Die Reformation: Als Epoche der Deutschen Geschichte [Neudr. der Ausg. 1951. Reprint 2019 ed.] 9783486779486, 9783511006396


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German Pages 336 Year 1970

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INHALT
BIBLIOGRAPHISCHE HINWEISE
EINFÜHRUNG DES HERAUSGEBERS
1. DIE RESPUBLICA CHRISTIANA DES MITTELALTERS UND IHRE AUFLÖSUNG
2. LUTHER
3. DEUTSCHLAND AN DER SCHWELLE DER REFORMATION
4. LUTHERS BEGEGNUNG MIT DER NATION
5. KAISERWAHL KARLS V
6. DIE ENTWICKLUNG DER REFORMATION ZU EINER NATIONALPOLITISCHEN BEWEGUNG
7. DIE STURM JAHRE DER REFORMATION
8. DER KAMPF UM ITALIEN
9. DIE ENTSTEHUNG DES PROTESTANTISCHEN PRINZIPS
10. DAS NEUE IMPERIUM UND SEINE GEGNER
11. RELIGION UND POLITIK
12. ENTSCHEIDUNGEN
13. ERGEBNISSE
ANMERKUNGEN
PAUL JOACHIMSEN
NAMEN- UND SACHREGISTER
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Die Reformation: Als Epoche der Deutschen Geschichte [Neudr. der Ausg. 1951. Reprint 2019 ed.]
 9783486779486, 9783511006396

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PAUL JOACHIMSEN DIE REFORMATION ALS EPOCHE DER DEUTSCHEN GESCHICHTE

PAUL JOACHIMSEN

DIE REFORMATION ALS EPOCHE DER DEUTSCHEN GESCHICHTE

In vollständiger aus dem Nachlaß OTTO

Fassung

erstmals

herausgegeben

von

SCHOTTENLOHER

NEUDRUCK DER AUSGABE MÜNCHEN 1951

I CI ENTI A V i ENTI A SCI ENTI A SCI ENTI A SCIENTI A SCIENTIA SCI ENTI A SCIENTIA

1970 SCIENTIA VERLAG AALEN

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der Verlage Chr. Kaiser und R. Oldenbourg, München Titelnummer 203/00639 ISBN 3 511 00639 2

Gesamtherstellung: fotokop wilhelm weihert, Kleyerstraße 12, Darmstadt P R I N T E D IN G E R M A N Y

INHALT Einführung des Herausgebers 1. Die respublica christiana des Mittelalters und ihre Auflösung .

.

.

Die respublica christiana des Mittelalters als einzige Heilsanstalt, als hierarchisches Imperium, als allgemeine Kulturgemeinsdiaft 1 — Die zweite Hälfte des Mittelalters bis zur Reformation eine Zeit fortgesetzter und sich steigernder Krisen 3 — Ergebnisse des fünften Laterankonzils: Überwindung des Schismas und der Konzilsbewegung 9 — Umgestaltung der christlichen Welt: Die westeuropäischen N a t i o n a l s t a a t e n ^ — Die italienische Papstmonarchie 13 — DieTürkengefahrl4 — Die Notwendigkeit der Kirchenreform 15 — Das Ablaßwesen und die kuriale Finanzpolitik 16 — Die humanistische Bildungswelt 17 — Erasmus und die humanistische Aufklärung 18.

2. Luther Luthers Werdegang zum Reformator in Selbstzeugnissen 22 — Historische Kritik an ihnen. Ihre symbolische Wahrheit 25 — Luthers Jugend. Klosterzeit 26 — Sein Ringen um den gnädigen Gott 27 — Die Mystik 29 — Wittenberg. Die neue Theologie 30 — Der Ablaßstreit 32 — Die fünfundneunzig Thesen 34.

3. Deutschland an der Schwelle der Reformation Maximilian I.: Außenpolitische Rührigkeit 36 — Kaiser und Reich: Die Reichsreform 38. Der Reichstag als Repräsentation des Reichs 39 — Die fürstlichen Territorien 39 — Reichsritterschafl und Städte 41 — Einbruch der kapitalistischen Wirtschaftsformen 45 — Der Bauernstand 46 — Prophezeiungen 46 — Die Geistlichkeit. Aufschwung der Religiosität. Soziale und nationale Spannungen 47 — Erstarkendes Nationalbewußtsein. Die „Gravamina der deutschen Nation" 49 — Verselbständigung des deutschen Geistes 50. Nikolaus von Cues 51. Der deutsche Humanismus als nationale Romantik 52 — Die religiöse Aufklärung des Erasmus 56 — Der Reuchlinsche Streit mit den „Dunkelmännern" 57.

4. Luthers Begegnung mit der Nation Wirkung der fünfundneunzig Thesen 60 — Der römische Prozeß. Luthers Erläuterungen zu den Thesen. Die Heidelberger Disputation 61 — Luther wird von Cajetan verhört 63 — Wachsende Anhängerschaft. Luther als Prediger und Volksschriftsteller 66 — Die Leipziger Disputation mit Eck 67 — Die nationalpolitische Agitation Huttens 68.

5. Kaiserwahl Karls V Letzte Pläne Maximilians 69 — Kampf um seine Nachfolge: Karl I. von Spanien. Franz I. von Frankreich. Heinrich V I I I . von England 71 — Die deutschen Königswähler. Wahlbestechungen 71 — Druck der Waffen. Die öffentliche Meinung 73 — Friedrich der Weise 75 — Vertreibung Ulrichs von Württemberg 76 — Haltung des Papstes. Friedrich lehnt die Wahl ab 77 — Karl wird Kaiser 78 — Seine Persönlichkeit 79 — Die Machtstellung der Habsburger 82 — Karls Wahlkapitulation 83.

6. Die Entwicklung der Reformation zu einer nationalpolitischen Bewegung Karls Abwesenheit von Deutschland 85 — Ausbreitung der lutherischen Bewe-

gung 86 — Erasmus 86 — Hutten und Sickingen 87 — Die päpstliche Bannbulle 88 — Luthers Kirchenbegriff. Neuorientierung der Kulturwerte. Die reformatorischen Schriften des Jahres 1520 89 — Die Nation tritt f ü r Luther ein. Christliche und deutsche Freiheit 92 — Stimmen der Gegner 94 — Die europäisdie Lage: Ständische Unruhen in Spanien. Frankreich. Die Schweiz. D e r Papst. England unter Wolsey als Schiedsrichter Europas 95 — Karls erster Reichstag in Worms 1521. Gegensatz von Kaiser und Reich in der Verfassungsfrage und in der Sache Luthers 9 9 — Luther in Worms 109 — Das Wormser Edikt 112.

7. Die Sturmjahre der Reformation

116

Rechts- und Finanzreformen des Reichsregiments 117. D i e religiöse Frage 120 — Sündenbekenntnis Hadrians V I . 1523 in Nürnberg. Forderung eines Nationalkonzils 121 — Ausbreitung der Reformation: Prediger. Flugschriften. Volkstümlicher Charakter der publizistischen Literatur 123 — Sozialpolitische Forderungen 126 — Luther auf der Wartburg. Wort Gottes und Gemeinde der wahren Christen 128 — Die Wittenberger Unruhen. Priesterehe und Laienkelch 129 — Die Schwarmgeister 131 — Rüdekehr Luthers. Luther und die weltliche Gewalt 132 — Sickingens Pfaffenkrieg 134 — Der Bauernkrieg 141 — Die zwölf Artikel 143 — Luthers Stellungnahme 146 — Thomas Münzer 147 — Folgen des Bauernkrieges 148.

8. Der Kampf um Italien

150

D e r Zug Karls V I I I . von Frankreich nach Neapel 1494. Italien wird zum europäischen K a m p f p l a t z 151 — Vertreibung der Franzosen aus Italien 1512 154 — Franz I. gewinnt 1515 Mailand 155 — Konzentrischer Angriff auf Frankreich 1523. Abfall K a r l s von Bourbon von Franz I . Frankreich verliert Mailand 155 — Landsknechte und Schweizer 156 — Schlacht bei P a v i a 1525. Gefangennahme Franz I. 156 — Gegner einer habsburgisdien Vorherrschaft: England, Italien, der Papst 158 — D i e Versuchung des Pescara 161 — D e r Friede von Madrid 161 — Die Heilige Liga von Cognac gegen Karl V . 162 — Handstreich der Colonna gegen den Papst 163 — Die deutschen Landsknechte unter Frundsberg. D i e Spanier unter Bourbon 163 — Der Sacco di Roma 164.

9. Die Entstehung des protestantischen Prinzips

166

Unfertigkeit des Neuen 166 — Versuche einer allgemeinen Regelung 167 — V o m Gedanken der Religionsvergleichung zum Sonderbekenntnis 168 — HessischSächsischer Fürstenbund. Erste Formulierung des protestantischen Prinzips 170 — Der Reichstag zu Speier 1526. Auftreten einer protestantischen Partei 172 — Der Plan eines Nationalkonzils scheitert 173 — K a r l V . in Italien, Ferdinand in Böhmen und Ungarn festgehalten 176 — Die religiöse Neuerung schreitet zu kirchlichen Bildungen fort 177 — Ausscheiden des Täufertums 177 — Ordnung des neuen Kirchenwesens 179 — Bildung landesherrlicher Kirchen 180 — Die Packschen Händel 182 — Defensiver Charakter des protestantischen Prinzips 183 — Neuer Reichstag zu Speier 1529 185 — Der Abendmahlstreit 186 — Die Speirer Protestation 187 — D i e Schwabacher Artikel 189 — Das Religionsgesprädi zwischen Luther und Zwingli zu Marburg 189 — Religiöse und politische Gegensätze unter den Protestierenden 189 — D e r Schmalkaldische Bund 190.

10. Das neue Imperium und seine Gegner Kaiserkrönung Karls V . in Bologna 191 — Seine Machtstellung in Italien und Spanien 192. Eroberung Amerikas 194 — Reichsidee. Der Gedanke der kaiserlidien Reformation 195 — D e r Augsburger Reichstag 198 — Melanchthon und die Augsburgische Konfession 199 — Konzilspläne. „Gerichtlicher Krieg" gegen die Neuerer 204 — Die Königswahl Ferdinands 205 — K a r l in den Niederlanden. Ihre wirtschaftliche Blüte, die Grundlage seiner Macht 206 — Edikte gegen die Ketzerei 208 — Politische Entwürfe der Schmalkaldener 2 0 9 — Untergang Zwing-

VI

191

Iis 211 — Wachstum des Sdimalkaldisdien Bundes 212 — Türkenkrieg und Religionsfrieden 213 — Die kaiserliche Politik in ihren wichtigsten Punkten bereits gescheitert 214 — Rückkehr Ulrichs von Württemberg 214 — Reformation Dänemarks und Englands 215 — Innerliche Festigung des Sdimalkaldisdien Bundes. Die Wittenberger Konkordie 217 — Wiederauftauchen der weltlichen Interessen, aber auch der phantastischen und mystischen Strömungen 219 — Die Täuferherrschafl in Münster 220 — Jürgen Wullenwever 221 — Kämpfe Karls in Italien und im Mittelmeer 225 — Waffenstillstand mit Frankreich und den Protestanten 227.

11. Religion und Politik

229

Die Religionsgespräche von 1540 in Hagenau und Worms 230 — Restauration der katholischen Kirdie. Contarini 231 — Das Regensburger Gesprädi 232 — 1541, das Anfangsjahr der Gegenreformation 233 — Der Konzilsgedanke: Der Papst, Luther und die Schmalkaldener, der Kaiser 233 — Zusammentritt des Trienter Konzils 236 — Politisches Manifest des Kaisers 239 — Ende des „gerichtlichen Kriegs" gegen die Protestanten 240 — Krieg Kaijs gegen Frankreich 240 — Der Friede von Crepy. Freie Hand in Deutsdiland 241 — Die Doppelehe Philipps von Hessen 242 — Karl unterwirft Jülich-Kleve 243 — Vorbereitungen Karls gegen die Schmalkaldener 244.

12. Entscheidungen

246

Planlosigkeit und Lässigkeit der Protestanten 246 — Karl ist Herr der Lage. Die Richtlinien seines Handelns 249 — Der Sdimalkaldisdie Krieg 249 — Die Schladit bei Mühlberg 251 — Der Papst gegen den Kaiser 252 — Der „geharnischte Reichstag" von 1548 zu Augsburg. Plan einer Reidisliga. Opposition der Fürsten 254 — Das Augsburger Interim 258 — Innere Kräftigung des Protestantismus 259 — Magdeburg „Gottes- und Christi Kanzlei" 261 — Die Nachfolge im Kaisertum. Habsburgische Familienpolitik 261 — Moritz von Sachsen 263 — Angriffsbündnis gegen den Kaiser 264 — Zusammenbruch der Macht Karls V. 265 — Der Passauer Vertrag 266 — Tod des Moritz von Sachsen 269 — Der Augsburger Religionsfriede, ein Werk des territorialen Fürstentums 270 — Die Reichsexekutionsordnung 272 — Abdankung Karls V. 271 — Deutschland am Ende der Reformationszeit 273.

13. Ergebnisse

276

Karl V. und Luther 276 — Universalmonardiie und Glaubenserneuerung. Ihr Zusammentreffen ein Verhängnis f ü r beide 277 — Karl in San Juste 278 — Karl als Renaissancemensch 279 — Seine Herrscherpersönlidikeit 280 — Luther „der Deutschen Prophet" 281 — Evangelische Kirchenbildung, von Luther mehr zugelassen als geschaffen 281 — Der große Unzeitgemäße 282 — Beginn eines neuen Zeitalters aus dem Kampf zwischen Protestantismus und Katholizismus 283.

Anmerkungen

284

Paul Joachimsen. Lebensabriß und Schriftenverzeichnis

287

Personen- und Sachverzeichnis

294

VII

BIBLIOGRAPHISCHE HINWEISE Gesamtdarstellungen: Leopold v. Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. 6 B . Berlin 1839—47. Hist.-krit. Ausgabe v. Paul Joachimsen. 6 B. München 1925—26. — Johannes Janssen, Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters. B. 1—3. Freiburg 1878—81. 19. u. 20. A. 1913—17. — Friedrich von Bezold, Geschichte der deutschen Reformation. Berlin 1890. — Gottlob Egelhaaf, Deutsche Gesdiidite im 16. Jahrhundert bis zum Augsburger Religionsfrieden. 2 B. Stuttgart 1889—92. — Karl Müller, Kirchengeschichte. B. 2/1 u. 2. Tübingen 1902—19. Grundriß der theol. Wiss. 4, 2. — Heinrich Hermelink, Reformation und Gegenreformation. Tübingen 1911. 2. A. 1931. Handbuch für Kirchengeschichte 3. — Georg Mentz, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges 1493—1648. Tübingen 1913. — Kurt Käser, Das Zeitalter der Reformation und Gegenreformation von 1517—1660. Gotha 1922. — Karl Brandi, Deutsche Reformation und Gegenreformation. 2 B. Leipzig 1927—30. 3. A. 1942. — Gustav Wolf, Reformationszeit. Gebhardts Handbuch der deutschen Geschichte. 7. A. B. 1. Stuttgart 1930. — Rudolf Stadelmann, Das Zeitalter der Reformation. Handbuch der deutsdien Gesdiidite 2. Potsdam 1936. — Joseph Lortz, Die Reformation in Deutschland. 2 B. 1939—40. 3. A. 1948. — Gerhard Ritter, Die kirdiliche und staatlidie Neugestaltung Europas im Jahrhundert der Reformation und der Glaubenskämpfe. Neue Propyläen-Weltgeschichte. B. 3. Berlin 1941. Neuausgabe unter dem Titel: Die Neugestaltung Europas im 16. Jahrhundert. Berlin 1950. Für Einzelfragen ist zu Rate zu ziehen: Karl Séottenloher, Bibliographie zur deutschen Gesdiidite im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517—1585. 6 B . Leipzig 1933—44. — Gustav Wolf, Quellenkunde der deutschen Reformationsgeschichte. 3 B. 1915—23. — DahlmannWaitz, Quellenkunde der deutschen Gesdiidite. 2 B. 9. A. Leipzig 1931. — Neuere (kleine) Bücherkunde von Werner Trillmich, Hamburg 1949 und Günther Franz, München 1951. — Franz Schnabel, Deutschlands geschichtliche Quellen und Darstellungen in der Neuzeit. B. 1. Das Zeitalter der Reformation 1500—1550. Leipzig 1931. Wichtigere Darstellungen zur Sozial- und Geistesgeschidite: Friedridi von Bezold, Staat U.Gesellschaft des Reformationszeitalters. Die Kultur der Gegenwart V , l . Leipzigl908.— Ernst Troeltsch, Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit. Ebda IV, 1. Leipzig 1906. — Ders., Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Ges. Sehr. B. 1. Tübingen 1912. 3. A. 1923. — Ders., Die Bedeutung des Protestantismus f ü r die Entstehung der modernen Welt. München 1919. 3 . A . 1924. — Karl Holl, Luther. 1917. Ges. Aufsätze zur Kirdiengeschidite. B. 1. Tübingen 1921. 6. A. 1932. — Walter Kochler, Luther und das Luthertum in ihrer weltgeschichtlichen Auswirkung. Leipzig 1933. — Werner Eiert, Morphologie des Luthertums. 2 B. München 1931—32.

VIII

EINFÜHRUNG DES HERAUSGEBERS Die Reformationsgeschichte von Paul Joachimsen ist zum ersten und zugleich letzten Mal im Jahre 1930 im fünften Band der von Walter Goetz herausgegebenen Propyläen-Weltgeschichte unter dem Titel „Das Zeitalter der Reformation" erschienen. Man wird dem damaligen Herausgeber Dank wissen, daß es ihm gelang gerade Paul Joachimsen für die Bearbeitung dieses Zeitraums zu gewinnen. Der Beitrag hat sich sehr schnell einen bleibenden Platz unter den klassischen Darstellungen dieser Zeit errungen. Dennoch stand ein Unstern von Anfang an über dem Werk. Ich meine damit nicht, daß es als Bestandteil einer teueren, zehnbändigen und überdies bald vergriffenen Weltgeschichte nicht zu der Verbreitung kommen konnte, die es verdiente. Eher schon, daß es nachträglich das Opfer eines politischen Systems wurde, das die Freiheit des geistigen Lebens vergewaltigte, und in der folgenden Ausgabe der „Neuen Propyläen-Weltgeschichte" 1941 durch eine Neubearbeitung des Themas aus anderer Hand ersetzt werden mußte. Vielleicht vermöchte dieser Umstand allein schon eine Neuausgabe zu rechtfertigen. Aber es gibt noch einen weiteren ungleich gewichtigeren Grund. Paul Joachimsen hat das Erscheinen seiner Reformationsgeschichte nicht mehr erlebt. Nur wenigen Vertrauten wurde bekannt, daß der in der Propyläen-Weltgeschichte abgedruckte Text ein Torso war. Soviel ich sehe, hat allein Albert Rehm an versteckter Stelle in den Blättern für das Gymnasialschulwesen 1930 auf diese Tatsache hingewiesen und die Hoffnung ausgesprochen, daß einiges aus dem Manuskript noch für die Öffentlichkeit zu retten sein möge. Der Verfasser hatte eine Arbeit abgeliefert, die den zugebilligten Raum weit überschritt; er mußte sich entschließen, die aus vollster Beherrschung des großen Stoffes schon aufs äußerste verdichtete Darstellung fast um die Hälfte zu kürzen. So erschien das Werk zwar reich bebildert, aber mit eingreifenden den ganzen Text durchziehenden Streichungen. Es war selbstverständlich, daß die ursprüngliche Gestalt des Textes wieder hergestellt wurde, als die Verlage Chr. Kaiser und R. Oldenbourg in dankenswerter Weise einen Neudruck ermöglichten. Das ursprüngliche Manuskript fand sich in der Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek in München; für seine Überlassung danke ich dem Herrn Generaldirektor der Staatlichen Bibliotheken Bayerns Dr. G. Hofmann sowie dem Herrn Direktor der Handschriftenabteilung Prof. Dr. P. Ruf. Es

IX

ist offenbar von dem wissenschaftlichen Nachlaßverwalter des Verfassers, Prof. Dr. H . Loewe, vor dessen Tode dort niedergelegt worden. Da die Kürzung in der Propyläen-Weltgeschichte dem Verfasser nur abgezwungen worden ist, greift die neue Ausgabe grundsätzlich auf die ursprüngliche Fassung zurück. Kleine Einschübe und stilistische Besserungen, die während des Drucks vorgenommen worden waren, sind stillschweigend berücksichtigt. Die mannigfaltigen Streichungen und Überarbeitungen des Manuskripts erforderten an manchen Stellen eine vorsichtig wägende Hand. Im allgemeinen wurden alle Streichungen als zweckbedingt angesehen und die von ihnen betroffenen Textteile wiederhergestellt. Nur für eine kleine Lücke des Manuskripts, den Seiten 140—149 der gegenwärtigen Ausgabe entsprechend, mußte der Druck der Propyläen-Weltgeschichte zugrunde gelegt werden. Das Fehlen dieser Blätter im Manuskript deutet darauf hin, daß sie ziemlich unverändert für den Druck verwendet worden sind. Die Hervorhebungen im gegenwärtigen Text gehen auf den Verfasser selbst zurück, der das Manuskript mit Bedacht durch Unterstreichungen weiter zu gliedern versucht hat. Das erste Kapitel wurde nach Gesichtspunkten gestaltet, mit denen Paul Joachimsen seine Vorlesungen über Reformationsgeschichte zu beginnen pflegte. Es hieß im Druck „Voraussetzungen" und hob mit der Schilderung des fünften Laterankonzils an. Der Leser, der die ersten Seiten überschlagen will, findet den alten Eingang des ersten Kapitels auf Seite 9 unverändert vor. Es handelte von den allgemeinen Voraussetzungen und von diesen sehr viel kürzer als von den besonderen, die in den Kapiteln zwei und drei über „Luther" und „Deutschland an der Schwelle der Reformation" ihre Darstellung finden, was sich aus der Einfügung des Beitrags in den Rahmen einer allgemeinen Weltgeschichte ohne weiteres erklärt. In den jetzt dem ursprünglichen Eingang vorangestellten Seiten 1—9 wird das Kapitel über die allgemeinen „Voraussetzungen" zu einer gedrängten Übersicht über „Die respublica christiana und ihre Auflösung" ausgebaut. Sie ist in Anlehnung an Kollegaufzeichnungen des Verfassers gehalten, die auf das Jahr 1918 zurückgehen, und selbst dann, wenn sie nicht mehr die letzten Ansichten und Formulierungen des Verfassers enthalten sollte, doch vielleicht geeignet, das Verständnis des Werks zu vertiefen. Die Reformationsgeschichte ist, wie die Propyläen-Weltgeschichte überhaupt, ohne kritischen Apparat erschienen. Ihn dem Werk nachträglich beigeben zu wollen, hieße dessen Charakter verkennen. Dennoch wird es mancher Leser begrüßen, wenn er wenigstens Anspielungen auf Personen und Dinge, deren Kenntnis nicht vorausgesetzt werden kann, aufgelöst, Zitate, deren Herkunft nidit ersichtlich ist, nach Möglichkeit nachgewiesen und einige bibliographische

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Notizen beigegeben findet, die bei aller raumbedingten Kürze doch den Weg zu selbständigem Eindringen weisen können. Der Leser, der keinen Wert hierauf legt, wird durch keinen Anmerkungsapparat von der Lektüre selbst abgelenkt. Für die Hauptmasse der Zitate muß ohnedies auf die Ausgaben der Werke und Briefe verwiesen werden. Für mannigfaltige Unterstützung bin ich meinem Vater zu Dank verpflichtet. Bei der Wiederherstellung des Textes hat mir meine Frau wertvolle Hilfe geleistet. So tritt die Reformationsgeschichte Paul Joachimsens wie ein neuentdecktes Werk vor die Öffentlichkeit. Manche Linien, deren Verkürzung Bedenken erregen konnte, wie die Darstellung der lutherischen Abendmahlslehre und des Abendmahlstreits, erscheinen nun auf einem vertieften Hintergrund; für manche Auffassung, die in der ersten Gestalt vielleicht zu apodiktisch erscheinen mochte, findet sich nun eine ausführlichere Begründung. Uberall haben sich die vielfach nur angedeuteten Konturen der ersten Ausgabe mit reicheren und volleren Farben gefüllt. Die fast unheimliche Lebendigkeit des Ganzen hat sich dadurch eher noch gesteigert. Der Charakter des Werks ist unverändert geblieben. Dem Verfasser lag kein geschichtliches Kompendium und keine kritische Auseinandersetzung mit der gelehrten Literatur im Sinn. Nicht als ob ihm die Ergebnisse der Forschung nicht gegenwärtig gewesen wären. Wer zu lesen versteht, wird an allen Punkten auf die lebendigste Beschäftigung mit ihr stoßen. Aber diese Auseinandersetzung liegt hinter ihm. Alles Handwerkliche tritt zurück hinter den großen Wurf einer Darstellung, die sich, einer einheitlichen Konzeption entsprungen, auch in der Durchführung zu einmaliger Größe erhebt. Was Paul Joachimsen von den Geschichtswerken Rankes sagt, daß sie nicht bloß Werke der Gelehrsamkeit, sondern auch Kunstwerke seien, das gilt auch von ihm, der sich mit Entschiedenheit darum mühte, das Werk Rankes zu erneuern. Wir dürfen uns daher bei dem Mangel anderer Quellen aus seiner Auseinandersetzung mit Ranke auch eine Vorstellung von seiner Absicht bilden. Schon die Zeitgenossen sahen, so meint er, daß es sich in Rankes Darstellung nicht um ein dem Stoffe umgehängtes Gewand handle, sondern daß die neue Form aus einer neuen Anschauung vom Wesen des geschichtlichen Verlaufs hervorgehe. ,Aus Absicht und Stoff', sagt Ranke selbst, »entsteht die Form', und es handelt sich also gegenüber seinen Werken, wie überall bei einem Kunstwerk, um eine Erkenntnis der künstlerischen Absicht. Ranke steht seinem Stoffe nicht viel anders gegenüber als der Dramatiker. Er wünscht vor allem die innere Bewegung, die Dynamik der Ereignisse sichtbar zu machen. Daher die große Rolle, die der historische Moment bei ihm spielt, die Betonung des Punkts, wo sich ein

XI

historisches Schicksal, das bis dahin noch verschiedene Möglichkeiten der Entwicklung offen zu lassen schien, nadi einer Seite entscheidet. Das ist das Spannende, das jeder Leser Rankes empfindet, auch wenn er sich die Ursache nicht klar macht. Von da aus aber ist dann audi der Aufbau der Rankeschen Werke im ganzen wie im einzelnen bestimmt. Mit bewußter Kunst sind Abschnitte und Rückblicke gesetzt, die Charakteristiken der handelnden Personen verteilt, das historische Detail und die historischen Reflexionen v e r w e n d e t . . . Aber dazu tritt noch ein Weiteres. Es ist bekannt, daß Ranke in der Vorrede seines Jugendwerkes (der Geschichten der romanischen und germanischen Völker), 1824, ein Programm seiner Geschichtsschreibung aufgestellt hat: ,Man hat der Historie', sagt er da, ,das Amt die Vergangenheit zu richten, die Gegenwart zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren beigemessen: so hoher Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen.' Grenzt er damit seine Geschichtsschreibung bestimmt gegen die Pragmatik des Aufklärungszeitalters ab, so war er doch nichts weniger gewillt, als ein bloßer Chronist zu werden. Wüßten wir auch nicht aus den Briefen an seinen Bruder, daß schon damals sein Ziel war, nicht nur von wirklich geschehener Geschichte, sondern, was ihm eins damit war, auch ,von wahren Menschen, dem wahren Gott wahrhaften Bericht zu erstatten', wir würden in dem Werke selbst und so in allen folgenden auf Schritt und Tritt gewahr werden, daß hinter der Welt der historischen Tatsachen für Ranke die Welt der Ideen steht, und daß er die eigentlichste Aufgabe seiner Geschichtsschreibung darin sah, diese Welt der Ideen in den Erscheinungen aufzuzeigen (Die Ranke-Ausgabe 56). Was in Rankes ausgebreitetem Werk gleichsam als intuitive Produktivität des Genies erscheint, das ist in der einen Reformationsgeschichte Paul Joachimsens überall zu einer methodischen Bewußtheit verdichtet, die an das letzte der Geschichtsschreibung Mögliche rührt. Paul Joachimsen hat die Beschränkung sehr stark empfunden, die darin liegt, daß der Geschichtsschreiber ganz anders als der freischaffende Künstler an den gegebenen Stoff gebunden ist. Er berührt hier eine der stärksten Triebkräfte seines Werkes selbst, den Drang des künstlerischen Menschen, der eine Reihe von Themen auch gegensätzlichster Art zu lebendiger Einheit bindet und diese durch alle Verschlingungen und Verwandlungen hindurch siegreich festhält. Nirgends aber wird ein vorgefaßtes System sichtbar. Die Elemente der Kultur schliefj&i sich zu einer Einheit zusammen, die ein Ergebnis des Lebens selber ist und durchaus in der Zeit beschlossen liegt. Alles Stoffliche wird von einem nie erlahmenden Gestaltungswillen ergriffen, alles Einzelne bis ins Letzte durchdrungen von einem historischen XII

Denken, das jede auftretende Erscheinung nach ihrer Bedeutung fragt und sie darin auf die historische Problematik der Zeit bezieht. Diese selbst wird in ihrer ganzen Breite und Tiefe vor den Augen des Lesers aus ihren Elementen entwickelt, in ihrer schicksalhaften Verknotung und Verkettung aufgezeigt. Daraus ergibt sich eine Dramatik des geschichtlichen Geschehens, deren "Wucht selbst bei Ranke kaum ein Beispiel hat. Der historische Ablauf der Zeit wird nochmals von einer überzeitlichen Problematik überlagert, die daraus entsteht, daß die Reformation als historische Erscheinung unbefriedigend verlaufen ist und eine reformatio renascens und aeterna fordert, von der es aber fraglich scheinen kann, ob sie noch an die verfaßte Kirche gebunden ist. Auf diese doppelte Problematik der Reformation als einer geschichtlichen Epoche der deutschen Entwicklung und einer ewigen Aufgabe des christlichen Gewissens soll der Titel anspielen, der für die Neuausgabe gewählt worden ist. Er lehnt sich an die Schlußworte des zwölften Kapitels an und dürfte dem Sinn des Verfassers näher kommen als die Bezeichnung „Das Zeitalter der Reformation", unter der das Werk etwas farblos in das Schema einer Weltgeschichte eingefügt worden ist. Das Manuskript des Verfassers ist offenbar freibleibend und nur mit Bleistift als „Die Reformation" bezeichnet. Der Hintergrund dieser doppelten Problematik, aus der das Werk lebt, muß in aller Kürze aufgezeigt werden, da er für das Verständnis wichtig erscheint. Die Reformation wird dargestellt als eine geschichtliche Bewegung, die sich in festen, selbst wieder geschichtlich gewordenen Formen gestaltet hat. Aber das eigentümliche Interesse, das wir an ihr nehmen, ihre Gegenwartsbedeutung also, beruht für Joadiimsen darauf, daß in ihr Werte stecken, die überzeitlich sind, aber in ihrer ersten geschichtlichen Erscheinung und in den Wirkungen dieser Erscheinung bis auf unsere Tage keine vollkommene Verwirklichung gefunden haben und also an ihrem Ursprung wieder aufgesucht werden müssen. Dies tat Paul Joadiimsen als Historiker. Die Sätze, mit denen er seine Sozialethik des Luthertums einleitete, könnten auch vor seiner Reformationsgeschichte stehen. Was hier folgt, sind Ausführungen eines Historikers, der einen geschichtlichen Tatbestand mit dem größtmöglichen Grade von Gewißheit vorlegt, oder, damit ich mich bescheidener und vielleicht richtiger ausdrücke, der eine Reihe von Tatsachen, die größtenteils bekannt sind, zu einem Bilde ordnet, das geeignet ist, an Stelle von schwankenden und minder deutlichen Vorstellungen zu treten, und damit auch geeignet sein soll, unsere eigene Haltung zu dem Gegenwartsproblem zu bestätigen oder zu korrigieren, das in dem historischen Problem steckt. Denn um ein Problem handelt es sich bei

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jeder Betrachtung eines historischen Tatbestandes, die mehr geben will als bloßes Füllsel einer Chronik, und zwar immer um ein gegenwartsbezogenes Problem, wenn sie mehr sein will als ein Aufgehen in philologisch-antiquarischer Forschung. Aber diese Problematik ist eine andere, wenn sie vom geschichtlichen Standpunkt aus gesehen wird, eine andere, wenn wir sie als Gegenwartsproblematik nehmen. Im ersten Falle handelt es sich lediglich um eine F.inordnung von Vergangenheitswerten in unser Weltbild, im zweiten um eine Diskussion dieses Weltbildes selbst und der daraus fließenden Forderungen an unser eigenes Sein und Handeln. Nur das erste gehört in das Herrschgebiet des Historikers (Sozialethik des Luthertums 1). Wenn also auch der Historiker von einem Weltbild ausgeht, auf das er die Vergangenheit bezieht, ja wenn sich ihm aus dieser Beziehung die Problematik der geschichtlichen Welt überhaupt erst erschließt, so knüpft Paul Joachimsen gerade hier an Ranke an. Denn Ranke ist es doch wohl gewesen, der der Geschichtsschreibung zuerst eine große geschichtliche Konzeption zugrunde gelegt hat. Seine gesamte Produktion kann aus einem Keim abgeleitet werden. Es ist überall derselbe Geist, dieselbe Grundidee: die Welt der germanisch-romanischen Nationen, unsere Welt, die sich im Mittelalter zu einem Kultursystem zusammengeschlossen, in der neueren Zeit zu einem System nationaler Staaten differenziert hat, soll in ihrer Entwicklung, in ihrem Zusammenhang und in ihren Gegensätzen historisch begriffen werden (Die Ranke-Ausgabe 53). Paul Joachimsen hielt diese universalhistorische Konzeption Rankes für reich genug, um auch heute noch bei jeder Betrachtung des staatlichen und kulturellen Lebens der abendländischen Nationen als Ausgangspunkt zu dienen. Die großen Nationalgeschichten Rankes, die Englische, Französische und die Deutsche Geschichte suchen die Nationen in dem Augenblick zu erfassen, wo sie ihre Eigenart als Glieder der europäischen Gemeinschaft voll entwickeln, sie suchen das Gesetz zu zeigen, nach dem sie angetreten sind und nach dem sie nun weiterhin da sein müssen (Ranke und wir 305). Auch Paul Joachimsen glaubt mit Ranke, daß in der Reformation das deutsche Volk in das Zeitalter seiner geistigen Mündigkeit getreten sei, aber er sieht von hier keine geradlinige Entwicklung zur Gegenwart führen, aus der diese einen sicheren Besitz ableiten könnte. Zwischen Ranke und ihm liegt der Bruch mit dem Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts, den er sich auf das eindringlichste bewußt gemacht hat. Er lehnte die Meinung ab, daß von der Reformation eine gerade Linie zur Aufklärung, von Luther zu Lessing, Schiller und Goethe, eine andere zu Leibniz, Kant, Fichte und Hegel, eine dritte zu Friedrich dem Großen, Stein und Bismarck führe. Diese EntwickXIV

lungslinien, die den geraden Weg von der Reformation zu den Höhepunkten unseres geistigen und politischen Daseins der vorletzten und letzten Vergangenheit aufzeigen sollen, verfälschten ihm das Bild der wirklichen Entwicklung, in der er einen fortgesetzten mühseligen Kampf gegen die uns umgebende Welt sah, einen Kampf, in dem es ebensoviel Niederlagen wie Siege gab, der allerdings mit der Reformation erst in das Stadium der Bewußtheit eintrat, aber auch durch die Reformation selbst ein uneinheitlicher, bald da, bald dorthin gewandter, von beständigen Rückschlägen unterbrochener wurde. „Wir sehen heute deutlich, daß von allem Erbe der Väter das geschichtliche am meisten verlangt von uns neu erworben zu werden, wenn wir es besitzen wollen. Wir wissen, daß von dem geschichtlichen Erbgut nur so viel für uns lebendig sein kann, als wir selbst zu erleben imstande sind. Der größte Feind soldien geschichtlichen Erlebens ist der befriedigte Optimismus, der glaubt sich mit den geschichtlichen Lösungen, in denen wir selbst aufgewachsen sind, begnügen zu können. Wir Älteren sind durch eine Periode solcher trügerischen Befriedigung hindurchgegangen. Es war die Periode einer liberalen Theologie mit ihrer optimistischen Ausgleichung von Religion und Bildung, die Periode des Kulturstaatsideals mit ihrer Umgestaltung von Kultur fragen in zivilisatorische Maßnahmen. Ganz wohl ist uns dabei niemals gewesen. Aber es bedurfte einer großen Enttäuschung um uns wirklich von diesem Optimismus zu befreien. Diese Befreiung ist vielleicht das größte Ergebnis des Weltkrieges und der inneren Erschütterung, die wir in seinem Gefolge durchgemacht haben. Auf allen Gebieten hat eine kritische Besinnung über das, was wir erreicht zu haben glauben, eingesetzt, eine Besinnung, die freilich nur dann heilsam sein kann, wenn sie nicht ungerecht macht gegen das Werk unserer Väter. Aber wir sehen doch, daß die Staats- und Pastorenkirche, an der alle Jahrhunderte seit der Reformation weitergebaut haben, nicht das letzte Wort über das Verhältnis von Staat und evangelischer Religion sein kann, wir sehen, daß die soziale Frage, in deren Lösung wir vielen andern Völkern voran zu sein glaubten, weder mit Staatshilfe noch in evangelischer Liebestätigkeit allein gelöst werden kann. Wir sehen vor allem, daß über das Verhältnis von Religion und Bildung weder unsere Philosophie noch unsere Dichtung das letzte Wort gesprochen hat. Gerade in diesem Punkte ist ja die Revision der Vergangenheit von vielen und bedeutenden Geistern bereits in Angriff genommen worden. Aber das Beste bleibt noch zu tun, und zwar von jedem von uns selbst, denn es handelt sich um persönlichste Entscheidungen" (Die Bedeutung der Reformation für die Gegenwart 406). Auch Ranke ist für Paul Joachimsen „im tiefsten an seine Zeit gebunden und ihr verpflichtet. Und wenn wir auch den historischen Genius Rankes

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beschwören könnten, die Zeit, die ihn gebildet hat und zu der er gehört, können wir nicht wieder auferwecken. Es waren die halkyonischen Zeiten, wie Ranke selbst sie nennt, die auf die gewaltigen Erschütterungen der Revolutionsjahrzehnte folgten, Zeiten einer scheinbaren Ruhe, eines scheinbaren Ausgleichs der Gegensätze, vor neuen Stürmen und Kämpfen . . . Sie sahen noch ein Europa, das nidit bloß ein geographischer oder politischer Begriff, sondern eine Gemeinschaft der Kulturinteressen war, und sie glaubten, daß sidi eben aus der originären Teilnahme an dieser Kulturwelt die Ausprägung der nationalen Eigenart, aber auch der Lebensraum der einzelnen Nationen ergebe. Diese Ideale sind uns alle zergangen und es würde nichts helfen, wenn wir sie künstlich beleben würden, es würden nur Museumsgefühle dabei herauskommen." Wenn trotzdem eine Rückbesinnung auf Ranke und den protestantischen Humanismus möglich ist, der sich, noch im 18. Jahrhundert gepflanzt, aus den Befreiungskriegen als eine der stärksten Mächte des deutschen Geisteslebens erhoben hat, so darum, weil diese Zeit auch die letzte war, „in der wir die große Einheit der deutschen Bildung finden, die für die Besten von damals der eigentliche oder wenigstens der höchste nationale Besitz war." Diese Einheit von Antike, Christentum und Deutschtum sah er von Ranke in einer besonderen Weise verkörpert. „Aus ihr stammt seine Welt der Kulturwerte, stammen die Ideen und die überindividuellen Kräfte seiner geschichtlichen Betrachtung überhaupt. Indem wir uns auf sie besinnen, besinnen wir uns auf die Grundlagen unserer eigenen geistigen Existenz." Innerhalb dieser Einheit ist ein Prinzip lebendig geblieben, das sidi letzten Endes auf das liberum arbitrium der Reformation zurückführen läßt. Denn wenn Ranke es auch für eine- vornehmste Aufgabe der Geschichte hält zu zeigen, daß die .objektiven Ideen, die mit der Kultur des menschlichen Geschlechts verbunden sind, zur Geltung und Repräsentation gelangen', so ist ihm doch ebenso sicher, daß ,das geistige Leben nicht sowohl auf einer gläubigen und gehorsamen Annahme derselben, als auf einer freien, subjektiv vermittelten, also auch beschränkten Anerkennung beruht, die nicht ohne Kampf und Streit zu gewinnen ist* (Ranke und wir 311 ff.). Indem Paul Joachimsen dieses Prinzip, von dem er sagt, daß auf ihm unsere ganze moderne Fragestellung beruhe, auch auf jene Einheit anwendet und sie dennoch bejaht, stellt er sich auf den Boden eines Humanismus, der auch den Rückgang auf Luther und das religiöse Problem in sich schließt und der sich gerade darin der ganzen Problematik dieser Einheit bewußt wird, die darin liegt, daß jeder Einzelne und jede Epoche stets von neuem „unmittelbar zu Gott ist". Auf dieser Linie liegt das besondere Interesse für den jungen Luther. Darin scheint etwas von dem Geist des religiösen Subjektivismus der Jahrhun-

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dertwende nachzuwirken, der seine Vorläufer in den Täufern und Schwärmern und in den Sekten eher sah als in den zur Verfassung und zur Kirchenbildung gelangten Meinung Luthers. Aber diese Schwärmer sind alle von einem Punkt ausgegangen, der irgendwie auch auf der Linie der religiösen Entwicklung Luthers lag (282). Die Entwicklung zur evangelischen Kirche hat Luther nur zugelassen, nicht geschaffen. So liegt auf dieser Linie auch der Gedanke, daß diese Kirche als Predigt- und Bekenntniskirche ihrer Idee nach Volkskirche, nicht territoriale Landeskirche, Gemeindekirche, nicht Obrigkeitskirche sein soll (281). Sein Weg hat ihn von Troeltsch zu Holl und audi über Holl zurück zu Ranke und das heißt zur Einordnung auch des mit neuer Lebendigkeit erfaßten Lutherbildes (275) in den allgemeinen Kulturzusammenhang geführt, hinter den der Einzelne zurücktritt, auch wenn er Luther heißt, und gerade dann, wenn er wie Luther sein Leben lang der große Unzeitgemäße bleibt. Ohne die Gesamtkonzeption des Rankeschen Bildes zu sprengen, hat Joachimsen so doch ganz anders zur geistigen Problematik der Reformation zurückgefunden, weil ihm alle Fragen wieder offen geworden sind wie für die Zeit selbst. Ich lasse auch hier Paul Joachimsen am besten durch sich selbst interpretieren. „Ich weiß nicht, ob man damit rechnen kann bei Erörterungen über die Reformation als geschichtliche Erscheinung auf ganz klare Vorstellungen zu stoßen. Ich glaube nicht zu irren, wenn ich vermute, daß das häufig nicht der Fall ist. Das liegt aber nicht an mangelhaften .Kenntnissen', der Grund liegt in der Sache. Er ist darin zu suchen, daß die Reformation von allen großen Bewegungen unserer Geschichte am wenigsten plastisch ist, daß sie noch in ganz anderer Weise ,tumultarisch' ist, als das Goethe von unserer ganzen deutschen Geschichte behaupten wollte. Dann aber: sie ist in jeder Hinsicht, auf ihren Ausgang hin und von ihren Ergebnissen aus gesehen — ich denke da immer der Einfachheit wegen an das Jahr des Augsburger Religionsfriedens 1555 —, unbefriedigend und unvollendet, Kompromiß in jedem Sinne. Kompromisse sehen wir überall, ob wir die Reformation als politische Bewegung durch die Reichstage hindurch verfolgen, oder als Auseinandersetzung mit der alten Kirche durch die Religionsgespräche, oder als Gestaltung der Lehre durch die Bekenntnisformeln, die Konkordien, wie sie ominös heißen. Ich darf wohl, um das zu erläutern, ein paar Sätze hier wiederholen, die ich einmal zu einem andern Zwecke (der „Geschichtswiederholungen") habe drucken lassen. Der erste lautet: Die Reformation beginnt mit der Forderung einer Erneuerung der Religion auf Grundlage der Selbstbestimmung des einzelnen und führt, zumal nach der Spaltung des Protestantismus selbst, zur gesteigerten Betonung dogmatischer Unterschiede. Der zweite Satz lautet: Die Reformation scheint sich organiXVII

sieren zu wollen als Gemeindekirche auf nationaler Grundlage und endet in den landeskirchlichen Organisationen der Territorialgewalten. Der dritte: Die Reformation erscheint in ihren Anfängen als Zusammenfassung religiöser, politischer und sozialer Reformforderungen und endet als rein religiöse Neubildung. Das sind drei Linien, die man durch die Geschichte der Reformation hindurch verfolgen kann. Auf der ersten Linie liegen die Antworten auf die Frage: Wie wird aus der religiösen Meinung eines einzelnen, die sich dieser einzelne in einem innerlichsten Kampfe gebildet hat, eine Lehre, auf die man Menschen verpflichten kann? Auf der zweiten Linie finden wir die Antworten auf die Frage: Was wird aus der Gemeinschaft derer, die Christus glauben, wie ihn Luther geglaubt hat, als den einzigen Mittler zwischen Gott und den Menschen, die Gott glauben, wie ihn Luther geglaubt hat, als den strafenden und zugleich gnädigen Richter, der ebensowohl Zorn ist wie unendliche Liebe, dessen Gerechtigkeit zugleich seine Gnade ist, die die Rechtfertigung so auffassen, wie sie Luther aufgefaßt hat, als die Fähigkeit aus dem Bewußtsein unserer Sündhaftigkeit heraus Gott über alles hinaus zu fürchten und zu lieben, was wird, sage ich, aus dieser Gemeinschaft, wenn sie Kirche werden muß, d. h., wenn sie sich in eine Welt schicken und in einer Welt bestehen soll, die kirchlich und politisch bereits gestaltet war, und zwar von ganz andern Prinzipien aus, als die waren, von denen diese neue Gemeinschaft ausgeht? Auf der dritten Linie liegen die Antworten auf die tiefsten und wichtigsten Fragen, vor allem auf die: Was wird aus dem Worte Gottes, wenn es der einzige Maßstab sein soll für alle Fragen unseres sittlichen, sozialen und geistigen Lebens, für all das, was wir Kultur nennen? Wenn man so die allgemeine Problematik der Reformation als Bewegung und als Lehre begriffen hat, so erscheint es fast müßig noch nach besonderen Gründen für das Unbefriedigende des Ausgangs, für das Unvollendete in ihrer Gestaltung und Durchführung zu fragen . . . Aber es gibt doch besondere Gründe, warum Luthers Reformation unvollendet bleiben mußte. Das Erste und Äußerlichste, was wir da sehen, ist die Tatsache, daß Deutschland damals so wenig wie früher und später seine Geschicke aus sich selbst bestimmen konnte, daß es ein Glied des Weltreichs Karls V. war. Das ist nun freilich nicht so zu verstehen, daß Karl V. deshalb, weil er, wie die Zeitgenossen sagten und wie manche heute noch gerne nachsprechen, ein Welscher, ein Spaniol war, die Reformation als deutsche Tat gehindert hätte. In ihm verkörpert sich vielmehr etwas sehr Deutsches, nämlich die alte, in den Anfängen unseres staatlichen Lebens begründete Tatsache, daß das Deutsche Reich ein heiliges römisches Reich

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war, das sein ganzes Gefüge und, was noch wichtiger ist, seine Idee aus einer übernationalen und bis dahin doch nur sehr ungenügend nationalisierten Welt herleitete. Kein deutscher Fürst, am wenigsten Friedrich der Weise, der Schützer Luthers, mit seinen bürgerlichen Tugenden, wäre imstande gewesen dies zu ändern und den deutschen Staat zu schaffen, der der deutschen Reformation, auch wenn sie nichts erstrebt hätte als eine deutsche Nationalkirche, als schützende Hülle gedient hätte. Dazu hätte er das Rad der deutschen Geschichte um mehr als drei Jahrhunderte vorwärts oder vielleicht auch um ebensoviel zurückdrehen müssen. Aber soviel bleibt wahr, der erste und der äußerlichste Grund für den unbefriedigenden Ausgang der Reformation liegt darin, daß sie sich im Zusammenhang mit den großen europäischen Auseinandersetzungen, die an der Weltmonarchie Karls V. hingen, zu vollziehen hatte, Auseinandersetzungen, in denen der werdende Protestantismus, das heißt die politische Form der Reformation, nur ein Brettstein und keiner der wichtigsten war. Der nächste Grund war, und dies führt uns tiefer, daß die Reformation als religiöse Bewegung sich im engsten Zusammenhang mit der längst angebahnten innerpolitischen Auseinandersetzung des deutschen Volkes vollzog. Dem Kampf um die neue Lehre geht, das hat vor allem Ranke gezeigt, parallel ein Kampf um die deutsche Verfassung. Es ist der alte Kampf zwischen Monarchie und Einung. Er hatte in der ersten großen Krisis unseres Volkes, der politischen Krisis des Investiturstreites, 450 Jahre vor der Reformation begonnen, er zieht sich in unverminderter Stärke durch sie hindurch. Das ist ja der Grund, warum man die Reformation für den Verfall des Reiches verantwortlich gemacht hat. Mit Unrecht. Es war ein verfallendes Reich, in dem sich Luther erhob, man kann zweifeln, ob die Reformation diesen Verfall auch nur beschleunigt hat. So wurde aber die Reformationsbewegung sofort in diese innerpolitische Bewegung hineingerissen und bekam sdion damit den merkwürdigen Doppelcharakter, den wir dann seit 1526 in dem Zusammenhang von Bündnis- und Bekenntnisbildung sehen, wie ihn Hans v. Schubert erläutert hat. Und als ob es daran noch nicht genug gewesen wäre, umschließt ja die Reformation auch eine große soziale Krisis des deutschen Volkes. Der Bauernkrieg, dessen Verhältnis zur Reformation erst jüngst wiederum von Hans v. Schubert erleuchtend behandelt worden ist, ist ja nur ein Zeichen einer sozialen Erregung des Volkes von einer nie vorher und nie nachher dagewesenen Größe und Tiefe. Die Wiedertäuferbewegung, die wir längst noch nicht genügend als Sozialerscheinung würdigen, ist ein anderes Zeichen dafür. Diese soziale Krisis nun fällt, wie wir wissen, gerade in die Jahre, wo die religiöse Bewegung, die

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Luther entfesselt hatte, sich als ein breiter Strom über ganz Deutschland ergoß, aber auch schon begann sich in unzählige Rinnsale von besonderer Farbe zu teilen. Die Sekten treten auf und neben ihnen die Einzelgänger, an denen Deutschland nie reicher gewesen ist als damals. Es brechen auf die Fragen nach dem Wert und Sinn der christlichen Symbole, nach dem Verhältnis von Geist und Schrift, von schriftförmigem und christförmigem Leben, von Glauben und Werken, alle nicht nur als Grundlage einer religiösen Bewußtseinsstellung, sondern als Norm des praktischen Verhaltens, die Fragen endidi nadi dem Verhältnis von Kirche, Gemeinde und Obrigkeit. Die Bewegungen, die sich an diese Fragen knüpfen, überfluten und durchwühlen das deutsche Leben, sie unterbrechen und verhindern die eben erst begonnene Auseinandersetzung zwischen Reich und Reformation, sie erschüttern die Obrigkeiten überall. — Die Reformation scheint in eine soziale Volksbewegung großen Stils münden zu wollen entweder so, daß die soziale Revolution aus der religiösen Reformation ihre Rechtfertigung zog, oder so, daß die Reformation aus ihrem Grundprinzip heraus die soziale Bewegung normierte. Für beides gibt es Ansätze, die einen liegen in dem Versuch der Bauern und der Bauernführer ihre sozialen Forderungen aus der Schrift und mit der evangelischen Freiheit zu begründen, die anderen in den wenig beachteten Verhandlungen der deutschen Reichstage dieser Zeit, wo wir immer wieder, am stärksten 1526 zu Speier, Versuche zur Normierung einer evangelischen Sozialität sehen. Aber zu keiner von beiden Lösungen ist es wirklich gekommen und das nicht bloß deshalb, weil Luther sich der sozialen Bewegung versagte und von seinem Begriff des Evangeliums aus versagen mußte, sondern auch, weil die Bewegung von sich aus keine Führer erzeugte, die den gärenden Drang der Menge hätten formen können. Weder Karlstadt noch Münzer sind solche Führer gewesen, auch Hutten wäre es nicht geworden, wenn er damals noch gelebt hätte. Denn das deutsche Volk, das von dieser sozialen Revolution erschüttert wurde, war alles weniger als ein sozialer Körper von einheitlichem Gepräge, es war im Gegenteil eine lose Vereinigung von Berufsständen, die nebeneinander, nicht miteinander in die Höhe gewachsen waren und kaum irgendwelche einheitlichen Lebensbedingungen hatten. Und so ist die Folge dieser sozialen Revolution nicht die gewesen, die sonst auch bei mißlungenen Revolutionen einzutreten pflegt, nämlich daß der berechtigte Kern der revolutionären Forderungen sich dann doch in den Köpfen der Menschen und schließlich auch in den Institutionen des Gemeinschaftslebens durchsetzt, sondern das Ergebnis war einfach die Herausdrängung des Bauernstandes und des kleinen Mannes überhaupt aus dem öffentlichen Leben, eine Tatsache, an der wir dann jahrhunderte-

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lang gelitten haben. Für die Reformation aber bedeutete dies, daß von da an all die Versuche, die von Luthers Werk zur freien religiösen Gemeinschaft führen konnten, eingeengt wurden durch die doppelte Furcht vor Sektierern und vor Aufruhr. Für Luther fällt beides unter den Begriff des Rottierens zusammen, und alles, was nun an äußerlichen Ordnungen entstand — es ist das Landeskirchentum des Protestantismus — beruhte, wie das Ranke gezeigt hat, auf einem Bündnis von Obrigkeit, Geistlichkeit und der neuen, vor allem in den Universitäten organisierten Bildung. In diesem Bündnis aber lag das letzte und schwerste Hemmnis für eine wirkliche Vollendung der Reformation. Denn die durch die Universitäten repräsentierte Bildung war nicht der Ausdruck des Geistes der Nation und konnte es nicht sein, denn der Geist der Nation war eben erst im Begriffe sich mündig zu erklären. Gewiß, wir haben vor Beginn der Reformation ein Zeitalter des deutschen bürgerlichen Geistes, das uns vor allem in seinen künstlerischen Hervorbringungen immer wieder anzieht. Aber es gibt keine einzige Hervorbringung dieses Geistes, die ihn so bewußt und so geformt zeigt, wie wir den deutschen ritterlichen Geist bei Walter von der Vogelweide und bei Wolfram von Eschenbach finden. Immer wieder erstaunen wir, wenn wir sehen, daß man unmittelbar vor Beginn der Reformation ein Produkt wie Sebastian Brants Narrenschiff als einen hervorragenden Ausdruck des deutschen Geistes betrachten, ja sogar von einer deutschen divina commedia sprechen konnte. Immerhin war der deutsche Geist, als Luther auftrat, schon stark genug um die Reformation als religiöse Bewegung aufzunehmen und weiter zu tragen — es wird das sein größter Ruhmestitel bleiben —, aber er war noch nicht stark genug um mit ihr als gleich mit gleich zu ringen und sie aus seinem innersten Wesen zu gestalten. Was der Reformation bei ihrem Auftreten geistig entgegenkam, das war, wenn wir von den in der Tiefe rauschenden mystischen Strömungen absehen, der Humanismus, und die öffentliche Meinung, die Luthers Bewegung zu einer nationalen gemacht hat, ist von den Humanisten gemacht worden. Der Humanismus hatte in Deutschland, wie anderswo, vor allem in Italien, zunächst die Aufgabe ergriffen ( eine zu einer nationalen Eigentümlichkeit strebende Kultur auf die Stufe des Selbstbewußtseins zu erheben. Dies Werk hatte der deutsche romantische Humanismus, der sich um Maximilian gruppierte, so ziemlich vollendet. Er hatte das deutsche Volkstum neu entdeckt und hatte ein Ideal des deutschen Menschen aus dem germanischen des Tacitus gewonnen. Er war dann von einer Bewegung abgelöst worden, die internationaler Natur war und sich die Aufgabe stellte die alte res publica christiana, die Papst-Kaiser-Monarchie des Mittelalters humanistisch umzuformen, indem

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sie die bestehende allgemeine Kirche mit dem Geist des wieder entdeckten christlichen Altertums erfüllte. Das ist die Weltbedeutung der von Erasmus geführten humanistischen Aufklärung. Beide Richtungen haben die Reformation Luthers vorbereitet und ihn in seinen Anfängen vorwärtsgetragen. Aber nun enthüllt sich, und zwar sdion in Luthers Reformschriften von 1520, daß das Evangelium Luthers nicht aus der Welt des Humanismus stammte, weder aus der romantisch-nationalen, noch aus der weltbürgerlidi-aufklärerischen, und nun beginnt auf der Grundlage, die diese beiden gelegt haben, die Auseinandersetzung der Rechtfertigungsreligion mit der humanistischen Bildungswelt. Der Führer in dieser Auseinandersetzung ist Melanchthon geworden, der Praeceptor Germaniae in jedem Sinn, aber was er schuf, das war nichts anderes und konnte nichts anderes sein als ein Bündnis zwischen Rechtfertigungslehre und Humanitätsideal, bei dem keines von beiden zu seinem vollen Rechte kam, und das deshalb in den Kompromissen einer neuen Scholastik endete, schlimmer als die erste gewesen war, die Luther hinter sich geworfen hatte. Das sind die Gründe, warum die Reformation als Bewegung und als Lehre unvollendet geblieben ist und unbefriedigend ausging. Aber in eben diesen Umständen liegt auch all das beschlossen, was die Reformation als geschichtliche Erscheinung bedeutend und anziehend macht. Ihre Fehler und Unvollkommenheiten sind ja nicht die des Mangels, sondern die der Fülle. In dieser Hinsicht ist sie eine echt deutsche Bewegung, die deutscheste, die wir je erlebt haben. Gewiß, diese fressenden und saufenden Fürsten, diese überbedenklichen Magistrate, diese zankenden und ketzernden Theologen, die im Vordergrund des Bildes stehen, sind kein erfreulicher Anblick. Die Verhandlungen der Reichstage, noch mehr die Religionsgespräche, entbehren jeder Größe, in ihren Einzelheiten sind sie heute selbst dem Forscher schwer erträglich. Aber sehen wir genauer hin, welch ein Reichtum an Köpfen und an Gedanken in dieser Periode! Man hat von den alten deutschen Holzschnitten gesagt, sie seien vollgestopft mit Figuren. Einem solchen Holzschnitt gleicht die Reformation, wenn wir sie als Gesamtbewegung zu überblicken versuchen. Niemals wieder in unserer Geschichte, weder vorher noch nachher, geht eine Bewegung so durch alle Stände der Nation. In dem Deutschland der Reformation gibt es keine Privatmenschen, deren es später bei uns leider so viele geben sollte. Gerade davon wissen wir heute noch viel zu wenig. Wer hat auch nur versucht — um ein Gebiet zu nennen, auf dem man die deutsche Begabung ja sonst nicht zu suchen pflegt — die Staatsmänner und Staatsdenker der Reformation sich gesammelt vorzustellen, von dem Kanzler Brück am sächsischen Hofe, dem Franken Johann von Schwarzenberg, dem katholischen Bayern Leonhard von Eck, dem

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Bürgermeister Jakob Sturm in Straßburg, dem Ratsschreiber Lazarus Spengler in Nürnberg bis zu den Verfassern der fränkischen Bauernprogramme und zu den utopischen Phantasien des Franziskaners Eberlin von Günzburg oder den staatspolitischen Projekten des geistvollen Jakob Ziegler von Landau a. d. Isar? Und wann ist der Reichtum des deutschen bohrenden und spekulativen Geistes großartiger in Erscheinung getreten als in einer Zeit, wo Kopernikus neben Paracelsus, Sleidan neben Aventin, Sebastian Franck neben Melanchthon, Dürer neben Grünewald steht? Ich nenne dabei absichtlich auch Menschen, die altgläubig geblieben sind. Das macht für unsere Frage nichts aus, denn keiner von ihnen ist ohne die Bewegung der Reformation möglich. Dies Uberschießen des gedanklichen Inhalts über die Erscheinung, das Uberfluten des Geistes über die geschichtlichen Formen wäre allein ein Grund zu fragen, ob die Reformation nicht noch Gegenwartsaufgaben birgt" (Die Bedeutung der Reformation für die Gegenwart 400 ff.). Auch das ist vielleicht für das Verständnis des Werkes nicht unwesentlich, worin Paul Joachimsen das Erbe der Reformation erblickte. „Ich kann da nichts Besseres tun, als daß ich auf eine berühmte Stelle in Rankes deutscher Geschichte im Zeitalter der Reformation verweise. Es ist die, wo er die Ausbreitung der Lehre in den Jugendjahren der Reformation 1522 bis 1524 schildert. ,Wir würden irren', sagt er da, ,wenn wir schon die Gegensätze des nachherigen protestantischen und des weiterhin neu errichteten katholischen Systems wahrnehmen wollten. Die Ideen der geistigen Mächte, die jetzt widereinander zu Felde lagen, standen in viel entschiedenerem, großartigerem, einleuchtenderem Widerspruch.' Und nun nennt Ranke die drei Gegensätze, in denen er den Kern der reformatorischen Bewegung sieht: den zwischen Werken und Glauben, den zwischen einer verfaßten Anstaltskirche und dem geheimnisvollen Dasein einer seelischen Gemeinschaft, die nicht äußerlich erscheint, die allerdings Himmel und Erde vereinigt, aber kein sichtbares Oberhaupt hat, sondern ganz auf dem Glauben an die Verheißung beruht, und endlich als den entscheidenden Gegensatz den zwischen Menschenlehre und Gottes Wort. Damals hatten diese Gegensätze die Bedeutung von Kampfrufen gegen die alte Kirche und mußten sie haben, sie waren außerdem als Stichworte einer immer stärker theologisch werdenden Disputation der Gefahr ausgesetzt ihren ersten, aus dem innersten Erlebnis Luthers gewonnenen Sinn zu verlieren und zu Uberschriften von Lehrstücken zu erstarren. Keins von beiden kommt für uns heute in Betracht. Es ist selbstverständlich, aber doch vielleicht nicht ganz überflüssig zu bemerken, daß Reformation als Gegenwartsaufgabe nicht Fortsetzung des alten Kampfes gegen die katholische Kirche bedeutet, sondern ganz ausschließlich eine innere

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Angelegenheit des Protestantismus ist. Das große Gespräch zwischen den Konfessionen, das 1517 begonnen hat, wird und muß fortgehen. Aber es muß ein Gespräch zwischen Kindern derselben Mutter sein, die sich als erwachsene und selbständig gewordene Menschen auf dem gemeinsamen Boden des Vaterlandes und der Nation begegnen" (Bedeutung der Reformation 408 f.). „Die Reformation endet in der konfessionellen Trennung der Nation. Diese ist, darüber können wir uns nicht täuschen, vielleicht die schwerste Belastung der Einheit unseres nationalen Bewußtseins geworden. Sie kann nicht wegdisputiert und nicht übersehen werden. Sie muß überwunden werden. Ein Mittel dazu ist, daß wir auch das Positive erkennen, das die Reformation für das deutsche nationale Bewußtsein bedeutet" (Epochen des deutschen Nationalbewußtseins 102). Bei evangelischer Grundeinstellung hat sich Paul Joachimsen zu einem bewußt überkonfessionellen Standpunkt jenseits aller Parteileidenschaft und Polemik erhoben. Seine Fragestellung kann auch heute noch die unsrige sein, selbst wenn wir nach der Katastrophe des zweiten "Weltkriegs geneigt und genötigt sein werden, die Uberwindung der geistigen Trennung nicht in der nationalen Besonderung, sondern ohne Selbstpreisgabe in der Besinnung auf den unverlierbaren gemeineuropäischen Besitz zu suchen, so wie die gemeinsame Not, die uns betroffen hat, nicht mehr nur eine nationale, sondern mindestens eine gemeineuropäische geworden ist. Aber wie Ranke, so hat auch Paul Joachimsen die Epoche, in der sich die deutsche Nation in Auseinandersetzung mit der Reformation ihrer geistigen Selbständigkeit bewußt wurde, nur als einen Moment innerhalb der ganzen abendländischen Staaten- und Kulturwelt gesehen.

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1. D I E R E S P U B L I C A C H R I S T I A N A DES M I T T E L A L T E R S U N D IHRE AUFLÖSUNG Mit der Reformation tritt die respublica christiana des Mittelalters in die letzte und entscheidende Krisis. Die Bewegung war zwar so, wie sie abgelaufen ist, nur in Deutschland möglich, aber dennoch hätte sie das mittelalterliche System nicht zerstören können, wenn es nicht schon längst in Auflösung begriffen gewesen wäre. Die Vorgeschichte der Reformation ist daher nicht identisch mit der Vorgeschichte Luthers. Sie ist die Geschichte der Auflösung der respublica christiana als eines organischen Systems. Die respublica christiana des Mittelalters ruht auf dem Gedankenbau Augustins, wie er vor allem in dessen Büchern vom Gottesstaat entwickelt ist, und sie erfährt ihre eigentliche philosophische Durchbildung bei Thomas von Aquin. Den Ausgangspunkt bildet die besondere Bestimmung des Verhältnisses von Irdischem und Himmlischem, von Sünde und Gnade, wie Augustin sie formuliert hat. Thomas von Aquin setzt diese Begriffe mit den umfassenderen von Natur und Übernatur gleich: sein System beruht auf ihrer festen Vereinigung. Der Grundgedanke der respublica christiana, und damit der Grundgedanke des Mittelalters überhaupt, ihr eigentliches Kennzeichen ist der orbis ad deum ordinatus, die Welt, die hingeordnet ist auf das im Christentum offenbar gewordene transzendente Prinzip. Ihr besonderes Charakteristikum ist der Stufenbau. Jedes Glied des Ganzen dient und herrscht zugleich; darin ruht seine Selbständigkeit innerhalb des Organismus. Aber diese Selbständigkeit fließt nur aus seiner Eigenschaft als Werkzeug zur Hervorbringung des höchsten und allgemeinen Zweckes. Thomas hat die Stellung des Individuums im organischen System eindeutig und endgültig bestimmt und sich das unsterbliche Verdienst erworben, für diesen Aufbau auf allen Gebieten des Lebens und Denkens die klassische Formulierung gefunden zu haben. Die äußerliche Bildung des Systems verläuft so, daß es seine erste Verwirklichung in der Theokratie Karls des Großen findet. Diese aber wird dann abgelöst von der Monarchie des Papsttums. Es übernimmt mit Innocenz III. die politische, mit dessen Nachfolgern auch die soziale Führung der respublica christiana. 1 Reformation

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Die innerliche Ausgestaltung des Systems geschieht dadurch, daß sich die respublica christiana in einer dreifachen Gestalt ausprägt. Sie ist einzige Heilsanstalt, und das Heil ist an die von der Anstalt und in ihrem Namen verwalteten Heilsmittel gebunden: sie ist Anstaltskirche, Sakramentskirche; sie ist weiter hierarchisches Imperium, das heißt sie herrscht direkt über das Geistliche und durch dieses über das Weltliche. Sie ist nicht zuletzt allgemeine Kulturgemeinschafl, das heißt sie bemächtigt sich nicht nur der Pflege aller Kulturgüter, sondern sie bestimmt audi, inwieweit sich Pflege und Zweck der Kulturgüter mit dem transzendentalen Zweck des Gemeinwesens vereinigen lassen. Sie erreicht diese drei Zwecke, und das ist ihre innerliche Besonderheit, indem sie das ganze Leben des Einzelnen wie der Gemeinschaft an dem Begriff der Sünde mißt: die Ausgestaltung der respublica als Heilsanstalt ist gleichbedeutend mit einer beständigen Ausgestaltung des Bußinstituts und dieses ruht wieder darauf, daß der Begriff der Sünde in den Gemütern der Menschen ständig vertieft und fortdauernd auf neue Lebensgebiete ausgedehnt wird. Die respublica christiana macht den entscheidenden Schritt zum Imperium, als Innocenz III. erklärt, daß es keine weltliche Angelegenheit geben könne, in die er sich nicht ratione peccati mischen dürfe. Die respublica diristiana erscheint als vollendete Kulturgemeinschaft, als es Thomas von Aquin gelingt, das Reich der Natur oder der Welt, als angelegt auf das Reich der Gnade und in ihm sidi vollendend, in das System einzubeziehen, dem Menschen aber seine Stellung zwischen diesen beiden Reichen anzuweisen. Dieses System ist, wie alle großen historischen Bildungen, niemals zu einer völligen Deckung von Idee und Wirklichkeit gelangt. Vielmehr trägt es von Anbeginn an in sich Elemente, die der Grundidee widersprechen. Diese rufen in dem System einen Spannungszustand hervor. Er bewirkt, daß wir unmittelbar neben dem Höhepunkt des Systems bereits die Symptome der Auflösung bemerken. Die zweite Hälfte des Mittelalters bis zur Reformation wird zu einer Zeit fortgesetzter und sich steigernder Krisen des organischen Systems. Diese Krisen entstehen entweder dadurch, daß die Institutionen und der Zeitgeist sich nicht mehr decken, oder daß die Institutionen selbst brüchig werden. In beiden Fällen beginnt der Glaube an den transzendentalen Ursprung wie an den transzendenten Zweck des Systems zu schwinden; die Glieder des Systems besinnen sich auf ihren eigenen Zweck; der Individualismus fängt an das organische System zu zerstören. Die beiden Ursachen der Auflösung des organischen Systems, der Zwiespalt zwischen Institution und Zeitgeist einerseits und das Brüdiigwerden der Institutionen anderseits, stehen in einem Wechselverhältnis. Sie müssen zusammenwirken, um das organische 2

System zu sprengen. Darauf, daß dies in der Reformation geschieht, beruht die Bedeutung der Reformation als der letzten und entscheidenden Krisis des organischen Systems. Was sich aus ihr rettet, ist weder mehr allgemeine Heilsanstalt noch hierardiisches Imperium noch allgemeine Kulturgemeinschaft, wenngleich die übrigbleibende römisch-katholische Kirche all diese Ansprüche in einer gewissen Abwandlung, die den organischen Charakter des Systems nicht antastet, aufrecht erhält. Die Bedeutung Luthers aber liegt darin, daß er diesen Angriff nicht wie noch Wiclif und Hus von einer Kritik an der Institution selbst aus führt, sondern daß er von dem Begriff der sakramentalen Buße ausgeht und so den Individualismus in das Zentrum des organischen Systems der respublica diristiana selbst einführt. Im einzelnen verläuft der Auflösungsprozeß der respublica christiana in der zweiten Hälfte des Mittelalters folgendermaßen: Eine erste Krisis des hierarchischen Systems schließt sich unmittelbar an den Höhepunkt desselben an. Sie zeigt sich zunächst in dem Ausgang der Kreuzzugsbewegung, sodann in der Überspannung des päpstlichen Imperialismus. An die Kreuzzüge war einerseits die Einheit der romanisch-germanischen Völkerwelt, anderseits die Ausdehnung und Ausgestaltung der Papstmonarchie geknüpft. Hier entwickelt sie ihr Verwaltungs- und Steuersystem, hier hat die Theorie vom geistlichen Imperium ihre stärkste Stütze. Gerade hier erfolgt der Rückschlag. Indem das Papsttum die Kreuzzugswaffe gegen die Ketzer und dann gegen seine politischen Feinde richtet, die es als Ketzer betrachtet, erschüttert es selbst den Frieden der Christenheit, zu dessen Wahrung es eingesetzt sein will (nicht zufällig heißt die radikalste Gegenschrift gegen das weltliche Papsttum Defensor pacis) und erregt Zweifel an seiner Gerechtigkeit, deren Handhabung es sich recht eigentlich vorbehalten hatte. Der Zusammenbruch der Kreuzzugsbewegung hat eine weitere Folge. Er entfesselt die Kritik gegen das Papsttum und die Kirche, insbesondere die Kritik an dem Ablaß, der ja so stärk mit den Kreuzzügen verknüpft war. Das sichtbarste Zeichen des völlig veränderten Geistes ist, daß derjenige Orden, der die Kreuzzüge kriegerisch und zum Teil auch politisch getragen hatte, der Templerorden, von dem französischen König in den denkwürdigen Prozeß von 1307—1314 verwickelt und unter der Anklage der Ketzerei vernichtet werden konnte. Die gleiche Zeit sieht unter Bonifaz VIII. die Überspannung und den Zusammenbruch des päpstlichen Imperialismus. Der Papst, der in der Bulle Unam sanctam die Summe der päpstlichen Weltherrschaftsansprüche noch einmal klassisch formuliert, der Papst, von dem man erzählt, daß er sich bei dem Jubiläum von 1200 die beiden Schwerter der weltlichen und geistlichen 3

Macht vorantragen und ausrufen läßt: Ecce duo gladii! Ego sum caesar!, dieser Papst fällt dem brutalen Attentat von Anagni zum Opfer. Es bleibt nidit nur ungerädit, sondern wird auch der Ausgangspunkt für die babylonische Gefangenschaft der Kirche, das avignonesische Exil des Papsttums. Zu dieser Krisis des hierarchischen Systems kommt die Krisis des hierarchischen Gedankens. Sie zeigt sich in dreifacher Gestalt. Gegen die Idee, daß die Kirche die oberste Schiedsriditerin über alles Weltliche sei, erhebt sich das ghibellinische Prinzip. Gegen die Idee der Kirche als eines Imperiums im geistlichen Sinn richtet sich das franziskanische Armutsideal und die Apokalyptik der Franziskaner-Spiritualen. Gegen die Einordnung der gesamten Kulturgüter in ein spiritualistisch-hierarchisches System, wie sie Thomas von Aquin versucht hatte, wendet sich der skeptische Kritizismus Occams. Das ghibellinische Prinzip ist das Ergebnis der Kämpfe der Stauferzeit. Es erhält seine entscheidende Formulierung durch Friedrich II., aber seine Bestandteile sind älter. Es ist zunächst der staufische Reichsbegriff, wie ihn schon Barbarossa festlegt: die weltliche Krone, hier noch gedacht als die weltliche Ergänzung der kirchlichen Gewalt, beansprucht die Unabhängigkeit von päpstlicher Verleihung. Dann aber, seit 1239, der zweiten Bannung Friedrichs II., entwickelt es sich zu innerlicher, ideeller Opposition gegen den geistlichen Staat überhaupt. In dieser Form verbündet sich die Idee mit allem, was gegen die Papstmonarchie streitet, den alten römisch-rechtlichen Ideen als Grundlage des Imperiums, der Solidarität der weltlichen Gewalten, der ständischen Opposition in und außerhalb der Kirche, vor allem aber mit der Idee der armen Kirche. Wir rufen Gott zum Zeugen an, sagt Friedrich II. in einer Kundgebung an alle christlichen Fürsten, daß unsere Absicht immer war, die Geistlichen jeglichen Ranges auf den Zustand der Urkirche zurückzuführen. "Wir sehen die Auswirkungen dieses ghibellinischen Prinzips dann in einer doppelten Form. In ihrer spiritualistisch-mystischen bei Walther von der Vogelweide und bei Dante ist der Kaiser der Vogt der Kirche. Er bringt ihr die Sicherheit und den Frieden, den der Papst nicht bringen kann; er ist auch der Richter und Retter der verweltlichten Kirche. Die aufklärerisch-politische Gestaltung zeigt sich in ihrer naiv-egoistischen Form in der italienischen Tyrannis, die unmittelbar aus den italienischen Stauferkämpfen erwächst. Sie erfährt ihre juristische Durchbildung in Frankreich in dem Kampf zwischen Philipp dem Schönen und Bonifaz VIII. In der Literatur, die diesen Kampf begleitet, findet sich die erste ganz reine Formulierung der Autonomie des weltlichen Staats. Der idealistische Streit zwischen Papsttum und Kaisertum, wie ihn der staufische Ghibellinismus erfolglos geführt hat, wird auf das 4

Gebiet der realistischen Machtgegensätze (Besteuerung, Lehenshoheit) übertragen. Die Idee der armen Kirche ist in ihrer ursprünglichen Form ebensosehr eine Kritik der Gesellschaft wie eine Kritik der Papstkirche. Franz von Assisi freilich geht von der Kritik der Gesellschaft aus. In der Ordensgründung der Franziskaner, die Gregor IX. bestätigt, gelingt es, die neue Stiftung unter Beibehaltung ihres sozialen Zwecks der Papstkirche einzugliedern. Aber der alte Zwiespalt bricht im Kampf der Observanten und Spiritualen unter Johann X X I I . neu hervor. Die Idee der armen Kirche richtet sich nun durchaus gegen die Papstkirche. Zwar wird die Idee in Italien und Deutschland mit der Niederlage Ludwigs des Bayern politisch gesdilagen, aber sie bleibt lebendig in den apokalyptischen Prophezeiungen, daß auf das Zeitalter des Sohnes, in dem das verweltlichte Papsttum herrscht, ein Zeitalter des Heiligen Geistes mit einem papa angelicus folgen werde. Die Vorstellung Luthers, daß der Papst der Antichrist sei, ist hier vorgebildet. Gleichzeitig mit dieser Opposition erhebt sich aus der englischen Franziskanerschule die Opposition gegen das Kultursystem des Thomas von Aquin. Sie sucht zu zeigen, daß das von Thomas angenommene Verhältnis von Glauben und Wissen unmöglich ist. Sie erhebt Gott und die Heilswahrheiten wieder über alle Vernunft und gibt damit dem Reich des Kreatürlichen, wenn auch wider Willen, seine Selbständigkeit zurück. Occam insbesondere, der venerabilis inceptor der neueren Philosophie, wird mit seiner Lehre von dem grenzenlos willkürlichen Gott, von der Kirche als der Gemeinschaft der Gläubigen, von dem Aushilfsverhältnis von Kirche und Staat, von der Heiligen Schrift als einziger Grundlage der Glaubensnormen der eigentliche Zerstörer des organischen Systems. Seine Theorien sind für die Konzilsbewegung ebenso wichtig geworden wie für die Ausläufer der mittelalterlichen Aufklärung und schließlich für Luther. Der Nominalismus, der sich an ihn knüpft, ist die eigentlich mittelalterliche Rechtfertigung des Individualismus geworden. So ist das organische System des Mittelalters bereits im 14. Jahrhundert in den Grundfesten erschüttert. Es übersteht diese erste Krisis und zeigt zunächst keine Veränderung seiner sozialen und politischen Formen. Aber der Geist wird ein anderer. Das Papsttum in Avignon zeigt in seinen Auswüchsen bereits die Züge des ancien regime des französischen Königstums im 18. Jahrhundert. Da es nach einem letzten Versuch unter Johann X X I I . der Idee der politischen Weltbeherrsdiung endgültig entsagen muß, wirft es sich auf die Ausbildung des politischen Absolutismus in der Kirche selbst. Der Zentralismus und der Fiskalismus, beide geboren aus der Finanznot der Kurie, werden das 5

Kennzeichen des avignonesischen Papsttums. Das wird umso wichtiger, als die Folgezeit dann das Papsttum überhaupt in diesem Lidite sieht. Damals ist jene Vorstellung von dem Abgaben erpressenden, Kurtisanen ernährenden Papsttum, dem Kornwurm Huttens, entstanden, die durch die Reformationszeit verewigt worden ist. Die Voraussetzungen für den Abfall des 16. Jahrhunderts sind zum guten Teil vom avignonesischen System geschaffen worden. Aus ihm entwickelt sidi direkt die zweite große Krisis des hierarchischen Systems, das Schisma. Es zeigt in der allgemeinen Anardiie den vollständigen Bankrott der päpstlichen Herrschaftsidee und zwingt die Zeitgenossen zwischen Papsttum und Kirche auch äußerlich zu scheiden. Die daraus entspringende Kritik des Papalsystems führt zu dem Versuch, den autokratisch-transzendentalen Kirchenbegriff durch einen demokratisch-empirischen, die congregatio fidelium, zu ersetzen. Das ist die Bedeutung der Koniiisperiode. Aber es zeigte sich, daß weder eine Parlamentarisierung der Papstkirche noch eine Ersetzung des regierenden Systems der respublica christiana durch ein individualistisches möglich war, ob man nun, wie in Konstanz, die Individuen durch die Nationen oder, wie in Basel, durch die einzelnen Gläubigen verkörpert sah. Das praktische Ergebnis war, daß sich das Papsttum durch Abkommen mit den weltlichen Gewalten seiner kirchlichen Gegner entledigte. So erlebte das 15. Jahrhundert die Restauration des Papsttums, des hierarchischen Systems und der hierarchischen Idee. Ja, es sah aus, als sollte es dem Papsttum auch gelingen, sich der großen Bewegung der universalen Reform zu bemächtigen, die in der Hauptsadie von dem Konstanzer Konzil ausgegangen war, und es schien mäditig genug, sowohl die erste große nationale Lostrennung von der allgemeinen Kirche, die der Hussitismus bringt, als auch die letzte große Regung des enthusiastischen Puritanismus, den Savonarola darstellt, niederzuschlagen. Aber die Ergebnisse waren doch nur scheinbar befriedigend. Das Papsttum, das sich aus den Kämpfen des 15. Jahrhunderts erhob, ruhte als politische Macht viel stärker als bisher auf dem Kirchenstaat. Dieser aber war ein italienischer Tyrannenstaat geworden, der mit den Mitteln der modernen Staatskunst regiert und damit immer stärker durch weltlich-politische Erwägungen bestimmt worden ist. Die Nepotenpolitik und daneben der von Avignon übernommeneFiskalismus, der die landesherrlichen Einnahmen durch eine allgemeine Besteuerung des kirchlichen Ämterwesens ergänzen sollte, waren die Kennzeichen dieses neuen politischen Papsttums. Neben dieser Politik nahm sich die Wiederaufnahme der Kreuzzugsidee, wie sie der Fall von Konstantinopel nahelegte, grotesk aus. Sie hatte nur den Erfolg, den Widerstreit zwischen Idee und Erscheinung noch fühlbarer zu machen. Die Restauration des hierarchischen

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Systems führte allerdings zur Überwindung der Konzilsidee. Aber indem nun das Papsttum bis in die T a g e von Trient hinein die Furcht vor dem Konzil nicht los wurde, verzichtete es auf die direkte Verbindung mit den lebendigen Kräften der Kirchenreform und wies diese auf ihre eigenen Wege. Während es vor allem gegen die Theorie von der Oberhoheit des Konzils über das Papsttum kämpfte, lieferte es die Landeskirchen so stark den weltlichen Gewalten aus, daß es für alle einschneidenderen Verwaltungsmaßnahmen auf den guten Willen der weltlichen Gewalt angewiesen war. N u r durch ein Bündnis mit dieser hat es auch den Hussitismus und Savonarola überwunden. Die Restauration der hierarchischen Idee aber, wie sie Torquemada im Sinne eines Thomas von Aquin und Enea Silvio mit den Mitteln des Humanismus zu vollziehen suchte, blieb in weitem Umfange Theorie, da sie sich nicht mehr mit den wesentlichen Tendenzen des spätmittelalterlichen Kulturkreises deckte. In diesem hat sich der Individualismus vor allem in zwei Strömungen Bahn gebrochen, in der aristotelischen Aufklärung und in der deutschen Mystik. Die aristotelische Aufklärung

ist durch die Araber nach Europa gekommen. Der

große Kommentator des Aristoteles, Averroes, formuliert ihre Probleme. A n ihn schließt sich eine ganze Schule von Averroisten. Sie ist im 1 3 . Jahrhundert in Paris so mächtig, daß Thomas von Aquin sie literarisch bekämpfen muß, denn sie widerstreitet der Kirchenlehre in zwei Hauptpunkten: sie behauptet die Ewigkeit der Welt und leugnet die Unsterblichkeit der Einzelseele. Sie versteht es aber, sich mit der Kirche abzufinden durch die Lehre von der doppelten Wahrheit. So wächst sie trotz aller Verdammungen. In Frankreich findet sie Boden bei den Juristen der antipäpstlichen Publizistik. Marsilius von Padua kommt aus der averroistischen Schule. Bei ihm richtet sich der politische Mensch des Aristoteles aus seiner kirchlichen Verknechtung auf und sprengt das organische System in seinen kirchenpolitischen Grundlagen. In Italien wirkt die metaphysische Richtung des Averroismus; sie findet ihren theoretischen Ausdruck in der Paduaner Schule, die vor allem die Fragen der Unsterblichkeit und des freien Willens diskutiert; praktisch verbindet er sich mit der italienischen Tyrannis und hilft hier jenen moralischen Skeptizismus erzeugen, den die Anekdote von den drei Betrügern Moses, Christus und Mohammed ausdrückt. Der Weltlauf und das Menschenschicksal werden begriffen nach den Prophezeiungen der Astrologie, die eine Gesetzmäßigkeit der Welt verbürgt und das Abmessen des eigenen Handelns, das Ergreifen des rechten Moments gestattet. Fatum, fortuna und ratio teilen sich in das Leben dieser Menschen. Tiefer noch greift die Mystik.

Sie ist entstanden aus dem Bedürfnis der

Seele, sich ihren eigenen Weg zu Gott zu suchen. Sie ist von Anfang an im

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Christentum wirksam, sie setzt sich in entscheidenden Momenten mit der kirchlichen Tradition und dem rationalistischen Ausbau der kirchlichen Wissenschaft, ihren natürlichen Gegnern, auseinander, aber für das Ganze der christlichen Kulturgemeinschaft w i r d sie erst wirksam durch die Bettelorden. Die franziskanische Mystik in Italien äußert sich teils in der praktischen Jesusnachahmung, teils in der enthusiastischen Form einer apokalyptischen Bußpredigt.

Die

dominikanische w i r d besonders in ihrer deutschen von Meister Eckhardt und Tauler dargestellten Form wichtig. Sie führt zu dem Ideal der „Gelassenheit", der Stillung des Willens, zur Ausbildung des mystischen Weges, auf dem man zu dieser Gelassenheit gelangt, und zu einem freien genossenschaftlichen Zusammenschluß der Gleichgesinnten, dessen wichtigste Erscheinung die Brüder vom Gemeinsamen Leben sind. Beide, Mystik w i e A u f k l ä r u n g , führen z u einer außerordentlichen Steigerung des Persönlidikeitsgefühls innerhalb der respublica christiana. M a n hat gesagt, daß der A u f k l ä r e r die Kirche z u umgehen, der Mystiker sie zu überspringen suche. Wie stark beide Richtungen den geistigen Spielraum des Individuums ausweiten können, sieht man an Dante, der von beiden genährt ist. Das ist der Grund, w a r u m wir Dante zur Renaissance z u setzen pflegen, denn die Renaissance als geistige Bewegung kommt v o n A u f k l ä r u n g und Mystik gleichmäßig her. M a n hat deshalb als erste Renaissancemenschen Franz von Assisi und Friedrich II. bezeichnet. Dann aber wächst die Renaissance als selbständige Macht über A u f k l ä r u n g und Mystik hinaus und z w a r durch ihre V e r bindung mit dem italienischen Stadtstaat. A u f seinem Boden erwächst in der Tyrannenherrschaft aus der Stadtrepublik das erste völlig autonome Staatsgebilde des Mittelalters mit der Tendenz zur politischen, wirtschaftlichen und sozialen Autarkie und der Rechtfertigung seines gesamten Lebens aus seinen eigenen Zwecken. D i e völlige Ausgestaltung erfährt die Renaissance dann durch ihre Verbindung mit dem Humanismus.

Dieser zeigt in seinem Ahnherrn Pet-

rarca zunächst eine Säkularisierung der M y s t i k ; aus der Sorge um das Seelenheil wird die K u l t u r der Seele als Selbstzweck. Über seine Vaterlandsbegeisterung findet Petrarca seinen W e g zu den Alten, bei denen er die G r ö ß e und Reinheit sieht, die er in der Gegenwart vermißt. Die Weltflucht ist vor allem auch ästhetische A b l e h n u n g der W e l t ; sie führt nicht mehr ins Kloster, sondern zur beata solitudo, nicht mehr zur Askese, sondern zur humanitas. V o n den zwei großen Idealen Augustins, dem Gottesstaat und dem asketischen Heiligen, hat die Renaissance das erste, der Humanismus das zweite zerstört. Dieser H u m a nismus tritt schon in der nächsten Generation auf den Boden der italienischen Polis und verbindet sich also mit der Renaissance. Zugleich dringt er an der 8

H a n d der neuentdeckten Griechen von der augustinisch gesehenen Spätantike bis zur Hochantike vor und bewirkt damit die wachsende Angleichung des moralisch-religiösen Elements an das ästhetische einerseits, das politische anderseits (Platonische Akademie, Marsilio Ficino, Pico, Lorenzo de' Medici, Michelangelo; Gegenpol Machiavelli). Der Wahlspruch der einen Richtung lautet: Endlich lieben wir Gott in seiner Schönheit, den wir in seiner Güte schon lange verehrt haben. Der Grundsatz der anderen: die Beobachtung ist die Quelle jeder Erfahrung, nur die Erfahrung die Grundlage der Anschauung von Welt und Menschen. Also die eine die Renaissanceform der Mystik, die andere die der Aufklärung. Die Renaissance hat sodann eine neue Gesellschaft geschaffen. Sie ist insofern die erste Gesellschaft im modernen Sinne als sie nicht eine Standesgruppierung, sondern eine Bildungsgemeinschaft darstellt. Ihre Elemente sind ritterlich, bürgerlich und geistlich in gleicher Weise, aber der Vereinigungspunkt liegt in der Schaffung einer neuen Sitte, die sich gleichmäßig aus der Wirtschaftlichkeit des Bürgertums und der màze des Rittertums entwickelt und sich in den neuen Begriffen der virtù, das heißt der Ausbildung aller Fähigkeiten, und der honesta, der Wohlanständigkeit, die besonders in künstlerischen Dingen nicht knausern darf, niederschlägt. Diese ganze Bewegung, getragen von einem außerordentlichen wirtschaftlichen Aufschwung zunächst in Italien, dann aber auch in den meisten andern Ländern Europas, hat einerseits zu einer entschiedenen Steigerung des derben und feinen Lebensgenusses geführt — das ist es, was man das Heidentum (paganismus) der Renaissance genannt hat —, anderseits aber auch zu einer bemerkenswerten Umbildung der Religiosität selbst. Und wenn wir jenes als eine, wenn auch naive Abweisung der Grundgedanken des organischen Systems bezeidinen können, so ist dieses eine umso bewußtere Umformung der Grundgedanken. Man versucht die Religion aus ihrer scholastischen Hülle zu befreien, zunächst so, daß man das Verstandesmäßige zurückdrängt zugunsten einer gefühlsmäßigen Erfassung, sodann so, daß man das immer komplizierter gewordene religiöse System vereinfacht und auf allgemein verständliche religiöse Moralbegriffe zurückführt. Die Anregungen sind hier vom Florentiner Platonismus ausgegangen, fruchtbaren Boden aber haben sie erst in Frankreich, England, den Niederlanden und Deutschland gefunden. Am 16. März 1517 wurde in Rom das fünfte Laterankonzil geschlossen. Nach dreihundert Jahren zum erstenmal hatte das Papsttum die Vertreter der abendländischen Christenheit in den alten Kaiserpalast berufen können, den 9

nach der Legende Konstantin der Große dem Papst Silvester und allen seinen Nachfolgern, die bis ans Ende der Welt auf dem Stuhl des heiligen Petrus sitzen würden, als den ersten Palast des Erdkreises geschenkt hatte. Fünf Jahre war es her, seit Julius II. das Konzil eröffnet hatte. Fünf Sitzungen hatte es noch unter ihm selbst, dem Cäsar der Kirche, gehalten; die folgenden sechs hielt Leo X., den die schmeichelnden Stimmen der Zeit ihren Augustus nennen wollten. Man hatte beraten wie in alten Zeiten: über die Reform der Kirche an Haupt und Gliedern, die Reform der Sitten des Klerus und der Laien, über die Ausrottung der Haeresie und des Schismas, das durch den Versuch eines Kardinalkonzils in Pisa drohend geworden schien, über die Herstellung des Friedens unter den Fürsten Europas und einen Kreuzzug gegen die Ungläubigen, geführt mit den Kräften des aufs neue vereinigten Europa. Nichts an dem war neu. Dies alles hätte auf der Höhe des Mittelalters ebenso vor sich gehen können. Es konnte zunächst nichts weiter bedeuten, als ein weithin sichtbares Zeichen dafür, daß das Papsttum die Schatten von Konstanz und Basel nicht mehr fürchtete, daß man sich nun hier im Mittelpunkt der hierarchischen Organisation auch im sicheren Besitz des Erbes der Apostelfürsten fühlte. Und hatte man nicht Grund dazu? Blickte man vom Ende des Konzils auf die letzten hundert Jahre der römischen Kirche zurück, so waren sie doch für die römische Hierarchie eine Zeit der Wiederherstellung auf allen Gebieten gewesen. Die beiden großen Gefahren, die das Papsttum bedroht hatten, das große Schisma, das sich an das avignonesische Exil anschloß, und die Konzilsbewegung, die das Konzil an Stelle des Papsttums zur Regierung der Kirche machen wollte, waren überwunden. Eben hatte das Laterankonzil das Konkordat mit Franz I. von Frankreich bestätigt, in dem die letzte weltliche Macht, die noch an den konziliaren Theorien von Konstanz und Basel festhielt, diese für kirchliche Rechte der Krone preisgab. Die erste große ketzerische Bewegung, die die abendländische Christenheit zu zerreißen drohte, die des Hussitismus, war längst auf ihren Herd beschränkt, was davon noch bestand, war eine Sekte geworden, mit der man paktieren konnte. Auch der apokalyptische Enthusiasmus Savonarolas, in dem die franziskanische Idee der armen Kirche sich noch einmal verleiblicht hatte, lebte fast nur noch als geistige Bewegung fort. Als solche erschien er auf dem Konzil selbst in der großen Denkschrift, die Gianfrancesco Pico Graf von Mirandola, der Neffe des Haupts der platonischen Akademie, ein glühender Verehrer Savonarolas, dem Konzil und dem Papste vorlegte. Hier sprach noch einmal der mönchische Rigorismus, aus dem heraus Savonarola sein Königreich Christi hatte errichten wollen. Aber sah man von den düsteren Prophezeiungen und den Exklamationen eines mystischen Denkers 10

ab, was blieb von den vorgeschlagenen Reformen, das nicht auch Bernhard von Clairvaux hätte sagen können? Und war nicht viel bedeutsamer, als diese strafende und warnende Predigt selbst, die Tatsache, daß sie dem Haupt der Kirche gewidmet war, daß der Biograph Savonarolas zu den vertrauten Freunden Leos X. gehören konnte? Leo X. hätte solche Mahnungen ernster nehmen dürfen, als er es ohne Zweifel getan hat, er konnte dennoch hoffen, sein Papsttum so glücklich und so glänzend zu Ende zu führen, wie er es begonnen hatte, in dem Zeichen der Vereinigung von Christus und Pallas, unter dem die märchenhafte Renaissancepracht seines possesso gestanden hatte. Denn überall war auch die hierarchische Organisation der Kirche in diesen hundert Jahren wiederhergestellt. Gerade damals tat sie ihre ersten Schritte in die neue Welt. Auf dem Konzil war auch ein Bischof von St. Domingo als Vertreter des neu entdeckten Amerika erschienen, und schon 1514 war in Rom eine portugiesische Gesandtschaft eingezogen, die nach der Eroberung Malakkas als Huldigung des neu erschlossenen Orients vor dem Haupte der Christenheit die nie gesehenen Wunder der Tierwelt Indiens, einen weißen Elefanten und zwei Leoparden, dem Papste vorführte. Die römische Kirche schien auch für die neue Welt, die auf beiden Halbkugeln aus dem Dunkel emportauchte, die allgemeine werden zu wollen, wie sie es im Abendland ohne Zweifel jetzt wieder geworden war. Mehr noch. Auch das hierarchische Prinzip hatte sich aus den Wirren und Kämpfen der Konzilszeit längst wieder erhoben. Es hatte in den Dominikanern Vorkämpfer erhalten, die die hierarchischen Theoretiker des hohen Mittelalters an Schärfe und Konsequenz erreichten, wenn nicht übertrafen. Schon auf dem Basler Konzil hatte der Spanier Juan de Torquemada die Lehre bekämpft, daß die kirchliche Gewalt, vor allem die richterliche und strafende, einer „Kommunität" übertragen werden könne, deren größerer Teil zu ihrer Ausübung unfähig sei. Also könne sie auch nicht von einer Kirche ausgeübt werden, in der Laien und Frauen die Mehrzahl bildeten. Damit hatte er die occamistischen Lehren, aus denen die Konzilien von Konstanz und Basel ihre Kraft gesogen hatten, in ihrem Kernpunkt getroffen und die monarchische Ordnung der Kirche als eine Lebensbedingung für sie gefordert. Und eben zur Zeit des Laterankonzils hatte der Magister sacri Palatii und als solcher Haustheologe des Papstes, der Dominikaner Silvester Mazzolini, nach seinem Geburtsort Prierias genannt, in seiner Summa summarum, einer Art von autoritativer Zusammenstellung der Staatslehre des Papsttums, diese Thesen des Torquemada in allen Punkten wiederholt und überboten: der Papst kann Kaiser und Könige absetzen, er kann aus gerechten Gründen die Beschlüsse eines allgemeinen 11

Konzils aufheben oder ändern, er kann alle bürgerlichen Gesetze aufheben und andere erlassen, soweit ihm nicht das natürliche und göttliche Recht entgegensteht, er kann als Verwalter des Gnadenschatzes der Kirche die Seelen der Abgeschiedenen aus Fegfeuer und Hölle befreien. So malte sich die christliche Welt in den Köpfen der offiziellen Vertreter des kirchlichen Gedankens. Das restaurierte Papsttum sollte nach diesen Lehren wiederum das unbestrittene Haupt aller sein, die Christo getreu sein wollten. Auch das sprach das Laterankonzil aus, als es die Bulle Unam sanctam, die einst Bonifaz VIII. als letzte programmatische Kundgebung des mittelalterlichen Papsttums erlassen hatte, erneuerte und bestätigte. Sah man freilich tiefer, so war doch diese christliche "Welt gegen die Zeiten des hohen Mittelalters, ja auch gegen die der großen Konzilien aufs stärkste verwandelt. Schon das Laterankonzil selbst war nicht mehr die allgemeine Synode, wie sie Innozenz III. sich gedacht und 1215 auf dem vierten Laterankonzil um sich versammelt hatte. Damals war der Gedanke gewesen: die Kirche sollte die beiden Stände, der Laien und der Kleriker, umfassen und ihre Vertreter, die Prälaten und die Fürsten, sollten auf der Synode den Papst umgeben, ihn der Welt als das Haupt dieses großen christlichen Körpers, als den vicarius Petri, Christi, Dei sinnfällig zeigen. So war es 1215 in der T a t gewesen. Bei der Einladung zum fünften Laterankonzil hatte man auf die alten Formeln bereits verzichtet und die Vertretung der weltlichen Mächte war spärlich. Es war eine Klerikersynode, neben der die Welt ihren alltäglichen Gang weiterging. Und wie sollte es anders sein? Alle die großen und kleinen Mächte, die den irdischen Raum der respublica christiana erfüllten, waren jetzt selbständige Gewalten von eigenem Willen und eigenem Leben geworden. In Italien hatte sich der Renaissancestaat in all seinen möglichen Formen von einem Ende der Halbinsel bis zum anderen aufgerichtet. Die militärische Tyrannis der Visconti und Sforza in Mailand, die Kaufmannsaristokratie in Venedig, die kapitalistische Demokratie in Florenz, dazu der Beamtenstaat Neapels, das waren ebenso viele Verkörperungen des neuen Staatsprinzips, dessen Naturlehre, ganz ungeistlich, ganz rational, ganz diesseitig, eben damals der große Theoretiker der neuen Wissenschaft der Politik, Machiavelli, in seinen Discorsi und in seinem Principe entwickelt hatte. Dazu im Westen die großen Nationalstaaten Spanien, Frankreich, England, nun alle in sich geschlossen, von starken Herrschern regiert, jeder auf seinem eigenen Wege fortschreitend. Daß die Geschäfte von England, Deutschland und Spanien damals von drei Kardinälen der römischen Kirche geleitet wurden, bedeutete nur in Spanien einen Sieg des kirchlichen 12

Prinzips. Wolsey, der Berater Heinridis VIII., und Matthäus Lang, der Berater Maximilians, waren weltliche Politiker im neuen Stil und auch bei Ximenes siegte, wenn die Interessen der Kirche und seines Landes in Widerstreit gerieten, über den Kirchenmann der Spanier. Und das Papsttum selbst? Es lebte seit Sixtus IV. in den Formen des Renaissancefürstentums. In den Formen und in seinem Geiste. Gewiß, es konnte sich schon in der neuen italienischen Staatenwelt nur behaupten, wenn auch der Kirchenstaat eine Macht unter Mächten wurde. Noch mehr galt das, als mit dem Jahre 1494 der Einbruch der Fremden erfolgte und Italien zum Objekt der großen europäischen Politik wurde. Aber mit den Zwecken mußte man auch die Mittel der neuen Staatskunst übernehmen. Alle Päpste seit Sixtus IV. hatten sie geübt, keiner rücksichtsloser und bewußter als Julius II., der Roverepapst. Leo X., der Mediceer, war ihm darin mit kleinerem, kaufmännischem Geiste, stärker an sein Haus gebunden, gefolgt. In die Zeit der letzten Sitzungen des Laterankonzils fiel die Eroberung und der Verlust von Urbino, wo er seinem Neffen Lorenzo ein neues Fürstentum hatte schaffen wollen. Sie enthüllten der Welt den ganzen Widerspruch zwischen der universalen geistlichen Grundlage des Papsttums und der Gebrechlichkeit und Gefährdung seiner italienischen Stellung. In dieselbe Zeit fiel die große Kardinalsverschwörung, deren Entdeckung und Bestrafung die ganze Fäulnis der Atmosphäre des päpstlichen Hofes offenbarte. Unmittelbar hinter den Schluß des Laterankonzils fiel die große Kardinalsernennung vom 23. Mai 1517; sie gab dem „Senat der Kirche" die Zusammensetzung, in der er in die größte Krisis der Kirchengeschichte eintreten sollte; in ihrer Mischung von mediceischen Kreaturen, Vertretern der großen Mächte und römischen Nobili mit den Vertretern der Reform und der Bildung, Adrian von Utrecht, Campeggio, Cajetan, Aegidius von Viterbo, zeigte sie die Stellung dieses italienischen Kirchenfürstentums an der Spitze des corpus christianum so deutlich wie möglich. Aber auch jene geistliche Wiederherstellung der Papstmonarchie und der Kirche war nur durch ein immer enger gewordenes Bündnis des Papsttums mit den weltlichen Gewalten möglich geworden. Schon um das Basler Konzil in Deutschland zu besiegen, hatte Eugen IV. den deutschen Landesfürsten große Teile des kirchlichen Stellenbesetzungsrechts und der kirchlichen Abgaben einräumen müssen. Seitdem hatte das Papsttum kaum irgend eine größere Aktion unternehmen können, ohne sich durch kirchenpolitische Einräumungen Hilfen zu erkaufen. Es war wiederum Sixtus IV., ein Franziskanerpapst, der dazu half, das spanische Staatskirdientum zu vollenden. Das Konkordat, das Leo X . mit Frankreich schloß, ist nur der letzte Schritt auf einem langen Wege. 13

Zum guten Teil mit den Spolien der kirchlichen Rechte und Einkünfte hatte sich die neue Staatsgewalt in Spanien und Frankreich, in Neapel und Venedig, in Österreich, Baiern, Sachsen und Brandenburg erhoben, und der Herzog von Kleve war nicht der einzige, der von sich sagen konnte, daß er der Papst in seinem Territorium sei. So war der kirchliche Gemeinschaftsgeist, der die Kirche hundert Jahre vorher aus den Gefahren eines päpstlichen Schismas errettet hatte, durch die Entwicklung der christlichen Welt ebenso gelähmt wie durch die Entwicklung des Papsttums selbst. Es war das eigentümliche und besonders verhängnisvolle Zeichen der Zeit, daß man diesen Geist trotzdem immer wieder aufrief und aufrufen mußte, um der äußeren und inneren Gefahren der Christenheit Herr zu werden. Daß das Gefühl der äußerlichen Zusammengehörigkeit der respublica christiana nicht erlosch, dafür sorgte schon die beständige und ständig wachsende Bedrohung des christlichen Europa durch die Türken. Was man im Westen gegen den Islam durch die Eroberung der letzten Stellung der Araber in Spanien gewonnen hatte, das hatte man doppelt und dreifach im Osten verloren, wo die Türken in kühnen Beutezügen schon bis in die österreichischen Lande vorgedrungen waren. Sultan Selim I. hatte in den Jahren 1516 und 1517 die Euphratländer und Kurdistan erobert, er hatte dem Mamelukenreich in Ägypten ein Ende gemacht, Aleppo und Jerusalem mit dem hl. Grab waren in seinen Händen, der Osten des Mittelmeeres war nun völlig von der türkischen Macht umklammert, ein Bündnis mit dem Schah von Persien sicherte sie im Rücken. Bedenklicher noch für das christliche Europa war, was man über den Aufbau und den Charakter der türkischen Macht erfuhr. Genau darüber unterrichtet war man vielleicht nur in Venedig, das durch die Ausbreitung der Türkenherrschaft in seinen Lebensinteressen getroffen wurde. Aber schon 1486 hatte in Rom ein Dominikaner, von Geburt ein ungarländischer Deutscher, der als Jüngling in Siebenbürgen zu den Türken verschleppt worden war, ein Büchlein vom Glauben und den Sitten der Türken geschrieben, in dem er neben der Schilderung der Greuel der Türkenherrschaft auch von ihrer Ehrbarkeit in Tracht und Gebaren, von der Strenge ihrer Gottesverehrung, von ihrer Heeresdisziplin und fanatischen Tapferkeit mit bemerkenswerter Unbefangenheit zu erzählen wußte. Mit den Gefühlen des Abscheus und Schreckens vor diesem furchtbaren Feinde mischte sich die dumpfe Empfindung, daß hier sich eine Macht gegen die christliche Welt erhebe, die ihr an sittlicher und staatlicher Geschlossenheit überlegen sei. Und blickte man von da auf diese Welt selbst, so konnte das nur die Einsicht verstärken, daß man der äußeren Gefahren allein durch Maßnah14

men im Innern Herr werde. Schon von hier aus mußten immer neue Antriebe kommen, die in Konstanz und Basel begonnene reformatio ecclesiae in capite et membris zu vollenden, bevor man die Türken besiegen könnte. Aber weder hier noch dort reiften die Entschlüsse zu Taten. Schon Pius II. hatte 1459 auf dem Kongreß zu Mantua erfahren, wie sich seinem Plane eines neuen Kreuzzuges die Interessen der neuen Staaten entgegenstellten, und so war es geblieben. Der Türkenkrieg blieb ein Gedanke, der zwar in keiner großen politischen Kundgebung fehlte; aber auch bei romantischen Naturen, die ihn ernst nahmen, wie etwa Maximilian und später Franz I. von Frankreich, stellten sich vor die Durchführung die realen Notwendigkeiten des Staatswesens, das sie leiteten. Zu diesen realen Notwendigkeiten des Staatswesens gehörte aber nun im Innern auch das, was die Zeit „Polizei" nannte, und von hier aus bemächtigten sich zunächst die weltlichen Obrigkeiten auch der kirchlichen Reform, wenigstens jenes Teils derselben, der die Sittenzucht bei Klerus und Laien betraf. Und damit hörte auch diese auf eine Angelegenheit der allgemeinen Kirche zu sein. Wo die klösterlichen Reformen, die vom Konstanzer Konzil ausgingen, Erfolge errungen hatten, war es mit Hilfe der weltlichen Gewalten geschehen. So hatten in Deutschland die baierischen Herzoge die Melker Reform des Benediktinerordens, die braunschweigischen und klevischen Fürsten die Bursfelder und Windsheimer Reform der Augustiner Chorherrn unterstützt, die strenge Richtung der Bettelorden sah sich fast überall auf das Bündnis mit den weltlichen Gewalten angewiesen, um sich durchzusetzen. Was auf diesem Wege für die Wiederbelebung des alten kirchlichen Sinnes in einem ganzen Lande erreicht werden konnte, zeigte großartig das Beispiel des Ximenes in Spanien. Aber in der Hauptsache gehören auch diese Vorgänge in den Auflösungsprozeß der kirchlichen Gesamtorganisation, und dies nicht nur deshalb, weil die weltlichen Gewalten der Kirche einen Teil ihrer wichtigsten Aufgaben aus den Händen nahmen, sondern auch, weil die Reform in den wichtigsten Punkten unvollkommen blieb. Denn unberührt von ihr blieb der hohe und niedere Weltklerus und mit ihm das Papsttum selbst, blieb vor allem der ganze Zentralismus und Fiskalismus des avignonesischen Systems, das ganze System von Abgaben, mit denen die kirchliche Ämterbesetzung, die Spendung geistiger Gnaden, der kirchliche Rechtsgang verknüpft worden war. Gegen diese Einrichtungen, die die Kirche zu einer Eigenkirdie des Papsttums und zu einer großen Pfründe desselben zu madien drohten, hatten sich die letzten großen Erhebungen der konziliaren Opposition in Basel gerichtet. Mit der Niederlage des Konzils war das alte System wieder erstanden, gerade hier fanden sidi die Interessen des Papsttums, der Kurie und der weltlichen Mächte, die sich in die Erträgnisse 15

teilten, einträchtig zusammen. Sie gaben auch jetzt noch der populären Agitation den eigentlichen Angriffspunkt, an den sich die nationalen Beschwerden der einzelnen Länder und die grundsätzlidie Opposition gegen das System der Papstkirche am leichtesten anschließen ließen. Denn diese kirchlichen Abgaben hatten die Kirche längst in Verbindung mit den Geldmächten der Zeit gebracht. Schon die mercatores curiae, die Florentiner und später die „Leute von Cahors" hatten der Welt gezeigt, daß die Stiftung Christi dem weltlichsten aller Dinge, dem Gelde, dienstbar geworden war. Und längst war in diesen unheilvollen Zusammenhang auch diejenige Einrichtung hineinbezogen worden, auf der die Macht der Kirche über die Gemüter der Menschen vor anderem beruhte, das Bußinstitut. Einst, als man begonnen hatte den letzten Teil der Buße, die Büß werke, durch, den Ablaß zu ersetzen, war der Gedanke gewesen, daß auch sündhafte Verfehlungen des einzelnen durch eine Leistung an und für die Allgemeinheit sollten gebüßt werden können. Dieser Gedanke blieb deutlich, solange der Ablaß mit den Kreuzzügen verbunden war, die ja wirklich eine allgemeine Angelegenheit der Christenheit waren. Er wurde bereits verdunkelt, als neben den Kreuzzugsablaß der Jubiläumsablaß trat. Er war eine Anknüpfung an die alten Pilgerfahrten: so wie diese sollte eine Bußfahrt zu den Basiliken der Apostel die Tilgung der zeitlichen Sündenstrafen bewirken. Aber schon bei dem ersten Jubiläum des Jahres 1300 standen, wie ein zeitgenössischer Chronist erzählt, hinter den Gotteskästen der römischen Kirchen zwei Priester, die die Almosen, welche die Gläubigen darbrachten, mit dem Rechen zusammenscharrten, um sie in den päpstlichen Schatz abzuliefern. Und diese Verbindung von Bußsakrament und Geldzahlung wurde noch enger, als man begann, den „Jubiläus" den Leuten ins Haus zu tragen, das heißt zu verkünden, wer soviel Geld erlege, als die Reise nach Rom gekostet hätte, sollte desselben Ablasses teilhaftig werden. Schon vorher war die Vorstellung aufgekommen, daß auch von den für die einzelnen Kirchen in der ganzen Weite der abendländischen Christenheit bewilligten Ablässen der römischen Mutterkirche ihr Teil gebühre. Damit trat auch die Frage der Nutzbarmachung der Ablaßgelder für das Papsttum unter dieselben Gesichtspunkte wie die Einholung der übrigen päpstlichen Einkünfte überhaupt. Eben weil sie in der ganzen Welt verstreut waren, konnten sie nur mit den Mitteln des neuen Kapitalismus erfaßt werden. Schon 1394 waren in den einzelnen Ländern neben den Ablaßpredigern Beamte der päpstlichen Kammer, eine Art von Bankiers, erschienen, die die Einnahme und Ablieferung überwachen und sichern sollten. Es war nicht anders mit dem Ablaß zum Neubau der Peterskirche, den Julius II. 1507 kurz nach der Grundsteinlegung 16

zum Neubau ausgeschrieben, den dann Leo X . erneuert hatte und dessen Vertrieb nun das Papsttum in der engsten Verbindung mit den Geldmäditen der Zeit, vor allem mit dem Weltbankhaus der Fugger, zeigte. Es ist derselbe Ablaß, gegen den sich Luther erhob. Nicht leicht zum zweiten Male hat die Geschichte den Widerstreit der Ideen in so sinnfällige Erscheinung treten lassen, wie hier. D a ist der gewaltige Neubau der Kirche des Apostelfürsten, bestimmt „die Zier und Würde der universa christiana respublica" auszudrücken, wie Leo X. in der Ablaßbulle f ü r die Kirchenprovinzen Magdeburg und Mainz sagte, die er fünfzehn Tage nach dem Schluß des Laterankonzils erließ. Dieser Bau war geplant von dem gewalttätigsten Papste der Zeit, demselben, der sich von Michelangelo lieber mit dem Schwert als mit einem Buch in der H a n d wollte dargestellt wissen, und von Bramante, in dem sich zum ersten Mal die Gedanken antiker Formgebung ganz mit dem Renaissancegeist vermählten, und der keinen würdigeren Ausdruck der kirchlichen Einheit wußte, als wenn es ihm gelänge, die Kuppel des Pantheon auf die Riesenbogen der Konstantinsbasilika zu türmen. Und gegen diesen Geist, der sich jetzt der Kirche Petri bemächtigt hatte, erhob sich in dem thüringischen Bauernsohn der Geist des Paulus; er zerstörte die respublica christiana in demselben Augenblicke, wo sie ihr größtes bauliches Denkmal erhalten sollte. Wir sehen diese Dinge heute rückschauend so, in symbolischer Verknüpfung. Die Zeitgenossen sahen es nicht so und konnten es nicht sehen. Auch die Tadler des neuen Papsttums und die Bekämpfer des Ablaßhandels und des kirchlichen Finanzsystems, an denen es nicht fehlte, fanden hier doch nicht mehr als Schäden der Institution, die man bessern konnte, und auch all die anderen Stimmen, die sich gegen das verweltlichte Papsttum oder die verweltlichte Kirche erhoben, gingen als von einer selbstverständlichen Voraussetzung von dem Glauben aus, daß dieses universa respublica christiana, von der man niemals häufiger gesprochen hat als gerade damals, in der Form der einen und katholischen Kirche fortbestehen müsse bis ans Ende der Zeiten. War dieses kirchliche Gemeinwesen auch keiner gemeinschaftlichen T a t mehr fähig, so schien es doch möglich, den christlichen Gemeingeist, auf dem es beruhte, neu zu beleben, wenn es nur gelang, die Erscheinung der Kirche wieder mit ihrer ursprünglichen Idee zu durchdringen und zu versöhnen. Gerade damals waren neue Kräfte am Werk, die sich diese Aufgabe setzten. Sie kamen aus der neuen humanistischen Bildungswelt. Als Petrarca, um der Unruhe des eigenen Herzens und den Stürmen der Zeit zu entfliehen, zum ersten Mal die Welt des Altertums als ein Ganzes zu sehen versucht hatte, 2 Reformation

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in dem der geistige und sittliche Mensch seine wahre Heimat finden könne, da war er doch weit davon entfernt gewesen, die Einheit des christlichen Kulturzusammenhanges

damit zerstören zu wollen. Wie er selbst durch

Augustin zu Cicero und Piaton gekommen war, so sollte die neue Humanität, von der er träumte, ein vergeistigtes, verinnerlichtes, gereinigtes Christentum sein. Christus et Cicero, diversa fateor, adversa nego, das wurde der Leitspruch seines eigenen Denkens, der Wahlspruch seiner nächsten Jünger. Die Flucht in die Antike, als in eine andere bessere Welt, war nichts als eine Form der Fludit aus dem saeculum, die alle tieferen Geister des Mittelalters irgendeinmal ergriffen hatte. Ohne das alte Ideal des asketischen Heiligen, wie es Augustin aufgestellt und gelebt hatte, wäre das neue des ästhetischen Humanisten nicht möglich gewesen. Dann freilich hatte der Humanismus als geistige Bewegung andere Bahnen eingeschlagen. Er hatte sich mit den nationalen Kulturen verbunden. Zunächst und am tiefsten mit der italienischen Renaissance, aber bald auch mit dem politischen Selbständigkeitssinn der Franzosen, den sozialen Tendenzen der Engländer, dem romantischen Persönlichkeits- und Volkstumsdrang der Deutschen. Überall half er die Ansätze eines ersten nationalen Individualismus bewußt werden zu lassen und zu gestalten. Überall bejahte und rechtfertigte er die staatlichen Formen, in denen er die Völker vorfand. Er stärkte sie, indem er ein neues gesellschaftliches Gemeingefühl, einen neuen Patriotismus unterbaute. W a r es nicht möglich, dies auch für die christliche Gemeinschaft als Ganzes zu leisten? Wenn Petrarca aus einem idealisierten Römertum die Normen einer neuen Vereinigung von virtus und doctrina und zugleich ein erhöhtes italienisches Heimatgefühl gewonnen hatte, so schien es doch auch möglich, die große christliche Gemeinschaft mit einem neuen Gemeingefühl zu erfüllen, indem man die Ideale der christlichen Antike wieder erweckte, die echten Quellen des Glaubens, gereinigt von den trübenden Zusätzen einer mehr als tausendjährigen Entwicklung, wieder hervorbrechen ließ, den christlidien Geist und das christliche Leben nach diesen Vorbildern reformierte. Dies versucht zu haben ist die Bedeutung des Erasmus. Seit er um die Wende des Jahrhunderts mit seinen ersten kleinen und scheinbar anspruchslosen Schriften hervorgetreten war, dem Lob der Torheit, dem Handbüchlein des christlichen Streiters, den Sprichwörtern und der Gesprächssammlung, war er mit außerordentlicher Schnelligkeit der Führer der gesamten humanistischen Bewegung geworden. Die in den einzelnen Ländern getrennt laufenden Ströme schienen sich in dem neuen, von ihm gepredigten Ideal einer 18

„christlichen Philosophie" zu vereinigen. Er wollte die schönen Wissenschaften, die bei den Italienern nur heidnisch gesprochen hatten, nun auch christlich reden lehren. Die neue Philosophie empfahl sich den Gemütern durch die Vereinigung fast entgegengesetzter Eigenschaften. Sie wollte einfach sein, dem gesunden Menschenverstand eines jeden zugänglich, der sie nur anzunehmen gewillt war, und sie erlaubte doch, ja sie erforderte eine Ergänzung durch das gesamte Wissen der neuen Zeit. Sie war Religion und Bildung zugleich. Sie kam dem mystischen Drang der Zeit entgegen, indem sie der Nachfolge Christi einen neuen, geistigen Sinn gab. Und sie befriedigte alle Ansprüche einer aufklärerisdien Kritik, indem sie die Uberlieferungen der Religion durch allegorische Deutung zu Sinnbildern einer natürlichen Sittlichkeit machte. Sie übernahm und vereinigte alle Oppositionen, die sich seither gegen die Verflechtung der Kirche in die Welt, der Religion in die dialektischen Systeme, der sittlichen Bedürftigkeit in die juristische Kasuistik erhoben hatten, und sie gestattete dennoch, dies ganze System in seinen Grundlagen zu bejahen. Auch für Erasmus blieb die Welt der große Stufenbau, wie ihn die Scholastiker geschaffen und gestaltet hatten, auch in seinem corpus christianum gab es Grade der Annäherung an Christus, die den alten Abstufungen der Heiligkeit entsprachen. Sein letztes Ziel war ein ganz universales, die Umschaffung der Kirche in eine philosophische und pädagogische Erziehungsanstalt auf Christus hin, die Sittigung der Welt durch Frieden und Bildung, eine christliche Kultur, die auf der Übereinstimmung der Gebildeten aller Länder über die Grundwahrheiten eines christlichen Gemeinwesens ruhte. Und schien es nicht möglich, diesen Plan zu verwirklichen? Zu den Freunden des Erasmus gehörten die Hohen und Höchsten der Erde, Wolsey und Morus, die Berater Heinrichs VIII., Adrian von Utrecht und Chievres, die Berater des jungen Karl von Spanien, Grimani, Riario und Campeggio, die Kardinäle der römischen Kirche, nicht minder die Fürsten selbst, die sie umgaben, auch Franz I., der den holländischen Gelehrten dem Führer des einheimisdien Humanismus Lefevre d'Etaples vorzog; in Deutschland blickte alles, was von geistlicher und weltlicher Fürstlichkeit auf Bildung Anspruch machte, zu ihm auf. Als er zu Beginn des Jahres 1516 das Neue Testament in der Ursprache in die Welt hinausgehen ließ, verglich er sein Werk in der Widmung an Leo X . mit dem Neubau von St. Peter. So wie dort der Papst dem Apostelfürsten aus Marmor, Elfenbein, Gold und Edelstein einen neuen Tempel errichtete, so wollte auch er den neuen Tempel Christi auf den evangelischen und apostolischen Bezeugungen seiner Lehre und Gebote erbauen, und ein Jahr darauf schrieb er an den Papst, er hoffe, daß unter seiner Führung

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in diesem Zeitalter, das, wenn irgend eines, das goldene heißen könne, die drei vorzüglichsten Güter des Menschengeschlechts ihre Auferstehung feiern könnten, die christliche Frömmigkeit, die schönen Wissenschaften und der öffentliche Friede. Für all dieses erschienen in jenen Jahren die Aussichten günstiger als je. Die Schlacht bei Marignano, in der Franz I. Mailand wieder erobert hatte, schien den großen europäisdien Kampf um Italien zunächst einmal abzuschließen. Frankreich schien befriedigt, die anderen Mächte schienen sich damit abzufinden. Den Bestrebungen Leos X., der die Möglichkeit in greifbare Nähe gerückt glaubte, die Kräfte der respublica christiana gegen den Türken zu richten, wie es der letzte Beschluß des Laterankonzils vorsah, und überall für einen fünfjährigen Waffenstillstand unter den Mächten warb, schienen die Interessen der neuen Staatenwelt selbst entgegenzukommen. Eine ganze Reihe von Verträgen aus den Jahren 1516 und 1517, die mit dem Frieden von Cambrai am 11. März 1517 schlössen, begrenzten die Interessensphären der europäisdien Großmächte. Alle diese Verträge gaben sich als ewige. Die meisten betonten ausdrücklich, daß es die Vereinigung der Kräfte der Christenheit gegen den gemeinsamen Feind, den Türken, gelte. Und als der eigentlidie Friedebringer für dieses zerklüftete Europa erschien England, wo eben damals Wolsey seine große Laufbahn begonnen hatte; Wolsey, der sich sogleich als Schiedsrichter Europas fühlte und der das päpstliche Projekt eines allgemeinen Friedens für den Kreuzzug durch das eines ewigen Bundes der großen Mächte überbot; England, das für Erasmus dasselbe bedeutete, wie für die Humanisten der letzten Epoche Italien, wo sein Freund Thomas Morus das Ideal der neuen christlichen Humanität verkörperte und in seiner Utopia beschrieb. Erasmus sah Gefahen, die seinem Werke drohen konnten. Er befürchtete, daß sidi aus der Neubelebung des Altertums ein neues Heidentum, aus den neuen hebräischen Studien ein neues Judentum erheben könnte. Er fürchtete, daß ein „Tumult" die ruhige Entwicklung der Bildung, auf der die neue Religiosität ruhen sollte, stören könnte. Die größten Gefahren sah er nicht. War es zu erwarten, daß eine Kirche, die ein Jahrtausend lang ihre Aufgabe darin gesehen hatte, die Beziehungen von menschlicher Schuld und himmlischer Vergeltung in ein System von Strafen und Belohnungen umzuformen, nun darauf verzichten würde, um etwa eine moralische Erziehungsanstalt zu werden? War es ferner zu erwarten, daß die Christenheit, der ein Jahrtausend lang die Vergewisserungen des Heils in immer gröberer Verdinglichung geboten worden waren, sich diese nun entreißen ließ, um mit den Führern einer vergeistigten Religiosität in den Symbolen, die das Heil bewirkten, nur Allegorien 20

zu sehen, die, wie andere aus der Konvention der weltlichen Gesellschaft, so aus der Übereinstimmung einer christlichen Gesellschaft geboren und nur durch diese gestützt, lediglich Zeichen der Heilstatsachen sein sollten? Diese Gefahren hätten die Erasmische Aufklärungsreligion auch dann bedroht, wenn ihr eine ungestörte Entwicklung vergönnt gewesen wäre. Näher lagen andere Gefahren, und sie enthüllten sidi sogleich. Konnte die Bildungsreligion des Erasmus sich behaupten, wenn die Suche nach einer Wiederherstellung des Christentums die Welt zu den Grundfragen der Religion zurückführte, zu dem Verhältnis von Sünde und Gnade, von Gesetz und Evangelium? Damals, als Erasmus dem Papste seine frohen Hoffnungen aussprach, hatte ein deutscher Mönch, von all dem unberührt, in seiner Zelle schon eine Antwort auf diese Frage gefunden, die eine ganz andere Reformation einleiten sollte, als irgendein Mensch im Jahre 1517 erwarten konnte.

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2. LUTHER 1545, ein Jahr vor Luthers Tod, erschien der erste Band der Gesamtausgabe seiner lateinischen Schriften. Er enthielt die res indulgentiariae, die Schriften zum Ablaßstreit, und reichte von 1517 bis 1521. Luthers Freunde hatten das Material dazu seit einem Jahr gesammelt und endlich Luther bewogen, eine Vorrede dazu zu schreiben. Diese Vorrede — sie stammt vom 5. März 1545 — ist die letzte und zugleich die umfassendste Selb stschau Luthers. Er sagt uns darin, wie er zum Reformator wurde. Hören wir ihn darüber. Eine humanistische Einleitung: Luther hätte gewünscht, seine Schriften, die ihm als Ganzes wie ein rohes und ungeordnetes Chaos und als Erzeugnisse des Augenblicks wirr und widerspruchsvoll unter sich erscheinen, lieber vergessen und vergehen zu sehen, als sie durch Sammlung noch besonders zu erhalten. Aber dies ist nicht die humanistische Bescheidenheit, hinter der damals, wie zu allen Zeiten, oft der richtige Literaten- und Gelehrtendünkel stedct, es ist vielmehr die Furcht, mit den eigenen Schriften dem Worte Gottes das Licht zu verstellen. War es doch seine Lebensarbeit gewesen, das durch die Tradition verdunkelte Evangelium von dieser Tradition zu befreien, die Menschen wiederum dem Worte Gottes ohne Mittel gegenüber zu stellen. Wer bürgte ihm dafür, daß nicht aus seinen Schriften eine neue Scholastik sich erhob, vielleicht schon sich erhoben hatte? Aber daneben ist es noch ein anderes Gefühl, das Luther bei dem Unternehmen bedenklich macht, ein Gefühl, das jeder große Mensch hat, der sein Leben aus dem Grunde gelebt und deshalb immer sich dem Moment mit seiner ganzen Persönlichkeit hingegeben hat. Und der nun, die Zeugnisse seines Lebens vor Augen, sich selbst so „wunderlich incohaerent" vorkommt. So hat das Goethe ausgedrückt. Luther hat genau so empfunden. Dazu noch etwas drittes. Er weiß, daß seine Anhänger sich wundern werden, ihn in seinen ersten Kundgebungen aus Anlaß der Ablaßthesen in seinen „papistischen Anfängen" zu sehen. Denn so sieht Luther sich jetzt selbst. Und es ist ihm auch eine persönliche Angelegenheit zu bekennen, wie er aus dem Mönche und dem „ganz unsinnigen Papisten" der Luther geworden ist, den die Welt kennt. „Ich war ein Saulus", sagt er, „wie jetzt viele sind"; das heißt, es dünkt ihm, er sei als Mönch ebenso bereit gewesen, die Wider22

sadier des Papstes zu vernichten, wie jetzt die Gegner sind, das Evangelium zu bekämpfen. „Ich hatte die Sache mit Ernst angefangen als ein Mensch, der den Tag des letzten Gerichts fürchtete und doch mit allen Fasern nach der Seligkeit strebte". Und nun beginnt er seinen Lebensabriß mit dem Ablaßhandel von 1517, in dem er gewiß war, die wahre Meinung des Papstes gegen die Unbescheidenheit der Ablaßkrämer zu verteidigen. Nichts anderes als die Ehre des Papsttums hat ihn dann bei seinen weiteren Schritten der Jahre 1517 und 1518 geleitet. Auch als er in Augsburg vor Cajetan stand, hat er sich zwar schon von der Welle eines populären Unmuts gegen die päpstliche Finanzwirtschaft getragen gefühlt, aber er antwortete doch, als ihn Cajetan fragte: „Was würdest Du tun, wenn Du den Papst und die Kardinäle in Deiner Gewalt hättest?" „Alle Ehrfurcht und Ehre würde ich ihnen bezeugen." Und erst dadurch, daß der Kardinal hochmütig verschmäht ihn zu hören, beginnt die große Irrung zwischen ihm und dem Papsttum, der „große Lärmen", wie er anderswo sagt. Auch damals, als die Leipziger Disputation mit Eck den offenen Bruch mit dem Papsttum bringt, ist er sich, wie er meint, der Folgen seines Tuns nicht bewußt gewesen. „So sehr", sagt er, „war ich befangen in dem Bilde und in den Vorstellungen von der heiligen Kirche, daß ich dem Papst, wenn schon nicht das göttliche, so doch das irdische Recht seiner Würde zugestand. Ich wußte damals noch nicht, daß, was nicht von Gott ist, vom Teufel und Lüge ist, ich wußte es nicht, obgleich ich schon sieben Jahre lang Lehrer der heiligen Schrift war und schon zu der Erkenntnis des wahren Glaubens vorzudringen begonnen hatte, des Glaubens, daß wir nur aus dem Glauben an Christus, nicht aus den Werken gerecht und selig werden." Noch immer sieht er in dem erinnernden Rückblick die Wege zum Frieden offen. Er glaubt dem Vermittlungsversuch des Miltitz, er glaubt, daß auch der Handel mit Tetzel hätte gut ausgehen können, wenn nicht Albrecht von Mainz, für sein Ablaßgeld besorgt, sich dabei falsch gezeigt hätte. Der Durchbruch erfolgt von einer ganz anderen Seite her. In diesem Jahr, sagt Luther — es muß das Jahr 1519 oder 1520 sein —, habe er sich aufs neue der Auslegung des Psalters zugewendet, nachdem er schon den Römerbrief, den Galaterbrief und den Hebräerbrief behandelt hatte. „Schon längst", so fährt er fort, „hatte mich eine feurige Sehnsucht ergriffen, den Apostel in seinem Brief an die Römer kennenzulernen. Aber etwas hielt mich zurück. Es war nicht Herzenskälte, nur das einzige Wort: Die Gerechtigkeit Gottes wird im Evangelium enthüllt. Denn ich haßte dieses Wort: Gerechtigkeit Gottes, weil ich gewohnt war, es nach Brauch aller Ausleger philosophisch 23

zu verstehen, das heißt von jener Gerechtigkeit, durch die Gott gerecht ist, und mit der er die Sünder und die Ungerechten straft. Denn wenn idi audi als ein unsträflicher Mönch lebte, so fühlte ich doch, daß ich vor Gott ein Sünder und schlechtesten Gewissens sei, und ich brachte nicht das Vertrauen auf, er könne durch meine Genugtuung besänftigt werden. Ich konnte diesen gerechten Gott, der die Sünder straft, nicht lieben, nein, ich haßte ihn, ja haderte im Stillen mit Gott gewaltig und sagte ihm: "War es nicht genug, uns arme Sünder, die wir durch die Erbsünde auf ewig verloren sind, nun durch das Gesetz der zehn Gebote mit solchem Verderben zu beladen, mußtest Du, Gott, auch noch durch das Evangelium dem Schmerz einen neuen Schmerz hinzufügen und sogar durch das Evangelium uns das Gericht und Deinen Zorn verkünden? So haderte ich mit Gott in meinem wütenden und zerquälten Gewissen, aber ebenso ungestüm pochte ich an die Pforte des Paulus, dürstend nach der Erkenntnis zu wissen, was er meine. Bis sich mir durch die Gnade Gottes nach täglichem und nächtlichem Sinnen der Zusammenhang des Wortes erschloß, nämlich: Die Gerechtigkeit Gottes wird im Evangelium enthüllt, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus dem Glauben. Dann begann ich zu verstehen, daß die Gerechtigkeit Gottes die sei, kraft deren der Gerechte durch die Gnade Gottes lebt, nämlich aus dem Glauben; das aber heiße: die Gerechtigkeit Gottes, die durch das Evangelium enthüllt wird, ist die, welche wir empfangen, durch die uns der gnädige Gott mittels des Glaubens gerecht macht. D a war es mir, als sei ich völlig neu geboren, als sei ich durch die geöffneten Pforten in das Paradies eingetreten. U n d von Stund an bekam die ganze heilige Schrift f ü r mich ein anderes Gesicht. Ich durchlief sie, soweit ich sie im Gedächtnis hatte, und fand auch bei anderen Worten eine ähnliche U m kehrung des Sinnes: Die Werke Gottes bedeuteten nun das, was Gott in uns wirkt, die Kraft Gottes das, wodurch er uns kräftig macht, die Weisheit Gottes das, wodurch er uns weise macht. Und so sehr ich bis dahin das Wort: die Gerechtigkeit Gottes gehaßt hatte, so sehr liebte ich jetzt die Süßigkeit dieses Wortes, und die Paulusstelle schien mir wahrlich eine Pforte des Paradieses. Erst später las ich Augustinus „Vom Geist und vom Buchstaben" und fand hier wider Erwarten eine ähnliche Auslegung von der Gerechtigkeit Gottes. So ausgerüstet begann ich zum zweiten Mal die Psalmen zu erläutern, und es wäre ein großes Werk geworden, hätte mich nicht Karl V. im folgenden Jahre nach Worms zum Reichstag gerufen und so gezwungen, mein Werk im Stich zu lassen." 24

Das ist das große Selbstzeugnis Luthers über seine Entwicklung zum Reformator. An sich nur ein Bruchstück. Ihm sollten im zweiten und dritten Band der Werke selbstbiographische Aufzeichnungen über seine Stellung im Sakramentsstreit und im Streit mit den Täufern folgen. Das hat sein Tod verhindert. Aber auch so, als Bruchstück einer großen Konfession, ist das Stück, das sieht man sogleich, von unvergleichlichem Werte. Aber nur dafür, wie Luther von der Reife des Alters und von der Sicherheit des errungenen Standpunktes aus die Dinge sah, nicht wie sie wirklidi verlaufen sind. Kaum eines der erzählten Ereignisse hat sich genau so zugetragen, wie er es schildert. Es ist vergeblich, wenn man versucht, die Erzählung durch nachträgliche Auslegung zu retten. J a , die wichtigste Tatsache, das neue Verständnis der Römerbriefstelle, ist in völlig unhistorischer Weise um mindestens sieben Jahre verschoben. Dies „Bibelerlebnis" fällt, wie wir höchst wahrscheinlich machen können, etwa in die Jahre 1511 und 1512, also weit vor den Beginn des Handels mit dem Papste, und überdies hat Luther mit dem Bibclerlebnis die andere sicherlich noch weiter zurückliegende Tatsache verknüpft, die wir sein Urerlebnis nennen können, die große Wendung, die ihn von dem grenzenlos willkürlichen, zornigen Gotte zu dem Gotte führt, dessen Gerechtigkeit zugleich seine Gnade ist. Sie fällt, wie w i r sehen werden, vielleicht bereits in die Jahre 1508 bis 1509, also an das Ende seiner Erfurter oder in die Anfänge seiner Wittenberger Zeit. Dies alles hat sich in der Erinnerung des alten Mannes verschoben. Aber zweierlei bleibt hier wichtig. Zunächst diese Verschiebung selbst: Die ganze Periode der Seelenkämpfe im Kloster, die uns heute fast hauptsächlich an Luthers Entwicklung interessiert, das ganze Ringen um eine neue Auffassung der Religion, ist als ein Moment eingeschoben in den Kampf mit dem Papsttum. Ohne diesen, so sieht es aus, wäre Luther auch der neue Sinn der Schrift gar nicht aufgegangen. Erst mußte in dem Gedankenbau, in dem er erzogen worden war, das göttliche Recht des Primats Petri, die Hauptstütze der autoritären Tradition fallen, ehe sich ihm das neue Verhältnis von Sünde und Gnade erschlossen hätte. Wäre dem wirklich so, dann wäre Luther durch den Gegensatz zur Papstkirche, also durch eine Tatsache der äußeren Erfahrung zum Reformator geworden, ebenso also wie Wiclif und Hus. Das ist nicht so gewesen. Luther war fertig, als er in den Kampf um den Ablaß eintrat. Aber er hat die Dinge auch sonst so gesehen: „Ich w a r der Welt ganz abgestorben", hat er später einmal gesagt, „bis daß es Gott Zeit deuchte und midi Junker Tetzel mit dem Ablaß trieb und Doktor Staupitius gegen den Papst spornte." Das heißt, Luther identifiziert seine Entwicklung zum Reformator mit der Entwicklung der Refor25

mation. Diese beginnt allerdings 1517, jene viel früher, sicherlich schon im Erfurter Kloster. Trotzdem steht hinter all diesen Verschiebungen des Bildes eine große Wahrheit. Ohne den Kampf mit dem Papsttum wäre Luther der Wittenberger Professor geblieben, der seinen theologisdien Schülern eine neue Theologie vortrug. Erst durdi den Kampf gegen den Ablaß als eine Institution der Kirdie wurden die Fragen des Glaubens, um die Luther gerungen und die er sich zu einer neuen Theologie geklärt hatte, zu Fragen einer Reformation der Kirche. Audi in einem anderen Punkte hat Luther noch im Alter recht gesehen. Sein Gefühl, daß er in den Kampf mit der Kirche gezogen worden sei, ist richtig. Nur so erklärt sich jene seltsame Mischung von Bedenklichkeit und Kühnheit, die wir bei allen großen Schritten seines Lebens, beim Thesenanschlag, in Augsburg vor Cajetan, in Leipzig und in Worms bemerken, und die noch heute vielen seiner katholischen Beurteiler unverständlich ist. Wie alle ganz großen Menschen, geht auch Luther seinen Weg mit einer fast nachtwandlerischen Sicherheit. Erst wo sich ihm durch eine innere oder äußere Vergewisserung oder durch das Hineinbredien der Welt in sein inneres Leben ein Aufenthalt, eine Besinnung aufnötigt, blickt er auf, erstaunt, daß er schon viel weiter von dem Gewohnten und Gebotenen entfernt ist, als er meinte. Aber dann geht er, seinem Geist folgend, trotzig und stark weiter. Wollen wir also Luther selbst, sein Verhältnis zur Reformation und die Bedingungen, unter denen sie entstanden ist, verstehen, so müssen wir versuchen, uns Luthers Entwicklung bis zu seinem Eintreten in den Ablaßstreit vorzustellen. Die Quellen dafür sind dürftig, aber doch sehr viel besser, als wir sie für deutsche Menschen früherer Zeit haben. Es verschlägt nicht viel, daß wir nur sehr wenig Sicheres über Familie, Heimat, Schule und erste Universitätsjahre Martin Luthers wissen. Denn wenn er sich auch später mit Grund der bäuerlichen Abstammung rühmte, die seinem Wesen unvertilgbare Züge aufgeprägt und ihm ermöglicht hat, aus dem Wesen des Volkes selbst heraus zu denken und zu reden, der Reformator Luther ist nicht aus dem thüringischen Bauernhaus zu Möhra, nicht aus den halbhumanistischen Schulen zu Magdeburg, Eisenach und Erfurt hervorgegangen, sondern erst aus dem Kloster. So nahe es liegt und so verlockend es ist, so scheint es doch nicht möglich, Luther aus irgendeiner in unserer Vergangenheit bezeugten deutschen oder gar germanischen Frömmigkeit abzuleiten, noch weniger sein Wesen aus einer bestimmten deutschen Landesart zu erklären. Seine geistige Heimat und sein Wurzelboden ist das Mönchtum der abendländischen Kirche. In Luther, so hat Rudolf Sohm 26

geurteilt, erreicht das Problem des Mönchtums seine Spitze, es überschlägt sich und hebt sich damit selbst auf. Dieses Problem aber war ein doppeltes: die Erreichung einer besonderen Vollkommenheit im Dienste Gottes und die Erzeugung eines Gefühls demütigster Niedrigkeit. Beides zu erreichen mit den Mitteln einer beständigen und beständig verfeinerten Gewissenserforschung und zusammengefaßt in der Frage, aus der das Mönchtum überhaupt entstanden ist: Wie kann ich es machen, daß ich nur Gott diene? Aus dieser mönchischen Gewissenserforschung ist Luthers Gewissensreligion erwachsen, aus der Mönchsfrage die Frage, die ihn zum Reformator gemacht hat: Wie werde ich gewiß, daß Gott meinen Dienst annimmt? In diesen beiden Fragen ist ein Wechsel des Subjekts von unendlicher Tragweite. Aber die eine ist ohne die andere nicht denkbar. So ist das erste Datum in dieser Geschichte der Entwicklung Luthers der 17. Juli des Jahres 1505, wo er an der Pforte des Klosters der AugustinerEremiten in Erfurt Einlaß begehrte und Mönch wurde. Ein Blitz, der vierzehn Tage vorher neben ihm eingeschlagen war, hatte ihm das Gelübde entrissen: „Hilff Du, S. Anna, ich wil ein monch werden." Die Schrecken des Himmels, die Angst vor einem plötzlichen Tode, so sagt er 1521 aus lebendiger Erinnerung dem Vater, haben ihn ins Kloster getrieben. Wiederum wissen wir nicht, was etwa von seelischen Erlebnissen, nach denen wir heute ja gerne suchen, diesem Entschluß vorherging. Daß sein Entschluß, gefaßt, nachdem er eben erst Magister der freien Künste geworden war, den Freunden überraschend kam, unter denen er als ein hurtiger und fröhlicher Geselle, als Musiker und Philosoph eine Rolle gespielt hatte, daß er die Genehmigung dem Vater abringen mußte, der in dem Sohn einen Juristen zu erziehen hoffte, der den von ihm selbst glücklich begonnenen Aufstieg der Familie höher führte, das sind Züge, die so sehr dem Schema mittelalterlicher Heiligenlegenden entsprechen, daß wir sie für erfunden halten könnten, wären sie nicht zweifellos bezeugt. An sich ist nichts dabei ungewöhnlich, auch nicht, daß er es wider den Willen seines Vaters tat. Nur das eine dürfen wir dabei anmerken, was Luther selbst in der großen Beichte bezeugt, daß er sich gedrungen fühlte, dem Gebot Gottes, das ihn in einem Blitzstrahl getroffen hatte, mehr zu gehorchen als den Geboten der Menschen. Und daß es ein innerer Zwang war, der ihn ins Kloster trieb und den Eingetretenen dort festhielt, daran sollte man nicht zweifeln. In die Erfurter Klosterzeit nun fällt Luthers Ringen um den gnädigen Gott. Es sind nur spärliche Äußerungen, die uns seinen Weg erhellen, meist solche Luthers selbst aus späterer Zeit, wo er, gewohnt in seelischen Kontrasten zu leben, die Mönchszeit als die dunkle Folie der späteren Erleuchtung ansah. 27

Die neuere Kritik hat sie deshalb auch fast ganz verworfen oder doch nur als Zeugnisse zweiten Ranges verwertet. Wenn wir versuchen, ihn statt dessen aus der räumlichen und geistigen Umgebung zu begreifen, in der er diese Jahre lebte, kommen wir nicht viel weiter. Der Orden der Augustiner-Eremiten, in den Luther eintrat, war ein Bettelorden, der sich nicht lange nach den großen Gründungen der Dominikaner und Franziskaner erhoben hatte und in Deutschland besonders verbreitet war. Der Orden nannte sich nach dem heiligen Augustinus, auf den er seine Regel, aber ohne Grund, zurückführte. Erfurt gehörte zu dem reformierten Zweige, in dem 1473 Andreas Proles mit außerordentlicher Energie die alte Zucht wieder hergestellt hatte. Der Orden stand zugleich bei dem Papste hoch in Gnaden. Alexander VI. hatte ihm 1497 die ständige Besetzung der Stelle eines päpstlichen Sakristans übertragen. Als Luther in das Kloster trat, war General des Ordens Aegidius von Viterbo, der vertraute Freund und Berater Julius II. und Leos X. So fühlten sich die Mitglieder des Ordens dem Papsttum eng verbunden. Ein Konventsgenosse Luthers, Johann von Paltz, war der eifrigste Verteidiger der päpstlichen Ablässe. Im Kloster blühte der Kult der heiligen Anna, und vielleicht hat gerade dieser Umstand Luther dorthin getrieben. Aber im übrigen gibt es nichts Besonderes im Kloster und auch nicht auf der Universität, wo der junge Mönch Philosophie und Theologie hörte. Man folgte dort der via moderna, das heißt man trug die Lehre des großen englischen Theologen Occam vor, der im Gegensatz zu Thomas von Aquin die Gebiete des Glaubens und der wissenschaftlichen Erkenntnis scharf getrennt und in die Theorie des Erkennens auf allen Stufen den logischen Zweifel eingeführt hatte. In der Theologie stand auch Augustin hoch in Ehren, aber doch nur als dogmatische Autorität. Wir hören nicht, daß er als Persönlichkeit auch nur mit der Lebendigkeit erfaßt worden sei, die wir damals am Rhein, im Elsaß, bemerken können. Sehr glaublich, daß auch Luther den Weg zu dem Menschen Augustin, der ihm später so wichtig wurde, damals noch nicht gefunden hat. In Luthers Leben ist in dieser Zeit, soweit wir sehen, von außerordentlichen Ereignissen gar nichts getreten, und von außerordentlichen Menschen nur einer, Slaupitz, der Generalvikar des Ordens. Er ist auf den jungen Mönch aufmerksam geworden, Luther hat ihm sein Herz geöffnet, und von Staupitz hat er ein Wort gehört, das in seiner Seele haften blieb, wie der Pfeil eines Starken: daß die Liebe zu Gott und zu seiner Gerechtigkeit nicht das Ziel, sondern der Anfang der wahren Buße sei. Um die wahre Buße also hat Luther gerungen, und zwar bis dahin — es wird im Winter 1508 auf 1509 oder nidit lange vorher gewesen sein — ver28

geblich. Die Sündenangst, die ihn ins Kloster getrieben hat, hat ihn nicht verlassen, alle Bußwerke, die er übte, und auch der Genuß der Sakramente haben sie nur gesteigert. Nach zwei Richtungen muß sich diese Steigerung vollzogen haben. Luther muß erkannt haben, daß der sündige Trieb, den er immer wieder aus allen Ankämpfungen in sich aufsteigen sieht, nur aus völliger Verderbnis der menschlichen Natur stammen könne, und Gott, ja audi Christus, müssen ihm einzig und allein im Bilde des strafenden Richters erschienen sein. Wie es damals in seinem Innern aussah, hat er später selbst gesagt: „Ich kenne einen Menschen, der, obgleich nur in ganz kurzen Zeiträumen, so große und höllische Pein erlitten hat, wie es keine Zunge sagen und keine Feder schreiben und keiner ohne eigene Erfahrung glauben kann, so daß er, wenn sie ganz an iHm sich vollendet hätte, oder auch nur eine halbe, ja nur eine zehntel Stunde angedauert hätte, ganz und gar hätte vergehen und all seine Gebeine zu Asche hätten werden müssen". Wer wollte in diesen Abgrund einer geängstigten Seele hineinleuchten und ermessen, wieviel hier körperliche oder seelische Veranlagung ausmachen, wieviel der trotzige Eigensinn eines Willensmenschen, der sich auch gegen das Unmögliche behaupten will, oder das Gefühl tiefster kreatürlicher Verworfenheit? Nur das können wir vermuten, daß eben die Verbindung theologischer und philosophischer Spekulation, wie sie der damalige Lehrbetrieb bot, ihm die seelischen Zweifel ins Bewußtsein gehoben hat. Gegen die Philosophie und ihren Wissensstolz richtet sich dann auch die erste kritische Äußerung, die wir von Luther haben, eine Randbemerkung in seinem Exemplar von Augustins Endiiridion. Ein früher Brief aus seiner Wittenberger Zeit zeigt uns diese seine Abneigung gegen die Philosophie noch deutlicher, er betrachtet sie als ein Hindernis auf dem Wege zu einer Theologie, in der man den Kern der Nuß und das Mark des Weizens finden könne. Einen Weg zu einer unphilosophischen Theologie bot die Mystik. Zu ihr hat sich Luther gewandt, vielleicht von Staupitz dahin verwiesen, der selbst von ihr herkam, vielleicht selbständig. Bernhard von Clairvaux, der aus einem ähnlich vertieften Sündengefühl heraus, wie es Luther empfand, die Mystik der Jesusliebe entwickelt hatte, ist, soweit wir sehen, sein Führer gewesen. Staupitz hat ihn dann das Besondere gelehrt, den Weg der Buße in sein Inneres zu verlegen. Hier liegt bereits der Bruch mit dem Heiligenideal der alten Kirche, wie es das Mönchtum ausgebildet hatte: wo sidi für den von der Kirche umfangenen und geleiteten Sünder der Weg der äußerlichen Bußwerke als Mittel zur Heiligung eröffnet, da beginnen für ihn, der von der Gottesliebe ausgeht, die Büß werke als innerer Vorgang! Es braucht von hier nur nodi einen 29

Schritt, den zu der befreienden Erkenntnis, daß die Gerechtigkeit Gottes eben seine Gnade ist, die wir empfangen, wenn wir ihn glauben. Ob Luther diesen Schritt noch im Erfurter Kloster gemacht hat, ist umstritten. Für den großen geschichtlichen Zusammenhang aber ist auch dies gleichgültig. Denn das dürfen wir sagen: wäre Luther mit dieser Erkenntnis im Erfurter Kloster geblieben, ein Mönch unter Mönchen, so wäre er vielleicht, aber nicht notwendig, in einen immer größeren inneren Gegensatz zur Kirchenlehre geraten; wahrscheinlich hätte er sich selbst dabei verzehrt. Staupitz wird so etwas geahnt haben, als er ihn in das theologische Lehramt schob. Vielleicht wäre sonst Luthers Schicksal ein ganz ähnliches gewesen, wie das jenes Johannes Wessel, mit dem er sich später selbst verglichen hat. Jedenfalls war nicht notwendig, daß er damit auch in einen öffentlichen Gegensatz zur Kirche geriet und vor allem war nicht abzusehen, wie eine so besondere, unter so ganz einmaligen Bedingungen erwachsene religiöse Bewußtseinsstellung andere hätte ergreifen sollen. Dazu mußte sie zunächst gezwungen sein, sich mit der hergebrachten Lehre auseinanderzusetzen und also selbst Lehre zu werden. Das aber ist in Wittenberg geschehen. Der Weg Luthers von Erfurt nach Wittenberg ist in der Tat, wie man gesagt hat, sein Weg von Mekka nach Medina gewesen. Staupitz, der ihm 1512 sein Lehramt in der Lectura in biblia übertrug, stellte ihn damit an den Platz, von dem aus er in die Welt wirken sollte, wie noch nie ein Mensch vor ihm und keiner nach ihm. In Wittenberg ist aus dem Mönch, der um den gnädigen Gott ringt, der Begründer einer neuen Theologie geworden. Diese Wittenberger Zeit von 1512 bis 1517 liegt dank neuerer Funde in hellerem Lichte vor uns. Wir haben Luthers Randbemerkungen zu den von ihm gelesenen Büchern seit 1509, die Vorlesungen an der Universität seit 1512, seine Predigten, die er als Vertreter des erkrankten Stadtpfarrers in Wittenberg seit 1514 gehalten hat. Es ist in diesem Zusammenhang nicht möglich und nicht nötig, sie im Einzelnen zu betrachten. Nur den Weg und das Ziel müssen wir erleuchten. Wir sehen Luther von dem neu gewonnenen Begriff der Gottesliebe aus sich zunächst den Fragen der sittlichen Welt zuwenden, vor allem der Frage nach dem Eigenwert menschlicher Tugenden und der nach dem Wesen der Rechtfertigung des Menschen vor Gott, beide zusammen gehalten durch die Frage nach dem Sinn der Seligkeit als Ziel des menschlichen Lebens. Wir sehen ihn auch hier im Kampfe, aber dieser Kampf ist nach außen gerichtet, es ist eine Auseinandersetzung mit der theologischen und philosophischen Tradition. Die eine umfaßt die ganze Scholastik, die andere stellt sich ihm in einem einzigen Gegner dar, der ihm bald wie ein persönlicher Feind erscheint: Aristoteles, der 30

das Ziel des Lebens in die Glückseligkeit gesetzt und die sittlichen Begriffe der Tugend und Gerechtigkeit aus den Forderungen des Gemeinschaftslebens abgeleitet hatte. Wir sehen dann, wie Luther mit seiner Vorstellung von der absoluten Sündhaftigkeit des Menschen, die er aus der Periode seiner inneren Kämpfe mitgenommen hatte, die überkommenen theologischen und philosophischen Kompromisse, mit denen eine tausendjährige Entwicklung die Gegensätze zwischen Gott und Welt verkleidet hatte, eines nach dem andern niederwirft. Bis ihm dann Paulus die letzte Erkenntnis bringt: die Gerechtigkeit Gottes als die den Menschen gerecht machende Gnade und diese ein freies Geschenk Gottes an den Glauben. Damit ist der Ring geschlossen. Der Irrende und Ringende hat die Sicherheit des Glaubens gefunden, die ihn zu einem neuen Menschen macht. Die neue Aufgabe wird mit den Worten bezeichnet, daß der neue Mensch „Sünder und gerecht zugleich" ist. Ebenso ist aber Luther sich jetzt bewußt, eine neue Theologie errungen zu haben, die, welche er suchte, als er „das Mark der Schrift und den Kern des himmlischen Weizens" finden wollte. Das neue Verständnis der Schrift, so wie er es in dem Rückblick von 1545 geschildert hat, ist ihm aufgegangen. Er weiß jetzt, daß die Schrift die „frohe Botschaft" ist, daß sie von Paulus aus eindeutig und einheitlich verstanden werden kann, daß sie überall und immer von nichts anderem handelt als von dem Gegensatz von Sünde und Gnade und von Gesetz und Evangelium. Von hier gewinnt er ein neues Verständnis Augustins. 1517 hat er in einer Rede, wohl vor seinen Ordensbrüdern, das Leben Augustins unter dem Motto: Selig der Mann, der nicht im Rate der Unfrommen sitzt, geschildert. Auch hier, wie bei Paulus, ist er über das Buch zu dem Menschen vorgedrungen und hat sich so einen geistigen Genossen gewonnen. „Unsere Theologie und St. Augustin", sagt er 1517. Er wendet sich erneut der Mystik zu, diesmal der deutschen. Tauler und die Theologia teutsdi, ein Schriftchen aus dem Kreise der rheinischen Gottesfreunde des 14. Jahrhunderts, werden ihm die Quellen einer „deutschen Theologie", in der er die seine wiederfindet. Die Theologia teutsch ist seine erste Veröffentlichung geworden, 1516. Immer sichtbarer werden auch seine Beziehungen zu den großen geistigen Strömungen der Zeit. Das Erscheinen des griechischen Neuen Testaments ist auch für ihn ein Ereignis. In der Erasmischen Theologie findet er ihm Widerstrebendes, aber doch auch Verwandtes, vor allem einen Verbündeten im Kampfe gegen Aristoteles, der ihm immer mehr als der eigentliche Vertreter der Aftertheologie erscheint. Schon am 4. September 1517 läßt er einen Schüler über die These disputieren: „Es ist ein Irrtum, daß man ohne Aristoteles kein Theologe wird, 31

vielmehr wird nur der ein Theologe, der es ohne Aristoteles wird". Sdion hat er begonnen an der Universität Partei zu bilden. Johann Lang, sein Erfurter Klostergenosse, der ziemlich gleichzeitig mit ihm nach Wittenberg gekommen war, und der Franke Andreas Bodenstein von Karlstadt schließen sich ihm an, verfechten mit ihm die neue Theologie. Er lernt von Lang, der des Griechischen kundiger war, die wahre Bedeutung des Wortes metanoia; Karlstadt, den Thomisten, zieht er zur Augustinischen Theologie hinüber und sieht ihn bald stürmisch weiter vorbrechen. Zur Scholastik steht diese neue Richtung in einem immer klarer erkannten Widerspruch: es ist der Gegensatz der theologia crucis zur theologia gloriae. Aber mit all dem ist doch zunächst nichts weiter gewonnen als eine wissenschaftliche Kampfstellung. Es sieht so aus, als sollte diese neue Richtung ein Teil des großen Stromes werden, in den Erasmus alle neuen Kräfte der Zeit geleitet hatte. Die Aufgabe, auch in Wittenberg selbst, kann doch zunächst nur sein, die Universität in diesem neuen Geiste zu ändern. So hat es Luther noch im Mai dieses Jahres 1517 gesehen, und auch da war es fraglich, ob ihm die übrigen Geschäfte, die sich allmählich auf ihn gehäuft hatten, zu solcher Arbeit Zeit lassen würden: „Ich bin", so schrieb er am 28. Oktober 1516 an Lang, „Klosterprediger, ich bin Prediger bei Tisch, man begehrt midi täglich zu Predigten in der Pfarrkirche, ich bin Leiter des Studiums der Mönche; ich bin gesetzt über den Leitzkauer Fischteich, ich bin Sachwalter der Herzberger Mönche in Torgau; ich lese im Paulus, ich sammle für die Psalmen Vorlesung, dazu kommt das Briefschreiben, das mir den größeren Teil meiner Zeit wegnimmt; selten habe ich Zeit, meine Hören ordentlich zu beten und dazu die mir eigenen Anfechtungen von Fleisch, Welt und Teufel: siehe, das ist mein Müßiggang". Soweit war Luther, als die Frage des Ablasses an ihn herantrat. Der Jubiläumsablaß der Peterskirche wurde im ganzen Gebiet des Mainzer und Magdeburger Erzbistums durch die Dominikaner verkündet. Prediger für den Ablaß erstanden allerorts, darunter sehr geschickte, wie der Dominikanerprovinzial Hermann Rab, der es verstand, die echten Bußregungen der Menschen für den Ablaßkauf zu nützen, sehr derbe und volkstümliche, wie Tetzel, die vor allem den „Totenablaß" anpriesen, der den armen Seelen im Fegefeuer zur Abkürzung ihrer Strafen bittweise zugewendet werden konnte. Luther wußte damals nicht, daß von dem Ertrag des Ablasses, der um ihn herum verkündet wurde, die Hälfte dem Erzbischof Albrecht von Mainz zustehen sollte, der mit 23 Jahren Erzbischof von Magdeburg und Administrator von Halberstadt, ein halbes Jahr später Erzbischof von Mainz geworden war. Um die Zustimmung des Papstes zu dieser unerhörten Pfründenhäufung zu 32

erlangen, hatten seine Unterhändler, deren Berichte aus Rom wir haben, der päpstlichen Kasse außer den gesetzlichen Gebühren für die Bestätigung noch eine „Komposition" von zehntausend Dukaten zugesichert. Zur Bezahlung dieser Schulden sollte die Hälfte des Ablasses dienen. Die Einnahme der Gelder überwachten die Fugger, die dem hohenzollernschen Prinzen das Geld vorgeschossen und sich schon seit 1514 den Vertrieb der päpstlichen Ablässe in Deutschland gesichert hatten. Es war, als sollten alle Sünden des avignonesischen Systems zusammenkommen, um diesen Handel zu schaffen, der die Verweltlichung der Kirche auch dem Einfältigsten offenbar machte. Luther wußte das nicht, aber auch wenn er es gewußt hätte, er hätte seinen Widerspruch gegen die Ablaßverkündung nicht daher geleitet. "Was ihn empörte, war die falsche Sicherheit des Heils, die die Ablaßprediger den Gläubigen anpriesen. Er hörte sie: gebt! gebt! rufen, und nicht erläutern, was der Ablaß sei. Er sah, wie das Volk die Formel der Bulle: „Ablaß von Schuld und Strafe" als eine Tilgung der Sünden, als eine Erlaubnis, aufs neue zu sündigen, betrachtete, und sich so im Gewissen nur um so mehr verstrickte. Auch wenn die berüchtigten Worte Tetzeis: „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegfeuer springt", ihm nicht direkt zu Ohren gekommen wären, die „Summarische Anweisung", die vom Mainzer Hofe an die Verteiler und Verkünder des Ablasses sowie an die Beichtiger erging, sprach deutlich genug. Sie sollte wohl zunächst den geordneten Betrieb des Ablaßgeschäfts gewährleisten, Mißbräuche, wie sie sonst zu Tage getreten waren, hintanhalten. Deshalb umgab sie die Verkündigung mit feierlichen Formen, die sie dem Vorgang in Rom selbst möglichst annäherten, löste sie von den täglichen Gottesdiensten und ihren Zeremonien. Aber die Hauptsache war, daß es den Ablaßpredigern gelinge, dem Volke einzuschärfen, wie notwendig die Gnade, die der oberste Priester und Stellvertreter Gottes verleihe, für jeden Menschen sei, der das ewige Leben haben wolle; sowohl für sich selbst als für die abgeschiedenen Seelen der Gläubigen. Denn die Instruktion des Erzbischofs rechnete bereits damit, daß man der Ablässe überdrüssig sein und daß die päpstlichen Gnaden verachtet werden könnten. Deshalb sollte den Hörern eingeschärft werden, daß sie während der acht Jahre, die dieser Ablaß dauerte, einen anderen nicht zu erwarten hätten, sie sollten das hohe Werk schildern, für das der Ablaß bestimmt war, den Bau der Kirche des Apostelfürsten, die wie es sich ziemt, ihres Gleichen in der Welt nicht haben sollte. Vor allem aber sollten sie die vier Hauptgnaden hervorheben, die der Ablaß verleihe: einen vollständigen Erlaß aller Sündenstrafen, auch der im Fegfeuer zu verbüßenden, das Recht einen Beichtvater zu wählen, der den Reuigen einmal im Leben und auch auf dem Totenbett von den schwer3 Reformation

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sten Sünden absolvieren könnte, dann den Anteil an Gebeten und frommen Werken aller Art, die die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen übt und üben wird, endlich die Zuwendung der Ablässe an die armen Seelen im Fegfeuer. Für die zweite und dritte Gnade war nur der Kauf eines Beichtbriefs nötig, nicht wie bei den andern auch Beichte und Kirchenbesuch. Denn diese Gnaden stammten aus dem Gnadenschatz der Kirche, aufgehäuft durch die überschüssigen Verdienste Christi und der Heiligen, zu dem der Papst den Schlüssel habe. — Die Taxen, die für den vollständigen Ablaß erlegt werden sollten, waren nach Ständen abgestuft, von 25 rheinischen Gulden bis zu einem halben. Doch waren es Mindestsätze, die dem guten Willen nicht vorgreifen sollten. Anderseits konnten Arme ihr Scherflein auch durch Gebet und Fasten darbringen. Die in der Anweisung enthaltenen Vorsichtsmaßregeln, daß von den Ablaßgeldern nichts in den Händen der Einnehmer oder Unbefugter hängen bleibe, zeigten, daß man die schlechten Erfahrungen noch nicht vergessen hatte, die Raimund Peraudi mit der Verkündung des Jubiläumsablasses von 1502 in Deutschland gemacht hatte. Der Weg zum Heil, der den Gläubigen hier gezeigt wurde, war in nichts von dem verschieden, was die abendländische Christenheit seit Jahrhunderten zu sehen gewohnt war. Er war in allem und jedem von dem Heilsweg verschieden, den Luther sich gewonnen hatte. So kam sein Widerspruch aus einer Quelle, die viel tiefer lag als die populäre Opposition, die sich schon längst gegen die offenbaren Mißbräuche des Systems gewandt hatte. Schon in den Predigten, die er seit dem Sommer 1516 in der Stadtpfarrkirche zu Wittenberg hielt, stellte er der äußerlichen Gnade des Ablasses die innerliche der sittlichen Umwandlung gegenüber. Die Gnade suchen, heißt ihm, Christus suchen, aber nicht so, daß die Mensdien aus der Herrlichkeit Christi sich selbst einen Ruhm machen, sondern daß sie in Zerknirschung sich selbst verwerfen und nicht den Ablaß, sondern das Kreuz Christi erblicken. Aber Luther glaubte doch nodi immer und sprach es in seinen Predigten aus, daß das von den Ablaßpredigern Verkündete nicht die wahre Meinung des Papstes sein könnte. Um also „die Wahrheit über den Ablaß ans Licht zu bringen", schlug er am Vorabend des Allerheiligenfestes 1517 die 95 Thesen an die Türe der Schloßkirche zu Wittenberg an. Die erste These lautete: „Wenn unser Herr und Meister Jesus Christus sagt: tut Buße, so hat er gewollt, daß das ganze Leben der Gläubigen eine Buße sei". Die 94. und 95.: „Man soll die Christen ermahnen, daß sie ihrem Haupte Christus durch Strafen, Tod und Hölle nachzufolgen sich bestreben, und also mehr ihr Vertrauen darauf setzen, durch viel Trübsal in das Himmelreich einzugehen als durch die Vertröstung, 34

es sei ja keine Gefahr". — Die Thesen enthielten den Kern von Luthers eigenem Glauben, aber als Ganzes zeigen sie unzweifelhaft die Absicht,den Papst von seinen Organen zu trennen, die kirchlichen Institutionen, wie man richtig gesagt hat, durch Umdeutung zu retten. Nichts anderes besagt der Brief, den er gleichzeitig an den Erzbischof Albrecht von Mainz schrieb. Mit einer Demut, an der nichts Erheucheltes ist, bittet er den Erzbischof, jene unglückliche Anweisung an die Bußprediger durch eine bessere zu ersetzen. Er biete ihm an, er möge sich durch Einsicht in die Thesen Luthers davon überzeugen, wie zweifelhaft die vulgäre Meinung über den Ablaß sei. Daneben stand dann freilich schon die Warnung, daß sonst ein Mann aufstehen könnte, der mit einer anderen Unterweisung die Prediger des Ablasses und die Unterweisung des Erzbischofs niederlege. Aber Luther will dieser Mann nicht sein. Auch der Anschlag der Thesen war ja nichts als die Aufforderung zu einer Disputation, die Luther als Magister der freien Künste und der heiligen Theologie und öffentlicher Lehrer derselben „nach dem Brauch aller Universitäten und der gesamten Kirche" veranstalten wollte. Sie waren nach dem Wortlaut des Anschlages an alle gerichtet, die mündlich oder schriftlich ihre Meinung kundtun wollten, aber nach dem Brauch zunächst an die Gelehrten in und um Wittenberg, denen Luther sie auch direkt zugänglich machte. Die Thesen waren die Aufforderung zu einer Gelehrtendisputation, und sie wurden ein Weckruf an ein ganzes Volk, der Anfang des größten Streites, den die abendländische Christenheit gesehen hat.

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3. DEUTSCHLAND AN DER SCHWELLE DER REFORMATION Wie weit das Deutschland von 1517 ein Bewußtsein von sich selbst, seiner Lage, seinen Kräften, seinen Möglichkeiten, wie weit es entwickelte Tendenzen des Fortschreitens gehabt hat, dies ist heute schwierig zu erkennen. Ein solches Bewußtsein dürfen wir ja überhaupt nie bei einem ganzen Volke, sondern nur bei zwei Gruppen von Menschen erwarten, bei den Führern der Geschäfte und bei den Betrachtern des Zeitgeschehens. Die Handlungen und Pläne der einen, die Überlegungen und Wünsche der anderen befragen wir, wenn wir die geschichtliche Bewegung erkennen wollen, in der sich der Körper und die Seele des Volkes zu einem bestimmten Zeitpunkt befinden. Es müßte denn sein, daß ein Volk sich schon zu körperhafter Geschlossenheit und geistiger Bestimmtheit entwickelt hat, so, daß die Geradlinigkeit und Eindeutigkeit des Weges, den es nimmt, uns weiterer Fragen überhebt. Von solch glücklicher Bestimmtheit des Wesens war das Deutschland vor der Reformation weit entfernt, weiter als irgend ein anderes der großen Kulturvölker Europas. Aber wenigstens einen Führer schien es zu besitzen, der dem Volk bestimmte Ziele wies und ihm einen Weg in die Zukunft vorschrieb, wenigstens einen Führer, der das sein wollte. Kaiser Maximilian, der damals den größten Teil seines Lebenswerkes bereits vollbracht hatte, ist schon von den Zeitgenossen sehr verschieden beurteilt worden, und wird es noch heute. Aber eins ist sicher: er hat das Kaisertum, das unter seinem Vater, dem überbedächtigen Friedrich III., fast ein Schemen zu werden drohte, wieder mit Blut und Leben erfüllt, es in den Mittelpunkt des Lebens der Nation gestellt und damit allen Riditungen dieses Lebens neue Anstöße gegeben. Eben das Unzusammenhängende, Sprunghafte und Ruhelose seines Wesens, das ihn in der Politik zu soviel Niederlagen führte — Wolsey hat ihn einmal witzig ein Partizipium genannt, das halb Nomen und halb Verbum sei — befähigte ihn zu solchen Wirkungen. Man hat gestritten, ob seine Politik mehr habsburgisch-dynastisch oder mehr kaiserlich-imperialistisch gewesen sei. Für ihn selbst ging sicherlich beides ununterscheidbar zusammen. Mit der habsburgischen Zähigkeit seines Ahnherrn Rudolf im Ländererwerben und Anknüpfen dynastischer Verbindungen vereinigte er die hochfliegende Ritter36

lichkeit Friedrichs des Schönen. Im Grunde noch ein Kind des ritterlichen Zeitalters wie dieser, war er aufgeschlossen für alles Neue einer sich wandelnden Zeit, wenn er auch kaum etwas davon für dauernd festzuhalten vermochte. Dieser letzte Ritter ist zugleich der erste fürstliche Geschützgießer, der Vater der Landsknechte gewesen, der Mann, der in einem beständigen Turnier zu leben scheint, war zugleich ein wirtschaftlicher Spekulant im großen Stil. Derselbe Kaiser, der das Heldenbuch zusammenschreiben ließ, und seine Schlösser in Tirol mit Fresken aus Tristan und Isolde zierte, hatte als erster erkannt, welche Möglichkeiten der Beeinflussung der öffentlichen Meinung die neue Kunst des Buchdrucks bot, und wurde ein fürstlicher Agitator neuer Art. Der Herrscher, der sich bewußt war, daß in seinem Leben die "Wege der ratio immer wieder von Unfallo und Fürwittig gekreuzt worden seien, und der dafür bekannt war, daß er sich auch seinen Räten niemals vollständig enthüllte, hat in seinen Erblanden den neuen Beamtenstaat gegründet, und er, der nie seine Pläne nach finanziellen Möglichkeiten richtete, ewig in Geldnot war und für Geld sich selbst verkaufte, hat doch die Anfänge der staatlichen Etatisierung geschaffen. Für Deutsehland ist dieser Kaiser in jeder Hinsicht schicksalbestimmend geworden. Indem er den Krampf um Mailand wieder aufnahm, erneuerte er die alte Italienpolitik der Hohenstaufer. Indem er aus der burgundischen Erbschaft die Niederlande und die freie Grafschaft Burgund für sich erwarb, gab er nicht nur der rheinischen Stellung seines Hauses eine völlig veränderte Bedeutung, sondern er legte auch vor den "Westen des Reiches zwei Bollwerke, die seine Grenzen wieder bis zur Saöne, zur Maas und zur Somme hinausschoben, und begründete damit den Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich, der nun die große Frage der folgenden Jahrhunderte wurde. Indem er die Schweiz verlor und das deutsche Ordensland preisgab, verringerte er die Einflußsphäre des Reiches im Südwesten und im Nordosten, aber durch die Heiraten von 1515, mit denen er Böhmen und Ungarn an sein Haus knüpfte, erneuerte er die Politik des Luxemburgers Sigismund und wies Deutschland die Erbschaft des Vorkampfes gegen die Türken zu. Auch wenn die spanische Heirat seines Sohnes Philipp diese Kombination nicht ins Ungemessene erweitert hätte, Deutschland war durch diese Politik Maximilians in alle Welthändel verflochten und mußte es bleiben. Denn auch dies war klar, daß die Führung Deutschlands dauernd an das Haus Habsburg übergegangen und die Zeit der Wettkämpfe deutscher Fürstenhäuser um die Kaiserkrone zu Ende war. Kein deutscher Fürst wäre imstande gewesen, die Kaiserkrone aus eigener Kraft gegen das Haus Habsburg zu 37

behaupten oder auch nur Partei gegen es zu bilden. Gerade hier hat Maximilian in zäher Arbeit, zum Teil auf der stilleren seines Vaters fortbauend, Erhebliches erreicht. Die geistlichen Fürsten, die ihm ihre "Würde verdankten, die Fürstensöhne, die an seinem Hofe erzogen wurden, waren ebenso viele Stützen des habsburgisdien Einflusses im Reiche. Aber außerdem sehen wir Max immer wieder bemüht, durch die territorialen Gliederungen hindurch, in die das Reich zerfallen war, auf die alten sozialen Schichtungen zu greifen und sie mit dem Kaisertum in lebendige Verbindung zu bringen. Auch die Volkstümlichkeit, die er sich so erwarb, wurde ein politischer Faktor für die habsburgische Zukunft. Daß er Bürger von Augsburg, von Nürnberg, von Straßburg sein wollte, war mehr als eine bloße Form. Den Rittern wollte er ein Ritterrecht geben, sie in ihrem alten genossenschaftlichen Zusammenhang bestärken, der sie wieder an die Krone gebunden hätte, in den Landsknechten schuf er sich aus dem Bauerntum und fahrenden Volk jeder Art einen neuen „Orden", der, wenn überhaupt etwas, zunächst kaiserlich war. Aber in diesem Bestreben, die Kräfte des Reiches an sich heranzuziehen, hat Maximilian nun auch den alten Dualismus der deutschen Reichsverfassung erst recht herausgetrieben. Erst unter seiner Regierung kann man von Kaiser und Reich als von zwei zum Bewußtsein ihrer Gegensätzlichkeiten gelangten Mächten sprechen. Der alte Kampf zwischen Monarchie und Einung, der seit den Tagen der Salier durch die deutsche Geschichte geht, hatte durch den Kampf um die Reichsreform einen neuen Charakter bekommen. Zum ersten Male handelte es sich darum, die alte Fürstenopposition zu einer allgemein ständischen Bewegung umzugestalten, das deutsche Königtum gesetzlich, gleichsam durch eine dauernde Wahlkapitulation, zu einer Teilung seiner Gewalt mit dem ständisch repräsentierten Reich zu nötigen, auf breiterer Grundlage das zu erreichen, was die Kurfürsten als Kollegium der Königswähler im 14. und 15. Jahrhundert erstrebt hatten. Das innere Recht dieser Bewegung lag in dem Verfall der Reichswehrverfassung, dem Verfall der richterlichen Gewalt des Königs, in der überhandnehmenden öffentlichen Unsicherheit. Friede und Recht wurden die Kampfrufe der ständischen Opposition. Darüber hinaus erstrebte sie ein Reichsregiment neben dem König oder wenigstens zu seiner Stellvertretung. Es wäre, wie die Venezianer sagten, nicht viel weniger als eine Absetzung des Königs gewesen. Es ist Maximilian gelungen, sich dieses Angriffs zu erwehren. Aber es ist ihm nicht gelungen, sich das Reich für seine politischen Zwecke dienstbar zu machen. Im Gegenteil, indem er das Kammergericht genehmigte, übergab er die Wahrung von Frieden und Recht, das eigentliche Attribut des alten 38

deutschen Königtums, einer Behörde, an deren ständischem Charakter kein Zweifel war. Noch wichtiger wurde, daß nun der Reichstag eine wirkliche Repräsentation des Reiches wurde. Das lag weniger daran, daß endlich auch die Städte neben den Fürsten auf ihm ihre Vertretung erhalten hatten, als daran, daß jetzt erst die großen Gegensätze der Zeit auf diesem Schauplatz ausgetragen wurden. Ansätze dazu hatte es vorher gegeben unter Sigismund und Albrecht, als die kirchlichen Streitfragen von den Konzilien ins Reich hinüberschlugen, und aus der Kirchenreform eine Rcichsreform hervorzugehen schien. Dann aber hatte Friedrich III. in seiner mehr als fünfzigjährigen Regierung die Reichstage zu Parteiversammlungen herabgedrückt, indem er vielleicht ebenso aus Berechnung wie aus Trägheit jahrelang auf ihnen nicht erschienen war. Als er es 1471 zum erstenmal tat, da wurde der „große Christentag zu Regensburg" gleich ein Ereignis. Aber dies blieb Episode. Die neue Lebensbedeutung für das Reich haben die Reichstage durch Maximilian selbst bekommen, so sehr, daß man später glauben konnte, er habe sie geschaffen. Für Maximilian war der Reichstag die Bühne, auf der er auftrat, wo er persönlich wirken konnte, wie er es liebte. Aber die Folge war nun auch, daß ihm hier die Lebensäußerungen der Nation in ganz anderer Stärke entgegentraten, als je zuvor. Zu den „gravamina" des geistlichen "Wesens gesellten sich die Klagen des gemeinen Mannes, die Beschwerden, die aus den Umwälzungen des Wirtschaftslebens kamen. Es war schon jetzt sichtbar, daß die Entscheidung über alle Lebensfragen der deutschen Nation auch in der nächsten Zeit auf den Reichstagen fallen würde.Auch das hat Maximilian vorgebildet. Das neubelebte Kaisertum schuf den neuen Begriff und die neue Form des Reiches. Dennoch war es nur ein Teil des öffentlichen Lebens der Nation, der im Zusammenhang des Reichs repräsentiert wurde. Der andere, und zwar der wachsend größere, spielt sich in den Territorien ab. Eben damals hatten die meisten von ihnen die Periode abgeschlossen, in der sich aus Gewährung und Aneignung königlicher Rechte und aus dem Kampf mit den Landständen ein fester Bestand fürstlicher Rechte als Regierungsgewalt abgegrenzt hatte. Audi die Zeit der fürstlichen Hausstreitigkeiten ging zu Ende. Wo ein Geschlecht wie die Weifen den Weg zur Einigkeit nicht finden konnte, verspielte es seine Zukunft. Die fürstliche Gewalt war so weit, daß sie ihre Verwaltung organisieren konnte. Überall entstanden oberste Behörden als Gliederung und Zusammenfassung der Landesverwaltung, der Hofrat, das Hofgericht und die Hofkammer als die wichtigsten. Da und dort beeinflußt von fremdem, französischem oder burgundischem Vorbild, aber doch meist im Anschluß an 39

die alte Hofhaltung des Fürsten selbst. In ihnen erhob sich der neue Stand der fürstlichen Räte, in dem sich der einheimische Adel und die neuen, oft landfremden Juristen trafen. Hier zuerst, früher noch als im Fürstentum selbst, entstand aus der Vertretung der Interessen der fürstlichen Gewalt eine neue geistige Haltung, die sich bewußt von der alten ritterlichen und geistlichen Sphäre abhob. Auch dieser fürstliche Staat war dualistisch. Wie im Reich die Stände gegen den Kaiser, so schlössen sich in den Territorien gegen den Landesherrn die Landschaften zusammen. Sie fühlten sich wohl auch gegen den Fürsten als die eigentlichen Vertreter des Landes und suchten sich vor allem die Zustimmung zu allen finanziellen Forderungen zu wahren. Die Kämpfe, die sich darüber zwischen Landständen und Fürsten entsponnen haben, haben die Kraftentfaltung des werdenden Territorialstaates nach außen lange gehemmt. Die politische Bedächtigkeit des deutschen Fürstentums der Reformationszeit erklärt sich zum Teil auf diese Weise. Aber die Stände in den Territorien haben diesen einen Dienst geleistet, den die Reichsstände dem Reiche nicht mehr leisten konnten. Sie haben das Fürstentum gezwungen, mit Hilfe der Juristen seine Stellung als Obrigkeit immer schärfer zu erfassen, seine Verwaltung, zum Teil im direkten Wettbewerb mit den Ständen, immer straffer zu organisieren, das, was die Zeit Polizei nannte, der Inbegriff der Fürsorge für Sicherheit, Recht und Ordnung, in den Mittelpunkt seiner Tätigkeit zu stellen. Von hier aus gesehen gewinnt es einen besonderen Sinn, daß in Deutschland das territoriale Fürstentum, nicht das Reich als Ganzes, die Einräumungen erhielt, welche die päpstliche Kurie im Kampf mit der konziliaren Idee hat machen müssen. Es gibt bald überall, in Sachsen und Brandenburg, in Kleve und Pfalz, in Württemberg, Baiern und Österreich, eine Landeshoheit in Kirchensachen, gleichsam ein erweitertes Kirchenpatronat, und dies bedeutet nicht nur eine faktische und juristische, sondern fast noch mehr eine moralische Verstärkung und Steigerung der landesfürstlichen Gewalt. Es wurde besonders bedeutsam, daß diese Entwicklung zum territorialen Staat auch das geistliche Fürstentum ergriff und dessen ursprünglichen geistlichen Charakter veränderte. In Mainz, Köln, Trier und Salzburg, aber auch in den westfälischen, baierischen und österreichischen Bistümern sehen wir um diese Zeit die verschiedenen Formen des Landesfürstentums sich erheben. Das bischöfliche Amt tritt zurück oder wandelt sich in eine Art landesväterlicher Fürsorge für staatliche Ordnung, Wohlstand und Bildung, auch hier im Wetteifer mit den weltlichen Fürsten. Das alles waren nur letzte Formen der Territorialisierung 40

Deutschlands,

die mit dem Niederbrudi des staufischen Kaisertums begonnen hatte. Sie hätte sich nur mit dem Reichszusammenhang auszugleichen brauchen, um auch so noch ein ständisches Zusammenleben im Reiche zu ermöglichen. Vielleicht wäre das erfolgt, wenn eine große Gefahr von außen die ohnmächtigen Einzelnen zusammengeschlossen hätte, oder wenn im Reiche selbst eine hegemonische Gewalt sich gegen die Freiheiten erhoben hätte, die sie beanspruchten, wie es dann 1547 Karl V. tat. Aber dann hätte sich auch sogleich gezeigt, was es ausmachte, daß die Territorialisierung nicht den ganzen Boden des Reichs ergriffen hatte. Neben dem neuen Fürstentum standen als selbständige Mächte die Reichsritterschaft und die Städte. Der ritterliche Adel Deutschlands hatte seine große Zeit unter den Hohenstaufen gehabt. Damals war er die eigentliche Stütze der Reidisgewalt und zugleich der Träger einer eigenen, nach nationalem Abschluß strebenden Kultur gewesen. Er hatte in dem Begriff des Dienstes ein einigendes Moment, das Freie und Unfreie, Geschlechtsadel und Dienstmannen zusammenband. Dann waren seine Glieder verschiedene "Wege gegangen. Einige, die Grafen und Herren, stiegen zur Landeshoheit und Reichsstandschaft auf, der bei weitem größte Teil aber war landsässig geworden und suchte in den neuen Territorien mit mehr oder weniger Glück seine Sonderstellung zu behaupten. Aber in den Gebieten des alten staufischen Machtbesitzes, die zugleich die Gebiete der größten staatlichen Zersplitterung waren, am Oberrhein, in Sdiwaben und Franken, hielt sich auch jetzt noch eine unabhängige Ritterschaft, die nur dem Reich verpflichtet sein wollte. Ihr materielles Dasein beruhte auf dem meist kümmerlichen Ertrag ihres Erbguts, daneben auf dem Hofdienst bei benachbarten Fürsten, den sie aber stets widerwillig leisteten, endlich auf Fehden, die Raubfahrten wurden. Ihre Gedanken blieben in der alten ritterlichen Übung stecken, der jetzt nur das Ziel fehlte. Sie entbehrten des Segens, der dem französischen und spanischen Rittertum durch die Zusammenfassung unter einer energischen Monarchie und durch das Aufrücken zu nationalen Zielen zuteil wurde. So mußte ihr Ideal in der Vergangenheit liegen, die ja schon deshalb nicht so unwiederbringlich schien, weil das Kaisertum, wie es bestand und wie es vor allem Maximilian auffaßte, auf derselben Idee beruhte wie sie selbst. Es ist kein Zufall, daß der stärkste Anstoß zur Neubelebung des ritterlichen Geistes und zur Organisation der Reichsritterschaft von den beiden Herrschern ausgegangen ist, die am meisten in ritterlichem Geiste lebten, von Sigismund und Maximilian. Seit dem großen Privileg Sigismunds von 1422 war die Reichsritterschaft als solche legitimiert, ihr Recht, sich überall in Deutschland miteinander zu vereinigen und zu verbinden, aus41

drücklich anerkannt. Denn dieses Recht sollte ein Ersatz sein für den kaiserlichen Schutz, den sie oft nicht erreichen können. Der Zweck ist, daß sie „von ihren Rechten nicht gedrängt werden". So tritt nun mit dem Verfall des Kaisertums und mit dessen Zustimmung bei dieser Ritterschaft das korporative Standesinteresse an Stelle des alten Reichsgefühls. Die Einung, mit der sich die Ritterschaft schon längst gegen den fortschreitenden Territorialstaat zu schützen sucht, wird ihre eigentliche Lebensform. Das Ziel ihres Strebens wird die Erhaltung des alten Rechts, sie suchen darin für ihre wirtschaftliche und moralische Sonderstellung eine rechtlidie Bekräftigung zu finden. Gerade damit aber treten sie in einen immer stärkeren Gegensatz zu dem neuen Fürstentum, das doch aus ihnen herausgewachsen war und auf lange noch die Dienste seines ritterschaftlichen Adels nicht entbehren konnte. So entsteht ein aus Abneigung und Anziehung gemischtes Verhältnis zwischen Ritterschaft und Fürstentum. Der ritterliche Adel, auch der reichsunmittelbare, drängt schon um seiner Versorgung willen seit langem in die Domherrnstellen des geistlichen Fürstentums, er sieht auch in dem neuen Verwaltungsapparat des weltlichen Fürstentums eine willkommene Laufbahn; aber je seltener die Fürsten werden, die, wie noch Albrecht Achilles, sich eigentlich als Führer des Adels fühlen, und je stärker juristisch die Landesverwaltung wird, desto mehr betont die Ritterschaft auch in den Territorien ihr Standesinteresse und gibt damit der Reichsritterschaft einen willkommenen Rückhalt. Die Turniergesellschaften, die in den Jahren 1479—1487 ihre Glanzzeit erleben, umfassen das ganze südliche Deutschland, das obere Rheingebiet, Franken, Schwaben und Baiern. Sie erneuern die alten Bräuche, ziehen Fürsten, Grafen und Herren in ihre Sitte, die Turnierordnungen suchen aus den alten ritterlichen Pflichten einen neuen Codex der ritterlichen Moral zu entwickeln. Ersichtlich hängt auch eine Wiederbelebung der alten Ritterdichtung mit diesen Bestrebungen zusammen. Vor allem aber wird der Gegensatz dieses erneuten ritterlichen Wesens gegen die Städte betont. Wer in einer Stadt sitzt, kann nicht Mitglied der Turniergesellschaften werden. In einen anderen Gegensatz trat die Reichsritterschaft durch die Reichsreformbestrebungen unter Maximilian. Weder den gemeinen Pfennig, den der Reichstag von 1495 beschlossen hatte, noch den Landfrieden wollten sie annehmen. Gegen den ersten wendeten sie ein, daß sie dem Reich nur mit ihrem Leibe verpflichtet seien, würden sie die Steuer zahlen, so würden sie knechtisch und „veracht" werden wie die Bauern oder die Franzosen. Gegen den ewigen Landfrieden, daß er ihnen das alte Recht der Selbsthilfe gegen Schädigung nehme, vor allem aber, daß seine Durchführung dem Kammergericht aufge42

tragen sei, bei dem sie nidit vertreten waren. Denn das war Anfang und Ende ihrer Bestrebungen, daß „die gemein Ritterschaft bei gleichem Recht und Billigkeit bleibe", daß sie also audi mit den Fürsten nur auf der Grundlage der alten Austragsgerichtsbarkeit zu rechten verpfliditet seien. In all diesen Dingen ging der Adel in Franken voran. Er rühmte sich, daß sich die Reichsreform „an ihm gestoßen habe". Auch das Ritterrecht, das Maximilian den Reichsritterschaften bot, lehnten sie ab. Denn sie hätten königliche Hauptleute als Richter über sich ertragen müssen. So war hier ein Stand im Reiche, der sich im Gegensatz zu der gesamten Entwicklung der Zeit fühlte, ein wahrhaft anardiisches Element, dem nur zwei Dinge fehlten, um von der grollenden Opposition zur Tat zu schreiten, ein Führer und ein Losungswort. Den Führer schien er gerade damals in Franz von Sickingen zu erhalten, dem ersten Condottiere großen Stils auf deutschem Boden. Das Losungswort sollte ihm die Reformation geben. Ganz anders und doch in einem Punkte verwandt war die Stellung der Städte im Reiche. Im ganzen Abendland waren die Städte als Sonderbildungen emporgekommen, die innerhalb einer feudal-agrarischen Gesellschaft und Staatsordnung einen anderen Geist verkörperten. In ihnen wird sowohl der germanische Begriff des Amts wie der der Genossenschaft charakteristisch umgebildet. Die Stadtgemeinde ist ihrem Wesen nach ein wirtschaftlicher Verband, der sich allmählich die rechtlichen Formen für diese wirtschaftlichen Interessen erkämpft. Aber es ist keine Usurpation, wie zumeist bei der Schaffung der fürstlichen Gewalt, kein Versuch alte Gewohnheit zu Recht werden zu lassen wie bei den Rittern, es ist der neue kaufmännische Geist, der sich hier sein Feld absteckt und eine staatliche Form gibt. Die deutschen Städte waren meist jünger als die italienischen und französischen, sie entwickelten sich zunächst auch langsamer. Aber mit der Mitte des 14. Jahrhunderts wird das anders. Die Städte treten in mehr oder weniger ausgedehnten Bünden in den Kampf mit dem ritterlichen Adel, dann mit dem Landesfürstentum ein. Sie haben in diesem Kampf nicht gesiegt, aber sie haben ihre politische Selbständigkeit behauptet. Allerdings eine Selbständigkeit sehr prekärer Art. Die meisten von ihnen lebten von einer beständigen Anspannung ihrer Kräfte, die für die kleineren bereits Überspannung war. Denn die Zeit, wo sie als Ganzes eine große politische Macht waren, ging bereits mit dem 15. Jahrhundert zu Ende. Auch die größten, wie Nürnberg, Augsburg, Ulm, Straßburg, die damals erst in die Hochzeit ihrer kulturellen und wirtschaftlichen Bedeutung eintraten, sahen sich doch in einer solchen Vereinzelung, daß sie jeden 43

politischen Schritt aufs sorgfältigste und ängstlichste überlegen mußten. Zu einer Vereinigung unter sich brachten es die Städte nicht mehr, das Gefühl der Interessengemeinschaft, das dem so viel 'weniger mächtigen Adel immer noch seine Bedeutung gab, war bei ihnen viel schwächer entwickelt. Weder bei dem Angriff Adolfs von Nassau auf Mainz noch bei dem des baierischen Herzogs Albrecht IV. auf Regensburg haben sie es zu einer gemeinsamen Aktion gebracht. Auch die Hanse, bei der das Gemeinschaftsgefühl noch am mächtigsten war, mußte mit ansehen, wie ihre brandenburgischen und preußischen Städte den Landesinteressen unterworfen wurden. Aber auch als Glieder des Reichskörpers verschlechterte sich die Stellung der Städte, und das trotzdem oder gerade deshalb, weil die Reichsstädte 1489 die Reichsstandschaft erlangt hatten. Denn nun zeigte sich, wie wenig sie doch eigentlich an dem politischen Fortschritt eines Gemeinwesens interessiert waren, das für sie nichts leistete. Die Kriege des Reiches, ob gegen Italien oder gegen die Franzosen, berührten ihre Interessen nicht, ihr Handel war im Gegenteil eher an ein friedliches Verhältnis zu den Feinden des Reichs gebunden. Hätten die deutschen Städte eigene Politik treiben können, wie Venedig und Florenz, sie hätten sicher wie diese einfach nach ihren natürlichen Interessen gehandelt. Und wenn sie seinerzeit Sitz und Stimme auf den Reichstagen vor allem deshalb verlangt hatten, weil sonst „Aufruhr und "Widerwillen zwischen Obrigkeit und gemeinem Mann in den Städten erwachse", so war dieser Zustand nun um nichts gebessert. Gerade zu Beginn des 16. Jahrhunderts zeigte sich, daß die Gegensätze innerhalb der städtischen Gemeinwesen gefährlich gesteigert waren. W i r finden in den Jahren 1509—1514 eine ganze Reihe von städtischen Revolutionen. Sie sind zum Teil wohl noch Fortsetzungen der alten Zunftkämpfe, also politische Bewegungen der handwerklichen Bevölkerung gegen das Patriziat, aber der Haupangriffspunkt der Unzufriedenen ist wirtschaftlicher Natur. Es ist die Finanzwirtschaft des Rates und die Steigerung der Lasten, die sich aus den vermehrten Aufgaben des Gemeinwesens, sowohl für seinen Schutz nach außen wie für die Polizei im Innern, nicht zum wenigsten auch aus den Auflagen des Reichs ergaben. Sie erschienen dem gemeinen Mann unverständlich. Der Rat soll Rechenschaft ablegen. Die Gemeinde will in finanziellen Dingen die Aufsicht führen und ihren Einspruch einlegen können. Zu einem wirklichen Umsturz ist es nirgendwo gekommen, aber die Angst vor dem „gemeinen Mann", die wir bald als ein Zeichen der allgemeinen Stimmung in Deutschland kennenlernen werden, mußte diese städtischen Obrigkeiten besonders bedenklich machen, die wußten, daß sie weder beim Reiche noch bei ihren Mitständen auf Hilfe zu rechnen hätten, und es war natürlich, daß sie sich in diesem in seinem Aufbau 44

und seiner Tendenz noch durchaus agrarisch-feudalen Gemeinwesen als Fremdkörper fühlten. So wachsen die großen ständischen Gruppen des deutschen Volkes neben und gegeneinander empor. Nur an einer Stelle des Reiches war es gelungen, sie zu einem verfassungsmäßig geordneten Ganzen zu vereinigen, im Schwäbischen Bund. Hier entstand aus dem Zusammenwirken von Adel, Städten und Fürsten ein bündisches Gemeinwesen, das die wesentlichsten Anforderungen einer geordneten Staatlichkeit, ständige und wirksame Rechtspflege, Sicherung des Landfriedens und Ausgleich der Interessen der Glieder, wenn auch immer noch unvollkommen, so doch viel besser erfüllte als das Reich, das sich daran vergeblich abmühte. Und in diesem so mangelhaft organisierten Staatswesen hatte sich eine wirtschaftliche und soziale Umwälzung von einem Umfang und einer Stärke vollzogen, wie sie in Deutschland bis ins 19. Jahrhundert nicht wieder eingetreten ist. Deutschland war nicht nur aus einem Agrarland ein Land des Handels und der Gewerbetätigkeit geworden, das seine Nachbarn hinter sich zurückließ, es entwickelte auch in erstaunlich kurzer Zeit neue, kapitalistische Organisationsformen und ein Unternehmertum im großen Stil. Die Weberei, der erste und größte Zweig des deutschen Gewerbes, zeigte zuerst die neue Zerlegung des Arbeitsprozesses in selbständige und doch von einander abhängige Betriebe. Die Spinner, Weber, Bleicher, Walker und Gewandschneider fanden auch in ihrer alten zünftlerischen Organisation keine Sicherung ihrer Existenz mehr, sie sahen sich in einen Produktionsprozeß hineingezogen, den sie nicht mehr bestimmen konnten, sie wurden das eigentlich unruhige Element der städtischen Bevölkerung. Der Bergbau in Sachsen und am Harz, in Tirol, Salzburg, Steiermark und Kärnten, der damals seine größten Erträge lieferte, und den Karl V. dann die größte Gabe und Nützlichkeit nennen konnte, so der Allmächtige Deutschland mitgeteilt habe, entwuchs schnell der genossenschaftlichen Form der „Gewerke" und wurde ein fiskalischer und immer stärker kapitalistisch organisierter Betrieb. Der Fernhandel, in den Deutschland völlig verflochten war, eröffnete sich zu den alten Verkehrswegen aus dem Orient, die über Venedig und Genua führten, die neuen über Antwerpen und bald über Lissabon zu den Spezerei- und Gewürzländern. Und gerade der Umstand, daß Deutschland von den großen Mittelpunkten des Welthandels verhältnismäßig entlegen war, zwang die Kaufmannschaft, die sich am Uberseehandel beteiligen wollte, mit großen, womöglich vereinigten Kapitalien zu arbeiten. Deutschland wurde das Land der Handelsgesellschaften, aber auch das Land der „Monopolien" und des „Fürkaufs". In Jakob Fugger erstand ein königlicher 45

Kaufmann, wie ihn das Abendland noch nicht gesehen hatte. In seiner Hand war das Kupfer aus den ungarischen und den tiroler Bergwerken, er bedrohte mit seinem Handel die Hanse in Antwerpen und Nowgorod, er wurde der Hauptbankier des päpstlichen Stuhls und hat seit 1490 die habsburgische Politik im großen und kleinen finanziert, ein Verhältnis, das sich in seinem Hause bis zum Schmalkaldischen Kriege fortsetzte. Alle seine Unternehmungen zeigen den neuen kaufmännischen Geist, nodi deutlicher zeigen ihn die Worte, die er an einen Freund richtete, der ihm geraten hatte, sich zur Ruhe zu setzen: „er habe viel einen anderen Sinn, er wolle gewinnen, so lange er könne". Dies alles in einem Gemeinwesen, das als Ganzes noch durchaus in den alten agrarisch-feudalen oder bürgerlich-zünftlerischen Wirtschaftsformen und Wirtschaftsgesinnungen weiterlebte. "War es erstaunlich, daß die Mensdien die „geschwinden Läufe", die sie um sich sahen, nicht begriffen, daß sie diese Äußerungen einer sich gewaltig entwickelnden und in aller Welt sich betätigenden Volkskraft meist nur als Zeichen einer nahen Katastrophe betrachteten? Zumal, da auch der Bauernstand sich ähnlich wie die Ritter in seinen Erwerbsund Rechtsverhältnissen bedroht sah und schwierig wurde. Bald da, bald dort, vor allem im Südwesten des Reiches und in den Alpenländern flammten Aufstände auf. Sie waren immer ohne rechtes Ziel und brachen bald zusammen, aber aus den triebhaften Bewegungen der Massen hoben sich schon da und dort Führer heraus, etwa ein Landsknecht, der fremde Länder gesehen hatte und vom Krieg etwas verstand, oder ein religiöser Schwärmer, wie der Pauker von Nikiashausen. Der „Bundschuh", unter dessen Zeichen sich die Bauern zuerst im südlichen Elsaß zusammengetan hatten, wurde ein Symbol des aufrührerischen neuen Bauerngeistes überhaupt, ein Schreckwort für Städte, Adel und Fürsten. So war der Boden bereitet für die Prophezeiungen, die die Zeit erfüllten und ihre charakteristische Erscheinung bildeten. Seit das Franziskanertum die Ideen einer Erneuerung der Kirche mit den alten apokalyptischen Prophezeiungen des Methodius und des Joachim von Fiore verbunden hatte, waren diese eine Macht auch im Volksbewußtsein geworden. Jede Erschütterung der Kirche und der christlichen Welt hatte sie neu belebt und gesteigert; zuerst das babylonische Exil und das Schisma, wo die Predigten der heiligen Katharina von Siena und die Visionen der heiligen Brigitta von Schweden entstanden waren, dann die Prophetien des sogenannten Telesphorus, wo sich die Vorstellungen von der bevorstehenden Ankunft des Antichrist mit den Prophezeiungen der Kaisersage in ihrer französischen Form mischten; aus den Wirren des Baseler Konzils war die so merkwürdige Reformation des Kaisers Sigis46

mund hervorgegangen, die ihre sehr realen und praktischen Reformvorschläge doch schließlich nicht besser zu beglaubigen wußte, als daß sie ihre Ausführung einem „kleinen Geweihten" übertrug, der als der neue Friedridi der deutschen Kaisersage erscheint. Gegen Ende des Jahrhunderts mehren sich auch unter den Druckschriften die Kommentare zur Apokalypse und die Prophezeiungs literatur überhaupt. Am verbreitetsten sind die des „Lichtenbergers", in denen sich die neue gelehrte Astrologie und alter volkstümlicher Aberglaube mischten. Aber es gab auch besondere Töne darin: „Die Schrift wird der Brunnen des lebendigen Wassers werden, nicht kaiserliches und päpstliches Recht. Es wird eine große Zwietracht entstehen zwischen Kaiser und Papst. Es wird ein heiliger Mann kommen, durch den wird Gott Wunder tun und befehlen, daß man das Evangelium predige". Diese ganze Literatur hat ihren Boden in dem verbreitetsten Gefühl der Zeit, der Sündenangst. Aus diesem Gefühl heraus hat Albrecht Dürer, als er 1495 aus Italien zurückkehrte, sein erstes großes Bekenntniswerk, die Holzschnittfolge zur Apokalypse, geschaffen. Merkwürdig aber ist, daß gerade Geistliche solche Stimmungen immer wieder genährt und verstärkt haben. Sie haben damit selbst dazu beigetragen, daß sich diese ganze Wolke von Unbehagen, Ingrimm und Angst, die wir durch die verschiedenen Stände gehen sahen, vor allem um den geistlichen Stand zusammenzog. Daß dies geschah, hatte freilich nun auch noch Gründe, die in der Sache selbst lagen. Denn dieser Stand nahm eine besondere Stellung im Leben der Nation ein. Lebte er auch selbst, wie die andern, unter den geschlossenen Bedingungen, die aus Beruf und Berufsübung flössen, so war er zugleich mit den besonderen Lebensbedingungen aller anderen Stände verbunden, und je kräftiger und sinnfälliger sich das weltliche Wesen entwickelte, desto enger wurde auch diese Verflechtung des geistlichen mit ihm. Ob man von einer besonderen Verderbtheit des deutschen Klerus vor der Reformation reden kann, ist sehr fraglich. Das Material, soweit es aus geistlichen und weltlichen Klagen besteht, ist an sich verdächtig und kann aus jedem andern Land Europas wohl in gleicher Fülle ergänzt werden. Versuche, aus den Akten eine besondere Kriminalität des Kierus vor anderen Ständen zu beweisen, haben sich als ebenso unbrauchbar erwiesen. Auch ob eine Verschlechterung gegen frühere Zeiten stattgefunden hat, ist schwer zu sagen. Es ist auch völlig irrig, aus den gesteigerten Klagen über die Geistlichkeit auf einen Rückgang der Frömmigkeit oder auch nur der Kirchlichkeit zu schließen. Im Gegenteil, es ist längst bemerkt worden, wie das 15. Jahrhundert überall, aber ganz besonders in Deutschland, einen neuen Aufschwung der kirchlichen 47

Frömmigkeit sieht. Davon zeugen ebenso die großen Kirchenbauten dieser Zeit wie die immer steigende Sucht Reliquien zu sammeln," die wir selbst bei ganz kleinen Rittern oder auch bei wohlhabenden Bürgern finden, und die massenhaften Wallfahrten ins heilige Land, nach San Jago de Compostella, aber auch zu neuen "Wallfahrtsstätten in der Heimat, wie zum heiligen Blut nach Wilsnack oder zum heiligen Rock nach Trier. Vor allem, die ganze so reiche Kunsttätigkeit dieser Zeit, die eine erste große Blüte auch des deutschen Kunstgewerbes und schließlich die letzte große Blüte der hohen deutschen Kunst heraufgeführt hat, ist nur auf der Grundlage einer ganz ungebrochenen Kirchlichkeit möglich. Aber innerhalb des kirchlichen Wesens und zwischen ihm und dem weltlichen steigern sich die Spannungen. Zunächst durch das Eindringen der sozialen Gegensätze, dann aber durch den Eintritt des nationalen Elements. Der verweltlichte höhere Klerus ist eine ganz Europa gemeinsame Erscheinung. Aber der reisige und ritterlich lebende ist Deutschland eigentümlich. Dies ist aber wieder die Folge davon, daß die ständische Sonderung des Lebens, die sich durch die ganze Nation hindurchzieht, sich im geistlichen Stande wiederholte. Gerade in dieser Zeit vollendet sich die Zusammenschließung des Adels mit der hohen Geistlichkeit. Die Domkapitel führen einen erbitterten Kampf um die Ausschließung der Bürgerlichen aus ihren Reihen. Daß ein Mann, wie der Augsburger Matthäus Lang, der dem Bürgertum entstammte, Bischof von Gurk, Erzbischof von Salzburg, Kardinal und die rechte Hand Maximilians wird, gilt als ganz ungehörig. Noch Luther weiß es nicht anders, als daß die Domkapitel die Versorgungsstellen des deutschen Adels sind. Allgemein heißen die Klöster des Adels Spitäler. Das war eine Folge der Feudalisierung des deutschen Episkopats, die bis auf die Karolingerzeit zurückgeht. Der deutsche hohe Klerus war in Abkunft und Lebensführung hocharistokratisch. Es ist doch sehr charakteristisch, daß wir in ihm damals wohl eine Reihe trefflicher Verwaltungsbeamter, auch gute Seelsorger finden, so etwa Gabriel von Eyb in Eichstätt oder Friedrich von Zollern in Augsburg, aber keinen, der, wie es auch in dem Italien der Renaissance nicht selten war, etwas Heiligenmäßiges an sich gehabt hätte, das heißt keinen, der im sozialen Wirken aufgegangen wäre, aber auch keinen, der im geistigen Leben der Kirche irgendwie führend gewesen wäre. Eine Gestalt wie Ximenes ist aus diesem doppelten Grunde in Deutschland unmöglich, und die doppelten Mißerfolge, die Nikolaus von Cues als Reformator und als Bischof von Brixen erlitt, zeigten, daß in der Struktur des deutschen sozialen und politischen Körpers Kräfte lebten, die weder eine Reform aus dem Geiste des reformierten Mönch48

tums noch eine neue cluniazensische Hierarchie zuließen. Wenn die beiden Länder, die man wohl als die am meisten römischen der damaligen Zeit zu bezeichnen hat, Deutschland und Spanien, eben damals so ganz verschiedene Wege gingen, so lag der Grund eben in diesem Umstände. Dieser hohen Geistlichkeit gegenüber steht nun die Masse des niederen Klerus, bäuerlich, oft dürftig besoldet, meist ungebildet, der Pfarrklerus besonders, dem auch die sittlichen Reformbestrebungen viel weniger zugute kamen als den Orden. Diese aber, und zumal die Bettelorden, leben in einem fast ständigen Kampf mit der Pfarrgeistlichkeit um Einkünfte, um Rechte, um Einfluß. Und es ist natürlich, daß damit die Kritik der Laien an dem geistlichen Stand überhaupt eine neue Handhabe bekommt. Sie ist, wenn nicht schärfcr, so doch verbreiteter als in anderen Ländern. Für all dies gibt es in Italien, Spanien, Frankreich, England Entsprechungen. Wiederum Deutschland eigentümlich ist aber das Eindringen des nationalen Elements in diese Spannungen. Es war Deutschland nicht gelungen, eine nationale Abschließung seines Kirchenwesens in bezug auf Stellenbesetzung und Abgaben zu erreichen, wie es Frankreich 1438 durch die pragmatische Sanktion von Bourges erlangte und auch in dem Konkordat von 1516 im wesentlichen beibehielt, England schon seit dem 14. Jahrhundert faktisch geschaffen hatte und Spanien gerade im Gefolge der katholischen Reform des Ximenes erhielt. Noch 1517 hat Karl V., als er die Huldigung der Cortes von Kastilien erreichen wollte, ihnen zusagen müssen, daß er keine Pfründe an Ausländer vergeben, das Abfließen von Geldern in Form kirchlicher Abgaben aus Spanien verhindern werde. Die deutsche Kirche blieb in beiden Punkten stärker an Rom gebunden als irgend eine andere mit Ausnahme der italienischen. Hier in Italien aber war das Papsttum eine nationale Einrichtung geworden, schon auf dem Konstanzer Konzil erscheinen die Italiener als eine Art natürlicher Leibgarde der Papstkirche. Dagegen bildet sich in Deutschland mit der Erstarkung des nationalen Bewußtseins immer mehr das Bewußtsein des Gegensatzes gegen das römische Wesen heraus, und wie der deutsche Kurtisan und Pfründenfresser in Rom eine ständige Erscheinung wird, so werden die Klagen über die finanzielle Aussaugung durch Rom, die Eingriffe in die Stellenbesetzung und die Rechtsprechung eine nationale Angelegenheit, die erste auswärtige, in der der Begriff der „deutschen Nation" überhaupt erscheint. Die „Gravamina der deutschen Nationwie sie zuerst 1452 begegnen, waren in ihren positiven Forderungen, Einschränkung der päpstlichen Annaten, Exspektanzen und Provisionen zugunsten der Bischöfe, Ausschluß der kaiserlichen und der Laiengewalt überhaupt aus der geistlichen Sphäre,- zunächst 4 Reformation

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nidits als ein Produkt der egoistischen Standesbestrebungen des hohen Klerus. Sie hatten in dieser Hinsicht ihr Gegenstück an den Beschwerden der weltlichen Stände gegen die Geistlichen, vor allem der Städte, die sich längst über das Eindringen der Geistlichen in die bürgerliche Erwerbstätigkeit und ihre Versuche, sich der weltlichen Gerichtsbarkeit zu entziehen, beschwerten. Wichtiger aber war, daß sie sich auf dem Grund der mißglückten Versuche erhoben, aus der Reformgesetzgebung des Basler Konzils eine deutsche Pragmatik nach dem Muster der französischen zu machen. So konnten sie als ein Teil der großen laiischen Reformbewegung erscheinen, wie sie etwa in den radikalen Forderungen des sächsischen Minoritenprovinzials Matthias Döring und seiner Confutatio primatus papae zum Ausdruck gekommen waren. Aber schon 1457, als der Mainzer Kanzler Martin Mair die Gravamina dem Kardinal Enea Silvio de' Piccolomini vortrug, der seine (deutsche) Laufbahn in der Kanzlei Friedrichs III. begonnen hatte, mischte sich in diese Beschwerden ein neuer Ton. „Tausend Schliche werden ersonnen, wie der römische Stuhl uns wie Barbaren das Geld auf eine feine Art aus dem Beutel ziehen kann. Unsere ehemals so berühmte Nation, die mit ihrer Tapferkeit, ihrem Blute das römische Reich zusammengekauft hat und die Herrscherin der Könige der Welt geworden war, ist jetzt in Armut gestürzt, Sklavin und zinsbar geworden. Sie liegt nun im Staube und betrauert schon viele Jahre ihr unglückliches Schicksal, ihre Armut." Das war ein Zeichen dafür, daß sich nun der Geist der Nation in ähnlicher Weise verselbständigt hatte wie die Wirtschaft, daß er sich der großen Probleme der Zeit bemächtigen wollte. In den großen geistigen Bewegungen des Mittelalters war der deutsche Geist, wenigstens soweit es sich um die systematische Bewältigung weltanschaulicher Probleme handelte, nirgendwo führend gewesen. Die großen scholastischen Systeme sind in Frankreich oder England entstanden. Von den Gegenkräften, der averroistischen Aufklärung und der Mystik, hatte nur die zweite Deutschland erreicht. Aus der deutschen Mystik war im Zeitalter Ludwigs des Baiern und Karls IV. eine erste Verselbständigung des deutschen Geistes entstanden, die dauernd bedeutungsvoll werden sollte. Hier traten Regungen, die schon in der Dichtung Walthers von der Vogel weide und Wolframs von Eschenbach sichtbar geworden waren, in ein erstes Stadium der Reflexion auf Naturerkenntnis und Dogma. Die naturphilosophisch unterbaute Vergottungslehre Meister Eckharts, Seuses sublimierte Seelenminne, Taulers Lehre vom inneren Wort zeigen ebenso viele nicht wieder verschwundene Züge deutschen Geistes. Aber diese deutsche Mystik greift nicht in die Kämpfe der Zeit ein, 50

weder in die weltlichen noch in die geistigen. Sie hat als Besonderheit die Neigung zur Konventikelbildung. Die seelische Gemeinschaft Gleidigesinnter ist Ziel und erste Frucht ihrer Bestrebungen. Fast scheint es f ü r die geistige Entwicklung Deutschlands wichtiger werden zu wollen, daß in dem Böhmen Karls IV. die ersten Wirkungen des von Petrarca geschaffenen Humanismus sichtbar werden, noch wichtiger, daß Karl das Zeitalter der deutschen Universitätsgründungen eröffnet. Aber der böhmische Humanismus bringt es — das muß doch gesagt werden — zu keiner Verbindung mit der nationalen Kultur, weder mit der tschechischen noch mit der deutschen; das größte geistige Erzeugnis dieser Zeit, der tiefe und großartige Dialog des „Ackermanns aus Böhmen" ist ohne ihn erklärbar, und die deutschen Universitäten bleiben lange auf der Stufe der Aneignung der von außen kommenden scholastischen Denkprobleme und Lernformen. Noch auf dem Konstanzer Konzil ist Deutschland gegenüber der alten Kultur des französischen und der neuen des italienischen Geistes geistig passiv. Aber unmittelbar danach erscheint in Nikolaus von Cues der erste originelle und universale deutsche Denker. Unzweifelhaft kommt er von den Problemen der Mystik her. Die visio Dei, das Schauen Gottes, ist auch für ihn das letzte Ziel seiner grübelnden Spekulation. Aber er verbindet damit die stärkste kritische Reflexion auf die Formen und Mittel der Erkenntnis und ein wahrhaft universalhistorisches Forschungsinteresse. Nirgendwo wird man damals das Gefühl, an einer Wende der Zeiten zu stehen, großartiger ausgesprochen finden als in den Einleitungssätzen, mit denen er 1433 sein erstes großes Werk De concordantia catholica eröffnete. Das verbindet den Cusaner mit dem humanistischen Forschungstrieb, wie ihn die Italiener ausgebildet hatten. Aber es ist ihm weder darum zu tun, die Antike als ein Ganzes zu sehen, noch aus ihr die Normen f ü r eine Gestaltung der Persönlichkeit und ihres gesellschaftlichen oder staatlichen Daseins zu entnehmen, ihm geht es von vornherein um das Verhältnis von Individuum und Kosmos. Auch wo er praktisch wirken will, wie bei seinem Eingreifen in die Fragen der Reichsund Kirchenreform, stehen die weltanschaulichen Fragen im Hintergrunde. Sein Ziel ist, wie der neueste und scharfsinnigste Betrachter seiner Philosophie gesehen hat, die organische Einheit der Welt in der hierarchischen Ordnung, wie sie das Mittelalter geschaffen hatte, in einen Denkvorgang umzubilden, der über die „menschlich wißbaren Wahrheiten" zu einer höheren, wahrhaft göttlichen hinführt. Er hat damit f ü r die Verselbständigung des deutschen Geistes gegenüber den allgemeinen Tendenzen der scholastischen Epoche vielleicht ebensoviel geleistet wie Petrarca für die des italienischen. Aber sein Streben geht nach einer ganz anderen Richtung. Er sucht keinen Weg zu einer 4»

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neuen Humanität, die eine Wiederbelebung der Antike gewesen wäre, sondern ein neues Weltbild, das über die „res humanae" hinausführt. A n Stelle der Kultur der Seele als Selbstzweck, die für Petrarca charakteristisch bleibt, steht die Diskussion der Wege und Grenzen der Erkenntnis, die gerade im Bewußtsein der Unendlichkeit der Aufgabe das Glück und die eigentliche Bestimmung des Menschen empfindet. A n Stelle der Kultur- und Gesellschaftskritik Petrarcas, die von dem Ideal der beata solitudo ausgeht, steht die Welt- und Staatskonstruktion, die ihre Normen einer vorgestellten harmonisierten Einheit der Gegensätze entnimmt. Es leuchtet ein, daß sich von hier aus wohl ein neues Persönlichkeits- und Menschheitsideal ergibt, aber nicht ein neues Prinzip nationaler Bildung, wie es der italienische Humanismus geschaffen hatte und aus dem in Italien eine neue Lebensform entstanden war. Petrarca hatte in seiner gewollten und betonten Einsamkeit Schule gemacht, der Cusaner mit seinem ausgesprochenen Missions- und Prophetendrang konnte es nicht. E r spiegelt die Bestrebungen seiner Zeit, aber er leitet sie nicht, weder die politischen noch die geistigen. Den nächsten Schritt tat die deutsche humanistische

Bewegung.

Sie ist in

der folgenden Generation durch eine erneute Anregung von Italien her und in direkter Auseinandersetzung mit der italienischen entstanden. Diese Auseinandersetzung ist das Wichtige. Schon in den Anfängen der Bewegung, w o es sich noch vor allem um die neue Wohlredenheit handelt, die man von Petrarca, Bruni, Poggio und Valla lernt, w o die neuen Ideale des orator, des poeta und des philosophus, wiederum in der Form, die ihnen die Italiener gegeben haben, auftauchen, ist das Gefühl lebendig, daß man dies alles auf die „deutsche A r t " übertragen und umgestalten müsse. Der fränkische Jurist und Diplomat Gregor Heimburg, der sich in den K ä m p f e n um die kurfürstliche Neutralität einen Namen gemacht hatte, spricht das aus. Martin Mair, den wir gehört haben, ist sein Schüler. Es scheint, als sollten sich hier bereits die Bestrebungen zur Formung einer nationalen Kultur anschließen. Aber vordringlicher wurde zunächst etwas anderes: die Auseinandersetzung mit den überkommenen Formen der Bildung und des Wissenschaftsbetriebes, wie ihn die deutschen Universitäten von den großen Mittelpunkten der abendländischen Bildung übernommen und weitergeführt hatten. Damit wurde der Kampf

gegen die Scholastik ein Vereinigungspunkt der

verschiedenen humanistischen Richtungen, die sich bald in landschaftlichen Abgrenzungen entwickelten, und er bekam einen anderen Charakter als anderswo. E r wurde vor allem ein Kampf um die Methoden der Bildung, ein Schulund Universitätskampf. Der deutsche Humanismus konnte dabei an einheimi52

sehe Bewegungen anknüpfen, an die Bestrebungen der Brüder vom gemeinsamen Leben, die bereits, um der mystischen Betrachtung und der Handarbeit Raum zu schaffen, die scholastischen Übungen zurückgedrängt hatten, und an die Bestrebungen der Klosterreform, die zum guten Teil Reform der klösterlichen Bildung gewesen war. Von hier aus gewann der deutsche Humanismus ein erstes Vergangenheitsideal: die Benediktinerkultur der Karolingerzeit, in der man eine erste Blüte nationaler Kultur erkannte. Man begann die Bibliotheken nach Zeugnissen dieser Kultur zu erforschen. In dem wunderlichen Polyhistor, Magiker und Fälscher Trithemius verbanden sich diese Bestrebungen bereits mit Einflüssen der humanistischen Platoniker und zeigten einen, wenn auch losen Zusammenhang mit den Spekulationen des Cusaners. Eine erste Zusammenfassung fanden diese Richtungen im Elsaß, wo die eindrucksvolle Persönlichkeit Geilers von Kaisersberg der Zeit- und Weltkritik, wie sie die Bußprediger übten, neue Ziele und neue Inhalte gab und mit seinen lebendig gesehenen Menschentypen eine überaus fruchtbare Mischung von populärer Naivität und gelehrter Reflexion schuf. Der Schlettstädter Jakob Wimpfeling wurde der Sprecher der ganzen hier sich bildenden Gruppen, selbst ohne eigene Ideen, ohne ästhetisches und logisches Urteil, aber ein überaus geschickter Agitator und vor allem geeignet, die neuen Erkenntnisse in pädagogische Forderungen umzusetzen. Auch hier sind die Beziehungen zur mystischen Theologie deutlich. Der kurze Weg zu Gott, den die Mystiker suchten, sollte sich in den neuen Weg zur Theologie verwandeln. Es sollte eine Theologie des Gemüts sein, die in einer Herzensreligion wurzelte. Man kam zu einem neuen Ideal des geistlichen und kirchlichen Lebens, man ahnte wenigstens von ferne, daß die Muster einer neuen kirchlichen Bildung in einer neuen Entdeckung der christlichen Antike zu finden seien, die schon Petrarca aus dem großen Bezirk der Antike überhaupt herauszuheben versucht hatte. Aber tiefere Bedeutung für die deutsche Entwicklung bekamen diese Dinge doch erst, als nun der deutsche Humanismus, wieder im Wettbewerb und in betontem Gegensatz zu Italien, sich den neuen Wissenschaften, vor allem der Geschichtsbetrachtung und der Naturerkenntnis, zuwandte. Hier sind die Führer die „Poeten". Sie sind die echten Nachfolger der Vaganten des Mittelalters in Lebensführung und Lebensanschauung. Sie stehen in bewußtem Gegensatz zu der alten Bildung und ihren Formen und bekämpfen sie, wo immer nur möglich. Sie stellen die neue Dreiheit der Poesie, Beredsamkeit und Philosophie dem ganzen alten Wissenschaftsbau gegenüber und fordern, daß er nach dieser umgeformt werde. Sie sind selten imstande, ihre Ansprüche durch den Gehalt ihrer Leistungen zu begründen, aber das ästhetische Ideal, 53

das sie dem alten, auf logische Bestimmtheit gerichteten Wissenschaftsbetrieb entgegenwerfen, entspricht der ganzen Richtung der Zeit, audi die Gegner machen ihm widerwillig Einräumungen. So gewinnt diese Poetengruppe die Fürstenhöfe und das geistig interessierte Bürgertum. Sie führen den eigentlichen Kampf um die Universitäten und erobern sie, eine nach der andern. Der genialste Vertreter dieses unruhigen humanistischen Vagantentums ist der bekannte fränkische Bauernsohn Konrad Celtis. Ihm verdankt es zwei Dinge, die für die Entwicklung des geistigen Lebens in Deutschland in der nächsten Zeit entscheidend wichtig geworden sind. Indem Celtis den deutschen Humanismus überall, wo er auf seinen Wanderfahrten hinkommt, zu literarischen Zirkeln zusammenschließt, schafft er eine erste Organisation des humanistischen Gemeinschaftsgefühls, wie sie nirgendwo sonst bestand, auch in Italien nicht, dessen Akademien zwar die Vorbilder dieser „Sodalitäten" waren, aber doch viel mehr Gefolgschaften einzelner Schulhäupter blieben. Noch wichtiger wurde, daß Celtis dem Gedanken eines geistigen Gesamtdeutschland, der seinen Sodalitäten zugrunde lag, dann gleich einen bestimmten Inhalt und der humanistischen Arbeit ein bestimmtes Ziel gab. Sie sollte eine neue deutsche Kultur, die sidi an einer germanischen, aus dem eben wieder entdeckten Tacitus entnommenen orientierte, durch die Erforschung der deutschen Vergangenheit geschichtlich begründen und sie aus der „druidischen" Weisheit und der „Wald- und Feldreligion" der alten Germanen mit philosophischem Inhalt erfüllen. Diese letztere Absicht erhielt fast gleichzeitig einen gewichtigen Beistand durch die Bestrebungen Johann Reuchlins, der von dem Studium des Hebräischen aus und durch die Einflüsse des Florentiner Piatonismus auf orphische Mystik und jüdische Kabbala geführt worden war. Aus diesen wollte er eine „pythagoreische" Philosophie formen, die sich neben der restaurierten aristotelischen und der neu entdeckten platonischen als dritte, recht eigentlich deutsche, erheben sollte. Ein Mann wie Johannes Eck, der, gerade weil er selbst ein durchaus altmodischer Geist war, gern in allem Neuen dilettierte, hat diese Philosophie 1514 seinen Ingolstädter Zuhörern als das Allerneueste verkündet. Unzweifelhaft kamen diesen Anstrengungen, den deutschen Geist auch gegenüber dem italienischen selbständig zu machen, audi eigentümliche Anlagen des deutschen Geistes selbst entgegen. Schon bei Nikolaus von Cues steht neben dem theologischen Unendlichkeitsbegriff der mathematische, und so wirkt der Cusaner in Italien auf Lionardo da Vinci und auf Toscanelli, in Deutschland auf Georg Peuerbach und Regiomontan. Für den deutschen Humanismus wird die Verbindung der Poeten und der Mathematiker charakteristisch. Mathema54

tik und Geographie werden recht eigentlich deutsche Wissenschaften. Die für den deutschen Geist dauernd wesentliche Verbindung von phantastischer Spekulation und technischem Interesse kündigt sich an. Schildert man das neue Deutschland, so versäumt man nie die Kunst Gutenbergs als deutsche Erfindung zu preisen. Bei den kriegerischen Gemütern steht daneben die Erfindung der Bombarden. Nürnberg wird ein Mittelpunkt technischen Denkens; von hier verbreitet sich ein neuer Begriff der Ordnung über Leben und Welt, der selbständig neben dem der italienischen harmonischen Symmetrie steht. Die Verbindung von Spekulation und technischem Interesse gibt bereits den Zeiten unmittelbar vor der Reformation ihr Gepräge. Von der größten Bedeutung aber wurde es, daß sich alle diese Bestrebungen um die Person Maximilians zusammenschlössen. Damit gewann der deutsche Humanismus eine Einheit wie sonst nirgendwo. Und gerade die fahrige Reizsamkeit, die Max zu einem politischen Dilettanten stempelt, hat ihn befähigt, in dem geistigen Leben der Zeit eine Rolle zu spielen, wie sie kein Kaiser vor ihm und keiner nach ihm gespielt hat. Natürlich, daß er die Bestrebungen zur Erforschung der deutschen Vergangenheit lebendig aufnimmt. An seinem Hof hat der Plan des Celtis eine Germania illustrata, eine Art deutscher Kulturgeschichte zu schaffen, zwar nur Gastrecht gefunden, aber er verbindet sich doch mit den genealogischen Interessen des Kaisers ebenso, wie die neue Mystik der pythagoreischen Philosophie mit den heraldischen und allegorischen Entwürfen, in denen Max sein eigenes Leben poetisch und künstlerisch gestalten lassen wollte. Die großen Holzschnittfolgen der Ehrenpforte, des Triumphbogens und des Triumphwagens, die Illustrationen zum Weiskunig und Teuerdank, der Freydall und die Habsburgischen Heiligen, aber auch die Entwürfe für das Innsbrucker Grabmal und das andere, das er für den Speyrer Dom plante, zeigen die ganze Buntheit der kaiserlichen Phantasie, ritterlich in ihrem Ursprung, aber überall humanistisch geformt. Aber seine kaiserliche Phantasie hatte auch ihren Anteil an den verschiedenen Entwürfen zu einer Reform der Kirche und des religiösen Lebens, die er mit Geiler und Wimpfeling, mit Trithemius, Eck und Peutinger besprach. Hier wie dort kamen sich die Tendenzen eines national-kämpferischen Humanismus und die gefühls- und zufallsmäßig betonten kaiserlichen Einfälle natürlich entgegen. Aber noch viel mehr als Max plante, erwartete die humanistische Begeisterung von ihm. Er wird ein deutsches Recht und eine deutsche Grammatik, vielleicht gar eine Art von deutschem Katholizismus und jedenfalls eine deutsche Kirchenpragmatik schaffen, den schönen Wissenschaften in einer humanistischen Akademie nach dem Muster seiner Vorgänger, der alten 55

römischen Kaiser, einen Mittelpunkt geben, in allem ein zweiter Karl der Große sein. Es ist eine nationale Romantik mit scharf bestimmten Zügen, die wir hier aus dem deutschen Humanismus sich erheben sehen. Sie ruht, nicht viel anders wie die an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert, auf dem Begriff eines deutschen Volkstums, der nun alle gegebenen Lebensformen der Nation mit einem neuen Inhalt zu erfüllen versucht. Zunächst den Begriff „deutsche Nation" selbst, der, von den landsmannschaftlichen Gliederungen der Universitäten und den Sonderungen der respublica christiana auf den Konzilien herstammend, bisher der inneren Bestimmtheit entbehrt hatte. Nodi wichtiger aber ist, daß dieser Begriff des Volkstums durch die schon erwähnte Anknüpfung an die germanische Urzeit ein bestimmtes Ideal des deutschen Menschen aus sich heraustreibt. Die „deutsche Einfalt", von der man wohl schon vorher halb entschuldigend gegenüber den anderen Nationen gesprochen hatte, wird ein Stück nationaler Besonderheit, auf das man als Urvätererbe stolz ist. Man erfaßt den deutschen Nationalcharakter als eine ethische Forderung, an der man klagend oder preisend die Gegenwart mißt, und sucht von da aus einen deutschen Stil des Lebens zu gewinnen. Ebenso werden auch die Vorstellungen von dem Imperium der deutschen Nation durch diese romantische Vergangenheitsbetrachtung verändert. Es soll seinen Rechtsgrund nicht mehr aus irgend einer päpstlichen Übertragung herleiten, sondern aus dem Erbansprudi germanischer Volkskraft, die in der Völkerwanderung den römischen Koloß niedergeworfen hat. In dem phantastischen Gcschichtswerk eines dreiundzwanzigjährigen Menschen, das als Germaniae Exegesis 1518 ans Licht trat, haben alle diese Stimmungen ihren bezeichnenden Ausdruck gefunden. Aber auch die Geschichtsdireibung Aventins und Huttens erste poetische Versuche sind aus solchem Geiste geboren. Es sah aus, als sollte sich aus dieser nationalen Romantik nun wirklich eine Einheit der nationalen Tendenzen entwickeln, die notwendig auch einen politischen Ausdrude hätte suchen müssen. Die Bedingungen dafür, eine außerordentliche Steigerung der nationalen Empfindlichkeit und des nationalen Stolzes, hatte sie jedenfalls geschaffen. Aber ehe sie vor wirkliche Entscheidungen gestellt wurde, war sie bereits durch andere Strömungen innerhalb des Humanismus selbst gekreuzt worden. Die religiöse Aufklärung, wie sie Erasmus vertrat, brach mit außerordentlicher Macht in Deutschland ein, sie fand gerade hier ihren fruchtbarsten Boden. Man kann sie zunächst als die Fortsetzung des theologischen Humanismus nehmen, wie ihn die elsässer Schule unter Wimpfeling pflegte. Dieser selbst 56

und seine Anhänger haben das so empfunden. Ein frühreifer Knabe wie Melanchthon machte ganz ungezwungen seinen Übergang von dem einen zum anderen. Aber bald zeigte sich, daß die Erasmische Theologie weiter trug, und daß es sich dabei nicht mehr bloß um eine Reform des theologischen Studiums und höchstens der Bildungsmittel überhaupt handelte, sondern daß jetzt der neue HumanitätsbegrifF, wie ihn die Italiener geschaffen hatten, auf die christliche Religion selbst angewendet werden sollte. Damit war auch für die fortgeschrittene Gruppe der nationalen Romantik die Möglichkeit gegeben, sich der neuen Bewegung anzuschließen. Denn die Forderung einer Wiederherstellung der ursprünglichen Einfachheit des Christentums schien ja nur eine Analogie zu der Wiederbelebung der alten deutschen Frömmigkeit zu sein. Bei Zwingli zum Beispiel ist die Verbindung zwischen seinem Schweizertum und dieser christlichen Renaissance ganz deutlich, und nur aus dieser Verbindung nationaler Reizbarkeit mit den allgemeinen Tendenzen einer aufklärerischen Religiosität erklärt sich, daß ein Vorgang wie der Reuchlinsche Streit eine entscheidende Bedeutung für den ganzen deutschen Humanismus und seine Stellung im Leben der Nation gewinnen konnte. Denn weder der Anlaß noch die Person des Vorkämpfers schien dazu besonders geeignet. Ob man den Juden, wie ihr Ankläger Pfefferkorn forderte, ihre heiligen Bücher wegnehmen und verbrennen oder sie, wie Reuchlins Gutachten wünschte, zum Studium des Hebräischen an den Universitäten verwenden wollte, das war doch nicht mehr als eine Gelehrtenfrage, und Reuchlin selbst war alles andere eher als ein Kämpfer. Audi als hinter Pfefferkorn die Kölner Dominikaner und hinter Reuchlin die humanistischen Gesinnungsgenossenschaften traten, die Celtis geschaffen hatte, verbreiterte sich zwar das Kampffeld und es wurde deutlich, daß der wissenschaftliche Kampf in einen Ketzerprozeß überzugehen drohe. Aber auch dies war nicht ungewöhnlich, in Italien und Deutschland gab e.s dafür Beispiele aus älterer und jüngster Zeit. Nur das ist besonders bei dem Handel, daß beide Parteien von vornherein auch den Kaiser in ihr Interesse zu ziehen suchen, so daß der Streit bald einen politischen Beigeschmack bekommt. Aber wesentlich wird, daß der Streit, nachdem er als Rechtshandel von Reuchlin 1514 halb gewonnen ist, nun auf das literarische Gebiet zurückkehrt, und sich zu einer großen Auseinandersetzung der beiden Richtungen des deutschen Humanismus mit der alten scholastischen Bildung gestaltet. Das ist die Bedeutung der Dunkelmännerbriefe, die in zwei Teilen 1515 und 1517 erschienen. Im ersten Teil spricht die humanistische Freigeisterei, die ihren Mittelpunkt in dem Gothaer Kreise Mutians hatte. Sie wendet sich, die Mittel der Erasmischen Satire volks57

tümlich vergröbernd, gegen die Bildung und Lebensformen der obscuri. Im zweiten Teil bemächtigt sich die nationale Romantik des Streits und wendet ihn gegen das alte Kirchenwesen überhaupt. Hier spricht Hutten. In ihm sehen wir nodi einmal das Vagantentum der Poeten, aber anders gewendet. Schon von seiner ritterlichen Abstammung her, die er nie vergessen hat, ist ihm der Drang nach Freiheit eigen. Die gärende Unruhe des Blutes und ein lange zielloser Abenteuer- und Wandergeist verstärkten ihn, und nun sehen wir Hutten sein Lebtag bemüht, der „deutschen Freiheit", die in ihrem Grunde die staatlose Unbotmäßigkeit des deutschen Adels war, aus der humanistischen Bildungswelt heraus neue Inhalte zu geben. Entscheidend waren seine zwei Aufenthalte in Italien, wo er sich für Maximilian mit Venezianern und Franzosen herumschlug, die Päpste Julius II. und Leo X. in ihren politischen Intrigen und Aktionen, die römische Kurie in ihrer händlerischen Verderbtheit sah. Er war unterdessen auch ein begeisterter Erasmus-Anhänger geworden, und so sieht er nun die römische Kirche auf der doppelten Folie des Erasmischen Christentums und der deutschen Gegenstellung gegen die „Romanisten". Aus dieser Stimmung ist der zweite Teil der Dunkelmännerbriefe hervorgegangen. Er erschien in demselben Jahr, in dem Luther seine Thesen in Wittenberg anschlug. Blicken wir von hier auf die humanistische Bewegung als Ganzes zurück, so ist deutlich, daß sie mit den anonymen Regungen des Volkskörpers in einem wesentlichen Punkt übereinstimmt. In beiden herrscht das Gefühl, daß eine allgemeine Umwälzung der Dinge bevorstehe. Aber gegenüber dem Pessimismus der Prophezeiungen und Anklagen, die wir als Ausdruck der eigentlichen Volksstimmung betrachtet hatten, ist der Humanismus optimistisch. Maximilianische Romantik und Erasmische Aufklärung sind darin einig, daß sie ein neues goldenes Zeitalter herankommen sehen, in dem sich aus der neuen Blüte der Wissenschaften eine neue Theologie und aus dieser eine neue Gesittung ergeben wird, und für den deutschen Humanismus ist kein Zweifel, daß in dieser Entwicklung Deutschland führen werde. Man fühlt, daß ein neues Zeitalter geistigen Schaffens angebrochen ist. 1517 hat Hans Sachs, eben von seiner Wanderschaft nach Nürnberg zurückgekehrt, diesen Gedanken in seiner naiv hölzernen Weise charakteristischen Ausdruck gegeben. Es war freilich schon damals ersichtlich, daß auch in dem deutschen Humanismus selbst Gegensätze steckten. In dem Heer der Reuchlinisten, wie es Pirkheimer 1517 schilderte, standen sehr verschiedene Geister nebeneinander, und Erasmus, das anerkannte Haupt der ganzen Bewegung, hatte schon damals seine Bedenken gegen die „ferocia" seiner deutschen Freunde und Schüler, 58

und wenn Hutten auf ihn, Reuchlin und Mutian als die Führer in dem großen Kampfe hoffte, den er kommen sah, so sollte er sich in allen dreien täuschen. Auch das gab zu denken, daß Maximilian sidi in dem Reuchlinschen Streit unzuverlässig und unsicher gezeigt hatte. Hörte man vollends die Klagen, die auf dem Reichstag zu Mainz, Sommer 1517, über den Zustand des Reichs, den Mangel an Friede und Recht, die Mängel der Verwaltung, die kritischen politischen und sozialen Zustände vorgebracht wurden, sah man auf die Stellung der Regierenden, die bereits an ihrer eigenen Autorität verzweifelten, so mußte es sehr fraglich erscheinen, ob auch die stärkste geistige Bewegung die Nation als Ganzes mit sich fortzureißen vermögen werde. Dies aber war der Zustand der Nation, als Luther hervortrat.

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4. L U T H E R S BEGEGNUNG M I T DER N A T I O N Wir dürfen glauben, daß Luther wirklich überrascht davon war, wie schnell sich seine Thesen verbreiteten, „als ob die Engel vom Himmel Botenläufer gewesen", sagte später sein Biograph Mykonius. In Nachdrucken und, was wichtiger war, in deutscher Übersetzung werden sie bekannt. Wir finden sie schon zu Ende des Jahres 1517 und zu Anfang des nächsten in Erfurt, Nürnberg, Ingolstadt und Basel. Ein Möndi, der die Thesen an seinem Kloster zu Steinlausig bei Bitterfeld angeschlagen fand, bradi in den Ruf aus: „Ho, ho, er ist da, der es tun wird". Und bereits am 17. November 1517 berichtete der sächsische Rat Cäsar Pflug seinem Herrn, dem Herzog Georg, von einer Unterredung mit dem Bischof von Merseburg, wonach dieser sich einen großen Abbruch der „Gnade" versprach, wenn „die conclusiones, die der Augustiner Mönch zu Wittenberg gemacht, an vil ortern angeslagen wurden". In diesen Äußerungen wird der doppelte Grund sichtbar, der die schnelle Verbreitung der Thesen erklärt. Wenn die sächsischen Herzoge und auch geistliche Fürsten der Verbreitung der „Gnad" Abbruch zu tun wünschten, so darum, weil sie von dem neuen Ablaß eine Schädigung der Ablässe fürchteten, die sie mit viel Mühe und Kosten für ihre eigenen Lande erworben hatten. Die Laien und Geistlichen aber, die bei den Thesen Luthers aufhorchten, waren solche, die schon längst eine Reformation der Kirdie durch Befreiung von den Schäden des avignonesischen Systems und der Verflechtung der Kirche in die Welt überhaupt gewünscht hatten. Und dies war nun die erste Erfahrung, die Luther machte, daß sein Angriff auf den Ablaß, der aus seinem innerlich gewonnenen Begriff der Buße hervorgegangen war, mit den realen Beschwerden und Klagen zusammentraf, die sich längst im Volke und auch bei den Regierenden gegen den Mißbrauch des Ablaßinstituts gesammelt hatten. Wir sahen, wie gerade hier das nationale Moment hineinspielte. Daß der Ablaß, wie die anderen „römischen Fünde", das deutsche Geld nach Rom ziehe, war ein ständiger Beschwerdepunkt in den offiziellen und nichtoffiziellen Klagen der Zeit geworden. Auch die römischen Epigramme Huttens hatten mit besonders zornigem Pathos von den törichten Deutschen gesprochen, die sich Tugend und himmlischen Lohn in Rom erkauften. 60

Aber die Ausbreitung des Ablaßstreits zu einer Reformationsbewegung hing weder von dem einen noch von dem anderen ab, weder von dem Zusammentreffen des Angriffs Luthers mit dem Interesse der Fürsten, die gewohnt waren sich mit dem Papste in den Ablaßgewinn zu teilen, noch von dem Echo, das der Angriff in der populären Opposition fand; sie erfolgte durch die Gegenmaßregeln der angegriffenen Kirche selbst. Auch nicht zunächst die Gegenmaßregeln seiner kirchlichen Vorgesetzten — Albrecht von Mainz, dem Luther die Thesen als Beweis seiner Loyalität selbst übersandte, versuchte, ihn durch einen processus inhibitorius in Rom zum Schweigen zu bringen, das Verfahren blieb jedoch, wir wissen nicht warum, liegen —, sondern die deutschen Dominikaner, die sich um ihren Ordensgenossen Tetzel scharten, um der beabsichtigten Wittenberger Disputation eine feierliche an der brandenburgischen Universität Frankfurt entgegenzusetzen, und sich nun mit besserem Erfolg als der Erzbisdiof an den Papst beriefen, führten die Sache weiter. Der Protomagister des Augustinerordens, Gabriel Venetus, sollte Luther disziplinieren, Luthers Landesherr ihm dabei helfen. Schon im März 1518 mußte Luther fürchten, in Rom verurteilt zu werden. Aber Friedrich der Weise war nicht gesonnen, sich seinen Doktor entreißen zu lassen; er empfand den Angriff auf Luther, neben dem jetzt schon Karlstadt stand, als einen Angriff auf seine geliebte Universität, und wie hinter Tetzel die Dominikaner, so traten hinter Luther seine Ordensgenossen, die Augustiner. So tat Luther seinen ersten weiteren Schritt auf der betretenen Bahn: er schrieb Erläuterungen zu den Thesen, die nun den Zusammenhang derselben mit seiner Paulinisdien Theologie offen darlegten. Aber sie brachten noch etwas mehr. In der Erläuterung zur 89. These hieß es: „Die Kirche bedarf einer Reformation, aber sie kann nicht das Werk eines einzelnen Menschen, des Papstes, auch nicht der vielen Kardinäle sein, das haben die beiden jüngsten Konzilien bewiesen, sie ist die Sache der ganzen Welt oder vielmehr Gottes allein. Die Zeit dieser Reformation aber kennt allein der, welcher die Zeiten geschaffen hat". Damit verband Luther seine Sätze mit den Reformationsforderungen, die die Konzilien aufgestellt, aber nicht erfüllt hatten. Noch war die Schrift Leo X. gewidmet, sie trug an ihrer Spitze die übliche kirchliche Unterwerfungsform. Nur so weit ging Luther zunächst, daß er die geistliche Gewalt der Kirche und des Papstes von ihrer weltlichen als wesensverschieden und damit auch in verschiedener Weise für den Christen verbindlich erklärte, ebenso wie er die kirchliche Lehre, wie sie in der Schrift, den Vätern, den päpstlichen Gesetzen und Verordnungen niedergelegt war, von den „Meinungen der Scholastiker und Theologen" sondern wollte. Aber wie weit war es von da bis zu einer 61

Verwerfung der hierarchischen Ordnung überhaupt, die doch auf der verurteilten Handhabung des Bußsakraments ruhte? Ein schwäbischer Bauernsohn, Johannes Eck, sah als erster die prinzipielle Bedeutung, die Luthers Angriff auf den Ablaß für das System der Kirche überhaupt hatte. Ein merkwürdiger Mensch. Durch Neigung und Bildungsgang mit den humanistischen Kreisen in Verbindung, erschien er lange, auch noch im Reuchlin'schen Streit, als ein Mitstreiter der humanistischen Reformpartei. In Ingolstadt, wo er seit 1510 Professor war, wollte er die Theologie und die Studien durch Zurückdrängung der alten scholastischen Methode erneuern, die neue pythagoreisdie Schule Reuchlins hatte in ihm ihren gelehrigsten Schüler. Aber sein eigentliches Feld war die scholastische Disputation, bei der ihn eine ungeheuere Belesenheit und ein nie versagendes Gedächtnis unterstützte. Wie weit ihn reine Streitsucht in seine zahlreichen literarischen Fehden verwickelt hat, wie weit ein wirklicher Konservatismus der Gesinnung, ist kaum zu entscheiden. Beides wird man in dem Brief gewahr, mit dem er am 2. Februar 1518 Erasmus angriff. Um dieselbe Zeit muß er die Thesen Luthers in die Hände bekommen haben; er ließ sie nun mit seinen kritischen Anmerkungen, die er nach philologischem Brauch Obelisken nannte, verbreiten. Wie er bei Erasmus den kritischen Punkt in dessen Versuch, die heilige Schrift nach den Gesichtspunkten humanistischer Exegese zu interpretieren, mit Sicherheit gefunden hatte, so sah er mit der Sicherheit des geborenen Gegners, daß Luthers Versuch, die kirchliche Bußgewalt von der geistlichen völlig zu trennen, die Kirche in ihrem Wesen bedrohe. Er traf die letzten Konsequenzen der Stellung Luthers, indem er ihn mit dem Aufrührer Hus in eine Linie setzte, seine Thesen mit dem böhmischen Gift verglich, das den ersten großen Aufruhr in der Kirche erregt hatte. Erasmus hat dem „ausbündigen Theologen", wie er ihn nannte, mit ironischer Freundlichkeit geantwortet; Luther fühlte sich aufs tiefste beleidigt, noch war es ihm undenkbar mit Hus zusammen genannt zu werden. Fünfzehn Monate später wird er anders denken. Aber zunächst mußte der Weg seiner eigenen Entwicklung weiter gegangen sein. Ein Generalkapitel seines Ordens in Heidelberg im Mai 1518 gab ihm Gelegenheit die Disputation, die er sich in Wittenberg gewünscht hatte, jetzt zu halten. Aber die Thesen, die er hier verteidigte, gingen nidit mehr über den Ablaß, sondern über Sünde und Gnade, vor allem über die Unfreiheit des Willens, die Hauptpunkte seiner „Kreuzestheologie", daneben über die wahre Philosophie, die er mehr bei Pythagoras und Plato als bei Aristoteles finden wollte. Wir haben einen Bericht des jungen Martin Butzer, des späteren Reformators von Straßburg, der damals als Zögling des Heidelberger Domini62

kanerkonvents Luther hörte. Er schildert uns die begeisternde Wirkung von Luthers Auftreten. Luther selbst aber erkannte, daß sein theologischer Anhang von der Jugend kommen würde. Mit seinen alten Lehrern hat er damals gebrochen, und auch das sprach er schon aus, daß die Reform der Kirche, wie er sie jetzt deutlich vor Augen sah, unmöglich sei, wenn nicht die ganz reinen Studien der Bibel und der Väter wieder zu ihrem Recht kämen. Schon in den Resolutionen zu den Thesen hatte er seine Sache sodann mit jener humanistischen Religiosität zusammengeschlossen, die in Pico von Mirandola, Valla, Reuchlin und Lefevre sich gegen den Verdacht der Haeresie hatte wehren müssen. Er selbst hatte seit November 1517 in Briefen seinem Namen das humanistische Eleutherius hinzugefügt. Suchte er hier Bundesgenossen, so war er gewiß, sie zu linden. Eben in jenen Tagen war Melanchthon in Wittenberg neben ihn getreten. Er brachte die Ideen der Erasmischen Bildungsreform mit und erlebte durch Luther sogleich eine Bekehrung zur Paulinischen Theologie. Schon vorher hatte Luther mit dem Sermon von Ablaß und Gnade begonnen zum deutschen Volke von seiner Sache zu reden. Er wollte die Thesen damit durch etwas Besseres, klarer Gesagtes ersetzen, aber er ging wiederum einen Schritt weiter, wenn er statt der Ablaßgabe die Gabe an den Nächsten empfahl. „Laß die faulen und schläfrigen Christen Ablaß suchen, geh Du für Dich". Am 12. Oktober 1518 steht Luther in Augsburg vor Cajetan. Denn unterdessen war auf eine erneute Anklage der Dominikaner hin der kanonische Prozeß gegen ihn eröffnet worden. Schon im August hätte er sich in Rom vor seinen Richtern verantworten sollen. Sein Landesherr, Friedrich der Weise, hatte auf seine Bitte hin erlangt, daß das Verhör in Deutschland stattfinde. Kardinal Cajetan, der auf dem Reichstag, der seit 18. April in Augsburg tagte, die deutschen Fürsten für die neue Türkenhilfe zu gewinnen hatte, sollte auch dieses Geschäft übernehmen. Aber dann hatte Luther selbst seine Sache verschlechtert. Bald nach seiner Rückkehr aus Heidelberg hatte er im Mai oder Juni 1518 in Wittenberg eine Predigt über den Bann gehalten. Wir haben sie nicht mehr, denn was Luther dann später unter diesem Titel veröffentlicht hat, ist ein eingestandenermaßen verändertes Erinnerungsbild. Aber es besteht kein Grund daran zu zweifeln, daß die Sätze, welche die Hörer, vielleicht Gegner, vielleicht nur eifrige Freunde Luthers, aus der Predigt veröffentlichten, den wirklichen Inhalt der Predigt wiedergeben, und wir können mit einiger Sicherheit vermuten, was sie enthielten. Sie sollten nach Luthers eigener Absicht Grundlage einer neuen Disputation sein, Thesen, wie die vom 31. Oktober, die aber nun nidit mehr den Ablaß, sondern die Banngewalt des 63

Papstes zum Gegenstand hatten. Es ist kein Zweifel, daß Luther auch hier, wie in den Ablaßthesen, den Papst von seinen Organen zu trennen versuchte, aber zugleich die Strafe des Bannes selbst nicht anders eingeschränkt hat wie früher die Wirkung der Ablässe. Der Kern seiner Behauptungen wird mit dem alten Wort des Sachsenspiegels übereingekommen sein: „Der Bann schadet wohl dem Leibe, aber nicht der Seele, wenn der Gebannte die Einrede der Unrichtigkeit vor dem weltlichen Richter begründen kann". Luther zog damit nur die Folgerungen aus der Lehre von der inneren Buße, die ihm längst feststand, aber er war sich doch bewußt, damit ein neues Feuer angezündet zu haben. Die Antwort Roms hatte denn auch nicht auf sich warten lassen. Eine neue Entscheidung des Papstes erklärte ihn für einen notorischen Ketzer, für den es nur noch eine Rettung gab, den Widerruf. Es war in Luther ein seltsam zwiespältiges Gefühl, als er in Augsburg einzog. Er war bereit, für seine Sache zu sterben, wenn es sein mußte. Er sah ja, wie es das Schicksal der reinen Lehre Christi gewesen sei, ihren Bekennern den Tod zu bringen. Aber er war auch entschlossen zu kämpfen. Die Mönchsdemut, die er auch dadurch ausdrückte, daß er zu Fuß in ärmlichem Gewand nach Augsburg pilgerte, und der Stolz, eine erkannte Wahrheit zu vertreten, liegen bei ihm in noch ungelöstem Streite. Hinter der Demut stand sein Glaube, immer noch gegen innere Anfechtungen neu zu sichern, aber immer wieder siegreich darüber hinaus tragend, hinter dem Stolz das Gefühl des Berufenseins und ein kräftiges Lebensgefühl, das auch die irdischen Mittel der Selbstbehauptung sehr wohl in Rechnung zog. Als er nach Augsburg kam, wußte er sich geschützt durch den Beistand seines Fürsten, getragen von der Zustimmung seiner Universität. In Augsburg selbst erkannte er, daß er für die vornehmen Kreise der Patrizier und Gelehrten, die alle einer Erasmischen Religiosität zuneigten, bereits eine Berühmtheit sei. Aber wichtiger wurde, daß ihn auf der Fahrt und in Augsburg selbst zum ersten Mal die Wogen der nationalen Erregung erreichten, die durch die Verhandlungen des eben zu Ende gegangenen Reichstages, des letzten, den Maximilian hielt, wieder entfacht worden war. Denn hier war noch einmal das alte römische Reich, Kaiser und Papst Hand in Hand, auf die Bühne getreten, um von den deutschen Ständen die Willigungen für den neuen großen Türkenkrieg zu erlangen, den der Papst als das gemeinsame Unternehmen der abendländischen Christenheit ausgeschrieben und für den Maximilian einen phantastischen Kriegsplan, ganz im Stil der Kreuzzüge, entworfen hatte. Es schien, als sollte jetzt möglich werden, was Gregor VII. in den Anfängen der Kreuzzugsbewegung geplant hatte. Der deutsche Kaiser als Vogt der Kirche und Führer der christlichen Heere gegen den 64

Orient, der Papst daheim als Wahrer des Friedens der respublica christiana. Aber einiger noch als die beiden höchsten Gewalten, die so die Idee des alten kriegerisdi-priesterlichen Gemeinwesens vertraten, war die Opposition, die aus den Lebensbedingungen einer gänzlich veränderten Welt stammte. Da war Hutten, der sich für den Reichstag eine Türkenrede ausgearbeitet hatte, die den Türkenkrieg zu einem nationalen Unternehmen deutscher Volkskraft machen wollte und gerade deshalb einen päpstlichen Kreuzzug verwarf. Da war eine Beschwerdeschrift des niederen Lütticher Klerus, die die alten Beschwerden der deutschen Nation zu einer großen Abrechnung mit dem fiskalischen System der Kirche gestaltete. Da war die geschlossene Opposition der deutschen Stände, die in jeder auswärtigen Unternehmung eine Erschütterung der eigenen Existenz erblickte. Als Luther ankam, war es schon entschieden, daß diese Kräfte die stärkeren gewesen waren; aber ihn selbst umgab noch der Nachhall dieser Stimmungen, er fühlte, daß auch sie ihn trugen, daß seine Berühmtheit bereits eine „herostratische" sei. Und nun ihm gegenüber Cajetan. Kein Kardinal im gewöhnlichen Sinn, kein Repräsentant des neuen kirchlichen Pomps, ein gelehrter Arbeiter, weitherzig genug, um sich dem neuen Wissenschaftsgeist zu öffnen, stärker auf ihn vertrauend als die Mehrzahl der Kurialen, aber doch ein Vertreter des Thomistischen Geistes, der mit dem restaurierten Papsttum emporgekommen war und dessen eigentliche Stütze bildete. In den Tagen, da er Luther erwartete, hat Cajetan die einzelnen Fragen, die der kühne Augustiner aufgeworfen hatte, in einer Reihe von Aufsätzen, die wie Selbstgespräche wirken, für sich geklärt. Er war bereit, Mißbräuche zuzugeben, bei Luther Irrtum und nicht Ketzerei anzunehmen, aber er war nicht bereit, mit ihm über Dinge zu disputieren, die für ihn durch den Begriff der Kirche selbst entschieden waren. Bezeichnend, daß der Gegensatz zwischen ihm und Luther schließlich in zwei Punkten sich verdeutlichen ließ; in der Lehre vom Gnadenschatz der Kirche und von der Sicherheit, die aus dem Glauben stamme. Bezeichnender noch, daß für Cajetan der erste, für Luther der zweite Punkt der wichtigste war: Die Kirche als Anstalt, als eine große hierarchisch verfaßte Gemeinschaft, die als solche über die Grenzen dieser Zeitlichkeit hinausragt, und die Rechtfertigung aus dem Glauben traten sich in ganzer Klarheit gegenüber. Luther hat dann den von ihm geforderten Widerruf verweigert und sich schließlich, auf Rat seiner Freunde, dem weiteren Verfahren durch die Flucht entzogen. Er suchte seinen Zusammenhang mit der Kirche zu wahren, indem er in der üblichen Form von dem schlecht beratenen Papst an den besser zu beratenden appellierte. Als bessere Berater dachte er sich die Universitäten als 5 Reformation

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die Repräsentanten des kirchlichen Einheitsbewußtseins, wie sie einst im Schisma und in der Konzilsbewegung aufgetreten waren, vielleicht auch schon ein neues Konzil, aber all das doch nur als Ausdruck einer Kirche, die die wahre Braut Christi ist, und die er nun in den Acta Augustana, einem öffentlichen lateinischen Bericht über seinen Handel mit Cajetan, deutlich von der Papstkirche trennte. Aber der Papstkirche stand er jetzt doch schon gegenüber, als ein einzelner, für sich selbst. Von dem Ordensgehorsam hatte ihn Staupitz in Augsburg entbunden und ihn Gott befohlen. Bald darauf hat er sich selbst von Luther gelöst. Dafür erstanden diesem bei jedem neuen Schritt neue Anhänger. Immer deutlicher zeigte sich, daß seine Sache kein theologischer Streit bleiben würde. Schon im November 1518 sagte Christoph Scheurl in Nürnberg, daß Luther der berühmteste Mann in Deutschland sei; in der literarisch-theologischen Gesellschaft, die sich in dem dortigen Augustinerkloster um Staupitz geschart hatte, und der auch Dürer angehörte, war Luther bald das einzige Gespräch. Als sich nach seiner Rückkehr nach Wittenberg die Kunde verbreitete, der Kurfürst habe ihm seinen Schutz entzogen, ist in Nürnberg die Bestürzung bei Geistlichen und Laien gleich groß, noch größer die Freude, als sich das Gerücht als unrichtig erweist. Von den Acta Augustana werden dem Drucker die einzelnen Bogen unter den Händen weggerissen. Ein italienischer Buchhändler findet sie bei Scheurl und trägt sie nach Basel, wo noch im Oktober die erste Sammlung von lateinischen Schriften Luthers erscheint. Hier und am Rhein überhaupt bildet sich ein neuer Herd der Agitation für Luther. Von der nahen Schweiz her beginnt der Leutpriester von Einsiedeln aufzuhorchen: es ist Ulrich Zwingli. Erasmus sieht mit Staunen die neue Begeisterung seiner Freunde, er selbst muß daran denken, sich mit ihr und Luther abzufinden. Er hat das nach seiner Weise getan, vorsichtig und vornehm. Den päpstlichen Prozeß gegen Luther hat er, solange es anging, ignoriert, die Sache nur als einen literarischen Handel genommen, aber daß es bei diesem auch um die ruhige Bildung ging, die er fördern wollte, daran konnte er kaum zweifeln, um so weniger, als unter Luthers päpstlichen Gegnern nun auch Silvester Prierias aufgetreten war, der gegen Luther die neuen „Fundamente des Glaubens" in den schärfsten Formen der absolutistisch-hierarchischen Doktrin statuierte. So hat Erasmus auf Luther, der sich ihm auf Bitten Melanchthons seit März 1519 genähert hatte, mäßigend, vor allem auf seine fürstlichen und geistlichen Gönner begütigend zu wirken gesucht. Aber schon damit führte er die ganze Schar seiner Anhänger, die sich ihn viel enger mit Luther verbunden dachten als er es war, zu diesem hinüber. 66

Mindestens ein neuer Reuchlinscher Handel schien sich in Deutschland zu erheben, und ganz anders noch als in diesem wirkte nun die gesteigerte Agitationskraft des Buchdrucks. Schon im Februar 1519 berichtete der Baseler Buchdrucker Froben, er habe Luthers Schriften nach Frankeich, Spanien, Italien, Burgund und England abgesetzt, er verkaufe sie in Paris, und an der Sorbonne sage man, eine solche Freiheit der Gesinnung wäre uns Theologen längst von Nöten gewesen. Was bedeutete es nicht für die Wirkung selbst der lateinischen Schriften Luthers im Volk, wenn der gemeine Mann auf Luthers Sermo de excommunicatione das Titelbild aus Dürers kleiner Holzschnittpassion sah, den in unendlichen Gram versunkenen Welterlöser mit der Dornenkrone? Mußte er nicht glauben, daß dieser über die verweltlichte Kirche trauere, die sein Wort für sich verkaufe? Aber noch wichtiger wurde es, daß Luther selbst sich dieser Welt immer stärker zuwandte. Zwar die Behandlung der eigentlich theologischen Fragen, zu denen er das Wesen des Ablasses und der Papstgewalt in der Kirche rechnete, wollte er auch jetzt noch der gelehrten Disputation vorbehalten wissen. Aber daneben stand sein Predigtamt. Wie ihn die Predigt immer wieder über die Grenzen der wissenschaftlichen Erörterung hinausriß, so zwang sie ihn auch, die Auseinandersetzung des Evangeliums mit dem Leben, die er für sich begonnen hatte, im Volk selbst zu leiten. Mit einer Auslegung des Vaterunsers für die einfältigen Laien beginnt im Dezember 1518 die Volksschriflstellerei Luthers. Kurz vorher hatte er eine zweite Ausgabe der Theologia teutsch erscheinen lassen. In der Vorrede knüpfte er seine eigene Theologie an die „ungefransten, ungekränzten Worte" des alten Verfassers an und dankt Gott, daß er in deutscher Sprache seinen Gott also höre und finde, wie er ihn vorher nicht gefunden habe, weder in lateinischer, griediisdier noch hebräischer Zunge. Die entscheidenden Kämpfe blieben auch jetzt noch die theologischen. Sie fanden ihren ersten Abschluß mit der Leipziger Disputation. Wiederum haben hier Luthers Gegner, vor allem Eck, das Verdienst, ihn zu einer neuen Entscheidung fortgestoßen zu haben. Indem Luther sich von ihm das Bekenntnis entreißen ließ, daß Papst und Konzilien irren könnten und geirrt hätten und daß unter den Artikeln von Hus, die man in Konstanz verdammt hatte, etliche recht christliche und evangelische seien, vollzog er auch öffentlich den Bruch mit der Papstkirche, die er innerlich längst verworfen hatte; er verband seine Sache mit der des berühmtesten und vor allem in Deutschland verhaßtesten Ketzers. Es war das erste Signal zu einer Scheidung der Geister. Herzog Georg von Sachsen, der der Disputation präsidierte, ist damals Luthers entschiedenster 5"

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Feind geworden. Weithin wurde sichtbar, daß die neue Reformation der Kirche, von der Luther spradi, etwas anderes bedeuten müsse, als all die Versuche der Konzilien und der mönchisdien Reform. Wer an dieser festhielt, mußte sich von Luther scheiden. Aber mit dieser Opposition gegen die Papstkirdie war Luther nun auch in die nächste Nähe der nationalpolitischen Agitation gelangt, die Hutten führte. Im Februar 1519 erschien der erste satirische Dialog Huttens, mit dem er den direkten Kampf gegen die Romanisten begann. Cajetan mußte sidi gefallen lassen, in grotesker Verzerrung als Vertreter der römischen Habsucht zu erscheinen, die Deutschand aussaugen will; ein römischer Kurtisan zeigt die Wege, die man jetzt in Deutschland am besten geht. Kurz darauf hat Hutten seinen Arminius-Dialog zunächst für sich selbst niedergeschrieben, in dem er den Befreier Germaniens als historische Gestalt neu entdeckte und sogleich zum Ahnherrn aller Kämpfer für die deutsche Freiheit machte. Arminius hat Deutschland vom Joch der römischen Tyrannei befreit, seine Nachfolger haben das gleiche gegen die Nachfolger des Varus zu tun. Und schon schien dieser neue Arminius gefunden: Huttens neuer Freund, Franz von Sickingen, den er eben damals bewogen hatte, den Handel Reuchlins aufzunehmen, um ihm mit den Mitteln bewaffneter Drohung die Genugtuung von den deutschen Dominikanern zu verschaffen, die er in seinem Prozeß nicht hatte erlangen können. Noch ging diese Bewegung neben der von Luther entfachten her, aber es war jetzt schon klar, längst bevor der Prozeß gegen Luther in Rom zu Ende geführt wurde, daß seine Sache eine Sache der deutschen Nation geworden war. Die Nation aber hatte unterdessen ein neues Haupt erhalten.

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5. KAISERWAHL KARLS V. Am 12. Januar 1519 war Kaiser Maximilian sechzigjährig in Wels gestorben. Auf dem Totenbette hatte er sich von seinem Historiographen Jakob Mennel die Abschnitte über die Heiligen und Seligen seines Geschlechts aus der Stammesgeschichte der Habsburger vorlesen lassen: seine letzten Gedanken galten der Größe seines Hauses. Auch sie hatte er gegründet, aber so ungesichert hinterlassen, wie alles andere, was er begonnen hatte. Zwar das hatte er noch erlebt, daß sein Enkel Karl zu den Burgundischen Landen die Spanische Krone, die ihm nach dem Ausscheiden von nicht weniger als fünf näheren Anwärtern zugefallen war, nun wirklich in Besitz genommen hatte. Aber neben Karl stand dessen Bruder Ferdinand, und in Maximilians Testament waren beide ohne Unterschied als seine Erben in den Ländern des alten Habsburgisdien Besitzes genannt. Diese Länder waren aber noch ohne inneren Zusammenhalt. Eines der vielen Projekte Maximilians, aus ihnen ein Königreich Österreich zu machen, war ebenfalls unausgeführt geblieben. Und auch dann noch hätte es sidi um den Zusammenhang dieser Länder mit der von Max erworbenen Burgundischen Erbschaft und als letztes und wichtigstes um die Nachfolge im Kaisertum gehandelt. Seit fast sechs Jahren hatte sich Maximilian gelegentlich, seit drei Jahren ernstlich mit dieser Nachfolge beschäftigt. Merkwürdig, daß er zunächst nicht wünschte, sie seinem Hause zu sichern. Er dachte an auswärtige Herrscher, flüchtig an Ludwig von Ungarn, dauernd und ernsthaft an Heinrich VIII. von England. Möglich, daß ihm die Kaiserkrone wirklich, wie er sagte, als eine zu große Last für sein Haus erschien, wahrscheinlich, daß er, zumal nach dem Siege Franz I. bei Marignano, Deutschland erst durdi die englische Hilfe für dauernd gesichert hielt. Absonderlich erscheint es, daß er eine solche dauernde Hilfe auf dem Wege der Verhandlung der Kaiserkrone zu erlangen hoffte. Aber einer Zeit, die alle staatlichen Verbindungen durdi dynastische zu sichern gewohnt war, konnte dieser Gedanke nicht so fremd sein, und ein so nüchterner Mensch wie Wolsey fand den Plan immerhin beachtenswert. Denn die Kaiserkrone, das hatte audi Franz I. sofort erkannt, war, so wenig wirkliche Macht 69

sie verlieh, immer noch das einzige Mittel, die Mitte Europas mit ihren divergierenden Tendenzen zu beherrschen. Aber aus denselben Erwägungen hatte auch der junge Karl, bevor er nach Spanien ging, seinen Willen kund gegeben, nicht auf das Kaisertum zu verzichten, und Maximilian hatte ihm zugestimmt. Als König von Spanien schien ihm Karl mächtig genug, die deutsche Krone zu tragen. Auf seinem letzten Reichstag zu Augsburg hatte er vor allem für diese Nachfolge seines Enkels Karl im Kaisertum gearbeitet. Erreichte er es, ihn bei seinen Lebzeiten zum römischen König wählen zu lassen, so war der Bau seines Lebens gekrönt, war zugleich die größte Gefahr, die einer französischen Kandidatur nach seinem Ableben, beseitigt, und mit dieser die zweite, ein Interregnum im Reiche, das bei der wachsenden Spannung unter den Reichsgliedern jetzt vor allem vermieden werden mußte. Es schien, als sollte dieser letzte große Plan Maximilians gelingen. Auf dem Reichstag gewann er fünf von den sieben kurfürstlichen Stimmen für Karl; auch die reichsrechtliche Schwierigkeit, die sich aus der Tatsache ergab, daß Max nur den Kaisertitel führte, nicht zum Kaiser gekrönt war, schien nicht unüberwindlich. Schon war der "Wahltag nach Frankfurt angesetzt, der alles zu Ende führen sollte, da starb der Kaiser, und die Frage seiner Nachfolge war neu eröffnet. Denn da es sich nun nicht mehr um die Wahl eines römischen Königs, sondern um eine neue Kaiserwahl handelte, so waren alle bisherigen Abmachungen hinfällig. Das große Spiel um die erste Krone der Christenheit konnte beginnen. Eine deutsche Königswahl ist meist ein Stück Handelsgeschäft gewesen. Es entsprach ebenso der Auffassung vom Wesen des germanischen Königtums, daß diese Gewalt auf vertragsmäßiger Willigung beruhte, wie dem germanischen Rechtsempfinden, für das jedes Recht ein nutzbarer Anspruch war, wenn die Wähler ihre Stimmen nicht ohne Gewährung und Versprechungen dem zu Wählenden gaben. Reifte dies soweit, daß sich die Wähler als eine Gemeinschaft und als Vertreter des Landes empfanden, so konnte sich auf diesem Weg eine Verfassung entwickeln. Die germanisch-romanischen Verfassungen sind so entstanden. In Deutschland war der Gang nicht so einfach gewesen. Schon bei der ersten Königswahl, die ganz „frei" sein sollte, der Wahl des Gegenkönigs Rudolf von Rheinfelden in Forchheim 1077, hatte der päpstliche Legat die Wähler ermahnen müssen, daß sie die Wahl nicht an Willigungen für die einzelnen knüpfen dürften. Seitdem hatte diese Selbstsucht der einzelnen Wähler immer mit dem Bewußtsein, daß sie als Ganzes das Reich repräsentierten, im Kampf gelegen und nur zu oft darüber gesiegt. 70

Aber die Kaiserwahl von 1519 zeigt diesen Vorgang nun doch in sehr besonderer Abwandlung. Sie zeigte zunächst, daß nun auch Deutschland, wie soeben Italien, ein Objekt der auswärtigen Politik der großen europäischen Mächte geworden war. Gegen Franz von Frankreich und auch Heinrich von England

kämpfte Karl von Spanien,

erschien wieder, wenn auch im Hintergrunde,

unter den Kandidaten für die Kaiserwürde. Wir sahen, wie auch dies eine Folge der Politik Maximilians war, bis zu einem gewissen Grade sogar eine direkte Folge aus der Lage, welche die Wahl Verhandlungen seiner letzten Jahre geschaffen hatten. Dennoch war auch die politische Lage durch den Tod Maximilians ganz verändert. Es handelte sich nicht mehr darum, ob man die Kräfte Englands oder Spaniens oder Ungarns zur Stärkung des wankenden Reichs heranziehen wollte. Nur das war die Frage, weicher auswärtigen Macht es gelingen würde, die in sich gebundenen, aber in ihrer Gesamtheit allen anderen überlegenen Kräfte Deutschlands, die schon Machiavell in ihrer wahren Natur erkannt hatte, sich dienstbar zu machen. Denn auch die habsburgische Wahlpolitik bekam ihre entscheidenden Befehle und letzten Bestimmungen von Barcelona aus, wo Karl damals mit den katalonischen Ständen marktete; die deutschen Räte und die umsichtige Regierung Margaretes in den Niederlanden, die die Wahlagitation leiteten, fühlten sich doch nur als seine Diener. Außerdem aber gab es noch eine dritte auswärtige Macht, die sehr, ja eigentlich am meisten, an diesem Wahlkampf interessiert war, den

Papst.

Es handelte sidi 1519 nicht mehr bloß um die alte Verbindung der beiden Häupter der respublica christiana, eine Verbindung, von der man damals vielleicht schon ahnen konnte, daß sie durch den lutherischen Handel eine neue, besondere Bedeutung bekommen werde, sondern auch, und zwar für den Medici-Papst vor allem, um die Frage der Herrschaft in Italien, darum also, ob es für das Papsttum erträglicher sei, daß der Herrscher, der als König von Spanien auch Neapel besaß, nun mit der deutschen Kaiserkrone das Erbe der Staufer erneuere, oder ob der Herr von Mailand römischer Kaiser werde und damit eine neue französische Kaiserpolitik begründe, oder ob es vielleicht eine dritte Möglichkeit gäbe, die diese beiden Gefahren beseitigte. In dem Gegensatz dieser Interessen standen die deutschen

Königswähler.

Sie hätten sehr besondere Menschen sein müssen, wenn sie bei dem Wettbewerb um ihre Stimmen, der nun begann, sich nur von den Interessen des Reiches hätten leiten lassen. Sie hätten vor allem auch eine einhellige Überzeugung darüber haben müssen, welches denn eigentlich diese Interessen seien. Aber unter den Wählern von 1519 gab es keinen Berthold von Henneberg, nicht einmal einen Politiker wie Albrecht Achill. Es gab einen Mann, der sich, wie 71

schon in Augsburg so auch jetzt, jeder privaten Beeinflussung versagte und in altväterlichem Rechtsgefühl das Heil von der Beobachtung der Formen des Wahlrechts erwartete, Friedrich von Sachsen. Es gab einen zweiten Kurfürsten, der bei dem Intrigenspiel nicht sonderlich in Betracht kam, weil man wußte, daß er einfältig deutsch gesinnt sei, Hermann von Wied in Köln. Alle anderen waren mehr oder weniger naive Egoisten, am unbeschämtesten unter ihnen Joachim von Brandenburg, unzweifelhaft derjenige deutsche Fürst, der damals von der landesfürstlichen Autorität den ausgebildetsten Begriff hatte, den aber die habsburgischen Räte mit Recht den Vater der Habsucht nannten, und von dem auch die um ihn werbenden Franzosen nur zu sagen wußten, daß wenige Fürsten ihm gleich sein würden, wenn seine Habsucht nicht wäre. Mit dieser Habsucht unterschieden sich die deutschen Kurfürsten in nichts von dem hohen Adel Englands, Frankreichs und der Niederlande. Daß auch die Leiter der französischen, englischen und niederländischen Politik Du Prat, Wolsey und Chievres ihr Amt zur schamlosen Bereicherung benutzten und ohne persönlichen Gewinn überhaupt nicht zugänglich waren, war eine allgemein bekannte Tatsache. Aber es ist bezeichnend für die besondere seelische Haltung der deutschen fürstlichen Aristokratie, daß sie, indem sie ihre Stimmen möglichst teuer zu verkaufen gedachte, doch gar kein Arg darin fand, sich auf die Bestimmungen der Goldenen Bulle zu berufen, daß die Wahl frei von Gunst und Gabe zu geschehen habe. Auch das war schon unter den Verhandlungen bei Maximilian selbst klar geworden, daß sich die deutschen Kurfürsten nicht mehr wie früher durch bloße Versprechungen oder Gnadengewährungen gewinnen lassen würden. Die Wahl war in Wirklichkeit ein Geldgeschäft, bei dem der besser und vor allem prompter Zahlende einen schwer einzuholenden Vorsprung hatte. Das hatten die deutschen Räte Maximilians dem jungen Karl schon 1518 mit aller Deutlichkeit gesagt. So ist die deutsche Kaiser wähl von 1519 zunächst ein Kampf der Finanzkräfle der Parteien geworden, und hierbei war ersichtlich der französische König dem Hause Habsburg anfänglich überlegen. Die französische Krone war zwar durchaus nicht so unbedingt Herrin der Kräfte ihres Landes, wie sich das die Deutschen vorstellten, aber sie besaß, wie in militärischer so auch in finanzieller Hinsicht, eine schlagfertige Organisation, die darauf eingerichtet war, auch weitgespannten Zielen der auswärtigen Politik zu dienen. Das französische Gold floß leicht zu den deutschen Fürsten, wie es zu den Schweizern geflossen war. Die habsburgischen Machtmittel waren auch auf finanziellem Gebiet zersplittert, überall gebunden, selten sofort greifbar. Hier hat dann das Fuggersche Kapital eingesetzt, und Jakob Fugger hat später einmal Karl V. 72

daran erinnern können, daß er ohne ihn die kaiserliche Krone nicht erworben hätte. Aber es gab außer dem Kampf der Finanzkräfte nodi etwas Besonderes bei der Kaiserwahl von 1519. Zum erstenmal sollte die Wahlhandlung unter dem Druck der Waffen stehen. Und nun zeigte sich, was es bedeutete, daß gerade an der Westgrenze des Reiches zwei Bandenführer emporgekommen waren, die es an Gefährlichkeit, Bedenkenlosigkeit und militärischer Furchtbarkeit mit den italienischen Condottieri des 14. Jahrhunderts aufnehmen konnten, Sickingen und sein „großer Freund" Robert von der Mark, der Herr von Sedan. Beide hatten bisher nach Wahl und Vorteil Sold und Dienste bei Habsburg oder Frankreich genommen. Es war ein außerordentlicher Vorteil für die habsburgische Sache, daß es schon 1517 gelungen war, beide von Frankreich abwendig zu machen und für das Haus Habsburg zu gewinnen. Sickingen wog bei beiden Parteien so schwer wie nur irgend ein Reichsfürst. Sah man nur auf die deutsche Entwicklung, so gab es noch ein drittes neues Moment in diesem Kampfe. Die deutschen Königswahlen seit dem Interregnum waren in immer stärkerem Maße eine Angelegenheit geworden, bei der die Wähler wirklich f ü r sidi und in ihrem abgeschlossenen Kreise handelten. Die Kurfürsten hatten noch unter Sigismund glauben können, daß sie wirklich das Reich seien. Jetzt war auch das anders geworden. Die Wahlvorbereitungen vollzogen sich unter der gespannten Teilnahme aller Glieder des Reichskörpers. Es ist zunächst das Gefühl der Unsicherheit in der kaiserlosen Zeit, das die Städte im Süden, die Ritterschaft in Franken, die Grafen und Herren am Rhein zusammenführt. Aber dann bemerken wir bei all diesen Gruppen den Willen auf die Wahl zu wirken, und das gleiche gilt für den Schwäbischen Bund, es gilt für die politisch aktiven Mitglieder des Fürstenstandes, sowohl für einen so gesinnungslosen Politiker wie Heinrich von Lüneburg wie für einen so überlegenen und überlegten wie Herzog Georg von Sadisen. — Diese Gruppen hatten keine einheitliche Meinung, kaum ein politisches Ziel, aber sie waren einig darin, daß ein Franzose in Deutschland nicht gewählt werden durfte. Und hinter ihnen stand nun das Literatenvolk, das der Humanismus geschaffen und organisiert hatte, Agitatoren von Beruf und einig in der Vertretung des romantischen Patriotismus, der das bedeutendste Ergebnis der Maximilianzeit war. Es gab jetzt in Deutschland so etwas wie eine öffentliche Meinung, und dieser konnten sich auch die Kaiserwähler nicht entziehen. Merkwürdig, daß bei alledem nun doch die Verhandlungen über die Kaiserwahl einen Gang zeigen, der sich aus der Sache selbst erklären läßt. 73

Dieser erste europäische Machtkampf großen Stils auf deutschem Boden, dessen Echo wir bis nach Rußland verfolgen können, hat sich zwar in den Formen einer ordinären Bestechungsaffäre abgespielt; er ist auch noch ganz von der ideologischen Phraseologie umgeben, die aus der Ideenwelt der alten respubJica christiana und aus dem nun auch schon zwei Jahrhunderte alten Kampf zwischen der deutschen und französischen Auffassung von der Nachfolge Karls des Großen übriggeblieben war. Aber man darf doch sagen, daß in ihm alle lebendigen Tendenzen der Zeit zur Anschauung gekommen sind. Dafür war zunächst wichtig, daß die beiden rivalisierenden Mächte selbst ein vollständiges Bewußtsein von der Bedeutung der Entscheidung hatten. Franz I., in dessen Wesen sich in echt französischer Weise ritterliche Phantastik und die Fähigkeit zur Erfassung des politischen Moments mischten, der es verstand, der erste Ritter an seinem Hofe zu sein und doch ein Heer von vorzüglichen diplomatischen Agenten seinem ganz persönlich hervortretenden "Willen dienstbar zu machen, hat es wiederholt ausgesprochen, daß die deutsche Krone in der Hand Karls eine beständige Bedrohung seiner Lande und der ganzen neuerrungenen Machtstellung Frankreichs bedeute. Auf der habsburgi sehen Seite sehen wir im Vordergrund Margarete, die Statthalterin der Niederlande, die erste der politischen Frauen dieses Zeitraumes, dann die habsburgischen Räte aus der Sdrale Maximilians und vor allem den politisch bedeutendsten Kopf dieses Kreises, den Niederländer Maximilian von Zevenberghen, der sehr wohl wußte, daß man deutsche Fürsten wohl in ihren Eigenheiten schonen müsse, ihnen aber nur durch Macht imponieren könne. Sie alle sind einig darüber, daß die von Maximilian zusammengefügte österreichisch-burgundische Macht ohne die Kaiserkrone auseinanderfallen müsse. Was Karl selbst hier etwa noch an Einsichten fehlen mochte, das ersetzte er durch einen früh auftretenden Herrscherwillen und persönlichen Ehrgeiz; als vorübergehend am Hofe Margaretes der Gedanke auftauchte, wenn sich die Wahl Karls als zu schwierig erweise, seinen Bruder Ferdinand als Thronkandidaten vorzuschieben, erhob sich Karl von Spanien aus mit solcher Energie, daß Margarete entschuldigend nachgab. Nicht die gleiche politische Klarheit können wir von den deutschen Kurfürsten erwarten. Dennoch gibt es auch bei ihnen etwas, was wir ein Reichsbewußtsein nennen können. Dieses konnte nur an die Ideen Bertholds von Henneberg anknüpfen, und dann mußte man versuchen, ob es möglich sei, das Reich noch jetzt aus den politischen Kombinationen der beiden Parteien herauszuziehen und einen einheimischen Herrscher zu wählen, der sich dann von den beiden Weltmächten hätte suchen lassen können. 74

Friedrich der Weise hat diesen Gedanken gehabt. Er hat zunächst eine Verständigung mit Brandenburg und Mainz angestrebt. Er hoffte mit diesen auch die anderen Kurfürsten "zu einer grundsätzlichen Einigung über eine freie Kaiserwahl zu bringen. Er versah sich dabei sogar des Beistandes der „andern Stände außerhalb Teutscher Nation". Das wäre eine Anknüpfung an die alte Kurfürstenpolitik aus den Tagen Ludwigs des Baiern und Sigismunds gewesen. Aber jetzt wie damals zeigte sich, daß das Kurfürstenkollegium zu keiner wirklichen Einheit zu bringen war. Zu dem neuen Gegensatz zwischen Brandenburg und Sachsen kam der alte der ostdeutschen und westdeutsdien Interessen. Die rheinischen Kurfürsten versagten sida Friedrich, sie traten unter sich zu Wesel zusammen und wahrten in ihrer Weise die Interessen des Reichs, indem sie die Ansprüche des Papstes, ihnen für die Kaiserwahl Vorschriften zu machen, schroff zurückwiesen. Es ist bezeichnend, daß Friedrich von Sachsen dagegen formale Bedenken hatte und sich von seinen Wittenberger Professoren und den Leipzigern seines Vetters Georg gelehrte Gutachten erstatten ließ, ob auch ein Nichtdeutsdier zum Kaiser gewählt werden könne, und ob die Kurfürsten, welche schon vorher ihre Stimme vergeben hätten, zu der Wahl überhaupt zugelassen werden sollten. Glaubte er wirklich mit solchem Papier gegen die längst begonnene Agitation der beiden Parteien aufzukommen? Gewiß ist, daß er den einzigen Weg nicht sah, der einer dritten Partei in Deutschland hätte zum Siege verhelfen können. Denn es gab eine andere Möglichkeit f ü r Friedrich Parteihaupt zu werden. Er mußte zeigen, daß er die Kraft und den Willen hatte den Reichsfrieden aus sich zu wahren. Die Gelegenheit lag vor ihm, sie konnte nicht günstiger geboten werden. Zwischen den Mitgliedern des weifischen Hauses bestanden alte Feindschaften. Der Unruhigste war Heinrich der Mittlere von Lüneburg, er war zugleich der eifrigste Parteigänger des französischen Königs. Mit französischem Gelde und mit geldrischen Hilfskräften war er im Begriff sich auf seine Gegner, die Herzoge von Wolfenbüttel und Kalenberg zu werfen. Friedrich konnte als Vikar des Reiches im Gebiete des sächsischen Rechts, aber auch als Verwandter der Angegriffenen und des Angreifers einschreiten, sein Vetter, Herzog Georg, spornte ihn dazu. Die Einnahme von Minden 1519 durch den Bischof Johann von Hildesheim, den Verbündeten des Lüneburgers, war ein offener Bruch des Landfriedens. Aber dem Kämpfenden mit bewaffneter H a n d Frieden zu gebieten war gegen Friedrichs N a t u r und gegen die Überzeugung, die er sich vom rechtlichen Austrag solcher Händel gebildet hatte. So gab es also keinen Führer einer aktiven kurfürstlichen Politik mit festen außenpolitischen Zielen, und es blieb deshalb für die deutschen Wähler 75

nur ein Ziel übrig: einen Herrsdier zu wählen, von dem man hoffen konnte, daß er das Verhältnis zwischen Kaiser und Reich, wie es aus den Verfassungskämpfen unter Maximilian hervorgegangen war, möglichst unverändert lassen werde. Dazu aber schien Karl von Spanien immerhin noch die größere Aussicht zu bieten. Wenn die Franzosen den Kurfürsten vorstellten, daß mit der Wahl Karls die Krone im Hause Habsburg erblich zu werden drohe, so madite das doch viel weniger Eindruck als wenn die habsburgisdien Agenten, die populären Vorstellungen benützend, auf die „französische Tyrannei" hinwiesen, die alle Freiheit unterdrücken werde, und auf die französischen Praktiken, die immer Unheil und Zwietracht ins Reich gebracht hätten. Diese Befürchtungen fanden Nahrung in der wenigstens in Süddeutschland allgemeinen Beunruhigung und Furcht, daß der französische König einen bewaffneten Anschlag plane, um sich zum Kaiser zu machen und „das Römisch reich under zu trucken". All das erhielt eine scheinbar schlagende Begründung, als unmittelbar nach dem Tode Maximilians Herzog Ulrich von Württemberg die Reichsstadt Reutlingen einnahm. Denn dieser Bruch des Reichsfriedens durch einen so wenig mächtigen Fürsten schien nur mit französischer Hilfe möglich. Der Überfall auf Reutlingen wurde das wichtigste Hilfsmittel der habsburgischen Agitation, und als sich nun der Schwäbische Bund, dessen vornehmstes Glied österreidi war, erhob und den Herzog nach kurzem Kampf verjagte, da war der Beweis gegeben, daß es nicht gut sei, sich dieser Macht zu widersetzen und sich auf Frankreich zu verlassen. Habsburg besaß nun in Süddeutschland die Stellung, die im Norden sich zu erringen Friedrich von Sachsen versäumt hatte. Hier in Württemberg hat dann die habsburgische Politik überhaupt ihr Meisterstück gemacht. Indem man, vor allem auf den Rat Margaretas, das abgedankte Heer des Schwäbischen Bundes für Österreich warb und mit Sickingens Scharen in der Pfalz zusammenzog, erlangte man die unzweifelhafte militärische Überlegenheit über Frankreich; und indem man, vor allem durch die Geschicklichkeit Zevenberghens, die Schweizer an der Vertreibung Ulrichs interessierte, zog man nicht nur die Schweiz wieder in die allgemeinen deutschen Interessen hinein, Zevenberghen erreichte auch, daß die Schweizer Tagsatzung mit ungewohnter Deutlichkeit erklärte, sie werde einen Nichtdeutschen nicht als Kaiser dulden, und den König von Frankreich ausdrücklich aufforderte, von seiner Bewerbung um die Kaiserkrone abzustehen. Damit hatte die habsburgische Partei den entscheidenden Sieg über die französische errungen. Der König von Frankreich mochte der Wahrheit gemäß erklären, daß er den wiirttembergischen Herzog nicht unterstützt habe, die 76

habsburgische Agitation konnte nun all die populären Strömungen, die sich in der Zeit Maximilians gebildet hatten, in ihr Bett leiten. Der englisdie Gesandte wunderte sich, wie stark die nationale Abneigung gegen die Franzosen hervortrete, und der habsburgische Agent Wolfgang Kessinger hatte wohl recht, wenn er dem brandenburgisdien Kurfürsten vorstellte, d a ß der König Karl und das H a u s Österreich bei den Eidgenossen, etlichen Fürsten und insbesondere bei den Städten und denen vom Adel soviel erlangt habe, daß sie den Franzosen und seinen Anhang nicht mehr zu fürchten brauchten. U n d da um dieselbe Zeit auch Jakob Fugger mit einer Bürgschaft von 130 000 Gulden f ü r die noch ungedeckten Wahlverpflichtungen Karls einsprang, so hatte auch in diesem Punkte die habsburgische Agitation die französische geschlagen. Aber es gab nodi einen Gegner vor dem Ziel, den Papst. Man hat darüber gestritten, ob die Politik Leos X . in der Wahlfrage mehr von Rücksichten auf sein mediceisches Hausinteresse oder auf die Interessen der Kirche geleitet worden sei. Gewiß ist, daß er sich in dieser Sache energischer und fester als sonst gezeigt hat und daß er von vorneherein entschlossen war, eine Wahl Karls von Spanien zu verhindern. So stark wirkten die ghibellinischen Erinnerungen der Vergangenheit des Papsttums, auf die sich der Papst denn auch ausdrücklich bezog. W a r u m er freilich den in den Verhandlungen von 1518 festgehaltenen Plan, einen deutschen Kurfürsten zur Krone zu befördern, alsbald preisgab, ist nicht auszumachen. Sicher ist, d a ß er für Franz getan hat, was er konnte. Schon die Wahl des päpstlichen Nuntius Roberto Orsini, der als Führer seiner Gesandtschaft in Deutschland erschien, zeigte, daß es Leo nichts ausmachte, in dieser Sache offen als franzosenfreundlich zu gelten. Freilich die laute und prahlerische französische Agitation billigte er nicht, sie schien ihm, darin behielt er recht, f ü r den deutschen Charakter zu aufdringlich zu sein. Aber erst als die Wahl des französischen Königs ganz aussichtslos geworden war, ändert Leo seine Politik. Noch sucht er einen Ausweg. Wenn es jetzt noch gelang einen Dritten, einen deutschen Fürsten zum Kaiser wählen zu lassen, war die spanische Gefahr wenigstens f ü r den Augenblick beseitigt. Es gab nur einen Kurfürsten, von dem man hoffen konnte, daß er die Stimmen der andern auf sich vereinigen könne, wiederum Friedrich von Sachsen. Eben weil er, von allen umworben, sich gegen niemand gebunden hatte, konnte er der „Dritte" sein, den man suchte. Um die Mitte des Juni 1519 ist dieser Plan ganz nahe an die Verwirklichung gekommen. Der Papst und Frankreich einig f ü r Friedrich, auch England gewillt die Wahl zu fördern, die Stimmen der am meisten zu Frankreich neigenden Kurfürsten, Brandenburg, Pfalz, Trier, für ihn bereit. Was Friedrich selbst

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zu tun versäumt hatte, das wurde ihm jetzt von außen entgegengetragen. Aber Friedrich lehnte ab. Als er den Grafen Friedrich von Solms, seinen vertrautesten Rat, fragte, ob er die Würde annehmen solle, erwiderte dieser, dazu gehörten zwei Dinge, Weisheit in der Regierung und Ernst und Nachdruck im Strafen; jene besitze der Kurfürst in vollem Maße, diese nicht. Und Friedrich gab ihm redit. Am 28. Juni 1519 ist dann Karl von Spanien in der hergebrachten feierlichen Form einstimmig zum römischen König und künftigen Kaiser gewählt worden. Audi der Kurfürst von Brandenburg, der bis zum Schluß französisch blieb, hat für ihn gestimmt, nur mit dem Protest, daß er diese Wahl aus rechter Furcht tue und nicht aus rechtem Wissen. Es war ein teuer erkaufter Sieg. Die habsburgische Wahlkostjenrechnung belief sich schließlich auf 852189 fl., darunter fast genau die Hälfte reine Bestechungsgelder an die Kurfürsten und ihre Räte; auch für Sachsen hatte sich schließlich ein Preis gefunden, der das Gewissen des Kurfürsten unbelastet ließ. Aber der Sieg war den Aufwand wert. Die Kaiserkrone in der Hand Karls von Spanien bedeutete in der Tat, wie Wolsey gesagt hatte, die Herrschaft über die Welt. Es war ein Sieg über Frankreidi, das nun aus der Angriffsstellung, die es seit Karl VIII. angenommen hatte, für fast ein Jahrhundert in» die Verteidigung gedrängt wurde. Es war ein Sieg über das Papsttum, das nun darauf angewiesen war als italienisdie Macht wie als kirchliche mit einem Kaisertum zu paktieren, das in einer noch nicht dagewesenen politischen und geistigen Selbständigkeit neben ihm stand. Wenn sich aus diesem Paktieren noch einmal ein gelasianisches Verhältnis der beiden Gewalten ergeben wird, so wird die neue Papst-Kaisermonarchie doch etwas anderes sein, als die alte gewesen war. — Es war endlich ein Sieg über die divergierenden Tendenzen des deutschen Reichskörpers, um so größer als er schließlich in den Formen des Reichsrechts erfochten worden war. Der Druck der bereitstehenden Waffen hatte sich öffentlich nicht geltend zu machen gebraucht. Es war wohl richtig, was der englische Botschafter Richard Pace nach dem vollzogenen Wahlakt sagte, daß die Kurfürsten auch Karl nicht gewählt hätten, wenn sie nicht für sich gefürchtet und von jeder anderen Wahl den Ruin des Reichs besorgt hätten. Für die Welt erschienen die Vertreter des Reichs bei der Wahl in unerwarteter und deshalb umso wirkungsvollerer Einheit. Schwieriger als die europäische Bedeutung der Wahl abzuschätzen war vorauszusehen, welches das Verhältnis des neuen Kaisertums zu den drei großen Machtgebieten sein werde, auf denen es ruhte. Vielleicht konnte man schon : n diesem Augenblick so viel sagen, daß es für alle drei das Ende einer Zeit 78

bedeuten würde, in der die national-staatliche Tendenz zu innerer Festigung im Gleichgewicht mit den Antrieben stand, die sich aus der allgemein europäischen Politik ergaben. Man hat Ximenes den letzten spanischen Staatsmann, Maximilian den letzten deutschen Kaiser genannt, ebenso könnte man Chievres, den Leiter der Politik des jungen Karl, als den letzten Vertreter einer niederländischen Politik im Sinne der burgundischen Zeit bezeichnen. Für Spanien wie für Deutschland wie für die Niederlande bedeutete die Wahl Karls zum Kaiser, daß sie genötigt sein würden ihre Kräfte für das große zentraleuropäische Problem, die Entscheidung des Kampfes um Italien, einzusetzen, und es war sehr fraglich, in wieweit sie dann noch den natürlichen Tendenzen ihrer Entwicklung würden folgen können. Man konnte diese Tendenzen in Spanien in der Fortführung der so glücklich begonnenen Ausbreitung in der neuen Welt und in der Fortsetzung der von Ximenes begonnenen Kämpfe um die Küste Nordafrikas sehen, in Deutschland in einem wirklichen Abschluß der Verfassungskämpfe und in der Vereinigung der nationalen Kräfte zum Kampf gegen die Türken. Für die Niederlande endlich handelte es sich darum, ob sie ihrer Bestimmung als wirtschaftliches und geistiges Austauschland zwischen England, Frankreich und Deutschland, die sie so glänzend zu erfüllen begonnen hatten, ungestört sollten nachgehen dürfen. Es wäre im Sinne dieser Politik gewesen, wenn höchstens ein von Karl abhängiger deutscher Fürst, besonders sein Bruder Ferdinand die deutsche Krone erlangt hätte, aber nicht Karl selbst. Dies alles wurde durch die neue Machtkombination, die die deutsche Kaiserwahl von 1519 bezeichnet, zunächst verhindert. Es war nun entschieden, daß für die nächste Periode der europäischen Geschichte noch einmal die universalen Tendenzen der abendländischen Völkergemeinschaft den Vorrang vor den nationalen behaupten würden. Wie sich dieser neue Universalismus aber auswirken würde, das hing fast ausschließlich von der Persönlichkeit Karls selbst ab. Karl war neunzehn Jahre alt, als er Kaiser wurde. Er wird von allen unparteiischen Berichterstattern als körperlich unentwickelt geschildert und galt auch geistig dafür. Man nahm an, daß er vollständig von seiner niederländischen Umgebung, vor allem von dem Herrn von Chievres abhänge, der mit seiner Habsucht und Herrschsucht Arbeitskraft, Scharfblick, diplomatische Ruhe und Hingebung an die Geschäfte verband. Möglich, daß Karl schon damals anders war, als er schien. Seine Erziehung an dem Hofe seiner Tante Margarete zu Mecheln muß ihn früh gelehrt haben, die höfische Tarnkappe anzulegen, die angeborene Verschlossenheit seines Wesens noch mehr zu betonen. Offenbar setzte seine zarte und langsam wachsende Natur den Anstrengungen der

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ritterlichen und höfischen Ausbildung, denen man ihn unterwarf, Widerstand entgegen. Ein Berichterstatter schildert ihn als mittelgroß, übermäßig hager und sehr schwermütig, mit bleicher Gesichtsfarbe; schon damals traten als beherrschender Zug in seinem Gesicht die eigentümlich geöffneten Lippen hervor, die wir auf all seinen Bildern wahrnehmen. Sein Gouverneur bemerkt einmal, der achtjährige Knabe habe nach dem täglichen Spaziergang von zwölf Kilometern, den ihm sein Großvater Maximilian, der unermüdliche Jäger und Bergsteiger, verordnet hatte, einen ganzen T a g Ruhe gebraucht. Trotzdem mußte schon der Siebeneinhalbjährige vor der Ständeversammlung in Mecheln eine Rede halten, um den Bitten der niederländischen Regierung um eine Beisteuer kindlichen Nachdruck zu geben, und bald sah er sich in das Intrigenspiel hineingezogen, das sich um seine Person zwischen der Regierung des allmächtigen Chievres, dem spanischen und dem deutschen Hof entspann. Seine frühzeitige Mündigkeitserklärung im Jahre 1515 war ein politischer Schachzug von Maximilian und Chievres gegen Margarete, zugleich ein Geldgeschäft seines Großvaters gewesen. Am 7. Mai hatte Karl 150 000 Livres zu zahlen als Belohnung für die Mühe, die Maximilian sich um Karls Sicherheit und den Schutz der Niederlande gegeben hatte. Als dem Sechzehnjährigen ein Jahr später auch die spanische Krone zufiel, hatte er dort mit den Parteien zu rechnen, die entweder das Recht seiner in Wahnsinn verfallenen Mutter oder das seines Bruders Ferdinand gegen ihn vorschoben. Begreiflich, daß der junge Herrscher die Devise Plus oultre, die ihm ein humanistischer Italiener gemacht hatte, zunächst durch ein Nondum ersetzte. Bis er sich vor der Welt entfaltete, sollten noch Jahre vergehen. Trotzdem fällt es schwer zu glauben, daß die zähen und energischen Bemühungen, die er um den Besitz der spanischen Krone machte, die höchst persönlichen Äußerungen, die wir bei der Bewerbung um die Kaiserkrone von ihm haben, nur aus dem Geiste seiner Ratgeber gekommen seien. Karl ist eben doch schon in den jungen Jahren der burgundische Prinz gewesen, als den ihn Ranke charakterisiert hat, der echte Erbe eines Geschlechts, in dessen Wesen und Taten sich der ritterliche Geist des Mittelalters so höchst merkwürdig mit der ordnenden und berechnenden Staatskunst der neuen Zeit mischte. Karl ist sein Lebtag weder ein Spanier noch ein Deutscher geworden. Die Niederlande, wo er geboren war, sind auch seine geistige Heimat geblieben. Die Ansprache, mit der er sich am 16. Juni 1517 von den Ständen der Niederlande in Gent verabschiedete, um sich nach Spanien einzuschiffen, stimmt in T o n und Form ganz mit der großen Abdankungsszene vom 21. Oktober 1555 in Brüssel überein. Es war seine eigene Meinung, wenn er damals in Gent seinen 80

Großkanzler Jean de Sauvage sagen ließ, daß sein Herz bei seinen niederländischen Untertanen bleibe. Sein großer Kampf mit Frankreich ist zunächst ein Kampf um Burgund gewesen. Aber auch die universale Politik, die er als letzter Herrscher in der europäischen Geschichte vertritt, ist Erbe der burgundischen. Sie ist durch ihn über diese hinaus eine Fortsetzung des alten karolingischen Systems geworden, das sich einstmals gerade in diesen Landen zwischen Rhone, Maas und Rhein entwickelt hatte. Man verschiebt also das geschichtliche Problem, wenn man meint, daß mit der Kaiserwahl von 1519 ein Spanier auf den deutschen Thron gekommen sei. Das war Karl nicht, er war es damals auch nicht für die Deutschen. Für diese, soweit wir ihre Stimme vernehmen, war er das edle Blut vom Hause Österreich, auf das man all den Idealismus übertrug, den die Zeit Maximilians für das Kaisertum erzeugt hatte. Die Gegensätze, die dann später aus Karl für die Deutschen den „Welschen und Spaniol" gemacht haben, sind erst durch die religiöse Frage geweckt worden. Damals schlummerten sie noch in der Tiefe. Daß sie vorhanden waren, konnte man höchstens in Rom sehen, wo auf die Kunde von der Kaiserwahl die Spanier Freudenzüge veranstalteten, und unter dem Rufe „Reich und Spanien" durch die Stadt zogen, während die Deutschen gewünscht hätten, daß sie Österreich und Burgund riefen. Es ist aber natürlich, daß man vom Standpunkt unserer deutschen Geschichte gerade unter diesem Gesichtspunkt immer wieder und bis in die neueste Zeit die Frage erörtert hat, wie sich die Geschicke Deutschlands und vor allem, wie sich der Gang der Reformation unter einem einheimischen Kaisertum, besonders unter dem Friedrichs des Weisen, gestaltet hätten. Wir sahen, daß eine solchc Wahl durchaus im Bereich der Möglichkeit lag. Friedrich brauchte nur den drei Stimmen von Brandenburg, Pfalz und Trier seine eigene hinzuzufügen, so war er rechtmäßig gewählter deutscher König. Daß er das getan habe und drei Stunden lang Kaiser gewesen sei, ist Phantasie. Aber setzen wir den Fall, die Wahl wäre erfolgt und Friedrich hätte sie angenommen, welche Aussichten eröffneten sich dann für Deutschland? Es war möglich, daß Friedrich die dauernde Unterstützung Frankreichs fand, aber er mußte dann vergessen, daß auch für ihn Frankreich ein „erbfeind deutschen gezunges" war, er mußte mindestens ruhig mitansehen, daß immer mehr deutsche Fürstensöhne und deutsche Adelige dem verführerischen Einfluß der französischen Hofsitten erlagen, die schon damals ein Moment in der französischen Machtpropaganda waren, und die man auch in England zu 6 Reformation

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befürchten begann. Es war möglich, daß England ihn in Frankreich unterstützte, aber doch nur solange, als Wolsey dies für das Gleichgewicht in Europa für nützlich hielt. Es war denkbar, daß der Papst ihm weiterhin Gunst erwies, aber dann mußte er „seinen Doktor" preisgeben, dem gerade damals die furchtbare Erkenntnis kam, daß der Papst am Ende der Antichrist sein könne. Diesen Möglichkeiten aber standen andere harte Gewißheiten gegenüber. Friedrich hätte wie jeder nidithabsburgische König mit der erklärten Gegnerschaft des Hauses Habsburg zu rechnen gehabt, nicht nur in den Welthändeln, sondern, was wichtiger war, überall in Deutschland. Es war nicht anzunehmen, daß Karl eine leere Drohung ausgesprochen hatte, als er erklärte, wenn irgend ein „Dritter" gewählt werde, so hoffe er sich so zu halten, daß dieser Dritte, wer es auch sei, sehr wünschen werde, sein Freund und Vetter zu sein und zu bleiben. Und auch ein Deutschland unter Friedrich von Sachsen wäre unweigerlich in die großen Kämpfe zwischen Franz und Karl um die Hegemonie in Europa hineingezogen worden. In diesem Kampf neutral zu bleiben war eine Möglichkeit für England, obgleich es damals noch nicht die ganze Gunst seiner insularen Lage gegen das Festland ausnützen konnte, eine Möglichkeit für die Schweizer, die im Bewußtsein ihrer von aller Welt gefürchteten Kriegsmacht auch nach der Wahl Karls erklären konnten, „sie wollten ihre Hand offen behalten", es war keine Möglichkeit für Deutschland. Ebenso sicher war es, daß das Reich selbst sich aus eigenen Kräften weder im Innern noch nach außen dauernd erhalten, daß man ihm aber weder militärisch noch finanziell aufhelfen konnte, ohne auf den geschlossenen Widerstand der Fürsten, der Städte, des gemeinen Mannes zu stoßen, und daß die Lage des Reiches dennoch eine solche Reform aufs dringendste erforderte. Dies sind nicht die Erwägungen nachgeborener historischer Weisheit, es sind die Gedanken der Mainzer Kanzlei, die sich Friedrichs Geheimschreiber Spalatin getreulich abgeschrieben hat, und die Verfasser setzten hinzu: „Darumb ist von noten, das man ein herrn haben muge, der geforcht ist". Dieser Mann war Friedrich nicht. Seine Tugenden waren die eines Privatmenschen. Und wer möchte glauben, daß der Mann, der im Wahlkampf von seinem Vetter Georg aufgefordert, den welsdien Praktiken entgegenzutreten, auf Gott hinwies, der aber anderseits mit der Hartnäckigkeit eines Bauern auf seinem alten Marschallsrccht bestand, neben dem Rat Markt- und Polizeirecht während der Wahl in Frankfurt ausüben zu dürfen, daß ein solcher Mann imstande gewesen wäre, das Reich auch nur soweit zu reformieren, daß es für eine deutsche Nationalkirche Raum geboten hätte, die doch die erste Voraussetzung für die Aufnahme von Luthers Werk durdi die ganze Nation war? 82

Daß Deutschland 1519 ein Bestandteil des Universalreichs Karls V. wurde, war nicht bloß eine Folge der europäischen Konstellation, nicht lediglich eine Wirkung des maximilianischen Imperialismus, es war ebenso begründet in dem Umstände, daß die deutsche fürstliche Aristokratie damals wie später einen erschreckenden Mangel an geistig bedeutenden, vor allem an politisch entschlußfähigen Köpfen zeigte. Es gab in der ganzen deutschen Fürstlichkeit damals vielleicht nur einen einzigen Staatsmann, das war Herzog Georg von Sachsen. Der aber verbrauchte sich in den Aufgaben eines mittleren Fürstentums. Was nach Lage der Dinge für Deutschland zu erreichen war, das haben die deutschen Fürsten trotzdem erreicht. Sie haben den neuen König durch eine Wahlkapitulation gebunden, welche die deutschen Interessen nach Möglichkeit wahren sollte. Auch hier brauchten die Kaiserwähler nicht auf ihre eigenen Interessen zu verzichten. Schon die Goldene Bulle hatte vorgesehen, daß jeder deutsche König vor Antritt seiner Regierung den Kurfürsten als den näheren Gliedern des Reichs alle Privilegien, Freiheiten und Rechte ausdrücklich zu bestätigen habe, eine Bestätigung, die dann nach der Kaiserkrönung zu wiederholen war. Dies taten auch die Wähler von 1519. Sie sicherten sich zunächst ihre alten kurfürstlichen Privilegien, außerdem die Hilfe der königlichen Gewalt gegen alle Bündnisse der Untertanen, des Adels und des gemeinen Volkes, die ihrer fürstlichen Regierungsgewalt gefährlich werden konnten, und gegen etwa daraus entstehenden Aufruhr; sie ließen sich andererseits das alte Recht ihrer eigenen Einung bestätigen, durch die sie erst aus Gliedern einer Wahlvereinigung ein Organ der Reichsverfassung wurden. Aber darüber hinaus sicherten sie sich ihren Anteil an der Regierung des Reichs; sowohl in der auswärtigen Politik wie in der inneren sollte Karl an ihre Zustimmung gebunden sein. Sie sicherten endlich den deutschen Charakter des Reichs, indem sie den Herrscher verpflichteten, zu Reichs- und Hofämtern nur geborene Deutsche zu verwenden, in allen Schritten und Handlungen des Reichs nur die deutsche oder lateinische Sprache zu gebraudien, keinen Reichstag außerhalb deutscher Nation zu halten, kein fremdes Kriegsvolk ins Reich zu führen, den Besitz des Reichs nicht zu mindern, sondern Verlorenes wiederzubringen. In diesen und mancherlei Einzelbestimmungen zeigte sich die Fortwirkung der Reichsreformkämpfe unter Maximilian. Vor allem auch in der wichtigsten, nach der sich Karl verpflichten mußte, ein Reichsregiment aufzurichten, „damit die Mängel, Gebrechen und Beschwerungen allenthalben im heiligen Reich abgelainet, reformiert und in gut Wesen und Ordnung gebracht würden". Schon bei den Augsburger Verhandlungen von 1518 war dieser Gedanke aufgetaucht. Maximilian selbst scheint ihn den Kurfürsten entgegengebracht zu 6*

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haben. Damals im Zusammenhang mit der Wahl Karls zum römischen König hätte die Errichtung des Regiments einen letzten Sieg über die fürstliche Opposition bedeuten können. Jetzt aber richtete sidi die Absidit audi gegen die politischen Traditionen der maximilianischen Politik. Es ist bezeichnend dafür, daß die Kurfürsten in der Wahlverschreibung einen Artikel haben wollten, der die alten Räte Maximilians, die Träger seines Systems, von den Geschäften ausschloß. Dies gelang nicht, aber im übrigen hatte man alle Vorsorge getroffen, daß der künftige Herrscher Deutschlands kein persönliches Regiment einführen, auch nicht die dehnbaren Formen der Reichsverfassung zur Vermehrung der königlichen Gewalt benützen könnte. Gelang es, dieser Wahlkapitulation zur dauernden Geltung zu verhelfen, so war das lange Ringen zwischen Kaiser und Reich zu einem verfassungsmäßigen Abschluß gebracht. Der Kampf zwischen Monarchie und Einung, der sich seit dem Investiturstreit durch unsere Geschichte zieht, hätte mit dem Sieg der ständischen Aristokratie über die Monarchie geendet und zugleich den Platz Deutschlands in der neuen Weltmonarchie fest umschrieben. Es sollte sich zeigen, daß beides so leicht nicht war.

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D I E E N T W I C K L U N G DER REFORMATION ZU E I N E R N A T I O N A L P O L I T I S C H E N BEWEGUNG Für die Entwicklung der Reformation zu einer nationalpolitischen Bewegung ist von der größten Bedeutung geworden, daß mehr als anderthalb Jahre seit der Wahl Karls V. verstrichen, ehe er auf dem Reichstag in Worms in die deutschen Geschicke eingreifen konnte. So erlebte Deutschland ein Interregnum, das sich trotz seiner Kürze an Bedeutung wohl mit dem ersten vergleichen kann. Die allgemeine Unsicherheit im Reiche hatte seit dem Tode Maximilians ständig zugenommen. Die beiden „Vikare" der Reichsgewalt, der sächsische und der pfälzische Kurfürst, waren gleich ohnmächtig. Auch mit der Kaiserwahl Karls wurde es nicht anders. In Niederdeutschland hatte Heinrich von Lüneburg am Tage der Wahl einen großen Sieg auf der Soltauer Heide über seine Gegner davongetragen. Der Sieg kam zu spät für eine Wirkung auf die große Politik, aber die Sieger zahlten nun ihren Gegnern Plünderungen und Raubzüge mit Gleichem heim. In Schwaben hatte der Versuch des vertriebenen Herzogs Ulrich, sidi seiner Herrschaft wieder zu bemächtigen, den schwäbischen Bund aufs neue ins Feld gerufen. Er besetzte ganz Württemberg. Am Rhein waren die Banden Sickingens und Eberhards von der Mark stets in Bewegung, nicht minder gefährlich war der immer unruhige Herzog von Geldern. Als der englische Gesandte vom Wahltag über die Niederlande heimreiste, berichtete er von der überall wachsenden öffentlichen Unsicherheit. Dazu kam die Bewegung in den österreichischen Erblanden nach dem Tode Maximilians, die in Niederösterreich zu einem förmlichen Aufstand, in Tirol zu bedenklichen Gewalttätigkeiten der Bauern geführt hatte. Man sieht, es waren alles noch unfertige Staatsgebilde. Die Herrschaft der Habsburger in ihren Erblanden schien nadi dem Tode Maximilians wenig fester zu stehen als die spanische in Neapel und Sizilien, ja in Kastilien selbst, wo schon der Tod Ferdinands des Katholischen ähnlich gewirkt hatte. Und die Räte Karls meinten, wenn nicht bald Karl oder doch sein Bruder Ferdinand in den Erblanden erscheine, würden die Tiroler schweizerisch werden. Nicht besser war es in Deutschland überhaupt. Der Gewinn der Kaiserkrone bedeutete noch nicht, daß Karl auch in 85

Deutschland herrschen werde. Am 20. Februar 1520 wandten sich die Kurfürsten von Mainz und Sachsen an Karl mit der dringenden Bitte, seine Ankunft in Deutschland zu beschleunigen, um der allgemeinen Verwirrung Einhalt zu tun. Sie sahen einen Brand in Deutschland aufschlagen, wie er früher nie erhört gewesen sei. In dieser kaiserlosen Zeit ist Luther der Held der Nation geworden. Die Leipziger Disputation hatte audi denen, die bisher geneigt gewesen waren, Luthers Handel für ein Mönchsgezänk zu halten, gezeigt, daß hier mehr war. Auf der einen Seite sorgte Ecks unermüdliche Agitation dafür, daß der Aufruhr gegen die geistliche Gewalt, den Luther begonnen hatte, in seiner ganzen Bedenklichkeit sich darstellte; audi die Folgerungen, die man aus Luthers Lehre von der Nutzlosigkeit der guten Werke für den Glauben auf dem Gebiete der praktischen Sittlichkeit ziehen konnte, hob er bereits hervor. Auf der anderen Seite schloß sich die humanistische Opposition immer vollständiger Luther an. Jetzt wurde der Handel Luthers in der Tat eine Fortsetzung des Reuchlinschen, und wie in diesem, so fanden sich jetzt zur Verteidigung Luthers und zum Angriff auf seine Gegner die verschiedensten Richtungen des deutschen Humanismus. Von den konservativen Elsässern um Wimpfeling bis zu den freigeistigen Skeptikern des Mutiankreises war man einig darin, daß Luther die evangelische Wahrheit wieder ans Licht gebracht habe, und daß man sie nicht untergehen lassen dürfe. Wie im Reuchlinschen Streit erhob sich nun auch für Luther die literarische Polemik der Humanisten, mit Eck bekam die humanistische Satire ein neues Stichblatt und der „gehobelte Eck", der aus dem Nürnberger Kreise Pirkheimers hervorging, zeigte die Karikaturkunst der Dunkelmännerbriefe um so viel lebendiger als Ecks barocke Persönlichkeit die der Kölner obscuri an Eigenart übertraf. Wichtiger wurde, daß Erasmus seine Bemühungen fortsetzte, für Luther bei den Mächtigen der Erde zu wirken. Da er selbst gerade in einem heftigen Streit mit mönchischen Gegnern in den Niederlanden verwickelt war, so hatte er doppelten Grund zu wünschen, daß nicht aus dem Handel Luthers ein neuer Angriff der Mönche auf die schönen Wissenschaften und die neue christliche Philosophie erfolge, der er diente. Denn daß auch Luthers Sache in diesen Kreis gehöre, war ihm nun sicher. Freilich, es war ihm nicht recht, daß der Brief, den er am 30. Mai 1519 an Luther als Antwort auf dessen Annäherungsversuch geschrieben hatte, vornehm, gönnerhaft, mäßigend, aber doch zustimmend, alsbald mit einigen anderen Stücken in Deutschland gedruckt wurde. Er fand, daß der Eifer der deutschen Propagandisten der gemeinsamen Sache mehr schade als der Haß der Feinde. Noch empfindlicher war es ihm, als dem 86

großen Brief, den er am 19. Oktober an Albrecht von Mainz richtete, das gleiche widerfuhr. Denn hier hatte er deutlicher als bisher seine Sache mit der Luthers zusammengestellt und die ihnen beiden gemeinsamen Feinde mit der ihm eigenen Plastik gezeichnet: „Auf der Welt lasten Menschensatzungen, lasten die Meinungen und Glaubenssätze der Scholastiker, lastet die Tyrannei der Bettelorden. Es ist dahin gekommen, daß das Fünklein christlicher Frömmigkeit, an dem sich das erloschene christliche Leben neu entzünden könnte, fast crloschen zu sein scheint". Dies, meinte er, habe Luther zu seinem Wagnis getrieben. Aber was Erasmus wollte, das war doch nur, auch den Erzbisdiof für den großen Bund des aufgeklärten Christentums zu gewinnen, den er der Mönchsdummheit entgegensetzen und in den er womöglich auch den Papst einschließen wollte. Das konnte freilich nach seiner Meinung nur in der Stille geschehen. Statt dessen mußte er sehen, wie seine Briefe in dieser Sache sogleich in Deutschland abschriftlich zirkulierten und in Köln, Hagenau, Wittenberg, Basel und Schlettstadt gedruckt wurden. Denn die deutschen Lutheraner wollten von der Vorsicht des Erasmus nichts wissen, sie waren nicht der Ansicht, daß die Wahrheit in der Stille wachse, sie wollten den offenen Kampf. Und Hutten, der die Indiskretion begangen hatte, den Erasmusbrief zu veröffentlichen, bevor ihn Albrecht von Mainz erhalten hatte, verspürte Lust der Führer in diesem Kampfe zu werden. Auch Hutten hatte noch 1518 geglaubt, daß die Streitigkeiten, in die Luther und Karlstadt mit ihren theologischen Gegnern verwickelt waren, ein Möndisgezänk seien, das weder mit dem Kampf für die schönen Studien gegen die Barbarei, noch mit dem Kampf für die deutsche Freiheit gegen die Romanisten etwas zu tun habe. Er hat noch 1519 geglaubt, für diese beiden Ziele den geistlichen Hof des Mainzer Kurfürsten in Bewegung setzen zu können. Die Wendung liegt in seiner Bekanntschaft mit Sickingen, mit dem er in den württembergischen Feldzug ritt, um in Herzog Ulrich auch den Schänder seiner Familienehre zu strafen. In Sickingen sah Hutten die zugreifende Kraft, die er an den deutschen Fürsten vermißte. Nicht lange darauf muß er auch die Sache Luthers mit anderen Augen angesehen haben. Sie erschien nun auch ihm, wie so vielen andern, als eine Fortsetzung des Reuchlinschen Handels, und wie er Sickingen bewogen hatte für Reuchlin einzuschreiten, so wollte er ihn auch für Luther gewinnen. Luther sollte wissen, daß er auf Sickingens Burgen eine Zuflucht haben werde, wenn ihm Gefahr drohe. Er selbst aber war entschlossen, in dem neuen Kampfe seine eigene Stelle zu nehmen. Er wendet sich aufs neue der literarischen Produktion zu, und zwar in der seinem Geiste am meisten gemäßen Form, dem satirischen Dialog. Im April 1520 erscheint die erste 87

Sammlung solcher Dialoge, die Febris prima et secunda, eine ergötzliche Geschichte vom Fieber, das Hutten von sich weg und zu den Kurtisanen und Pfaffen schicken will; dann der Vadiscus oder die Trias Romana, auf einer Sammlung von epigrammatischen Spitzzeilen seines Freundes Crotus beruhend, wie sie die deutsche Literatur seit langem kannte, aber mit furchtbarer Schärfe auf Rom, die große Scheuer des Erdkreises hinweisend, in die zusammengescharrt wird, was in allen Ländern geraubt und genommen ist; dann die Inspicientes, die Anschauenden, wo der Sonnengott und Phaethon auf das Gewimmel des Reichstags von 1518 mit den zechenden Fürsten und dem aufgeblasenen Cajetan hinunterblicken, der wegen des trüben Wetters den Sonnengott exkommunizieren will. Und überall ist der Grundton: Deutschland krankt eigentlich nur an einem Übel, an seiner nichtsnutzigen, müßiggängerischen, unsittlichen Pfaffheit. Von ihr und von Rom kommt die finanzielle Bedrängnis, die politische Bevormundung und die moralische Verderbnis Deutschlands. Wenn es besser werden soll, muß der Kampf gegen sie aufgenommen werden. Auf dem Titel steht Huttens neuer Wahlspruch: Jacta est alea, wie er ihn später verdeutschte: Ich hab's gewagt, und dabei der Kampfruf: Perrumpendum est. Er denkt sich selbst als Führer im Kampf oder als Helfer dem neuen Kaiser oder seinem Bruder Ferdinand. Diesem widmet er dann eine der wirkungsvollsten Schriften des Investiturstreits, die er ein Jahr zuvor in der Fuldaer Bibliothek gefunden hatte, um ihm das darin erscheinende wahre Bild Heinrichs IV. als Muster vorzuhalten. Im Juni gedenkt er Ferdinand selbst in den Niederlanden aufzusuchen. Schon im Sattel schreibt er seinen ersten Brief an Luther. Hutten sieht sich neben Luther als Kämpfer für die durch päpstliche Satzungen verstümmelte Lehre. Luther soll sich neben ihn im Kampf für die neue Freiheit stellen. Es schien nicht unmöglich, daß Luther diese Bundesgenossenschaft annahm. Denn auch er selbst war unterdessen zu neuen Zielen vorgeschritten. Für diesen Abschnitt seiner Entwicklung, den wir als den letzten auf seinem Wege zu einer öffentlichen Persönlichkeit und zur nationalen Führerschaft bezeichnen können, werden wiederum zwei Dinge wichtig. Zunächst, daß der päpstliche Prozeß gegen ihn später, als zu erwarten gewesen war, zum Abschluß kam. Die Gründe waren politische. Der Papst wollte Friedrich von Sachsen in dem Wahlkampf um die Kaiserkrone nicht zurückstoßen. So wurde der Prozeß erst im Herbst 1519 wieder aufgenommen und auch da noch zögernd betrieben. Erst Ende Mai 1520 fanden die entscheidenden Sitzungen in Rom statt, und erst am 15. Juni erging die Bulle Exsurge, in der 41 Sätze aus Luthers Schriften als ketzerisch zusammengestellt waren. Die Schriften, 88

welche diese Sätze enthielten, sollten sofort verbrannt werden, ihm selbst wurde eine Frist von sechzig Tagen gestellt, von der Bekanntgabe der Bulle an gerechnet. Widerrief er bis dahin nidit, so sollte er dem Bann verfallen sein. Jeder Ort, der ihn aufnahm, unterlag dann dem Interdikt, jeder geistliche und weltliche Fürst war verpflichtet ihn auszuliefern. Erst im September 1520 aber begann Eck, der mit der Verkündigung der Bulle in Deutschland betraut war, sein Geschäft. So entstand zwischen dem Augsburger Verhör und der römischen Entscheidung wiederum ein Zeitraum von fast zwei Jahren, in dem Luther vorwärtsschritt, wohl „in Erwartung der Bannbulle", aber doch im Grunde weitergeführt von dem eigenen Gewissen und der literarischen Polemik. Auch f ü r ihn selbst bedeutete da die Leipziger Disputation einen Abschnitt. Es handelte sich nun darum, die neue Bewußtseinstellung, zu der ihn die Gegner hingedrängt hatten, für sich selbst und für die Welt zu klären. Diesmal stand im Mittelpunkt der Begriff der Kirche. Jene erste Vorstellung, die ihm aus dem Ablaßhandel erwachsen war, daß es sich bei den Mißbräuchen, die er bekämpft hatte, nur um Trübungen der Idee der Kirche handele, die man beseitigen könne, ohne ihr Wesen anzutasten, war ihm nun völlig zergangen. Auch der Versuch, die römische Kirche und den römischen Stuhl zu scheiden, wie es die Opposition des asketischen Mönchtums und die der Konzilien getan und er selbst noch im Februar 1519 gebilligt hatte, liegt hinter ihm. Dann kamen die kirchengeschichtlichen Studien, die er machte, um die von ihm selbst den Thesen Karlstadts hinzugefügte These zu beweisen, daß die Gegner die allgemeine Herrschaft des Papstes über die Kirche erst aus den Dekreten der vier letzten Jahrhunderte erweisen könnten. Sie überzeugten ihn, daß die Papstkirche nicht die allgemeine Kirche sein könne, daß die beglaubigte Geschichte der alten Kirche, die heilige Schrift und der Text des Nicaeischen Konzils von einem solchen Vorrang der Papstkirche nichts wüßte. Damit machte nun auch Luther, wie es schon der Erasmische Humanismus getan hatte, den großen Strich durch tausend Jahre christlicher Vergangenheit; er entzog damit dem ganzen System der Anstaltskirche, wie es diese Jahrhunderte aufgerichtet hatten, die historische Grundlage. Indem er es historisch betrachtete, vollendete er seine dogmatische Befreiung. Aber auch dies liegt nun schon hinter ihm. Die „Resolutionen", die er nach der Leipziger Disputation herausgab, behandeln als Wichtigstes die Frage nadi dem Verhältnis von kirchlicher Autorität und Autorität der Schrift. Es machte keinen Eindruck auf Luther, daß man ihn nach dem Ergebnis der Disputation für einen „Böhmen" halten konnte. Wohl aber, daß man ihm das Wort seines verehrten Augustin ent89

gegenhalten konnte: „Ich würde auch dem Evangelium nicht glauben, wenn ich nicht der Kirche glaubte". Und hier nun schied er seinen Glauben auch von dem Augustins. Für ihn konnte die Kirche nur die „Kreatur des Evangeliums" sein. Dann aber ist diese Kirche unsichtbar. Sie hat ihr Kennzeichen nur an den Vergewisserungen des Glaubens in "Wort und Sakrament, und diejenigen Christen, die diesen Glauben haben, sind alle „geistlich getaufet", sie sind alle Priester dieser Kirche. Wiederum eine Erkenntnis, die längst in ihm gelegen hatte, die aber jetzt erst ihre Tragweite zu offenbaren begann. Denn nun galt es, nicht nur die Stelle dieser neuen kirchlichen Gemeinschaft in der "Welt zu bestimmen, sondern auch die ganze Summe der Kulturwerte, die die alte Form der Kirche in sich gefaßt hatte, neu auf einen kirchlichen Gemeinschaftsbegriff zu beziehen, der ebenso allein aus dem Glauben zu gewinnen war, wie der neue Begriff des christlichen Menschen, um den Luther im Kloster zu Erfurt und Wittenberg gerungen hatte. Das ist die Bedeutung der großen Reformationsschriften Luthers aus dem Jahre 1520: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium und Von der Freiheit eines Christcnmenschen. Sie enthalten das Programm der Reformation, die sich nun aus dem Handel Luthers erhoben hatte. Diese Reformation hat mit der alten nichts als den Namen gemein. Es handelt sich nicht mehr um eine Erneuerung der Kirche, wie sie die verschiedenen Reformbestrebungen des Mittelalters gedacht hatten. Es handelt sich um eine Neuordnung von Kirche und Welt, von Geistlichem und Weltlichem, wie sie aus der Erneuerung des Glaubens folgte, die Luther predigte. Nahm er, wie selbstverständlich, von dem Erbe der Vergangenheit und den oppositionellen Regungen der eigenen Zeit in das, was er sagte, so viel auf, als ihm brauchbar schien, so war doch dies alles auf die eine, aus Luthers persönlichem Ergeben entsprungene Frage bezogen: Wie schaffe ich dem Glauben an die AUeinwirksamkeit der Gnade Christi den Raum, den er braucht, um die Welt zu erfüllen? Dann aber war die babylonische Gefangenschaft der Kirche nicht jene, in der sich das Papsttum einst in Avignon befunden hatte: es war die Gefangenschaft, in der die Päpste selbst durch alle Jahrhunderte die Kirche gehalten hatten und aus der diese jetzt durch das Evangelium erlöst werden sollte. Dann mußte Luther, wie er den Ablaß als Mittel der Kirchenbuße zerstört hatte, jetzt auch die Lehre zerstören, welche die Sakramente aus Bezeugungen des Glaubens zu kirchlichen Gnadenmitteln gemacht hatte. Von hier aus rich90

tete Luther seinen Angriff gegen den Mittelpunkt des katholischen Kultus, gegen die Messe als Opferhandlung. — Dann war ferner die Besserung des christlichen Standes nicht eine Reform der Institutionen, auch nicht eine bloße Reform der Sitten und der Bildimg; es war eine Neugestaltung des christlichen Lebens überhaupt, ausgehend von dem Gedanken des Priestertums aller Getauften. Dann aber mußte sich die alte respublica christiana mit ihren Stufen von Heiligkeit und Verdienstlichkeit, mit ihrem großen Dualismus des geistlichen und weltlichen Wesens, mit ihrer Einordnung der Kulturzwecke in die Wechselbeziehungen zwischen dem Reich der Natur und dem Reich der Gnade, durch eine neue Christenheit ersetzen lassen, deren aufbauendes Prinzip die christlidie Gemeinde war, deren soziale Gliederung auf dem von Gott dem Einzelnen verliehenen Amt oder Beruf ruhte, deren sittliche Normen sich einfach aus dem Dienst am Nächsten ergaben. Damit fielen dann nicht nur alle die Beschwerungen des avignonesischen Systems, gegen die sich die Gravamina der deutschen Nation gerichtet hatten, es fiel das ganze System des kirchlichen Rechts, das überall in das christlidie Leben mit Geboten und Verboten eingriff, es fielen unzählige Bräuche, mit denen Glaube und Gewöhnung das kirchliche Leben des Einzelnen und der Gemeinschaften umgeben hatten. Aber auch das weltliche Lehen bedarf dann eines Neubaus von Grund auf. Hier fließen in Luthers Gedanken die sozialen Beschwerden ein, wie sie aus der steigenden Verflechtung des Geistlichen in das Weltliche, aber ebenso aus dem Eindringen des kapitalistischen Geistes in eine im Grunde noch bäuerlidi denkende Nation entstanden waren. Hier bekommt schließlich auch die Reform der Bildung ihre Stelle, von der Luther ausgegangen war, als er sich seine paulinische und augustinische Theologie gewonnen hatte. — Die Summe dieses neuen christlichen Lebens sollte nach Luthers Meinung die Schrift von der Freiheit eines Christenmenschen ziehen. Sie war dgr Form nach ein letzter Anruf an den besser zu unterrichtenden Papst, in ihrer tieferen Absicht ein großartiger Versuch aus der Lehre von der Alleinwirksamkeit des Glaubens heraus die Fundamente einer Glaubenssittlichkeit, die der Angriff auf die Werkgerechtigkeit ins Wanken gebracht zu haben schien, neu zu legen; es war die theologia crucis als Lehre einer neuen Nachfolge Christi. Mit diesen Schriften hatte nun Luther seine Sache zu einer allgemeinen Angelegenheit der Nation, ja der christlichen Welt überhaupt gemacht, und die Nation wenigstens hatte er jetzt in ihren Tiefen erregt. Der Wortführer, den ihr das politische Schicksal bis dahin versagt hatte, erhob sich aus der Tiefe des religiösen Bedürfnisses, und nun zeigte sich, daß das Ringen um den gnädigen Gott nicht bloß die Sache eines Einzelnen war und daß der Streit, der 91

sich darüber erhoben hatte, viel mehr war als eine Angelegenheit der Theologie oder etwa des Fortschritts der Bildung. Hinter die Theologen und Humanisten traten nun überall die einfältigen Laien. Was sie zu Luther hinzog, hat vielleicht am besten der Nürnberger Ratsschreiber Lazarus Spengler in seiner „Schutzrede" ausgesprochen, die zuerst 1519 erschien und ihre besondere Verbreitung dadurch erhielt, daß sie von einem elsässischen Drucker im Mai 1520 der ersten Sammlung deutscher Schriften Luthers beigegeben wurde: „Ob Luthers Lehre", heißt es da, „christlicher Ordnung und der Vernunft gemäß sei, stell ich in eins jeden vernünftigen frommen Menschen Erkenntnis. Das weiß ich aber unzweifelig, daß mir, der sich für keinen hochvernünftigen, gelehrten und geschickten hält, mein Leben lang einige Lehre und Predig so starks in mein Vernunft nie gegangen ist, hab auch von keinem mehr begreifen mögen, daß sich meins Verstands christlicher Ordnung also vergleicht, als Luthers und seiner Nachfolger Lehre und Unterweisung". Das aber war es nun: der kurze und einfache, audi dem einfältigen Gemüt zugängliche Weg zu Gott, den die Mystiker gesucht, die erasmische Religiosität zu zeigen sich erboten hatte, schien ihm durch Luther gefunden. Aber auch ein anderes, das die Nation zu Luther hinzog, tritt bei Spengler hervor, das Heldenhafte seiner Erscheinung: Er ist uneigennützig, denn er sucht „Christum, non quaestum", wie das Wortspiel lautete, er ist tapfer, denn er trotzt dem Papst und seinen Anhängern, er ist demütig, denn er erbietet sich immer zu Recht vor unparteiischen Richtern. — Es war um dieselbe Zeit, daß Dürer sich wünschte zu Dr. Martinus zu kommen, „um ihn mit Fleiß kunterfeien zu können, zu einer langen Gedächtnis des christlichen Mannes, der mir aus großen Ängsten geholfen hat". Noch war diese Volksstimme freilich keine Macht, die Luther schützen konnte. Dafür schien sich eine andere «Aussicht zu eröffnen. Jene Bundesgenossenschaft des Geistes, die Hutten Luther angetragen hatte, konnte und sollte nach Huttens Meinung auch eine politische werden. Es war dafür nicht bedeutungslos, daß im Juli des Jahres 1520 auch Kurfürst Friedrich ernstlich die Möglichkeit erwogen hatte, Luther aus seinen Landen ziehen zu lassen. Dann konnten die Burgen Sickingens und des fränkischen Adels, wo sein Anhang täglich wuchs, ihm eine Zuflucht werden. Luther selbst hielt es für gut, daß der Kurfürst den „feigen Romanisten" das Schreckbild vorführe, was ein Luther für sie bedeute, der nicht mehr als kurfürstlicher Professor und als Doktor der Wittenberger Universität, sondern als ein freier Mann von der Mitte Deutschlands aus zu den wilden Gemütern der deutschen Nation rede. Audi für Luther war „der Würfel gefallen", wie er jetzt mit Huttens Worten 92

sagte; er war auch seinerseits bereit, in diesem Kriege seinen Geist mit dem Huttens zu verbinden. Hutten war unterdessen selbst weiter vorgeschritten. Von Mainz vertrieben und von derselben Verfolgung bedroht wie Luther, wandte er sich mit seinen Schriften nun direkt an das deutsche Volk. Um die Wende des Jahres 1520 begann er deutsch zu schreiben. „Latein ich vor geschrieben hab, das war eim jeden nit bekannt, jetzt schrei ich an das Vaterland, deutsch Nation in ihrer Sprach, zu bringen diesen Dingen Räch". Damit machte Hutten den letzten Schritt zum Gipfel seines schriftstellerischen Ruhmes. Er wird ein deutscher Volksschriftsteller, als solcher der erste und auf lange Zeit der größte politische Publizist der Nation. Zu Beginn des Jahres 1521 erschien aus der „Herberge der Gerechtigkeit", das ist Sickingens Ebernburg, Huttens Gesprächsbüchlein mit einer Verdeutschung seiner Dialoge. Der Titelholzschnitt zeigt links Luther im Mönchsgewand, ein Buch in der Hand, unter ihm der Spruch des Psalmisten: ,Veritatem meditabitur guttur meum', rechts Hutten, ganz im Harnisch, den Zweihänder an der Seite, unter ihm sein Spruch: Perrumpendum est tandem, perrumpendum est. In der Tat, es schien nicht unmöglich, daß Hutten neben Luther den Kampf für die neue Freiheit führte, daß die christliche und die deutsche Freiheit sich im Kampf gegen die Romanisten und das Papsttum vereinigten. „Mögen sie meine Schriften verdammen und verbrennen", schrieb Luther, „idi will dafür ihr päpstliches Recht verbrennen, diese lernäische Schlange, die alle Ketzereien erzeugt hat. Ein Ende soll haben die Demut, die ich ihnen bisher bezeugt und mit Mühe bewahrt habe, denn die Feinde des Evangeliums sollen sich mit ihr nicht brüsten können". Welches aber sollte die Stellung des Kaisers in dem nun beginnenden Kampfe sein? Es ist kein Zweifel, daß auch Luther damals wie Hutten auf Karl gehofft hat. Im August 1520 hat er sich mit einem neuen Rechtserbieten an ihn gewandt. Einst hatte er geglaubt, den Papst nur von seinen schlechten Ratgebern trennen zu müssen, um ihn von der Wahrheit seiner Lehre überzeugen zu können. Nun war ihm der Papst der Antichrist geworden, aber ebenso dachte er es sidi jetzt als einen Teil seiner reformatorischen Aufgabe, den Kaiser von den Schlingen der Romanisten zu befreien. Auf ein Exemplar des ersten Drucks seines Rechtserbietens hat er geschrieben: „Item das ich als selig wer, das ich den jungen romischen königk kundt warnen vor den romanisten, das das jung edel plut nit forfürtt wirt". Zu Beginn des Jahres 1520 hatte er ernstlich gehofft f ü r den Druck seiner Postille ein kaiserliches Privileg zu erhalten. Der Kaiser sollte die große Reformation des geistlichen und welt93

liehen Wesens vornehmen, wie sie die Schrift an den christlichen Adel forderte, vielleicht an der Spitze eines allgemeinen oder doch eines deutschen christlichen freien Konzils. Wenn aber die Gegner auch das verhindern? Dann gibt es noch einen Kaiser, von dem schon die alte Sage wußte, der zum letzten Kampf gegen den Antichrist auszieht. An ihn dachte Luther, als er, genau um dieselbe Zeit, wo er die Schrift an den christlichen Adel verfaßte, in einer Erwiderung an Prierias die Worte schrieb: „Wenn die Romanisten, die das Konzil, das Rettungsmittel der Kirche verhindern, dies Wüten fortsetzen, so sehe ich keine Möglichkeit mehr, als daß Kaiser, Könige und Fürsten mit Waffengewalt diese Pest der Menschheit angreifen und die Sache nicht mit Worten, sondern mit dem Eisen zur Entscheidung bringen. Strafen wir die Räuber mit dem Schwert und die Ketzer mit Feuer, warum greifen wir nicht diese Kardinäle, diese Päpste, diese ganze Rotte des römischen Sodoms, welche die Kirche knechtet und sie verdirbt, mit den Waffen an und waschen unsere Hände in ihrem Blute, um uns und die Unsrigen wie von dem gefährlichsten allgemeinen Brande zu erretten?" Aber je deutlicher es wurde, daß die Sache Luthers eine Angelegenheit der ganzen Nation war, desto energischer erhoben sich auch die Gegner. Schon im Herbst 1520 hatte Eck von Leipzig aus eine Schutzschrift für das heilige Konzil zu Konstanz, die heilige Christenheit, den hochlöblichen Kaiser Sigismund und den deutschen Adel erlassen, die alle Luther mit seinen Schriften beleidigt habe. Und nun traten ihm der Hofprediger des Herzogs Georg von Sachsen, Hieronymus Emser, und im Elsaß der Franziskaner Thomas Murner zur Seite, beides Männer, die einige Zeit lang mit Luther gegangen waren, der eine von der erasmischen, der andere von der mönchischen Reformbewegung her kommend. Sie sahen in Luthers Schrift an den deutschen Adel das Signal zum weltlichen Aufruhr, in der Lehre von der allgemeinen Priesterschaft die Umkehr aller bürgerlichen Ordnung, in der Lehre vom geknechteten Willen den Umsturz aller Sittlichkeit. Luther ist ein neuer Katiüna, er will das deutsche Volk seines alten Ruhmes berauben, daß es die Kirche vor anderen geschützt und an Frömmigkeit alle übertroffen habe. So etwa lagen die Dinge in Deutschland, als Karl nun endlich am 21. Oktober 1520, anderthalb Jahre später als er in Aussicht gestellt und gehofft hatte, von Maastricht, der letzten Stadt seines niederländischen Besitzes, aufbrach, um sich in Aachen feierlich zum deutschen König krönen zu lassen. Mehr als drei Jahre war es her, seit er sich in Middelburg eingeschifft hatte, um sein spanisches Erbe in Besitz zu nehmen. Drei Jahre voll der wichtigsten 94

Ereignisse, die auch einen Mann von weniger bestimmter Herrsdieranlage hätten reifen lassen müssen. Da war zunächst das Ringen und Feilschen mit den kastilischen, aragonesischen und katalonischen Cortes. Schon hier ging es um die Frage, ob die Hoheitsrechte der Monarchie von der vorherigen Bewilligung der ständischen "Wünsche abhängig sein oder ob diese Willigung als freie der Monarchie erscheinen sollte. Schon hier hatte Karl Einräumungen machen müssen, die Demütigungen bedeuteten. Aber er brauchte Geld, und dies wurde ihm bewilligt. Jedoch noch ehe er sich hier die Grundlagen seiner Herrschaft sichern konnte, rief ihn die Kunde von seiner Erwählung zum deutschen Kaiser von Spanien ab. Als er am 26. Mai 1520 von La Coruna in See ging, ließ er das Land in Gärung zurück. Hinter ihm brach der Aufstand, der Comunidades aus, eine Erhebung der Städte zunächst für ihre alten Privilegien, die sich aber bald zu einem Kampf zwischen der Monarchie und einer alle Stände ergreifenden Opposition gestaltete. Hätte sich Karl zwingen lassen, die capitulos del reino, die ihm die Junta der Aufständischen am 20. Oktober übermitteln ließ, anzunehmen, seine spanische Monarchie wäre das erste parlamentarisch beschränkte Königtum in der neueren Geschichte Europas geworden. Karl konnte diesen Forderungen nichts entgegensetzen als den Willen, sich nicht zwingen zu lassen, und hier zum ersten Mal in seinem Leben erlebte er einen Triumph der von sich selbst überzeugten Beharrlichkeit. Aber es dauerte bis zum April des Jahres 1521, bis ihm der Sieg von Villalar Kastilien wieder in die Hand gab, und noch fast zwei Jahre vergingen, bis der große Handwerkeraufstand in Valencia, der unter dem Namen der Germania bekannt ist, überwältigt war. Begreiflicherweise hatte Karl aus der Ferne diesen Vorgängen nicht seine ganze Aufmerksamkeit zuwenden können. Viel bedrohlicher war zunächst die Verwicklung der europäischen Lage, die sich aus seiner Kaiserwahl ergeben hatte. Zwar dazu kam es nidit, daß Franz I. sogleich, wie es ein Politiker vom Schlage Leos X . erwartet und anfangs befürchtet hatte, durch einen sofortigen Angriff auf die niederländischen oder deutschen Besitzungen Karls die Niederlage bei der Kaiserwahl rächte. Dies schien selbst diesem ritterlichen Abenteurer ein zu gewagtes Spiel, zumal da seine Versuche, wenigstens in Niederdeutschland eine Partei der Unzufriedenen für sich zu organisieren, mißlangen, und seine militärischen Kräfte, vor allem der Zustand der französischen Infanterie, einen Feldzug gegen Karl aussichtslos erscheinen ließen. Andererseits war auch Karl nicht in der Lage, die einzige Aktion, die ihn zum wirklichen Herrn in Mitteleuropa gemacht hätte, jetzt vorzunehmen, nämlich sich in Rom mit bewaffnetem Heereszuge die Kaiserkrone zu holen. Das hatte man im Kreise 95

seiner Anhänger gehofft, bei seinen Gegnern als das Gefährlichste befürchtet. Aber dazu hätte Karl mindestens über die müßigen kriegerischen Kräfte des deutschen Reichs verfügen müssen, und diese wiederum konnte er nur persönlich auf einem Reichstag oder einem Kurfürstentag gewinnen. Ein solcher aber, in seiner Abwesenheit gehalten, hätte seinem Grundgedanken von seinen Befugnissen und Aufgaben in Deutschland widersprochen. So hemmten sich hier schon, zu Beginn der großen europäischen Verwicklung, die verschiedenen Tendenzen gegenseitig, die in Karls Monarchie miteinander rangen. Aber die neue Lage, welche die Kaiserwahl in Europa geschaffen hatte, schien allerseits eine neue Gruppierung der Kräfte zu fordern. Auf drei Mächte kam es vor allem an, auf die Schweizer, den Papst und auf England. Die Schweizer zu gewinnen, koste es was es wolle, hatte Karl schon im Oktober 1519 als das Geheimnis aller Geheimnisse bezeichnet. Aber dies erwies sich als unmöglich. Wie die Schweizer schon bei der Kaiserwahl sich zwar entschieden gegen Franz von Frankreich erklärt hatten, aber nicht zu bewegen gewesen waren, sich für Karl auszusprechen, so lehnten sie es jetzt ab, sich über die bestehenden Verträge hinaus mit einem der beiden Teile zu verbinden. Sie wollten die Politik einer beharr liehen Neutralität, die sie seit 1516, dem ewigen Frieden mit Frankreich, ergriffen hatten, zunächst nicht aufgeben. Zu den Lehren von Marignano trat die Friedenspredigt Zwingiis, für die Schweiz begann eine Periode der Zurückgezogenheit. Für Papst Leo X. war mit der Wahl Karls das Schreckbild einer Erneuerung der staufischen Macht in greifbare Nähe gekommen. Es gab zwei Mittel dagegen: eine Verstärkung seiner italienischen Stellung und die Bildung einer europäischen Koalition gegen Karl. Mit beiden Mitteln hätte der Papst die Politik der großen Päpste des 13. Jahrhunderts fortgesetzt. Aber beide erwiesen sich in der veränderten Welt nicht mehr als möglich. Die Schlüsselstellung für die politische und militärische Sicherung des Kirchenstaates lag in Ferrara. Erst wenn der Papst dieses besaß, konnte er hoffen, einen Einbruch in die Romagna abzuwehren. Aber gegen diese Erwerbung stand unbedingt das Interesse Venedigs und teilweise auch das des französischen Mailand. In seinen europäischen Kombinationen aber sah sich der Papst jetzt, wie schon seit 1516, von England überholt. Wolsey trat in die Glanzzeit seines Schiedsrichteramts in Europa ein. Er ist der erste europäische Minister, der, seines Königs und seines Landes völlig sicher, aus diesem Gefühl heraus große Politik treibt. Der venetianisdie Gesandte Sebastian Giustinian, der ihn 1515—19 beobachtet hat, erzählt ergötzlich, wie Wolsey anfangs zu sagen pflegte: „Seine Majestät wird dies und das tun." Dann hieß es: „Wir werden dies und das tun." Und 96

endlich: „Ich werde dies und das tun." Seine Politik ging auch damals auf die Bewahrung des allgemeinen Friedens, aber sie ging auch darauf, daß dieser Friede nicht durch eine Verständigung der Gegner unter sich zustande komme. Hier kam seiner staatsmännischen Kunst die politische Lage aufs beste entgegen. Denn eine Vereinigung zwischen Franz und Karl und zwischen Franz und dem Papste verhinderte der Gegensatz der Interessen in Flandern, Navarra, Italien, aber auch die zufahrende, stark von Augenblicksantrieben geleitete Politik der Franzosen, die schließlich sogar den Papst zu Karl hinüberführte. So konnte Wolsey zunächst seinem König den Triumph bereiten, daß sowohl Karl wie Franz ihn bei Calais auf englischem Boden besuchten, und dann in zwei Zusammenkünften mit Karl, zwischen denen die großartige und märchenhaft prunkvolle Begegnung mit Franz auf dem „Felde des golddurdiwirkten Tuchs" lag, mit beiden Teilen abschließen, ohne sich an einen endgültig zu binden. Auf Franz glaubte er am meisten zu wirken, wenn er den englischen Hof mit dem französischen in ritterlicher Übung wetteifern ließ. Bei Karl hielt er es f ü r besser, ihm in allegorischen Statuen die Bedeutung der englischen Hilfe vorzuführen. Darunter war eine des Königs Artus, unter der stand: Cui adhaereo, praeest. Immerhin war es für Karl ein Vorteil, daß er in Ausschreiben an die deutschen Kurfürsten und an seine Innsbrucker Räte davon sprechen konnte, daß er die alte Freundschaft und das alte Bündnis erneuert, verstärkt und das deutsche Reich in dasselbe einbezogen habe. Aber das war wohl f ü r ihn selbst und sicherlich für seine Räte klar, daß die Behauptung und Erweiterung seiner europäischen Machtstellung davon abhingen, wieweit er die eigenen Kräfte des neugebildeten Weltreichs, die spanischen und die deutschen vor allem, in Bewegung setzen könne. Und da lag es offenbar am nächsten, daß ihm Deutschland zur Erlangung der Kaiserkrone helfe; diese sich zu holen, hatte er ja schon in seiner Wahlkapitulation versprechen müssen. Erst nach der Rüdekehr von der zweiten Zusammenkunft mit dem englischen König, also im Juni des Jahres 1520, konnte Karl, in Brüssel unter seinen getreuen niederländischen Ständen hofhaltend, sidi auch den deutschen Dingen zuwenden und den Zug zur Königskrönung und ins Reich vorbereiten. Nicht leicht ist ein Herrscher in Deutschland mit größeren Erwartungen empfangen worden als er. Die Hoffnungen, die wir Luther und Hutten haben aussprechen hören, waren nur ein Echo der allgemeinen Stimme. Auch ein Mann von der schweren Gemütsart des Bischofs Berthold von Chiemsee, der in Salzburg während der Kaiserwahl sein onus ecclesiae niederschrieb, in dem er die ganzen Prophezeiungen der joachimitischen Richtung zu einem düsteren Weltuntergangsgemälde versammelte, weiß doch eine Prophezeiung auf Karl 7 Reformation

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mitzuteilen, die ihn als Streiter Gottes gegen den Antichrist irdische und himmlische Wundertaten tun läßt. — Realere Motive führten die deutschen Fürsten an den Hof des neuen Herrschers. Massenhaft erschienen sie, unter ihnen auch Sickingen, in Brüssel in der Hoffnung, einen gnädigen Kaiser zu bekommen. Karl war denn auch gnädig gegen alle. Audi das Haupt der Gegenpartei bei der Wahl, der Kurfürst von Brandenburg, fand mit seiner gewundenen Rechtfertigung gnädiges Gehör. Vor allem aber zeichnete Karl den Kurfürsten Friedrich von Sachsen aus. Es schien in der Tat, als wollte er sich seines Rates und seiner Hilfe im Reich vorzüglich bedienen. So konnte denn am 23. Oktober die Königskrönung in Aachen in gewohnter Weise, prächtig und feierlich, vor sich gehen. Auf die üblichen sechs Fragen des Kölners: Willst Du den heiligen überlieferten katholischen Glauben halten und wahren? Willst Du Kirche und Geistlichkeit schützen und verteidigen? Willst Du das Reich nach der Gerechtigkeit Deiner Vorgänger regieren und schützen? Willst Du die Rechte des Reiches wahren, sein Gut, das ihm entfremdet ist, wiederbringen? Willst Du ein gnädiger Richter und ein frommer Anwalt den Armen und Reichen, Witwen und Waisen sein? Willst Du der päpstlichen Heiligkeit und der römischen Kirche die gebührliche Unterwerfung in Treu und Ehrfurcht leisten? hatte Karl mit seinem: Volo geantwortet und dann die Krone empfangen. Drei Tage darauf schon verkündete der Erzbischof von Mainz, daß der Papst dem Neuerwählten gestattet habe, den Titel eines erwählten römischen Kaisers zu führen wie sein Großvater. Es sollte damit unnötig werden, daß Karl sich die Krone sogleich in Rom hole. Am 1. November schrieb der neue Kaiser, vereint mit den Kurfürsten, von Köln aus seinen ersten Reichstag aus. Noch mehr fast als auf den neuen Kaiser waren die deutschen Erwartungen auf den ersten Reichstag seiner Regierung gerichtet. Nach der Goldenen Bulle hätte er in Nürnberg gehalten werden sollen, und Christoph Scheurl hatte schon unter dem Eindruck seiner spanischen Reise in glänzender Phantasie den Kaiser in die alte Reichsstadt einziehen sehen, umgeben von sechs deutschen Kardinälen, zu denen bis dahin vielleicht noch zwei andere, die Bischöfe von Trier und Speier gekommen sein könnten. Man wird die Wahlkapitulation beraten, dann an die Wiederherstellung des Reiches gehen, dann wird man Italien ins Auge fassen, allen Rebellen gegen das Reich den Krieg erklären, auf daß Karl so früh als möglich in Rom die Kaiserkrone empfangen kann. Dann wird er dort seinen Sitz nehmen und von da den Kreuzzug beginnen. Nach diesem wird er die Kriegspforten schließen und der Erdkreis wird ihn als magnus, immo maximus Augustus begrüßen. 98

Es sollte ganz anders werden. Der Reichstag mußte der „sterbenden Läufe" wegen nach Worms gelegt werden, und hier zeigte sich nun, daß die Zusammenfassung der deutschen Kräfte für die Aufrichtung eines neuen Imperiums mindestens dieselben Schwierigkeiten hatte wie die Bändigung der spanischen Opposition. Es zeigte sich außerdem, daß es für das Deutschland von 1521 eine Frage gab, die wichtiger war als alle andern, die Sache Luthers. — Der Wormser Reichstag von 1521 ist in der deutschen Geschichte mit Recht noch berühmter geworden als der von 1495, von dem die alten Reichspublizisten eine neue Aera des Reiches datiert haben. Man könnte das mit größerem Recht für den Reichstag von 1521 in Anspruch nehmen. Denn hier in Worms wurde der letzte Versuch gemacht, Kaiser und Reich in ein verfassungsmäßig geordnetes Verhältnis zu bringen, und hier erfolgte die erste Auseinandersetzung von Kaiser und Reich mit der Reformation. In beiden Punkten war die Haltung des Kaisers von vornherein klar, und wir haben keinen Grund zu glauben, daß er auch hier nur ausgesprochen habe, was seine Räte, vor allem etwa der allmächtige Chievres, ihm geraten hätten. Die Überzeugung, daß fürstliche Macht wirkliche Herrschaft sei, und daß sie Gehorsam ohne Bedingungen fordern müsse, ist bei ihm, soweit wir sehen, ebenso alt wie seine kirchliche Gläubigkeit, die sich früh in den spanischen Formen äußerte, aber nie auf bloßer Konvenienz gegen die Kirche beruhte. So verschiedene Beobachter wie die beiden Nürnberger Christoph Scheurl und Lazarus Spengler haben bezeugt, wie stark dies auch auf deutsche Gemüter wirkte. Vielleicht wären die deutschen Fürsten doch bedenklicher gewesen, Karl zu ihrem Kaiser zu wählen, wenn sie gewußt hätten, daß bereits der 17jährige Jüngling vor seiner Abreise nach Spanien seinem Großvater Maximilian versprochen hatte, er wolle ihn unterstützen, Ordnung im Reiche zu machen und die Fürsten und alle anderen im Reiche zum wahren und gebührlichen Gehorsam zurückzuführen. Daß Karl die Unordnung vor allem verabscheute, sahen alle, die ihn beobachteten, und wo gab es mehr Unordnung als in Deutschland? Es war klar, daß Karl die Wahlkapitulation, die man ihm auferlegt hatte, nicht so auffaßte, als sollte er nun als ein ständisch gebundener Herrscher in Deutschland regieren. In einer seiner ersten Kundgebungen an den Reichstag sagte er, es sei sein Wille und Gemüt, daß Deutschland nicht viele Herren, sondern einen haben solle. Auch das zeigte sich sogleich, daß Karl zu seinen Herrscherpflichten die Erhaltung der kirchlichen Autorität rechnete. Er hatte beiden päpstlichen Gesandten, Caracciolo und Aleander, schon bei ihrer ersten Audienz in den Niederlanden versichert, daß er zur Verteidigung der Kirche sein Leben einr

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setzen werde. In einem Punkte hatte er ihren "Wünschen sofort nachgegeben. Ein erstes, am 28. September 1520 für seine niederländischen Besitzungen erlassenes Mandat befahl die Verbrennung aller Schriften Luthers und seiner Anhänger. Die ersten Bücherbrände fanden schon im Oktober in Löwen und Lüttich statt. Es ist nicht wohl zweifelhaft, daß Karl nach seiner eigenen Gesinnung auch dem weiteren "Wunsch der päpstlichen Nuntien, dem päpstlichen Bann die Acht für das Reich folgen zu lassen, ohne weiteres entsprochen hätte. Aber er sollte erfahren, daß sich gegen diese Auffassung seiner Herrschaft im Weltlichen wie im Geistlichen in Deutschland die stärksten "Widerstände erhoben. Es war noch die mildeste Ansicht der Opposition, daß der Reichstag vor allem dazu da sei, die Versprechungen der "Wahlkapitulation zu sichern und den Kaiser sowohl nach innen wie nach außen fest an den Willen des Reiches zu binden. So dachte etwa Friedrich von Sachsen. Viel weiter gingen die Befürchtungen anderer Kreise, besonders des kleineren Fürstentums. Sie sahen in der Vertreibung Ulrichs von "Württemberg eine "Warnung, daß der Kaiser das Fürstentum mit Hilfe der Städte überhaupt unterdrücken wolle. Hatte Karl nicht in diese Vertreibung gewilligt, hatte er nicht dann "Württemberg dem Schwäbischen Bund abgekauft und damit die Macht des Hauses Österreich in Oberdeutschland großartig verstärkt? Sah man ihn nicht bemüht, den Schwäbischen Bund zu einer scharfen "Waffe der habsburgischen Politik zu machen, wie es Maximilian nie gelungen war? Standen nicht neben ihm immer noch die alten deutschen Räte Maximilians, deren Entfernung die Fürsten vergeblich verlangt hatten? Sie vermuteten ganz richtig, daß hier die Gedanken zu Hause seien, den deutschen Ungehorsam in jeder, auch der fürstlichen Form zu brechen. Es war in der Tat vortrefflich auf das Königsbewußtsein Karls berechnet, daß die habsburgischen Räte dem Kaiser vorstellten, als Herr von "Württemberg würde er so mächtig werden, daß ihm die anderen Fürsten zu Hofe müßten reiten, und daß er dann, selbst ohne das Kaisertum, den anderen Fürsten „Gesetz und legem zu setzen" vermögen werde. — Der Reichstag mußte in der politischen wie in der religiösen Frage zeigen, auf welcher Seite, ob bei dem Kaiser oder bei der Fürstlichkeit, die das Reich vertrat, die stärkeren Kräfte standen, und es handelte sich dabei ebenso sehr um die deutsche Verfassung wie um das politische Schicksal der Reformation. Der Kampf um die Reichsverfassung spielte sich als ein Kampf um das zu errichtende Reichsregiment ab. Es war in der "Wahlkapitulation von den Kurfürsten gefordert, von den Kommissaren des Kaisers zugestanden worden. Aber diese hatten von vornherein nur an eine Vertretung des Kaisers für die 100

Zeit seiner Abwesenheit vom Reiche gedacht, einen Statthalterrat, wie ihn Karl für seine österreichischen Lande bereits eingesetzt, für Spanien bei seinem Weggang zurückgelassen hatte. Die Stände aber griffen in ihrem Entwurf einer Regimentsordnung vom 22. Februar auf die Ordnung des Jahres 1500 zurück, auf ein Dokument, das Maximilian unter dem Druck seiner Niederlagen in Mailand und der Schweiz hatte unterzeichnen müssen, und von dem er noch mit besserem Recht als von dem ersten Versuche einer ständischen Beschränkung seiner Herrschaft im Jahre 1495 hätte sagen können, daß man damit versucht habe ihn gebunden an die Wand zu henken wie einst König Gunther. Auch Karl hat den Entwurf der Stände als einen Versuch empfunden, ihn unter Vormundschaft zu stellen. Darum handelte es sich hier in der Tat: nicht bloß um die Abgrenzung königlicher und ständischer Befugnisse, auch nicht bloß um die Frage, ob man einen „Präsidenten" einer ständischen Regierung oder einen Statthalter kaiserlicher Majestät im Reiche haben wolle; es handelte sich schließlich um den Begriff des Reichs überhaupt. Die Räte Karls haben damals deutlich ausgesprochen, daß es sich nicht gebühre, wenn „das Regiment und das, so regiert wird, in einem Stand und Wesen sein". Das Reich ist für sie nichts anderes als die Summe der Regierten. Die Stände aber haben sich ebenso deutlich zu der Auffassung bekannt, daß das Reich, das sich den Kaiser setze, in ihnen repräsentiert sei und bleibe, und sie leiteten daraus, wie schon unter Maximilian, das Recht ab, daß dieses Reich neben dem Kaiser als Macht unter Mächten erscheine, mindestens in allen Sachen, die seine Lebensfragen berührten. Dazu rechneten sie, wie schon immer, auch den Widerstand gegen die „Anfechter christlichen Glaubens", da Reich und Christenheit von einander nicht zu trennen seien. Man sieht: beide Teile zogen so ihre Folgerungen aus dem Begriff des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation mit seiner Mischung von monarchischem und bundesgenössischem Wesen, mit seiner Vereinigung von universalen und nationalen Interessen, wie es durch die Jahrhunderte geworden war. Was schließlich am 26. Mai 1521 zustande kam, war ein Kompromiß, bei dem in der Form und in den Einzelheiten die Stände Recht behielten, in der Hauptsache der Kaiser. Es war nun doch nur ein Regiment für die Zeit seiner Abwesenheit, es war ein „kaiserliches Regiment im Reiche" mit einem Statthalter des Kaisers an der Spitze und mit Vorbehalt aller kaiserlichen Rechte. Der Kampf der gegnerischen Kräfte war hier nicht entschieden, nur vertagt; höchstens das war deutlich geworden, daß man durch Verhandlungen nicht zu einer deutschen Verfassung gelangen könne. In diesem Zwiespalt gingen auch alle anderen Entwürfe unter, die eine Neuordnung der rechtlichen und 101

sozialen Fragen im Reich anstrebten. Weder die peinliche Halsgerichtsordnung, für die in der Bamberger Ordnung Johanns von Schwarzenberg ein Muster vorlag, noch eine Polizeiordnung, welche die Auswüchse der kapitalistischen Entwicklung und des Luxus abschneiden sollte, kamen zustande. Was man dann weiter an Landfrieden und Kammergericht änderte, traf nirgendwo den Sitz des Übels und konnte ihn nicht treffen. Denn dazu hätte man einem staatlichen Körper, dessen Repräsentation nun schon tatsächlich dualistisch war, von der einen oder der anderen Seite her die Mittel zur Vollstreckung seines richterlichen und gesetzgeberischen Willens geben müssen. Diese Mittel aber besaß weder der Kaiser noch das Reich, sondern nur das territoriale Fürstentum, und dieses war nicht gewillt, sie sich entreißen zu lassen. Derselbe Widerstreit der Kräfte wie hier, zeigte sich nun auch in der Sache Luthers. Aber daneben auch anderes. Gegen die Wünsche der päpstlichen Nuntien, daß der Kaiser dem päpstlichen Bann sogleich die Acht gegen Luther folgen lasse, hatten sich sogleich die reichsrechtlichen Bedenken der deutschen Räte erhoben. Sie konnten sich auf eine Bestimmung der Wahlkapitulation stützen, wonach der Kaiser niemand ohne ordentliches Verhör sollte in die Acht erklären dürfen. Daß aber Luther nicht ordentlich verhört worden sei, das war nicht nur die Uberzeugung der Juristen, es war die allgemeine Meinung. Hier kamen sich die verschiedenen Richtungen des deutschen öffentlichen Geistes entgegen: der Wunsch nun doch noch zu einer deutschen Pragmatik gegen die Übergriffe der kirchlichen Gesetzgebung in das öffentliche Leben der Nation zu gelangen, die humanistische Überzeugung, daß man Wahrheiten nicht mit Feuerbränden unterdrücke, die nationale Erregung, daß nun endlich Deutschland sich gegen den römischen Trug wehren müsse. In diesem Sinne hatte Luther schon 1518 nach dem Verhör vor Cajetan seinem Kurfürsten vorgestellt, daß es nicht damit getan sei, wenn er auch wirklich seine Meinung widerrufen wolle, die Welt verlange Gründe. Dieser Meinung hatte sich die Universität Wittenberg angeschlossen. Dies hatte Kurfürst Friedrich selbst, der im übrigen seine Haltung in der Sache Luthers nach den „Auszügen" des deutschen Rechtsganges eingerichtet hatte, der Kurie bereits im August 1520 vorgehalten. Hierauf zielte auch schon der Kampfruf der ganzen Bewegung: „Germania resipiscit". Die ganze Summe dieser Widerstände war Karl und den päpstlichen Nuntien schon entgegengetreten, als sie im Oktober 1520 nach der Aachener Krönung in Köln weilten. Hier fand Aleander, dessen Berichten wir den lebendigsten Einblick in die Bewegung verdanken, alle Kräfte und Streitmittel der Feinde des heiligen Stuhls versammelt. Er nennt als die wichtigsten einige 102

geistliche Fürsten, sehr viele arme Edelleute, viele Geistliche in niedriger Stellung und als die giftigsten die „armseligen Poeten", die den Flugschriftenund Satirenkampf führten. Auch das sah er, daß ganz Deutschland auf die hier zu fassenden Beschlüsse mit gespanntester Erwartung blickte. Hier in Köln fand man an den Mauern Luthers „Erbieten" angeschlagen, sich zu einem Verhör vor unparteiischen Richtern zu stellen, daneben ein satirisches Gedicht auf Leo X . als den Nachfolger des Simon Magus und daneben eine „Neue Zeitung", die das Erscheinen des „Judensprößlings" Aleander den Neugierigen kundtat. Hier in Köln erschien nun endlich der vom Kaiser lange erwartete Kurfürst Friedrich, begleitet von seinem getreuen Spalatin, der schon längst der Vermittler zwischen ihm und Luther gewesen war. Friedrich hat, soweit wir sehen, sogleich Luthers Begehren um ein unparteiisches Gericht vor dem Kaiser vertreten. Hier war Sickingen, der sich für Hutten verwandte und Luther seines Beistandes bei der Verfechtung der christlichen Wahrheit versicherte. Hier war Erasmus, der sich der neuen Herrlichkeit Karls geflissentlich genähert hatte und in Calais bei dem Feld der golddurchwirkten Kleider, in Aachen bei der Krönung zugegen gewesen war. Hier in Köln ließ er sich von Spalatin seine Axiomata über die lutherische Sache entreißen. Das erste lautete: Die Verfolgung Luthers hat einen üblen Ursprung. Sie entspringt dem Haß gegen die schönen Wissenschaften und dem Wunsch nach tyrannischer Herrschaft. In dem vorletzten aber hieß es: Die Welt dürstet nach der evangelischen Wahrheit, ihr Drang dahin scheint vom Schicksal bestimmt. Hier in Köln verabredete Erasmus mit dem Augsburger Dominikanerprior Johann Faber, einem alten Vertrauten Maximilians, einen Plan, wie die lutherische Tragödie vielleicht doch noch zu einem guten Ende gebracht werden könne, ohne der Autorität des Papstes etwas zu vergeben. Drei christliche Fürsten, Karl V., Heinrich von England und Ludwig von Ungarn, gleichsam als Vertreter der nun dreigeteilten respublica christiana, sollten die Sache an sich nehmen und einen Gerichtshof von unparteiischen Männern bestellen — die Vertretung des aufgeklärten Europa — vor dem Luther sich zu verantworten hätte. Der Wormser Reichstag sollte sein Fürwort zu diesem Plane geben. Karl mußte nachgeben und sich entschließen, Luther zu hören. Daß dies in Verbindung mit dem Reichstag geschehen sollte, war ein Gedanke seiner Räte, des Grafen Heinrich von Nassau und Gattinaras vor allem; der eine war von der nationalen, der andere von der erasmischen Bewegung berührt. Aber Chievres stimmte zu. Der Kurfürst selbst sollte Luther zum Reichstag mitbringen. Was weiter geschehen sollte, haben sie schwerlich erwogen. Es kam ihnen wohl zunächst darauf an, daß dem Kurfürsten jeder Vorwand 103

genommen werde, dem Reichstag fern zu bleiben. Denn ohne ihn war an die Erledigung der großen Fragen des Reichsregiments, der Romzugshilfe und aller anderen nicht zu denken. Es scheint, daß der päpstliche Legat Aleander allein die ungeheure Gefahr sah, die für die römische Sache in diesem Zugeständnis lag. Mit all seiner Beredsamkeit und all seinem Scharfsinn hat er sich dagegen eingesetzt. Es ist ihm gelungen, den Kaiser und seine Ratgeber umzustimmen. Karl widerrief die schon erlassene Aufforderung an der Kurfürsten Friedrich, Luther auf den Reichstag zu bringen. Er war jetzt entschlossen, dem nach Ablauf der Verkündigungsfrist rechtmäßig gewordenen päpstlichen Bann die Adit folgen zu lassen. Schon war ein kaiserliches Edikt fertiggestellt, das, nach Aleanders Entwurf, die drei Forderungen der Bannbulle, Gefangensetzung Luthers, Vernichtung seiner Schriften und Friedloserklärung aller seiner Anhänger zu kaiserlichen Geboten erhob. Da erschien am 5. Januar 1521 Friedrich der Weise in Worms. Es gelang ihm, den Kaiser bedenklich zu machen, indem er ihn an die Kölner Zusage erinnerte, daß Luther nicht ungehört verurteilt werden solle. Aleander mußte seine Arbeit von neuem beginnen. Es kam ihm zustatten, daß unterdessen der Papst den Kaiser direkt aufgefordert hatte, seines Amts als Schützer des christlichen Glaubens zu walten. Anfang Februar schien er aufs neue gesiegt zu haben, ein neues Mandat gegen Luther, im wesentlichen dem ersten gleich, war vom Kaiser genehmigt. Aber unterdessen war der Reichstag eröffnet. Die kaiserlichen Räte hatten einen genügenden Einblick in die Widerstände bekommen, die sich gegen eine autoritative Regelung der deutschen Frage in Worms zusammengeballt hatten. Es schien ihnen nötig, aber auch unbedenklich, die Stände wenigstens zu hören. So traten sich hier in der Sache Luthers, ebenso wie in der deutschen Verfassungsfrage, Kaiser und Reich gegenüber. Freilich die Lage war verschieden. Die Stände waren sich bewußt, daß sie eine Verdammung Luthers durch den Kaiser allein rechtlich nicht hindern konnten. Wir sehen nicht, daß sie sich auch nur auf die Bestimmung der Wahlkapitulation berufen hätten, wonach der Kaiser niemand ohne genügendes Verhör in die Acht erklären sollte, wie denn auch diese Bestimmung zweifellos nicht auf Luther gezielt hatte. Audi fehlte viel daran, daß sie in der Beurteilung der Sache Luthers unter sich einig gewesen wären. Nur der pfälzer Kurfürst hat neben dem sächsischen Luthers Partei genommen. Aber bei allen war das Gefühl, daß die lutherische Bewegung längst zu stark geworden sei, als daß sie durch ein einfaches kaiserliches Edikt gedämpft werden könne. Wie es damals im Volke aussah, hat Aleander in seinen Depeschen vortrefflich geschildert. In 104

Deutschland schien ihm ein Schisma ausgebrochen, mit dem verglichen das zwischen Heinrich IV. und Papst Gregor nichts als Veilchen und Rosen gewesen sei. Er fand im Februar 1521 ganz Deutschland in hellem Aufruhr. „Neun Zehnteile", sagt er, „erheben das Feldgeschrei Luther, und für das übrige Zehntel, falls ihm Luther gleichgültig ist, lautet die Losung wenigstens: Tod dem römischen H o f e " . Aleander sah auch sehr wohl, wie sich mit der Sache Luthers die nationalpolitische Opposition zu verbinden im Begriffe stand, die mit der Forderung eines Konzils und der Abstellung der alten Gravamina auftrat. Eben damals hatte ein so altgläubiger Fürst wie Herzog Georg von Sachsen diese Beschwerden in scharfer Formulierung dem Reichstag vorgelegt. Unzweifelhaft, die religiöse Frage, wie sie Luther der Nation gestellt hatte, war im Begriff, alle großen Anliegen derselben in sich zu vereinigen, und es war fraglich, wie weit sidi die Bewegung über die gegebenen Ordnungen hinaus entfalten würde. Aleander war eine furchtsame Natur. Aber die Erfahrungen, die er schon in Köln und dann bei der Verbrennung der Bücher Luthers in Mainz gemacht hatte, die Berichte Ecks über die Widerstände, auf die er bei der Veröffentlichung der Bannbulle gestoßen war, dazu jetzt in Worms selbst die Flugschriften, die Aleander fast alltäglich sammeln konnte und nach Rom schickte, die Anschläge und Spottverse, die sich sogar an den Türen der kaiserlichen Pfalz befanden, die Drohungen Huttens von der Ebernburg, dies alles sprach eine so deutliche Sprache, daß man sie nicht überhören konnte. Und auch der englische Gesandte Cutbert Tunstal ließ sich von Gattinara erzählen, daß hunderttausend Deutsche bereit seien ihr Leben für Luther zu opfern. Es war also nicht bloß eine Ausflucht, wie die, mit der sich wohl auf früheren Reichstagen die Stände gegen unbequeme Forderungen der Reichsgewalt gedeckt hatten, wenn sie jetzt dem Kaiser erklärten, daß der gemeine Mann in Deutschland „aus des Lutters predig, lere und Schriften ime allerlei gedenke, fantasei, fürnemen und willen genomen hat", daß man befürchten müsse, ein kaiserliches Mandat werde keinen Gehorsam finden, vielmehr Unruhe und Empörung erzeugen. Sie stellten also dem Kaiser vor, daß man Luther unter sicherem Geleit kommen lassen und ihn wenigstens über die Artikel, die den christlichen Glauben beträfen, hören solle. Beharre er auf diesen, so wollten sie in das kaiserliche Mandat willigen. Es war damit noch nicht gesagt, daß das Verhör Luthers auf dem Reichstag selbst stattfinden solle. Dies ist erst durch die Entscheidung, die der Kaiser nun auf die Bitte der Stände hin traf, möglich geworden. Denn der Kaiser entschloß sich jetzt, Luther selbst zu verhören, also „die Sache an sich zu nehmen", wie es auch Luther selbst gewünscht hatte. Er wollte damit seines 105

Amtes als Vogt der Kirche walten. Aber er wollte damit zugleich die Stände für den weiteren Verlauf des Handels an sich binden. Wenn er ihnen das Verhör Luthers und zugleich die Erwägung der Gravamina der deutschen Nation einräumte, so sollten sie ihrerseits darein willigen, daß sogleich ein Mandat ausgehe, das die Vernichtung der Schriften Luthers befahl, und sie sollten sich jetzt schon verpflichten, der Verurteilung Luthers, wenn er seine Sätze gegen den Glauben nicht widerrufe, zuzustimmen. Auch dies sollte eine „Einung " sein, wie sie früher zwischen Maximilian und den Ständen in Sachen der Reichsreform geschlossen war und jetzt in der Frage des Reichsregiments geschlossen wurde. Die Stände haben es dann dennoch abgelehnt in ein Mandat zu willigen, das die Verbrennung der Bücher Luthers anordnete. Karl hat es als ein kaiserliches Gebot von sich aus erlassen müssen. Aber seine Aufforderung an Luther, sich zur Erkundigung über seine Lehre und Bücher in "Worms einzufinden, war am 6. März ergangen. A m 2. April hat sich Luther, von dem kaiserlichen Herold Kaspar Sturm, genannt Teutschland, geleitet, von Wittenberg auf den Weg nach Worms gemacht. Es war also auch hier das ungeklärte Verhältnis der staatlichen Kräfte Deutschlands, das es ermöglichte, daß die Sache des deutschen Mönchs auf einem deutsdien Reichstag verhandelt wurde. Der Entschluß des Kaisers Luther zu hören, hervorgegangen lediglich aus dem Bestreben Karls, das Reich auch in dieser Sache an sich zu binden, bedeutete doch, daß nun auch für Deutschland die alte Form der respublica christiana zu Ende ging, deren Ordnung auf dem Zusammenwirken der universalen geistlichen und weltlichen Gewalt nach den Grundsätzen eines überall geistlich gedachten Rechts beruhte. Nichts Wichtigeres konnte für die Reformation als nationale Bewegung geschehen. Aber was war zu erwarten? Die enthusiastischen Hoffnungen, daß nun der Kaiser oder auch die Stände des Reichs die Sache Luthers in der Form an sich nehmen würden, daß sie sich zu einer Art Gerichtshof zwischen ihm und dem Papste machen würden, daß man etwa in Worms nun gleich das Nationalkonzil ausschreiben würde, das die deutsche und die christliche Freiheit zusammen sicher zu stellen gehabt hätte, Hoffnungen, wie sie etwa auf der Ebernburg im Kreise Huttens gehegt wurden und auch in Flugschriften, wie in der „Litanei der Deutschen" oder in einem Augsburger Bänkelsängerlied zum Ausdruck kamen, hatten doch gar keinen Grund in der Lage der Dinge. Wie der Kaiser dachte, wußten alle, die ihm nahestanden. Erasmus 106

hatte schon im Oktober bemerkt, daß von ihm für Luther nichts zu erwarten sei. Und selbst wenn die Stände einhellig in der Absicht gewesen wären, eine Reform der Kirche, wie sie längst geplant war, mit einer Erneuerung des Glaubens, wie sie Luther forderte, zu verbinden, so fehlte es ihnen dafür sowohl an einem Führer wie an einem festen Programm. Überdies hatten sie sich gerade in diesem Punkte bereits gegenüber dem Kaiser gebunden. Sie hatten zugegeben, daß man Luther nur hören, nicht mit ihm disputieren wolle, und auch dies nur in den Sachen, die den Glauben beträfen. Eben damit hatten sie den Kaiser zu sich hinübergezogen. In diesem Sinne sollte auch das Mandat ausgehen, das die Verbrennung der Bücher Luthers anordnete. Er selbst sollte lediglidi gefragt werden, „ob er der Schriften und pucher, die under seinem namen wider die artigkel unsers heiligen cristenlichen glaubens ausgegangen, geschriben und gedruckt worden, gestendig sein und darauf beharren wolle oder nit". Es handelte sich also nur darum, ob Luther den Widerruf, den er dem Papst verweigert hatte, nun vor Kaiser und Reich leisten wolle. Luther aber, wenn er seine Sache dem Kaiser zu Händen gab, dachte sich Karl als Vorsitzenden eines Rats von verständigen und billigen Richtern — möglich, wenn auch nicht erweisbar, daß er dabei die Theologen, die geistlichen Juristen ausgeschlossen hat, wie Aleander berichtet — vor denen er seine Sache aus der Schrift verteidigen und sich nur durch die Schrift überwinden lassen wollte, ein Verhör also, wie er es schon von Cajetan erfolglos verlangt hatte. Auch wenn man bei einer solchen Verhandlung die Fragen des Glaubens ausschloß und sich lediglich auf die Fragen der Papstgewalt und die iura positiva beschränkte, wie wiederum Aleander als Meinung der Stände berichtet, hätte sich der Kaiser nicht als Vogt der Kirche, sondern als Richter über sie fühlen müssen, und Luther hätte mindestens jenen Akt vor dem Elstertor in Wittenberg, wo er als seine Antwort auf die Verbrennung seiner eigenen Bücher mit der Papstbulle auch das päpstliche Rechtsbuch verbrannt hatte, zu verteidigen gehabt. Und was sollte er über seine erneuerte Appellation an das Konzil sagen, in der er auf Grund der Vollmacht, mit der er in der Taufe durch Gottes Barmherzigkeit ein Kind Gottes und ein Miterbe Christi geworden sei, den Papst als den Antichrist verfluchte? Für diese Stellung, das sah er wohl, gab es kein Richtertum in der alten Kirche mehr. Er war entschlossen, sich mit seiner Sache an das neue Geschlecht der Geistlichen zu wenden, das sind die Laien, die gleich ihm lediglidi durch die Taufe geistlich geworden sind. Zum dritten Mal bestimmt und verschärft er seine Stellung in einer Assertio articulorum. Er schrieb sie an eben dem Tage, als in Worms die entscheidenden Verhandlungen über seine Berufung vor dem Kaiser stattfanden. „Bin ich 107

nicht ein Prophet", ruft er hier aus, „so bin ich doch gewiß, daß das Wort Gottes bei mir und nicht bei ihnen ist". Die Schwierigkeiten, die hier lagen, sahen alle die wohl, für die Luthers Sache mehr bedeutete als eine gewöhnliche Ketzerei, sei es, daß sie nach einem Wege suchten, der Luther rettete und auch dem Kaiser genug tat, wie die sächsischen Räte, oder daß sie, die alten Gedanken einer Reformation der Kirche wieder aufnehmend, Luthers Werk in diese Reformation einzugliedern sich bemühten, wie wir es von Erasmus und seinen Anhängern sicher, von dem kaiserlichen Beichtvater, dem Franziskaner Glapion, vielleicht annehmen dürfen. Von all dem ist Luther wenig berührt worden. J e stärker ihn der Lärm der Welt umbrauste, desto mehr zog er sidi in die innerste Burg seiner Gedanken zurück. Auf einen Kaiser, der mit dem Schwert den römischen Trug zerstörte, hatte er einen Augenblick gehofft, von dem Huttenschen Plan, dem Evangelium mit dem Schwert eine Öffnung zu machen, trennte er sich schnell und nachdrücklich. Eben in jenen Tagen versenkte er sich aufs neue in den Psalter, in dem Gott nicht nur durch Wort und Befehl uns lehrt, was wir zu tun haben, sondern uns lehrt, wie wir zu ihm reden sollen. Er arbeitet an der Auslegung des Magnifikat, die er Johann Friedrich, dem Neffen des Kurfürsten und dessen zukünftigen Nachfolger, zueignen wollte. Mit dem „geistlichen reinen und herrlichen Lied der züchtigen Jungfrau" sprach er sein eigenes Gottesbewußtsein aus. Er vollendete eine erste Fassung der Kirchenpostille und eignete sie Friedrich dem Weisen zu, der ihn schon 1519 auf eine solche Arbeit verwiesen hatte, um ihn von der Polemik abzulenken. Das letztere erreichte der Kurfürst freilich auch jetzt nicht. Fast gleichzeitig mit diesen Zeugnissen seiner Glaubenszuversicht erschienen die Erwiderungen an Emser und an Prierias, Erzeugnisse der derbsten und in ihren Mitteln nirgendwo wählerischen Polemik. Luther dünkt sich da wie die alten Juden, die die Mauern Jerusalems gegen die Feinde bauten, in der einen Hand die Kelle, in der anderen das Schwert. Wie er sich zu der kaiserlichen Vorladung zu stellen haben werde, war ihm auf die erste Kunde hin klar. Einen Augenblick überlegte er, ob es nicht besser sei, wenn er doch nur widerrufen solle, dies von Wittenberg aus durch einen Brief an den Kaiser abzulehnen. Werde er dann in die Acht erklärt, so wollte er sich dem Gericht des Kaisers stellen. Dann aber entschied auch bei ihm die Erwägung, die Spalatin und andere seiner Freunde anstellten, er müsse kommen, wenn nicht die Gegner triumphieren sollten. Als ihn die Ladung nach Worms traf, handelte es sich für ihn lediglich darum, ob er für das Wort 108

Gottes Zeugnis ablegen wolle oder nicht. Und er war entschlossen, dies auf jede Gefahr hin zu tun. Von einer nationalen Erregung ohnegleichen umbraust, wie kein Deutscher vor ihm und jahrhundertelang keiner nach ihm, ist Luther am 16. April in "Worms eingezogen. Am 17. stand er in dem niedrigen Raum des bischöflichen Hofes, wo der Reichstag abgehalten zu werden pflegte und wo Karl und Ferdinand selbst ihre Herberge hatten, vor dem Kaiser. Wir wissen, wie er damals aussah: ein Stich Lukas Kranachs aus dem Jahre 1520 hat seine Züge festgehalten. Der hagere knochige Schädel mit der hohen Stirn, die tiefliegenden Augen, die schon Cajetan unheimlich gewesen waren, der zusammengepreßte Mund, im ganzen den Kopf eines bäuerlichen Menschen, der das Erdreich des Geistes mit soviel Mühe und Anstrengung durchpflügt hat, wie seine Vorfahren das Mutterland ihrer Scholle, der Mönch, dessen Blick über das Diesseits hinweg Gott sucht. Es war nicht schwer aus dieser Gestalt den neuen Heiligen, den Propheten zu machen, wie es die populären Holzschnitte taten, die ihm die Bibel in die Hand gaben, das Haupt mit einem Heiligenschein kränzten, in dem sich die Taube des Heiligen Geistes auf ihn niederließ. Begreiflich auch, daß er den Spaniern und Italienern nicht imponierte, und daß der Kaiser bei seinem Anblick sagte: „Der soll mich nicht zum Ketzer machen". Sie dachten sich das Prophetentum anders. Aber seine Deutschen umdrängten ihn, und er muß auf Umwegen aus seiner Herberge in den Palast geführt werden. Auch die Stände des Reichs waren in seltener Vollzähligkeit anwesend; ob sie Luther günstig oder ungünstig waren, sie wollten den Mann sehen und hören, der sich solches erkühnt hatte. Und nun begann die Verhandlung oder vielmehr das Verhör, dessen Form Aleander genau nach der päpstlichen Bulle geregelt hatte. Der Reichsmarschall von Pappenheim ermahnt Luther, nur gefragt zu sprechen. Der Offizial des Erzbischofs von Trier legt ihm die beiden Fragen vor, auf die er antworten soll: ob er die Bücher, die vor ihm auf einer Bank gereiht lagen, als die seinen anerkenne, sodann, ob er sich zu ihnen bekenne oder etwas von ihnen widerrufen wolle. Es waren die wichtigsten Bekenntnisschriften, die Schrift von den guten Werken, von der Freiheit des Christenmenschen, die Auslegung des Vaterunser, die Psalmenauslegung, dann die großen Kampfschriften „An den christlichen Adel" und „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche", endlich die, welche aus dem Kampf gegen die päpstliche Bulle hervorgegangen waren bis zu den letzten „Gegen die Bulle des Antichrist" und „Warum des Papsts Bücher verbrannt sind", in denen er die Verbrennung des kanonischen Rechts und der Bannbulle rechtfertigte, die er am 10. Dezember 1520 vor 109

dem Elstertor in Wittenberg vorgenommen hatte. Luther wunderte sich später, „wo sie dieselbigen mochten bekommen haben". — Luther bejaht die erste Frage, für die Beantwortung der zweiten erbittet er sich Bedenkzeit. Unnötig anzunehmen, daß hier Einflüsse von außen auf ihn gewirkt haben, auch von einem innerlichen Schwanken kann keine Rede sein. Denn das unterscheidet Luther von Hus, mit dem er sich selbst ja schon längst verglich. Luther wußte, wo er stand. Es war eigenes, nicht fremdes Gedankengut, zu dem er sich zu bekennen hatte, und was man von ihm wollte, war ihm längst klar. Aber es war jetzt, wie damals bei dem Verhör vor Cajetan, das Gefühl der Stunde. Die ganze Verantwortlichkeit, die sie ihm auferlegt, ergreift ihn mit voller Macht. Da es sich um den Glauben, das Seelenheil und das Wort Gottes handelt, will er nichts Unbedachtes sagen. So erscheint er am folgenden Tage nochmals vor seinen Richtern und hier hat er dann jene weltbedeutende Rede gehalten, die ihren Platz in der Geschichte unserer Nation dauernd behauptet hat. Er bekennt sich zu all seinen Schriften. Sie waren ja nichts als die Abdrücke seines Wesens. Er teilt sie in drei Klassen, solche über Glauben und Sitte, solche gegen die Tyrannei des Papsttums und der Romanisten, solche gegen seine literarischen Widersacher. Es sind die drei Triebe seines Lebens, wie es sich bisher gestaltet hat und nun sein Leben bleiben wird: der Kampf um den Glauben, der Kampf gegen die Papstkirche, der Kampf für seine Theologie. All dies hing in sich zusammen. Er sah, daß er nichts davon preisgeben könne, ohne sich selbst zu verleugnen. Denn all dies ruhte für ihn auf dem Worte Gottes oder folgte aus ihm mit klaren und deutlichen Gründen. Und wenn man ihm vorwarf, daß er Zwietracht errege und Deutschland verwirre, so hatte er auch dazu seine Stellung genommen. „Aus all dem", so schloß er seine Rede, „mein ich, wird offenbar, daß ich genugsam bedacht, erwogen und ermessen hab die Gefahr, Besorglichkeit, Zwietracht, Aufruhr und Empörung, von wegen meiner Lehre in der Welt erwachsen, daran ich gestern ernstlich und festiglich bin erinnert worden. Wahrlich, mir ist es das allerlustigste zu sehen, daß von wegen des göttlichen Worts Parteien, Mißhellung und Uneinigkeit werden. Denn das ist der Lauf, Fall und Ausgang des göttlichen Wortes, wie der Herr selbst sagt: Ich bin nicht gekommen den Fried, sondern das Schwert zu senden, denn ich bin kommen, den Menschen abzusondern von seinem Vater". Und dann die Antwort „ohne Hörner und Zähne", die er auf die letzte Frage des Offizials gab: „Es sei denn, daß ich durch das Zeugnis der Schrift oder durch klare Gründe überwunden werde — denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil es am Tage liegt, daß sie zu mehren Malen geirrt und sich selbst 110

widersprochen haben — so bin ich überwunden durch die Schriftstellen, die ich angeführt habe, und gefangen in meinem Gewissen an dem Worte Gottes. Deshalb kann und will ich nicht widerrufen, weil wider das Gewissen zu handeln beschwerlich, unratsam und gefährlich ist. Gott helfe mir. Amen." Als er den Saal verließ, so berichtet Aleander, reckte er die Hand auf, wie es die deutschen Landsknechte tun, wenn sie über einen gelungenen Hieb frohlocken, und rief: „Ich bin hindurch". Er war sich bewußt, diese Schlacht gewonnen zu haben, und wenn es für jede Meinung, die sich in der Welt behaupten will, darauf ankommt, daß sie entschlossen ist sich auch gegen die Welt zu behaupten, so hatte er jetzt gesiegt. Entschlossen war nun aber auch ein anderer, der Kaiser. Luther hat später gemeint, der Kaiser und die Stände hätten, nachdem sie durch ihn berichtet waren, um was es in seinem Handel gehe, die Pflicht gehabt, dem Wort Gottes freie Bahn zu lassen. Das hätte nichts anderes geheißen, als daß der Kaiser die Sache, die an sich zu nehmen man ihm eben angesonnen hatte, nun der Entscheidung des deutschen Volkes überlassen sollte. Karl hätte ein sehr anderer Mann sein müssen, als er war, wenn er sein Amt als Vogt der Kirche so aufgefaßt hätte. Als am nächsten Morgen die Kurfürsten und Fürsten vor ihn traten, fragte er sie, was nun ihre Meinung in der Sache Luthers sei. Sie erbaten sich nach ihrer Art Bedenkzeit. Er aber erwiderte: „Gut, aber ich will Euch zuerst meine Meinung zu erkennen geben". Und nun ließ er eine Erklärung verlesen, die er selbst aufgesetzt hatte. Es ist die erste Erklärung Karls in einer großen politischen Angelegenheit, von der wir sagen können, daß sie ganz sein eigen ist. Sein Standpunkt ist derselbe, wie in den Sachen des Reichsregiments, wo er seine persönliche Reputation gegen die ständischen Forderungen setzte. Aber wieviel persönlicher klingt nun das, was er jetzt den Ständen sagt. Als Sproß der allerchristlidisten Kaiser der edlen deutschen Nation, der katholischen Könige Spaniens, der Erzherzoge von Österreich und der Herzoge von Burgund erklärt er sich entschlossen, seines Amtes als Verteidiger der katholischen Kirche, des katholischen Glaubens und der geheiligten Bräuche, Gesetze, Verordnungen und Gewohnheiten zu walten und gegen Luther als erklärten Ketzer vorzugehen. Er erwartet, daß die Fürsten ihm nach ihrem Versprechen dabei Folge leisten. Wir wissen nicht, wie sich die einzelnen Stände zu dieser Erklärung stellten. Die Antwort, die sie in ihrer Gesamtheit dem Kaiser gaben, war wiederum ein Kompromiß der Meinungen und ein Ergebnis der Furcht. Sie setzten bei dem Punkte ein, wo in der Tat das bisherige Verfahren eine Lücke zeigte. Denn wenn sie sich auch damit einverstanden erklärt hatten, daß man Luther 111

nur berufe, um ihn über die Irrtümer seiner Lehre zu hören, so waren doch Luther seine Irrtümer und Ketzereien nicht einzeln vorgehalten worden. So könne Luther nodi immer behaupten, man habe ihm die einzelnen Punkte, in denen er geirrt habe, nicht vorgelegt. Und überdies habe er sich ja erboten, sich weisen zu lassen, falls er eines Irrtums überführt werde. Sie baten den Kaiser, eingedenk der Worte der Schrift, daß Gott nicht den Tod des Sünders wolle, sondern daß er sich bekehre und lebe, Luther noch Gelegenheit zu geben, sich vor drei oder vier Personen, die ehrbar und in der heiligen Schrift bewandert seien, über die Punkte zu verantworten, in denen er gegen den katholischen Glauben, die Meinungen der Konzilien und die Konstitutionen der Kirche geschrieben habe. Das war nun also etwa der Gelehrtenausschuß, von dem Erasmus die Schlichtung der lutherischen Tragödie erhofft hatte. Die deutschen Stände fühlten sich gegenüber Luther als eine Art von Vertretung der Christenheit, wie einst in Konstanz die Kardinäle gegen Hus. Vielleicht daß sie, wie diese, hofften, so die Forderungen der von Luther vertretenen Reformation der Kirche, die mit den Gravamina der deutschen Nation übereinkamen, zu retten, wenn Luther bewogen werden konnte, seinen Glauben dem der Kirche zu unterwerfen. Der Kaiser willigte in diesen Versuch. .So gab es nach dem großen öffentlichen Akt noch ein erstes Religionsgespräch, bei dem es lediglich um den Glauben ging. Es fand hinter verschlossenen Türen statt und es blieb erfolglos, wie es mußte. Bezeichnend daher, daß die Punkte, über die eine Einigung mit Luther unmöglich war, zwei waren: Luther wollte eine Entscheidung des Reichstags oder eines künftigen Konzils nur unter der Bedingung annehmen, „daß es mit dem Wort Gottes geschähe". Aber auch dann war er nicht gewillt, einer solchen Entscheidung den Begriff der Kirche zu unterstellen, indem er sich mit Hus einig wußte, daß diese nämlich die Gemeinschaft der von Gott zur Seligkeit Erwählten sei und nichts anderes. Es war damit klar, daß die Reformation, die er wollte, mit den Mitteln, die man bisher für eine Reformation der Kirche kannte, nicht zu erreichen war. Sie sollte allein aus dem Glauben hervorgehen, sie kannte keine andere Norm für ihre Gestaltung als die Schrift. Aus dem Glauben und aus der Schrift mußte sie sich selbst ihre Kirche bauen. Am 28. April verließ Luther mit kaiserlichem Geleit Worms. Am 1. Mai erhielt Aleander vom Kaiser den Auftrag, nun endgültig das Mandat gegen Luther zu entwerfen; schon am 2. war der Entwurf fertig. Aleander hatte ganze Arbeit gemacht und dabei auf die Anfänge seiner Tätigkeit in Deutschland gegen die lutherische Bewegung zurückgegriffen. Er hatte schon damals gesehen, daß es nicht damit getan sei, daß man Luther und seine Schriften

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nach dem Wortlaut der päpstlichen Bulle unterdrücke, es galt auch die lutherische Bewegung, die jetzt alle Kreise der Nation und alle Fragen des nationalen Lebens erfaßt hatte, zu treffen. Deshalb hatte er schon vor der Krönung Karls in Aachen im Oktober 1520 ein Gesetz entworfen, das mit dem Edikt gegen Luther und seine Anhänger auch die publizistische Agitation unterdrücken sollte. Dies sollte auch jetzt zusammen mit der Verdammung Luthers geschehen. Dieses Gesetz gegen die Drucker band den Druck und Vertrieb aller Bücher und Schriften an die Zensur der Bischöfe, den der theologischen und irgendwie den christlidien Glauben berührenden überdies an die Zustimmung der theologischen Fakultät der nächstgelegenen Universität. Außerdem aber erweiterte das Edikt den Kreis der Schriften, deren Herstellung und Vertrieb überhaupt verboten werden sollte. Zu den Schriften, die „unserem heiligen Glauben Irrsal gebären und dem, was die heilige christliche Kirche bisher gehalten, widerwärtig sind", kamen die Feind- und Schmachschriften „wider unseren heiligen Vater den Papst, Prälaten, Fürsten, hohe Schulen und derselben Fakultäten und andere ehrsame Personen", alles, dessen Inhalt sich von den guten Sitten und der heiligen römischen Kirche abwende. Aleander stützte sich hier auf das Zensuredikt, welches das Laterankonzil im Jahre 1515 erlassen hatte. Audi dieses wollte schon neben der Verbreitung von Irrlehren die „Schmähschriften" treffen, die einen so großen Bestandteil der Literatur bildeten und die eigentliche Waffe der Opposition darstellten. Mit Aleanders Edikt trat nun auch diese Maßregel, mit der sich ein wankend gewordenes Gemeinwesen gegen den Ansturm einer Kritik zu schützen suchte, die ihm nicht mehr glaubte, für Deutschland unter die Strafe der kaiserlichen Acht und Aberacht. Aleander hatte eine Beziehung auf das Dekret des Laterankonzils gewünscht. Die kaiserlichen Räte strichen sie mit der Begründung, daß das Reich allein hier sicherer auf Gehorsam werde rechnen dürfen, besonders, solange die Erbitterung der Deutschen gegen den apostolischen Stuhl anhalte. Sie sprachen damit aus dem Sinne des Kaisers; er wollte seines Amtes als Vogt der Kirche, als Schützer des corpus christianum mit seiner Verbundenheit des geistlichen und weltlichen Standes und ihrer Interessen walten, aber nicht als Beauftragter des Papstes. Das sollte sich zeigen. Am 8. Mai gab Karl den Befehl, das Edikt in Urkundenform auszufertigen. Dieses Datum trägt es deshalb noch heute. Bei der Vollziehung aber gab es noch einen letzten Aufenthalt. Als man dem Kaiser am 12. Mai schon die Feder zum Unterzeichnen reichte, erklärte er, sich doch noch einmal mit den Reichsständen beraten zu wollen. Es waren die Tage, wo sich das Verhältnis zu Frankreich drohend zuspitzte und es dem Kaiser wünschenswert 8 Reformation

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erschien, daß das Reich mit seinem Haupte für jedermann einig erscheine. Eben damals hatte er sidi auch in Sachen des Regiments mit den Ständen geeinigt, er konnte glauben, daß er auch in der Sache Luthers zu einem ähnlichen Ergebnis kommen würde. Eben an diesem Tage empfing er auch die erste freilich noch verklausulierte Willigung der Stände für den Romzug. Es schien ihm wohl als die Krönung des mühseligen Werks von Worms, wenn er auch die Austilgung der lutherischen Ketzerei „mit einhelligem Rat und Willen" der Reichsstände gebieten könne. Ob ihm auch dies gelungen wäre, ist mindestens fraglich. Aleander fürchtete, die Freunde Luthers hofften, daß an dieser letzten Verzögerung das Ganze scheitern würde. — Es kam nicht mehr dazu. Soweit wir sehen, hat si