, Bd. 207.) Hannover 2002, insbes. 99–140. 23 André Holenstein, Klagen, anzeigen und supplizieren. Kommunikative Praktiken und Konfliktlösungsverfahren in der Markgrafschaft Baden im 18. Jahrhundert, in: Magnus Eriksson/Barbara Krug-Richter (Hrsg.), Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (16.–19. Jahrhundert). (Potsdamer Studien zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft, Bd. 2.) Köln/Weimar/Wien 2003, 335–369. 24 Peter Becker, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Verwaltung, in: Jb. für europäische Verwaltungsgeschichte 15, 2003, 311–336. 25 Renate Blickle, Laufen gen Hof. Die Beschwerden der Untertanen und die Entstehung des Hofrats in Bayern. Ein Beitrag zu den Varianten rechtlicher Verfahren im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Peter Blickle (Hrsg.), Gemeinde und Staat im Alten Europa. (HZ, Beihefte, NF., Bd. 25.) München 1998, 241–266. 26 Helmut Neuhaus, Supplikationen als landesgeschichtliche Quellen. Das Beispiel der Landgrafschaft Hessen im 16. Jahrhundert, in: Hessisches Jb. für Landesgeschichte 28, 1978, 110–190, und 29, 1979, 63–97; Rosi Fuhrmann/Beat Kümin/Andreas Würgler, Supplizierende Gemeinden. Aspekte einer vergleichenden Quellenbetrachtung, in: Blickle (Hrsg.), Gemeinde und Staat (wie Anm. 25), 267–323; Renate Blickle, Supplikationen und Demonstrationen. Mittel und Wege der Partizipation im bayerischen Territorialstaat, in: Rösener (Hrsg.), Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (wie Anm. 22), 263–317; Cecilia Nubola/Andreas Würgler (Hrsg.), Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14.–18. Jahrhundert). (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient, Bd. 19.) Berlin 2005. 27 Matthias Weber, „Anzeige“ und „Denunciation“ in der frühneuzeitlichen Policeygesetzgebung, in: Härter (Hrsg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft (wie Anm. 5), 583–609; Friso Ross/Achim Landwehr (Hrsg.), Denunziation und Justiz. Historische Dimensionen eines sozialen Phänomens. Tübingen 2000; Michaela Hohkamp/Claudia Ulbrich (Hrsg.), Der Staatsbürger als Spitzel. Denunziation während des 18. und 19. Jahrhunderts aus europäischer Perspektive. (Deutsch-französische Kulturbibliothek, Bd. 19.) Leipzig 2001. 28 Beat Kümin/Andreas Würgler, Petitions, Gravamina and the Erly Modern Sate: Local Influence on Central Legislation in England and Germany (Hesse), in: Parliaments,

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Gemeinden, Korporationen und Einzelpersonen.29 In der societas civilis cum imperio ging es freilich niemals um die unterschiedslose Integration aller Individuen, sondern um eine nach ständischer Dignität abgestufte Form bedingter Partizipation. Den meisten Entscheidungen eines Fürsten bzw. seiner politischen Leitungsgremien ging eine Kaskade von Aufforderungen voraus, zu dem fraglichen Sachverhalt erschöpfend Stellung zu nehmen, so daß zunächst die involvierten Zentralbehörden, in größeren Territorien dann die regionalen Zwischeninstanzen, anschließend die lokalen Amtsträger des Fürsten ihre Gutachten einbrachten. Hierbei ließ man es in der Regel nicht bewenden, sondern zog die städtischen Magistrate und die Vorsteher der Landgemeinden, eventuell auch betroffene Korporationen und Gemeindedeputierte heran, deren Informationen zu weiteren Nachfragen der vorgesetzten Behörden Anlaß gaben.30 Dieses Verfahren war extrem zeitraubend und anfällig für Verzögerungstaktiken und Störmanöver, wurde gleichwohl unverdrossen beibehalten, weil es letztlich ohne Alternative war: Die Landesherrschaft benötigte dieses aufwendige Verfahren sowohl zur Beschaffung von Informationen als auch zur Implementierung ihrer Anordnungen.31 Die policeygeschichtlichen Studien von Achim Landwehr und André Holenstein haben herausgearbeitet, wie die institutionalisierten Kommunikationsformen zwischen der Normen setzenden Landesherrschaft und den Normadressaten funktionierten.32 Sie verdeutlichen, warum die Vorstellung einer „Durchsetzung von Normen“ unzureichend und statt dessen der Begriff „Normimplementation“ zu bevorzugen ist. Implementation von Normen Estates and Representation 17, 1997, 39–60; Raingard Esser, Landstände im Alten Reich. Ein Forschungsüberblick, in: ZNR 27, 2005, 254–271. 29 Andreas Würgler, Desideria und Landesordnungen. Kommunaler und landständischer Einfluß auf die fürstliche Gesetzgebung in Hessen-Kassel 1650–1800, in: Blickle (Hrsg.), Gemeinde und Staat (wie Anm. 25), 149–207. 30 Stefan Brakensiek, Herrschaftsvermittlung im alten Europa. Praktiken lokaler Justiz und Verwaltung im internationalen Vergleich, in: ders./Wunder (Hrsg.), Ergebene Diener ihrer Herren? (wie Anm. 7), 1–21. 31 Stefan Esders/Thomas Scharff, Die Untersuchung der Untersuchung. Methodische Überlegungen zum Studium rechtlicher Befragungs- und Weisungspraktiken in Mittelalter und früher Neuzeit, in: dies. (Hrsg.), Eid und Wahrheitssuche. Studien zu rechtlichen Befragungspraktiken in Mittelalter und früher Neuzeit. (Gesellschaft, Kultur und Schrift. Mediävistische Beiträge, Bd. 7.) Frankfurt am Main 1999, 11–47; Ralf-Peter Fuchs/Winfried Schulze (Hrsg.), Wahrheit, Wissen, Erinnerung. Zeugenverhörprotokolle als Quellen für soziale Wissensbestände in der Frühen Neuzeit. (Wirklichkeit und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit, Bd. 1.) Münster 2002. 32 Achim Landwehr, „Normdurchsetzung“ in der Frühen Neuzeit? Kritik eines Begriffs, in: ZfG 48, 2000, 146–162; ders., Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg. (Studien zu Policey und Policeywissenschaft.) Frankfurt am Main 2000; ders., Policey vor Ort. Die Implementation von Policeyordnungen in der ländlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Härter (Hrsg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft (wie Anm. 5), 47–70.

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wird von ihnen als zirkulärer kommunikativer Prozeß gedeutet. Die Policeyordnungen wurden erlassen aufgrund von Informationen, auf deren Gehalt die Betroffenen zumeist Einfluß genommen hatten. Insofern gaben die Normen selbst bereits partiell deren Sichtweisen wieder. Durch Inspektionsverfahren33, an denen die Untertanen abermals beteiligt waren, wurden die Wirkungen einer erlassenen Norm kontrolliert, so daß man bei nicht beabsichtigten Effekten gegensteuern konnte. So geartete Normimplementation bediente sich bestehender Akzeptanz und zielte auf künftige Akzeptanz. Hinzu kommt die überwiegend flexible Handhabung der Normen, die von den Behörden „in Anbetracht der Umstände“ abgewandelt, abgeschwächt, im Einzelfall auch außer Kraft gesetzt wurden. André Holenstein argumentiert, daß sich darin nicht etwa die mangelnde Geltung der Normen erwies, sondern die epochenspezifische Form ihrer Anwendung, die stärker auf Überredung durch Vorbild, Belohnung und Wiederholung setzte als auf Zwang.34 Das ist eine überraschend positive Sicht auf eine fürstliche Obrigkeit, die sicherlich damit zu tun hat, daß die von ihm untersuchte Markgrafschaft Baden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geradezu das Musterland reformorientierter Wohlfahrtspolitik war.35 Die Befunde weisen meines Erachtens jedoch über den territorialen Einzelfall hinaus, denn in vielen der kleinen und mittleren Reichsterritorien fanden sich Spielarten eines patrimonial-fürsorglichen Regiments. Mit der Amtsverfassung wiesen diese Fürstentümer zudem ein wichtiges gemeinsames Strukturmerkmal auf.36 Die im zeitgenössischen Maßstab kleindimensionierten Amtsbezirke ermöglichten den Untertanen, zu den lokalen Amtsträgern des Fürsten jederzeit Kontakt aufnehmen zu können – was natürlich umgekehrt genauso galt: Der einzelne konnte tief in Herrschaftskommunikation integriert werden, was die Durchdringungschancen der „Duodezfürsten“ und ihrer bürokratischen Apparate

33 André Holenstein, „Local-Untersuchung“ und „Augenschein“. Reflexionen auf die Lokalität im Verwaltungsdenken und -handeln des Ancien Régime, in: WerkstattGeschichte 16, 1997, 19–31. 34 André Holenstein, Die Umstände der Normen – die Normen der Umstände. Policeyordnungen im kommunikativen Handeln von Verwaltung und lokaler Gesellschaft im Ancien Régime, in: Härter (Hrsg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft (wie Anm. 5), 1–46. 35 André Holenstein, „Gute Policey“ und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime. Das Fallbeispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach). (Frühneuzeit-Forschungen, Bd. 9.) Epfendorf 2003. 36 Auf den fundamentalen Unterschied zwischen den westlichen Territorien mit Amtsund den östlichen mit Kreisverfassung weist bereits nachdrücklich hin: Otto Hintze, Die Wurzeln der Kreisverfassung in den Ländern des nordöstlichen Deutschland, in: ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte. Göttingen 1962, 121–176.

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in einem Maße steigerte, das über die Möglichkeiten in den großen europäischen Monarchien hinausging.37 Angesichts dieser Befunde ist die Diskussion erneut eröffnet, inwieweit obrigkeitliches Handeln gesellschaftlichen Wandel angestoßen hat, oder ob der Wandel nicht in erster Linie auf externe Faktoren, wie das Bevölkerungswachstum oder die steigende Bedeutung von Marktbeziehungen, zurückzuführen ist.38 Für das 18. Jahrhundert zeichnet sich gegenüber der noch vor wenigen Jahren vorherrschenden Obrigkeits- und Staats-Skepsis derzeit ein praxeologisch begründeter „Revisionismus“ ab, der Wandel auch als das Resultat von zirkulären, durch Rückkopplungseffekte gekennzeichneten Kommunikationsprozessen zwischen Obrigkeiten und Untertanen deutet. Ich würde dabei nicht von Staatsbildung sprechen wollen, sondern lediglich von Herrschaftsverdichtung.39 Denn nirgends ist ein Demiurg zu erkennen, der planvoll und zielbewußt einen Staatsbildungsprozeß gesteuert hätte. Statt dessen ging ein tastendes Experimentieren vonstatten, an dem neben den Fürsten und den Höfen auch die Amtsträger und viele Untertanen mitwirkten.40 Dieses Experimentieren betraf sowohl die Agenden obrigkeitlichen Handelns als auch die Kommunikationskanäle. Aus diesem Experimentieren resultierte die angesprochene Verdichtung von Herrschaft. In Anlehnung an die Theorie der Strukturierung von Anthony Giddens hat André Holenstein solche Prozesse der Herrschaftsverdichtung jüngst auf „empowering interactions“ zurückgeführt.41 Damit ist gemeint, daß es sich bei den geschilderten Kommunikations- und Entscheidungsprozessen nicht um ein Nullsummenspiel der Macht handelte. Statt dessen nutzte die Teilnahme an

37 Neuere Studien zur lokalen Herrschaftspraxis: Michaela Hohkamp, Herrschaft in der Herrschaft. Die vorderösterreichische Obervogtei Triberg von 1737 bis 1780. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 142.) Göttingen 1998; Stefan Brakensiek, Fürstendiener – Staatsbeamte – Bürger. Amtsführung und Lebenswelt der Ortsbeamten in niederhessischen Kleinstädten (1750–1830). (Bürgertum, Bd. 12.) Göttingen 1999; Klingebiel, Ein Stand für sich? (wie Anm. 22); Ursula Löffler, Vermittlung und Durchsetzung von Herrschaft auf dem Lande. Dörfliche Amtsträger im Erzstift und Herzogtum Magdeburg 17.–18. Jahrhundert. (Herrschaft und soziale Systeme in der frühen Neuzeit, Bd. 8.) Münster 2004; Thomas Wolff, Lokale Verwaltung in der Frühen Neuzeit. Das Jülicher Amt Grevenbroich unter dem Amtmann Hermann von Hochsteden (1649– 1686). (Schriften der Vereinigten Adelsarchive im Rheinland, Bd. 2.) Düsseldorf 2005. 38 Christof Dipper, Government and Administration. Everyday Politics in the Holy Roman Empire, in: Brewer/Hellmuth (Eds.), Rethinking Leviathan (wie Anm. 9), 203–223. 39 Begriffsbildung in Analogie zu: Peter Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250 bis 1490. (Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. 3.) Berlin 1985. 40 Das betont auch Reinhard, Staatsbildung durch „Aushandeln“? (wie Anm. 17). 41 Wim Blokmans/André Holenstein/Jon Mathieu (Eds.), Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300–1900. Aldershot 2009. Vgl. Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. (Theorie und Gesellschaft, Bd. 1.) 3. Aufl. Frankfurt am Main 1995.

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Herrschaftskommunikation unter gewissen günstigen Umständen allen Beteiligten: Indem sich einzelne Untertanen oder Korporationen „hilfesuchend“ an den Fürsten wandten, schrieben sie ihm Macht zu, die er ohne dieses Ersuchen nicht gehabt hätte. Sie versorgten den Fürsten selektiv mit Informationen, zugleich fragten sie autoritative Ressourcen ab, von denen sie hofften, daß sie ihren Forderungen gegenüber Dritten Geltung verschaffen würden. Dafür war freilich ein symbolischer Preis zu entrichten. Kontakt zum Fürsten und seinen Amtsträgern bedingte Ehrerbietung, die Bekundung untertänigen Gehorsams und Respekts. Ließen sich Personen, Gruppen oder Korporationen auf diese Beziehung ein, so mußten sie sich der Semantiken untertänigster Dienstbarkeit bedienen, was nicht folgenlos blieb.42 Um es zusammenzufassen: Frühneuzeitliche Fürstenherrschaft beruhte auf der Kooperation von Obrigkeiten und Untertanen. Die dadurch entstehenden Beziehungen können sicherlich nicht in Begriffen wie „Hörigkeit“ oder „Subordination“ angemessen erfaßt werden – dazu boten sie allzu viele Chancen, Einfluß auf obrigkeitliche Maßnahmen zu nehmen. Freilich konnten sich selbst diejenigen Untertanen, die als bäuerliche Gemeindevorsteher oder Magistratsmitglieder in stetige Kommunikations- und Kooperationsprozesse mit der landesherrlichen Obrigkeit integriert waren, nicht auf fest verbriefte Rechte der Teilhabe stützen, sondern lediglich auf die pragmatischen Chancen zur Teilhabe, die sich aus der Herrschaftspraxis im Alltag ergaben. Wegen ihrer Stellung innerhalb des Reichsverbandes, wegen der konfessionellen Konkurrenz, sicherlich auch aufgrund der vergleichsweise kleinen Dimension ihrer Territorien, haben die Reichsfürsten des 17./18. Jahrhunderts besonders bereitwillig auf die ganze Breite der geschilderten Kommunikationsformen gesetzt. Ihnen wuchs in dem Maße Legitimität zu, als sie im Ruf standen, ein „offenes Ohr“ für den „gemeinen Mann“ zu haben. Dieser gute Ruf mochte entstehen, wenn mehrere Kommunikationswege unterhalten wurden, auf denen die Ortsobrigkeiten umgangen und kontrolliert werden konnten. Dazu gehörten an erster Stelle die ordentlichen Gerichte mit ihrem Instanzenzug. Dazu gehörten jedoch auch Visitationen und Kommissionen. Und dazu gehörte nicht zuletzt ein Fürst, bei dem man sich immediat beschweren konnte. Genau diese Ausdifferenzierung von Institutionen der Herrschaftskommunikation unterscheidet die territorialen Fürstenstaaten von den patrimonialen Obrigkeiten. Deshalb konnte der „wohlgeordnete Policeystaat“ eines Reichsfürsten auch auf weitere Akzeptanz rechnen als das Regiment eines Adligen. Dieser Herrschaftsstil der Fürsten war derart prägend für die politische Kultur im Alten Reich, daß die Bezeichnung „akzeptanzorientierte Herrschaft“ gerechtfertigt erscheint.

42

Systematische Überlegungen bei Brakensiek, Lokale Amtsträger (wie Anm. 19).

Teil 7 Die Wirtschaft der Frühen Neuzeit und die Frage der Periodisierung

Die Frühe Neuzeit als wirtschaftshistorische Epoche Fluktuationen relativer Preise 1450–1850 Von

Ulrich Pfister Die gegenwärtige Studie entwickelt und belegt das Argument, daß sich die wirtschaftlichen Vorgänge in der langen Ära zwischen circa 1450 und 1850 durch langfristige Wellen der relativen Preise von zwei Gütern beschreiben lassen, nämlich des relativen Preises des Produktionsfaktors Arbeit – also des Reallohns – sowie des relativen Preises von Edelmetallen – vor dem Hintergrund der allgemein verbreiteten Metallwährungen also des Preisniveaus. Vor dem Einsetzen einer retrospektiven volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung – in den meisten Ländern nicht vor der Mitte des 19. Jahrhunderts, für England ab dem 18. Jahrhundert – verfügen wir über keine belastbaren Informationen über das Volkseinkommen, über die sektorale Wertschöpfung und makroökonomische Größen wie Konsum und Spareinkommen. Preisgeschichte stellt deshalb für die Vormoderne ein zentrales Instrument nicht nur zur Analyse der Entwicklung von Märkten und ihrer Integration, sondern auch der Entwicklung von Konjunktur und Produktion dar. Eine Reihe von klassischen Texten zur älteren Wirtschaftsgeschichte sind dementsprechend in erster Linie Preisgeschichten.1 Die Preise dreier Arten von Gütern haben für die Zeit vor 1850 besondere Aufmerksamkeit gefunden: die Preise wichtiger Gebrauchsgüter, besonders von Grundnahrungsmitteln wie Getreide (Roggen, Weizen); die Löhne von Arbeitskräften, besonders die am besten in langen Zeitreihen erfaßbaren Löhne von Bauarbeitern, sowie die Preise von Edelmetallen. Da Edelmetalle in der Vormoderne zu Währungszwecken verwendet wurden, kann allerdings nur ihr relativer Preis zu allen anderen Gütern, nämlich ihre Kaufkraft in der Form des Preisniveaus, beobachtet werden. Der zweite vielbeachtete relative Preis betrifft den Reallohn, also den Geldlohn in Relation zum Preis des überwiegend konsumierten Getreides oder – angemessener – im Verhältnis zu einem Konsumgüterpreisindex. Der Reallohn kann als In-

1

Wilhelm Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter. 3. Aufl. Hamburg 1978; Emmanuel Le Roy Ladurie, Die Bauern des Languedoc. Stuttgart 1983; Ferdinand Braudel/Frank C. Spooner, Prices in Europe from 1450–1750, in: Cambridge Economic History of Europe. Vol. 4. Cambridge 1967, 374–486.

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dikator für das Einkommen der breiten Bevölkerung genutzt werden, wenn auch angesichts des Überwiegens der Subsistenzwirtschaft während des überwiegenden Teils der betrachteten Ära mit großen Vorbehalten. In Westeuropa weisen der Reallohn von Bauarbeitern und das Preisniveau invers parallele langfristige Fluktuationen auf (vgl. Graphik 1 und 2).2 Sie verweisen auf grundlegende und miteinander verschränkte Prozesse, die dem Arbeitsangebot und der Edelmetallversorgung der entstehenden europäischen Weltwirtschaft zugrunde liegen. Sie gilt es im nachfolgenden darzustellen. Zum Schluß wird auf den Strukturbruch um 1850 sowie die Abgrenzung der Frühen Neuzeit zum Mittelalter eingegangen. Graphik 1: Entwicklung des Reallohns ungelernter Bauarbeiter in 14 europäischen Städten, 1500–1850

Löhne (250 Taglöhne) dividiert durch das 3,15-fache (angenommene mittlere Familiengröße) des Preises eines repräsentativen Korbs an Nahrungsmitteln. Werte über 1 bedeuten, daß das Einkommen über dem für die Deckung der Subsistenzbedürfnisse erforderlichen Betrag liegt. Die Werte sind über 50 Jahre gemittelt. Quelle: Allen, Great Divergence (wie Anm. 2), 428.

2

Robert C. Allen, The Great Divergence in European Wages and Prices from the Middle Ages to the First World War, in: Explorations in Economic History 38, 2001, 411–447, hier 424 f., 429, enthält weniger flächendeckend als in Graphik 1 und 2 auch Daten für das späte 14. und das frühe 15. Jahrhundert.

Die Frühe Neuzeit als wirtschaftshistorische Epoche

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Graphik 2: Entwicklung der Konsumgüterpreise in 14 europäischen Städten, 1500–1850

Preisindizes eines Güterkorbes, der v. a. Grundnahrungsmittel und Leinen enthält (Straßburg 1745–1754=1,0) Quelle: Allen, Great Divergence (wie Anm. 2), 426.

Graphik 3: Langfristige Bevölkerungsentwicklung in westeuropäischen Ländern, 14.–19. Jahrhundert

Quellen: Jacques Dupâquier (Ed.), Histoire de la population française. Vol 2. Paris 1988, 68; Christian Pfister, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1500–1800. München 1994, 10; Wrigley/ Schofield, Population History (wie Anm. 5), 528f.; Jan de Vries/Ad van der Woude, The First Modern Economy. Cambridge 1997, 51; Malanima, Measuring the Italian Economy (wie Anm. 3), 290f.

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Ulrich Pfister

I. Die malthusianische Interpretation langer Wellen des Reallohns Es ist den Forschern früh ins Auge gefallen, daß die in Graphik 1 und 2 erkennbaren Fluktuationen auch eine gewisse (inverse) Parallele zur langfristigen Bevölkerungsentwicklung aufweisen (Graphik 3). Die Ära zwischen dem Spätmittelalter und 1850 läßt sich somit entsprechend dem jeweiligen Trend im Rahmen eines langfristigen Zyklus in vier Teilperioden gliedern. Der jeweilige Trend der Bevölkerungsentwicklung, des Reallohns und des Preisniveaus gelten verbreitet als charakteristische Grundtendenzen der jeweiligen Periode (vgl. Tab. 1). (1) Spätmittelalterliche Agrarkrise: Vom frühen 14. zum frühen 15. Jahrhundert ging die Bevölkerung verbreitet zurück, das Preisniveau senkte sich ab, und die Reallöhne erreichten ein wenigstens auf dem Kontinent erst im späten 19. Jahrhundert wieder erreichtes Niveau. Entsprechend war vermutlich das Konsumniveau, etwa was den Verbrauch an tierischen Proteinen (Fleisch, Fisch, Milchprodukten) und Textilien (erste Verbreitung von baumwollenen Mischgeweben) anbelangt, relativ hoch.3 (2) Der ambivalente Aufschwung des sogenannten langen 16. Jahrhunderts: Vom späten 15. zum frühen 17. Jahrhundert nahmen Bevölkerung und Preisniveau deutlich zu, umgekehrt fand ein drastischer Reallohnverfall statt. Das späte 16. und das frühe 17. Jahrhundert waren entsprechend eine Ära des grassierenden Pauperismus, der seinerseits Verteilungskonflikten Vorschub leistete: Die Ära ist durch Bauernrevolten und einen Höhepunkt der Hexenprozesse, die verbreitet in nachbarschaftlichen Ressourcenkonflikten gründeten, gekennzeichnet. Verschärft wurde der Reallohnverfall durch eine Klimaverschlechterung ab den 1560er Jahren, die Ernteschwankungen zunehmen und die durchschnittlichen Bodenerträge sinken ließ (sogenannte Kleine Eiszeit).4 3

Siehe nochmals Allen, Great Divergence (wie Anm. 2), 424 f., 429, 434; Gregory Clark, The Long March of History. Farm Wages, Population and Economic Growth, England 1209–1869, in: EconHR 60, 2007, 97–135; Paolo Malanima, Measuring the Italian Economy, 1300–1861, in: Rivista di Storia Economica 19, 2003, 265–295, hier 273 f., 278; Ulf Dirlmeier/Gerhard Fouquet, Ernährung und Konsumgewohnheiten im spätmittelalterlichen Deutschland, in: GWU 44, 1993, 504–526; eine frühe Konsumrevolution stellt die Verbreitung von baumwollenen Mischgeweben im späten 14. und frühen 15. Jahrhundert dar; Maureen F. Mazzaoui, The Italian Cotton Industry in the Later Middle Ages, 1100– 1600. Cambridge 1981, Kap. 5. 4 Klassische Überblicke zu den angesprochenen Phänomenen Winfried Schulze (Hrsg.), Europäische Bauernrevolten der frühen Neuzeit. Stuttgart 1980, 10 f.; Brian P. Levack, Hexenjagd. Die Geschichte der Hexenverfolgungen in Europa. München 1995, 176–180; Christian Pfister, Klimageschichte der Schweiz 1525–1860. 2 Bde. Bern 1984, Bd. 1, 119– 121; vgl. auch die Daten in Rüdiger Glaser, Klimageschichte Mitteleuropas. 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen. Darmstadt 2001, 94 f.; Franz Mauelshagen, Pestepidemien

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Die Frühe Neuzeit als wirtschaftshistorische Epoche

Tab. 1: Periodenspezifische Trends von Bevölkerungsgröße, Reallohn und Niveau der Konsumgüterpreise

„Spätmittelalterliche Agrarkrise“ (14.–Mitte 15. Jahrhundert) „Aufschwung des langen 16. Jh.s“ „Krise des 17. Jh.s“ „Pauperismus und Frühindustrialisierung“ (zweite Hälfte 18. und frühes 19. Jh.)

Bevölkerung

Reallohn

Preisniveau



+



+ (–) +

– (+) –

+ – +

(3) Die sogenannte Krise des 17. Jahrhunderts: Die 1620er Jahre markieren mit monetären Wirren und einer Krise des Handels, gravierenden Hungerkrisen und sich bis in die 1630er Jahre hinziehenden verheerenden Pestepidemien zusammen mit den verbreiteten kriegerischen Aktivitäten eine deutliche Trendumkehr.5 In der Folge wurde der Abwärtstrend der Reallöhne gestoppt, und auf aggregierter Ebene läßt sich bei beträchtlichen regionalen Unterschieden spätestens seit der Jahrhundertmitte und wenigstens bis etwa 1700 eine leichte Zunahme des Reallohns, eine deutliche Reduktion des Preisniveaus und ein Abflachen des Bevölkerungswachstums – im Reich als Folge des Dreißigjährigen Kriegs ein massiver Bevölkerungseinbruch – beobachten. Diese Zeit war sicherlich eine Krise für kommerzielle Getreideproduzenten und die davon abhängigen Feudaleinkommen und eine Periode mit gravierenden Problemen der Geldversorgung und Umbrüchen im Handelsverkehr, sie war aber ein goldenes Zeitalter für den ,gemeinen Mann‘. Nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs verbreitete sich in Windeseile das Tabakrauchen als von den Obrigkeiten vielfach beklagtes Volkslaster, und die Verbreitung von Heimtextilien führte zu einer ,Neueinkleidung Englands‘, wie überhaupt die deutliche Differenzierung der materiellen häuslichen Kultur und damit die Schaffung der Grundlagen für den consumerism des 18. Jahrhunderts wenigstens in Nordwesteuropa vor allem im letzten Viertel des 17. und im frühen 18. Jahrhundert erfolgte.6 im Europa der Frühen Neuzeit (1500–1800), in: Mischa Meier (Hrsg.), Pest. Die Geschichte eines Menschheitstraumas. Stuttgart 2005, 237–265, hier 238–240. 5 Charles P. Kindleberger, The Economic Crisis of 1619 to 1623, in: JEconH 51, 1991, 149–175; Edward A. Wrigley/Roger S. Schofield, The Population History of England 1541–1871: A Reconstitution. Cambridge 1981, 333 f.; Pfister, Klimageschichte (wie Anm. 4), Bd. 2, 94 f. 6 Für zusätzliche Daten zu Preisen und Löhnen siehe oben Anm. 3; zu den konsumgeschichtlichen Vorgängen vgl. Margaret Spufford, The Great Reclothing of Rural England. Petty Chapmen and their Wares in the Seventeenth Century. London 1984; Lorna M. Weaterill, Consumer Behavior and Material Culture in Britain, 1660–1760. London 1988; Caroline Shammas, The Pre-industrial Consumer in England and America. Oxford 1990; Annerose Menninger, Genuß im Wandel. Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade in Europa (16.–19. Jahrhundert). Stuttgart 2004.

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(4) Pauperismus und Frühindustrialisierung im späteren 18. und frühen 19. Jahrhundert: Etwa ab dem zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts nahmen die Bevölkerung und die Konsumgüterpreise in Westeuropa allgemein wieder zu, während die Reallöhne umgekehrt deutlich zu sinken begannen. Diese Bewegung setzte sich verbreitet bis ins zweite Viertel des 19. Jahrhunderts fort. Die beginnende Industrialisierung vermochte diesen säkularen Trend vorerst nicht zu brechen. Zwar begünstigte der technologische Fortschritt durch die Erhöhung des Angebots an gewerblichen Erzeugnissen die Konsumentinnen und Konsumenten im allgemeinen. Da viele technologische Innovationen arbeitssparender Natur waren, hatte jedoch zur Folge, daß Einkommen von der Handarbeit zu qualifizierter Arbeit umverteilt wurde und sich in vielen traditionellen heimgewerblichen Gebieten technologisch bedingte strukturelle Arbeitslosigkeit einstellte (z. B. Schlesien, Ostwestfalen, Irland in den 1840er Jahren). Der Konsumstandard der breiten Unterschicht verbesserte sich deshalb während der Frühindustrialisierung noch kaum. In dieser Ära herrschten somit ähnliche Grundtendenzen wie im ,langen 16. Jahrhundert‘.7 Die beschriebenen gegenläufigen Wellen von Bevölkerung und Reallohn, teilweise auch der relativen Preise von Konsumgütern, lassen sich im Rahmen eines malthusianischen Modells interpretieren (vgl. Graphik 4).8 Ein malthusianischer Ansatz ist durch Aussagen über demographische Anpassungsprozesse an Schwankungen des Realeinkommens gekennzeichnet. Einem typischen malthusianischen Modell liegen drei Aussagen zugrunde: Erstens wird von einer langfristig stabilen Arbeitsproduktivität mit einem abnehmenden Grenzprodukt ausgegangen (P; vgl. Teil a in Graphik 4). Es wird somit eine im wesentlichen stabile Technologie im Agrarsektor beispielsweise im traditionellen Gewerbe angenommen; soweit technologischer Fortschritt stattfand, beeinflußte er die Arbeitsproduktivität in der Gesamtwirtschaft nur unwesentlich. Eine negatives Grenzprodukt des Arbeitseinsatzes impliziert einen negativen Zusammenhang zwischen dem Arbeitsangebot, das weitgehend durch die Bevölkerungsgröße bestimmt ist, und dem Lohn7

In England scheinen allerdings Reallöhne von Land- beziehungsweise Bauarbeitern nur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gesunken zu sein; für zusätzliche Daten zu Preisen und Löhnen siehe oben Anm. 3.; weiter vgl. Peter H. Lindert/Jeffrey G. Williamson, English Workers’ Living Standards during the Industrial Revolution. A New Look, in: EconHR 36, 1973, 1–25; Joel Mokyr, Is there still Life in the Pessimistic Case? Consumption during the Industrial Revolution, 1790–1850, in: JEconH 48, 1988, 69–92; John Komlos, Shrinking in a Growing Economy? The Mystery of Physical Stature during the Industrial Revolution, in: JEconH 58, 1998, 779–802. 8 Moderne Formulierungen des malthusianischen Ansatzes bei Ronald Lee, Models of Preindustrial Dynamics with Applications to England, in: Charles Tilly (Ed.), Historical Studies of Changing Fertility. Princeton 1978, 155–207; Ronald Lee, Population Homeostasis and English Demographic History, in: JInterH 15, 1985, 635–660; David Weir, Life under Pressure. France and England 1670–1870, in: JEconH 54, 1984, 27–47; Graphik 4 auf der Grundlage des Schemas ebd. 29.

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Graphik 4: Ein malthusianisches Modell demographischer Anpassungsprozesse

satz: Nimmt die Bevölkerung zu (zum Beispiel von Lz auf Lh), so geht der Lohn zurück (in Graphik 4 von wz auf wh). Zweitens wird postuliert, daß demographische Prozesse eine Anpassung an temporäre Schocks gewährleisten (Teil b von Graphik 4). Dies erfolgt durch die Einkommenselastizität von Sterberate (positive check) und Geburtenrate. Die Einkommenselastizität der Sterberate ist negativ, denn mit sinkendem Reallohn nimmt das Risiko von Hunger und Anfälligkeit für Krankheit zu. Dies trifft vor allem auf Einkommensschwankungen im niedrigen Wertebereich zu, weshalb die Funktion der Sterberate S in Graphik 4.b konkav gezeichnet wird. Die Einkommenselastizität der Geburtenrate ist dagegen positiv. Dies hat zum einen biologische Ursachen, denn ein niedriges Einkommen und daraus folgende mangelhafte Ernährung erhöhen die Risiken von Spontanaborten und Streßamenorrhöe und können die Libido vermindern. Niedriges Einkommen kann auch zur Trennung von Ehepartnern führen, die bei geschlechtsspezifisch segregierten Arbeitsmärkten an unterschiedlichen Orten nach Beschäftigung suchen. Eine positive Einkommenselastizität der Geburtenrate kann aber auch durch mehr oder weniger bewußte Strategien von Individuen und Gruppen zustande kommen (preventive check). Die wichtigsten von ihnen sind Geburtenbeschränkung sowie die Bindung der Heirat an die Übernahme einer freien Familienstelle (typischerweise eines landwirtschaftlichen Betriebs) beziehungsweise an den Aufbau eines Heiratsfonds durch das Sparen von Einkommen oder Auszahlen von Erbteilen. Steigt der Reallohn, bedeutet dies, daß ein Heiratsfonds rascher angespart werden kann, daß möglicherweise mehr Familienstellen zur Verfügung stehen und daß Familien sich mehr Kinder wünschen9; im Er9

Letzteres gilt sowohl unter der Annahme, daß Kinder ein Konsumgut darstellen, wie auch unter der für vorindustrielle Verhältnisse wohl wichtigeren Annahme, daß Kinder das Arbeitskräftepotential von Familienwirtschaften erhöhen.

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gebnis erhöht sich also mit steigendem Einkommen die Geburtenrate, wenn auch zum Teil erst mittelfristig und indirekt über eine steigende Heiratsrate. Beim Schnittpunkt der Elastizitäten von Sterbe- und Geburtenraten beträgt das Bevölkerungswachstum 0; auf diesem Punkt sind Reallohn und Bevölkerung im Gleichgewicht (Ez und Lz bzw. Eh und Lz in Graphik 4). Die malthusianische Analyse unterscheidet zwei idealtypische Konstellationen, je nach dem ob die Last der Anpassung hauptsächlich auf der Sterberate oder auf der Geburtenrate liegt. Gz stellt eine Funktion der Geburtenrate dar, die durch eine hohe Elastizität der Geburtenrate auf Reallohnschwankung und damit eine zurückhaltende demographische Strategie der Bevölkerung geprägt ist (moral restraint in der ursprünglichen Formulierung von Malthus). In dieser Konstellation werden durch externe Schocks verursachte Schwankungen des Reallohns vor allem durch eine Veränderung der Geburtenrate verarbeitet; die Sterberate muß für die Rückkehr zum Gleichgewicht nur marginal angepaßt werden. Eine hohe Einkommenselastizität der Geburtenrate führt in der Regel auch zu einem vergleichsweise hohen Realeinkommen (wz). Angesichts der beiden letzteren Sachverhalte wird eine derartige Konstellation als ein demographisches System niedrigen Drucks bezeichnet. Eine pessimistische malthusianische Sicht wird durch eine weitgehend einkommensunelastische Geburtenrate angezeigt (Gh in Graphik 4.b). Die geringe Kapazität der Geburtenrate, Reallohnschwankungen zu absorbieren, führt dazu, daß die Bevölkerungsgröße zu einem Gleichgewichtspunkt mit einem niedrigen Reallohn (wh) hin tendiert, bei dem Reallohnschwankungen vor allem über Veränderungen der Sterberate ausgeglichen werden müssen (vgl. die flache Neigung von S um den Punkt Eh). Eine solche Konstellation wird als System hohen demographischen Drucks bezeichnet. Die dritte Aussage spezifiziert den Zusammenhang zwischen Reallohn und Sterberate genauer und damit auch die zeitliche Frist von Anpassungsvorgängen in Hochdrucksystemen. Konkret erhöht ein sinkender Reallohn bei bereits niedrigem Einkommen die Sterberate nicht unbedingt stetig (ausgezogene Funktion S in Graphik 4.b), sondern erhöht das Risiko von durch zufällige klimatische Ungunst ausgelöste Hungerkatastrophen und von Seuchen. Dies meint also eine Erhöhung der Variabilität der Sterberate, wobei viele normale bzw. eher tiefe Werte wenigen katastrophal hohen Werten gegenüberstehen. In Graphik 4.b wird dies durch eine in ihrer Breite nach unten wachsende unregelmäßige graue Fläche hinter S angezeigt. Folge dieses Sachverhalts ist die denkbare Verzögerung der Anpassung in der Zeit: Reallohnrückgänge brauchen nicht unmittelbar durch eine nachhaltig höhere Sterblichkeit gefolgt zu werden; Katastrophen können erst nach geraumer Zeit eintreten, und ihr Effekt auf die Bevölkerungsgröße ist nicht linear. Unter Umständen vermag erst eine zeitliche Häufung von Katastrophen letztlich die Anpassung von Bevölkerung und Reallohn an eine mittelfristiges Gleichgewicht zu erzwingen.

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Aus den drei Aussagen läßt sich folgende einfache Interpretation der beobachteten langfristigen parallelen Fluktuationen von Reallohn und Bevölkerung gewinnen: Westeuropa war zwischen dem 15. und dem frühen 19. Jahrhundert in der Tendenz ein malthusianisches Hochdrucksystem, in dem die Anpassung an ein langfristiges Gleichwicht träge verlief und deshalb ausgeprägte Schwankungen von Bevölkerung und Reallohn vorkamen. Wie steht es mit der Evidenz für diese Interpretation? Im folgenden sei diese Frage unter fünf Gesichtspunkten betrachtet: Erstens besteht in den Graphiken 1 und 2 zugrunde liegenden Daten wenigstens für das Reich ein negativer Zusammenhang zwischen langfristigem Bevölkerungswachstum über ein Jahrhundert hinweg und der circa 25 Jahre dazu zeitversetzten Veränderung des Reallohns (fünf Städte). Für die Periode 1500–1549 bis 1600–1649 beträgt er –0,4, für 1600–1649 bis 1700–1749 –0,6 und für 1700–1749 bis 1800–1849 noch –0,2. In den ersten beiden Perioden bewegten sich somit Bevölkerung und Reallohn entlang einer negativ steigenden Gerade analog dem Grenzprodukt der Arbeit in Graphik 4.a. Schätzungen mit Hilfe von Spektralanalysen von Zeitreihen auf der Basis von zehnjährigen Mittelwerten für England zwischen Mitte des 16. und frühem 19. Jahrhundert führen zu im Betrag höheren Werten von etwas kleiner als –1.10 Dies ist Evidenz sowohl für eine geringe Änderung der Arbeitsproduktivität innerhalb des jeweiligen Jahrhunderts (im Fall des Reichs) als auch für die kurz- und mittelfristige Nicht-Anpassung der Bevölkerungsgröße an Veränderungen des Reallohns. Der schwache Zusammenhang in der letzten Periode deutet das Ende eines malthusianischen Systems an, das dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die augenscheinliche Parallele von starkem Bevölkerungswachstum und einer allgemeinen Steigerung der Realeinkommen abgelöst wurde. Dieser vor dem Hintergrund anhaltenden technologischen Fortschritts zu sehende Strukturbruch um die Mitte des 19. Jahrhunderts grenzt die hier betrachtete Ära von der neueren Zeit ab. Zweitens deutet eine wenigstens impressionistische Betrachtung der zeitlichen Streuung großer Hungerkrisen und Seuchen auf eine Häufung solcher Katastrophen in Endphasen einer postulierten malthusianischen langen Welle (hohe Bevölkerungsgröße, niedriger Reallohn) hin. In Deutschland erfolgten in den Jahren 1815/17, 1830 sowie 1847/48 in relativ engem zeitlichen Abstand Hungerkrisen, die offenbar gravierender waren als die wichtigsten Krisen des 18. Jahrhunderts (insbesondere 1738/40, 1770/71).11 Auf England, das im 19. Jahrhundert kaum mehr Hungerkrisen erfuhr, trifft dies allerdings nicht zu. Dagegen läßt sich von den 1580er bis in die 1620er Jahre mit einer 10

Lee, Population Homeostasis (wie Anm. 8), 651, 654–656. Hans-Heinrich Bass, Hungerkrisen in Preußen während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. St. Katharinen 1991; Joel Mokyr, Why Ireland Starved. A Quantitative and Analytical History of the Irish Economy, 1800–1850. London 1993. 11

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Ausnahme in jedem Jahrfünft wenigstens eine deutliche Mortalitätskrise beobachten; in der Subperiode 1541–1650 (analog auch danach bis 1799) wiesen Fünfjahresperioden mit Mortalitätskrisen einen um 6% tieferen Reallohn als die übrigen Fünfjahresperioden auf. Zugleich unterschieden sich die beiden Gruppen an Fünfjahresperioden praktisch nicht hinsichtlich des Niveaus der Sterblichkeit gemessen an der Lebenserwartung oder der Sterberate; der Reallohn beeinflußte somit die Variabilität der Sterblichkeit stärker als das Niveau.12 Dieser Befund läßt sich gut als Folge einer aufgrund sinkender Reallöhne sehr verletzlich gewordenen Bevölkerung und somit als Ausdruck des malthusianischen positive check im Sinne der dritten oben formulierten These interpretieren. Offensichtlich gelang der Bevölkerung mittelfristig keine Anpassung an die seit den 1560er Jahren beobachtbare allgemeine Klimaverschlechterung. Damit konsistent sind die Hinweise aus Mitteleuropa, daß auf sinkende Agrarerträge mit einer Ausweitung der Ackerflächen reagiert wurde, was zur Reduktion der Viehherden und damit zur Verringerung sowohl des Düngeraufkommens (was Bodenerträge wiederum negativ beeinflußte) als auch der Proteinversorgung führte. Trotz sinkenden Lebensstandards wuchs die Bevölkerung weiter bis ins frühe 17. Jahrhundert.13 Drittens lassen sich sowohl die Entwicklung der Konsumgüterpreise (Graphik 2), die Preise einzelner Produkte sowie schließlich die Entwicklung des neben dem Arbeitslohn zentralen weiteren Faktorpreises, nämlich der Bodenrente, aus einer malthusianischen Perspektive interpretieren. Bei gegebenen Landressourcen führt eine steigende Bevölkerung über eine Erhöhung der Nachfrage nach Land zu einer Zunahme der Bodenrente. In der Tat nahm in England die reale Bodenrente um 1600 und um 1800 stark zu, also in Phasen eines starken Bevölkerungswachstums, bei gleichzeitig niedriger Wahrscheinlichkeit, daß auch Produktivitätsfortschritte zu dieser Entwicklung beigetragen haben. Im Umfeld der spätmittelalterlichen Agrarkrise nahm die Bodenrente ab, während vom zweiten Viertel des 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts wenigstens die Relation zwischen Bodenrente und Lohn konstant blieb.14 Ein analoges Argument gilt für den Zusammenhang 12

Wrigley/Schofield, Population History (wie Anm. 5), 333, für die Mortalitätskrisen; ansonsten wurde der Standard-Datensatz dieser Studie mit der Reallohnreihe von Phelps-Brown verwendet (Internet: http://www.swan.ac.uk/history/teaching/teaching %20resources/ PlaguetoAids/datasets/list.htm). 13 Pfister, Klimageschichte (wie Anm. 4), Bd. 2, 82–97. 14 Gregory Clark, Land Rental Values and the Agrarian Economy. England and Wales, 1500–1914, in: European Review of Economic History 6, 2002, 281–308, hier 302–305. Hinweise aus deutschem Material bei Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur (wie Anm. 1), 132. In Frankreich scheint der Zusammenhang zwischen Bodenrente und Bevölkerungswachstum deutlich schwächer ausgeprägt zu sein, wobei unklar ist, welche Rolle die starke Zunahme der Besteuerung des Bodens im 17. Jahrhundert spielt; Philip T. Hoffman, Growth in a Traditional Society. The French Countryside, 1450–1815. Princeton 1996, 49–62, 88–93.

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zwischen den Preisen wichtiger Konsumgüter und der Bevölkerungsgröße: Nimmt die Nachfrage nach in der Regel unelastisch nachgefragten Grundnahrungsmitteln aufgrund wachsender Bevölkerung zu, bleibt aber das Angebot angesichts gegebener Landressourcen und Agrartechnologie konstant, folgen Preiserhöhungen. In der Tat stiegen im langen 16. Jahrhundert die Preise von Getreide stärker als diejenigen von einkommenselastisch nachgefragten superioren Gütern wie Fleisch, Milchprodukten und Textilien; ähnliches ist für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zu beobachten. Umgekehrt stabilisierten oder verbesserten sich die relativen Preise dieser Güter gegenüber Getreide zwischen dem zweiten Viertel des 17. und der Mitte des 18. Jahrhunderts. Parallel zu den Reallöhnen fluktuierten somit auch die relativen Preise zwischen verschiedenen Konsumgütern entsprechend der Einkommenselastizität ihrer Nachfrage.15 Gemischte Evidenz findet man viertens, wenn man die kurzfristigen Reallohnelastizitäten vitalstatistischer Reihen betrachtet. Allerdings sind verläßliche Zeitreihen auf jährlicher Basis für mehrere Länder erst für die Zeit ab circa Mitte des 18. Jahrhunderts verfügbar, in der sich das malthusianische Hochdrucksystem, so es denn existierte, aufzulösen begann. Problematisch ist zudem der Sachverhalt, daß diese Analysen nicht auf Zeitreihen von Reallöhnen zurückgreifen können, sondern an deren Stelle Getreidepreise verwenden. In einem durch bäuerliche Familienbetriebe geprägten Kontext zeigt ein steigender Getreidepreis steigende Realeinkommen an, während in einem Kontext mit Großbetrieben bzw. zahlreichem Gesinde und einer unterbäuerlichen Schicht von Taglöhner(inne)n ein hoher Getreidepreis geringe Beschäftigung (wegen geringer Ernten) und eine geringe Kaufkraft von Löhnen, mithin geringe Realeinkommen anzeigen. Die auf der Basis national aggregierter Zeitreihen geschätzten Elastizitäten mögen deshalb auf nicht angemessenen Spezifikationen basieren.16 Zunächst zeigen diese Forschungen, daß der Stellenmechanismus, dem besonders die ältere deutsche Sozialgeschichte eine große Rolle als Anpassungsmechanismus beimaß, höchstens Wiederverheiratungen beeinflußte; Verluste der Träger einer Funktionsrolle mußten rasch wiederbesetzt wer15 Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur (wie Anm. 1), 124–128; Philip T. Hoffmann/ David S. Jacks/Patricia A. Levin/Peter H. Lindert, Real Inequality in Europe since 1500, in: JEconH 62, 2002, 322–355, hier 330–333. 16 Für das Folgende siehe Ronald Lee, Short-term Variation. Vital Rates, Prices, and Weather, in: Wrigley/Schofield, Population History (wie Anm. 5), 356–401; Patrick R. Galloway, Basic Patterns in Annual Variations in Fertility, Nuptiality, Mortality, and Prices in Preindustral Europe, in: Population Studies 42, 1988, 275–303; ders., Secular Changes in the Short-term Preventive, Positive, and Temperature Checks to Population Growth in Europe, 1460–1909, in: Climatic Change 26, 1994, 3–63; Weir, Life under Pressure (wie Anm. 8); Georg Fertig, Marriage and Economy in Rural Westphalia, 1750–1850. A Time Series and Cross-sectional Analysis, in: Isabelle Devos/Liam Kennedy (Eds.), Marriage and Rural Economy. Western Europe since 1400. Turnhout 1999, 243–271.

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den.17 Die Bedeutungslosigkeit des Stellenmechanismus ist kompatibel zum sehr verbreitet angetroffenen Befund eines langfristigen Anwachsens unterbäuerlicher und in diesem Sinn stellenloser Haushalte in der Frühen Neuzeit.18 Demgegenüber finden die meisten Studien einen negativen kurzfristigen Zusammenhang zwischen Heiratsrate und Getreidepreis, was als Evidenz für die Relevanz des Heiratsfond-Konzepts als Anpassungsmechanismus zu werten ist. Allerdings variiert die Stärke dieses Zusammenhangs in den einzelnen Ländern über das 18. und frühe 19. Jahrhundert hinweg in schwierig zu interpretierender Weise; möglicherweise überlagern sich Veränderungen der Agrarstruktur (vgl. die obigen methodischen Bemerkungen) mit Verhaltensänderungen. Am ehesten zur Interpretation des frühneuzeitlichen Westeuropa als malthusianischem Hochdrucksystem paßt eine Analyse zu Frankreich im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert: Zwar existierte ein moderater preventive check im Sinn eines negativen Zusammenhangs zwischen Getreidepreis und Heiratsrate, doch die Sterberate reagierte stark auf Getreidepreisausschläge; die Hauptlast der Anpassung lag somit auf der Sterberate. Im weiteren 18. Jahrhundert nahm die Elastizität beider Vitalraten auf den Getreidepreis ab, wobei besonders in Nordfrankreich parallel Getreidepreisfluktuationen zurückgingen.19 Im Gegensatz dazu waren in England die fraglichen Elastizitäten schon früher eher gering; zudem dominierte der Zusammenhang zwischen einer steigenden Arbeitsnachfrage und dem Reallohn den negativen Einfluß der Bevölkerungsgröße auf die letztere Variable; die Bedeutung malthusianischer Zusammenhänge war somit bescheiden.20 Damit ist fünftens auf deutliche Grenzen einer (pessimistischen) malthusianischen Interpretation einzugehen. Einerseits hob sich der nordwestliche Teil des Kontinents hinsichtlich der Entwicklung des Reallohns vom Rest des Kontinents deutlich nach oben ab (vgl. Graphik 1). Neben England betraf dies die Niederlande sowie in den Graphik 1 zugrunde liegenden Daten auch die Städte Antwerpen und (bis ins frühe 18. Jahrhundert) Danzig. Die 17

Georg Fertig, The Invisible Chain. Niche Inheritance and Unequal Social Reproduction in Pre-industrial Continental Europe, in: History of the Family 8, 2003, 7–19. 18 Werner Troßbach/Clemens Zimmermann, Die Geschichte des Dorfes. Stuttgart 2006, 58–73, 108–120. 19 Weir, Life under Pressure (wie Anm. 8), 42; David Weir/Peter Weir, Markets and Mortality in France, 1600–1789, in: John Walter/Roger Schofield (Eds.), Famine, Disease and the Social Order in Early Modern Society. Cambridge 1989, 201–234; Galloway, Secular Changes (wie Anm. 16), 23 f., 50 f. 20 Lee, Population Homeostasis (wie Anm. 8), 660. Lee betont auch die Möglichkeit, daß im englischen Fall Fruchtbarkeit und Sterblichkeit extern determiniert werden, während die obige Formulierung einer malthusianischen Bevölkerungsweise eine endogene Verursachung postuliert. Es bleibt bei ihm ein negativer Zusammenhang zwischen Bevölkerungsgröße und Reallohn und die Bedeutung, die damit das Bevölkerungswachstum für Fluktuationen des Reallohns einnimmt.

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Teile Europas, die den Kern der sich seit dem späten 17. Jahrhundert dynamisch entwickelnden Atlantischen Ökonomie bildeten bzw. mit ihr eng verbunden waren21, erfuhren somit wenigstens nach dem späteren 16. Jahrhundert ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum, wodurch die Bevölkerungsentwicklung stärker durch die Arbeitsnachfrage als durch demographische Fluktuationen bestimmt wurde. Andererseits verdoppelte sich von 1500 bis 1800 die westeuropäische Bevölkerung in etwa, gleichzeitig gingen die Reallöhne von Bauarbeitern in vierzehn Städten im selben Zeitraum nur um etwa ein Fünftel zurück.22 Die Tragfähigkeit Westeuropas nahm somit insgesamt deutlich zu bzw. die Bevölkerungsdynamik Westeuropas kann höchstens zum Teil durch Schocks und auf ein stabiles Gleichgewicht hin tendierende demographische Anpassungsprozesse interpretiert werden. Wichtige Erklärungen dieser Zunahme der Nachfrage nach Arbeitskräften verweisen auf arbeitsintensive Innovationen der Agrartechnik, welche die Arbeitsproduktivität in der Landwirtschaft nachhaltig steigerten, sowie die Vermehrung der Zahl an Gewerberegionen im Rahmen der Protoindustrialisierung. Die Vertiefung interregionaler Arbeitsteilung entlang von komparativen Vorteilen war somit ein weiterer Vorgang, der die Arbeitsproduktivität langfristig erhöhte.23 Insgesamt erscheint ein negativer kurz- und mittelfristiger Zusammenhang zwischen Bevölkerungsgröße und Reallohn gut nachgewiesen. Er deutet auf eine in einem mittelfristigen Zeithorizont stabile Arbeitsproduktivität und eine beschränkte Kapazität der Bevölkerung zur Anpassung ihres Arbeitsangebots an Reallohnfluktuationen hin. Die Wirkungsweise langfristiger Anpassungsprozesse bleibt allerdings zu einem erheblichen Teil unklar. Nur für einen (immerhin wenigstens klassischen) Fall – Frankreich im späten 17. und 18. Jahrhundert – kann eine Konstellation hohen Drucks beobachtet werden. Vorindustrielle Bevölkerungsweisen lohnen deshalb weitere Forschung.

21

Danzig war über den Ostseehandel, vor allem den Export von Getreide, dessen Dynamik allerdings seit dem späten 17. Jahrhundert nachließ, eng mit den Niederlanden verbunden; vgl. Milja van Tielhof, The „Mother of all Trades“. The Baltic Grain Trade in Amsterdam from the Late 16th to the Early 19th Century. Leiden 2002. 22 Dies entspricht einer Elastizität von -0,25. 23 Zum Nachweis einer langfristigen Produktivitätssteigerung im Agrarsektor siehe Hoffman, Growth in a Traditional Society (wie Anm. 14), 129–136; Mark Overton, Agricultural Revolution in England. The Transformation of the Agrarian Economy 1500– 1850. Cambridge 1996, 81–88; Clark, Land Rental Values (wie Anm. 14), Manuskriptfassung (www.econ.ucdavis.edu/faculty/gclark/papers/rentereh.pdf), 47–54; zur Vermehrung der Anzahl an Gewerberegionen Hermann Kellenbenz, Industries Rurales en Occident de la fin du Moyen Age au XVIIIe siècle, in: Annales 18, 1963, 833–882.

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II. Lange Wellen der Edelmetallversorgung Europas und die Anfänge der Globalisierung Die in Graphik 2 betrachteten Preisindizes reflektieren nur zum Teil den relativen Preis zwischen Arbeit und Konsumgütern bzw. Fluktuationen der Nachfrage nach Konsumgütern nach Maßgabe des Bevölkerungswachstums. So stiegen im langen 16. Jahrhundert sowie im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert nicht nur Konsumgüterpreise, sondern auch die Nominallöhne (im Gegensatz zu den Reallöhnen) deutlich an: im Durchschnitt aller in Graphik 1 berücksichtigten Städten von 1500–1549 bis 1550–1599 um 36%, im folgenden halben Jahrhundert nochmals um 39% sowie von 1750–1799 bis 1800–1849 um 33%.24 Offensichtlich fluktuierte auch das allgemeine Preisniveau und somit der relative Preis der zu Währungszwecken verwendeten Edelmetalle. Die sogenannte Preisrevolution des 16. Jahrhunderts bezieht sich somit auf zwei unterschiedliche Vorgänge, einerseits auf die Verschiebung relativer Preise von Produkten, Arbeit und Land zuungunsten von Arbeit und einkommenselastisch nachgefragten Gütern (siehe oben) sowie andererseits auf eine Reduktion des relativen Preises von Edelmetallen, insbesondere Silber. In den Termini der Quantitätsgleichung von Fisher kommt vor dem Hintergrund des Sachverhalts, daß das reale Volkseinkommen langfristig sicher nicht sank, entweder eine nachhaltige Veränderung der Umlaufgeschwindigkeit bzw. Fluktuationen in der Versorgung der europäischen Wirtschaft mit Edelmetallen als Erklärung für Veränderungen des Preisniveaus in Frage. Die Umlaufgeschwindigkeit kann nicht direkt beobachtet werden; starke und lange anhaltende Verschiebungen dieser Größe erscheinen jedoch unplausibel.25 Hingegen läßt sich eine deutliche Parallele von Fluktuationen des Preisniveaus und des Zuflusses von Edelmetallen in die europäische Wirtschaft beobachten (Tabelle 2). Wie lassen sich Fluktuationen der Edelmetallversorgung erklären? Eine einfache mikroökonomische Analyse, die einen Zusammenhang zwischen der Edelmetallförderung und der Geldnachfrage herstellt, vermag eine Antwort zu bieten (Graphik 5).26

24

Allen, Great Divergence (wie Anm. 2), 416. Vgl. die Kontroverse zwischen Jack A. Goldstone, Urbanization and Inflation. Lessons from the English Price Revolution of the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in: AJSoc 89, 1984, 1122–1160, und Douglas Fisher, The Price Revolution. A Monetary Interpretation, in: JEconH 49, 1989, 884–902. Ebenfalls auf Veränderungen bzw. internationale Diskrepanzen der Umlaufgeschwindigkeit beziehen sich Überlegungen zur Liquiditätspräferenz beziehungsweise der Neigung zu Horten von Charles P. Kindleberger, Spenders and Hoarders. The World Distribution of Spanish American Silver, 1550–1750. Singapur 1989; vgl. die Kritik in Dennis O. Flynn, World Silver and Monetary History in the 16th and 17th Centuries. Aldershot 1996, Kap. 13. 26 Das Folgende stützt sich weitgehend auf Flynn, World Silver (wie Anm. 25), Kap. 5. 25

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Die Frühe Neuzeit als wirtschaftshistorische Epoche Tab. 2: Internationale Edelmetallströme, ca. 1500–1800

Anfang ca. ca. ca. ca. ca. Ende 16. Jh. 1550 1600 1650 1700 1750 18. Jh. 1 Europäische Produktion

85

72

33

25

36

67

90

8

69

265

181

357

609

582

3 Transfer von Afrika nach Westeuropa

15

6

11

18

22

12

12

4 Transfer von Westeuropa nach Nordosteuropa, Levante und Asien

>26

?

109– 129

144

220

315

334

5 Veränderung der monetären Basis in Westeuropa (brutto, Zeilen 1+2+3–4)

l · M1). Dadurch verschiebt sich über mehrere Produktionsperioden hinweg das Geldangebot AB und damit die Geldmenge M nach rechts (Diagramm b). Bei gegebener Geldnachfrage führt dies selbstverständlich zu einem Rückgang des relativen Preises von Edelmetall, also zu Inflation. Damit wird aber auf der Angebotsseite die Förderung bereits wieder weniger attraktiv; bei sinkendem Preis verschiebt sich die Produktionsmenge von F2 ausgehend nach innen. Die Anpassung an den Angebotsschock kommt zum Stillstand in einem neuen Gleichgewicht, bei dem die Edelmetallproduktion genau der durch Verluste und Abnützung bedingten Minderung der Geldmenge entspricht (F3 = l · M3). Je nach dem Verhältnis zwischen dem Umfang des Angebotsschocks und der bereits existierenden Geldmenge kann dieser Anpassungsprozeß längere Zeit in Anspruch nehmen. In einer historischen Situation ist somit denkbar, daß sich während dieses Vorgangs die Geldnachfrage verändert. Bevölkerungs-

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wachstum, steigende Marktintegration auf Kosten von Subsistenzproduktion und die im fraglichen Zeitraum selteneren realen Einkommenszuwächse bewirkten alle eine Erhöhung der Geldnachfrage, somit in Diagramm b eine Verschiebung von NB nach rechts außen. In einem solchen Fall stabilisiert sich der Edelmetallmarkt bei einem deutlichen höheren Preis und höherer Produktionsmenge als der in Graphik 5 abgebildeten Situation 3. Ein weiterer Punkt verdient Beachtung: Ein hoher relativer Preis von Edelmetallen impliziert im Umkehrschluß, daß die Auslösung eines positiven Angebotsschocks kurzfristig besonders attraktiv ist: Mit einer zusätzlichen Produktionsmenge läßt sich ein umfangreicher Korb an anderen Gütern erstehen, und die Ressourcen, die zur Erschließung neuer Vorkommen oder für eine technologische Innovation benötigt werden, sind vergleichsweise billig. Ein positiver Angebotsschock ist damit besonders in Zeiten zu erwarten, die durch einen hohen relativen Preis von Edelmetall charakterisiert sind. Die hier vorgelegte einfache mikroökonomische Analyse des Geldangebots in einer Metallwährung erlaubt somit die Generierung langfristiger Wechsellagen der Geldversorgung: Ein hoher relativer Preis von Edelmetall schafft einen Anreiz zur Erschließung neuer Vorkommen sowie für technologische oder organisatorische Innovationen in bestehenden Minen. Ein positiver Angebotsschock ist damit in einer solchen Situation besonders wahrscheinlich. Durch die Folgen einer Produktionssteigerung von Edelmetallen auf die Geldmenge wird jedoch ein Anpassungsprozeß ausgelöst, der über die Reduktion des relativen Preises von Edelmetall die Fördermenge wieder reduziert, und zwar auf die Ausstoßmenge, die für den Ersatz von verlust- und abnützungsbedingten Minderungen der gewachsenen Geldmenge erforderlich ist. Unabhängig davon erfolgende Fluktuationen der Geldnachfrage können allerdings die Auswirkungen eines Angebotsschocks und die Anpassung daran auf Produktionsmengen und relative Edelmetallpreise überlagern. Die verfügbaren Informationen zur europäischen Edelmetallversorgung und zum Preisniveau ergeben ein mit dieser Analyse konsistentes Bild. Der erste große Edelmetallzyklus der Neuzeit setzte in den mittleren Jahrzehnten des 15. Jahrhundert ein. Im zweiten Viertel des 15. Jahrhundert ging das Volumen von Münzprägungen allgemein deutlich zurück und verharrte auch noch im dritten Viertel des 15. Jahrhundert auf einem tiefen Niveau. Entsprechend erreichten die Güterpreise allgemein im dritten Viertel des 15. Jahrhundert Minimalwerte.27 In den Termini des eben entfalteten Mo-

27

Allen, Great Divergence (wie Anm. 2), 424 f.; John H. Munro, The Monetary Origins of the ,Price Revolution‘. South German Silver Mining, Merchant Banking, and Venetian Commerce, 1470–1540, in: Dennis O. Flynn/Arturo Giráldez/Richard von Glahn (Eds.), Global Connections and Monetary History, 1470–1800. Aldershot 2003, 2 f., 16 f.; klassisch John Day, The Medieval Market Economy. Oxford 1987, Kap. 1 und 2.

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dells bestanden angesichts dieses verbreiteten ,Edelmetallhungers‘ somit klare Anreize, das Edelmetallangebot zu erhöhen. Konkret stellten sich in den mittleren Jahrzehnten des 15. Jahrhundert zwei Innovationen ein: Erstens erfuhren der Silberbergbau und die Silbergewinnung in Zentraleuropa, d. h. besonders in Tirol und Sachsen, eine Reihe von technischen Innovationen, welche die verfügbare Geldmenge in Westeuropa deutlich vermehrte. Hervorzuheben sind besonders die Erfindung des Saigerprozesses zum Erschmelzen des Silbers aus Erz mittels der Beifügung von Blei sowie Verbesserungen der Bergbautechnik durch den Einsatz von Pumpen in der Wasserhaltung, was die Ausbeutung tiefer gelegener Vorkommen ermöglichte.28 Zweitens stimulierte die Edelmetallknappheit sowohl Exporte in außereuropäische Regionen als auch die Suche nach neuen Vorkommen. Die Edelmetallknappheit war eine Haupttriebfeder der europäischen Expansion im 15. und frühen 16. Jahrhundert: Sie stellte eine wichtige Grundlage für die Expansion der portugiesischen Handelsbeziehungen entlang der westafrikanischen Küste in die Nähe der Goldfördergebiete im Bergland von Guinea sowie der ,Costa da Mina‘ (der späteren Goldküste, Ghana) dar, wo Warenpreise höher und Edelmetalle umgekehrt günstiger zu haben waren. Wieweit dadurch effektiv am Ende des 15. Jahrhundert mehr Gold nach Südeuropa gelangte als zuvor über die Sahara und das Mittelmeer ist allerdings nicht ganz gewiß. Auch die Entdecker Amerikas waren sowohl auf Gewürze als auch auf Edelmetalle aus, und sie schritten rasch zur Entwicklung der entsprechenden Vorkommen, insbesondere auf Kuba. Im frühen 16. Jahrhundert wurde so die Edelmetallversorgung Westeuropas in erster Linie durch den zentraleuropäischen Silberbergbau sowie den Goldzufluß aus Guinea und der Karibik gewährleistet.29 Der zentraleuropäische Silberbergbau geriet allerdings aufgrund der Erschöpfung von Vorkommen ab den 1540er Jahren in eine Krise, und der Zufluß von Gold aus Westafrika scheint angesichts der Konkurrenz amerikanischen Goldes nach den frühen 1530er Jahren zurückgegangen zu sein. Aber auch die Verschiffung amerikanischen Goldes brach nach den 1550er Jahren deutlich ein. Nachhaltig substituiert wurden alle diese Quellen durch die Erschließung von Silbervorkommen in Mexiko und Potosí (Bolivien, damals Vizekönigreich Peru) ab den 1530er Jahren. Allerdings setzte der große 28

Munro, Monetary Origins (wie Anm. 27), 1–34. Zur portugiesischen Erschließung Westafrikas siehe Vitorino Magalhaes-Godinho, L’Economie de l’empire portugais aux XVe et XVIe siècles. Paris 1969; Pierre Vilar, Gold und Geld in der Geschichte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. München 1984, 61, bemerkt, daß Kolumbus in seinem Reisetagebuch vom 12. Oktober 1492 bis zum 17. Januar 1493 Gold wenigstens 65 mal erwähnte. Für einen Überblick über die Edelmetallversorgung Europas siehe Ward Barrett, World Bullion Flows, in: James D. Tracy (Ed.), The Rise of Merchant Empires. Long-distance Trade in the Early Modern World, 1350–1750. Cambridge 1990, 224–254. 29

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amerikanische Silberboom erst mit der Verbreitung der Technik der Silbergewinnung mittels der Amalgamierung von Erz mit Quecksilber ein. In Mexiko erfolgte diese Innovation in den 1550er Jahren, in Potosí ab den 1570er Jahren.30 Das Volumen der amerikanischen Silbergewinnung im 17. Jahrhundert ist nicht leicht zu bestimmen, da die Bergbauunternehmer einen unbestimmbaren Teil ihrer Produktion staatlicher Besteuerung entzogen. Auch wurde Silber nicht nur durch Amalgamierung, sondern auch durch Schmelzen gewonnen, was der Bestimmung der Silberproduktion über den Quecksilberverbrauch, der leichter als die Silbergewinnung zu erfassen ist, Grenzen setzt. Es ist jedoch davon auszugehen, daß die Silberproduktion nach dem ersten Viertel des 17. Jahrhundert mindestens bis zur Jahrhundertmitte deutlich zurückging, um etwa seit der Wende zum 18. Jahrhundert wieder zuzunehmen.31 Auch die Interpretation dieser Entwicklung ist nicht ganz einfach. Entsprechend der Quantitätstheorie ist die Erhöhung des europäischen Preisniveaus im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert als Folge der Ausdehnung der Geldmenge aufgrund der starken Silberzuflüsse zu betrachten. Inflation implizierte hinwiederum einen Rückgang des Silberpreises; im Sinne des oben dargestellten Modells kann der Rückgang der Förderung vor allem im zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts somit als Anpassung des Angebots an den gesunkenen Preis des hergestellten Guts interpretiert werden. Alternativ ist denkbar, daß die Silberproduktion auch wegen der Erschöpfung von Vorkommen zurückging, also entsprechend der Darstellung in Graphik 5 eine allmähliche Verschiebung der Angebotsfunktion nach links erfolgte. Auf den ersten Blick spricht hierfür, daß der Rückgang der ameri30

Zu den portugiesischen Goldexporten aus Afrika siehe Ivor Wilks, Wangara, Akan and Portuguese in the Fifteenth and Sixteenth Ccenturies, in: ders., Forests of Gold. Essays on the Akan and the Kingdom of Asante. Athens 1993, 1–39, wieder abgedruckt in: Peter J. Bakewell (Ed.), Mines of Silver and Gold in the Americas. Aldershot 1997, 1–39, hier 25; zur Verlagerung von Gold- zu Silberexporten aus Amerika siehe Earl J. Hamilton, American Treasure and the Price Revolution in Spain, 1501–1650. 2. Aufl. New York 1977 (1. Aufl. New York 1934), 42; zur Technik der Silbergewinnung Peter J. Bakewell, Mining in Colonial Spanish America, in: Cambridge History of Latin America. Vol. 2. Cambridge 1984, 105–151, hier 110–119. 31 Zentral für die Dokumentation der Relevanz des Schmuggels ist die vor allem auf niederländische Zeitungsberichte gestützte – deswegen auch oft als unpräzise kritisierte – Studie von Michel Morineau, Incroyables gazettes et fabuleux métaux. Les retours des trésors américains d’après les gazettes hollandaises (XVIe–XVIIIe siècles). Paris/Cambridge 1985. Zur vergleichenden Diskussion unterschiedlicher Schätzungen siehe Barrett, World Bullion Flows (wie Anm. 29), 224–245, der wie Tabelle 2 Morineau weitgehend folgt. Nützliche grafische Darstellungen von Zeitreihen der Produktion basierend auf primär staatlichen Quellen finden sich bei Richard L. Garner, Long-term Silver Mining Trends in Spanish America. A Comparative Analysis of Peru and Mexico, in: Latin American Historical Review 93, 1988, 898–935, hier insbes. 900.

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kanischen Silberimporte in Europa zu erheblichen monetären Wirren und zu Wellen von Kupferinflationen führte, vor allem zwischen etwa 1620 und dem dritten Viertel des 17. Jahrhunderts. Die Geldnachfrage wurde angesichts eines reduzierten Silberzuflusses teilweise durch Scheidemünzen aus Kupfer befriedigt.32 Allerdings war dieser Sachverhalt außerhalb der Produzentenländer (insbesondere Schwedens) vor allem in Spanien verbreitet. Doch läßt sich die Situation Spaniens wenigstens zum Teil durch Schwierigkeiten in der Stabilisierung der Staatsausgaben erklären. In Amerika ging zwar die Silberproduktion einzelner Bergbaugebiete tatsächlich wegen der Erschöpfung der Vorkommen zurück. Dies betrifft insbesondere den Standort von Potosí, der einen Solitär darstellte, so daß sich dessen Produktion nur begrenzt durch die Ausbeutung benachbarter Vorkommen substituieren ließ. Anders lag die Situation in Zacatecas (Mexiko), wo die Produktion im Fall des Erschöpfens bestehender Minen leicht auf räumlich benachbarte Vorkommen verlagert werden konnte. Doch scheint sich die Exploration und Erschließung neuer Vorkommen angesichts des zunächst geringen Silberpreises erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts wieder deutlich gelohnt zu haben, als Kaufleute und Minenbesitzer substantielle Neuinvestitionen zu tätigen begannen und damit einen zweiten langen Zyklus in der Edelmetallversorgung Europas einleiteten.33 In die 1690er Jahre fällt auch die Erschließung reicher Goldvorkommen in Minas Gerais (Südbrasilien). Diese leistete den überwiegenden Beitrag zur in Tabelle 2 dokumentierten starken Zunahme von Edelmetallflüssen von Amerika nach Europa im ersten Teil des 18. Jahrhunderts. Der Höhepunkt des nachfolgenden Abbauzyklus fiel allerdings bereits in die Zeit ca. 1735–1755; danach fielen Produktion und Transfer von Gold nach Europa deutlich zurück. Wieweit inflationärer Druck weitere Erschließungen unprofitabel werden ließ, wird aus den verfügbaren Informationen nicht klar. Jedenfalls wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Niveau der Edelmetalltransfers aus Amerika nach Europa nur durch die rasche Expansion der mexikanischen Silbergewinnung aufrechterhalten.34 In Mexiko wurde der erneute Aufschwung durch staatliche Reformen unterstützt, die über die Reduktion der Kosten für wichtige Vorleistungen (Quecksilber, Preise für Nahrungsmittel) sowie Steuerreduktionen die Ko32 Frank C. Spooner, International Economy and Monetary Movements in France, 1493–1725. Cambridge, Mass. 1972, 41–53. 33 Bakewell, Mining (wie Anm. 30), 148 f.; David A. Brading, Miners and Merchants in Bourbon Mexico, 1763–1810. Cambridge 1971; Garner, Long-term Silver Mining Trends (wie Anm. 31), 906 f., 913 f. 34 Anthony J. R. Russell-Wood, Colonial Brazil. The Gold Cycle, c. 1690–1750, in: Cambridge History of Latin America. Vol. 2. Cambridge 1983, 547–600, insbes. 593–595; vgl. auch Morineau, Incroyables gazettes (wie Anm. 31), Kap. 2, insbes. 136 f., 159 f.; zusammenfassend 593–598.

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stenstruktur der Silbergewinnung deutlich verbesserten. Die letzte dieser Maßnahmen war die ausgedehnte Visitation unter Gálves (1765–1771), die zur Reform der Quecksilberminen in Almadén (Spanien) sowie zur Einführung des Freihandels im Spanischen Kolonialreich führte und auf diese Weise nochmals eine deutliche Beschleunigung des Wachstums der mexikanischen Silberproduktion begünstigte.35 Zwischen die beiden Expansionsphasen der Edelmetallförderung von der Mitte des 15. zum frühen 17. Jahrhundert bzw. vom späten 17. zum frühen 19. Jahrhundert fiel eine Phase des verminderten Edelmetallzuflusses, die in Europa mit einer Reduktion des Preisniveaus einherging. Ein Preisrückgang ist insofern auf den ersten Blick nicht mit dem formulierten Modell konsistent, als dieses vielmehr eine Stabilisierung des Preises von Edelmetallen auf einem niedrigen Niveau erwarten läßt. Allerdings ist der Tatbestand zu berücksichtigen, daß der Prospektion und Erschließung neuer Bodenschätze ein stochastisches Element innewohnt: Auch beim Vorhandensein eines Anreizes zur Prospektion neuer Vorkommen ist der Zeitpunkt des Erfolgs diesbezüglicher Bemühungen relativ offen, was Raum für eine erhebliche Verzögerung der Anpassung der Förderung an ein Gleichgewichtsvolumen und damit für Phasen von Knappheit bzw. gleichzeitig (im Erfolgsfall) für positive Schocks öffnet. Bei erschöpften Vorkommen muß zudem der Wert von Edelmetallen – wie dies der mexikanische Fall nahelegt – zunächst erheblich steigen, bevor Investitionen in die erneute Inwertsetzung mittels verbesserter Technologie bzw. Organisation profitabel werden. Darüber hinaus ist allerdings auf zwei weitere Erklärungen für den beobachteten Preisrückgang zu verweisen: Erstens sanken die Nominallöhne in Westeuropa deutlich schwächer als die Konsumgüterpreise – in den in Graphik 1 berücksichtigten Städten im Jahrhundert zwischen 1600–1649 und 1700–1749 um etwa 13%.36 Der Preisrückgang von Konsumgütern in dieser Ära reflektiert damit zum Teil einen malthusianisch bedingten Rückgang des Nachfragedrucks. Zweitens führte der starke Silberzustrom nach Europa im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert zu einem Potential für Arbitrage zwischen Westeuropa und Süd- und Südostasien bzw. China, denn der gleichzeitige Zufluß von japanischem Silber und über den Pazifik transportiertem amerikanischen Silber in diesen Raum war deutlich geringer. Dieser Tatbestand schuf divergierende Inflationsraten – in den 1580er Jahren wurden chinesische Exportgüter als spottbillig gepriesen – und damit ein Potential für den Handel mit Produkten und Edelmetallen zwischen den beiden Räumen. Dieses Potential wurde erst zeitversetzt durch die Expansion der niederländischen bzw. englischen ostindischen Handelskompanien ausgeschöpft; erst durch institu35 36

Siehe die in Anm. 33 aufgeführten Studien. Allen, Great Divergence (wie Anm. 2), 416.

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tionelle und organisatorische Innovationen der Niederländer zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde die Kaproute gegenüber der alten Karawanenroute durch den Orient nachhaltig konkurrenzfähig. Sinkende Transportkosten reduzierten so die Preisspanne, in der Arbitrage stattfinden konnte. Tatsächlich ist für die ersten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts als Beispiel für Produktpreiskonvergenz ein drastischer Preisverfall von Pfeffer in Westeuropa zu beobachten, und bis zum dritten Viertel des 17. Jahrhunderts glich sich die Gold-Silber-Preisrelation global auf ein Niveau von etwa 14 an. Die diesen Konvergenzprozessen zugrundeliegende Arbitrage war mit einem erheblichen Edelmetallabfluß aus Europa verbunden: Die allerdings nur sehr groben Schätzungen deuten darauf hin, daß um 1600 etwa die Hälfte, um 1650 etwa drei Viertel und um 1700 noch knapp zwei Drittel der aus Amerika nach Europa transferierten Edelmetallmengen weiter nach Osten versandt wurden; das Wachstum der monetären Basis der westeuropäischen Wirtschaften war somit schon ohne Berücksichtigung der Minderung durch Verlust an Münzen bzw. deren Abnützung im Vergleich zur Zeit um 1600 bzw. zum 18. Jahrhundert gering (vgl. Tabelle 2). Dies entfaltete besonders in den mittleren Jahrzehnten des 17. Jahrhundert eine deflationäre Wirkung auf das europäische Preisniveau.37 Insgesamt können somit für Westeuropa zwischen Mitte des 15. und dem frühen 19. Jahrhundert langfristige Wechsellagen in der Gewinnung von Edelmetallen und des Preisniveaus festgestellt werden. Im Sinne des zu Beginn dieses Abschnitts entwickelten Modells schufen Phasen tiefer Güterpreise, die einen hohen Preis für Edelmetalle implizieren, den Anreiz zu technologischen Innovationen oder Neuerschließungen, welche das Edelmetallangebot nachhaltig ausweiteten. Soweit starke positive Angebotsschocks der Edelmetallförderung den monetären Wert von Edelmetallen sinken ließen, reduzierten sich mittelfristig die Anreize, erschöpfte Minen durch die Prospektion und Erschließung neuer Vorkommen zu ersetzen. Angesichts des stochastischen Charakters dieses Prozesses bestand auch Raum für längere Phasen des sinkenden Preisniveaus, bis die wachsenden Anreize zur Auffindung und Inwertsetzung neuer Vorkommen bzw. zur Implementierung technologischer Innovationen einen positiven Angebotsschock auslösten. Sowohl die relative Knappheit an Edelmetallen als auch die Anpassung an positive Angebotsschocks, die jeweils vor allem Westeuropa und zunächst 37

Dennis O. Flynn/Arturo Giráldez, Arbitrage, China, and World Trade in the Early Modern Period, in: Journal of the Economic and Social History of the Orient 38, 1995, 429–448; wieder abgedruckt in: Dennis O. Flynn/Arturo Giráldez/James Sobreno (Eds.), European Entry in the Pacific. Spain and the Acapulco-Manila Galleons. Aldershot 2001, 261–280; Niels Steensgaard, Freight Costs in the English East India Trade, 1601– 1657, in: Scandinavian Economic History Review 13, 1965, 143–162; C. H. H. Wake, The Changing Pattern of Europe’s Pepper and Spice Imports, ca. 1400–1700, in: JEEH 8, 1979, 361–403, hier 388–392.

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nur deutlich schwächer den Rest der Welt betrafen, stellten beide sehr starke Motive dar, den Handel mit und die punktuelle Kontrolle außereuropäischer Gebiete zu intensivieren. Die Wechsellagen der Edelmetallversorgung Westeuropas stellen damit einen Hauptfaktor hinter der von der europäischen Weltwirtschaft ausgehenden Globalisierung dar. Soweit die Vertiefung des internationalen Handels durch die dadurch mögliche Spezialisierung einzelner Regionen auf komparative Vorteile wenigstens in einzelnen Teilen Europas positive Wohlfahrtseffekte nach sich zog, wirkte sie zurück auf eine allmähliche Abschwächung des malthusianischen Zusammenhangs zwischen Bevölkerungsgröße und Reallohn.

III. Schluß Die vorstehenden Ausführungen zeigen, daß Westeuropa zwischen der Mitte des 15. und der Mitte des 19. Jahrhunderts durch zwei lange gegenläufige Wellen von Reallöhnen und Preisniveau gekennzeichnet war. Diese standen in Zusammenhang mit parallelen Fluktuationen der Bevölkerungsgröße und der Edelmetallversorgung der europäischen Wirtschaft. Es erscheint plausibel, wenn auch empirisch schwer systematisch belegbar, daß die letzteren beiden Prozesse sowohl miteinander verbunden als auch in erheblichem Ausmaß endogen bestimmt waren: Ein tiefes Preisniveau (bei hohen Reallöhnen) schuf einen Anreiz sowohl für die Ausweitung des Arbeitsangebots über ein Bevölkerungswachstum als auch zur Exploration und Erschließung neuer Edelmetallvorkommen. Umgekehrt ging ein hohes Preisniveau sowohl mit einem geringen monetären Wert an Edelmetallen wie mit geringen Reallöhnen einher. Ersteres reduzierte die Rentabilität der Edelmetallförderung, mit mittelfristigen Konsequenzen für Fördervolumen und Preisniveau. Letzteres erhöhte vermutlich die Verletzlichkeit der Bevölkerung gegenüber Hungerkrisen und Seuchen, was das Bevölkerungswachstum negativ beeinflußte. Die Fluktuationen der relativen Preise von Arbeit (Reallohn) und Edelmetallen (Preisniveau) verweisen somit auf die wirtschaftliche Bedeutung von in erheblichem Ausmaß endogenen und miteinander verflochtenen malthusianischen Vorgängen einerseits bzw. von Produktionszyklen von Edelmetallen andererseits. Dieser Zusammenhang stellt einen Grundtatbestand der Ära zwischen der Mitte des 15. und der Mitte des 19. Jahrhunderts dar und bildet damit das Signum der Frühen Neuzeit als wirtschaftshistorischer Epoche. Zur späteren Neuzeit hin ist für die Zeit um 1850 gegenüber den geschilderten Mechanismen ein deutlicher Strukturbruch zu konstatieren: Mit der zahlreiche Teile Europas erfassenden Industrialisierung begann ein kontinuierlicher technologischer Fortschritt, der die Arbeitsproduktivität und damit auch die Reallöhne nachhaltig steigerte. Eine Transport- und Kommunika-

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tionsrevolution führte zu einer erheblichen Reduktion der Transport- und Informationskosten im internationalen Handelsverkehr, was das Potential für regionale Spezialisierung erhöhte und damit einen Globalisierungsschub auslöste, aber auch zum Wachstum der Reallöhne beitrug.38 Beides führte dazu, daß sich der negative Zusammenhang zwischen Bevölkerungsgröße und Reallohn auflöste und damit malthusianische Prozesse radikal an Bedeutung verloren. Schließlich implizierte die Verbreitung des Goldstandards in den 1870er Jahren, daß eine moderne Geldpolitik entstand, welche sowohl die Verbreitung von Papier- und Buchgeld erleichterte als auch die Geldversorgung der nationalen Volkswirtschaften wenigstens zum Teil von Veränderungen der weltweiten Edelmetallversorgung unabhängig machte. Die Epochengrenze um die Mitte des 15. Jahrhunderts gegenüber der früheren Zeit ist deutlich weniger klar. Auch der Bevölkerungsausbau des Hochmittelalters und die Agrarkrise des Spätmittelalters lassen sich malthusianisch interpretieren.39 Insofern grenzt die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts einfach zwei malthusianische Wellen voneinander ab. Allerdings ist nicht bekannt, daß es vor der hier behandelten Zeit ähnlich drastische Fluktuationen in der Edelmetallversorgung gegeben hat. Die kommerzielle Revolution des Hochmittelalters dürfte über die deutliche Monetisierung der europäischen Wirtschaft und den Aufbau von Informationsnetzwerken zur Generierung und Verarbeitung von Knappheitssignalen überhaupt erst die Voraussetzung für derartige Fluktuationen geschaffen haben.40 Insofern kommt den früher dargestellten Bestrebungen zur Ausweitung der Edelmetallversorgung Westeuropas um die Mitte des 15. Jahrhunderts durchaus die Qualität eines Strukturbruchs zu. Eher spekulativ stellt sich zum Schluß die Frage, wieweit die hier beschriebenen Prozesse Folgen für außerwirtschaftliche Vorgänge hatten. Drei diesbezügliche Argumente lassen sich entwickeln. Erstens kann in Erweiterung der Analyse relativer Preise von Konsumgütern und Arbeit der Blick auf Ausgaben für religiöse Zwecke gerichtet werden. Eric Wolf hat postuliert, bäuerliche Ökonomien würden ihre Ressourcen auf drei Bereiche verwenden, nämlich auf reproduktive Zwecke, auf landwirtschaftliche Investitionen sowie schließlich auf einen ,rituellen Fonds‘. Die Reihenfolge impliziert, daß religiöse Aktivitäten ein superiores Gut sind, deren Nachfrage somit stark einkommenselastisch ist.41 Damit 38

Kevin H. O’Rourke/Jeffrey Williamson, When Did Globalisation Begin?, in: European Review of Economic History 6, 2002, 23–50. 39 Gregory Clark, Microbes and Markets. Was the Black Death an Economic Revolution?, Ms. UC Davis 2001, Internet: http://www.econ.ucdavis.edu/faculty/gclark/papers/ black1.pdf. 40 Robert S. Lopez, The Commercial Revolution of the Middle Ages, 950–1350. Englewood Cliffs, N. J. 1971. 41 Eric Wolf, Peasants. Englewood Cliffs, N. J. 1966.

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konsistent sind eine Reihe von Befunden aus der religiösen Mentalitätsgeschichte: Das durch hohe Realeinkommen gekennzeichnete 15. Jahrhundert gilt als Ära gesteigerter Volksfrömmigkeit, in der nicht zuletzt auch bäuerliche Gemeinden verbreitet Stiftungen tätigten. Dieser Tatbestand gilt als wichtige Voraussetzung für die Reformation. Analog gilt das spätere 17. und frühe 18. Jahrhundert als Höhepunkt der Barockfrömmigkeit. Umgekehrt finden sich in Phasen sinkender Reallöhne verbreitet Hinweise auf einen Niedergang frommer Stiftungen. Im 16. Jahrhundert mag dies zum Teil mit dem verbreiteten Antiklerikalismus im Umfeld der Reformation zusammenhängen; im 18. Jahrhundert ist aus diesem Sachverhalt auf Anfänge einer Entchristianisierung geschlossen worden.42 Zweitens ist der Sachverhalt zu beachten, daß sich malthusianische Fluktuationen auch auf die Einkommensungleichheit auswirkten. Sinkende Reallöhne, die Verschiebung relativer Preise zuungunsten von Grundnahrungsmitteln und steigende Bodenrenten im Zuge einer wachsenden Bevölkerungsgröße implizierten eine Zunahme der Einkommensungleichheit, eine stagnierende bzw. sinkende Bevölkerung ging mit einem gegenläufigen Trend einher.43 Zum einen kann steigende Einkommensungleichheit zu einem erhöhten Niveau an sozialen Konflikten führen (vgl. oben) und die Problematik sozialer Kontrolle intensivieren. Es ist vor diesem Hintergrund bezeichnend, daß sowohl die Zeit um 1800 als auch diejenige um 1600 als soziopolitische Sattelzeiten, in denen neue Muster staatlicher Macht und politischer Kontrolle entstanden, gelten – beides sind malthusianische Spätphasen steigenden Bevölkerungsdrucks. Zum anderen können sinkende Realeinkommen der breiten Unterschicht und steigende Realeinkommen der landbesitzenden Oberschicht sogenannten lateralen Druck im Sinne eines erhöhten Niveaus militärischer Konflikte zwischen Staaten bewirken. Innere Konflikte können in internationale Konflikte transformiert werden, das steigende Realeinkommen einer adeligen Oberschicht mag deren Neigung zur Investition in politisch-militärische Projekte begünstigen. Hiermit konsistent ist der Sachverhalt, daß am Ende der beiden Phasen langfristigen Bevölkerungswachstums in der fraglichen Ära zugleich zwei Phasen ausgeprägter militärischer Konflikte stehen, nämlich der Dreißigjährige Krieg und die Napoleonischen Kriege.44 Dieser Hinweis auf lateralen Druck könnte zugleich einen wichtigen Unterschied zwischen den malthusianischen Wellen der Neuzeit und dem mittelalterlichen Zyklus darstellen: Aufgrund damals deut42

Peter Blickle, Die Reformation im Reich. 2. Aufl. Stuttgart 1992, 19–35; Michel Vovelle, Piété baroque et déchristianisation en Provence au XVIIIe siècle. Paris 1973. 43 Hoffman/JacksLevin/Lindert, Real Inequality (wie Anm. 15), 339. Diese Analyse berücksichtigt allerdings nur Konsumgüterpreise und Löhne, keine Daten zur Bodenrente. 44 Joshua S. Goldstein, Long Cycles. Prosperity and War in the Modern Age. New Haven 1988, 239 f., 262–264.

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lich größerer Landreserven sowohl zwischen Altsiedlungsgebieten als auch in Zentraleuropa verfügten von sinkenden Realeinkommen bedrohte Menschen im Hochmittelalter über eine Exit-Option, deren Wahrnehmung auch durch fehlende staatliche Kontrollapparate erleichtert wurde.45 Angesichts des weitgehend abgeschlossenen Siedlungsprozesses und des mittlerweile angelaufenen Staatsbildungsprozesses fehlte die Option in der Neuzeit weitgehend. Angesichts seines hoch spekulativen Charakters sei der Ausblick an dieser Stelle beendet. Zum Abschluß ist auch darauf hinzuweisen, daß zwar die hier vorgelegte Interpretation langer Zeitreihen relativer Preise wichtige Grundvorgänge der Zeit zwischen der Mitte des 15. und der Mitte des 19. Jahrhunderts beschreiben kann, daß aber der analytische Wert der Bestimmung der strukturellen Eigenschaften einer Epoche notwendigerweise begrenzt ist. Angesichts einer im Vergleich zur Zeit nach ca. 1850 nur begrenzt integrierten Wirtschaft und Gesellschaft war der Raum für regionale und chronologische Einzelentwicklungen sehr groß, so daß eine angemessene Analyse der meisten wirtschafts- und sozialhistorischen Themen für diese Ära einen deutlich fokussierteren Ansatz entwickeln muß. Dies zeigen nicht zuletzt die referierten Forschungen zu Reallöhnen, Preisen und demographischen Anpassungsmechanismen. Immerhin bleibt aber die Analyse langfristiger Entwicklungstendenzen der europäischen Wirtschaft in der vormodernen Ära angesichts der angedeuteten Ungewißheiten und offenen Fragen auch in Zukunft ein spannendes Forschungsthema.

45 Oliver Volckart, Wettbewerb und Wettbewerbsbeschränkung in Politik und Wirtschaft. Deutschland in Mittelalter und Früher Neuzeit. Marburg 2002, 230–262.

Mikrohistorie und Periodisierung Geschichte eines Desinteresses?* Von

Jürgen Schlumbohm Leider passen meine Überlegungen nur höchst unvollkommen unter die Rubrik der Sektion „Wirtschaft“, in der sie vorgetragen wurden. Doch da es darum geht, von der Position der Mikrogeschichte aus zum Problem der Periodisierung Stellung zu nehmen, läßt sich die übliche Segmentierung von Wirtschaft – Gesellschaft – Politik – Kultur nicht respektieren. Denn ein wesentlicher Impuls der Mikrohistorie zielt ja gerade darauf, solche Abgrenzungen zu überwinden. Wenn auch der einzelne Historiker „multiple Identitäten“ haben, im Laufe der Zeit mit verschiedenen Ansätzen arbeiten und eine Kombination mehrerer Maßstäbe zur Untersuchung eines Problems („variation d’échelle“1) erproben mag, so soll hier doch von einem spezifisch mikrohistorischen Standpunkt aus argumentiert werden. Zu fragen ist also, wie sich das Problem der Periodisierung – und insbesondere das Problem der Frühen Neuzeit als einer Epoche – darstellt, wenn wir die sogenannten großen Linien der Entwicklung und die umfassenden Strukturen nicht als gegeben annehmen, sondern von den Akteuren, ihren Beziehungen und Strategien ausgehen. Denn so ließe sich in knapper Form ein Kern definieren, der vielen Mikro-Ansätzen gemeinsam ist. Zunächst soll ein kurzer Blick zurückgeworfen werden auf das bisherige Verhältnis der Mikrohistorie zu Problemen der Periodisierung; dazu paßt als Motto der Untertitel dieses Beitrags „Geschichte eines Desinteresses“. Danach werden zwei oder drei Wege diskutiert, auf denen möglicherweise von einem mikrogeschichtlichen Ansatz aus zu einer Periodisierung historischer Phänomene zu kommen ist. Da der Königsweg einer radikalen Mikrohistorie, nämlich von der Mikroebene aus die Makroebene zu rekonstruieren, zwar in der Theorie klar erkannt, in der Forschungspraxis aber noch kaum beschritten ist, wird es hauptsächlich um zwei weniger anspruchsvolle Vorgehensweisen gehen. Zum einen wird gefragt, ob es Erfolg verspricht, auch in dieser Hinsicht auf die „eingeborene Theorie der historischen Sub-

*

Um den Charakter eines Diskussionsbeitrags zu unterstreichen, wurde die Form des gesprochenen Wortes weitgehend beibehalten, und die Anmerkungen weisen kaum mehr als die Zitate nach. 1 Jacques Revel (Ed.), Jeux d’échelles. La micro-analyse à l’expérience. Paris 1996, 13.

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jekte“2 zurückzugreifen, also auszugehen von dem Bewußtsein der Zeitgenossen und dem Inhalt der Äußerungen, mit denen sie Epochen und Epochengrenzen konstruierten. Zum anderen wird erwogen, ob wir einer sinnvollen Periodisierung näherkommen, wenn wir für verschiedene historische Zeiten die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Mikrogeschichte stellen und insbesondere prüfen, in welcher Art und in welchem Umfang jeweils Zeugnisse über die Akteure und von den Akteuren überliefert sind.

I. „Mikrogeschichte“ ist als Ansatz entwickelt und angewendet worden vor allem in Arbeiten zu der Periode, die wir seit einigen Jahrzehnten als Frühe Neuzeit bezeichnen. Das gilt zumindest für die Zeit von den späten 1970er Jahren, als dieser Terminus erstmals in programmatischer Absicht gebraucht wurde3, bis in die frühen 1990er Jahre; seitdem dieses Etikett in den letzten zehn Jahren in Deutschland modisch-beliebt geworden ist, mag der Befund nicht mehr so eindeutig sein. Für andere Epochen segelten Bestrebungen, die teilweise in ähnliche Richtung gehen, oft unter anderer Flagge: Die „Alltagsgeschichte“ wandte sich besonders dem 19. und 20. Jahrhundert zu, die „Historische Anthropologie“ allen davorliegenden Perioden gleichermaßen. Doch soweit ich sehe, hat sich keiner von den Protagonisten der Mikrohistorie zu der Problematik geäußert, ob und inwiefern die Frühe Neuzeit als eine eigenständige Epoche zu betrachten sei. Auch die allgemeine Frage nach Sinn und Kriterien einer historischen Periodisierung scheint sie nicht beschäftigt zu haben, weder die italienischen Vertreter der Richtung noch die deutschen noch die französischen. „Mikrohistoriker untersuchen in der Frühen Neuzeit; sie untersuchen nicht die Frühe Neuzeit als solche“, könnte man sagen, in Abwandlung von Giovanni Levis vielzitiertem Dictum „[Mikro-]Historiker untersuchen keine Dörfer, sie untersuchen in Dörfern“ (das wiederum eine Variation von Clifford Geertz’ Aussage über die Ethnologen war).4

2

Hans Medick, „Missionare im Ruderboot“? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: GG 10, 1984, 295–319, hier 313 f. 3 Nachweise bei Jürgen Schlumbohm, Mikrogeschichte – Makrogeschichte: Zur Eröffnung einer Debatte, in: ders. (Hrsg.), Mikrogeschichte – Makrogeschichte: komplementär oder inkommensurabel? (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, Bd. 7.) Göttingen 1998, 7–32, hier 18 ff. 4 Giovanni Levi, On Microhistory, in: Peter Burke (Ed.), New Perspectives on Historical Writing. Oxford 1991, 93–113, Zitat 96; Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main 1987, 7–43, Zitat 32.

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Dieses Desinteresse ist verständlich, nicht so sehr weil jede Periodisierung eine Konstruktion ist – was inzwischen ziemlich unbestritten ist, und zwar unabhängig von der Antwort auf die Frage, ob bzw. in welchem Sinne Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung generell Konstruktion oder aber Rekonstruktion ist. Schon Johann Gustav Droysen formulierte, „daß es in der Geschichte so wenig Epochen gibt wie auf dem Erdkörper die Linien des Äquators und der Meridiankreise, daß es nur Betrachtungsformen sind, die der denkende Geist dem empirisch Vorhandenen gibt …“.5 Das Desinteresse der Mikrohistoriker ist vielmehr vor allem darin begründet, daß Periodisierungen in aller Regel auf der Makro-Ebene vorgenommen werden: aufgrund von behaupteten langfristigen Tendenzen und großen Strukturen, die mehrere Jahrhunderte und die Gesamtgesellschaft ganzer Länder oder Kontinente umspannen. Solche Konstrukte als gegeben vorauszusetzen, weigert sich die Mikrohistorie. Andererseits: Wie von der Mikroebene aus die Makroebene neu konstruiert werden könnte, dafür sehe ich bisher keine ausgearbeiteten Modelle, sondern nur sehr partielle Ansätze. Eine radikale Mikrohistorie – d. h. ein Ansatz, der sich nicht mit der Anwendung verschiedener (prinzipiell als gleich legitim akzeptierter) Maßstäbe begnügt, sondern einen grundsätzlichen Vorrang oder gar eine ausschließliche Legitimität für die Mikroanalyse beansprucht – müßte sich meines Erachtens genau dieses Ziel setzen: die Makrophänomene von der Mikroebene aus neu zu konstruieren. Dies wäre auch der Königsweg zu einer neuartigen Periodisierung. Da bisher jedoch eher theoretische Vorüberlegungen zu einem solchen Vorgehen als praktisch verwertbare Bausteine vorliegen, muß in diesem Kurzbeitrag auf eine nähere Diskussion der Chancen und Schwierigkeiten eines solchen höchst anspruchsvollen Unterfangens verzichtet werden. Statt dessen sollen zwei bescheidenere Argumente zur Erwägung gestellt werden.

II. Ein denkbarer Weg, um von einem mikrohistorischen Ansatz zu einer Periodisierung zu gelangen, könnte so aussehen, daß wir von den Vorstellungen der Akteure ausgehen und fragen, in welchen Zeiten sie das Bewußtsein artikulierten, beobachtend, agierend, reagierend oder leidend einen grundlegenden Wandel zu erleben und in welchen Zeiten sie umgekehrt Stabilität, Beharrung, Dauer wahrnahmen. Da auch etliche „traditionelle“ Historiker die Wahrnehmungen der Zeitgenossen als ein Kriterium für Epochengrenzen ansehen oder doch nach ei5

Johann Gustav Droysen, Texte zur Geschichtstheorie. Hrsg. v. Günter Birtsch u. Jörn Rüsen. Göttingen 1972, 20.

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ner Bestätigung ihrer eigenen Periodisierungsversuche in zeitgenössischen Quellen suchen, ist es nicht ganz schwer, entsprechende Äußerungen zu finden. Darunter gibt es durchaus solche, die geeignet scheinen, die Eigenständigkeit der Frühen Neuzeit zu bestätigen – sogar in den Grenzen, wie sie im Laufe der letzten drei Jahrzehnte in der deutschen Geschichtswissenschaft weithin anerkannt worden sind. So haben mehrere Humanisten um 1500 das Gefühl artikuliert, eine neue Zeit breche an, und zwar nicht nur in den Wissenschaften. Laut Klaus Schreiner brachte bei ihnen die „Erfahrung des Wandels ein Bewußtsein der Modernität“ hervor.6 Meist begrüßten sie die heraufziehende Epoche mit Emphase, so Erasmus von Rotterdam 1516 in einem Brief an Papst Leo X. Er hoffte auf den Anbruch eines goldenen Zeitalters („saeculum aureum“), und zwar nicht im Sinne der Wiederkehr einer vergangenen vermeintlich goldenen Zeit, sondern als etwas Neues. Erasmus erwartete von seiner und der kommenden Zeit vor allem die Verwirklichung von drei Grundwerten: christliche Frömmigkeit („pietas Christiana“), hervorragende Wissenschaft („optimae literae“) sowie allgemeine und dauernde Eintracht („publica et perpetua concordia“). Ähnlich ließ sich Conrad Celtis in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts vernehmen: Es flieht die schreckliche Barbarei der Sitten („fugit horrida morum barbaries“), die gräßlichen Zeiten („foedaque saecula“) weichen, goldene Zeiten kehren zurück („redeunt aurea saecula“ – hier also als Wiederkehr gedacht), und mit ihnen Friede und Treue („pax atque fides“), reines Leben und Güte („vitae integritas atque benignitas“).7 Bisweilen sahen dieselben Humanisten dem Neuen aber auch mit Sorge entgegen, so Erasmus 1522 angesichts der politischen Konflikte in einem Brief an seinen Basler Verleger Bonifaz Amerbach: Der ganze Erdkreis scheint zu einer außergewöhnlichen Veränderung hinzustreben („totus orbis videtur ad insignem quandam mutationem tendere“). Und Sebastian Münster schrieb 1550 in einem Brief an den polnischen König Sigismund: Es vollzog sich in den Verhaltensweisen und im ganzen Leben und Streben der Menschen eine so große Wandlung und vollzieht sich fortwährend weiter, daß im Vergleich mit der alten Zeit der Eindruck entsteht, es sei ein ganz neues Zeitalter auf Erden geboren worden („in moribus hominum totaque 6

Klaus Schreiner, „Diversitas temporum“. Zeiterfahrung und Epochengliederung im späten Mittelalter, in: Reinhart Herzog/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. (Poetik und Hermeneutik, Bd. 12.) München 1987, 381–428, Zitat 412; dort 412–414 auch die folgenden Zitate, soweit nicht anderweitig nachgewiesen; die Übersetzungen sind jedoch teilweise von mir verändert. Vgl. zu Schreiners Einschätzung jedoch Horst Günther, Art. „Neuzeit, Mittelalter, Altertum“, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 6. Basel/ Stuttgart 1984, 782–798, hier 784 ff. 7 Zitiert nach Lucie Varga, Das Schlagwort vom „Finsteren Mittelalter“. (Veröffentlichungen des Seminars für Wirtschafts- und Kulturgeschichte an der Universität Wien, Bd. 8.) Baden/Brünn 1932, 66.

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hominis vita et in conatu tanta facta est et continuo fit mutatio, ut hodie collatione veteris aetatis novum plane saeculum in terris videatur natum“). Auch um 1800 hatten viele Schriftsteller und Publizisten den Eindruck, daß eine ganz neue Zeit anbrach. Nicht wenige begrüßten sie voller Hoffnung, so 1793 das Schleswigsche Journal in einem Aufsatz „Über einige der gewissen Vorteile, welche die gesamte Menschheit durch die itzige politische Katastrophe schon erhalten hat, oder noch erhalten möchte“: „… in einem Zeitalter, dessen Begebenheiten von den Begebenheiten aller anderen ganz und gar verschieden sind …, da kann nur ein Tor oder ein Schwärmer sich einbilden, gewiß bestimmen zu können, was in der Zukunft Hintergrund verborgen liegen möchte; da scheitert alles menschliche Wissen, ist jede Vergleichung unmöglich, weil keine Epoche da ist, die sich gegen die gegenwärtige stellen ließe“.8 Andere, die einen ähnlich grundlegenden Wandel wahrnahmen, taten das mit größter Sorge, so etwa Friedrich Ancillon im Jahre 1828: „Alles ist beweglich geworden oder wird beweglich gemacht, und in der Absicht oder unter dem Vorwand, alles zu vervollkommnen, wird alles in Frage gezogen, bezweifelt, und geht einer allgemeinen Umwandlung entgegen.“ Wieder andere gaben sich als unparteiische Zeugen der weltgeschichtlichen Zeitenwende, so der Weimarer Minister, der beanspruchte, am Abend der Kanonade von Valmy, am 19. September 1792, „die Schar“ der enttäuschten deutschen Feldzugteilnehmer mit dem kurzen Spruch „erheitert und erquickt“ zu haben: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“ Bekanntlich hat er diese Formulierung erst drei Jahrzehnte später niedergeschrieben, während er eine Woche nach der Kanonade den Feldzug lediglich als eine „wichtige Epoche“ bezeichnete, von der er sagen könne, ein kleiner Teil gewesen zu sein9 – ‚Epoche‘ noch im Sinne eines bedeutenden, ‚Epoche machenden‘ Ereignisses, nicht im Sinne eines Zeitabschnitts, einer Periode.10 Einige Autoren äußerten um 1800 sogar die Ansicht, daß die Zeit seit etwa 1500 eine Einheit darstelle. So teilte 1771 der Göttinger Historiker Johann Christoph Gatterer die Universalgeschichte in vier Zeitalter ein, von denen das letzte, „die neue Zeit von der Entdeckung Amerikas 1492 bis auf 8 Zitiert nach Reinhart Koselleck, „Neuzeit“. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1979, 300–347, hier 330; das folgende Zitat ebd. 328. 9 Johann Wolfgang Goethe, Campagne in Frankreich (1822), sowie ders., Brief an Knebel 27. 9. 1792, in: ders., Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Frankfurt am Main 1985–1999, hier I. Abteilung, Bd. 16, hrsg. von Klaus-Detlef Müller, 1994, 436, 941. 10 Dazu Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1988, 531 ff.; vgl. Manfred Riedel, Art. „Epoche, Epochenbewußtsein“, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (wie Anm. 6), Bd. 2. Basel/Stuttgart 1972, 596–599.

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unsere Zeiten“ reiche.11 Ähnlich im globalen Maßstab argumentierte der Theologe Johann Gottfried Eichhorn 1803 in seiner „Geschichte der drei letzten Jahrhunderte“: Diese Zeit mache „ein in sich geschlossenes, für sich bestehendes historisches Ganzes“ aus. Denn „seit der Mitte des 15. Jahrhunderts entspann sich nach und nach aus einzelnen Verbindungen der allgemeine Weltzusammenhang der neuesten Zeiten, und zu gleicher Zeit fing das neue Staatensystem sich in seinen ersten Keimen zu entwickeln an. In einem Zeitraum von 50 bis 70 Jahren ward es in allen seinen Teilen sichtbar, und gab, früher oder später, allen Weltteilen eine völlig neue Gestalt.“12 Andere waren zurückhaltender und grenzten diesen Periodisierungsversuch auf Europa oder den „größeren Teil von Europa“ ein, so Christoph Martin Wieland im Jahre 1793: Die „Kultur und Ausbildung der Menschheit“ ist „seit dreihundert Jahren in dem größeren Teile von Europa von einer Stufe zur andern emporgestiegen“ und hat eine „gänzliche Umänderung“, ja „eine Art von allgemeiner intellektueller und moralischer Revolution“ hervorgebracht. Freilich können wir von den Zeitgenossen jener Jahre naturgemäß keine Stellungnahme zu der Frage erwarten, ob die Neuzeit, wie wir sie im Deutschen üblicherweise abgrenzen, als Einheit betrachtet werden sollte oder welches Gewicht demgegenüber die Unterteilung in eine Frühe und eine Spätere Neuzeit habe. Es bleibt bei den zitierten Autoren durchweg offen, ob die Periode, die sie drei Jahrhunderte zuvor beginnen ließen, in der damaligen Gegenwart zu einem Ende komme oder ob sie im 19. Jahrhundert fortgesetzt würde. Gewichtiger ist ein anderes Bedenken. Um ernsthaft als mikrohistorische Argumente für eine Periodisierung akzeptiert zu werden, dürften solche Zitate nicht einfach aneinandergereiht werden, sondern sie müßten jeweils kontextualisiert und mit anderen Reden derselben und anderer Akteure in Beziehung gesetzt werden. Nur auf diese Weise ließe sich prüfen, ob schrittweise ein tragfähiger Zusammenhang mittlerer oder größerer Reichweite hergestellt werden kann. Darauf verzichte ich hier, nicht nur weil diese Aufgabe schwierig ist und der verfügbare Raum knapp, sondern vor allem, weil mir ein anderes Problem vorrangig relevant scheint: Zeitgenössische Zeugnisse, die unsere Periodisierungsvorstellungen zu bestätigen scheinen, besagen wenig, solange wir nicht die Gegenprobe gemacht haben. Zu fragen wäre also, ob in Zeiten, die wir ex post nicht als Zäsuren werten, auch die Zeitgenossen Stabilität und Kontinuität empfanden.

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Zitiert nach Koselleck, „Neuzeit“ (wie Anm. 8), 317. Vgl. Günther, Art. „Neuzeit“ (wie Anm. 6), 791 ff. 12 Zitiert nach Winfried Schulze, Einladung in die Frühe Neuzeit, in: Anette Völker-Rasor (Hrsg.), Frühe Neuzeit. (Oldenbourg Geschichte Lehrbuch.) München 2000, 9–11, hier 9 f., dort auch das folgende Zitat.

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Und da ergeben sich schon bei einem flüchtigen Blick in die Literatur gravierende Zweifel. Petrarca etwa hat bekanntlich das Schema dreier Epochen auf weltliche – literarische und politische – Phänomene angewendet und bereits im 14. Jahrhundert die neuen Geschichten („historiae novae“) durch die literatur- und kulturlose Zwischenzeit des „medium tempus“ von den alten Geschichten („historiae antiquae“) getrennt gesehen.13 Und im 17. Jahrhundert finden wir nicht nur zahllose Zeugnisse der Angst und des Krisenbewußtseins, sondern vielfach auch chiliastische Erwartungen, daß ein neues Zeitalter anbreche. Dabei stehen neben spiritualistischen und weltfernen Visionen auch solche, die man einst „vulgär-chiliastisch“ nannte, weil sie das neue Zeitalter, so sehr sie es theologisch-biblisch zu begründen suchten, im Diesseits erwarteten, also nicht nur eine neue religiöse, sondern auch eine moralische und politische Ordnung kommen sahen. Zu nennen ist etwa Johann Wagner, ein evangelischer Theologe aus Kaiserslautern, der 1620 unter dem latinisierten Namen Plaustrarius eine Flugschrift drucken ließ. Er sah – vor der Schlacht am Weißen Berg – in Friedrich V. von der Pfalz (der später als Winterkönig von Böhmen dem Spott seiner Feinde anheimfiel) den Löwen und schrecklichen Wecker, dessen Gebrüll die schlafende und gottlose Welt zur Bekehrung aufrief. Darauf breche die „dritte Zeit oder Saeculum“ an, Rom-Babylon werde untergehen und zerstört, und in jener friedsamen und freudenreichen Zeit werde das Evangelium allen Völkern durch die ganze Welt gepredigt.14 In dieser bewegten Zeit wurden auch Menschen mit ihren Visionen ernst genommen, denen man sonst Amt und Beruf dazu absprach, z. B. Frauen und Handwerker. Zu ihnen zählten die junge Polin Christina Poniatovska und der Weißgerber Christoph Kotter aus Schlesien, deren Prophezeiungen kein geringerer als Amos Comenius aufzuzeichnen wert fand. Kotter sah den Sturz des Hauses Habsburg und des Papstes kommen, den „güldenen Frieden“ wiederkehren, den wahren christlichen Glauben über die ganze Welt verbreitet und die Menschheit als eine Herde in einem Schafstall vereint, befriedet. Auch auf katholischer Seite wurden in dieser Zeit bisweilen derartige chiliastischen Erwartungen gedruckt, die eine starke innerweltliche Komponente hatten.15 Ich breche dieses Exercitium hier ab und ersetze weitere Belege durch die schlichte Vermutung, daß bei genügender Quellendichte – und Quellenkenntnis – in nahezu jedem Jahrzehnt der neueren Geschichte Äußerungen zu finden sein dürften, laut denen Zeitgenossen tiefgreifende Veränderun13

Schreiner, „Diversitas temporum“ (wie Anm. 6), 410; vgl. Koselleck, „Neuzeit“ (wie Anm. 8), 306; Varga, „Finsteres Mittelalter“ (wie Anm. 7), 37 ff. 14 Zitiert nach Roland Haase, Das Problem des Chiliasmus und der Dreißigjährige Krieg. Diss. phil. Leipzig 1933, 54 ff.; ebd. 63 ff. zu Poniatovska, Kotter und Comenius. Vgl. Hartmut Lehmann, Zeitalter des Absolutismus. Gottesgnadentum und Kriegsnot. (Christentum und Gesellschaft, Bd. 9.) Stuttgart 1980, 130 ff. 15 Haase, Chiliasmus (wie Anm. 14), 81 ff., bes. 83.

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gen wahrnahmen und eine neue – bessere oder schlechtere – Zeit heraufziehen spürten. Nicht ohne Grund haben Historiker und Literaturhistoriker wie František Graus und Wilfried Barner gefordert, neben der Epochenwahrnehmung auch die „Epochenillusion“ zum Gegenstand der Untersuchung und der Reflexion zu machen – sei es als akzidentielle Selbsttäuschung der Zeitgenossen, die uns davor bewahren kann, sie in naiver Weise „als Kronzeugen“ des eigenen Periodisierungsversuchs zu zitieren16, sei es als „notwendige“ Illusion, die in einer zu analysierenden Weise in bestimmten subjektiven Erfahrungen gründet und diese als objektive unterstellt.17 Hans Blumenberg hat diese Probleme zu der kategorischen Aussage verdichtet: „Es gibt keine Zeugen von Epochenumbrüchen.“18 Aus mikrohistorischer Sicht scheint mithin der Weg von den Vorstellungen und Aussagen der Zeitgenossen zur Periodisierung wenig erfolgversprechend. Doch was ist die Alternative? In aller Kürze möchte ich eine andere Überlegung zur Diskussion stellen.

III. Dabei gehe ich aus von der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit, eine bestimmte Zeit mikrohistorisch zu analysieren: In welchem Umfang sind Materialien zeitgenössisch produziert und historisch überliefert, die es gestatten, die Beziehungen und Strategien, die Handlungen und Vorstellungen vergangener Akteure zu rekonstruieren? Und welcher Art sind diese Dokumente aus verschiedenen Zeiten? In dieser Hinsicht scheint es mir sinnvoll, an dem ursprünglichen polemisch-programmatischen Impuls der Mikrogeschichte19 festzuhalten und das Augenmerk vor allem auf die vielen zu richten, die in der klassischen Sozialgeschichte namen- und gesichtslos, „stumm“ blieben, also nicht auf die Eliten. Denn für einzelne herausragende Personen und Kleingruppen dürften sich aus nahezu allen Zeiten der Vergangenheit entsprechende Materialien finden. Was die Jahrhunderte angeht, die unter dem Stichwort Frühe Neuzeit üblicherweise behandelt werden, sehe ich eine einschneidende Epochengrenze, wo Quellen beginnen, die es prinzipiell gestatten, die Lebensläufe, Heiratsund Reproduktionsstrategien sowie die Muster des Zusammenlebens der Mehrheit der Menschen zu rekonstruieren, also Kirchenbücher (Pfarrmatri16

František Graus, Epochenbewußtsein – Epochenillusion, in: Herzog/Koselleck (Hrsg.), Epochenschwelle (wie Anm. 6), 531–533. 17 Wilfried Barner, Zum Problem der Epochenillusion, in: ebd. 517–529, hier 519 f. 18 Blumenberg, Legitimität (wie Anm. 10), 545, vgl. 553–555. Kritik daran mehrfach in Herzog/Koselleck (Hrsg.), Epochenschwelle (wie Anm. 6), zum Beispiel X, 248 (Jauss), 384 (Schreiner). 19 Dazu Schlumbohm, Mikrogeschichte (wie Anm. 3), 20 f.

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keln), Seelenregister, Zensuslisten und dergleichen. In großen Teilen Norddeutschlands ist das etwa seit der Mitte des 17. Jahrhunderts der Fall, in anderen deutschsprachigen Gebieten, insbesondere im Süden, schon im Laufe des 16. Auch wenn diese Art von Quellen – und vor allem die mühsame Arbeit mit ihnen – sich in Deutschland und anderwärts keiner großen Beliebtheit mehr erfreuen, möchte ich doch argumentieren, daß die Möglichkeiten, die Carlo Ginzburg und Carlo Poni in dem ersten programmatischen Aufsatz zur Mikrogeschichte mit dem Stichwort „Prosopographie der Massen“ im Auge hatten20, noch nicht ausgeschöpft sind, insbesondere wenn weitere nominative Dokumente in ein solches Datengerüst hineingeknüpft werden, etwa solche über Besitz und über Konflikte. Die relativ regelmäßige Registrierung von Grund- und dann auch mobilem Besitz (besonders natürlich im gelobten Land einer solchen Mikrogeschichte, in Württemberg, mit seinen massenhaften Inventuren und Teilungen), sowie die Erfassung von Strafverfahren und Zivilstreitigkeiten in Gerichtsakten weltlicher und geistlicher Instanzen macht also wiederum Epoche. Dabei reichen massenhafte Akten der Gerichtsbarkeit in großen Städten Süd- und Westdeutschlands viel weiter zurück als die Kirchenbücher, nämlich ins späte Mittelalter, noch weiter in manchen südeuropäischen Städten die Notariatsakten.21 Gerichtsprotokolle und ähnliche Dokumente erwecken oft den Eindruck, wir hörten bereits die Stimmen der Bauern, Bäuerinnen, Handwerker, Tagelöhner, Soldaten usw. Doch ist hier quellenkritische Vorsicht geboten. Immer sind diese Texte von der kirchlichen oder weltlichen Obrigkeit oder ihren Beauftragten stilisiert, und zwar in der Regel nach anderen Kriterien als denen der Beschuldigten oder Zeugen, deren Aussagen sie wiederzugeben beanspruchen.22 Einen wichtigen Einschnitt sehe ich wiederum, wo von „kleinen Leuten“ selbst verfaßte Zeugnisse mehr als nur vereinzelt produziert und überliefert sind: Tagebücher, autobiographische Texte, Briefe, aber auch Supplikationen, sowie Schreibe-, Rechen- und Anschreibebücher, also Selbstzeugnisse in einem sehr weiten Sinn. Zwar geben auch solche Dokumente kein völlig ungefiltertes Bild der Vorstellungen, Wünsche, Taten oder Beziehungen des Autors. Denn jeder Brief, selbst das intimste Tagebuch wird bekanntlich auf einen realen oder gedachten Adressaten hin stilisiert; das gilt sogar, wenn bei einem Tagebuch der Autor für und an sich selbst schreibt. Trotzdem macht es einen wichtigen Unterschied, ob das Aufschreiben und die Formgebung 20

Ebd. 21, 24 ff. François Menant/Odile Redon (Eds.), Notaires et crédit dans l’Occident méditerranéen médiéval. (Collection de l’École Française de Rome, Vol. 343.) Rom 2004. 22 Dazu David Warren Sabean, Peasant Voices and Bureaucratic Texts: Narrative Structure in Early Modern German Protocols, in: Peter Becker/William Clark (Eds.), Little Tools of Knowledge: Historical Essays on Academic and Bureaucratic Practices. Ann Arbor 2001, 67–93. 21

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von einer obrigkeitlichen Instanz oder von dem Autor selbst vorgenommen werden. Wenn wir einen kurzen Blick in das 19. und 20. Jahrhundert werfen, so mag eine neue Epoche beginnen, wo die Gelegenheit zu bildlichen Darstellungen seiner selbst und der Umgebung in die Reichweite vieler Menschen jenseits der Eliten kommt, insbesondere durch die Fotografie. Einen weiteren Einschnitt, der freilich im Gerüst der Jahrhunderte nicht fixiert ist, sondern sich in ihm fortbewegt, entsprechend dem Lebensverlauf der Generationen, sehe ich an dem Punkt, an dem es möglich wird, Menschen zu befragen und sie sprechen zu lassen: Oral history kann eine Art der Mikrogeschichte sein. Schließlich in der allerneuester Zeit besteht eine Zäsur, wo massenhaft die Möglichkeit zur Selbstdarstellung in elektronischen Medien entsteht, mit Bild, Text und Ton. Meine Hypothese ist, daß die – zunächst formale – Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit, eine Zeit mikrohistorisch zu erfassen, die Frage also nach Art und Umfang der Zeugnisse über die – und von den – Akteure(n) auch auf einen inhaltlichen Aspekt hinführt. So wie seit langem und mit guten Gründen dem Aufkommen neuer Medien, z. B. des Buchdrucks, der Zeitungen usw., eine wesentliche Wirkung auf den Verlauf historischer Prozesse zugeschrieben wird, so lohnte es sich meines Erachtens, noch intensiver darüber nachzudenken und zu forschen, welche Folgen es für die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Menschen hatte, wenn ihr Sein, Haben und Tun in manchen Aspekten systematisch von der Obrigkeit registriert wurde, oder welche Bedeutung es für Männer und Frauen außerhalb der Eliten hatte, wenn Papier und Tinte, der Fotoapparat oder elektronische Medien zu aktiver Nutzung in ihre Reichweite kamen. Zu all diesen Fragen, Medien, Gattungen gibt es vielfältige Ansätze und vielversprechende Ergebnisse. Würden sie unter diesem Gesichtspunkt systematisch zusammengeführt und vorangetrieben, könnte das auch zu einer mikrohistorisch begründeten Periodisierung führen. Zwei letzte Bemerkungen füge ich noch an. Zum einen sei mit Blick auf die Wirtschaftsgeschichte gesagt, daß eine Periodisierung nach Umfang und Art der für eine Mikrohistorie verfügbaren Materialien auch für die ökonomischen Strategien relevant sein kann, freilich immer im Kontext anderer Aspekte. Inventare gestatten, wie wir aus spannenden Arbeiten wissen, Konsummuster und Erwerbsstrategien zu rekonstruieren. Obrigkeitliche oder notarielle Registrierung von Transaktionen, wie Kauf und Verkauf, Borgen und Leihen ermöglicht Einsichten in die Verhaltensweisen von Landleuten, Handwerkern, protoindustriellen Leinenproduzenten. Anschreibebücher, so unsystematisch sie vielfach auf uns wirken, geben oft noch mehr Seiten von dem zu erkennen, was ihren Verfassern der Mühe wert war. Und auch in ökonomischer Hinsicht vermute ich, daß ein Zusammenhang zwischen der Nutzung solcher Darstellungsweisen und dem Handeln besteht,

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freilich ein komplexer, keineswegs eine lineare Entsprechung zwischen „Buchführung“ und einer eng definierten ökonomischen Rationalität. Das letzte Wort: Sollte der Vorschlag, eine Periodisierung nach den verfügbaren Quellenarten und -massen vorzunehmen, zunächst auf Befremden stoßen, so sei daran erinnert, daß diese Idee weder besonders originell noch exotisch ist. Die Abgrenzung zwischen der Großepoche der Vorgeschichte einerseits, der „eigentlichen“ Geschichte andererseits beruht traditionellerweise auf eben diesem Kriterium.

Teil 8 Die Frühe Neuzeit als Epoche in der außereuropäischen Geschichte

Pre-colonial oder early modern? Das Problem der Zeitzäsuren in der indischen Geschichte Von

Monica Juneja Anhand welcher Kriterien können wir Epochenvorstellungen in der außereuropäischen Geschichte problematisieren? Versuchen wir, diese aus der „Innenansicht“ traditioneller Historiographien herauszuarbeiten? Gehen wir zum Beispiel von der Frage aus, ob sich ein indischer Hofhistoriker aus dem 16. Jahrhundert eine Zeitwende vorgestellt hat und in welchen Termini sein Erneuerungsbewußtsein gegebenenfalls einen Ausdruck fand, oder steigen wir in das Thema über die Diskussion der modernen Geschichtsschreibung zu Periodisierungsfragen in der indischen Geschichte ein? Die area studies zu Asien betonen oft die Notwendigkeit, die Geschichte einer Zivilisation aus ihren „eigenen Materialien heraus“ zu schreiben, statt sie ins Korsett der den westlichen Sozialwissenschaften entliehenen Entwicklungsmodelle einzuzwängen.1 Jüngere Ansätze in den Sozialwissenschaften dagegen erwägen ein strukturanalytisches Verfahren, das anhand von Funktionszusammenhängen nach gemeinsamen transkulturell gültigen analytischen Kriterien sucht.2 Beide methodischen Zugänge zu der Frage, ob die Epochenbezeichnung „Frühe Neuzeit“ auch für nichteuropäische Kulturen von Relevanz sei, sind in den Beiträgen dieses Panels zu den Zeitzäsuren in der außereuropäischen Geschichte anzutreffen. In der Geschichtsschreibung der westlichen Welt faßte das Epochenkonzept der Frühen Neuzeit seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zunächst in den Vereinigten Staaten und dann in Deutschland Fuß. Doch die Einsicht, die Zeit zwischen Reformation und Französischer Revolution bilde eine Art historischer Einheit, wurde keineswegs erst vor 50 Jahren gewonnen. Am 1

Maßgebend für diese Sichtweise Clifford Geertz, Negara: The Theatre State in Nineteenth-Century Bali. Princeton 1980. Vgl. auch Susanne Hoeber Rudolf, Presidential Address: State Formation in Asia – Prolegomenon to a Comparative Study, in: The Journal of Asian Studies 46/4, 1987, 731–746, hier 735 f. 2 Einen interessanten Versuch in dieser Richtung hat Wolfgang Schwentker gemacht: Die „vormoderne“ Stadt in Asien und Europa. Überlegungen zu einem strukturgeschichtlichen Vergleich, in: Peter Feldbauer/Michael Mitterauer/Wolfgang Schwentker (Hrsg.), Die vormoderne Stadt. Asien und Europa im Vergleich. (Querschnitte, Bd. 10.) München/Wien 2002, 259–287. Eine weitere Problematisierung dieser Frage ist Monica Juneja/Margrit Pernau, Lost in Translation? Transcending Boundaries in Comparative History, in: Heinz-Gerhard Haupt/Jürgen Kocka (Hrsg.), Comparative History and the Quest for Transnationality. Oxford/New York 2009.

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Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Interpretation formuliert, daß mit dem Beginn des 16. Jahrhunderts eine „neue Zeit“ begonnen habe. Die Idee der Neuartigkeit der erlebten Gegenwart reichte aber schon weitere 300 Jahre zurück, denn sie war Teil der Selbstdeutung der gebildeten Eliten während der sogenannten „Renaissance“. Auch wenn die europäische Frühe Neuzeit heute selbstverständlich anhand von neueren Paradigmen untersucht wird, ist ein gewisser Fortschrittsgedanke, der die Epochenbezeichnung dieser Zeitspanne untermauert, von den Zeitgenossen der Renaissance in die moderne Geschichtswissenschaft übertragen worden. Bis in die Gegenwart wird die Frühe Neuzeit als eine „Inkubationszeit der Moderne“ gedeutet.3 Die „Moderne“ selbst wurde seit dem 19. Jahrhundert zunehmend als okzidentale zivilisatorische Essenz hypostasiert. Ihre Errungenschaften, so lautet die postkoloniale Kritik der modernen Geschichtsschreibung, seien in die außereuropäische Welt exportiert worden, deren einzelne Kulturräume mit diesen Errungenschaften sehr unterschiedlich umgegangen seien. In diesem Sinne führt Dipesh Chakrabarty den Begriff des „hyperreal Europe“ ein, eines nahezu mythologisierten, sich aus dem Burckhardtschen Humanismus speisenden Ideals des bürgerlichen Individualismus, das in die nichteuropäische Welt ausgesandt wurde.4 In der Historiographie des indischen Subkontinents wurde der Übergang von der vormodernen Geschichtsschreibung zur modernen Geschichtswissenschaft durch die Zäsur mitbestimmt, welche der Kolonialismus für die indische Geschichte bildete. Erst als Teil des Kolonisierungsprozesses kamen die Methoden des europäischen Historismus nach Indien und die damit zusammenhängenden Entwicklungsmodelle und Werturteile. Die indische Gesellschaft und ihre Geschichte wurden zum ersten Mal über die Begriffe und Methoden der westlichen Geschichts- und Sozialwissenschaften beschrieben und beurteilt. Die dreiteilige Periodisierung in Antike, Mittelalter und Moderne wurde damit auf die Geschichte Indiens übertragen, eine Epochenvorstellung, die in dem Zeit- und Geschichtsbewußtsein der einheimischen Traditionen keine Rolle spielte.5 Das Periodisierungsmodell unterstrich die Äquivalenz zwischen der Kolonialisierung Indiens und dem

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Winfried Schulze, Einladung in die Frühe Neuzeit, in: Anette Völker-Rasor (Hrsg.), Frühe Neuzeit (Oldenbourg Geschichte Lehrbuch.) München 2000, 7–11, hier: 10. 4 Dipesh Chakrabarty, Postcoloniality and the Artifice of History, in: ders. Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. New Delhi 2001 (zuerst Princeton 2000), 27–46, hier: 45. 5 James Mill, The History of British India. 6 Vols. London 1818–1820 (1. Ausgabe). Mill stellte zugleich eine Verbindung der jeweiligen drei Zeitabschnitte mit religiös-nationalen Etiketten her, so daß seine Periodisierung Hindu, Muslim and British lautete. Vgl. Thomas R. Metcalf, Ideologies of the Raj. (The New Cambridge History of India, Vol. 3/4.) New Delhi 1995 (zuerst Cambridge 1994), 31 f., sowie Ronald Inden, Orientalist Constructions of India, in: Modern Asian Studies 20/3, 1986, 410–446.

Pre-colonial oder early modern?

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Beginn der Moderne. Seine offensichtliche legitimatorische Funktion beruhte auf der Differenzsetzung zwischen den zivilisatorischen Errungenschaften des „Abendlandes“ und dem historischen Rückstand oder den „defizitären“ Eigenschaften nichteuropäischer Kulturen.6 Paradoxerweise wurden die während der Kolonialzeit eingeführten modernen Methoden der Geschichtswissenschaft sowie der indologischen Forschung7 von der Historiographie der jungen Nationen des Subkontinents mit Begeisterung aufgenommen, nachdem sie die von den Kolonialherren geschriebene Geschichte Indiens von den krassesten kolonialen Vorurteilen bereinigt hatte. So erweist sich die Aufteilung der indischen Geschichten in den Zeitabschnitten ancient, medieval und modern bis in die Gegenwart als äußerst resistent. Auch die jüngsten postkolonialen Ansätze, die eine Geschichtsschreibung jenseits des Eurozentrismus anstreben, haben sich nie explizit mit Periodisierungsfragen auseinandergesetzt: Der Gegenstand ihrer Forschung bleibt fast ausschließlich das 19. und 20. Jahrhundert, die Phase der britischen Kolonialherrschaft.8 In ihrer Sichtweise werden die Jahrhunderte vor der kolonialen Unterwerfung des Subkontinents oft undifferenziert zum Hort der antikolonialen – gleich antimodernen – Resistenz stilisiert.9 Implizit wird also ein indisches „Mittelalter“ postuliert, das eine sich vom 10. bis 18. Jahrhundert erstreckende, ununterbrochene und nahezu statische Einheit bildet. Die Tendenz, geschichtliche Entwicklungen des Subkontinents anhand von ausschließlich „endogenen“ Faktoren zu erklären, scheint durch die Sorge, dem Eurozentrismus kein Hintertürchen offenzulassen, mitbestimmt zu sein. Weitere Ansätze, die ebenso bemüht sind, europazentrierte Perspektiven zu revidieren, werfen ein weltgeschichtliches Schlaglicht auf Asien. Einige vertreten ein Asia before Europe-Argument, das in perspektivischer Umkehrung die historischen Wurzeln des modernen kapitalistischen Systems in den Gesellschaften Asiens seit dem 14. Jahrhundert – China, Indien, arabi-

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Chakrabarty, Postcoloniality (wie Anm 4). Om Prakash Kejariwal, The Asiatic Society of Bengal and the Discovery of India’s Past 1784–1838. 2nd Ed. New Delhi/Oxford 1999. 8 Für die indische Geschichte sind die prominentesten Vertreter dieser Richtung die Autoren der „Subaltern Studies Collective“. In der Reihe sind bereits 12 Bände erschienen. Einleitend dazu: Ranajit Guha, On the Historiography of Indian Nationalism, in: ders. (Ed.), Subaltern Studies. Vol. 1. New Delhi 1982, 1–8. Einen Überblick zu diesem Forschungsansatz bieten Vinayak Chaturvedi (Ed.), Mapping Subaltern Studies and the Postcolonial. London 2000; David Ludden (Ed.), Reading Subaltern Studies. Critical History, Contested Meaning and the Globalisation of South Asia. New Delhi 2001. 9 Da viele Autoren der Subaltern Studies den modernen Nationalstaat als eine Fortsetzung einer westlich-kolonial geprägten post-aufklärerischen Rationalität deuten, so soll die vorkoloniale Gesellschaft einen „authentischeren“ Raum der „antimodernen“ Erfahrungen bilden; vgl. Chakrabarty, Postcoloniality (wie Anm 4). 7

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scher Raum – zu verorten sucht.10 Eine Strömung in der jüngeren Globalgeschichte dagegen plädiert dafür, den bipolaren Gegensatz Europa/Nichteuropa zugunsten eines multipolaren analytischen Rahmens aufzugeben: Polyzentrierung, Pluralität und Multiperspektivität sind ihre wichtigsten Stichwörter.11 Sie zeigt eine wachsende Sensibilität für den Eigensinn einzelner Weltkulturen, für historische Brüche im Globalisierungsprozeß sowie für die Existenz von „other histories“.12 Dieses Anliegen grenzt sich jedoch von einem radikalen Kulturrelativismus ab – der Überzeugung, jede Kultur sei einzigartig, unvergleichbar und ausschließlich über autochthone Begriffe und Kategorien erschließbar. In eine ähnliche Richtung zielt der von Shmuel Eisenstadt geprägte Begriff der „multiple modernities“: Gegen die häufig unhinterfragte Universalität der westlichen Moderne postuliert er die historische Entstehung mehrerer kulturspezifischer Formen der Moderne, gestaltet über diverse und besondere zivilisatorischen Erbschaften, Institutionen und sozio-politische Umstände.13 So anregend und kritisch diese Ansätze auch sein mögen, scheinen sie jedoch historische Verflechtungsprozesse in der Gestaltung der Moderne nicht ausreichend zu berücksichtigen, und zwar 10

Kirti Narayan Chaudhuri, Asia before Europe: Economy and Civilisation of the Indian Ocean from the Rise of Islam to 1750. Cambridge 2000 (1. Aufl. 1990); ders., The Historical Roots of Capitalism in the Indian Ocean: A Comparative Study of South Asia, the Middle East, and China during the Pre-modern Period, in: Sugata Bose (Ed.), South Asia and World Capitalism. New Delhi 1990, 87–111; Jack Goody, The East in the West. Cambridge 1996; Janet Abu-Lughod, Before European Hegemony: The World System A. D. 1250–1350. New York/Oxford 1989; André Gunder Frank, Re-Orient: Global Economy in the Asian Age. Berkeley/Los Angeles/London 1998; ders., Orientierung im Weltsystem. Von der Neuen Welt bis zum Reich der Mitte. Wien 2005. Gunder Frank geht noch einen Schritt weiter, wenn er behauptet, Europa und der Westen seien bis ins 18./19. Jahrhundert marginal geblieben im Vergleich zu den großen Reichen und Kulturen Asiens, vor allem China und Indien; kritisch dazu Andrea Komlosy, Historischer Kapitalismus oder endlose Kapitalakkumulation im Weltmaßstab? Plädoyer für die Auseinandersetzung mit André Gunder Franks „Re-Orientierung im Weltsystem“, in: Sozial Geschichte 21/2, 2006, 67–90. 11 Vgl. Marshall G. S. Hodgson, Rethinking World History. Cambridge 1994; Peter Feldbauer/Andrea Komlosy, Globalgeschichte 1450–1820: Von der Expansions- zur Interaktionsgeschichte, in: Carl-Hans Hauptmeyer/Dariusz Adamczyk/Beate Eschement/Udo Obal (Hrsg.), Die Welt querdenken. Festschrift für Hans-Heinrich Nolte zum 65. Geburtstag. Frankfurt am Main 2003, 59–94; Wolfgang Schwentker, Globalisierung und Geschichtswissenschaft. Themen, Methoden und Kritik der Globalgeschichte, in: Margarete Grandner/Dietmar Rothermund/Wolfgang Schwentker (Hrsg.), Globalisierung und Globalgeschichte. Wien 2005, 36–59. 12 Natalie Zemon Davis plädiert: „… that we acknowledge the existence of other histories even while we research a case of our own, and that we are attentive both to likenesses and differences between those stories and the histories with which we are most familiar“. Natalie Zemon Davis, Global History, Many Stories, in: Max Kerner (Hrsg.), Eine Welt – eine Geschichte? 43. Deutscher Historikertag in Aachen, 26. bis 29. September 2000. Berichtband. München 2001, 373–380, hier 376, zit. nach Schwentker, Globalisierung (wie Anm. 11), 49. 13 Shmuel Eisenstadt/Dominic Sachsenmaier/Jens Riedel (Eds.), Reflections on Multiple Modernities. European, Chinese and other Interpretations. Leiden 2002.

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die Analyse von denjenigen miteinander verwobenen Prozessen, welche die historische Entfaltung mehrerer Weltregionen bestimmten und für alle beteiligten eine konstitutive Wirkung besaßen, auch wenn ihre Auswirkungen unterschiedliche, kulturspezifische Gestalt annahmen.14 Beschäftigen wir uns also mit der Epochensetzung in der Geschichtswissenschaft, insofern sie ein Problem der modernen Historie bildet, so können wir dies weniger über die Zeitvorstellungen der indischen Herrscherchroniken der vorkolonialen Zeit erreichen, so aufschlußreich diese als Quelle auch sein mögen. Die Geschichtswissenschaft als eine gegenwärtig „transkulturell gültige Form des Wissens“ bedeutet, gemeinsame analytische Kriterien und Kategorien – etwa die Entwicklung von Staatsformen, Vorstellungen von Territorialität und Grenzen, Praktiken der Kommunikation, Informationsaustausch, Prozesse der Selbstdeutung und Fremdzuschreibung, sowie der Setzung von Grenzen zwischen Gemeinschaften – in die Untersuchung einzubeziehen, die nicht unbedingt als eurozentristisch abzutun sind.15 Das mitziehende Bewußtsein einer Neuerung, insofern sie in zeitgenössischen Quellen zu lesen wäre, ist nur ein Kriterium, aber nicht das einzige, um eine Periodisierung für die moderne Geschichtsschreibung vorzunehmen. Denn es kann nicht darum gehen, das historische Verständnis der einheimischen Quellen in die Analyse zu übernehmen, um daraus kulturell „authentischere“ Kategorien zu schöpfen, sondern die Chroniken selbst als Bestandteil historischer Prozesse zu untersuchen.16 Das Etikett „early modern“ taucht zwar als Bezeichnung für den Zeitabschnitt von circa 1500 bis 1800 in der heutigen Indien-Historiographie sporadisch auf, es ist aber bislang nicht strukturell oder systematisch begründet worden.17 Die meisten Historiker des Subkontinents bezeichnen die Zeit 14

Einen gelungenen Versuch in dieser Richtung erwägt David Washbrook in seiner Fallstudie über die Anfänge der Industrialisierung in England. Washbrook nimmt die gegenseitigen Interaktionen zwischen Strukturen und Akteuren in Indien und England unter die Lupe, um die gemeinsamen Strategien, Glaubensinhalte und Interessen („shared features of strategy, belief and interest“) hervorzuheben. Vgl. David Washbrook, From Comparative Sociology to Global History: Britain and India in the Pre-History of Modernity, in: Journal of the Economic and Social History of the Orient 40/4, 1997, 410–43, hier: 417. 15 Vgl. Jürgen Osterhammel, Asien: Geschichte im eurasischen Zusammenhang, in: Völker-Rasor (Hrsg.), Frühe Neuzeit (wie Anm. 3), 429–444, hier: 432. 16 In bezug auf die offizielle Geschichtsschreibung der vormodernen chinesischen Gesellschaft meint Susanne H. Rudolph: „The virtue of importing external categories into the indigenous account [of the Chinese scholar-officials, M. J.] is precisely that they raise questions that the indigenous accounts would like to let sleep“; Rudolph, Presidential Address (wie Anm. 1), 736. 17 Ein Befürworter einer indischen „Frühen Neuzeit“ ist der Historiker Sanjay Subrahmanyam: vgl. Sanjay Subrahmanyam, Connected Histories. Notes towards a Reconfiguration of Early Modern Eurasia, in: Modern Asian Studies 31, 1997, 735–762; ders. Penumbral Visions. Making Polities in Early Modern South India. New Delhi/Oxford 2001. Vgl. auch John F. Richards, Early Modern India and World History, in: Journal of World History 8/2, 1997, 197–209.

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zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert nach wie vor als „pre-colonial“. Implizit bleibt also die Annahme, die Moderne sei eine europäische Errungenschaft, die erst im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts die geschichtliche Entwicklung Indiens grundlegend verändert habe. Doch es existiert mittlerweile eine substantielle empirische Forschung zu dem Zeitraum zwischen 1500 und 1800, die es ermöglicht, eine eigenständige Entwicklungsphase als eine Einheit zu definieren.18 Die chronologische Wahl des Zeitabschnittes 1500–1800 ist keine mechanistische Übertragung eines europäischen Modells. Vielmehr weist sie auf die Verwobenheit von Weltentwicklungen hin, die wir mit dem Begriff der Neuzeit verbinden. Mein Plädoyer ist es, weder die Neuzeit als allein europäisches Phänomen zu betrachten, noch die Weltregionen zu dieser Zeit als geschlossene Kulturräume. Die Vernetzung der Weltregionen auf der wirtschaftlichen Ebene ist mittlerweile gut erforscht: Fernand Braudel, Immanuel Wallerstein, Kirti N. Chaudhuri oder André Gunder Frank bewegen sich alle, ungeachtet der unterschiedlichen Perspektiven und räumlichen Schwerpunkte, im Rahmen eines auf die interregionalen wirtschaftlichen Beziehungskonstellationen zwischen Zentren und Peripherien ausgerichteten historiographischen Modells.19 Das Bemühen, „die Überwindung von Distanzerfahrung durch Interaktion historisch zu verorten“20, lenkt die Aufmerksamkeit auf diejenigen jenseits wirtschaftlicher Dimensionen tieferliegenden Schichten großräumiger Beziehungsgefüge, deren Triebkräfte zu verschiedenen Zeiten in unterschiedliche Richtungen wirken konnten, Brüche erlebten und nicht allein auf Impulse vom Westen reagierten. Die bewußte thematische Erweiterung und multiperspektivische Analyse, welche die an einer Vielfalt von Prozessen beteiligten Akteure zur Sprache bringen kann, würde zur De18 Einige empirische Studien seien an dieser Stelle exemplarisch zitiert: Sanjay Subrahmanyam, Explorations in Connected Histories. 2 Vols. New Delhi/Oxford 2005; ders., Merchant Networks in the Early Modern World. Aldershot 1996; ders. (Ed.), Money and the Market in India 1100–1700. (Oxford in India Readings.) New Delhi/Oxford 1994; Ashin Das Gupta/Michael N. Pearson (Eds.), India and the Indian Ocean. New Delhi/ Oxford 1987; Chris A. Bayly, Imperial Meridian. The British Empire and the World 1780–1830. New York 1989, vor allem Kap. 1 und 2; ders., ,Archaic‘ and ,Modern‘ Globalization in the Eurasian and African Arena, c. 1750–1850, in: Paul James/R. R. Sharma (Eds.), Globalization and Violence. Vol. 4: Transnational Conflict. London/Thousand Oaks/New Delhi 2006, 5–31; ders., The Birth of the Modern World. Global Connections and Comparisons. Oxford/London 2004; Kirti Narayan Chaudhuri, Trade and Civilisation in the Indian Ocean: an Economic History from the Rise of Islam to 1750. Cambridge 1985; John F. Richards (Ed.), The Imperial Monetary System of Mughal India. New Delhi/ Oxford 1987; ders. (Ed.), Land, Property and the Environment. Oakland 2002. 19 Fernand Braudel, La Méditerranée et le monde méditérranéen à l’époque de Philippe II. Paris 1948; Immanuel Wallerstein, The Modern World-System. Capitalist Agriculture in the Sixteenth Century. 3 Vols. New York 1974–1989; Chaudhuri, Asia Before Europe (wie Anm. 10); Gunder Frank, Re-Orient (wie Anm. 10). 20 Zit. nach Schwentker, Globalisierung und Geschichtswissenschaft (wie Anm. 11), 49.

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stabilisierung eines teleologisch anmutenden Gegensatzes von Zentrum und Peripherie beitragen. So könnte dem Verdacht begegnet werden, daß eine Geschichte globaler Wirtschaftsbeziehungen zum ideologischen Fundament eines „eurozentrischen Entwicklungsmodells“ im Rahmen des kapitalistischen Systems werde.21 Die Idee einer verflochtenen Moderne soll erstens für die Frage sensibilisieren, inwieweit umfassendere Entwicklungen, die wir mit der Moderne oder der Frühmoderne assoziieren, erst als Teil globaler Verwobenheiten entstanden sind, und zweitens für die sehr unterschiedlichen, kulturspezifischen Auswirkungen und Wahrnehmungen des Wandels in den verschiedenen Regionen der Welt. Diese Pluralität, die kulturelle Vielfalt der Erfahrungen, die mit dem Begriff der Frühen Neuzeit in Zusammenhang steht, weist auf eine zentrale methodische Frage hin, die Frage der Begrifflichkeit, auf die ich hier kurz eingehen möchte.22 Sind Begriffe – wie etwa Staat, Religion, Identität oder Öffentlichkeit –, die oft auf zentrale historische Entwicklungen der Moderne hindeuten, aus der europäischen Erfahrung importiert worden? Sollen wir für die außereuropäische Welt statt diesen Begriffen „autochthone“ Begriffe der jeweiligen Gesellschaft, die wir untersuchen, benutzen – d. h. Begriffe in fremden Sprachen und kursiv gesetzt in einen deutschsprachigen Text einführen? Die Grundannahme des Beitrags ist die, daß europäische und außereuropäische Gesellschaften zwar verschieden sind – die Kategorie der Andersartigkeit soll also keineswegs grundsätzlich geleugnet werden. Aber zentrale Begriffe einer gemeinsamen Historie sind doch nicht so inkommensurabel, um sich einem transkulturellen Dialog zu verweigern. Dies kann zu dem Ergebnis führen, daß Begriffe für unterschiedliche Kontexte unterschiedlich gefaßt werden müssen. Hier sollte man meines Erachtens versuchen, Begriffe zunächst aus den Zusammenhängen der indischen Geschichte herauszuarbeiten und anschließend die Frage zu stellen, ob der uns bislang vertraute Gehalt von Begriffen nicht erneut reflektiert werden müßte, um 21 Vgl. die Kritik von Arif Dirlik, Confounding Metaphors, Inventions of the World: What is World History for?, in: Benedikt Stuchthey/Eckhardt Fuchs (Eds.), Writing World History 1800–2000. (Studies of the German Historical Institute London.) Oxford/ New York 2003, 91–133; Schwentker, Globalisierung und Geschichtswissenschaft (wie Anm. 11), 47, 58. 22 Diese Frage ist von mir und Margrit Pernau in den letzten Jahren ausführlich problematisiert worden. Es war Thema des von uns konzipierten Panel „Mit welchen Begriffen können wir transnationale Geschichte schreiben?“ auf dem ersten europäischen Kongreß für Welt- und Globalgeschichte, Leipzig, September 2005. Vgl. auch Juneja/Pernau, Lost in Translation? (wie Anm. 2); Monica Juneja, Missions, Encounters and Transnational History – Reflections on the Use of Concepts across Cultures, in: Andreas Gross/ Y. Vincent Kumaradoss/Heike Liebau (Eds.), Halle and the Beginning of Protestant Christianity in India. 3 Vols. Halle an der Saale 2006, Vol. 3, 1925–1946; Monica Juneja/ Margrit Pernau, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Religion und Grenzen in Indien und Deutschland. Auf dem Weg zu einer transnationalen Historiographie. Göttingen 2009.

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der Herausforderung der kulturellen Pluralität gerecht zu werden. Dies werde ich im abschließenden Teil des Beitrages in der Diskussion über Begriffe wie Identität oder Konversion problematisieren. Ich hoffe so zu vermeiden, daß konkrete europäische Bedingungen mit welthistorischen Allgemeinbegriffen besetzt werden. Darüber hinaus könnten Ansätze aus der außereuropäischen Geschichte die westliche Geschichtsschreibung dazu anregen, durch den Dialog mit dem Fremden eine neue Sicht auf das Eigene zu gewinnen. Im 16. Jahrhundert befand sich der indische Subkontinent an der Kreuzung von drei Handels- und Zivilisationsnetzwerken. Das erste reichte von der Westküste Indiens nach Arabien und weiter, das zweite verband den Nordwesten mit Zentralasien und dem Iran, das dritte die indische Coromandelküste mit Südostasien. Der Kreislauf von Menschen und Ideen, von Gütern und Weltbildern, der diese Regionen verband, hatte für die indische Geschichte in vielfacher Hinsicht eine konstitutive Wirkung. Zunächst hatte die Verknüpfung globaler Beziehungen ein neues Verständnis von territorialen und kulturellen Grenzen erzeugt, ein Verständnis, das die Welt nicht unbedingt in den Termini von Europa und „Außereuropa“ polarisierte. Zu dieser Zeit traten zwar Europäer in Indien als Forscher und Reisende, als Kaufleute, Missionare und Diplomaten auf, sie wurden aber im Bewußtsein der Eliten sowie der Mehrheit der indischen Bevölkerung kaum als Vertreter einer Leitkultur oder als Aspiranten einer imperialen Macht wahrgenommen. Der Bezugsrahmen für die indischen Eliten war zu diesem Zeitpunkt vielmehr der asiatische Raum, dominiert durch drei Großreiche – das Osmanische, das Safawiden- und das Mogulreich. Diese Konstellation bestimmte die Wahrnehmung von politischen und territorialen Verhältnissen: Etliche Darstellungen von Landkarten und der Weltkugel auf Miniaturen am Mogulhof fungierten als Spiegelbild dieses Bewußtseins von Grenzen und der Verteilung politisch-kultureller Macht.23 Zu den „connected histories“ von Europa und Asien trugen also nicht nur Handelsnetzwerke und die Zirkulation von Edelmetallen bei. Gemeinsame Themen und Weltanschauungen, ein kulturelles Vokabular, das quer über die Grenzen der einzelnen religiösen Gemeinschaften und Traditionen Verwendung fand, waren ein ebenso wichtiges Zeichen der Durchlässigkeit von geographisch-kulturellen Gren23

Einen mikrohistorischen Einblick in Fragen der transkulturellen Kommunikation, des Kulturtransfers sowie der Definition von Grenzen und Machtverhältnissen am Mogulhof bietet die Analyse einer außergewöhnlich vielschichtigen Quellengattung, der MogulMiniaturmalerei. Dazu Monica Juneja, Jahangir auf der Sanduhr – Überlegungen zur Lektüre einer Visualität im Spannungsfeld zwischen Eigenem und Fremdem, in: Gerhard Schneider (Hrsg.), Die visuellen Dimensionen des Historischen. Hans-Jürgen Pandel zum 60. Geburtstag. Schwalbach 2002, 142–157; dies., On the Margins of Utopia – One More Look at Mughal Painting, in: The Medieval History Journal 4/2, 2001, 203– 240.

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zen, welche die vielfältigen Beziehungen innerhalb des eurasischen Raumes während der Frühen Neuzeit prägte.24 Die Gestaltung von neuen Staatsformen, die in ihrer strukturellen Komplexität, Stabilität und territorialen Tragweite einen historischen Durchbruch bildeten, gilt als wichtiges Kennzeichen frühneuzeitlicher Gesellschaften weltweit: von dem Tokugawa-Staat in Japan und der Ming-Herrschaft in China, über das südasiatische Mogulreich, das Reich der Safawiden und Osmanen, das Rußland der Zaren, die Staaten der westeuropäischen Monarchien bis zu den britischen Inseln. Das indische Mogulreich, das während des 16. und 17. Jahrhunderts dem sich wandelnden Verständnis von Raum und Territorialität entstammte, wurde durch eigenständige politisch-kulturelle Institutionen geprägt. Lange hat die Geschichtsschreibung in Europa den Begriff der orientalischen Despotie als heuristische Kategorie herangezogen, um die vormodernen Staatsformen Asiens pauschal und im Gegensatz zu den westlichen Institutionen zu bezeichnen. So fand in dieser historiographischen Tradition auch der Mogul-Staat eine Charakterisierung als Willkürherrschaft, deren uneingeschränkte, parasitische Macht über eine passiv unterdrückte Bevölkerungsmasse durch das staatliche Monopol über das Bewässerungssystem untermauert würde. Der von Machiavelli, Bernier, Montesquieu und Adam Smith entworfene Idealtypus fand dann bei Marx, Wittfogel und Max Weber seine Fortsetzung.25 Die überwiegend polemischen Intentionen seiner verschiedenen Autoren – für Wittfogel, zum Beispiel, diente das Modell dazu, eine Verbindung zwischen asiatischer Autokratie und kommunistischem Totalitarismus herzustellen – lieferten der reichhaltigen historischen Forschung zu den Regionen Asiens einen wichtigen Antrieb.26 Im Falle des indischen Subkontinents steht der Begriff der orientalischen Despotie im Gegensatz zu den multiplen und stark hierarchisierten Gesellschaftsordnungen des Subkontinents, in denen regionale und Kastenzugehörigkeit wichtige Solidaritätsfaktoren bildeten. Mehrere Modelle der politischen Ordnung, die jeweils eine soziale und kulturelle Bindekraft besaßen, kennzeichneten über etliche Jahrhunderte den indischen Subkontinent.27 An dieser Stelle kann nur exemplarisch dar24

Ein wichtiges Beispiel waren gemeinsame millenarische Bewegungen und Glaubensstrukturen, die quer von Europa über große Teile asiatischer Gesellschaften verliefen, vgl. Subrahmanyam, Connected Histories (wie Anm. 17). 25 Exemplarisch seien an dieser Stelle zitiert Karl August Wittfogel, Oriental Despotism. A Comparative Study of Total Power. New Haven 1957; Brendan O’Leary, The Asiatic Mode of Production: Oriental Despotism, Historical Materialism and Indian History. Oxford 1989. 26 Vgl. Irfan Habib, An Examination of Wittfogel’s Theory of Oriental Despotism, in: Enquiry 6, 1961, 54–73. 27 Aus der umfangreichen Literatur zu diesem Thema kann hier nur exemplarisch auf einige einschlägige Titel hingewiesen werden: Romila Thapar, The Penguin History of Early India. From the Origins to 1300. 2nd, rev. Ed. New Delhi/London 2003; dies., From

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auf eingegangen werden. Ein wichtiges Beispiel bildeten die autonomen Fürstentümer, die in den Regionen des Nordwestens sowie Zentralindiens eine dominante politische Kraft waren. Die prominentesten unter Ihnen waren die in Familienverbänden organisierten Radjputen („Königssöhne“). Heiratsbeziehungen zwischen den Clans fungierten als wichtiges Mittel, um die Expansionspolitik sowie die Machthierarchien zu regeln: Das Schenken von Territorium wurde stets durch das „Geschenk“ einer Ehefrau begleitet. Eine Art Gegenkraft bildeten die Stammesgruppen, die sich seit Jahrhunderten in Waldgebieten niedergelassen hatten. Sie besaßen ihre eigenen Sprachen, Formen der Vergesellschaftung und religiösen Kulte. Oft gerieten sie mit expandierenden Königreichen in Konflikt, wenn es um die Rodung der Wälder und ihre Verwandlung in Ackerland ging. In den frühen indischen Königreichen (ca. 9. bis 15. Jahrhundert) bestand zumeist eine Art politischer und ritueller Interdependenz zwischen Machtzentren und weitgehend autonomen Regionen und Bevölkerungsgruppen. Die Herrschaft war auf die rituelle Inkorporation und nicht auf die direkte Verwaltungskontrolle angewiesen. Erst im 16. Jahrhundert brachte die unter den Mogulkaisern entwickelte Staatsform etliche, durch Eroberungskriege erworbene Territorien in einer rationalen Ordnung zusammen. Neuere Formen politischer Integration sowie Kontrolle begleiteten die kulturellen Mechanismen, um etliche Machteliten sowie eine pluri-ethnische Bevölkerung zusammenzuhalten. Etliche Faktoren, endogene sowie exogene, waren am Staatsbildungsprozeß beteiligt. Seine Akteure bewegten sich über einen breiten Raum, der sich von der Mongolei bis zu den Gebieten des Osmanischen Reiches erstreckte. Vom 13. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts bestimmte eine Form von regelmäßigen dynastischen Migrationen, die der Historiker Chris Bayly „warrior globalization“28 nennt, die politischen Konstellationen dieser gesamten Region. Nomadische Soldatengruppen eroberten Territorien, begründeten neue Dynastien, eigneten sich alte politische Apparate an und strukturierten sie um. Allen diesen Migrations- und Eroberungswellen war eine militärische Erneuerung gemeinsam: Sie bedienten sich schneller Pferde in großer Zahl und führten die Nutzung neuer Feuerwaffen – etwa Kanonen und Musketen – ein. Aus der Kontrolle wichtiger Fernhandelsstrecken sowie der üppigen Beute von Silber schufen sie die wirtschaftliche GrundLineage to State. Social Formations in the Mid-First Millennium BC in the Ganga Valley. 4th Ed. New Delhi/Oxford 1994; Hermann Kulke (Ed.), The State in India 1000–1700. (Oxford in India Readings: Themes in Indian History.) 2nd Ed. New Delhi/Oxford 1997; Muzaffar Alam/Sanjay Subrahmanyam (Eds.), The Mughal State 1536–1750. (Oxford in India Readings: Themes in Indian History.) New Delhi/Oxford 1998; John F. Richards (Ed.), Kingship and Authority in South Asia. 2nd Ed. New Delhi/Oxford 1998; Burton Stein, Peasant, State and Society in Medieval South India. New Delhi/Oxford 1980. 28 Bayly, ‚Archaic‘ and ‚Modern‘ Globalization (wie Anm. 18), 16.

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lage ihrer politischen Macht.29 Das unaufhörliche Bevölkerungswachstum, welches zwischen 1500 und 1800 zu einem globalen Phänomen wurde30, trug dazu bei, daß sich junge männliche Clanführer in neue Regionen aufmachten, um Land und Ressourcen zu suchen und so den Zusammenhalt des Familienverbandes zu sichern. So kamen auch die Begründer des indischen Mogulreiches als erobernde Eliten aus Zentralasien über Afghanistan nach Indien. Aus peripatetischen Lebensverhältnissen stammend, wo Besitz und Wohnraum durch Beweglichkeit gekennzeichnet waren, strebten sie die Herrschaft über Reiche und politische Konstellationen an, deren Grundlage die seßhafte Landwirtschaft und das Handwerk bildeten. Dem Staatsbildungsprozeß lagen zwei Strategien zu Grunde: erstens eine effiziente Bürokratisierung des Staatsapparates, um die Verbindung zwischen politischer, wirtschaftlicher und militärischer Macht herzustellen, und zweitens die Expansion in die Regionen des Subkontinents durch eine Politik der Assimilierung der älteren Eliten, welche in der Agrargesellschaft weiterhin eine kulturelle Dominanz bildeten.31 So wurde allen Angehörigen der herrschenden Schicht, den mansabdaren, ein durch eine Zahl klassifizierter Rang zugewiesen, der sowohl den Dienstgrad als auch das Gehalt regelte und dann mit einer weiteren Zahl verbunden wurde, die das von ihnen zu stellende Kavallerieaufgebot nannte. Das Gehalt eines Beamten wurde einem mansabdar zumeist in Form des Grundsteueraufkommens eines bestimmten Gebietes zugewiesen, das er verwaltete. Bei einer Beförderung wechselte er auch das Gebiet. Damit wurde eine allgemein verbindliche Ordnung geschaffen und zugleich die Bildung von Hausmacht unterbunden. Zugleich wurde die Beziehung zwischen dem Staat und den regionalen Fürsten und ländlichen Großgrundbesitzern, den zamindaren, über einen Austausch von Privilegien, Titeln und Tributzahlungen sowie die Gewährleistung der lokalen und regiona29

Die letzte Welle von Migrationen dieser Art fand im 18. Jahrhundert statt, im Jahr 1739 als der persische Herrscher Nadir Shah das Osmanische Reich und dann Nordindien angriff. Während der 1750er Jahre wanderten Gruppen des Durrani-Clans aus Afghanistan nach Indien ein; vgl. Bayly, ‚Archaic‘ and ‚Modern‘ Globalization (wie Anm. 18), 16 f. 30 Colin McEvedy/Richard Jones, Atlas of World Population History. London 1985, 349, für die Entwicklung auf der globalen Ebene. Für den indischen Subkontinent rechnen die Autoren mit einer Bevölkerungszahl von 100 Millionen für das Jahr 1500, die auf 185 Millionen um das Jahr 1800 angestiegen war. Irfan Habib geht von höheren Zahlen aus: 140–150 Millionen um 1600 und 200 Millionen um 1800, vgl. Tapan Raychaudhuri/Irfan Habib (Eds.), The Cambridge Economic History of India. 2 Vols. 2nd Ed. Cambridge/ Delhi 1984, Vol. 1, 166 f. 31 Ausführlich dazu Alam/Subrahmanyam, The Mughal State (wie Anm. 22); John F. Richards, The Mughal Empire. (The New Cambridge History of India, Vol. I/4.) 2nd Ed. Cambridge/New Delhi 1994; Irfan Habib, The Agrarian System of Mughal India 1556– 1707. 2nd, rev. Ed. New Delhi/Oxford 1999; eine gute Überblicksdarstellung auf Deutsch bleibt weiterhin Hermann Kulke/Dietmar Rothermund, Geschichte Indiens: von der Induskultur bis heute. 2., überarb. u. aktual. Aufl. München 1998, 220–232.

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len Autonomie durch den Staat geregelt. So kreuzte ein vertikal errichtetes System von Machthierarchien durch ein horizontal angelegtes Geflecht formeller und informeller Beziehungen. Bis ins 18. Jahrhundert gelang es dem Mogulstaat, die Balance zwischen diesen beiden Machtstrukturen aufrechtzuhalten. Anpassung an die lokalen Herrschaftspraktiken einerseits sowie Kontrollmechanismen, geführt durch ein Netzwerk von Beamten und Berichterstattern, hielten den Staat und die regionalen Eliten in gegenseitiger Abhängigkeit, einem Verhältnis, das erst im 18. Jahrhundert zusammenbrach. Doch zu dieser Zeit fügte sich die britische Kolonialmacht bereits nahtlos in das vielfältig verflochtene Netz von Berichten und geteiltem Wissen ein, das zwischen dem Hof des Mogulkaisers und den regionalen Machtzentren des Subkontinents bereits im 16. Jahrhundert entstand.32 Neben der Kontinuität der herrschenden Schicht waren es vor allem die weitgehende Monetarisierung des Reiches und die Stabilität der von den Moguln eingeführten Silberrupie, die das Regime stützten, weil sie die Erhebung der Grundsteuer und den interregionalen Handel erleichterten. Der Mogulstaat war hauptsächlich ein Agrarstaat, doch er war daran interessiert, daß der Handel – der Binnenhandel sowie der Fernhandel mit den europäischen Seemächten – florierte, da die Handelsgüter – etwa Seiden- und Baumwolltextilien, Diamanten, Pfeffer – gegen Edelmetalle getauscht wurden. Das Silber strömte aus den Bergwerken Amerikas über Europa nach Indien und ermöglichte die weite Zirkulation der neuen Währung.33 Der Wirtschaftshistoriker Om Prakash hat berechnet, daß in der Region Bengalen allein während des 17. Jahrhunderts im Bereich der Textilproduktion etwa 100 000 neue Arbeitsplätze entstanden.34 Insgesamt kann diese Produktion für die Weltwirtschaft also kaum als Nebensache betrachtet werden. Eine wichtige Sozialschicht von Händlern, Mittelsmännern und Geldverleihern entstand, die sich zunehmend auch in die Finanzierung von militärischen Angelegenheiten einmischte.35 Eine bislang unübertroffene ethnische, kulturelle und religiöse Heterogenität kennzeichnete die Gesellschaft des indischen Subkontinents seit dem 16. Jahrhundert. Das Mogulreich war ein polyethnisches Gebilde – selbst die muslimische Herrscherelite bestand aus mehreren Sprach- und ethnischen Gruppen: Zu den „indischen Muslimen“ zählten Türken, Afghanen, Perser, Mongolen und einheimische Konvertiten. Die Mehrheit der Bevölkerung 32 Vgl. Chris A. Bayly, Empire and Information: Intelligence Gathering and Social Communication in India 1780–1870. Cambridge 1996. 33 Richards, The Imperial Monetary System (wie Anm. 18). 34 Om Prakash, European Commercial Enterprise in Pre-Colonial India. (The New Cambridge History of India, Vol. II/5.) Cambridge 1998. 35 Vgl. Chris A. Bayly, Rulers, Townsmen and Bazaars. North Indian Society in the Age of British Expansion 1770–1870. 2nd, rev. Ed. Oxford/New Delhi 1993, u. a. für die Entstehung eines Arbeitsmarktes für das Militär, ebd. 68–73.

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bildeten jedoch die Nichtmuslime. Die meisten von ihnen gehörten unzähligen hinduistischen Kulten und Strömungen an und waren somit an vielfältigen Sprach- und Volkstraditionen beteiligt. Eine weitere religiöse Präsenz auf dem Subkontinent bildete das Christentum in seinen unterschiedlichen konfessionellen Varianten. Seit 1506 waren etliche Jesuiten-Missionen in mehreren Regionen tätig, und am Mogulhof bildeten Jesuiten eine wichtige kulturelle Präsenz. Die ersten Protestanten kamen 1706 aus Halle nach Südindien, und syrisch-orthodoxe Christen lebten schon seit Jahrhunderten auf dem Subkontinent. Hermetisch definierte religiöse Grenzen konnten kaum die Grundlage der Staatsbildung liefern. Ehemaligen Hindu-Eliten bot der Staat die Möglichkeit, sich an der Macht zu beteiligen, zumeist auf der regionalen Ebene. Einige Vertreter der Fürstenstaaten gingen aber auch neuere Anbindungen zum Hof ein. Die Heirat zwischen Männern aus dem Familienverband der Moguln und Frauen aus den indischen Fürstenhäusern wurde zum wichtigen Mittel, um Loyalitäten und hierarchische Verhältnisse zu sichern. Während ein verbreitetes orientalistisches Konstrukt uns unzählige Darstellungen von im dekadenten Luxus ihrer Harems verweilenden polygamen Despoten des Ostens geliefert hat, bezeichnen zeitgenössische Quellen den haram als sakralen Ort, an dem der Sünde der Zugang verwehrt bliebe. Der Familienbegriff unter den nordindischen Eliten zu dieser Zeit, ahl o ayal, umfaßte die Gesamtheit von Verwandten und Abhängigen.36 Die mit der Zeit komplex gewordenen familiären Beziehungen, welche quer über Herrschaftsgruppen hinweg den Subkontinent überkreuzten, machten die Familie so zu einer Einheit in einem riesigen Verwandtschaftsnetz, das ein von Zentralasien über Afghanistan bis zum indischen Subkontinent ausgedehntes Territorium umspannte. Dem frühmodernen Staat vieler asiatischer Großreiche lag das Ideal eines universellen kosmischen Reiches zugrunde, das nie bemüht war, seine Territorien als kulturell homogene Einheit im Sinne des modernen Nationalstaates zu konzipieren. Ein kosmisches Reich setzte eine Herrschaft voraus, die von einem multi-ethnischen Gebilde gebildet wurde. Die universelle Herrschaft besaß die von Gott gegebene Macht, über die gesamte Vielfalt der Schöpfung zu regieren, sie einem neuen Organisationsprinzip zu unterwerfen, statt ihre Vielfalt einzuebnen.37 Gemeinsame religiöse Vorstellungen sowie ein kulturelles Vokabular verbanden die Großreiche der Moguln mit denen der Safawiden und Osmanen, so daß die relativ uneingeschränkten 36

Harbans Mukhia verwendet den Begriff der „expansiven Familie“, vgl. Harbans Mukhia, The Mughals of India. (The Peoples of Asia.) Oxford 2004, 114. 37 Eine Ausführung der monarchischen Ideologie im 16. Jahrhundert hat der zeitgenössische Hofhistoriker der Mogulen Abu’l Fazl geliefert: Abu’l Fazl Allami, Akbar Nama. 3 Vols. (engl. Übersetzung von Henry Beveridge.) Calcutta 1902–1939, Vol. 1, 143 ff. Vgl. auch Sayyid Athar Abbas Rizvi, Religious and Intellectual History of the Muslims in Akbar’s Reign. New Delhi 1975, 356 f.

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Bewegungsmöglichkeiten, welche die Sufis und Pilger, aber auch andere Reisende genossen, den politisch-territorialen Grenzen einen osmotischen Charakter verliehen.38 Auf dem indischen Subkontinent akkumulierten die Herrscher der Moguldynastie weitere Autorität, indem sie sich die politischen Traditionen der einheimischen hinduistisch geprägten Monarchien teilweise aneigneten. Einerseits lehnten sie das Prinzip der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Herrschern und Brahmanen (Priesterkaste), welche dem Hindu-Monarchen eine sakrale Macht verlieh, ab. Andererseits bemühten sie sich, die Mehrheit der Hindu-Untertanen anzusprechen, indem sie bewußt Parallelen zwischen hinduistischen und muslimischen Vorstellungen zogen: Die Pflicht eines Herrschers sei es, der Erde, den Menschen und dem dharma, der universellen kosmischen Ordnung der Hindus, Schutz zu bieten, Konflikte zu regeln und die Normen der Kastengesellschaft aufrechtzuerhalten. In der islamischen Tradition war die Institution der Monarchie zwar mit den Vorschriften der Sharia inkompatibel, doch verliehen ihr spätere Juristen und Philosophen, etwa Ibn Khaldun, Legitimierung über die Funktion, Frieden und Gerechtigkeit zu gewährleisten.39 Wichtig ist aber, daß es dem Staat im frühmodernen Indien zum ersten Mal gelungen ist, seine Autorität nicht aus religiösen Quellen oder Inhalten allein zu beziehen, sondern aus einer ethisch-moralischen Basis. Der Staat deutete seine Rolle vor allem als die zentrale vermittelnde Macht zwischen religiös-ethnischen Gruppen. So wurden die Idee der Gerechtigkeit und das daraus resultierende Ideal des universellen Friedens zum wichtigsten Merkmal einer aufgeklärten kosmischen Herrschaft, zum wirksamen ideologischen Mittel, um die moralische Autorität des Herrschers über eine kulturell heterogene Bevölkerung zu sichern.40 Die Ideale des angestrebten universellen Reichs fanden unzählige Ausdrucksformen über Ikonographie, Symbolsprache der Baukunst oder in literarischen Gattungen.41 Herrschergenealogien42, die eine Verbindung zu Gründern von Weltreichen wie etwa Timur und Chinghiz Khan herstellten, verfestigten dabei die Idee des souveränen Staates in einer selektiv aufbe38

Vgl. Richard C. Foltz, Mughal India and Central Asia. Karachi/Oxford 1998, 106 ff. Ibn Khaldun, The Muqaddimah. An Introduction to History. 3 Vols. (Übersetzung von Franz Rosenthal.) New York 1958; Buddha Prakash, Ibn Khaldun’s Philosophy of History, in: Islamic Culture 28, 1954, 492–508; Ann K. S. Lambton, State and Government in Medieval Islam. An Introduction to the Study of Islamic Political Theory: the Jurists. New York 1981, 158 f. 40 Abu’l Fazl Allami, Akbar Nama (wie Anm. 37), Vol. 1, 154 ff.; Muzaffar Alam, The Languages of Political Islam in India c. 1200–1800. New Delhi 2004; Rizvi, Religious and Intellectual History (wie Anm. 37). 41 Juneja, Jahangir auf der Sanduhr (wie Anm. 23); dies., On the Margins (wie Anm. 23); Ebba Koch, Mughal Art and Imperial Ideology. Collected Essays. New Delhi 2001; Monica Juneja (Ed.), Architecture in Medieval India. Forms, Contexts Histories. (South Asian History: Readings and Interpretations.) New Delhi 2001. 42 Abu’l Fazl Allami, Akbar Nama (wie Anm. 37), Vol. 1, 143 ff. 39

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wahrten historischen Erinnerung. Diese fungierte zugleich als Kosmologie, in der die Lichtsymbolik einen zentralen Stellenwert besaß: die Legende der Mongolenprinzessin Alanqua, welche ein himmlischer Lichtstrahl schwängerte und die so zum Ursprung der Dynastie wurde.43 Die Parallelen zur christlichen Kosmologie sind nicht ganz zufällig. Zusätzlich zu den ästhetischen, zeremoniellen oder kosmologisch geprägten Legitimationsformen führte der Mogulstaat noch die Idee eines Vertrages zwischen dem Herrscher und seinen Untertanen ein.44 In dieser Hinsicht also hatten Glaubensfragen in der indischen Gesellschaft und politischen Ordnung der Frühen Neuzeit nicht die Brisanz, die sie zu dieser Zeit in europäischen Reichen besaßen. Die frühere hinduistisch geprägte Herrschaft wurde von einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Priester (Brahmanen) und dem König untermauert. Darüber hinaus war sie mit einem Textcorpus – etwa den Dharmasastras – sowie sozialen Praktiken ausgestattet, welche über die Jahrhunderte hinweg die Integration fremder Herrschereliten oder außerhalb der Kastenhierarchie stehender Gruppen durch Emulation und Übernahme von Symbolen, Ritualen und Glaubensvorstellungen von höher stehenden Kasten ermöglichte. Diesen Prozeß hat der Soziologe M. N. Srinivas mit dem Begriff der Sanskritisierung erfaßt, um Mobilität, Wandel oder Integration innerhalb der Kastengesellschaft zu beschreiben.45 Erobernde Herrschergruppen erhielten einen relativ hohen Status, vorausgesetzt sie akzeptierten die dominanten Werte und hierarchische Stellung der brahmanischen Orthodoxie. Während sich der Sanskritisierungsprozeß auf der Ebene des Volksglaubens und der sozialen Praktiken in den meisten Regionen des Subkontinents durchsetzte, trennte sich die Mogulherrschaft im politischen Bereich weitgehend von der Unterwerfung unter sakrale Autorität. Religiöse Gruppen und Institutionen – muslimische Gelehrte, Brahmanen, Tempel und Sufi-Schreine – waren nun alle auf staatliche Förderung angewiesen. So gelang es dem Staat, sich weitgehend oberhalb der Macht religiöser Orthodoxie zu plazieren. Kann man in der indischen Gesellschaft von Individualisierungsprozessen sprechen, denen in der okzidentalen Welt ein zentraler Stellenwert für den Übergang zur Moderne zugewiesen wird? Ursula Lehmkuhl und Peer Schmidt haben die Frage gestellt, ob die Individualisierung wirklich nur ein auf Europa und die USA beschränktes Phänomen sei.46 Welche Formen der Selbstdeutung und Fremdzuschreibung gingen mit der sozialen Dynamik

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Ebd. 180. Abu’l Fazl Allami, Ain-i Akbari, zit. nach Mohammed Athar Ali, Towards an Interpretation of the Mughal Empire, in: Kulke (Ed.), The State in India (wie Anm. 27), 268. 45 Mysore Narasimhachar Srinivas, Social Change in Modern India. Berkeley 1966. 46 Ursula Lehmkuhl/Peer Schmidt, Globalisierung, in: Völker-Rasor (Hrsg.), Frühe Neuzeit (wie Anm. 3), 311. 44

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dieser Zeit einher, die es uns ermöglichen, von einem Identitätsbewußtsein in der indischen Gesellschaft zu sprechen? An dieser Stelle kann ich nur exemplarisch auf diese Frage eingehen. Suchen wir auf dem indischen Subkontinent nach dem autonomen, von religiösen Zwängen weitgehend befreiten Subjekt der westlichen Moderne, so befinden wir uns gleich mit der bekannten Schwierigkeit konfrontiert, ein aus der europäischen Erfahrung heraus geprägtes Verständnis der modernen Identität auf andere kulturelle Räume übertragen zu wollen. Dagegen möchte ich dafür plädieren, den Identitätsbegriff selbst zu problematisieren und ihn erneut zu reflektieren. Die zunehmende ethnisch-religiöse Pluralität, welche die indische Gesellschaft in dem Zeitraum seit dem 16. Jahrhundert charakterisierte, kann uns für diejenigen liminalen oder Zwischenräume sensibilisieren, die erst als Ergebnis einer Verflechtungsbeziehung geschaffen werden. Solche Räume transzendieren die Grenzziehung zwischen Innen und Außen, das heißt, sie sind weder innerhalb einer einzigen territorialen oder regional-kulturellen Grenze eingeschlossen, noch bilden sie ausschließlich einen Teil eines transnationalen Netzwerkes, sondern sie sind zugleich an beiden beteiligt. Welche Implikationen hatte die Herausforderung der ethnisch-kulturellen Heterogenität für Prozesse der Selbstdeutung und Grenzziehung auf dem Subkontinent? Hier beschränke ich mich exemplarisch auf die Frage der religiösen Identität. Auch wenn es schwierig ist, in der indischen Geschichte ein Phänomen zu finden, das eine Parallelität zur europäischen Konfessionalisierung aufweisen würde, bedeutet die Moderne nicht unbedingt einen „Untergang“ der Religion. Vielmehr wurde religiöse Zugehörigkeit im Rahmen von „multiplen Identitäten“ erneut verortet. Bislang hat man oft auf synkretistische Praktiken zwischen Religionsgemeinschaften – Hindus, Muslime und Christen – hingewiesen, die auf dem indischen Subkontinent über die Volksfrömmigkeit Wurzeln schlugen und für fließende Grenzen zwischen den Gemeinschaften sorgten: Zum Beispiel auf etliche gemeinsame Pilgerorte der Hindus und Muslime, oder auf die Anbetung der hinduistischen Pocken-Göttin durch Muslime und Christen, oder auch die Einordnung syrisch-orthodoxer Christen innerhalb der rituellen Hierarchie der Brahmanen.47 Religiöse Konversion wurde weniger als die Evakuierung eines alten Selbst und die Annahme eines neuen wahrgenommen. Vielmehr deutete sie auf eine Akkumulierung von mehreren, einander überlappenden Schichten des Selbst hin, eine Verkörperung der gelebten Heterogenität. Der Hinweis auf Synkretismus allein kann aber den Eindruck eines überwiegend spannungsfreien Identitätsbildungsprozesses akkumulatorischer Art vermitteln. Daß dieser Prozeß jedoch in brisante Konflikte um unterschiedliche Vorstellungen von religiösen Identitäten mündete, läßt sich anhand von Beispie47 Vgl. Susan Bayly, Saints, Goddesses and Kings: Muslims and Christians in South Indian Society 1700–1900. (Cambridge South Asian Studies, Vol. 43.) Cambridge 1989.

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len der Konversion zum Christentum in der Frühen Neuzeit nachzeichnen. Solche konfligierenden Vorstellungen waren selbst das Ergebnis einer Verflechtungsbeziehung. Denn der Anthropologe Talal Asad hat darauf hingewiesen, daß im 17. Jahrhundert Religion und Konversion im europäischen Raum zunehmend zu einer Angelegenheit des individuellen Gewissens geworden seien, während sich das Missionsunternehmen in die außereuropäische Welt verlagert habe.48 Die Verflechtung eines individuellen Religionsverständnisses mit lokalen Handlungsformen innerhalb eines translokalen Zwischenraumes hatte, so mein Argument, eine konstitutive Wirkung für die Entstehung eines neuen Verständnisses der religiösen Identität, die bei den Konvertiten sowie den Nicht-Konvertiten tiefe Spuren hinterließ. Eine zentrale Frage war es zum Beispiel, ob ein einheimischer Konvertit, ein indischer Muslim oder ein getaufter indischer Christ seine Kastenzugehörigkeit beibehalten könne, oder ob die muslimische oder christliche Gemeinde eine neue, homogene Gemeinschaft bilde, in der die Unterschiede der Kasten keine Rolle mehr spielen dürften. Zwar beruht die Kastenordnung auf dem Prinzip der Ungleichheit und Trennung, doch hat ihr integrativer Mechanismus bewirkt, daß keine der weiteren Religionsgemeinschaften Indiens, unbeachtet ihres ideologischen Gehaltes, sich de facto außerhalb dieses Rahmens stellen konnte, denn die meisten Menschen lebten mit der Vorstellung, die Praxis der sozialen Grenzen sei ihnen von der Religion vorgeschrieben. In der Wahrnehmung indischer Konvertiten bedeutete also die Bekehrung nicht unbedingt eine vollständige Herauslösung aus dem vorherigen sozialen Zusammenhang. Die Forschung über indische Muslime hat gezeigt, daß ihr Sozialsystem mit der hinduistischen Stratifikation nach Kasten weitgehend vergleichbar ist: Endogamie, spezialisierte Berufsgruppen und eine soziale Hierarchie nach Abstammungskriterien sind genauso vorhanden. Auch die Vorstellungen von Reinheit und Unreinheit sind in der sozialen Praxis zu beobachten.49 Geschlechterpraktiken, etwa die Verschleierung (pardah), der Rückzug von Frauen aus der Öffentlichkeit oder die Höhe der Morgengabe, bestimmen den sozialen und religiösen Status von Familien.50 Auch bei den indischen Christen galten in der Praxis die soziale Gliederung nach Kasten sowie in bestimmten Kirchen sogar die Regeln der rituellen Reinheit. Zum Beispiel diente der kreuzförmige Grundriß einer Kirche dazu, Sitzplätze nach Kastengruppen und Geschlechtern aufzuteilen. Hin48 Talal Asad, Genealogies of Religion: Discipline and Reasons of Power in Christianity and Islam. Baltimore 1993; vgl. auch Peter Van der Veer (Ed.), Conversion to Modernities: The Globalization of Christianity. New York/London 1996, 5. 49 Imtiaz Ahmad (Ed.), Caste and Social Stratification. Muslims in India. Delhi 1978. 50 Gail Minault/Hanna Papenek (Eds.), Separate Worlds: Studies of Pardah in South Asia. Delhi 1982; Aparna Rao, Die Stellung der Frau und die Ehre der Gruppe: Einige Bemerkungen zur Situation islamischer Frauen in Nordindien, in: Sociologus 42, 1992, 157–179.

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duistische Normen der rituellen Reinheit und Kommensalität setzten sich trotz intensiver Debatten innerhalb der Kirche in die Praxis des getrennten Abendmahls sowie des Gemeindelebens fort. Bis heute bedeutet die Kastenzugehörigkeit für viele indische Konvertiten eher einen stabilisierenden Faktor, eine Tatsache die anregt, den Konversionsbegriff elastischer zu fassen. Die Konversion ließe sich so als Handlungsakt verstehen, als Antwort auf die Herausforderung der religiösen Pluralität in der Form einer Selbstöffnung.51 Ein weiterer, für den indischen Subkontinent während dieses Zeitraums sehr spezifischer Aspekt der Identitätsbildung war die Verwobenheit zwischen Sprache, regionaler Identität und religiöser Zugehörigkeit. Ich möchte dieses Phänomen anhand des mir aus meiner Forschung vertrauten Beispiels der tamilischen Christen ausführen, es läßt sich aber auch anhand etlicher hinduistischer Frömmigkeitsbewegungen seit dem 16. Jahrhundert nachzeichnen.52 Die Verbreitung des Christentums in den tamilischen Regionen ging zugleich mit einer regen Wissensproduktion über die tamilische Kultur einher, an der Missionare und einheimische Informanten gemeinsam beteiligt waren. Die umfangreiche medizinische und linguistische Forschung der christlichen Missionare, ihre Abhandlungen über die Religion, die soziale Ordnung und literarische Traditionen der Tamilen entstanden nicht allein aus klassischen Sanskrit-Textquellen, sondern beruhten teilweise auf älterer, regionsspezifischer tamilischer Literatur und zeitgenössischen kulturellen Praktiken. Die Textualisierung des Kulturgutes verlieh ihm die Form eines neuen Kanons, der zum großen Teil aus einheimischen Stimmen entstanden war und wiederum in die Dynamik der Identitätsbildung einging. Die neue christlich geprägte Identität vieler Tamilen bestand aus einer Sammlung von „invented traditions“: Die Suche nach dem Ursprung der tamilischen Sprache, der tamilischen literarischen Traditionen sowie naturwissenschaftlichen Taxonomien bewirkte eine Identitätsstiftung in Abgrenzung sowie im Gegensatz zu den klassischen Sanskrit-Traditionen anderer Regionen und Sozialschichten. Die religiöse Zugehörigkeit bildete ein Element, das im Prozeß der Traditionserfindung gemeinsam mit anderen kulturellen und sozialen Eigenschaften an der Selbstdeutung beteiligt war. Im 20. Jahrhundert wurde diese Selbstvergewisserung zu einer prägenden politischen Kraft, die sich dabei zunehmend radikalisierte.53 Sprache, als wichtiges Mittel der Identitätsbildung, war nicht nur von der Religionsgemeinschaft untrennbar, son-

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Diese Fragen sind ausführlicher behandelt in: Monica Juneja, Mission und Begegnung – die Gestaltung und Grenzen eines kommunikativen Raumes, in: Juneja/Pernau (Hrsg.), Religion und Grenzen (wie Anm. 22). 52 Ebd. 53 Vgl. Andreas Nehring, Orientalismus und Mission: die Repräsentation der tamilischen Gesellschaft und Religion durch Leipziger Missionare 1840–1940. Wiesbaden 2003.

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dern viele Topoi aus dem religiösen Erfahrungsbereich – wie etwa Anbetung, Hingabe, oder das Vokabular der Verehrung – wurden auf die Sprache übertragen. Die Sprache selbst wurde zum Objekt der Frömmigkeit stilisiert.54 Auf wenigen Seiten habe ich versucht, auf diejenigen Erfahrungen des indischen Subkontinents hinzuweisen, welche durch globale Prozesse im Gang gebracht wurden. Während diese Entwicklung nicht völlig inkommensurabel mit parallelen Prozessen in anderen Teilen der Welt ist, sensibilisiert sie zugleich für vielfältige Wege in die „Moderne“ oder „Frühmoderne“. Am Schluß möchte ich noch einige offene Fragen stellen, die mir für die Erforschung der europäischen Geschichte der Frühen Neuzeit von zentraler Relevanz scheinen. Inwieweit kann die europäische Frühe Neuzeit allein aus einer Binnenperspektive heraus untersucht und erklärt werden? Die ergiebige Forschung – überwiegend zu wirtschaftlichen Aspekten – hat auf die gegenseitige konstitutive Wirkung des globalen Handels- und Kapitalaustausches bereits hingewiesen.55 Aus anderen Bereichen ließen sich weitere Fragen stellen – hier ein paar Beispiele aus meiner Forschung zu christlichen Missionen in Indien: Während der Frühen Neuzeit gelangen Abhandlungen, Sprachen, naturwissenschaftliche Studien, ethnologische Objekte nach Europa und wandern in Wissensbestände, in Kunst- und Naturalienkammern ein.56 Taxonomien der Naturgeschichte sowie der ethnologischen Objekte haben einerseits kognitive Pluralisierung angeregt, andererseits aber auch dazu beigetragen, Differenz zu schaffen. Wieweit sich die anthropologische Forschung über Menschengruppen im 19. Jahrhundert auf die rationalen Ordnungen des 18. strukturiert hätte, ist noch unklar. Abschließend scheint es kaum bestreitbar, daß das Paradoxon innerhalb der europäischen Moderne, der Widerspruch zwischen dem Universalismus und der Konstruktion von zivilisatorischen Hierarchien, mit transnationalen Begegnungen und den darauf folgenden transkulturellen Beziehungen zusammenhängt. Die systematische Erforschung dieses Zusammenhanges bleibt noch ein Desiderat.

54 Sumathy Ramaswamy, Passions of the Tongue. Language Devotion in Tamil India, 1891–1970. Berkeley 1997. 55 Etwa Washbrook, From Comparative Sociology to Global History (wie Anm. 14). 56 Thomas J. Müller-Bahlke, Die Wunderkammer. Die Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen. Halle an der Saale 1998.

Atlantische Geschichte und der Begriff der Frühen Neuzeit* Von

Wim Klooster Dieser Vortrag behauptet, daß sich der Epochenbegriff der Frühen Neuzeit auf die Atlantische Geschichte übertragen läßt. Obwohl eine Periodisierung in akademischen Studiengängen, Artikeln und Konferenzen selten klar und deutlich erörtert wird, fallen die zeitlichen Grenzen der Atlantischen Geschichte gewöhnlich fast mit jenen der Frühen Neuzeit zusammen. Anders gesagt: Dieses Spezialgebiet richtet sich nicht nur auf eine gewisse Region, sondern auch auf ein bestimmtes Zeitalter. Gemeinhin wird dabei vom Jahr 1492 als Schöpfungsjahr der Atlantischen Welt ausgegangen, wenn mehrere Historiker auch einen Anfang im späten 14. oder frühen 15. Jahrhundert bevorzugen. Während jene die Beziehungen Europas zu Amerika hervorheben, betonen diese die Bedeutung Afrikas und der atlantischen Archipels. Die Spezialisten gehen grundsätzlich davon aus, daß der Ruin der atlantischen Kolonialreiche und die Abschaffung des transatlantischen Sklavenhandels Wendepunkte gewesen sind, die die traditionelle Atlantische Welt beendet haben.

I. Was ist Atlantische Geschichte? Die Atlantische Welt ist das Forschungsobjekt der Atlantischen Historiker. Atlantische Geschichte ist ein relativ neuer Ansatz, der darauf abzielt, mit der traditionellen Geschichtsschreibung zu brechen. Sie stellt Bewegung und Zusammenhänge in den Mittelpunkt und ist interessiert am transatlantischen Fluß von Menschen, Produkten, Information und Krankheitskeimen. Angenommen, daß Veränderungen in einer Ecke der atlantischen Welt sich anderswo auswirkten, ein atlantischer Ansatz ändert unseren Begriff von Menschen, Gemeinschaften und ganzen Nationen, indem er die soziale, kulturelle und wirtschaftliche Wirkung der Atlantischen Welt in Betracht zieht. Fangen wir damit an, die Atlantische Welt zu definieren. Wo liegt sie? Sie besteht aus Afrika, Europa, Nord- und Südamerika, dem Karibischen Raum und den Inseln im Atlantischen Ozean. Auf den ersten Blick liegt es auf der Hand, den Ozean selbst zum Forschungsobjekt zu machen und dann die Zentrifugalkräfte zu analysieren. Nach näherer Überlegung ist das jedoch *

Ich möchte mich bei meinem Kollegen Thomas Kühne für seine Hilfe bedanken.

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problematisch. Eine solche Annäherung wäre schon deshalb nicht nützlich, weil sie die atlantische Welt auf die Küstenstriche zu beschränken droht und damit die Verhältnisse im atlantischen Raum falsch darstellen würde. Für die Herrschaft über die unmittelbaren Küsten war Seemacht zwar wichtig, aber die Beherrschung des Festlandes war einfach unerläßlich. In Afrika war die Macht der Europäer daher eingegrenzt, während diese in der Neuen Welt das Sagen hatten. Darüber hinaus ist es ohnehin unmöglich, die geographischen Grenzen der atlantischen Welt genau zu definieren, weil sie von den jeweiligen Vereinigungsfaktoren abhängen. Jene Regionen, die im kulturellen Bereich von der Atlantischen Welt beeinflußt wurden, waren nicht unbedingt dieselben, in denen sich ihre politischen oder wirtschaftlichen Auswirkungen offenbarten. Auf jeden Fall war die Atlantische Welt viel mehr als nur das Ensemble der atlantischen Küsten. Silber aus den Minen (Ober-)Perus und Mexikos gehörte genauso dazu wie Osnabrücker oder Oberlausitzer Leinwand. Und die Pfalz, als Herkunftsland zahlreicher Aussiedler nach Nordamerika, hat die atlantische Welt ebenso mitgeformt wie verschiedene Teile des afrikanischen Binnenlandes, aus dem die Sklaven Amerikas stammten. Lange Märsche im Binnenland waren nicht ungewohnt für versklavte Afrikaner auf dem Weg zur Küste, wo sie dann an Europäer verkauft wurden. Für viele von ihnen war Amerika ein Spiegelbild Afrikas, da auf die Landung der Verkauf und endlose Streifzüge folgten, bis der Bestimmungsort erreicht war.1 Bewegung und Vermischung sind Stichworte der atlantischen Historiographie. Man könnte behaupten, daß die Atlantische Welt verankert war in den Beziehungen zwischen den atlantischen Kontinenten, die die Bewegung von Kapital und Waren ermöglichten. Das Tribunal der Inquisition in Lima in Peru fand das heraus, als es in den Jahren um 1630 den persönlichen Besitz der Portugiesen einzufrieren versuchte. Es dauerte viele Jahre, bevor das Tribunal nur einen kleinen Anteil von dem erzielte, was ursprünglich gefordert war. Es was deshalb so schwierig, weil Handelsreichtum in der Atlantischen Welt zirkulierendes Vermögen war.2 Vermischung ist ebenso wichtig wie Bewegung. Zum Teil hat die Atlantische Geschichte soviel Interesse geweckt, weil sie, auch im übertragenen Sinne, neue Gebiete erschließt. Sie entfernt sich von der Fixierung auf Nationalstaaten und Kontinente und bevorzugt statt dessen eine mehr organische Geschichtsauffassung. Es wäre zum Beispiel unverständlich, die Ge1

Philip D. Morgan, The Cultural Implications of the Slave Trade. African Regional Origins, American Destinations and New World Developments, in: Slavery & Abolition 18, 1997, 122–145, hier 133 f. 2 Daviken Studnicki-Gizbert, La Nación amongst the Nations: Portuguese and other Maritime Trading Diasporas in the Atlantic, 16th–18th Centuries, Referat auf dem Symposium „Atlantic Jewry in an Age of Mercantilism“, Johns Hopkins University, 25.– 26. März 2005.

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schichte Brasiliens getrennt von Portugal und Westafrika zu betrachten. Der britisch-amerikanische Historiker J. R. Russell-Wood hat festgestellt, daß die menschlichen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen einerseits Salvador (die Hauptstadt Brasiliens bis 1763) und andererseits Dahomey und der Bucht von Benin so eng waren, daß Westafrika als Teil des Hinterlandes von Salvador betrachtet werden könnte.3 Erweitern wir das Blickfeld und sehen wir es global, dann erkennen wir, daß das, was manche Länder kennzeichnet, bestimmt wird von ihrer Verbindung mit fernen Gegenden. Der englische Soziologe Stuart Hall beobachtete: „Nicht eine einzige Teeplantage gibt es im Vereinigten Königreich. Gerade dies symbolisiert die englische Identität (…); was weiß jeder in der Welt, egal wer, über einen Engländer, abgesehen davon, daß er den Tag nicht verbringen kann ohne eine Tasse Tee? Wo kommt dieser her? Aus Ceylon – Sri Lanka, Indien. Das ist die äußere Geschichte innerhalb der Geschichte der Engländer“.4 Atlantische Historiker studieren die Vermischung der Kulturelemente von Völkern, die einander ursprünglich ganz fremd waren. Sie versuchen, die Transformation und Wechselwirkung von Indianern, Afrikanern und Europäern zu verstehen, indem sie erforschen, welche Elemente transplantiert und verändert wurden und auf welche Art und Weise dies geschah.5 Die Forschung über Hybridismus ist deshalb untrennbar mit diesem Spezialgebiet verbunden. Das gilt nicht nur für die Kulturgeschichte, sondern auch für andere Bereiche. Im Idealfall befassen sich atlantische Historiker nicht ausschließlich mit der Geschichte eines einzigen atlantischen Kolonialreichs, sondern erforschen auch die Verbindungen und die gegenseitige Durchdringung dieser Reiche.6 In der Karibik war zum Beispiel, was durchgehend „Schmuggel“ heißt, tatsächlich freier internationaler Handel, getrieben von Kaufleuten und Gelegenheitshändlern aus unterschiedlichen Reichen, meistens von Bewohnern von benachbarten ausländischen Kolonien. Die Nähe dieser Kolonien und die Abwesenheit einer unbestrittenen regionalen „Supermacht“ schufen eine Umgebung, in der Austausch und Umtausch gediehen. Folglich wurden nicht nur in den karibischen Kolonien Anweisungen aus dem Mutterland ignoriert oder modifiziert, sondern die Inseln entwikkelten sich auch kulturell oft in auffällig ähnlicher Weise.

3 A J. R. Russell-Wood, Ports of Colonial Brazil, in: Alan L. Karras/J. R. McNeill (Eds.), Atlantic American Societies. From Columbus through Abolition 1492–1888. London/ New York 1992, 189. 4 Stuart Hall, Old and New Identities, Old and New Ethnicities, in: Anthony D. King (Ed.), Culture, Globalization and the World-System: Contemporary Conditions for the Representation of Identity. Minneapolis 1997, 42. 5 Vgl. Linda M. Heywood (Ed.), Central Africans and Cultural Transformations in the American Diaspora. Cambridge 2002. 6 Vgl. Claudia Schnurmann, Atlantische Welten. Engländer und Niederländer im amerikanisch-atlantischen Raum 1648–1713. Köln 1998.

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Zugegebenermaßen sind der Atlantischen Geschichte Grenzen gesetzt. Wie der Geschichte individueller Nationen oder Kontinente ist der Atlantischen Geschichte Unvollständigkeit eigen. Erstmals ist die Welt offensichtlich größer als der atlantische Raum. Zweitens wäre es übertrieben zu behaupten, daß die Atlantische Welt andauernd alle Gesellschaften um den atlantischen Ozean herum in allen Hinsichten geprägt hat. Das Konzept der Atlantischen Geschichte hat aber den Vorteil, die Geschichte aus einem alternativen Blickwinkel zu sehen. Es ist nicht die Absicht der Spezialisten, andere Ansätze beiseitezufegen. Wie verhält sich die Atlantische Welt zur Welt des Mittelmeers, die zwischen den umliegenden Ländern ebenso als Brücke fungiert hat? Ein homogenisierendes Element, das von größter Wichtigkeit ist für das Verständnis der Mittelmeerwelt, fehlt in der Atlantischen Welt: das Klima. In seinem Meisterwerk beschreibt Fernand Braudel, wie der Boden im Mittelmeerraum, mit seinem unfruchtbaren Kalkstein, den weiten, durch Salz zerstörten Flächen und der unsicheren Lage des Ackerlandes verantwortlich war für die Armut seiner Völker. Für hunderte Schriftsteller, schreibt Braudel, ist die Provence griechischer gewesen als Griechenland. Genauso war Marokko ein zweites, ausgedörrteres Italien. Abwanderung innerhalb dieses Raums war eher Umzug als Umpflanzung. Der Umziehende fühlte sich in seiner neuen Heimat sofort zu Hause. Der Atlantik, fügt Braudel hinzu, ist jedoch von ganz anderer Beschaffenheit. Sich von Pol zu Pol erstreckend, spiegelt er die Farben aller irdischen Klimaten.7 Während Braudels Buch deshalb die Einheitlichkeit des Mittelmeerraums voraussetzt und seine Behandlung darauf abzielt, die Bausteine dieser Region auseinanderzunehmen, versuchen atlantische Historiker, eine von Natur aus heterogene Welt zusammenzustellen.8

II. Wie ist Atlantische Geschichte entstanden? National- und internationalpolitische Hintergründe Es gibt zuviele Genealogien der Atlantischen Geschichte, um uns damit im Detail aufzuhalten. Die meisten Historiker sind sich aber darüber einig, daß die ersten Grundlagen in den 1940er Jahren gelegt wurden. Die Ideen fanden damals in den politischen Verhältnissen einen guten Nährboden. Im Vorwort zu seinem Buch mit dem aufschlußreichen Titel „The Atlantic Civilization. Eighteenth-Century Origins“ schrieb Michael Kraus im Jahre 1949, 7

Fernand Braudel, The Mediterranean and the Mediterranean World in the Age of Philip II. New York 1972, Vol. 1, 231, 235, 237, 243. 8 Vgl. Bernard Bailyn, The Idea of Atlantic History. Itinerario, in: European Journal of Overseas History 20, 1996, 20.

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dem Gründungsjahr der NATO, daß Amerika im 18. Jahrhundert „viel getan hat, um Begriffen wie politische und religiöse Freiheit, wirtschaftliche Möglichkeiten und humanitäre Ideale Durchschlagskraft zu geben, und es hat die westliche Welt zu ihrer Verwirklichung angetrieben“.9 Die Werke von Kraus und seinen Geistesverwandten erschienen aber lange, bevor sich ihre Ideen in den Kreisen nordamerikanischer Historiker herauskristallisierten. Unentbehrlich war dafür die Zusammenarbeit zwischen dem Amerikaner R. R. Palmer und seinem französischen Kollege Jacques Godechot in den 1960er Jahren. Ihr Bemühen, ein transatlantisches revolutionäres Klima im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert begrifflich zu denken, hatte zum ersten Mal die Popularisierung der Atlantischen Geschichte zur Folge.10 In dieser Phase wurde die atlantische Expansionsgeschichte, wie Horst Pietschmann bemerkt hat, meist von den jeweiligen nationalen Expansionprozessen aus betrieben, wodurch sie letztlich nahezu zwangsläufig in die Untersuchung der Geschichte „kolonialer Imperien“ ausmündete, die dann allenfalls in atlantischer Perspektive verglichen wurden.11 Es waren dann die 1980er und 1990er Jahre, in denen sich das Spezialgebiet wirklich herausbildete. Die Erklärung eines Historikers ist, daß in diesen Jahren die Definition des Atlantiks als eines eigenständigen Forschungsgebiets eine innovativer Ansatz war, um die erste Verbindung zwischen der „Neuen Welt“ und einer schon völlig integrierten „Alten Welt“ neu einzurahmen. Sie verschaffte eine begrifflich reizvolle Alternative zu politisch empfindlichen Metaphern wie Entdeckung und Eroberung. Sie ermöglichte Gelehrten eine „maritime Antwort“ auf eine Krise der area studies nach dem Zusammenbruch der UdSSR und dem Aufkommen der Theorien über Postmoderne und Globalisierung.12 Es gibt dafür aber auch andere Gründe. Studiengänge für Atlantische Geschichte in den Vereinigten Staaten von Amerika dienen dazu, die traditionelle Schilderung zu ergänzen, welche die Rolle der europäischen Immigranten in der Gestaltung der Nation einseitig hervorhob. In den 1970er und 1980er Jahren, als die geforderte Einfügung der jeweiligen historischen Hintergründe der Schwarzen und der Latinos der Geschichte Afrikas und Lateinamerikas Tür und Tor öffnete, lag für die Epoche vor dem Bürgerkrieg ein Atlantischer Ansatz in zunehmendem Maße nahe. Der Vorteil eines Atlantischen Ansatzes liegt darin, daß er Elemente der Geschichte Afrikas und Lateinamerikas enthält. 9

Michael Kraus, The Atlantic Civilization. Eighteenth-Century Origins. Ithaca 1949, VIII. 10 Nicholas Canny, Writing Atlantic History; or, Reconfiguring the History of Colonial British America, in: JAmH 86, 1999, 1105. 11 Horst Pietschmann, Introduction. Atlantic History – History between European History and Global History, in: ders. (Ed.), Atlantic History. History of the Atlantic System, 1580–1830. Göttingen 2002, 21. 12 Donna Gabaccia, A Long Atlantic in a Wider World, in: Atlantic Studies 1, 2004, 4.

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Es gibt sicherlich Kritik an diesem Spezialgebiet. Zum einen wäre Atlantische Geschichte ebenso allgemein und schlecht definiert wie andere historische Konzepte, z. B. „Renaissance“ und „Kalter Krieg“. Andere haben das Gebiet als verwirrende Globalgeschichte bezeichnet, als politisch korrekt, aber auch als neokolonial. Einige Afrika-Historiker meinen, der afrikanische Anteil an der atlantischen Welt sei letztendlich nichts mehr als eine oberflächliche Behandlung des afrikanischen Sklavenhandels, die dem jeweiligen Erzähler erlaubt, in einer längeren Geschichte fortzufahren, die letztlich nur die europäische Zivilisation feiert.13

III. Wann ist die Atlantische Welt entstanden? Die Schlüsseldaten der Frühmoderne sind sicher nicht allgemein anerkannt. Anfangs- und Endpunkt sind umstritten und hängen ab von den angewandten Kriterien. Es gibt Fachgenossen, die das Jahr 1350 als Anfang betrachten, entweder in Anerkennung des Aufkommens der Renaissance oder weil sie postulieren, daß die Pest eine Umbruchsperiode eingeleitet hat. Andere geben den Anfangspunkt mit 1650 an, wobei das Ende des Dreißigjährigen Krieges und damit das Ende der europäischen Religionskriege den Anfang bilden.14 Üblicher ist es aber, das Jahr 1500 zu bevorzugen, das heißt eine runde Jahreszahl zwischen Kolumbus’ erster Reise nach Amerika und der Veröffentlichung der 95 Thesen Luthers. 1492 ist aber, oft unausgesprochen, der wichtigere Wendepunkt. Schon Jacob Burckhardt hat die Tragweite der Entdeckungsreisen überhaupt und vor allem die des Kolumbus hervorgehoben. In seinem Abschnitt über die Entdeckung der Welt und des Menschen schrieb er: „Immer von Neuem aber wendet sich die Bewunderung der ehrwürdigen Gestalt des großen Genuesen zu, der einen neuen Continent jenseits der Wasser forderte, suchte und fand und der es zuerst aussprechen durfte: il mondo è poco, die Erde ist nicht so groß, als man glaubt.“15 Und da für die Christen der Alten Welt die geographische Entdeckung der Welt eine Selbstentdeckung mit sich brachte, geschah es in der Renaissance, daß das Wort „Europa“ zum ersten Mal in den gemeinsamen Sprachgebrauch aufgenommen wurde.16 Schließlich war die atlantische Expansion auch relevant

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William O’Reilly, Genealogies of Atlantic History, in: Atlantic Studies 1, 2004, 69, 77. Jonathan Dewald, The Early Modern Period, in: Peter N. Stearns (Ed.), Encyclopedia of European Social History from 1350 to 2000. New York 2001, 1, 165. Vgl. G. Pagès, The Thirty Years War, 1618–1648. New York 1970, 250. 15 Jacob Burckhardt, Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Leipzig 1885, Bd. 2, 4. 16 John Hale, The Civilization of Europe in the Renaissance. New York/Toronto 1994, 3. 14

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für die „westliche“ Periodisierung, weil sie als Bestandteil des frühmodernen europäischen Staatsbildungsprozesses gilt. Es ist also deutlich, daß die Periodisierung der Frühmoderne teilweise auf einem atlantischen Wendepunkt beruht. Aber wann fangen Atlantische Historiker selber mit ihrer Geschichte an? – Es gibt im Grunde zwei Ereignisse, beide iberische Initiativen: Portugals Eroberung der nordafrikanischen Stadt Ceuta im Jahr 1415 war der Beginn der europäischen Exploration der afrikanischen Küste, endlich gekrönt mit der Umfahrung des Kaps der Guten Hoffnung im Jahr 1487. Die zweite, wohl wichtigere Initiative war die von Kolumbus, mit der eine ununterbrochene Tradition transatlantischen Schiffsverkehrs begann. Er war damit der Wegbereiter der atlantischen Zivilisation; nach seinen Pionierleistungen sollten Afrika, Europa und Amerika ständig miteinander verbunden sein. Der Vorzug für das Epochenjahr 1492 scheint eine Vorstellung der atlantischen Welt zu verraten, die den Beziehungen zwischen Europa und der Neuen Welt besondere Bedeutung beilegt. Die Atlantische Welt ist aber viel tiefer verwurzelt. Nachdem eine genuesische Galeere im Jahre 1277 durch die Straße von Gibraltar nach Flandern gesegelt war, ein Kunststück, das ermöglicht wurde durch die jüngsten christlichen Eroberungen islamischer Gebiete auf der Iberischen Halbinsel, fingen einige italienische Staaten an, diese Route nach England, Frankreich und Flandern als Alternative zur Flußschiffahrt zu benutzen.17 An diese maritime Verknüpfung Nordwesteuropas mit dem Mittelmeer anschließend, wurde seit dem frühen 14. Jahrhundert eine Navigationszone zwischen den Azoren im Norden, den Kanarischen Inseln im Süden und den iberischen und afrikanischen Küsten im Osten geschaffen.18 Obwohl dies unter der Schirmherrschaft Kastiliens und Portugals geschah, waren die Entdeckungsreisen der zweiten Phase durch das hohe Maß internationaler Zusammenarbeit gekennzeichnet. Italiener, Engländer, Polen sowie Franzosen waren daran mit Arbeitspotential, Schiffen und Kapital beteiligt.19 Vor allem die Rolle der Genuesen war bemerkenswert. Nach dem Vorrücken der Ottomanen hatten die Kaufleute Genuas im Schwarzen und Ägäischen Meer an Boden verloren und sahen sich gezwungen, sich nach dem westlichen Mittelmeer und darüber hinaus nach dem Atlantik zu orientieren. Sie investierten dabei nicht nur Geld in den Fernhandel, sondern auch in die Herstellung industrieller Güter wie Seide und besonders Zucker. In 17 Luís Adão da Fonseca, The Discovery of Atlantic Space, in: George D. Winius (Ed.), Portugal, The Pathfinder: Journeys from the Medieval toward the Modern World 1300– ca. 1600. Madison 1995, 9–10. 18 Felipe Fernández-Armesto, Before Columbus: Exploration and Colonization from the Mediterranean to the Atlantic, 1229–1492. Philadelphia 1987, 152. 19 John Thornton, Africa and Africans in the Making of the Atlantic World, 1400–1680. Cambridge 1992, 27.

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Andalusien, an der Algarve, in Nordafrika und dann auf den atlantischen Inseln (Madeira und Kanaren) und auf den Inseln vor der Küste Westafrikas (Fernando Po und São Tomé) organisierten sie in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Zuckerproduktion. Sie waren verantwortlich für die Erschaffung des sogenannten Plantagenkomplexes: großangelegte Zuckerherstellung auf Plantagen, auf denen afrikanische Sklaven alleine oder in Zusammenarbeit mit freien Arbeitern Zucker für die europäischen Märkte herstellten. Die Atlantische Welt hatte damit schon in ihrer Anfangsphase eines ihrer Kennzeichen bekommen, denn der Plantagenkomplex wurde später fast nahtlos nach Brasilien und in die Karibik transplantiert.

IV. Das Ende der Atlantischen Welt Die Idee, daß die Atlantische Welt sich durch gewisse Kennzeichen unterschied, ist bedeutend, denn sie erlaubt uns eine zweite Zäsur anzusetzen. Die meisten Spezialisten meinen nämlich, daß das Atlantische Zeitalter begrenzt sei. Sie gehen grundsätzlich davon aus, daß das Ende der atlantischen Kolonialreiche und die Abschaffung des transatlantischen Sklavenhandels wichtige Wendepunkte gewesen seien. Das heißt nicht, daß sich die Kontakte zwischen beiden Seiten der Atlantischen Welt (Ost und West) nach der Befreiung der Sklaven und der Erlangung der Unabhängigkeit des amerikanischen Festlandes (abgesehen von einigen Gebieten, wie Kanada und Guyana) abgeschwächt hätten, sie haben nur andere Formen angenommen. Die Wanderung aus der Alten in die Neue Welt ließ zum Beispiel im 19. Jahrhundert nicht nach, aber die Herkunftsgebiete und Bestimmungen änderten sich vollkommen. Der Fluß versklavter Afrikaner versiegte, aber zahlreiche Europäer fingen an, ihre gewohnte Umgebung zu verlassen und nach Amerika zu ziehen. Man darf sich fragen, ob die Unabhängigkeit der spanischen und britischen Festlandskolonien außerhalb des Politischen tatsächlich so weitreichend war. Was bewirkte sie? Die transatlantischen Kulturgemeinschaften Spaniens und Großbritanniens erlitten sicherlich einen Schlag, aber die transatlantischen Brücken wirkten sich vor allem im Wirtschaftsbereich aus. Das Ende der Kolonialreiche war verknüpft mit der Abschaffung monopolistischer Handelspraktiken, die den Atlantischen Ozean in klar unterschiedene, merkantilistische, Reiche eingeteilt hatten. Freihandel, wie sehr er auch eingegrenzt war, konnte sich jetzt verwirklichen. Anders gesagt: Ungehemmter Kapitalismus konnte sich in bisher unerschlossene Territorien verlagern. Das war jedoch kein Blitzerfolg. Zuerst mußten die tiefgehenden Folgen der Kriegsära zwischen 1756 und 1815 überwunden worden. Der Handelsverkehr, technologische Innovationen und Arbeitsabwanderungen waren zum Stillstand gekommen. Erst in der zweiten Jahrhunderthälfte machten sich Veränderungen als zwangsläufige Folgen des Rückgangs der Transportko-

Atlantische Geschichte und der Begriff der Frühen Neuzeit

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sten und grenzenloser Kapitalanlagen bemerkbar.20 Lateinamerika und Afrika bekamen das auf unterschiedlicher Art und Weise zu spüren. Der Untergang der atlantischen Reiche Europas übertrug sich nicht auf Afrika, wo der Imperialismus einen qualitativen Sprung machte. In Lateinamerika fand aber genau das Umgekehrte statt. Gleichen diese Umbrüche jenen, die man hervorhebt, um die moderne Zeit von der Frühmoderne zu trennen? – In der Geschichte Europas wird die Industrielle Revolution gewöhnlich als Wendepunkt gesehen. Viele vertreten die Ansicht, daß die Entwicklungen, die die Einführung der neuen industriellen Produktionsweise mit sich brachten, den Untergang einer Gesellschaft verursacht haben, die sich durch bestimmte Weltanschauungen und spezifische Formen der sozialen und der Familienorganisation auszeichnete.21 Hier gibt es offensichtlich keine Parallele zur Atlantischen Geschichte. Ein anderer Aspekt der Industriellen Revolution, der die Moderne angeblich abhebt, ist der Ersatz von menschlicher oder tierischer Muskelkraft durch Maschinen. In dieser Hinsicht ist die Industrielle Revolution auch eine relevante Zäsur für Atlantische Historiker, die alle dem Historiker Eric Williams verpflichtet sind. Dieser aus Trinidad gebürtige Gelehrte veröffentlichte im Jahr 1944 ein Buch, in dem er Sklaverei und Sklavenhandel mit dem Aufschwung der Industrie in Großbritannien verband. Williams betonte eine dreifache Aneignung der britischen Industrie. In Afrika wurden Schwarze mit britischen Fertigerzeugnissen gekauft. Die Afrikaner wurden in die Plantagen befördert, wo sie tropische Produkte herstellten, die in England verarbeitet wurden und dadurch neue Industrien hervorbrachten. Auf den Plantagen haben die Sklaven und ihre Halter schließlich einen Markt für die britische Industrie geschaffen, ebenso für den Ackerbau Neuenglands und die Fischer Neufundlands.22 Die These Williams’ hat heutzutage noch nichts an Kraft eingebüßt und sorgt auch weiterhin für Kontroversen. Ein Historiker meint zum Beispiel, daß der Sklavenhandel und das Sklavensystem an sich nicht die Motoren von Handelssteigerung und industriellem Wachstum gewesen sind. Es war vielmehr die Zunahme der konsumtiven Nachfrage in Großbritannien nach Zucker und anderen Kolonialwaren, die den Plantagenkomplex ermöglicht hatten, der seinerseits für britische Textilhersteller in Afrika und in den amerikanischen Kolonien Absatzmärkte schuf. Das Sklavereisystem ist deshalb wichtig, aber trifft nicht die ganze Wahrheit.23 Williams hat viele Bewunderer wie Joseph Inikori, der vor drei Jahren in einem Buch die sogenannte 20

Kevin H. O’Rourke/Jeffrey G. Williamson, Globalization and History. The Evolution of a Nineteenth-Century Atlantic Economy. Cambridge, Mass./London 1999, 5. 21 Dewald, Early Modern Period (wie Anm. 14), 166. 22 Eric Williams, Capitalism and Slavery. London 1964, 52. 23 David Richardson, The Slave Trade, Sugar, and British Economic Growth, 1748–1776, in: JInterH 17, 1987, 741.

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Williams-These nicht nur verteidigte, sondern hinzufügte, daß der internationale Handel entscheidend war für den Erfolg der Industriellen Revolution, besonders der atlantische Handel.24 Auch wenn Inikori und andere Schüler von Eric Williams sich selbst vielleicht nicht als Atlantische Historiker betrachten, sondern eher als Historiker der afrikanischen Diaspora, so hat ihr Werk doch jene Gelehrten, die sich als Atlantiker identifizieren, weitgehend beeinflußt.

24

Joseph E. Inikori, Africans and the Industrial Revolution in England. A Study in International Trade and Economic Development. Cambridge 2002.

Frühe Neuzeit und Frühmoderne als Konzepte der ostasiatischen Geschichtswissenschaft Von

Reinhard Zöllner Für sämtliche Länder der Region Ostasien und für die Region insgesamt ist die „Frühe Neuzeit“ als historische Periode bereits vorgeschlagen worden – sowohl von einheimischen als auch von westlichen Wissenschaftlern. Diese Feststellung bedarf jedoch der Präzisierung. Die spärliche deutschsprachige Literatur, die sich diesen Welt- und Zeiträumen zuwendet, hat diese Frage bisher entweder noch nicht reflektiert oder aber geht wie selbstverständlich von einer Deckungsgleichheit von „frühneuzeitlich“ und dem in der angelsächsischen Literatur anzutreffenden „early modern“ aus.1 Interessanterweise ist übrigens „early modernity“ im Englischen seltener als „Frühe Neuzeit“ im Deutschen. Die Frage nach der Deckungsgleichheit ist wichtig, wird jedoch zusätzlich dadurch kompliziert, daß man untersuchen muß, welche Konzepte denn durch „early modern“ bzw. „frühneuzeitlich“ übersetzt werden sollen. Anders nämlich als im Falle Indiens gibt es in Ostasien einen eigenständigen Periodisierungsansatz, der zur „Frühen-Neuzeit“-Debatte in der deutschen Geschichte große Parallelen besitzt. Es handelt sich hier also nicht um einen Transfer aus der europäischen Geschichte in die ostasiatische Geschichte. Ausgangspunkt der ostasiatischen Debatte war Japan. Die erste Monographie mit dem Titel „Geschichte des frühmodernen Japan“2 erschien 1903 – drei Jahre früher noch als das erste Buch über das japanische Mittelalter3.

1

So auch Jürgen Osterhammel, Asien: Geschichte im eurasischen Zusammenhang, in: Anette Völker-Rasor (Hrsg.), Frühe Neuzeit. (Oldenbourg Geschichte Lehrbuch.) München 2000, 429–444, hier vor allem 430 f. 2 Uchida Ginzô, Nihon kinsei-shi. Vol. 1. Tôkyô (Fusanbô) 1903. Uchida (1872–1919) war Wirtschaftshistoriker und lehrte an der Kaiserlichen Universität Tôkyô. Er schrieb den ersten Band seiner „Geschichte der japanischen Frühen Neuzeit“ unmittelbar vor einem dreijährigen Studienaufenthalt in Europa, wo er sich vor allem in Deutschland mit der europäischen Geschichtswissenschaft beschäftigte. Der Abgrenzung der japanischen Frühen Neuzeit widmet er die Seiten 1 bis 58 im ersten Band. Als Kriterien ließ er „nicht nur die äußeren Formen des Lebens, sondern auch die Mentalität der Menschen“ gelten (55). – In diesem Aufsatz werden ostasiatische Personen wie in Ostasien üblich mit dem Familiennamen zuerst genannt. 3 Hara Katsurô, Nihon chûsei-shi. Vol. 1. Tôkyô (Fusanbô) 1906. Hara (1871–1924) war Professor an der Kaiserlichen Universität Kyôto und Spezialist für europäische Geschichte. 1920 veröffentlichte er als erster japanischer Historiker eine englischsprachige Geschichte Japans: An Introduction to the History of Japan. New York 1920.

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Seither ist diese Periode fest im japanischen Geschichtsbewußtsein verankert. Dies erklärt sich durch drei Umstände: Erstens gab es in Japan in historischer Zeit offiziell keinen Dynastiewechsel. Deshalb war eine Periodisierung der eigenen Geschichte nach Dynastien, wie sie in China, Vietnam und Korea praktiziert wurde, in Japan nicht möglich. Man war deshalb offen für die Suche nach griffigen Einteilungsschemata, welche die Chance boten, von einer zyklischen Geschichtsbetrachtung wie in China zu einer linearen zu gelangen, in der die Kriterien von Wandel und Fortschritt zum Tragen kamen. Solche Modelle ließen sich bereits im 14. Jahrhundert erkennen, etwa in der Schrift des Kitabatake Chikafusa über die „Chronik der wahren Linie göttlicher Kaiser“ (Jinnô shôtôki).4 Ausgefeilter wurden sie im 17. und 18. Jahrhundert, vor allem, als Arai Hakuseki 1712 „Eigene Ansichten nach dem Studium der Geschichte“ (Tokushi yoron)5 vorlegte und darin analysierte, wie sich politischer und sozialer Wandel auch ohne einen Dynastiewechsel periodisieren ließen. Es war daher im 19. Jahrhundert schon weitverbreitet, zwischen mythischer Urzeit, Altertum und eigener Gegenwart zu unterscheiden. Zweitens brachte die Mitte des 19. Jahrhunderts einen politischen Systemwechsel, die Meiji-Renovation von 1868, mit der sich die Notwendigkeit ergab, zwischen der Zeit davor – der jüngsten Vergangenheit – und der Gegenwart zu unterscheiden. Daß man diese Unterscheidung traf, war in erster Linie politisch motiviert. Aber es gab natürlich auch zahlreiche inhaltliche Rechtfertigungen für diese Unterscheidung. Wiederum konnte dieser Wandel, anders als in China 1912, nicht als ein Dynastiewechsel interpretiert werden. Er bedeutete auch nicht wie in Vietnam oder in Korea den Beginn einer kolonialen Besatzung und damit eine von außen verursachte Zäsur in der Nationalgeschichte. Das dritte Motiv ging über die Nationalgeschichtsschreibung hinaus. In seinem Verhältnis zu seinen Nachbarvölkern wollte Japan eine Grenze markieren, jenseits derer sich seine Geschichte eben nicht mehr im vertrauten Rahmen und nach den Regeln der bisherigen ostasiatischen Konzepte ereignete. Ähnlich wie die Japaner „Ostasien“ als moderne räumliche Kategorie entwickelten, in der sie selbst nach eigenen Regeln agierten und herrschten, bot der Anbruch einer neuen Epoche die Möglichkeit, Handlungsfreiheit gegenüber der sinozentrischen Geschichtsidee zu gewinnen. Es überrascht daher auch nicht, daß die Anwendung der japanischen Vorstellungen von Peri4

Kitabatake Chikafusa (übersetzt von Hermann Bohner), Jinno-Shoto-Ki. Buch von der wahren Gott-Kaiser-Herrschafts-Linie. Vol. 1. Tokyo 1935. Vgl. Ulrich Goch, Abriß der japanischen Geschichtsschreibung. München 1992. 5 Kommentierte Übersetzung: Joyce Ackroyd, Lessons from History: Arai Hakuseki’s Tokushi Yoron. New York 1982. Vgl. Ulrich Kemper, Arai Hakuseki und seine Geschichtsauffassung. Ein Beitrag zur Historiographie Japans in der Tokugawa-Zeit. Wiesbaden 1967.

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odisierung auf die chinesische Geschichte besonders wichtig und kontrovers wurde. Die sprachliche Umsetzung geschah anfangs nicht aus einem Guß, doch seit den 1890er Jahren vereinheitlichte sich die japanische Terminologie. Die eigene Gegenwart und die jüngere Vergangenheit wurden bislang mit Begriffen benannt, die wörtlich die „nahen Generationen“ (kindai oder kinsei) von Herrschern bezeichneten. Diese beiden ursprünglich bedeutungsgleichen Begriffe wurden nun für die japanische Geschichte auf zwei getrennte Perioden bezogen: Auf die Zeit nach der Meiji-Renovation von 1868 (kindai) und auf die Zeit davor (kinsei). Semantisch war klar, daß beide miteinander zusammenhingen, jedenfalls enger als die Perioden davor, für die man in Japan auf Anregung europäischer Modelle nun Altertum (kodai) und Mittelalter (chûsei) einführte.6 Das Ende des Mittelalters setzt man üblicherweise um 1600 an, als die Familie Tokugawa ihre Herrschaft als Shôgune errichtete. Die nachfolgende Epoche, die ich der Einfachheit halber jetzt schon „Frühe Neuzeit“ nenne, endete dann mit dem Zusammenbruch der Tokugawa-Herrschaft 1868. Von einem orthodoxen, an der Geschichte des Kaisertums orientierten Standpunkt aus ergab sich demnach ein vierstufiger Geschichtsverlauf: Am Anfang stand die „alte Generation“ (kodai), in welcher der Kaiser direkt herrschte. Es folgte seit dem 12. Jahrhundert die „mittlere Welt“ (chûsei), die von verschiedenen Kriegerfamilien beherrscht wurde. Ab 1600 begann die „nahe Welt“ (kinsei) als die Epoche der Herrschaft der Tokugawa. Sie wurde abgelöst durch die „nahe Generation“ (kindai), in der wiederum der Kaiser regierte. Zwei mit der Endsilbe dai markierte Zeitalter der direkten Kaiserherrschaft umklammerten daher als Anfang und Erfüllung zwei mit der Endsilbe sei degradierte Epochen, in denen nicht der Kaiser, sondern Kriegerhäuser herrschten. Die renovatio imperii, die Renaissance des Altertums, fand in Japan in dieser Sichtweise daher nicht in der „Frühen Neuzeit“ statt, sondern 1868, an deren Ende. Dies war jedenfalls die Lesart der Schullehrbücher. Ursprünglich war sie für den Hausgebrauch der Bildung kaiserlicher Untertanen bestimmt. Dies änderte sich 1896, als die Geschichte Ostasiens neben der japanischen Geschichte und der westlichen Geschichte staatliches Unterrichtsfach wurde. Auch für diesen Unterricht brauchte man Lehrbücher. Diese Lehrbücher orientierten sich aus Gründen der Praktikabilität in ihrer Periodisierung an den Vorgaben für die Geschichte Japans. Viele von ihnen wurden ins Chinesische übersetzt und machten die Chinesen daher seit Anfang des 20. Jahrhunderts mit diesen Konzepten bekannt.7 6

Tom Keirstead, Medieval Japan: Taking the Middle Ages Outside Europe, in: History Compass 2, 2004, AS 110, 1–14. 7 Zur Rezeption in China siehe Fang Qiumei, „Jindai“, „jinshi“, lishi fenqi yu shixue guannian, in: Shixue shi yanjiu (Journal of Historiography) 3, 2004, 54–64.

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Den entscheidenden Schritt tat jedoch der japanische Chinahistoriker Naitô Konan (1866–1934), der 1914 eine völlig neue Periodisierung für die chinesische Geschichte vorschlug und dabei von Bezügen auf die politische Geschichte völlig abrückte.8 Die große Wende sah Naitô nämlich im 10. Jahrhundert. Für Naitô begann damals in China, was man nicht anders als „Moderne“ übersetzen kann. Seine Kriterien dafür waren: (1) Der Niedergang des alten Adels und der Aufstieg der absolutistischen Monarchie. (2) Der Aufstieg der Unterschichten von Sklaven und Leibeigenen zu direkten Untertanen des Kaisers. (3) Die Einführung von Staatsprüfungen, die (in der Theorie) jedermann unabhängig von seinem persönlichen Stand offenstanden. (4) Das Auftreten politischer Parteiungen. (5) Das Wachstum der Geldwirtschaft. (6) Die Neigung, die konfuzianischen Klassiker frei zu interpretieren. (7) Die Herausbildung einer Volkskultur. Nach Naitôs Auffassung waren diese Kriterien seit dem 10. Jahrhundert durchgängig erfüllt, doch unterschied er innerhalb seiner Moderne noch eine „frühe Phase“ bis zum 14. Jahrhundert und eine „späte Phase“ vom 14. bis 20. Jahrhundert. Naitôs Phasen-Begriffe sind in der angelsächsischen ChinaHistoriographie als „early modern“ und „late modern“ übersetzt worden. Der Einfluß von Naitôs These auf die chinesische und internationale Geschichtsschreibung war und ist enorm. Die von ihm beschriebenen Phänomene sozialen, politischen und kulturellen Wandels werden allgemein als wichtige Meilensteine akzeptiert. Freilich gab es in Japan seit den 1930er Jahren einen Periodisierungsstreit, der im Zusammenhang mit der kommunistischen Debatte um Moderne und Feudalismus stand. Ein Teil der japanischen Historiker wollte nicht akzeptieren, daß es im vorrevolutionären China so etwas wie Moderne hatte geben können, hielt sich dagegen an marxistische Geschichtsauffassungen, die den Feudalismus als Zwischenschritt zwischen alter und moderner Gesellschaft verlangten, und lehnte Naitôs These entsprechend ab. Ein anderer Teil, vertreten durch Miyazaki Ichisada (1901–1995), folgte Naitô dagegen.9 Noch heute „kann ein China-Historiker 8

Naitô Konan, Shinaron. Tôkyô (Bunkaidô) 1914. Interessanterweise war es der deutsche Theologe Johann E. R. Käuffer, der in seiner „Geschichte von Ost-Asien“ (Bd. 3. Leipzig 1860) die „Neue Zeit“ in Ostasien um 1000 beginnen ließ. Ob Naitô diese Darstellung kannte, ist ungewiß. 9 Heute ist man auch in Japan eher geneigt, im Interesse einer Synchronisierung der eurasiatischen Begriffe kinsei im Sinne von early modern auf das China zwischen 16. und 19. Jahrhundert zu beziehen; so jüngst Kishimoto Mio/Hamaguchi Nobuko, Higashi Ajia no naka no Chûgoku-shi. Tôkyô (Nihon Hôsô Shuppkan Kyôkai) 2003, 108 f.

Frühe Neuzeit und Frühmoderne in der ostasiatischen Geschichtswissenschaft 483

das Wort ‚frühmodern‘ nicht leichten Herzens gebrauchen“, stellte Kishimoto Mio 1998 fest.10 Die angelsächsische Sinologie nahm diesen Disput so gut wie nicht zur Kenntnis und definierte „early modern“ wie der einflußreiche Historiker John K. Fairbank (1907–1991) als Bezeichnung für die Ming- und Qing-Dynastien von 1644 bis 1912, also jenen Zeitraum, der bei Naitô bereits die Spätphase der chinesischen Moderne darstellte.11 Noch häufiger aber ignorierte die amerikanisch-englische Forschung die Modernitätsdebatte und wählte neutrale Bezeichnungen wie „spätes Kaiserreich“ („late Imperial China“).12 Westliche Historiker, die sich wie Wolfram Eberhard13 Naitô anschlossen, waren daher die Ausnahme14: Zwischen den 1980ern und 1990ern blühte außerdem eine „revisionistische“ Variante auf, die das frühmoderne China im 16. Jahrhundert beginnen ließ, sich aber nicht durchsetzen konnte.15 Im Falle der japanischen Geschichtswissenschaft ließ sich die Debatte jedoch nicht verschweigen – insbesondere, weil die japanischen Historiker selbst seit den 1960er Jahren in ihren englischsprachigen Berichten für die internationale Historikergemeinschaft die Epochenbezeichnung „early modern Japan“ für den japanischen Begriff kinsei einsetzten.16 Spätestens seit 10

Kishimoto Mio, Higashi Ajia no „kinsei“. Tôkyô (Yamakawa) 1998, Ndr. 2002, 2. So z. B. Knight Biggerstaff, Modernization – and Early Modern China, in: Journal of Asian Studies 25/4, 1966, 607–619. 12 Bezeichnend hierfür John King Fairbank/Merle Goldman, China: A New History. Cambridge/London 2002 (10. Ndr. der erweiterten Version von 1992), wo nur von „Late Imperial China“ gesprochen wird. 13 Wolfram Eberhard, A History of China. Berkeley/Los Angeles 1977 (zuerst 1950, überarbeitet 1960), 205. 14 Eine weitere Ausnahme ist Kap. 6 des lange Zeit als Standardwerk betrachteten Titels: John K. Fairbank/Edwin O. Reischauer/Albert M. Craig (Eds.), East Asia: Tradition and Transformation. Boston 1973; der Verfasser dieses Kapitels, Edwin O. Reischauer, gibt zu, daß man „diese Periode tatsächlich die ‚frühmoderne‘ Phase nennen kann“ (ebd. 116). Gemeint ist der Zeitraum vom 9. bis 13. Jahrhundert. Allerdings hat sich Reischauer vor allem als Japanspezialist hervorgetan, so daß hier der Einfluß japanischer Geschichtsauffassungen spürbar sein kann. 15 Vgl. Søren Clausen, Early Modern China – A Preliminary Postmortem, elektronische Version eines Working Paper am Centre for Cultural Research, University of Aarhus 2000, publiziert 5. 4. 2000 (www.hum.au.dk/ckulturf/pages/publications/sc/china.htm; Stand: 21. 11. 2006). Clausen, der das Konzept des frühmodernen China ablehnt, ignoriert allerdings dessen wissenschaftsgeschichtlichen Ursprung völlig. Seine Schlußfolgerung, man müsse, wenn man überhaupt über ein frühmodernes China reden wolle, über den Zeitraum eines Milleniums, nämlich zwischen 800 und 1800, reden (ebd. 34), führt geradewegs zurück zur Naitô-These. 16 Die für ausländische Japan-Experten bestimmte K. B. S. Bibliography of Standard Reference Books for Japanese Studies with Descriptive Notes. Vol. 3, T. 1. Tôkyô (University of Tokyo Press) 1965, führt (allerdings noch unter der Epochenbezeichnung „Feudal Age II“) bereits Titel wie „Study of the Agricultural Policies in the Early Modern Period“ (für ein 1938 von Nakamura Kichiji verfaßtes Buch; 159 Nr. 309) und „Study of the Castle Towns in the Early Modern Period“ (für ein 1928 von Ono Hitoshi verfaßtes Werk; 161 11

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Graphik 1: Konkurrierende Modelle zum Ansatz der Frühmoderne in Ostasien China I

China II

China III

Japan

Korea

Vietnam 900

1100

1300

1500

1700

1900

1968 jedoch ist dieser Epochenbegriff in der englischsprachigen Japanforschung gängig.17 Mittlerweile gibt es auch Versuche, „early modern“ auf die Geschichte Koreas vom 14. oder 17. bis zum späten 19. Jahrhundert (deckungsgleich mit der Zeit, in der die Yi-Dynastie über das damals Joseon genannte Land herrschte) oder auf die Geschichte Vietnams vom 15. bis 19. Jahrhundert anzuwenNr. 312) auf. Im selben Jahr stellte sich die japanische Geschichtswissenschaft auf dem Wiener internationalen Historikerkongreß mit einer Übersicht über ihre Forschungsleistungen vor: The Japanese National Committee of Historical Sciences (Ed.), Japan at the XIIth International Congress of Historical Sciences in Vienna. Tôkyô (Nihon Gakujutsu Shinkôkai) 1965. Dort heißt die entsprechende Epoche „Medieval Period, II“, und in seinem Forschungsbericht vermied es Iwai Seiichi noch sorgfältig, in dem nachhallenden japanischen Historikerstreit um Feudalismus oder Frühmoderne Stellung zu nehmen: Er sprach unentwegt im englischen Text von „kinsei“ (ebd. 49–65). Wenn er es doch übersetzen mußte, benutzte er die unverdächtige Epochenbezeichnung der Kunstgeschichte („Momoyama and Edo periods“). In den Übersetzungen der japanischen Buchtitel wird häufig „Tokugawa period“ verwendet. Im Abschnitt über chinesische Geschichte, den Yanagida Setsuko verfaßte (ebd. 219–231), heißt es unter Bezug auf den Moderne-Streit, „die Charakterisierung der Periode von T’ang bis Sung als eine Zeit radikalen Wandels ist ein Japan eigener (peculiar) Gesichtspunkt“ (220). Offenbar hatten die japanischen Historiker damals den Eindruck, daß ihre widerstreitenden Periodisierungsansichten sich nicht adäquat im englischsprachigen Kontext verständlich machen ließen. Noch 1991 glaubte Asao Naohiro, es gebe in der europäischen Periodisierungspraxis nichts außer Altertum, Mittelalter und Moderne (Asao Naohiro, „Kinsei“ to wa nanika, in: ders. [Ed.], Nihon no kinsei. Vol. 1. Tôkyô [Chûô kôronsha] 1991, 7–52, hier 9). 17 Eines der wichtigsten frühen Werke war: John W. Hall/Marius B. Jansen (Ed.), Studies in the Institutional History of Early Modern Japan. Princeton 1968.

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den. Diese Versuche sind allerdings inhaltlich noch nicht ausgereift und haben sich auch in den Landessprachen noch nicht allgemein durchgesetzt. Hier herrscht eher „premodern“ (vormodern) oder „traditional“ vor, wenn man überhaupt davon absieht, die in der nationalen Geschichtsschreibung früher durchweg übliche Einteilung nach Herrscherdynastien aufzugeben. Für die Regionalgeschichte Ostasiens schlug Eugene Boardman bereits 1948 eine „early modern Far Eastern history“ vor18, der Harold F. Cook 1972 als „early modern history of East Asia“ eine zeitgemäßere sprachliche Form verlieh19. Auf japanischer Seite publizierte Miyazaki Ichisada 1950 einen Aufsehen erregenden Aufsatz mit dem Titel „Die ostasiatische Frühmoderne“, der in Gleichzeitigkeiten der ostasiatischen und der europäischen Geschichte nicht nur „parallele Phänomene“, sondern durch gegenseitige Beeinflussungen „innerlich miteinander verbundene Tatsachen“ aufzeigen wollte.20 Für ihn gab es fünf Hauptkriterien der ostasiatischen Frühmoderne: (1) Die Entwicklung eines auf das traditionelle Recht gestützten, vom Staat garantierten Rechtswesens; (2) die steigende Verbreitung von Wissen und Technik in der allgemeinen Bevölkerung; (3) auf der Fortentwicklung von Industrie und Landwirtschaft beruhende Verbesserungen in Lebensstandard und Lebensqualität;

(4) eine Tendenz zur Urbanisierung, verbunden mit dem Aufstieg der Kaufleute; (5) eine auf hohem Niveau stabilisierte, wenngleich gegenüber früheren Zeiten eingeschränkte Rolle des Militärs und der militärischen Übung in der Gesellschaft. Seinem Aufsatz fügte Miyazaki ein Schaubild mit dem Titel „Chronologie der Weltgeschichte“ und dem Kommentar bei: „Einfacher als diese Chrono18

Eugene P. Boardman, Book Review, in: Far Eastern Quarterly 8/1, 1948, 107–109. Harold F. Cook, Book Review, in: Journal of Asian Studies 31/2, 1972, 420 f. 20 Miyazaki Ichisada, Tôyô-teki kinsei, in: ders., Tôyô ni okeru soboku shugi no minzoku to bunmei shugi no no shakai. Tôkyô (Tôyô Bunko) 1989, 181–320, hier 313. Das Wort tôyô, das synonym mit „orientalisch“ (oder „asiatisch“) und „ostasiatisch“ verwendet werden kann, bedeutet in diesem Falle eindeutig „ostasiatisch“, wie sich aus der Gegenüberstellung mit der westasiatischen Geschichte ergibt. 19

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logie kann man die Weltgeschichte nicht erklären.“ In dem Schaubild stellte er die Geschichte Europas, Westasiens und Ostasiens als drei Säulen nebeneinander, die durch zeitlich unterschiedlich verlaufende Markierungen in die Epochen von Altertum, Mittelalter, Frühmoderne und schließlich „Neuester Zeit“ unterteilt waren. Demnach begannen Mittelalter und Frühmoderne am frühesten in Westasien, während die „Neueste Zeit“ (als gleichbedeutend mit der Moderne zu verstehen) als erstes in Europa einsetzte.21 Victor Lieberman entwickelte 1993 am Beispiel Südostasiens gar die These eines „early modern Eurasia“ zwischen 1350 und 1830, dessen Haupttendenzen er wie folgt beschrieb: „Insgesamt dehnte zwischen ca. 1350 und ca. 1830 jedes der führenden Reiche (zusammen mit mehreren weniger stabilen Staaten) sein Territorium aus, zentralisierte seine Verwaltung und sah Teile seiner Bevölkerung einheitlichere ethnische und religiöse Identitäten annehmen.“22 Die „eurasiatischen Konvergenzen“, die er in diesen Bereichen sah, führten ihn zur Schlußfolgerung, daß „eine sorgfältige Prüfung die hergebrachte Betonung der Einmaligkeit Europas zu modifizieren verspricht, um zu zeigen, daß einigen Parametern gemäß Europa [nur] eine besondere Variante eines weitverbreiteten frühmodernen Musters war“.23 Diese Vorstellung eines eurasiatischen Zusammenhanges griff Sanjay Subrahmanyam 1995 zwar auf und führte den Begriff der „connected histories“ ein.24 Er wandte sich jedoch entschieden gegen eine Reduktion auf eine materialistische Ebene. Für ihn begann die Frühmoderne in der Mitte des 14. Jahrhunderts mit einem eurasiatischen Zeitalter der Reisen und Entdekkungen, Veränderungen an der „Agrarfront“, im politischen Denken (Aufkommen eines neuen Universalreichgedankens) und einer Neudefinition der Vorstellung vom Menschen. Die für die Frühmoderne so typische Neigung zum Klassifizieren, Identifizieren und Unterscheiden führte er anders als die von ihm dafür kritisierten postmodernen Historiker nicht auf die europäische Aufklärung zurück; sie sei vielmehr Teil eines weltweiten historischen Prozesses gewesen.25 Aber immer noch sind solche Konzepte zur Frühmoderne in einem großregionalen Sinne, wie Subrahmanyam 1998 in einem anderen Aufsatz zugab, „sehr ungesichert (ambiguous)“.26 Die Tragfähigkeit all dieser Konzepte hängt implizit an der zugrundeliegenden Definition von Moderne. 21

Ebd. 185. Victor Lieberman, Local Integration and Eurasian Analogies: Structuring Southeast Asian History, c. 1350–c. 1830, in: Modern Asian Studies 27/3, 1993, 475–572, hier 488. 23 Ebd. 570. 24 Sanjay Subrahmanyam, Connected Histories: Notes toward a Reconfiguration of Early Modern Eurasia, in: Modern Asian Studies 31/3, 1995, 735–762. 25 Ebd. 761. 26 Ders., Hearing Voices: Vignettes of Early Modernity in South Asia, 1400–1750, in: Daedalus 127/3, 1998, 75–104, hier 100. 22

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Dieses Dilemma stellt sich natürlich nur dann, wenn man Selbstzeichnungen wie das japanische kinsei tatsächlich mit „early modern“, frühmodern, und nicht einfach mit „frühneuzeitlich“ (ohne Verweis auf den Prozeß der Moderne also) übersetzt. In der japanischen Geschichtswissenschaft ist man damit heute vorsichtig geworden. Einer der heute wichtigsten Vertreter der ostasiatischen Geschichte in Japan, Kishimoto Mio, nahm 1998 den Standpunkt eines definitorischen Minimalismus ein: Er definierte die Frühmoderne als Epoche, in der „verschiedene Weltregionen, die ihre jeweiligen Besonderheiten besitzen, sich aber gegenseitig beeinflussen, in der Zeit vom 16. bis 18. Jahrhundert einen gemeinsamen Rhythmus heftiger Veränderungen teilten.“27 Er nannte die Intensivierung der Marktwirtschaft, die Auflösung alter sozialer Ordnungen und das Werden neuer Staaten. Konkret setzte er sich allerdings nur mit wirtschaftlichen Verflechtungen auseinander, nämlich dem globalen Silberhandel, dem Handel mit Seide und Ginseng, der Verbreitung der Feuerwaffen sowie der aus Amerika eingeführten Anbauprodukte wie Tabak und Kartoffeln. Wenn meine Beobachtung stimmt, daß die frühesten prominenten Vertreter einer „early modern history“ zwei Professoren der Cornell University waren, nämlich der Wirtschaftshistoriker Abbott Payson Usher (1883–1965) und der politische Theoretiker George Holland Sabine (1880–1961), führt die Diskussion direkt zurück zu Werner Sombart (1863–1941) und der Debatte um den Ursprung des Kapitalismus. Usher rezensierte 1922 Sombarts Werk „Der moderne Kapitalismus“28 und resümierte: „Die wichtigen Anfänge des Kapitalismus erscheinen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts als das Resultat folgender Faktoren: der Entdeckung neuer Gold- und Silberminen in Zentraleuropa; der Entdeckungen von Amerika und der Seeroute nach Indien; der religiösen Verfolgungen; des Einzugs der germanischen Völker in die Geschichte; der Vollendung der Entwicklung der feudalen Monarchien; des Aufstiegs der modernen Armee; Fortschritten in Industrietechnik; Vollendung der doppelten Buchführung.“29

Usher fährt dann fort: „Sombart fühlt völlig zu recht, daß sein Ausdruck ,frühe kapitalistische Periode‘ Schmollers Ausdruck territoriale Wirtschaft oder Marxens Ausdruck Zeitalter der Manufaktur überlegen ist. Gleichzeitig ist nicht so deutlich, ob viel gewonnen ist gegenüber einer Folge von Ausdrücken, die der politischen und Verfassungsgeschichte näher verbunden wären: Mittelalter; Frühmoderne; Moderne.“30 Usher schlug diese Begriffe vor, weil er glaubte, daß damit Probleme der Landwirtschaft besser berücksichtigt werden könnten als mit der Fixierung

27

Kishimoto, Higashi Ajia no „kinsei“ (wie Anm. 10), 4. Abbott Payson Usher, The Genesis of Modern Capitalism, in: Quarterly Journal of Economics 36/3, 1922, 525–535. 29 Ebd. 528. 30 Ebd. 28

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auf den Kapitalismus. Jedenfalls aber gehörten Fragen der Weltwirtschaft von Anfang an zum Kernbereich der Definition von Frühmoderne. Es nimmt daher nicht Wunder, daß sich insbesondere jüngere Vertreter der Weltsystem-Theorie im Gefolge Immanuel Wallersteins der Frühmoderne unter welthistorischen Aspekten annehmen. Besondere Erwähnung verdienen die Ansätze des Japaners Yamashita Norihisa und des Koreaners Jang Yongsoo. Jang31 faßt die Geschichte der Beziehungen zwischen China, Japan und Korea in drei Phasen zusammen, nämlich traditionale Periode (vor dem Einfluß des Westens), Frühmoderne (1840 bis 1880) und Moderne (seit 1880). Für ihn entscheidet die Art der Einbindung in die kapitalistische Weltwirtschaft über den Grad der Modernität. Diese Einbindung entfaltete in der Region nach dem ersten Opiumkrieg ihre unumkehrbare Wirkung, ohne jedoch zunächst Chinas Hegemonie zu gefährden. Erst die völlige Unterwerfung Chinas im zweiten Opiumkrieg führte dann zum Zerfall der traditionalen regionalen Ordnung, deren Mittelpunkt China gebildet hatte. In der dritten Periode war es der japanische Imperialismus, der die letzten Reste der chinesischen Weltordnung beseitigte und die Region damit in die Weltwirtschaft führte. Dies ist ein reichlich konventioneller Ansatz. Viel weiter geht Yamashita32, der Wallersteins These von der europäischen Dominanz in der Weltwirtschaft nicht akzeptiert, sondern mit Andre Gunder Franks Überlegungen kombiniert und für das „lange 16. Jahrhundert“ der Weltgeschichte eine Periode der frühmodernen Reiche ausruft. In der Tat trifft sich die Auffassung, daß bis zum 19. Jahrhundert weder China noch Japan in ihrer ökonomischen Entwicklung Europa hinterherhinkten, sondern ihm mindestens ebenbürtig waren, mit den jüngsten, detaillierten Studien etwa von Kenneth Pomeranz33 oder Roy Bin Wong34. Frank fügte in seinem Buch „ReOrient“35 die These hinzu, daß der weltweite Austausch von Silber aus Amerika den wesentlichen Hintergrund der Weltwirtschaft bildete, die bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts von dem unstillbaren Silberhunger des chinesischen Reiches in Gang gehalten wurde. Von einem einseitigen Aufstieg Europas konnte demnach in dieser Zeit überhaupt nicht die Rede sein. Jack A. Goldstone wandte sich allerdings schon 1991 mit guten Gründen dagegen, in der Weltwirtschaft allein, etwa in Form einer Krise des Frühkapitalismus, die Erklärung für die Parallelen in der „frühmodernen Welt“ zu suchen. Er bezog China in seine Untersuchung der „frühmodernen Welt“ 31

Yongsoo Jang, A World-Systems Perspective on the Sociocultural History of East Asia: The Cases of China, Japan and Korea. PhD University at Albany 2004. 32 Yamashita Norihisa, Sekai shisutemu-ron de yomu Nihon. Tôkyô (Kôdansha) 2003. 33 Kenneth Pomeranz, The Great Divergence: China, Europe, and the Making of the Modern World Economy. Princeton 2000. 34 Roy Bin Wong, China Transformed: Historical Change and the Limits of European Experience. Ithaca/London 1997. 35 Andre Gunder Frank, ReOrient: Global Economy in the Asian Age. New Dehli 1998.

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ein und erblickte im wegen sinkender Mortalitätsraten ansteigenden Bevölkerungswachstum den Auslöser für dramatische Unruhen in den Gesellschaften und Umbrüche in der Staatenwelt des 17. Jahrhunderts. Sie mußten durch finanzpolitische Restriktionen, Reorganisation der Eliten, Migration und Urbanisierung sowie diesen Wandel abstützende Ideologien bewältigt werden, und die frühmodernen Staaten taten dies jeweils auf ihre Weise.36 Ob die unterschiedlichen Lösungsversuche allerdings rechtfertigen, gleich von „Frühmodernen“ im Plural zu sprechen, wie dies Shmuel Eisenstadt und Wolfgang Schluchter vorgeschlagen haben37, erscheint fraglich. Yamashita griff das von Goldstone ins Spiel gebrachte Element der Ideologie auf und vertrat nun die These, daß es seit dem „langen 16. Jahrhundert“ fünf parallel existierende Räume oder besser geo-ökonomische, geo-politische und geo-kulturelle Imaginationen gab, welche jede die Idee einer regionalen, monologischen Universalität besaßen, diese jedoch nie verwirklichen konnten. Diese Räume – gemeint sind Europa, das Osmanische Reich, das Mogulreich, Rußland und Ostasien – konnten in sich stark differenziert sein, doch diese Differenzierung folgte jeweils der dem jeweiligen „Reich“ zugrundeliegenden Tiefenstruktur. Fortschritte in Transporttechnik und Industrialisierung unterminierten allerdings die Unabhängigkeit dieser „Reiche“, die im 19. Jahrhundert zerfielen und in Nationalstaaten aufgelöst wurden. Nach Yamashitas Überzeugung ist jedoch gerade dieser Zustand seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, daß es keine universalen „Reiche“ gibt, nicht der weltgeschichtliche Normalzustand, sondern eine vorübergehende Ausnahme. D. h., die Phase der frühmodernen Reiche vom 16. bis 19. Jahrhundert war keinesfalls eine Übergangsphase. Vielmehr bildet unsere Zeit diesen Übergang, der nach dem Normalverlauf der Weltgeschichte in eine neue Reichsbildung münden sollte. Was spricht nun jenseits dieser makrohistorischen Überlegungen dafür, die „Frühe Neuzeit“ als weltgeschichtliche Normalität und nicht als instabile Übergangszeit zu verstehen? Soweit es Ostasien betrifft – und nach meinem Eindruck werden für die europäische Frühe Neuzeit in jüngster Zeit ähnliche Argumente vorgebracht –, gibt es tatsächlich herausragende Faktoren, welche eine solche Perspektive geradezu wünschenswert erscheinen lassen. Der wichtigste Punkt betrifft die relative Friedfertigkeit innerhalb der frühmodernen „Reiche“. Sowohl der Kernbereich Chinas als auch Japan sind zwischen der Mitte des 17. und der Mitte des 19. Jahrhunderts von inneren Auseinandersetzungen verschont geblieben. Dies bedeutet nicht, daß es 36 Jack A. Goldstone, Revolution and Rebellion in the Early Modern World. Los Angeles 1991. 37 Shmuel Eisenstadt/Wolfgang Schluchter (Eds.), Early Modernities = Daedalus 127/3, 1998 (Sonderheft).

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in den inneren oder äußeren Peripherien Chinas nicht zu heftigen Konflikten gekommen wäre, die dem Expansionismus des chinesischen Reiches geschuldet waren. Doch die Reichskerne waren stabil befriedet, weshalb sich dort überregionale Märkte bilden, technologische Innovationen in Landwirtschaft und Manufaktur durchsetzen, rational funktionierende Bürokratien entwickeln, produktive Volkskulturen ausformen konnten, kurz: die einmal etablierten symbolischen Räume mit ausdifferenzierten und stabilen sozialen Räumen korrespondierten. Dies erlaubte Bevölkerungswachstum, wirtschaftliche Expansion, kulturelle Dynamik, in einem Wort: ein besseres Leben für viele ohne die ständige Furcht vor Krieg und Fehde. Erst die massive Einwirkung des Westens – beginnend mit dem Silberabfluß aus China infolge des britischen Opiumhandels – destabilisierte diese Systeme im 19. Jahrhundert so stark, daß in einem langen und mit unglaublichen menschlichen Opfern verbundenen Jahrhundert der Revolution ihre Auflösung und Reorganisation erfolgen mußten. Die Taiping-Rebellion in den 1850er Jahren kostete zwischen 20 und 40 Millionen Menschenleben, danach folgten Schlag auf Schlag Kriege und Interventionen bis hin zum Zweiten Weltkrieg, der zweiten chinesischen Revolution, der Kulturrevolution, dem Korea- und dem Vietnamkrieg mit ihren kaum noch zu zählenden Verlusten an Menschen, Kulturen und Wohlstand. Mitte des 20. Jahrhunderts war Ostasien im globalen Maßstab so arm wie nie zuvor. Daß man unter diesen Umständen das „Goldene Zeitalter“ der Frühen Neuzeit als Normalfall der historischen Entwicklung zu entdecken begann, ist daher alles andere als unbegreiflich.

Abkürzungen und Zeitschriftensiglen AHR AJSoc AKG ARG CAHJP DAJ EconHR FMSt GG GRM GWU HA HJb HZ JAmH Jb. JCA JEconH JEEH JInterH KZSS VSWG WestfF ZfG ZHF ZKiG ZNR Zs. ZThK

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Die Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Stefan Brakensiek, Historisches Institut, Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Duisburg-Essen, Universitätsstraße 12, 45117 Essen Dr. Philippe Büttgen, Centre National de la Recherche Scientifique, Laboratoire d’Études sur les Monothéismes (UMR 8584), 7, rue Guy-Môquet, F-94801 Villejuif cedex, Frankreich Prof. Dr. Olivier Chaline, Université de Paris IV-Sorbonne, 1, rue Victor Cousin, F-75230 Paris-cedex 05, Frankreich Prof. Dr. Christian Freigang, Kunstgeschichtliches Institut, Professur für Kunst- und Architekturgeschichte, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Hausener Weg 120, 60489 Frankfurt am Main Privatdozent Dr. Martin Gierl, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität, Platz der Göttinger Sieben 5, 37073 Göttingen Prof. Dr. Axel Gotthard, Department Geschichte der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg, Kochstraße 4/BK 11, 91054 Erlangen Prof. Dr. Christian Grosse, Faculté des Lettres, Département d’Histoire Général, Rue Saint-Durs 5, CH-1211 Genève 4, Schweiz Prof. Dr. Hans-Werner Hahn, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität, Fürstengraben 13, 07743 Jena Prof. Dr. Ulrich Heinen, Institut für angewandte Kunst- und Bildwissenschaften, Bergische Universität, Gaußstraße 20, 42119 Wuppertal Prof. Dr. Andreas Holzem, Katholisch-Theologische Fakultät, Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte, Eberhard-Karls-Universität, Liebermeisterstraße 12, 72076 Tübingen Prof. Dr. Monica Juneja, Karl Jaspers Centre for Advanced Transcultural Studies, Universität Heidelberg, Voßstraße 2, 69115 Heidelberg Prof. Dr. Willem Klooster, History Department, Clark University, 950 Main Street, Worcester, MA 01610-1477, USA

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Die Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Laurenz Lütteken, Musikwissenschaftliches Institut, Universität Zürich, Florhofgasse 11, CH-8001 Zürich, Schweiz Prof. Dr. Helmut Neuhaus, Department Geschichte, Lehrstuhl für Neuere Geschichte I der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Kochstraße 4/BK11, 91054 Erlangen Prof. Dr. Thomas Nicklas, UFR des Lettres et Sciences Humaines, 57, rue Pierre Taittinger, F-51096 Reims, Frankreich Prof. Dr. Ulrich Pfister, Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Westfälische Wilhelms-Universität, Domplatz 20–22, 48143 Münster Prof. Dr. Sandra Richter, Institut für Literaturwissenschaft, Abt. Neuere deutsche Literatur I, Universität Stuttgart, Postfach 10 60 37, 70049 Stuttgart Prof. Dr. Merio Scattola, Università di Padova, Dipartimento di Lingue e Letterature Anglo-Germaniche e Slave, Via Beato Pellegrino, 26, I-35137 Padova, Italien Prof. Dr. Jürgen Schlumbohm, Jenaer Straße 33, 37085 Göttingen Prof. Dr. Luise Schorn-Schütte, Historisches Seminar der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Grüneburgplatz 1, 60323 Frankfurt am Main Prof. Dr. Desanka Schwara, SNF-Förderungsprofessorin, Historisches Institut, Abt. Neueste Geschichte, Universität Bern, Unitobler, Länggassstraße 49, CH-3000 Bern 9, Schweiz Prof. Dr. Helmut Zedelmaier, Historisches Seminar der Ludwig-MaximiliansUniversität, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München Prof. Dr. Reinhard Zöllner, Institut für Orient- und Asienwissenschaften, Abteilung Japanologie und Koreanistik, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Regina-Pacis-Weg 7, 53012 Bonn