Zeit und Sorge [1. ed.] 9783756004232, 9783748936749


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Table of contents :
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Einleitung: Zeit und Sorge. Eine Verhältnisbestimmung
1 Zeit und Sorge – Konzept nach Henkel, Karle, Lindemann und Werner
2 Zeit und Sorge – Eine empirisch fundierte Verhältnisbestimmung
3 Zeit und Sorge – Aktuelle Verhältnisbestimmungen
Vergangenheiten
Gegenwart
Zukünfte
Jenseits linearer Zeit
Literaturverzeichnis
Bedingungen gelingender Sorge
1 Dimensionen der Sorge – Ausgangspunkte
2 Worum der Sorge, Kritik der Sorge, Nicht-Sorgen – Zwischenergebnisse
3 Selbstbehauptung, Altruismus, Nachhaltigkeit – Perspektiven aktiver Sorge
Literaturverzeichnis
I Vergangenheiten
Sorge und Zeit im Kontext der theologischen Resilienzforschung
1 Die These
2 Sorge im Kontext von Resilienz
3 Resilienz und Zeit
4 Aktive, passive und mediopassive Erfahrungsprozesse und Handlungsdimensionen
5 Sorge und Zeit im Kontext der theologischen Resilienzforschung
Literaturverzeichnis
„Haunting Memories“ – Retrospektivität von Sorge nach Menschenrechtsverbrechen in Südafrika
1 Südafrika als Kontext massiver individueller und kollektiver Unrechtserfahrung
2 Fallbeispiele retrospektiver Sorge
2.1 Ann-Marie McGregors schriftliche Aussage vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission
2.2 Lucas Sikweperes Aussage vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission
2.3 Performance Art
3 Drei Vergangenheitsbezüge von Sorge
3.1 Das Fortwirken der Sorgen der Vergangenheit
3.2 Nachsorge um die Wunden der Vergangenheit
3.3 Zukunftsorientierte Fürsorge
4 Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
Bin ich vergewaltigt worden? Sorge als Vergangenheitsbezug
1 Sorge um eine offene Vergangenheit
2 Sexuelle Gewalt in der Grauzone
3 Gewalterfahrung und Ordnungsbezüge
4 Gewalt ohne Verletzung?
5 Feministische Sensibilisierung
6 Sorge als Vergangenheitsbezug
7 Die leibliche Dimension des Not-Knowing
Literaturverzeichnis
Gestern, Heute und Morgen in der hospizlich-palliativen Sorge und die Rolle der Seelsorge
1 Sorge und Zeit
2 Zeit im Hospiz und auf der Palliativstation
3 Gestern, Heute und Morgen als Worum der Sorge
3.1 Gestern: Sorge um das, was war
3.2 Heute: Sorge um das, was ist
3.3 Morgen: Sorge um das, was wird
4 Zeit (in) der Seelsorge
5 Fazit
Literaturverzeichnis
II Gegenwart
Die Zeitlichkeit der Sorge. Zur temporalen Struktur von Selbstsorge und Fürsorge im Anschluss an Harry Frankfurt und Martin Heidegger
1 Sorge, Liebe und Zeit bei Frankfurt
2 Sorge, In-der-Welt-sein und Zeit bei Heidegger
3 Sorge um andere und geteilte Zeit
Literaturverzeichnis
Identität in Grenzbereichen der Kommunikation – eine Sorge der Anderen?
1 Einleitung: Identität in Grenzbereichen der Kommunikation
2 Identitätskonstruktionen und das Pflegeheim
3 Identitätskonstruktionen in kommunikativem Handeln
4 Überlegungen am Fall – Sorge um die Identität der Anderen als Frage der Würde?
5 Fazit: Identität als Sorge der Anderen
Literaturverzeichnis
Zeit sich Sorgen zu machen. Wahrnehmung und Deutungen des Hier und Jetzt unter Pfarrerinnen und Pfarrern
1 Einleitung
2 Historischer Ereigniszusammenhang
3 Wahrnehmungen und Deutungen unter Pfarrerinnen und Pfarrern
4 Deutungsmuster
5 Der Pfarrberuf als sorgende Profession
6 Implikationen
Literaturverzeichnis
Ambivalenzen zwischen einer Freiheit von und einer Freiheit zu in Zeiten der Sorge
1 Freiheit und Sorge – eine zeitdiagnostische Einordnung
2 Anthropologie der Freiheit bei Erich Fromm
3 Die Entwicklung idealtypischer Sozialcharakterstrebungen in Zeiten der Sorge
4 Positive Freiheit eines sorgenden Selbst
5 Korrelationen zwischen Freiheit und Sorge
Literaturverzeichnis
III Zukünfte
Sorgeübernahme in Zeitintervallen. Selbstregulierende Technologien im Sorgesetting
1 Technologie und Mensch: Wenn Nähe für Sorge nicht ausreicht
2 Selbstregulierende Technologie für Diabetiker*innen
3 Leiblichkeit als Zugang zum Sorgeverständnis zwischen Technologie und Mensch
4 Sorgeübernahme in Zeitintervallen
5 Technologisch generierte Sorge: Anschlussfähigkeit?
Literaturverzeichnis
Sorge in Zeiten der Robotik. Zur Erweiterung einer transhumanen Sorgekonzeption
1 „Ich bin kein Mensch, aber ich kann dir helfen, wenn du Sorgen hast.“
2 Theoretische Hürden für Sorge-Roboter*innen
2.1 Keine Interaktion ohne Subjektstatus
2.2 Keine Sorge ohne Reflexionsfähigkeit
3 Einleibung als Interaktionsperspektive transhumaner Sorge
4 Sozialroboter*innen in Sorge
5 Beziehungen und Bezüge in Sorge-Situationen
Literaturverzeichnis
Zeit und Kryotechnologien. Vorsorge im Spannungsfeld von biografischer Zukunftsorientierung, biologischer Eigenzeit und Gegenwartsdehnung
1 Vorsorge ist besser als Nachsorge
2 Latent Life – Kein Leben und kein Tod
3 Im Dazwischen – Kontexte vorsorglicher Kryokonservierung
4 Zukunftsvorsorge, Eigenzeit und Gegenwartsdehnung – ein Systematisierungsversuch
Biografische Zukunftsorientierung und Vereinbarkeit
Biologische Eigenzeit und Synchronisierung
Gegenwartsdehnung
5 Vorsorge und Dauer – abschließende Überlegungen
Literaturverzeichnis
IV Jenseits linearer Zeit
Die Sorgen um das Klima von morgen
1 Einleitung
2 Zeit und Sorge bei Heidegger
3 Methodische Herangehensweise
4 Ethnographische Situation
5 Drei Zukünfte, drei Sorgen
5.1 Wissenschaftlicher Diskurs
5.2 Landwirtschaftlicher Diskurs
5.3 Christliche (pfingstkirchliche) Diskurse
5.4 Schweregrad der Besorgnis
6 Zukunftskonzeption und die Sorge durch das Fremde
7 Schluss
Danksagung
Literaturverzeichnis
Reclaiming the Right to Imagine Pacific Pasts, Present and Futures. Climate Change Narratives by Pacific Climate Warriors
1 Storying Climate Change through Pacific Acts of Struggle and Resilience
2 Theoretical and Methodological Framework
2.1 Social Media Narrative Analysis of Pacific Climate Warriors
2.2 The Role of Storytelling and Climate Change Narratives in the Pacific Islands
3 Narratives of the Pacific Climate Warriors
3.1 Agency: “We are not drowning. We are fighting.”
3.2 Intergenerational relations: “We are not fighting only to protect the future, but to protect our past.”
3.3 Human-nature relations: “Our connection to our land is our identity”
3.4 Hope: “Hope is not lost. Hope is us.”
4 Conclusion
References
Abschiedsrituale im stationären Hospiz. Inszenierte Verschränkung von Zeitdimensionen in der Grenzsituation des Todes
1 Der Tod als Grenzsituation
2 Trauerkultur im Wandel
3 Rituale in der perimortalen Trauerbegleitung
4 Eine raumsensible Betrachtung
5 Eine zeitsensible Betrachtung
6 Abschiedsrituale und Trauer
Literaturverzeichnis
Der Mensch zwischen Vergangenheit und Zukunft. Zeitdimensionen in der Seelsorge
1 Menschliche Zeitlichkeit in der Seelsorge
2 Doppelstruktur und Fragmentarität: Zwei Perspektiven
2.1 Die Doppelstruktur des Selbst im ‚therapeutischen Diskurs‘ nach Eva Illouz
2.2 Der Mensch als Fragment aus Vergangenheit und Zukunft im praktisch-theologischen Denken Henning Luthers
3 Zeitlichkeit zwischen Kontinuität, Abbruch und Verheißung
3.1 Verantwortung in der Zeit
3.2 Kohärenz versus Fragmentarität
3.3 Die Bühnen der Zeit
4 Hoffen und Handeln
Literaturverzeichnis
Autor*innenverzeichnis
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Dimensionen der Sorge herausgegeben von Anna Henkel, Universität Passau Isolde Karle, Ruhr-Universität Bochum Gesa Lindemann, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Micha Werner, Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald Band 8

Bitzer | Bosbach | Brand | Burow | Ehrens Hoffmann | John | Kedenburg | Sellig | Stiller Henkel | Karle | Lindemann | Werner [Hrsg.]

Zeit und Sorge

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7560-0423-2 (Print) ISBN 978-3-7489-3674-9 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Vorwort. Zur Genese dieses Bandes

Die im Rahmen des Forschungsschwerpunkts Dimensionen der Sorge des Evangelischen Studienwerks Villigst im Herbst 2021 durchgeführte Jahres­ tagung Zeit. Idealtypen und Perspektiven gegenwärtigen Zukunftsbezugs wid­ mete sich dem Verhältnis von Zeit und Sorge. Hintergrund dieser themati­ schen Setzung waren wiederkehrende Impulse der Doktorand*innen des Forschungsschwerpunkts, die die Zeitdimensionen von Sorge betrafen. Im Austausch mit den Betreuer*innen verfestigte sich der Eindruck, dass die bisherige Sorge-Konzeption innerhalb des Schwerpunkts (vgl. Henkel et al. 2016a+b, 2019) das Potenzial spezifischer Zusammenhänge zwischen Zeitlichkeit und Sorge nicht vollständig ausschöpft. So wurde auf der Tagung Zeit. Idealtypen und Perspektiven gegenwärtigen Zukunftsbezugs das Verhältnis von Zeit und Sorge offen diskutiert. Ziel war es, die verschie­ denen Zeitdimensionen von Sorge zu entfalten und das Verhältnis von Zeit und Sorge ins Zentrum der Betrachtung zu rücken. Bereits in dem stipendiatischen Eingangsvortrag Zeiten der Sorge? wurde dieses Interesse artikuliert und diskutiert. Die vorliegende Publikation bildet nicht nur die gemeinsame Diskussion, sondern auch den interdisziplinären Forschungs­ prozess der Doktorand*innen, Betreuer*innen und externen Wissenschaftler*innen ab. Die stipendiatische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Zeit und Sorge begann aber bereits im Sommer 2020 und stellt daher eine Kontinuität dar, die auch über personelle Wechsel der letzten zwei Jahre andauerte. An den ersten Impulsen wie deren Weiterentwicklung waren so neben den Herausgeber*innen auch Elis Eichener (bis Ende 2020) und Jonas vom Stein (bis Beginn 2022) beteiligt. Beiden gilt hier der explizite Dank dafür, dass sie sich neben der Diskussion der ersten Impulse wie deren konstruktiver Weiterentwicklung und der moderieren­ den Gruppenlenkung am Ende ihrer Promotionszeit noch mal auf eine thematisch neue Auseinandersetzung im Kontext von Sorge eingelassen haben, die maßgeblich für das Zustandekommen dieses Bandes war. Zu­ dem gilt unser besonderer Dank dem Evangelischen Studienwerk Villigst, das den institutionellen, fachlichen und persönlichen Rahmen geschaffen hat, ohne den diese Publikation nicht möglich gewesen wäre.

5

Inhalt

Einleitung: Zeit und Sorge. Eine Verhältnisbestimmung

11

Melanie Bitzer, Isabelle Bosbach, Johannes F. Burow, Laura Brand, Christian Ehrens, Mareike Sophie Hoffmann, Jana John, Olga Kedenburg, Julia Sellig und Lisa Stiller Bedingungen gelingender Sorge

29

Anna Henkel mit Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner I

Vergangenheiten

Sorge und Zeit im Kontext der theologischen Resilienzforschung

41

Cornelia Richter „Haunting Memories“ – Retrospektivität von Sorge nach Menschenrechtsverbrechen in Südafrika

51

Christian Ehrens Bin ich vergewaltigt worden? Sorge als Vergangenheitsbezug

69

Olga Kedenburg Gestern, Heute und Morgen in der hospizlich-palliativen Sorge und die Rolle der Seelsorge

87

Lisa Stiller II Gegenwart Die Zeitlichkeit der Sorge. Zur temporalen Struktur von Selbstsorge und Fürsorge im Anschluss an Harry Frankfurt und Martin Heidegger

105

Holmer Steinfath 7

Inhalt

Identität in Grenzbereichen der Kommunikation – eine Sorge der Anderen?

123

Jana John Zeit sich Sorgen zu machen. Wahrnehmung und Deutungen des Hier und Jetzt unter Pfarrerinnen und Pfarrern

141

Jonas vom Stein Ambivalenzen zwischen einer Freiheit von und einer Freiheit zu in Zeiten der Sorge

157

Melanie Bitzer III Zukünfte Sorgeübernahme in Zeitintervallen. Selbstregulierende Technologien im Sorgesetting

173

Julia Sellig Sorge in Zeiten der Robotik. Zur Erweiterung einer transhumanen Sorgekonzeption

189

Johannes Frederik Burow Zeit und Kryotechnologien. Vorsorge im Spannungsfeld von biografischer Zukunftsorientierung, biologischer Eigenzeit und Gegenwartsdehnung

207

Isabelle Bosbach IV Jenseits linearer Zeit Die Sorgen um das Klima von morgen

229

Michael Schnegg Reclaiming the Right to Imagine Pacific Pasts, Present and Futures. Climate Change Narratives by Pacific Climate Warriors Mareike Sophie Hoffmann 8

251

Inhalt

Abschiedsrituale im stationären Hospiz. Inszenierte Verschränkung von Zeitdimensionen in der Grenzsituation des Todes

269

Laura Brand Der Mensch zwischen Vergangenheit und Zukunft. Zeitdimensionen in der Seelsorge

283

Carina Kammler Autor*innenverzeichnis

295

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Einleitung: Zeit und Sorge. Eine Verhältnisbestimmung Melanie Bitzer, Isabelle Bosbach, Johannes F. Burow, Laura Brand, Christian Ehrens, Mareike Sophie Hoffmann, Jana John, Olga Kedenburg, Julia Sellig und Lisa Stiller

Dieser Band widmet sich dem Verhältnis von Zeit und Sorge. Ausgangs­ punkt ist die Feststellung, dass der Sorge-Begriff in verschiedenen Zusam­ menhängen an Bedeutung gewinnt: So scheinen Selbstsorge und Vorsorge grundlegende Bezugspunkte moderner Individuen und auch die Sorge um den Anderen in der Care-Debatte (vgl. u. a. Bomert et al. 2021; Brückner 2015) oder die Sorge um die Umwelt in der Klimadebatte sind omniprä­ sent (vgl. u. a. Folkers 2020; Puig de Bellacasa 2017; Henkel et al. 2016b). Die gegenwärtige Relevanz von Sorge, Vor- und Fürsorge spiegelt sich auch in einer Vielzahl sozialwissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit dem Konzept. Allerdings wird in diesen Zusammenhängen zumeist nicht das konstitutive Verhältnis von Zeit und Sorge befragt. Dies scheint vor allem vor dem Hintergrund des Sorge-Konzepts, wie es im Forschungsschwerpunkt „Dimensionen der Sorge“ entwickelt wurde, verwunderlich: Dieses veranschaulicht einen grundlegenden Zusammen­ hang von Zeit und Sorge, der hier auf einen gegenwärtigen Zukunftsbezug zurückgeführt wird (vgl. Henkel et al. 2016b, S. 9; Henkel 2016; Linde­ mann 2016). Obgleich dieses zukunftsbezogene Sorgeverständnis überzeu­ gend ist, deutet die Analyse verschiedener empirischer Phänomene darauf hin, dass mit ihm nicht alle Phänomene in ihrer Komplexität vollständig erfasst werden können. So verdeutlichen insbesondere Analysen von Trau­ ma- und Gewalterfahrungen oder Zukunftsbezügen jenseits des Eurozen­ trismus (vgl. die Beiträge in diesem Band von Ehrens 2023; Hoffmann 2023; Kedenburg 2023; Richter 2023; Schnegg 2023), dass das Sorge-Kon­ zept für weitere Zeitbezüge geöffnet werden sollte. Auf diese Weise sollen weitere Zeitbezüge von Sorge der Analyse zugänglich gemacht werden: die gegenwärtige Präsenz von Vergangenem in einem Zustand der Sorge, Sor­ ge-Phänomene mit Gegenwartsbezug und Sorgeverhältnisse mit nicht-li­ nearen Zeitbezügen. Die untersuchten empirischen Phänomene deuten darauf hin, dass ‚Zeit und Sorge‘ mindestens drei Lesarten implizieren: Erstens legt eine am All­ 11

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tag orientierte Lesart von Zeit hier bestimmte Sorgen nahe, um etwa ein spezifisches „‚Worum?‘ der Sorge“ (Henkel et al. 2016b, S. 15; Henkel et al. 2016a) zu beschreiben und in einem bestimmten Kontext zu situieren. In diesem Zusammenhang verweist der Ausdruck Sorge auf ein Phänomen, das oftmals als verunsichernd empfunden wird. Der zeitliche (und oft auch räumliche) Horizont wird anhand von Sorge begrenzt: Die sorgende Be­ zugnahme auf etwas potenziell Verunsicherndes bestimmt hier also den zeitlichen (und räumlichen) Kontext. Neben der Auseinandersetzung mit Formen konkreter Sorgen kann der Titel zweitens in seiner Nähe zum Ca­ re-Begriff verstanden werden. Mit dieser Lesart wird Zeit und Sorge als die Zeit der Selbstsorge, der Versorgung von oder der Fürsorge gegenüber Dritten im Kontext institutionalisierter Sorgebeziehungen verstanden. Zeit ist hier kein spezifischer Bezugspunkt von Akteur*innen, der Sorgen kon­ textualisiert, sondern eine Einheit, die Handlungen und Akteur*innen rahmt. Sie lenkt den Blick auf Sorge-Beziehungen und tritt einerseits als begrenzende, andererseits als begrenzte Ressource hervor. Insbesondere in institutionalisierten Kontexten kann das Verhältnis von Zeit und Sorge mitunter von Profitorientierung geprägt sein. Sorgende Dienstleistungen müssen hier aufgrund struktureller Bedingungen in einem begrenzten Zeitfenster erbracht werden. Während die erste Lesart die Sorge um etwas fokussiert, legt die zweite Lesart den Fokus auf die zeitlich bzw. situativ eingrenzbaren Sorgebezie­ hungen selbst. Sie nimmt also die Einheit sorgender Praktiken in den Blick. Darüber hinaus impliziert der Titel drittens die mit der sozialtheore­ tischen Sorgekonzeption bereits angelegte theoretische Bestimmung der Zeitbezüge von Sorge (vgl. Henkel et al. 2016b; Henkel 2016; Lindemann 2016; Lindemann 2019). So zeigen empirische Sorgebezüge, dass sich das sorgende Gerichtet-sein auf etwas genuin zeitlich begreifen lässt. Diese dritte Lesart, die Sorge selbst als zeitliche Struktur versteht, ist für den vorliegenden Band grundlegend. Sie löst sich jedoch von der theoretischen Engführung auf den Zukunftsbezug, der sich in der Auseinandersetzung mit empirischen Phänomenen zunehmend als fragwürdig erweist. Vor diesem Hintergrund stellt sich daher die Frage, ob tatsächlich alle ‚Zeiten der Sorge‘ von der Vergegenwärtigung einer potenziellen Zukunft ausgehend gedacht und in diese Konzeption integriert werden können. Daher scheint eine Weiterentwicklung des Verhältnisses von Sorge und Zeitbezügen notwendig, innerhalb dessen Sorgen und Sorgepraktiken zu denken sind. Bevor dies konkretisiert wird, wird im Folgenden zunächst kurz dargestellt, wie Zeit und Sorge im Forschungsschwerpunkt sozial­ theoretisch zueinander in Beziehung gesetzt werden.

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Einleitung: Zeit und Sorge. Eine Verhältnisbestimmung

1 Zeit und Sorge – Konzept nach Henkel, Karle, Lindemann und Werner Die Konzeption des Forschungsschwerpunkts versteht Sorge im Anschluss an Martin Heidegger und Helmuth Plessner als eine auf die Zukunft ge­ richtete, gegenwärtige Problemkonstruktion und damit einhergehende Be­ arbeitung: „Die Sorge ist gegenwärtig als mögliche Zukunft. Sorge wirkt al­ so gegenwärtig durch die Voraussicht, durch die Vergegenwärtigung des­ sen, was nicht ist, aber doch werden könnte“ (Henkel et al. 2016a, S. 21). Vor diesem Hintergrund kann Sorge als problematisch erscheinende Zu­ kunft verstanden werden (vgl. Henkel 2016, S. 35). Auf diesen Aspekt einer problematisch erscheinenden Zukunft verwei­ sen auch verschiedene soziologische Gegenwartsdiagnosen (vgl. ebd.). Sie sind nach Anna Henkel (ebd., S. 36) Beleg dafür, dass der Moderne „ihre Zeitverhältnisse und damit verbunden ihr Zukunftsbezug problematisch“ geworden sind.1 Zudem sei für soziologische Gegenwartsdiagnosen kenn­ zeichnend, dass sie durch einen Mangel an theoretischen Reflexionen von Zeitlichkeit keine Distanz zu modernen Zeitverhältnissen aufwiesen. Das Sorge-Konzept dagegen könne diese Distanz erzeugen: Durch einen zu­ nächst offenen Analyserahmen werden die Zeitverhältnisse ‚sorgender Ein­ heiten‘ und ihrer Gegenstände der Untersuchung zugänglich. Somit zielt der Sorgebegriff auch darauf, moderne Zeitverhältnisse selbst zum Gegen­ stand der Analyse zu machen (vgl. Henkel et al. 2016a, S. 11f.; Henkel 2016, S. 36; Lindemann 2016, S. 73f.). Neben diesen grundlegenden Überlegungen wird das relationale SorgeKonzept im Hinblick auf die Differenzierung von Zukunftsbezügen ausge­ arbeitet. Henkel (vgl. 2016) entwickelt in diesem Zusammenhang im An­ schluss an Niklas Luhmann für die Moderne idealtypische Zukunftsbezüge. Im Rückgriff auf Luhmanns Überlegungen zum Wandel gesellschaftlicher Zeitstrukturen2 argumentiert sie, dass sowohl die Zeitmodi Vergan­ genheit, Gegenwart und Zukunft als auch die damit einhergehenden zeitli­ chen Orientierungen als spezifisch moderne Konstrukte zu verstehen sind. Vor diesem Hintergrund arbeitet Henkel zwei idealtypische und bisweilen koexistierende Zeitbezüge der Moderne heraus: Neben dem abstrakten „Zukunftsbezug der Dauer“ (ebd., S. 47) veranschaulicht sie mit Bezug auf 1 Ausgangspunkt für Henkels (vgl. 2016) Analyse sind Diagnosen der Risikogesell­ schaft, der Prognosegesellschaft, der reflexiven Modernisierung und der Beschleu­ nigung. 2 Dabei bezieht sie sich auf den Wandel „von einer Orientierung an der Differenz zwischen flüchtiger Zeit und Ewigkeit“ in der Vormoderne hin zum modernen „Differenzschema Vergangenheit und Zukunft“ (Henkel 2016, S. 47).

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Bitzer, Bosbach, Burow, Brand, Ehrens, Hoffmann, John, Kedenburg, Sellig und Stiller

sachlich-konkretisierte Zugriffe den „Idealtypus eines Zukunftsbezugs der Partikularisierung“ (Henkel 2016, S. 48), wobei insgesamt partikularisierte Zukunftsbezüge an Relevanz gewinnen (vgl. ebd., S. 49). In Bezug auf Sor­ ge bedeutet dies, dass auf Dauer gestellte Zukunftserwartungen – wie etwa die Sorge um ein Aufgehen des individuellen Menschen nach dem Tod in Gottes Unendlichkeit – zunehmend von Risiken um spezifische Daseins­ themen partikularisiert werden (vgl. ebd., S. 46ff.). Kritik an der Thematisierung von Zeitlichkeit in der soziologischen Theorie übt auch Gesa Lindemann (vgl. 2016). Sie sieht in der indirekten Thematisierung von Zeitlichkeit das Problem, dass Prämissen moderner Gesellschaften unhinterfragt übernommen und deshalb nicht analysiert werden könnten (vgl. Lindemann 2016). So würden individuelle, an Nut­ zenmaximierung orientierte Akteur*innen in soziologischen Handlungs­ theorien häufig vorausgesetzt. Dabei bleibe unreflektiert, dass diese Prä­ misse den modernen Individualismus als normativen Ausgangspunkt re­ produziere. Mit Rückgriff auf Heidegger und Plessner geht Lindemann stattdessen von leiblichen Selbsten aus,3 sodass Akteur*innen nicht auf in­ dividuell verkörperte Menschen reduziert werden. Sorge versteht sie so als Bestimmungsgrund von Handlungen: Sorge bedeutet hier nicht nur, reali­ sierbare Möglichkeiten zu antizipieren, sondern auch die Reflexion der ei­ genen Betroffenheit durch das, was eintreten könnte. Damit schlägt Linde­ mann eine leibphänomenologisch fundierte Differenzierung der für Sorge konstitutiven Zeitdimensionen vor: Demzufolge sind zeitliche Strukturen von Sorge an das leibliche Erleben gekoppelt. Neben der in Vergangen­ heit, Gegenwart und Zukunft differenzierten Modalzeit unterscheidet sie zwischen digitaler bzw. messbarer – leiblich erlebbarer – „Zeit“ und „Dau­ er“ (Lindemann 2019, S. 59; vgl. Lindemann 2014). Dementsprechend richte sich Sorge immer von einem Zeitpunkt im Jetzt auf eine Zukunft, die ihrerseits innerhalb einer gewissen Zeit bzw. einer gewissen Dauer leiblich erlebt werde. Sowohl bei Henkel als auch bei Lindemann ist Zu­ kunftsorientierung in der Konzeption von Sorge zentral. Dass die Zu­ kunftsorientierung selbst ein Phänomen der europäischen Moderne ist, wird in der Diskussion an dieser Stelle bislang hingegen nicht systematisch betrachtet.

3 Damit erreicht Lindemann eine Offenheit, die es ermöglicht, nicht nur individuel­ le Selbste, sondern auch Formen der Dividualität analytisch zu erfassen. Ebenso wird der Kreis möglicher Akteur*innen nicht vorab auf menschliche, verkörperte Selbste begrenzt (vgl. Lindemann 2014).

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Einleitung: Zeit und Sorge. Eine Verhältnisbestimmung

Die Relevanz des Verhältnisses von Sorge und Zeit wird darüber hinaus aus theologischer Perspektive hervorgehoben. So wird mit Blick auf die Konzeption von Sorge als gegenwärtiger Zukunft ergänzt, dass in der be­ wussten Ablehnung dieses – gleichzeitig bestätigenden – Zukunftsbezugs durchaus hilfreiche Potenziale begründet liegen können. In diesem Zu­ sammenhang betont Isolde Karle (vgl. 2016) in Anlehnung an Mt 6,25ff., dass die Fokussierung auf die Gegenwart eine mögliche Begrenzung der Sorge darstellt. Sie verweist darauf, dass in der Gegenwart das „Sorgen auf das Heute“ (Karle 2019, S. 22) beschränkt wird. Praktisch-theologisch ist vor allem die rituelle Begrenzung von Sorge – besonders im Gebet – inter­ essant, die den Fokus auf das Hier und Jetzt richtet. Indem die Zukunft als Szenario entworfen wird, das von der Gegenwart abgegrenzt wird, offenbart sich auch, dass Sorge nicht nur primär an der Zukunft orientiert sein kann. Schließlich sind alle diese Konzeptionen in der Annahme vereint, dass Zeit und Sorge in einem untrennbaren konstitutionellen Zusammen­ hang stehen und dass Sorge entlang bestimmter zeitlicher Ordnungen ge­ dacht werden muss (vgl. Lindemann 2019, S. 57). Dabei sind für Sorge Zeiträume von Relevanz, die sich von einem gegenwärtigen bis zu einem zukünftigen Zeitpunkt aufspannen. Von dieser Grundannahme ausgehend soll das Sorgeverständnis weitergedacht werden, das bisher im Forschungs­ schwerpunkt zugrunde gelegt wird. 2 Zeit und Sorge – Eine empirisch fundierte Verhältnisbestimmung Der Sorgebegriff gewinnt insbesondere in internationalen Diskursen ver­ mehrt an Bedeutung – auch jenseits theologischer Perspektiven (vgl. u. a. Puig de Bellacasa 2017; Haraway 2018; Folkers und Langenohl 2020). Die Frage nach den zeitlichen Bezügen von Sorge-Verhältnissen wird bislang jedoch wenig beachtet. Stattdessen wird in diesen Kontexten neben der Problematisierung klimatischer Konsequenzen des Anthropozän kritisiert, dass die anthropozentrische Akteursbegrenzung mehr-als-menschliche Sor­ gebeziehungen übergeht. Die Ausweitung von Akteur*innen in Sorgeverhältnissen rückt so zwar die Beziehung in den Fokus, lässt aber zeitliche Aspekte dieser Beziehung tendenziell außen vor. Zeit wird in Sorge-Debatten vor allem im Kontext der Klimakrise thematisiert. In diesem Zusammenhang werden jedoch die Zeitverhältnisse selbst nicht zum Gegenstand der Analyse gemacht. Während gerade im Kontext von Nachhaltigkeitsdiskursen die oben er­ wähnte erste Lesart von Zeit und Sorge (Worry) auftaucht und die zweite

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Bitzer, Bosbach, Burow, Brand, Ehrens, Hoffmann, John, Kedenburg, Sellig und Stiller

Lesart (Care) etwa im feministischen Kontext von Care zu finden ist4, wird die dritte Perspektive (Zeitverhältnisse) selten explizit in den Blick genommen. Wie eingangs dargestellt, wird der Begriff Sorge meist mit dem Fokus auf ein bestimmtes ‚Worum‘ thematisiert. Durch diese Fokus­ sierung auf das ‚Worum‘ und die Ausgestaltung der Sorge droht jedoch die zeitliche Analyse der sorgenden Beziehung zu verschwinden. Wie oben gezeigt, setzt das Sorgeverständnis aus dem Schwerpunkt einen anderen Fokus: Sorge wird hier als Zukunftsbezug gedacht (vgl. Henkel et al. 2016). Im vorliegenden Band wird die Reflexion verschie­ dener zeitlicher Ebenen von Sorge weiter vertieft. Ausgangspunkt der einzelnen Betrachtungen ist nicht nur die Sorge um etwas, sondern es wird von den zeitlichen Aspekten der Sorge ausgegangen. So kann der Zusammenhang zwischen Zeitlichkeit und Sorge qualitativ differenzierter herausgearbeitet werden als bisher möglich. Denn versucht man Sorge und Zeit mit Blick auf empirische Phänomene ins Verhältnis zu setzen, zeigt sich, dass Sorge nicht nur als gegenwärtiger Zukunftsbezug gedacht werden kann. Eine offene Zukunft kann ebenso für die Gegenwart und für die Sorge um die Vergangenheit wirksam werden. Daraus folgt, dass Sorge auch mit Blick auf den Vergangenheitsbezug gedacht werden muss. In den bisherigen Ausarbeitungen ist die enge konzeptionelle Verknüp­ fung von Zeit und Sorge vor allem auf die Zukunft bezogen. Dennoch ist darin bereits angelegt, dass auch die Gegenwart zentraler Bezugspunkt in diesem Verhältnis ist. Denn in ihr entfaltet sich die Sorge, wird er­ lebbar und im Moment ausagiert. Das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft bedeutet aber nicht nur gegenwärtig mit Blick auf die Zukunft motiviert zu sein oder gegenwärtig Zukunftsszenarien zu entwerfen. Es kann auch bedeuten, von Zukunftsszenarien gegenwärtig eingenommen zu werden. Hier liegen gleich zwei zentrale Ansatzpunkte: Einerseits er­ weist sich die Gegenwart als zentral, die Vergangenheit und Zukunft vermittelt. Andererseits fokussiert das bisherige Sorgekonzept Offenheit und Möglichkeiten, beschränkt diese aber auf die Zukunft. Dabei wird nicht in die Analyse einbezogen, dass sich die Offenheit der Sorge auch auf die Vergangenheit beziehen kann: Die Vergangenheit kann so offen wie die Zukunft auf Selbste wirken, wenn sie kollektiv oder individuell nicht abschließend verarbeitet wurde. Sie bleibt gegenwärtig, das Vergangene ist nicht vorüber. Versteht man Sorge nicht rein als gegenwärtigen Zukunftsbezug, treten demnach Formen der Gegenwarts- und Vergangenheitsorientierung deut­

4 Vgl. z. B. Bomert et al. 2021; Brückner 2015; Hartmann 2022.

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Einleitung: Zeit und Sorge. Eine Verhältnisbestimmung

licher hervor. Das oben bei Karle im Rahmen von Sorgebegrenzung ange­ sprochene Gebet als Moment vollkommener Gegenwart ist nur ein Bei­ spiel dafür, dass sich nicht alle Aktionen auf die Zukunft beziehen. Selbst­ sorgepraktiken wie Achtsamkeit, Yoga und andere (spirituelle) Techniken setzen sich zum Ziel, das Erleben auf das Hier und Jetzt zu beschränken und wenden sich zum Teil explizit gegen die moderne Zukunftsorientierung (vgl. dazu auch Karle 2019, S. 19–30). Darüber hinaus muss nicht nur die explizite Fokussierung auf die Gegenwart genannt werden. Schließlich kann auch die gegenwärtige Affizierung – z. B. durch Mitleid – sorgende Bezüge aufweisen, weil das Gegenwärtige alles andere dominiert. Wech­ selnde und konkurrierende Zeitbezüge von Sorge wie diese können differenzierter analysiert werden, wenn der Zukunftsbezug nicht theoretisch vorausgesetzt wird. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, Sorge vielmehr als raum-zeitli­ ches Konstrukt mit vielfältigen Zeitbezügen zu verstehen, die vor allem durch Offenheit gekennzeichnet sind. Damit ist also nicht nur die mögli­ che Zukunft relevant für die Gegenwart, sondern auch die erlebte und nicht-abgeschlossene Vergangenheit. Auf diese Weise wird deutlich, wie vielschichtig sich zeitliche Bezüge in sorgenden Verhältnissen verschrän­ ken. Der offene Blick auf die zeitlichen Ebenen kann darüber hinaus eine produktive Heuristik für die empirische Analyse sein. Deswegen gilt es, das bisher vor allem auf die Zukunftsorientierung fokussierte Sorge­ konzept zeitlich in alle Richtungen zu öffnen. Auf diese Weise werden Gegenwart und Vergangenheit explizit einbezogen und auch nicht-lineare Konzeptionen mitgeführt. Mit der Orientierung am Verhältnis von Zeit und Sorge wird letztere nicht nur als eine bestimmte Tätigkeit im Sinne des Sich-Sorgens um etwas verstanden, sondern es werden auch die für diese Tätigkeit zentra­ len zeitlichen Bezüge der Analyse zugänglich gemacht. In diesem Sinne wird eine weite Perspektive auf Sorgeverhältnisse nahegelegt, die zeitliche Aspekte als Heuristik wählt und explizit macht. Dadurch wird es möglich, den vielfältigen Zusammenhängen modalzeitlicher Bezüge und Sorge-Ver­ hältnissen nachzuspüren. Die aufgezeigten Perspektiven veranschaulichen, dass Sorge von den sorgenden Zeitbezügen weitergedacht werden kann. Diese Heuristik er­ möglicht es, auch nicht-moderne Zeitverhältnisse zu analysieren. So kann Sorge mit Blick auf die Zeitverhältnisse analysiert werden, die ihr zugrun­ de liegen oder sich in ihr artikulieren. Auch die rahmende Funktion von Zeitbezügen für Sorgepraktiken kann in einer solchen Analyse hervortre­ ten. Die Erweiterung des zeitlichen Kontinuums der Sorge ermöglicht das Herausarbeiten der Verschränkung verschiedener Zeitdimensionen. So 17

Bitzer, Bosbach, Burow, Brand, Ehrens, Hoffmann, John, Kedenburg, Sellig und Stiller

können auch das gegenwärtige sorgenvolle Erleben von Vergangenem, Phänomene mit Gegenwartsbezug und nicht-lineare Zeitlichkeit in Sorge­ kontexten in den Blick genommen werden. 3 Zeit und Sorge – Aktuelle Verhältnisbestimmungen Im an die Einleitung anschließenden Beitrag Bedingungen gelingender Sorge beschreiben Anna Henkel, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner die Entwicklung des Sorge-Konzepts hin zu Gelingensbedingungen akti­ ver Sorge. Sie gehen davon aus, dass aktive Sorge drei Komponenten benötigt: Soziale Bezogenheit, Resilienz und Nachhaltigkeit. Ohne soziale Beziehung (zu sich selbst und anderen) kein Worum der Sorge, ohne Resilienz im Sinne eines Mindestmaßes an wahrgenommener Handlungs­ freiheit keine Handlungsfähigkeit. Ohne Nachhaltigkeit im Sinne eines Offen-Haltens einer offenen Zukunft ist keine Sorge denkbar, da diese davon lebt, sich in eine Zukunft hinein entwerfen zu können. Im Anschluss an diese theoretische Verortung folgt die thematisch sor­ tierte Gruppierung der versammelten Beiträge. Dieser erinnert zwar an die Zeitkonzeption linearer Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zu­ kunft, durchbricht diese aber zugleich. Die einzelnen Beiträge in den ersten drei Kapiteln sind den chronologischen Bezügen zugeordnet, die sie primär bearbeiten: Vergangenheiten, Gegenwart und Zukünfte. Der vierte Teil des Bandes fokussiert nicht-lineare Perspektiven. Vor dem Hintergrund ihrer vielfältigen zeitlichen Bezüge werden Sorgen in den einzelnen Beiträgen jeweils situiert, Sorgebeziehungen beleuchtet oder das Verhältnis von Zeit und Sorge theoretisch neu zu bestimmen versucht. Dadurch wird einerseits verdeutlicht, welcher Zeitbezug im jeweiligen Beitrag vordergründig ist. Andererseits kontrastieren die Beiträge mitunter diese Unterteilung, wenn sie weitere Zeitbezüge herstellen als den, der in der Überschrift zentral gestellt ist. Dadurch werden Verflechtungen und Verschränkungen von Zeit und Sorge sichtbar. Der Kontrast veranschaulicht, dass es sich bei dieser Einordnung nur um eine heuristische Trennung handeln kann, die dazu einlädt, Sorge zeitlich zu verstehen. Diese Ordnung veranschaulicht und befragt so gleichermaßen eine lineare Zeitkonzeption.

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Vergangenheiten Der erste Teil des Bandes beginnt mit den zurückliegenden Vergangenhei­ ten. Der Plural ist hier gewählt, weil es unterschiedliche Bezugnahmen auf Vergangenheit gibt und Vergangenheit retrospektiv als kontingentes Phänomen in Erscheinung treten kann. Die hier versammelten Beiträge thematisieren vor allem Phänomene, in denen Vergangenheit Selbste nicht loslässt und die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit in unterschiedlicher Weise präsent ist. Cornelia Richter widmet sich in ihrem Beitrag Sorge und Zeit im Kontext der theologischen Resilienzforschung der Resilienz als Komplementärphäno­ men von Sorge. Da Resilienz von ihr nicht – wie so oft – als erstrebenswer­ te Fähigkeit, sondern als dynamischer Prozess verstanden wird, kommt Zeitlichkeit eine besondere Relevanz zu. Insbesondere der Vergangenheits­ bezug sticht hier heraus: Durch das Erinnern von Vergangenem in der Sorge wird die Vergangenheit selbst zur Gegenwart und dadurch zukunftsrelevant. Resilienz kann mit dem Begriff des Mediopassiven tiefer verstan­ den werden: Menschen finden sich zum einen in Situationen vor, die sie mit passiver Ohnmacht und Kontrollverlust konfrontieren, während sie zum anderen auch zukunftsgerichtete Gefühle wie Hoffnung, Akzeptanz und Liebe formulieren, die wiederum nicht intentional gesetzt werden können. Diese sind vielmehr abgeleitet aus in der Vergangenheit gepräg­ ten und teilweise vorgegebenen Überzeugungen, Symbolen, Erfahrungen und Praktiken. Die zeitlichen Aspekte von Resilienzprozessen deutet Rich­ ter schließlich aus theologischer Perspektive. Christian Ehrens erarbeitet in seinem Beitrag „Haunting Memories“ – Retrospektivität von Sorge nach Menschenrechtsverbrechen in Südafrika, welche Facetten retrospektiver Sorge im Kontext schwerer Menschenrechtsverbre­ chen beschrieben werden können. Hierfür analysiert er Fallbeispiele aus dem Kontext Südafrikas Transition von der Apartheid zur Demokratie und gelangt so zu einer dreifachen Kategorisierung: a) Es gibt Sorgen der Ver­ gangenheit – in Form von erlebtem Leid, andauernden Angstzuständen und wiederkehrenden Fragen – welche ohne speziellen Zukunftsbezug fortwir­ ken und Betroffene verfolgen; b) Es gibt institutionalisierte Formen speziel­ ler Nachsorge für diese Wunden der Vergangenheit etwa in der Arbeit von Wahrheitskommissionen und Storytelling; c) Es gibt eine an friedlicher Zukunft orientierte, aber aus der Vergangenheit motivierte Fürsorge – etwa für Erinnerung, Garantie auf Nichtwiederholung und Reparation. Ehrens veranschaulicht so, dass Sorge (in den drei Facetten) wesentlich aus der Vergangenheit mitbestimmt wird. Insbesondere im Interesse eines kon­ struktiven, friedensdienlichen Miteinanders ist das Anerkennen dieser Di­ 19

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mension relevant. Institutionelle Anerkennung vergangenen Unrechts kann hierbei ein wichtiger Schlüssel sein. Den gegenwärtigen Bezug auf vergangene Gewalterfahrungen bearbeitet auch Olga Kedenburg in ihrem Beitrag Bin ich vergewaltigt worden? Sorge als Vergangenheitsbezug. Anhand eines Fallbeispiels stellt sie eine Form von Sorge als Vergangenheitsbezug dar. Sie zeigt anhand von Material aus einem fokussierten ethnografischen Interview, dass die Vergangenheit eine affizierende Präsenz behalten kann, wenn ihre Deutung offenbleibt. Die Inter­ viewteilnehmerin sorgt sich, in der Vergangenheit vergewaltigt worden zu sein. Ihre rückblickende Interpretation des Erlebnisses entspricht jedoch nicht dem Erleben im Moment des Geschehens, sodass ihre Gewaltdeutung instabil ist. Sie ist dennoch leiblich ergriffen von der Möglichkeit einer eigenen Gewalterfahrung. Die Sorge als Vergangenheitsbezug beschreibt einen produktiven Modus des Nicht-Wissens, der diese leibliche Dimension umfasst. Er ermöglicht es, sich fragend auf vergangene Erfahrungen zu richten, und ihren Bedeutungswandel zu erschließen. Durch die Interpreta­ tion der Vergangenheit in einem veränderten gesellschaftlichen Kontext wird das Neuerleben der Vergangenheit möglich und es zeigt sich eine kontingente Vergangenheit in Bezug auf Gewalterfahrungen. Sie verändert das gegenwärtige Erleben, mitunter auch in Bezug auf die Zukunft. Die Möglichkeit einer kontingenten Vergangenheit und der Versuch der Harmonisierung kennzeichnen auch das Lebensende. Wie Lisa Stiller in ihrem Beitrag Gestern, Heute und Morgen in der hospizlich-palliativen Sorge und die Rolle der Seelsorge aufzeigt, lassen schwere Erkrankungen oder der absehbare Tod Zeitverhältnisse brüchig werden, sodass Zukunftsgestaltung vielfach kaum mehr möglich ist. Sie plausibilisiert aus Perspektive des Personals in Hospizen und auf Palliativstationen, dass die terminal erkrankten und sterbenden Menschen sich intensiv mit dem beschäftigen, was in der Vergangenheit war und was in Zukunft sein wird. Anhand von Interviewaussagen der Mitarbeitenden arbeitet Stiller die Zeitbezüge heraus, die sich in den Sorgen der Kranken artikulieren und beleuchtet an­ gemessene Formen des Umgangs. So veranschaulicht sie, dass sich Kranke und Sterbende eher an der Vergangenheit orientieren und daher insbeson­ dere in Kranken- oder Sterbekontexten retrospektive Bezüge von Sorge vermehrt in den Blick genommen werden sollten, weil eine explizit futuri­ sche Perspektive hier zu kurz greift. Dabei kommt insbesondere den in den Institutionen tätigen Seelsorgerinnen und Seelsorgern eine zentrale Rolle zu. In Gesprächen und Ritualen lenken sie mitunter den Blick auf das Hier und Jetzt, sodass die Sorgen begrenzt werden. In diesem Sinne deutet sich bereits an, dass neben dem Bezug auf Vergangenes auch das Moment der Gegenwart für Sorge relevant ist. 20

Einleitung: Zeit und Sorge. Eine Verhältnisbestimmung

Gegenwart Die Gegenwart ist die Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, der Knotenpunkt, an dem Bezüge in die eine oder die andere Richtung entfal­ tet werden. Darüber hinaus ist sie nicht nur der Ort konkreter Sorgen, die sich auf gegenwärtige Sachverhalte beziehen, sondern auch der Rahmen konkreter Sorgebeziehungen. Sie vermittelt zwischen Vergangenheit und Zukunft und wird von ihnen unterschiedlich stark eingenommen. Damit ist sie auch die Verbindung der vorangegangenen und nachfolgenden Bei­ träge. Während unter Vergangenheiten vor allem Beiträge versammelt sind, die die Herausforderung einer Diskrepanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart thematisieren, bearbeitet der zweite Teil auf die Gegenwart bezogene Sorgen. Die Gegenwart steht aus sprachlichen Gründen im Sin­ gular und verweist damit auch auf die Flüchtigkeit und Begrenzung. Von einem bestimmten Bezugspunkt kann immer nur ein Moment gegenwär­ tig sein, wohingegen verschiedene Vergangenheiten und Zukünfte neben­ einander existieren können. Damit wird bspw. auch die Frage nach den Gelingensbedingungen von gegenwärtiger Sorge zeitlich denkbar. Holmer Steinfath stellt in seinem Beitrag Die Zeitlichkeit der Sorge – Zur temporalen Struktur von Selbstsorge und Fürsorge im Anschluss an Harry Frankfurt und Martin Heidegger Überlegungen zur temporalen Struktur von Selbstsorge und Fürsorge an. Er fragt, ob und wie Frankfurts Begriff des Caring about und Heideggers Konzept der Sorge zu einem besseren Verständnis der Zeitlichkeit des sorgenden Umgangs mit sich und anderen verhelfen können. In kritischer Abgrenzung von seinen beiden Leitauto­ ren stellt er am Schluss seiner Ausführungen zwei Voraussetzungen für eine gelingende Sorge im Miteinander heraus: Erstens müsse eine solche Sorge wechselseitigen Respekt für die je besonderen Lebensrhythmen der Einzelnen zeigen. Es gelte Freiräume für eine selbstbestimmte Beziehung zur eigenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu eröffnen. Zwei­ tens gehe es aber gerade in gelungenen intersubjektiven Sorgebeziehungen auch darum, so einen Ausgleich zwischen der Synchronisation und der Desynchronisation der Lebensrhythmen zu finden, dass nicht nur die je­ weiligen Rhythmen und Zeitbedürfnisse respektiert werden, sondern es auch zu einem temporalen Mitschwingen mit den Rhythmen der jeweils anderen kommen kann. Im Anschluss an die von der Gegenwart ausgehende Differenzierung der Zeitbezüge gelingender Sorgebeziehungen rücken gegenwärtige Sorge­ beziehungen in den Blick. In dem Beitrag Identität in Grenzbereichen der Kommunikation – eine Sorge der Anderen? schaut Jana John aus interaktionis­ tischer Perspektive auf Situationen gegenwärtiger Sorge um die Identität 21

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Anderer. Am Fall von Identitätskonstruktionen Pflegeheimbewohnender geht sie der Frage nach, inwiefern Andere aktiv Sorge für die Identitätsar­ beit Pflegeheimbewohnender tragen. Auf Grundlage einer ethnografisch angelegten Fallstudie arbeitet sie die Bedeutung Anderer für Identitätsar­ beit heraus. Sie zeigt am Fall Pflegender, wie diese bei sprach- und stark bewegungseingeschränkten Personen ihrerseits eine Identität um Bewoh­ nende herum konstruieren und sie aktiv in kommunikative Handlungs­ vollzüge einbinden, um diese als Personen sichtbar werden zu lassen. In Bezug auf das Feld plausibilisiert John, wie in sorgenden Situationen Identitäten vermittelt und konstruiert werden, wobei sich die dazu konsti­ tutive pfadabhängige Kommunikation von Identität v. a. aus institutionali­ siertem (Akten-)Wissen speist. Sie resümiert, dass dadurch eine Existenz als Person im Zeitverlauf aufrechterhalten wird. Die sorgende Beziehung um die Identität ist hier in konkreten, zeitlich begrenzten Situationen Teil einer institutionalisierten Sorgebeziehungen, die gegenwärtige Momente entlang institutionalisierter Kriterien vorstrukturieren. Die gegenwärtige Sorge um Andere spielt auch in dem Beitrag Zeit, sich Sorgen zu machen von Jonas vom Stein eine Rolle. Allerdings schaut er weder auf die Gelingensbedingung gegenwärtiger Sorge noch interaktionistisch auf gegenwärtige Sorgebeziehungen. Vielmehr veranschaulicht er, wie sich auf die Gegenwart gerichtete Sorgen von Pfarrer*innen in einem zeitlich eingegrenzten Diskursfeld äußern. Dieses bezieht er auf die langen 1960er Jahre und rekonstruiert die Wahrnehmungen und Deutungen von Pfar­ rer*innen der Gegenwart. Anhand des sorgenvollen Blicks auf die Gegenwart als Krise plausibilisiert er den Pfarrberuf als eine sorgende Profession. Diese stellt er als Grund für die Defizitorientierung der Pfarrer*innen und damit für das von ihnen als krisenhaft wahrgenommene und gedeutete Erleben der Zeit in der Gegenwart heraus. Auf diese Weise bezieht er sich auf einen vergangenen Gegenwartsbezug der Sorge und leitet aus diesem die für den Pfarrberuf zentrale Haltung eines sorgenden Blicks auf die Gegenwart ab. Von dieser Beobachtung ausgehend argumentiert er, dass ein kritischer Blick auf Zeit nötig ist, damit Sorgen entstehen, diese aber gleichzeitig nicht in einen automatisierten Modus der Defizitorientierung verfallen sollen. Die gegenwärtige Sorge bearbeitet auch Melanie Bitzer in ihrem Beitrag Ambivalenzen zwischen einer Freiheit von und einer Freiheit zu in Zeiten der Sorge. Dabei geht Bitzer der Frage nach, wie ‚Freiheit‘ und eine ‚Sorge um‘ mit Blick auf den Freiheitsbegriff nach Erich Fromm zusammenhängen können. Fromms Freiheitsverständnis steht in enger Verbindung zu seinem theoretischen Modell des Sozialcharakters. Darauf nimmt Bitzer Bezug und arbeitet die Zusammenhänge zwischen positiver sowie negativer Freiheit nach Fromm und den beiden unterschiedlichen Formen der Sorge, nämlich 22

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des Sich-Kümmerns als aktive Praxis und des In-Sorge-Seins als Zustand heraus. Zukünfte Die Dimensionen der Sorge um sich, um andere oder die Umwelt äußern sich nicht nur mit Blick auf die Gegenwart, sondern auch mit Blick auf die Zukunft. Dieser Aspekt ist auch in der Relation zur Gegenwart in der bisherigen Sorgekonzeption der (sozial)theoretische Ausgangspunkt (des Forschungsschwerpunkts). Inwiefern Technologien an Sorge anschlie­ ßen und hier das Verhältnis von Zukünften und Sorge prägen, wird in diesem dritten Teil bearbeitet. Dabei wirkt in der Regel aber nicht nur eine Zukunft. Zukunft ist insofern potenziert, als die Gegenwart verschie­ dene Zukünfte entwirft und umgekehrt von verschiedenen Zukünften eingenommen wird. Damit geraten die festgelegte Taktung von Zukunftseinheiten wie Sorgeformen mit nicht-menschlichen Entitäten und andere Verhältnisbestimmungen von Gegenwart und Zukunft in den Blick. So arbeitet Julia Sellig in Sorgeübernahme in Zeitintervallen – Selbstregulie­ rende Technologien im Sorgesetting am Fallbeispiel von Medizintechnologi­ en für Diabetiker*innen heraus, dass Sorgeübernahmen in vorgegebenen technologischen Zeitintervallen zu einem Dilemma führen: Zeitlichkeit wird zur Bedingung von Sorgeleistung. Diese kann wiederum nur funk­ tionieren und damit genommen werden, wenn von der sorgebedürftigen Person selbst Körper-Daten gegeben werden. Dieser Sorgestil beginnt also nicht mit einer Sorgeleistung ausgehend vom Gegenüber, sondern mit einer Selbstsorge und fällt in diese ggf. zurück. Vor diesem Hintergrund gelte es laut Sellig abzuwägen, in welcher Gewichtung Selbststress aus Selbstsorge bzw. Entlastung durch eine technologische Sorgeübernahme in Zeitintervallen zueinanderstehen. Während hier eine sorgenfreie Zukunft immer nur zeitweise ermög­ licht wird, behandelt der nachfolgende Beitrag das gesamtgesellschaftliche Sorge-Versprechen der Robotik für Sorge-Kontexte wie Kindererziehung, Partnerschaft und Pflege. In Sorge in Zeiten von Robotik – Zur Erweiterung einer transhumanen Sorgekonzeption schlägt Johannes F. Burow zur theoreti­ schen Konzeption der entstehenden Interaktionen mit Roboter*innen eine präreflexive Interaktionsperspektive vor, die auf den Formen der „Einlei­ bung“ (Schmitz 1965) basiert. Diese ermögliche die Betrachtung von For­ men ‚transhumaner Sorge‘ und ergänze die bestehende Sorgekonzeption innerhalb des bestehenden Rahmens und ihrer Bezüge zu Plessner und Schmitz. Burow zeigt exemplarisch anhand verschiedener Robotik-Studien, 23

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welcher Mehrwert sich ergeben kann, wenn Roboter*innen oder andere nicht-menschliche Entitäten als Teil von Sorge-Beziehungen betrachtet werden. Erst darauf aufbauend könne die Tragfähigkeit des gegenwärtigen Zukunftsversprechens der Sorge-Robotik befragt werden. Die Lösung von zukünftigen Problemen bearbeitet auch Isabelle Bos­ bach in ihrem Beitrag Zeit und Kryotechnologien – Vorsorge im Spannungs­ verhältnis von biografischer Zukunftsorientierung, biologischer Eigenzeit und Gegenwartsdehnung. Hier widmet sie sich dem Verhältnis von Zeit und humanen Kryotechnologien, sowie der sozialwissenschaftlichen Perspekti­ ve auf diese. Kryotechnologische Praktiken versteht sie als Vorsorge, die eine zentrale Funktion für moderne Gesellschaften haben. Ausgangspunkt ihrer Argumentation ist die Darstellung des potenziellen Einflusses von Kryotechnologien auf moderne Zeitverhältnisse. Dafür erläutert sie den kryotechnologisch erzeugten Zustand des ‚latent life‘ und die damit ein­ hergehenden Möglichkeiten. Vor diesem Hintergrund ordnet sie die bishe­ rigen sozialwissenschaftlichen Abhandlungen mit Blick auf die Analyse von Zeitverhältnissen mit ihren Stärken und Schwächen und reflektiert ab­ schließend, dass der Vorsorgebegriff nicht nur die Sicherung der Zukunft, sondern auch die der Gegenwart umfassen kann. Jenseits linearer Zeit Obgleich in den bisherigen Beiträgen einzelne dominierende Zeitbezüge identifiziert wurden, deuteten sich auch immer wieder Verschränkungen und Brüche in der linearen Konzeption von Zeit an. Diese werden in den letzten vier Beiträgen weiterverfolgt. Sie unterscheiden sich sowohl hinsichtlich dieser Brüche oder Verschränkungen als auch in der Distanz zu linearer Zeit in der Sorgebeziehung. Im ersten Beitrag veranschaulicht Michael Schnegg die Pluralität der Ver­ schränkung von Zeit und Sorge in verschiedene/n Zukunftskonzeptionen. In seinem Beitrag Die Sorgen um das Klima von morgen zeigt er, wie unter­ schiedliche Vorstellungen von Zeit und Zukunft auf die Verortung von Menschen in der Welt und auf den Schweregrad ihrer Sorgen wirken. Bei übereinstimmender Bewertung der klimatischen Veränderungen bestehe so in zirkulären Zeitkonzeptionen weniger Anlass zur Sorge, als wenn sich die Zukunft als offen und kontingent darstellt. Die Analyse basiert dabei auf den unterschiedlichen Arten, wie sich diese Zeitkonzeptionen in der situativ phänomenalen Wahrnehmung von (ausbleibendem) Regen in seinen ethnografischen Studien in Namibia zeigen. Theoretisch baut der Beitrag auf Bernhard Waldenfels und insbesondere Martin Heideggers Sor­ 24

Einleitung: Zeit und Sorge. Eine Verhältnisbestimmung

ge-Konzept auf, welches Schnegg um eine Pluralität an Zukunftskonzeptionen ergänzt und damit Zukunftsbezüge jenseits linearer Zeit vorstellt. Die mitunter gebrochenen und nicht linear verlaufenden Bezüge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft thematisiert auch Mareike Sophie Hoffmann. In ihrem Beitrag Fighting for Continuity of Pacific Cultures and Existence: Climate Change Narratives by Pacific Climate Warriors beschäftigt sie sich mit den Narrativen der Jugendklimabewegung 350 Pacific, aka Pa­ cific Climate Warriors. Dabei fokussiert sie insbesondere die Erzählungen über den Klimawandel in Verbindung mit der Vergangenheit ihrer Vor­ fahren, ihrer Beziehung zur natürlichen Umwelt und ihren Vorstellungen von einer gerechteren Zukunft. Auf der Grundlage einer thematischen Analyse von Beiträgen in sozialen Medien wird festgestellt, dass durch Narrationen und insbesondere das Motto „We are not drowning, we are fighting“ ein Handlungsaufruf zu Sorgen (care) und zu Hoffen (hope) erfolgt, der die Klimabewegung antreibt. Zudem beobachtet sie, dass die Aktivist*innen die Bedeutung der Kontinuität des Lebens zum Ausdruck bringen, indem sie die Verbindung zwischen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Generationen und der natürlichen Welt betonen. Dabei wird mit linearen Zeitkonzeptionen insofern gebrochen, als die modalzeit­ liche Differenzierung für das Leben vor Ort nicht maßgeblich ist. Aller­ dings argumentieren die Aktivist*innen dann linear, wenn sie das Voran­ schreiten des Klimawandels als Ursache dafür sehen, dass eine zyklische Lebensorientierung mit allen Zeitbezügen verunmöglicht wird. Den Bruch innerhalb einer linearen Zeitkonzeption veranschaulicht Laura Brand in ihrem Beitrag Abschiedsrituale im stationären Hospiz – In­ szenierte Verschränkung von Zeitdimensionen in der Grenzsituation des Todes durch die Auseinandersetzung mit temporalen Aspekten von Abschiedsri­ tualen. Dabei betrachtet sie Rituale, die im stationären Hospiz von den Mitarbeiter*innen zusammen mit den An- und Zugehörigen im Beisein der verstorbenen Person durchgeführt werden. Sie zeigt auf, wie im Ritual die verschiedenen Zeitdimensionen, Vergangenheit, Gegenwart und Zu­ kunft, miteinander verschränkt und die Zeitgrenzen gewissermaßen aufge­ hoben werden. In dieser Inszenierung zeitlicher Verschränkung vollzieht sich das Abschiednehmen der Ritualteilnehmer*innen von der verstorbe­ nen Person. Obgleich Brand lineare Zeit als Ausgangpunkt ihrer Analyse wählt, zeigt sie auf, dass der lineare Ablauf von Ereignissen mitunter nicht mit dem Erleben der Akteur*innen im konkreten Vollzug konform ist. In ihrer Untersuchung der Abschiedsrituale im stationären Hospiz stellt sie dar, wie der Tod als Ereignis in der Vergangenheit im Modus des Als-Ob als gegenwärtig andauerndes Geschehen inszeniert wird. Die in der Vergangenheit zurückliegende Möglichkeit zum Abschiednehmen für 25

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die Hinterbliebenen wird dadurch gegenwärtig real, das Abschiednehmen selbst im Ritual zeitversetzt noch einmal erlebt. In dem letzten Beitrag Der Mensch zwischen gestern und morgen – Zeitdi­ mensionen in der Seelsorge von Carina Kammler wird zum einen aufgezeigt, wie Seelsorge im Rahmen des christlichen Glaubens an Schöpfung und eschatologische Vollendung Teil an einem linearen Zeitverständnis hat, dieses aber zum anderen aus der Perspektive des christlichen Glaubens transzendiert wird. Kammler behandelt dies anhand der Frage, in welcher Weise Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Seelsorge zur Spra­ che kommen. Als Referenzpunkt dienen ihr Beobachtungen der Soziolo­ gin Eva Illouz zur ‚therapeutischen Erzählung‘ als kulturellem Rahmen, in welchem Seelsorge stattfindet: Der Mensch werde heute einerseits als rein passives Produkt seiner Vergangenheit begriffen, von der er sich an­ dererseits in der Gegenwart aktiv lösen müsse, um dann seine Zukunft frei und vollkommen selbstbestimmt gestalten zu können. Diese These wird mit Gedanken des praktischen Theologen Henning Luther ins Ge­ spräch gebracht, der den Menschen als Fragment aus Vergangenheit und Zukunft begreift. Kammler plädiert für einen realistischen Umgang mit den Fähigkeiten des Menschen in Bezug auf alle Zeitdimensionen und da­ mit für eine Seelsorge, die einerseits im Blick behält, dass der Mensch sein Leben nie nur passiv erlebt, und die andererseits darum weiß, dass sein Handlungsspielraum immer auch klare Grenzen hat. Dies geschieht vor dem Hintergrund der christlichen Hoffnung, dass Vergangenheit, Gegen­ wart und Zukunft nicht ‚fertig‘ sind, sondern bei Gott als dem Schöpfer der Zeit vollendet und erlöst werden, wodurch lineare Zeit zugleich in Anspruch genommen und aufgelöst wird. Der Band versammelt Beiträge, die Zeit und Sorge auf unterschiedli­ che Weise ins Verhältnis setzen. Das (sozial-)theoretische Konzept von Sorge aus dem Forschungsschwerpunkt wird damit für die empirische Vielfalt von Zeitbezügen geöffnet, die Sorge herstellen kann. Eine solche Perspektive setzt Linearität nicht als Ausgangspunkt, sodass auch Brüche mit dieser Konzeption in den Blick genommen werden können. Diese theoretische Öffnung sensibilisiert dafür, dass erlebte Brüche oder krisen­ hafte Momente auch auf eine Diskontinuität im Erleben einer linearen Zeitkonzeption hinweisen können. Sie verweist darauf, dass die mit dem Sorge-Konzept sozialtheoretisch gesetzte Linearität nicht zwangsläufig alle empirischen Phänomene umfasst. Um die Zeitlichkeit von Sorgeverhält­ nissen auch jenseits linearer Konzeptionen zu rekonstruieren, muss den verschiedenen Bezügen und Verhältnissen gefolgt werden, die sich empi­ risch auffinden lassen.

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Bitzer, Bosbach, Burow, Brand, Ehrens, Hoffmann, John, Kedenburg, Sellig und Stiller Hoffmann, Mareike Sophie. 2023. Fighting for Continuity of Pacific Cultures and Existence: Climate Change Narratives by Pacific Climate Warriors. In Zeit und Sorge (Dimensionen der Sorge 8), Hrsg. Melanie Bitzer, Isabelle Bosbach, Laura Brand, Johannes F. Burow, Christian Ehrens, Mareike Hoffmann, Jana John, Olga Kedenburg, Julia, Sellig, Lisa Stiller, Anna Henkel, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner, 253–269. Baden-Baden: Nomos. Karle, Isolde. 2019. „Sorget nicht“ in der Sorgegesellschaft. In Sorget nicht – Kritik der Sorge (Dimensionen der Sorge 2), Hrsg. Anna Henkel, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner, 19–30. Baden-Baden: Nomos. DOI: https://doi. org/10.5771/9783845289212-17 Kedenburg, Olga. 2023. Bin ich vergewaltigt worden? Sorge als Vergangenheitsbe­ zug. In Zeit und Sorge (Dimensionen der Sorge 8), Hrsg. Melanie Bitzer, Isabel­ le Bosbach, Laura Brand, Johannes F. Burow, Christian Ehrens, Mareike Hoffmann, Jana John, Olga Kedenburg, Julia Sellig, Lisa Stiller, Anna Henkel, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner, 69–86. Baden-Baden: Nomos. Lindemann, Gesa. 2014. Weltzugänge. Die mehrdimensionale Ordnung des Sozia­ len. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Lindemann, Gesa. 2016. In Sorge und aus Lust. In Dimensionen der Sorge. Sozio­ logische, philosophische und theologische Perspektiven (Dimensionen der Sor­ ge 1), Hrsg. Anna Henkel, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner, 73–97. Baden-Baden: Nomos. DOI: https://doi.org/10.5771/9783845272597-73 Lindemann, Gesa. 2019. Zeit der Nichtsorge. In Sorget nicht – Kritik der Sorge (Dimensionen der Sorge 2), Hrsg. Anna Henkel, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner, 57–73. Baden-Baden: Nomos. DOI: https://doi.org/10.5771/ 9783845289212-57 Puig de La Bellacasa, Maria P. 2017. Matters of care: Speculative ethics in more than human worlds. Minneapolis: University of Minnesota Press. Schmitz, Hermann. 1965. Der Leib. System der Philosophie, Zweiter Band. Erster Teil. Bonn: Bouvier. Schnegg, Michael. 2023. Die Sorgen um das Klima von morgen. In Zeit und Sorge (Dimensionen der Sorge 8), Hrsg. Melanie Bitzer, Isabelle Bosbach, Laura Brand, Johannes F. Burow, Christian Ehrens, Mareike Hoffmann, Jana John, Olga Kedenburg, Julia Sellig, Lisa Stiller, Anna Henkel, Isolde Karle, Gesa Lin­ demann und Micha Werner, 231–251. Baden-Baden: Nomos. Richter, Cornelia. 2023. Sorge und Zeit im Kontext der theologischen Resilienzfor­ schung. In Zeit und Sorge (Dimensionen der Sorge 8), Hrsg. Melanie Bitzer, Isabelle Bosbach, Laura Brand, Johannes F. Burow, Christian Ehrens, Mareike Hoffmann, Jana John, Olga Kedenburg, Julia Sellig, Lisa Stiller, Anna Hen­ kel, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner, 41–50. Baden-Baden: Nomos.

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Bedingungen gelingender Sorge Anna Henkel mit Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner

1 Dimensionen der Sorge – Ausgangspunkte Zielsetzung des Forschungsschwerpunkts „Dimensionen der Sorge“, der 2014 vom Evangelischen Studienwerk Villigst eingerichtet wurde, ist, den vielfältigen lebensweltlich-semantischen und theoretischen Aspekten der Sorge durch ein analytisches Konzept gerecht zu werden, dass es ermög­ licht, diese wechselseitig aufeinander zu beziehen. Sorge wird dabei ver­ standen als gegenwärtiger Zukunftsbezug und methodisch bestimmt als Beziehung zwischen einem sorgenden Selbst und einem „Worum“ seiner Sorge. Sorge um sich, Sorge um Andere und Sorge um die Umwelt ergeben sich als drei Relationen der Sorge, die durch eine historisch-ge­ nealogische Perspektivierung sowie durch die Berücksichtigung möglicher Außenverhältnisse erweitert werden (vgl. Henkel et al. 2016). Dieses Kon­ zept der Sorge verspricht Aufschluss im Hinblick auf die Frage, wie sich die Sorge als existentielle Beziehung des Menschen zu sich, zur Umwelt und zu seiner Mitwelt in der Gegenwart manifestiert und welche Wege im Umgang mit der Sorge beschritten werden. Zeit ist in diesem Unter­ suchungsansatz der Sorge von Anfang an konzeptionell in zweifacher Hinsicht relevant: einmal in der Bestimmung der Sorge als Zeitbezug, nämlich als gegenwärtiger Bezug auf Zukunft, sowie dann empirisch im Hinblick auf die historisch-genealogische Frage nach einem Wandel von Sorge. Eine nähere Untersuchung des Verhältnisses von Zeit und Sorge ist daher sowohl Ergebnis der Arbeit mit dem nunmehr seit mehreren Jahren im Schwerpunkt etablierten heuristischen Verständnis von Sorge als auch vielversprechend für die weitere Präzisierung dieses Ansatzes. Dimensionen der Sorge haben eine große aktuelle Relevanz. Konkrete soziale Herausforderungen wie der Pflegenotstand, aber auch gesellschaftliche Tendenzen einer zunehmenden individuellen Überforderung sowie nicht zuletzt Krisen in Politik, Wirtschaft und Umwelt lassen eine wissen­ schaftliche Untersuchung von Sorge umso dringlicher werden. Die aus den Perspektiven von Soziologie, Theologie und Philosophie im Rahmen des Schwerpunkts behandelten Gegenstände leisten unter Bezug auf das heuristische Konzept der Dimensionen der Sorge Beiträge näheren Verste­

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hens und Erklärens konkreter Sorge-bezogener Themen. Gleichzeitig erge­ ben sich aus der Verwendung des Konzepts der Dimensionen der Sorge Anregungen zu dessen Weiterentwicklung. So stellt sich im Anschluss an Fragen nach Widersprüchlichkeiten der Sorge und einer etwaigen Möglichkeit des Nicht-Sorgens vor allem die Herausforderung einer Be­ stimmung von Rahmenbedingungen aktiv gelingender Sorgebeziehungen. Glück, ein ‚gutes Leben‘ oder auch ‚gute Beziehungen‘ erfordern aktive Sorgebeziehungen im Sinne eines reflexiven Sorge-Bezugs auf sich, auf Andere und auf die Umwelt, das Rückwirkungen berücksichtigt, etwa im Sinne eines wechselseitigen Gebens. Dies ist jedoch in einer individua­ listischen Leistungsgesellschaft schwer zu leben, da ein Berücksichtigen von Rückwirkungen und damit Selbstachtsamkeit, Engagement für andere und Schutz von Umwelt tendenziell als Verzicht auf ein Ausnutzen be­ stimmter Vorteile und damit als Verlust angesehen werden. Zu fragen ist daher nach den Rahmenbedingungen, unter denen Selbstentfaltung, Al­ truismus und Nachhaltigkeit als aktive Formen der Sorge um sich, um An­ dere und um die Umwelt gefördert oder verhindert werden. Diese Formen aktiver Sorge haben einen Zukunftsbezug gemeinsam, der gegenwärtig dafür Sorge trägt, dass auch künftig gegenwärtige Zukunftsbezüge mög­ lich sind. Bezogen auf das sorgende Selbst gewährleistet Selbstbehauptung das Aufrechterhalten dieses Selbst und seiner Möglichkeiten einer aktiven Gestaltung gegenwärtigen Bezugs, also die Erhaltung und Entfaltung sei­ ner Handlungsfähigkeit. Bezogen auf andere gewährleistet Altruismus das Aufrechterhalten der Beziehung und deren Potential einer aktiven Gestal­ tung eines kooperativen gegenwärtigen Zukunftsbezugs. Bezogen auf die Umwelt gewährleistet Nachhaltigkeit die Erhaltung von Umwelt als einer auch langfristig erwartbar gestaltbaren Umwelt. Aktive Sorge zielt mithin auf einen gegenwärtigen Zukunftsbezug, der das Fortbestehen des jeweili­ gen „Worums“ der Sorge gewährleistet. Im Folgenden werden zunächst einige Zwischenergebnisse aus der Arbeit an und mit den Dimensionen der Sorge zusammengefasst sowie die Perspektiven aktiv gelingender Sorge umrissen. 2 Worum der Sorge, Kritik der Sorge, Nicht-Sorgen – Zwischenergebnisse Die gemeinsame Ausgangsheuristik der Dimensionen der Sorge fasst Sorge als gegenwärtigen Zukunftsbezug und bestimmt diese als Beziehung zwi­ schen einem sorgenden Selbst und einem „Worum“ der Sorge. Bereits ausgehend von den unterschiedlichen „Worum“ der Sorge lassen sich disziplinär verschiedene Perspektiven der Sorge entwickeln. Beispiels­ 30

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weise geht hinsichtlich der Dimension der „Sorge um sich“ Henk van Gils aus der Philosophie der Frage nach den allgemeinen Bedingungen einer gelingenden Selbstsorge nach (vgl. Gils 2016), während Franziska Scha­ de mit der Untersuchung religiöser Selbstsorge in Jugendkirchen nach Rahmenbedingungen gelingender Seelsorge fragte (vgl. Schade 2021). Die Soziologie brachte in die übergreifende Diskussion über die Dimensio­ nen der Sorge den Stellenwert von Technik im Dissertationsprojekt von Richard Paluch ein (vgl. Paluch 2016). Ferner reflektierte sie, dass mit Selbstsorge auch Ausgrenzungstendenzen verbunden sein können (Disser­ tationsprojekt von Tina Schröter (vgl. Schröter 2016)) und ging auf den engen Zusammenhang von Sorge um sich und Sorge um Andere ein (Dissertationsprojekt von Stefanie Schniering (vgl. Schniering 2021)). Die Heuristik erweist sich in der interdisziplinären Diskussion der Di­ mensionen der Sorge so insgesamt als fruchtbar. Zugleich gibt sie Orien­ tierung in der Auseinandersetzung mit übergreifenden Fragestellungen. Dazu gehört die These, dass der Mensch in der Moderne ganzheitlichere Formen der Bearbeitung von ihm existentiell gegebenen Sorgen zu wesent­ lichen Teilen verlustig gegangen ist, insofern sich die Sorge um das „Heil“ seiner Selbst, der ihm Nächsten und der Welt, in der er lebt, zunehmend in einer Vielfalt partikularer Bemühungen, raum-zeitlich überschaubare Ziele zu erreichen, manifestiert (vgl. etwa Henkel 2016). Zudem stellen sich als Querschnittsfragen, inwieweit eine Sorge um sich, um Andere und um die Umwelt in einem Zusammenhang etwa der Verstärkung oder der Substituierung stehen, inwieweit sich Sorge in den entwickelten drei Dimensionen als menschlich-existentielle Grundkonstante fassen lässt (vgl. etwa Lindemann 2016), in welchem Verhältnis die Rationalität der Sorge zu einer ökonomischen Zweckrationalität steht (vgl. etwa Schnabel 2019), welche Auswirkungen eine Standardisierung der Sorge hat (vgl. etwa Werner 2016) und welche Möglichkeit das sorgende Selbst in der Gegenwart hat, in der Sorge um sich, um Andere und um die Umwelt eine positive Gelassenheit, die auch religiös konnotiert sein kann, zu erlangen (vgl. etwa Karle 2019). Schwierige evaluative und normative Fragen ergeben sich daraus, dass die verschiedenen Dimensionen der Sorge in einem engen Verhältnis zu­ einanderstehen. So ist beispielsweise eine Sorge um sich zwar elementar, will man beispielsweise in der Pflege von Demenzkranken nicht sich selbst verlieren (vgl. Schniering 2021). Doch sind andere in der Sorge um sich stets in der einen oder anderen Weise involviert: positiv verstärkend wie im Beispiel der Jugendkirche (vgl. Schade 2021), als ausgegrenzte andere wie Johanna Fröhlich in ihrer Arbeit im Kontext der neuen Rechten zeigt (vgl. Fröhlich 2019), aber auch als potenziell paternalistisch bevormunden­ 31

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de, wie es am Fall des nudging von Birthe Frenzel diskutiert wird (vgl. Frenzel 2019). Ähnliche Bezüge lassen sich analog bezüglich der Sorge um die Umwelt diskutieren. Die Querschnittsfrage nach einem Bezug der Verstärkung oder Substitu­ ierung der drei Dimensionen verbindet sich hier mit der Querschnittsfrage nach den Bedingungen einer positiven Gelassenheit zu einer Kritik der Sorge, die religiös vielfach thematisiert wird (z. B. in der jesuanischen Auf­ forderung, sich nicht zu sorgen, vgl. etwa Eichener 2022, Anselm 2019). Eine Annährung verspricht der Weg, sich der Kritik der Sorge von der Sorgenfreiheit her zu nähern (vgl. Henkel et al. 2019b): Sorge kann als Manifestation einer Sehnsucht nach einem Zustand der Sorgenfreiheit aufgefasst werden – ohne Belastungen durch Termine, ungeliebte Tätigkei­ ten oder hohe Anforderungen. Umgekehrt kann Sorgenfreiheit erkauft sein durch Fremdbestimmung, Entmündigung oder Irreführung. Durch die Einbeziehung der Sorgenfreiheit wird die Ambivalenz der Sorge deut­ lich: als handlungshemmend und handlungsmotivierend ebenso wie als einschränkend und ermächtigend. Religiös gründet eine positive Sorgen­ freiheit im Vertrauen auf Gott, der die Zukunft kennt, die zur Sorge im Heute führt und verspricht, für seine Geschöpfe zu sorgen („Sorget nicht“, Mt 6,25). Die analytischen Dimensionen der Sorge lassen sich durch die Unter­ suchung der Sorgenfreiheit weiter entwickeln – und zwar in drei Rich­ tungen: Erstens kommt die Sorgenfreiheit als empirisch-gesellschaftliches Phänomen in den Blick. Dabei stellt sich die Frage, unter welchen gesell­ schaftlichen Bedingungen Freiheit von Sorge überhaupt möglich ist. Zwei­ tens involviert die Einbeziehung der Sorgenfreiheit eine Erlebensdimensi­ on und die Frage, wie Sorge als leib-körperliches sowie atmosphärisches Phänomen zu fassen ist. Drittens schließlich impliziert die Perspektive der Sorgenfreiheit mit ihrem utopischen (und ggf. religiösen) Charakter eine kritisch-bewertende Perspektive, denn es stellt sich die Frage, warum ein Zustand der Sorge überhaupt besteht (vgl. Henkel et al. 2019a). Die Auseinandersetzung mit der Kritik der Sorge erlaubt näheren Auf­ schluss zu der These, dass der Mensch in der Moderne ganzheitlichere Formen der Bearbeitung von ihm existentiell gegebenen Sorgen zu wesent­ lichen Teilen verlustig gegangen ist. Die verschiedenen interdisziplinären Querschnittsfragen, insbesondere nach der Beziehung zwischen Sorge und Zweckrationalität und der positiven Gelassenheit werden damit ebenfalls berührt. So ist ein Hintergrund zur Untersuchung der Dimensionen der Sorge die These, dass die moderne Gesellschaft sich durch einen der Ten­ denz nach gegenstandsorientierten, auf konkrete Ziele gerichteten gegen­ wärtigen Zukunftsbezug auszeichnet – wie die Steigerung des eigenen 32

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Werts auf dem Arbeitsmarkt durch Erlernen einer weiteren Fremdsprache oder auch die Steigerung der eigenen Lebensqualität durch systematisches Erlernen von Entspannungstechniken (vgl. Henkel et al. 2016). Bereits in dieser Diagnose schwingt die Vermutung mit, dass sich Sorge im Versuch ihrer Bewältigung durch Erreichen konkreter Ziele auch vergrößern kann. Zwar können gegenwärtige Zukunftsbezüge über eine Gegenstandsorien­ tierung angestrebt, bearbeitet und gegebenenfalls erreicht werden, doch geht mit einem generalisierten gegenwärtigen Zukunftsbezug eine bestän­ dige Vervielfältigung von Sorge einher, wenn es nicht zugleich möglich ist, sich in einer übergreifenden Dauer, wie sie die christliche Eschatolo­ gie entfaltet, selbstverständlich aufgehoben zu fühlen (vgl. auch Eichener 2022). Diese Überlegung führt zu der Frage, ob in der modernen Gesellschaft Sorgenfreiheit überhaupt möglich ist. Hier liegt die Vermutung eines Teufelskreises nahe: Mit einer allgemeinen Komplexitätssteigerung geht einher, dass Situationen zunehmend als uneindeutig wahrgenommen wer­ den, was die Tendenz verstärkt, rationale Entscheidungen treffen zu wol­ len, um in der Uneindeutigkeit eine Handlungsorientierung zu haben. Wird rationales Handeln dabei auf strategisches Handeln verkürzt, steigert dies wiederum die Komplexität von Situationen, da das soziale Gegenüber, das strategisches Handeln erwartet, nun seinerseits strategisch handelt. Auf diese Weise bringt strategisches Handeln Situationen hervor, die strategisches Handeln erfordern – und damit letztlich zu einer Komple­ xitätssteigerung ihrerseits beitragen. Die zentrale Herausforderung wäre mithin folgende: Die moderne Gesellschaft ist auf die Vorstellung des autonomen, entscheidungs- und verantwortungsfähigen Individuums an­ gewiesen. Rechtsstaat, Demokratie, Markt und auch Bildungssystem setzen dies notwendig voraus. Gleichzeitig entsteht aus dieser Konstellation eine Komplexität, die systematisch uneindeutige und unbestimmbare Situatio­ nen produziert und damit Situationen, die Sorge involvieren. Zweckratio­ nales Handeln mag hier im Einzelnen ein Ausweg sein, löst aber das Desiderat einer Komplexitätsreduktion nur unvollkommen. Wie kann es gelingen, Relationen herzustellen, in denen Sorge angesichts von zur Ver­ zweiflung bringender Komplexität auch mit Blick auf die individuelle Zufriedenheit möglich ist? Ist es auch unter den Bedingungen moderner Vergesellschaftung möglich, Institutionen zu entwickeln, die die Sorge re­ lativierende Einbettung in eine übergreifende Dauer ermöglichen? Welche Rolle spielt dabei die religiöse Kommunikation? Das Verhältnis des Zustands des In-Sorge-Seins und der Sorgepraxis eines Sich-Kümmerns-um gilt es theoretisch und empirisch näher zu unter­ suchen. Auf theoretischer Ebene stellt sich die Frage, wie die unterschied­ 33

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lichen Sorgeformen (des Sich-Kümmerns-um als aktive Praxis und des InSorge-Seins als Zustand) sowie ihre Rahmenbedingungen und Atmosphä­ ren erlebt werden und wodurch sie konstituiert sind. Es kommt damit ein im Ausgangspunkt des Schwerpunkts bereits formulierter, in der anfäng­ lichen analytischen Diskussion jedoch zunächst zurückgestellter Aspekt wieder stärker in die Diskussion. So wurde bereits anfänglich von einem sorgenden Selbst ausgegangen, das zugleich bewusst erlebt, aber auch als sozial eingebettet und leiblich gedacht ist. Bezüglich der Sorgepraxis ist darüber hinaus nach den normativen und faktischen Grenzen der Sorge im Spannungsfeld von Paternalismus und Autonomie zu fragen. Inwiefern ist Fürsorge eine Bedrohung der Autonomie oder Anerkenntnis der Vul­ nerabilität des Lebens, die nolens volens mit gewissen Abhängigkeiten einhergeht? Theologie und Philosophie haben diese Spannung in ihrer Geschichte immer wieder reflektiert. Die Soziologie hat unter Stichworten wie Entfremdung, Vertrauen oder Anerkennung sowie in empirischen Ar­ beiten ebenfalls wichtige Perspektiven erarbeitet. Wie verbinden ethische und empirische Konzepte in Philosophie, Theologie und Soziologie die Sorge um Andere mit der Sorge um sich und last but not least mit der Begrenzung oder gar Befreiung von Sorge? 3 Selbstbehauptung, Altruismus, Nachhaltigkeit – Perspektiven aktiver Sorge Ausgehend von den drei Dimensionen des „Worum“ der Sorge um sich, um Andere und um die Umwelt ergibt sich über die Kritik der Sorge und die Auseinandersetzung mit verschiedenen Bezügen eines „sorget nicht“ die Frage nach Grenzen, Atmosphären und Rahmenbedingungen von Sorge und Sorgefreiheit, die zu Fragen nach den Gelingensbedingungen aktiver Sorgebeziehungen führen. Zahlreiche Studien im Bereich der empirischen Glücksforschung bele­ gen die zentrale Bedeutung guter sozialer Beziehungen für Glück und subjektive Lebenszufriedenheit (vgl. Haybron 2018, Helliwell et al. 2019). Gute Beziehungen aber implizieren ein wechselseitiges Geben, aus dem heraus eine Gelassenheit, ein Gefühl der Geborgenheit und eben Glück sich einstellen können. Gute Beziehungen, die ein Geben implizieren (hel­ fen, pflegen, schützen …), scheinen ein anthropologisches Grundbedürf­ nis zu sein (vgl. etwa Fromm 1941/2018). Damit stellt sich die generelle Frage, unter welchen Bedingungen solche „guten Beziehungen“ einer ge­ lingenden Sorge um Andere, aber auch um sich und um die Umwelt, unter welchen Bedingungen also aktive Sorgebeziehungen möglich sind. Die individuelle Forschungsarbeit sowie die übergreifende Diskussion im 34

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Schwerpunkt legen die These nahe, dass aktive Sorgebeziehungen in der individualistischen Leistungsgesellschaft nur schwer zu leben sind. Eine kurzfristige und selbstbezogene Zweckoptimierung – unter Umständen auch bezogen auf die eigene Seele und den eigenen Geist wie im Falle der Verwendung von Life-Style-Arzneimitteln, aber auch einer Selbstopti­ mierung etwa durch Meditation – legt es nahe, ein „Geben“ als Verlust wahrzunehmen. „Gebend“ zu leben wird damit erschwert (vgl. etwa Hen­ kel et al. 2019a; Karle 2019; Lindemann 2019). Bezieht man diese Perspektive des Gelingens auf die drei Dimensionen der Sorge, so erhalten diese damit eine Fokussierung auf eine normativ positiv besetzte Form der Sorge: Im Fall der Sorge um sich die Selbstentfal­ tung, im Fall der Sorge um Andere der Altruismus und im Fall der Sorge um die Umwelt die Nachhaltigkeit, wobei Umwelt weiterhin weit gefasst ist, sich beispielsweise auch auf den menschlichen Körper bezieht. Zu untersuchen sind die Rahmenbedingungen, die aktive Sorgebeziehungen fördern bzw. verhindern, wobei jeweils die Wechselbezüge zwischen den verschiedenen Dimensionen der Sorge weiter mit zu bedenken sind. Bei allen drei Konzepten – der Selbstentfaltung, dem Altruismus und der Nachhaltigkeit – handelt es sich um spezifische Interpretationen von Sorge um sich, um Andere und um die Umwelt. In allen drei Dimensio­ nen liegen alternative Konzepte vor. So ist nicht nur Selbstentfaltung eine Form der Sorge um sich, sondern auch Resilienz. Auch ist nicht nur der Altruismus eine Form der Sorge um Andere, sondern auch der Egoismus im Sinne eines Berücksichtigens eigener Interessen im Zusammenspiel mit sozialen anderen – beides bezogen auf Individuen wie auf Gruppen. Und so ist nicht nur die Nachhaltigkeit eine Form der Sorge um die Umwelt, sondern auch die Kontrolle. Die Besonderheit der aktiven Formen der Sorge liegt darin, dass der jeweilige gegenwärtige Zukunftsbezug darauf zielt, dass künftig gegenwärtige Zukunftsbezüge möglich sind – dass also die Handlungsfähigkeit des Selbst, Kooperationen mit anderen und eine Gestaltbarkeit der Umwelt erhalten bleiben. Im Unterschied dazu zielen Resilienz, Egoismus und Kontrolle auf das gegenwärtige Ausnutzen von Spielräumen, haben also einen eher kurzen gegenwärtigen Zukunftsbezug. Konkret empirisch auffindbare Konstellationen lassen sich in der Regel auf einem Kontinuum zwischen solchen Polen einordnen. Mit der genannten Weiterentwicklung und der Fokussierung auf Altruismus, Selbstentfaltung und Nachhaltigkeit sind normative Konzepte gewählt, um der Vielschich­ tigkeit der Dimensionen der Sorge und deren gegenwartskritischer Rele­ vanz nachzukommen. Gerade diese Fokussierung verspricht, dass aus ihr heraus die inhärenten Spannungen der Dimensionen der Sorge analytisch greifbar werden. Dies 35

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gilt umso mehr, als oft auch die Gegenbegriffe positiv besetzt sind. So verweist das Konzept der Resilienz darauf, sich gegen Herausforderungen zu behaupten, etwa im Sinne eines coping. Obwohl dies durchaus als wünschbare Anpassungsstrategie zu sehen ist, verweist die Selbstentfaltung auf eine normativ positive Konstellation. Ebenso führt die Frage nach dem Altruismus unweigerlich zur Diskussion um Grenzen eines natürlichen Altruismus und eines tief verankerten parochialen Verhaltens wie in der Evolutionstheorie, Spieltheorie und Verhaltensökonomie diskutiert. Ein Konzept der Nachhaltigkeit ist in seiner Vielschichtigkeit zudem genuin dilemmatisch (vgl. Henkel et al. 2018). Diese Nuancen werden nicht aus­ geblendet. Indem jedoch der Fokus auf den normativ positiven Pol gesetzt und von hier aus diskutiert wird, gelingt es, solche Verhältnisse in ihrer Komplexität besser in den Blick zu nehmen. Eine nähere Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Zeit und Sorge bietet Perspektiven für eine Weiterentwicklung des heuristischen Konzepts der Dimensionen der Sorge insgesamt sowie einer Ausarbeitung des normativen Konzepts aktiver Sorge im Besonderen. Indem Selbstent­ faltung, Altruismus und Nachhaltigkeit ein spezifisches Zeitverhältnis ge­ mein haben, nämlich im gegenwärtigen Zukunftsbezug auf die Erhaltung der Möglichkeit gegenwärtigen Zukunftsbezugs zu zielen oder die damit verbundene Handlungs-, Kooperations- und Gestaltungsmöglichkeit zu erweitern, verspricht die Untersuchung von Zeit und Sorge weiterführen­ de analytische Perspektiven. So kann empirisch gefragt werden, unter welchen Bedingungen derart zukunftsorientierte gegenwärtige Zukunftsbezüge nahe liegen oder verhindert werden. In der Zusammenschau kön­ nen solche Untersuchungen zu einer Gegenwartsanalyse der modernen Gesellschaft beitragen, die Aufschluss über deren Bruchstellen und Krisen­ haftigkeit gibt, aber auch Potentiale der Weiterentwicklung aufzeigt. Die Untersuchung von Zeit und Sorge bietet damit die Chance, interdiszipli­ när-theoretische und konzeptionelle Perspektive mit einer Entwicklung von Perspektiven für die moderne Gesellschaft zu verbinden. Literaturverzeichnis Anselm, Reiner. 2019. "Sorget nicht" – historische und dogmatische Überlegungen zur Entwicklung einer christlichen Lebensform. In Sorget nicht – Kritik der Sorge (Dimensionen der Sorge 2), Hrsg. Anna Henkel, Isolde Karle, Gesa Linde­ mann und Micha Werner, 31–42. Baden-Baden: Nomos. DOI: https://doi.org/10 .5771/9783845289212-31

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Bedingungen gelingender Sorge Eichener, Elis. 2022. Die Zukunft der Seele. Eine poimenische Relecture des See­ lenbegriffs. Leipzig: Evangelische Verlagsgesellschaft. Frenzel, Birte. 2019. Kann Nudging uns (das) Sorgen im Kontext von Nachhaltig­ keit und Klimawandel abnehmen? In Sorget nicht – Kritik der Sorge (Dimensio­ nen der Sorge 2), Hrsg. Anna Henkel, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner, 197–218. Baden-Baden: Nomos. DOI: https://doi.org/10.5771/97838452 89212-197 Fröhlich, Johanna. 2019. Kritik als Form von Sorge in Sozialen Bewegungen – am Gegenstand der Neuen Rechten Bewegung. In Sorget nicht – Kritik der Sorge (Dimensionen der Sorge 2), Hrsg. Anna Henkel, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner, 219–242. Baden-Baden: Nomos. DOI: https://doi.org/10.577 1/9783845289212-219 Fromm, Erich. 2018 (1941). Die Furcht vor der Freiheit. München: dtv. Gils, Henk Van. 2016. Self-Reflexivity and Possible Standards for Taking Good Care of Oneself. In Dimensionen der Sorge. Soziologische, philosophische und theologische Perspektiven (Dimensionen der Sorge 1), Hrsg. Anna Henkel, Isol­ de Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner, 137–146. Baden-Baden: Nomos. DOI: https://doi.org/10.5771/9783845272597-135 Haybron, Dan. 2018. Happiness. In The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2020 Edition), Hrsg. Edward N. Zalta. https://plato.stanford.edu/entri es/happiness/ (Zugegriffen: 28. September 2022) Helliwell, John F., Richard Layard und Jeffrey D. Sachs. 2019. World Happiness Report. New York: Sustainable Development Solutions Network. https://worldh appiness.report/ed/2019/ (Zugegriffen: 28. September 20222). Henkel, Anna. 2016: Zukunftsbewältigung. Dimensionen der Sorge als Analyseper­ spektive moderner Gesellschaften. In Dimensionen der Sorge. Soziologische, philosophische und theologische Perspektiven (Dimensionen der Sorge 1), Hrsg. Anna Henkel, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner, 35–59. Baden-Baden: Nomos. DOI: https://doi.org/10.5771/9783845272597-35 Henkel, Anna, Matthias Bergmann, Nicole Karafyllis, Bernd Siebenhüner und Karsten Speck. 2018. Dilemmata der Nachhaltigkeit zwischen Evaluation und Reflexion. Begründete Kriterien und Leitlinien für Nachhaltigkeitswissen. In Das Wissen der Nachhaltigkeit. Herausforderungen zwischen Forschung und Beratung, Hrsg. Nico Lüdtke und Anna Henkel, 147–172. München: oekom. Henkel, Anna, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner. 2016. Drei Di­ mensionen der Sorge. In Dimensionen der Sorge. Soziologische, philosophische und theologische Perspektiven (Dimensionen der Sorge 1), Hrsg. Anna Hen­ kel, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner, 21–34. Baden-Baden: Nomos. DOI: https://doi.org/10.5771/9783845272597-19 Henkel, Anna, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner. 2019a. Einlei­ tung. In Sorget nicht – Kritik der Sorge (Dimensionen der Sorge 2), Hrsg. Anna Henkel, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner, 7–18. Baden-Baden: Nomos. DOI: https://doi.org/10.5771/9783845289212-7

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Anna Henkel mit Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner Henkel, Anna, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner (Hrsg.). 2019b. Sorget nicht – Kritik der Sorge (Dimensionen der Sorge 2). Baden-Baden: Nomos. DOI: https://doi.org/10.5771/9783845289212-1 Karle, Isolde. 2019. "Sorget nicht" in der Sorgegesellschaft. In Sorget nicht – Kritik der Sorge. Dimensionen der Sorge (Dimensionen der Sorge 2), Hrsg. Anna Henkel, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner,19–30. Baden-Baden: Nomos. DOI: https://doi.org/10.5771/9783845289212-17 Lindemann, Gesa. 2016. In Sorge und aus Lust. In Dimensionen der Sorge. Sozio­ logische, philosophische und theologische Perspektiven (Dimensionen der Sor­ ge 1), Hrsg. Anna Henkel, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner, 73–98. Baden-Baden: Nomos. DOI: https://doi.org/10.5771/9783845272597-73 Lindemann, Gesa. 2019. Zeit der Nichtsorge. In Sorget nicht – Kritik der Sorge (Dimensionen der Sorge 2), Hrsg. Anna Henkel, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner, 57–75. Baden-Baden: Nomos. DOI: https://doi.org/10.5771/ 9783845289212-57 Paluch, Richard. 2016. Sorgefall: Technisierte Selbstversorgung. Eine sozialwissen­ schaftliche Analyse der Interaktionsbeziehungen von Personen mit einer Hörge­ räteversorgung bezogen auf die Technisierung der Sorge. In Dimensionen der Sorge. Soziologische, philosophische und theologische Perspektiven (Dimensio­ nen der Sorge 1), Hrsg. Anna Henkel, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner, 159–166. Baden-Baden: Nomos. DOI: https://doi.org/10.5771/97838452 72597-159 Schade, Franziska. 2021. „Das tut mir gut!“ Jugendkirchen als Orte religiöser Selbstsorge. Baden-Baden: Nomos. Schnabel, Annette. 2019. Sich sorgen – Eine Skizze zur Theorie der Rationalität der Sorge. In Sorget nicht – Kritik der Sorge. Dimensionen der Sorge (Dimensionen der Sorge 2), Hrsg. Anna Henkel, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner, 99–116. Baden-Baden: Nomos. DOI: https://doi.org/10.5771/978384528 9212-99 Schniering, Stefanie. 2021. Sorge und Sorgekonflikte in der ambulanten Pflege. Eine empirisch begründete Theorie der Zerrissenheit. Baden-Baden: Nomos. Schröter, Tina. 2016. Der Kodex der Kurve. Eine empirische Studie über Sorge­ praktiken der Ultra-Szene. In Dimensionen der Sorge. Soziologische, philoso­ phische und theologische Perspektiven (Dimensionen der Sorge 1), Hrsg. Anna Henkel, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner, 167–176. Baden-Ba­ den: Nomos. DOI: https://doi.org/10.5771/9783845272597-167 Werner, Micha. 2016. Die Unmittelbarkeit der Begegnung und die Gefahr der Di­ chotomie: Buber, Levinas und Jonas über Verantwortung. In Dimensionen der Sorge. Soziologische, philosophische und theologische Perspektiven (Dimensio­ nen der Sorge 1), Hrsg. Anna Henkel, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner, 99–133. Baden-Baden: Nomos. DOI: https://doi.org/10.5771/978384527 2597-99

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I Vergangenheiten

Sorge und Zeit im Kontext der theologischen Resilienzforschung Cornelia Richter

1 Die These Wer einen substanziellen Beitrag unter dem Titel „Sorge und Zeit aus theologischer Perspektive“ verfassen möchte, hat die Qual der Wahl des Bezugs zwischen so eindrucksvollen und wirkungsgeschichtlich bis ins 21. Jahrhundert relevanten Positionen wie der biblischen Empfehlung „Sorget nicht für euer Leben“ (Mt 6,25) über Luthers legendäres Apfelbäumchen bis hin zu den phänomenologischen Philosophien bei Hegel, Husserl, Heidegger, Levinas oder Peirce. Alternativ ließe sich auf zahlreiche ge­ genwartsbezogene Sorgediskurse blicken, denn der Begriff der Sorge ist im Sinne der traditionellen Bestimmung als Selbstsorge oder Fürsorge für zahlreiche gesellschaftspolitische Prozesse relevant, die allesamt eine zeitliche Dimension in sich tragen: Die Palette reicht von medizinischen Vorsorgeuntersuchungen bis zur vorsorglichen Erklärung in Organspende­ ausweis und Patientenverfügung; sie umfasst den boomenden Markt der Pflegefür- und Altersvorsorge angesichts der politischen bzw. gesamtgesell­ schaftlichen Sorge um die Stabilität der Finanzmärkte; sie ist von höchster Aktualität in den vielfältigen Sorgedimensionen in der Pandemie, ebenso in der regionalen wie globalen Sorge um den Klimawandel. All dies sind Sorgephänomene und Sorgerelationen, die beitragen können zu der auf Dauer gestellten Sorge in Überlastungserkrankungen (Burnout), Ängsten oder dem vielfältigen Spektrum depressiver Erkrankungen. Obgleich sich die genannten Phänomene individuell wie kollektiv, historisch, phänome­ nologisch und soziokulturell höchst unterschiedlich ausnehmen und we­ der in Analyse noch in Methodik und Lösungsansätzen über einen Kamm zu scheren sind, so wird man doch zumindest dies festhalten dürfen: Sorge ist ein ebenso anthropologisches Grundphänomen wie die Zeit. Die dem vorliegenden Beitrag in der Rahmenkonzeption der Dimensio­ nen der Sorge (Henkel et al. 2016) vorgegebene These lautet: Sorge lässt sich als gegenwärtiger Zukunftsbezug verstehen und ist mit der Frage konfrontiert, wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufeinander be­ zogen sind. Erneut kann einem das neutestamentliche Plädoyer der Sorglo­ 41

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sigkeit vor Augen treten: „All eure Sorgen werft auf ihn“ (1 Petr 5,7). Die gerade noch zugestandene Sorge wäre allerhöchstens die um das tägliche Brot, und schon das scheint fast zu viel der Sorge zu sein. Allein, wer in Wittenberg das Lutherhaus besucht, weiß: Schon Katharina von Bora, die eigentliche Managerin des reformatorischen Hauses, wusste: Sorge als Für­ sorge, d. h. als Sorge für sich selbst und andere, ist aus der Gegenwart in die Zukunft hineinzudenken, weil Haus und Hof auf eine nachhaltige Vorratswirtschaft angewiesen sind. Angesichts dieser Spannung legt sich für den vorliegenden Beitrag die folgende Leitfrage nahe: Wie und unter welchen Umständen kann die theologische Leichtgängigkeit der neutesta­ mentlichen Sorglosigkeit im täglichen Leben performant werden? 2 Sorge im Kontext von Resilienz Eine spezifische Pointe erhält die Relation von Sorge und Zeit im Kontext der Resilienzforschung, denn Resilienz und Sorge lassen sich – recht ver­ standen – geradezu als Komplementärphänomene verstehen. Der Begriff der Resilienz wird häufig als eine manchen Menschen eigene Fähigkeit bzw. Begabung oder Eigenschaft verstanden, schwere Krisensituationen selbst unter schwierigsten individuellen, psychophysischen oder sozialen Ausgangsbedingungen zu bewältigen.1 Für ihre Genese werden v. a. in naturalistischen Forschungskontexten2 zu Recht genetische Voraussetzun­ gen oder das familiär-soziale Umfeld angeführt und es gibt zahlreiche Pro­ gramme im Kontext von Pädagogik und Coaching mit dem Anspruch, für die Entwicklung von Resilienz förderlich zu sein. Besonders im Rahmen der entwicklungsorientierten Pädagogik im Vorschulalter ist dies ganz oh­ ne Zweifel ein sinnvoller Ansatz (vgl. Fröhlich-Gildhoff und Rönnau-Böse 2019). Allerdings fällt dabei häufig auf, dass die Perspektive des Enhancement dominiert und Resilienz als eine unbedingt wünschenswerte Fähigkeit zur raschen Überwindung krisenhafter Erfahrungen suggeriert wird. Nur allmählich kommt in den Blick, was sich in Seelsorge, Spiritual Care aber auch in Psychosomatik und Psychotherapie nahelegt, nämlich, dass sich resilientes Verhalten möglicherweise erst im Durchleben der Krise zeigt 1 Die Resilienzliteratur ist in diesem Spektrum breit gefächert. Zur breit rezipierten Einstiegsliteratur gehört z. B. Welter-Enderlin und Hildenbrand 2006. 2 Vgl. die Arbeit am Leibniz-Institut für Resilienzforschung Mainz. Sehr gut pro­ blemorientiert sind v. a. die Arbeiten von Raffael Kalisch, z. B. Kleim und Kalisch 2018.

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Sorge und Zeit im Kontext der theologischen Resilienzforschung

und Resilienz daher von einer tiefen Ambivalenz geprägt ist; Resilienz ist sozusagen ein Krisenphänomen par excellence (vgl. Richter 2015). Diese The­ se war der Ausgangspunkt für die Arbeit der Bonner Forschungsgruppe „Resilienz in Religion und Spiritualität“, eine interdisziplinäre Kooperati­ on aus Theologie, Philosophie, Psychosomatik und Psychotherapie, Pallia­ tivmedizin und Spiritual Care.3 Aus der Praxis dieser Disziplinen legt es sich nahe, Resilienz nicht als eine Qualität oder Eigenschaft zu verstehen, die unabhängig und vor einer potenziellen Krise „da“ ist. Vielmehr gilt es, eine hermeneutische Perspektive auf Krisenphänomene zu entwickeln, die – ungeachtet der Notwendigkeit therapeutischer Hilfestellung! – Erfah­ rungen von Krise und Sorge, Angst und Verzweiflung, Trauer und Verlust nicht sofort pathologisiert, sondern polyvalente Modelle sowohl für die Analyse und Deutung als auch für die Gestaltung von Krisen erschließen kann. Resilienz ist kein „plug and play“-System, sondern ein hoch kom­ plexes, prozessuales und nicht verstetigbares Phänomen. Sie hat zudem keinen normativ definierbaren Outcome, sondern kann nur situativ aktua­ lisiert werden. So betrachtet, trägt die Analyse von Resilienz geradezu die komplementäre Frage nach Charakter, Funktion, Maß und Gestaltung von Sorge in sich: Resilienz kann verstanden werden als die Fähigkeit, Sorge auszuhalten, der Sorge standhalten zu können, sich von der Sorge nicht überwältigen zu lassen. Vor diesem Hintergrund bestimmen wir Resilienz als einen dynamischen Prozess, der Aspekte von Vulnerabilität, Brüchigkeit und Veränderung impli­ ziert. Dazu gehört wesentlich das Ringen mit Destruktivität, Ambivalenz bzw. Ambiguität und Hoffnung, basierend auf der Einsicht, dass sich auch in leid­ vollen Erfahrungen Kohärenz, Sinn und Lebenszuversicht finden lässt (vgl. Richter 2021; vgl. Richter und Geiser 2021). Gespeist aus der Analyse religiöser und spiritueller Praxis kommt für die vorliegende Thematik hinzu, dass Resilienz nicht in der Dualität von aktiven und passiven Reaktionen aufgeht, sondern auch mediopassive Dynamiken umfasst. Aus der hermeneuti­ schen Verknüpfung der interdisziplinären Fachperspektiven ist daraus die Konzeption einer auf Sinngebung und Kohärenzphänomene bezogenen interdisziplinären Anthropologie erwachsen, in der wir mit Begriffsfeldern bzw. Semantiken und Narrativierungen von Destruktivität, Hoffnung und Ambivalenz bzw. Ambiguität arbeiten. Der Begriff der Ambivalenz ist

3 Die Gruppe wurde 2014 von Cornelia Richter initiiert und aufgebaut und wurde neben diversen anderen Förderungen 2019–2022 als DFG-FOR 2686 „Resilienz in Religion und Spiritualität. Ohnmacht, Angst und Sorge aushalten und gestalten“ geführt.

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als dynamischer und dynamisierender Faktor im Umgang mit Destruk­ tivität einerseits, der Generierung von Hoffnung andererseits, zentraler Bestandteil des Resilienzkonzepts. Mit dem Begriff der Ambivalenz eng verbunden ist der Begriff der Ambiguität. Während sich Ambivalenz auf die subjektive Dimension bezieht – z. B. in der Gleichzeitigkeit einander widersprechender Gedanken und/oder Gefühle –, bezieht sich Ambiguität auf die Objektebene – z. B. in der Unterscheidung mehrdeutiger oder wi­ dersprüchlicher Semantiken, Texte oder Phänomene. Die Unterscheidung von Ambivalenz und Ambiguität ist als analytische zu verstehen, denn phänomenologisch sind sie synthetisch verschränkt: Werden Phänomene ambigue wahrgenommen, können sie ambivalent erfahren werden (vgl. Reckwitz 2019).4 Entscheidend ist in alldem die Erweiterung klassischer Konzeptionen des Menschen als eines auf Sinn und Kohärenz bezogenen Wesens, um dessen sozial interaktive bzw. kollektive Dimension und deren Konsequen­ zen für lebenspraktisch bzw. (im weiteren Sinne) ethisch relevante Kon­ stellationen, die zudem inter- und transkulturell zu untersuchen sind. 3 Resilienz und Zeit Wenn man Resilienz im obigen Sinne als einen krisenrelevanten dyna­ mischen Prozess beschreibt, dann sind Elemente von Zeitlichkeit unaus­ weichlich mitzudenken. Denn das Durchleben einer existentiellen Krise ist gerade deshalb eine „Krise“, weil nicht abzusehen ist, wie die Sache ausgeht: Von einer Krise sprechen wir dann, wenn der Ausgang eines Prozesses offen und unentschieden ist. Gesteigert wird dieser Aspekt der Zeitlichkeit durch die Einsicht, dass es sich um einen nicht verstetigbaren, dynamischen Prozess handelt, in dem es um die adaptive Bewältigung von Stress und Widrigkeiten bei Aufrechterhaltung und Entwicklung psy­ chischer und physischer Funktionalität geht. Diese Funktionalität wiede­ rum hat ihrerseits keinen normativ definierbaren Outcome, anhand dessen das Ziel des Resilienzprozesses zeitunabhängig und eindeutig festgelegt werden könnte. Vielmehr zeigt sich in seelsorgerlichen, psychotherapeu­ tischen oder palliativmedizinischen Prozessen immer wieder, dass der Outcome abhängig ist von einem komplexen individuellen wie interperso­ nalen, sozialen und umweltbezogenen Prozess und dass er nur in diesem

4 Begriffsprägend: Baumann 1992; 2003; 2008. Zur Weiterführung vgl. Sautermeis­ ter 2018.

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Prozess situativ aktualisiert werden kann. Zentral sind hierfür nicht nur die psychophysische Verfasstheit der betroffenen Person, sondern auch der Grad ihrer Ambiguitäts- bzw. Komplexitätstoleranz, ihre Fähigkeit der sinnhaften Artikulation und Integration von Negativität bzw. der kon­ struktiven Verknüpfung von negativen und positiven Emotionen/Affekten, Wahrnehmungen, Einschätzungen, Erwartungen. Alle genannten Aspekte implizieren zeitlich konnotierte Abläufe, in denen in der Dynamik des Krisengeschehens sehr unterschiedliche und zum Teil gegenläu­ fige Aspekte in eine Balance gebracht werden müssen: Körperliche bzw. leibliche Aspekte sind hierfür ebenso relevant wie mentale und emotionale Aspekte, die insgesamt in der komplexen Verschränkung von Hoffnung, dem Ringen mit Destruktivität und dem Aushalten von Ambivalenzen und Ambiguitäten ihren Ausdruck finden müssen. Auch diese drei Dimensionen lassen sich nicht in eine Reihenfolge oder gar normative Abfolge bringen – man weiß also gar nicht, ob die Hoffnung am Anfang steht oder am Ende. Selbst wenn man intuitiv vermuten könnte, dass das Ringen mit Destruktivität in einer existentiellen Lebenskrise zuerst kommt, z. B. mit der destruktiven Kraft einer Autoimmunerkrankung, könnte es sein, dass daraus vielleicht das Aushalten von Ambivalenz und aus beidem neue Hoffnung erwächst. Um­ gekehrt könnte man fragen, ob nicht das Ringen mit Destruktivität schon immer von einer Hoffnung getragen ist, die es überhaupt erlaubt, die Ambivalenzen und Ambiguitäten auszuhalten? Ein drittes denkbare Mo­ dell wäre: Könnte es nicht gerade die Fähigkeit sein, Ambivalenzen und Ambiguitäten auszuhalten, die einem Menschen die Hoffnung zukommen lässt, mit dem Destruktiven ringen zu können? Mit welchem Modell auch immer man rechnet – für den vorliegenden Beitrag ist entscheidend, dass keines von ihnen ohne zeitlich strukturierte Erfahrungsprozesse in Rezep­ tions- und Aktionsphasen zu denken ist. 4 Aktive, passive und mediopassive Erfahrungsprozesse und Handlungsdimensionen Es gehört zu den wesentlichen Einsichten unserer Resilienzforschung, dass die mit dem Krisengeschehen verbundenen Erfahrungsprozesse in ihren Rezeptions- und Aktionsphasen nicht auf die Dualität von aktiv und passiv zu reduzieren sind, sondern mediopassive Vorgänge in den Blick zu neh­ men sind. Den Begriff des Mediopassiven haben wir von Béatrice Han-Pile übernommen, die ihn 2009 sprachanalytisch als theoretisches Konzept für (in Verben ausdrückbare) präreflexive und (zumindest intentional) unwillentliche, damit auch unkontrollierbare Haltungen und Handlungen 45

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sowie als Diathese zwischen aktiv und passiv konzipiert hat (vgl. Han-Pile 2009). 2017 hat Han-Pile den Begriff dann programmatisch erweitert und das Mediopassive in das subjektive bzw. individuelle Selbstverständnis so eingehen lassen, dass es passive Komponenten in aktive Handlungen zu integrieren erlaubte (vgl. Han-Pile 2017). Die passive Komponente medio­ passiver Handlungen sollte dabei v. a. präreflexiv erfahren werden und war eher an den unkontrollierten Beginn der Handlung und ihrer intendierten Zielrichtung gesetzt. Bis zu diesem Zeitpunkt war Han-Piles Begrifflichkeit für uns hochgra­ dig attraktiv, aber das Konzept noch nicht hinreichend theoretisch expli­ zierbar. Denn unabhängig von der grundsätzlichen Schwierigkeit, den Begriff des Mediopassiven in eine operationalisierbare Form zu bringen, geht es für die Resilienzthematik ferner darum, auch weniger aktive und weniger explizite Formen von Resilienz zu integrieren, ohne dass dies einen Verlust an reflexiver Apperzeption und Reaktion mit sich bringen müsste. Zeigen lässt sich dies an personellen Ressourcen wie Hoffnung, Optimismus, Kohärenzsinn, persönlichen Haltungen oder Bindungsstilen, weil sie weder das Resultat individuellen aktiven Engagements sind noch auf passive Reaktionen reduziert werden können. Vielmehr verdanken sie sich der wechselseitigen Interaktion von biographischer Erfahrung, kultu­ reller Einbettung, erlernter Sprache und dem situativen Kontext, in dem sich all dies zum Ausdruck bringt. Menschen finden sich in bestimmten Kontexten und Situationen vor, in denen sie sich mit den Mitteln ihrer Sprache zum Ausdruck bringen können. Auch wenn es das Individuum selbst ist, das hierbei nach sinnhafter Artikulation sucht, bezieht es sich doch auf bzw. artikuliert es sich aus vorgegebenen Überzeugungen, Sym­ bolen, Traditionen und Praktiken, sodass aktive und passive Modi des Verstehens interagieren. 2020 und 2021 erweiterte Han-Pile in Auseinandersetzung mit unse­ rer Forschungsgruppe ihren Ansatz und stellte ihn auf dem Workshop „Mediopassivity. Understanding a new concept in resilience research” (01.07.2021) der DFG-FOR 2686 vor. Die nachfolgenden Ausführungen sind auf diese mündliche Präsentation bezogen: Eine mediopassive Hand­ lung sei gegeben, „[w]hen agents understand themselves as engaged with an internal process they do not control and respond without seeking con­ trol over this process”. Wesentliche Faktoren in diesem Prozess seien das individuelle Vorverständnis („understanding“), das das eigene Verhalten leite, aber nie vollständig reflexiv fassbar sei, d. h. weniger eine Form der Selbstkontrolle als eines verarbeitbaren Selbstverstehens („a processable sense of self“); zweitens Responsivität und Kontrolle („responsiveness and control“) in Erfahrungen der Ohnmacht („powerlessness“), d. h. eine von 46

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einer präreflexiven Wahrnehmung der Ohnmacht tangierte Handlungsfä­ higkeit; drittens mediopassive Übungen („exercises“) wie Hoffnung, Liebe, Akzeptanz, Aufgabe oder Kontemplation, die sich mit der Zeit einstellen – nicht aufgrund intentionaler Zielsetzung, sondern weil sich das Subjekt in ihnen finde und sich aus ihnen heraus der Handlungsprozess neu entfalte. Mit dieser Erweiterung ist Han-Piles Konzept des Mediopassiven für unseren Ansatz nun auch von explikativem Wert: Ebenso wie Han-Pile verstehen wir Resilienz nicht als einen krisenfreien, auf Formen selbst­ mächtiger Durchsetzungsfähigkeit bezogenen Prozess innerer und äußerer Stabilität, sondern wir möchten Menschen ermutigen, sich auch in ihrem inneren und äußeren Ringen, ihrer Angst und in einem zeitweisen Verlust des Kontrollgefühls als resilient erleben zu dürfen. Was bei Han-Pile die „powerlessness“ ist, ist bei uns der Umgang mit „Ohnmacht, Angst und Sorge“. Gerade im Blick auf schwere Krankheitsphasen, Palliativsituatio­ nen oder Trauer halten wir es für unabdingbar, Angst, Depression und/ oder eine hohe Symptomlast so in das Gesamtbild zu integrieren, dass Kohärenz und Lebensqualität positiv bewertet werden können. In diesem Ansatz nützen wir das Konzept des Mediopassiven als eine theoretische, hermeneutische Kategorie, um (a) Phänomene, Erfahrungen, Empfindungen, Emotionen etc. zu verstehen, die per se weder aktiv noch passiv sind. (b) Das Mediopassive ist dabei nichts, das wir „haben“, es ist keine substan­ zielle Qualität oder ein definiertes Momentum, sondern es verweist auf dy­ namische, prozessuale, sich verändernde und fluide Bewegungen. (c) Das Mediopassive geht einher mit Momenten oder Aspekten von Ambiguität. (d) Das Mediopassive bringt sich selbst instantan zur Geltung, verbunden mit Intuition, Wahrnehmung, Anerkennung. Trotzdem ist es weder präre­ flexiv noch ex post einfach zu erklären. (e) Mediopassive Phänomene sind an unsere Körperlichkeit/Leiblichkeit, mentale und emotionale Situativität gebunden. Insgesamt ist das Mediopassive (f) eingebettet in symmetrische und asymmetrische Interaktionen, die z. T. überwältigenden Charakter haben, und es wird aus diesen Interaktionen heraus artikuliert. In diesem Sinne implizieren mediopassive Phänomene Aspekte von Transzendenz und sind daher besonders offen für Erfahrungen von Religion und Spiri­ tualität. 5 Sorge und Zeit im Kontext der theologischen Resilienzforschung Die Einsichten in die Bedeutung mediopassiver Erfahrungs- und Hand­ lungsmodi lässt sich sehr einfach mit theologischen Kernthemen verbin­ den. Denn in theologischer Diktion ist mit der Zeitdimension gemeint, 47

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von der Schöpfung und dem Geschaffensein her, über das Dasein als Le­ ben in der Endlichkeit hin zur Ewigkeit leben. Lebensprozesse wiederum sind auch biblisch nie ohne zeitlich strukturierte Sorgephänomene zu denken, denn in der Sorge wird Vergangenheit erinnert – und damit ver­ gegenwärtigt. Wo dies geschieht, ist Vergangenheit nicht mehr vergangen, sondern zur Gegenwart geworden und führt im Ergebnis – ganz besonders eindrücklich in der Stress- und Traumaforschung – zur Realisierung und Manifestierung des Vergangenen in der Gegenwart. In solchen Erfahrun­ gen kann sich Gegenwart geradezu bis zur Unendlichkeit dehnen. Denn die sie bestimmende Sorge ist von der Vergangenheit her induziert und wirkt in verdichteter Weise in die Gegenwart hinein: Schlaflose Nächte, sorgenschwer, sind eine mögliche Folge; eine andere sind dankbare Erin­ nerung und neue Lebenskraft für die Gegenwart sowie neue Lebenshoffnung für die Zukunft, wofür exemplarisch die Exilerfahrung Israels steht. Vor dem Hintergrund der Resilienzforschung wird man sagen dürfen, dass existenzielle Krisenerfahrungen solcher Art eine Radikalisierung der Gegenwart in sich tragen, die zukunftsrelevant ist. Sie bewirken eine Ver­ dichtung in den Moment hinein, der zwangsläufig zu Gleichzeitigkeiten führt und, theologisch gesprochen, zugleich Momente der Ewigkeit auf­ scheinen lässt. Theologisch ist dies nicht nur in seelsorgerlichen Kontexten interessant, in denen – z. B. bei der Geburt eines Kindes ebenso wie im Trauerfall – das Familienmanagement extern weiter läuft (Kinder gehen in die Schule, Erwachsene an den Arbeitsplatz, es muss eingekauft und gekocht werden etc.), während das emotionale innere Management von jetzt auf gleich stillgestellt wird: Die Erfahrung des geschenkten wie des genommenen Lebens vermag den Augenblick so zu dominieren, dass er nahezu Ewigkeitscharakter erhält; elementar erfahrbar im Liebesakt wie in den letzten Stunden auf der Palliativstation. Im biblisch-religiösen Kontext hat dies zur Artikulation von Imaginati­ onsräumen geführt, die sich einerseits der überzeitlich gedachten Linie von Schöpfung und Ewigkeit verdanken und zugleich unterschiedliche Verdichtungen in den zeitlichen Moment hinein vornehmen. Die Naher­ wartung der frühen Gemeinden ist eines dieser Beispiele: In historischer Hinsicht ist sie bezüglich der Wiederkunft Christi über die Jahrhunderte hinweg in große Distanz geraten. Aber sie hat das Potential, sich in exis­ tentiellen Krisensituationen unmittelbar zu vergegenwärtigen, und zwar ebenfalls sowohl mit dem Lebensbeginn wie mit dem Lebensende. Erfah­ rungen dieser Art werden häufig als so schlagartig und absolut lebensbe­ stimmend wahrgenommen, dass jede vorab nur antizipierte Hoffnung per­ formativ in erfahrene Gegenwart umschlägt: Seligkeit, endlich und jetzt, in diesem Moment. Damit ist nicht schon jede weitere Sorge aus der Welt 48

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– eher im Gegenteil, wird sie sich bei der Geburt eines Kindes wie beim Tod eines Angehörigen schneller einstellen, als einem lieb sein kann. Aber der Imaginationsraum der präsentischen Ewigkeit ist es dennoch wert, eigens gewürdigt und bewusst wahrgenommen zu werden. Weitere Motive ließen sich durchspielen am Imperativ, zu werden wie die Kinder (Mt 18,3), nämlich ganz im Hier und Jetzt zu leben, versun­ ken in den Augenblick und in das, was in diesem an individueller wie interpersonaler Beziehung zählt. Auch der Imaginationsraum des Reiches Gottes ist keineswegs auf seine ethischen Konsequenzen hin zu reduzieren, sondern trägt in sich das Moment der Transzendenz von Endlichkeit. So wie schließlich auch die Wundererzählungen keine magische Variante des Stehaufmännchens thematisieren, sondern ein auf den Moment der ausweglosen Verzweiflung konzentriertes kontrafaktisches Hoffnungsreservoir bieten. All diese Motive und Imaginationsräume können im vorlie­ genden Beitrag nur noch ausblickartig genannt werden. Aber da sie in theologischer Hinsicht mit Zeit und Ewigkeit spielen und individuelle wie kollektive Prozesse der Ambivalenz- und Ambiguitätsbewältigung vor Augen stellen, drängen sie sich ohne Zweifel für die weitere Forschung zu Sorge und Resilienz auf. Literaturverzeichnis Baumann, Zygmunt. 1992. Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg: Junius. Baumann, Zygmunt. 2003. Flüchtige Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Baumann, Zygmunt 2008. Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit. Hamburg: Hamburger Edition. Fröhlich-Gildhoff, Klaus und Maike Rönnau-Böse. 2019. Resilienz. 5. Aufl. Mün­ chen: Ernst Reinhardt. Han-Pile, Béatrice. 2009. Nietzsche and Amor Fati. European Journal of Philoso­ phy 19(2):224–261. DOI: https://doi.org/10.1111/j.1468-0378.2009.00380.x Han-Pile, Béatrice. 2017. Hope, Powerlessness, and Agency. Midwest Studies In Philosophy 41(1):175–201. DOI: https://doi.org/10.1111/misp.12069 Henkel, Anna, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner. 2016. Einlei­ tung. In Dimensionen der Sorge. Soziologische, philosophische und theologi­ sche Perspektiven (Dimensionen der Sorge 1). Hrsg. Anna Henkel, Gesa Linde­ mann, Isolde Karle und Micha Werner. 1. Aufl., 9–17. Baden-Baden: Nomos. DOI: https://doi.org/10.5771/9783845272597-9 Kleim, Birgit und Raffael Kalisch. 2018. Wer bleibt gesund? Zum Problem der Vorhersage von Resilienz. Der Nervenarzt 89:754–758. DOI: https://doi.org/10.1 007/s00115-018-0551-z

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Cornelia Richter Reckwitz, Andreas. 2019. Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Richter, Cornelia. 2015. Das Selbst als Balanceakt von Physis und Psyche in Leib­ lichkeit, Ratio und Affektivität. In Was heißt Natur? Philosophischer Ort und Begründungsfunktion des Naturbegriffs. Hrsg. Elisabeth Gräb-Schmidt, 157– 173. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. Richter, Cornelia. 2021. Integration of Negativity, Powerlessness and the Role of the Mediopassive: Resilience Factors and Mechanisms in the Perspective of Reli­ gion and Spirituality. Interdisciplinary Journal for Religion and Transformation in Contemporary Society 7(2):491–513. DOI: https://doi.org/10.30965/23642807 -bja10027 Richter, Cornelia und Franziska Geiser. 2021. „Hilft der Glaube oder hilft er nicht?“ Von den Herausforderungen, Religion und Spiritualität im interdiszipli­ nären Gespräch über Resilienz zu erforschen. In An den Grenzen des Messba­ ren. Die Kraft von Religion und Spiritualität in Lebenskrisen (Religion und Gesundheit 3). Hrsg. Cornelia Richter, 9–36. Stuttgart: Kohlhammer. Sautermeister, Jochen. 2018. Selbstgestaltung und Sinnsuche unter fragilen Bedin­ gungen. Moralpsychologische und ethische Anmerkungen zum Verhältnis von Resilienz und Identität. In Resilienz. Interdisziplinäre Perspektiven zu Wandel und Transformation. Hrsg. Maria Karidi, Martin Schneider und Rebecca Gut­ wald, 127–140. Wiesbaden: Springer. Welter-Enderlin, Rosemarie und Bruno Hildenbrand (Hrsg.). 2006. Resilienz: Ge­ deihen trotz widriger Umstände. Heidelberg: Carl Auer.

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„Haunting Memories“ – Retrospektivität von Sorge nach Menschenrechtsverbrechen in Südafrika Christian Ehrens

Im vorliegenden Beitrag wird die These vertreten, dass Sorge nicht allein durch Zukunftsbezug gekennzeichnet sein muss, sondern auch aus der Vergangenheit evoziert oder auf diese ausgerichtet sein kann. Dies stellt eine Erweiterung gegenüber dem bisherigen Rahmenkonzept der Dimen­ sionen der Sorge dar, welches Sorge nahezu durchgehend auf Zukunft hin entwirft: Sorge als gegenwärtig „mögliche Zukunft“ mit „sehr verschiede­ ne[n] mögliche[n] Zukunftsbezüge[n]“ wurde als „Ausgangspunkt“ des Rahmenkonzeptes festgestellt (Henkel et al. 2016, S. 9f.). Der bisher im Rahmenkonzept der Sorge kaum beschriebene Aspekt eines Vergangen­ heitsbezuges ist in Kontexten massiver Unrechtserfahrungen und Men­ schenrechtsverbrechen allerdings in hohem Maße lebensprägend. In die­ sem Zusammenhang wird mitunter von „haunting memories“ und der Notwendigkeit eines „dealing with the past“ gesprochen, wenn etwa Be­ troffene oder auch eine ganze Gesellschaft von dem Erlebten nachhaltig geprägt oder sogar emotional belastend verfolgt werden.1 Im Blick sind hier Staaten und Gesellschaften, welche eine Transition2 von Diktatur, Bürgerkrieg oder Unrechtsherrschaft hin zu Leben in Frieden und ggf. De­ mokratie vollzogen haben und auf massive sowohl kollektive wie individu­ 1 Vgl. etwa zu „haunting memories“ den Bericht der Wahrheits- und Versöhnungs­ kommission in Südafrika: TRC 1999b, S. 305. „Dealing with the past“ ist wiede­ rum erklärtes Ziel von Theorien von Transitional Justice. Vgl. hierzu: Du Toit 2018, S. 57; Murphy 2017, S. 117. Zu Transitional Justice allgemein s. u. und Fußnote 2. 2 Der Terminus ‚Transition‘ ist nicht unproblematisch, da er suggerieren kann, ein komplexer gesellschaftlicher Wandel könne durch wenige Maßnahmen und in einem abgegrenzten Zeitrahmen geschehen. In der Debatte wird darum auch der Begriff ‚Transformation‘ verwendet. An dem Transitionsbegriff wird hier dennoch aus zwei Gründen festgehalten: 1. Die Betrachtung von Fallbeispielen orientiert sich oft an bedeutenden ‚Transitionsereignissen‘, welche in dem gesellschaftlichen Prozess eine bedeutende Rolle spielen. Damit ist noch nicht impliziert, dass ein Prozess abgeschlossen wäre. 2. Internationale Debatten zu Krisentransformationen werden weiter im Themenfeld der Transitional Justice behandelt, selbst wenn trans­ formative Fragen im Vordergrund stehen. Vgl. zu der Diskussion: Balasco 2018; Daly 2002; Gready und Robins 2014; McAuliffe 2015.

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Christian Ehrens

elle Unrechtserfahrungen zurückblicken. Die Wirkmächtigkeit von Ver­ gangenheit und die Notwendigkeit eines Umgangs mit ihr wurde je nach Kontext mit eigenen Termini diskutiert: In Deutschland wurden nach der NS-Zeit die Begriffe der Vergangenheitsbewältigung, Aufarbeitung, Repa­ ration und Erinnerungskultur diskutiert.3 Im internationalen Kontext wer­ den entsprechende wissenschaftliche Debatten unter dem Themenfeld der Transitional Justice oder auch der Transformative Justice verhandelt.4 Im psy­ chotherapeutischen Kontext geht es vor allem um Trauma-Arbeit.5 Diese verschiedenen Bezüge verdeutlichen, dass ein Sich-Sorgen um die Vergan­ genheit zentraler Bezugspunkt von Sorge sein kann und auch konzeptio­ nell berücksichtigt werden sollte. Im Folgenden wird eine Konzeptualisierung dieses Bezuges angestrebt. Hierfür werden drei Fallbeispiele aus dem südafrikanischen Kontext nach dem Ende der Apartheid mit ihren massiven Menschenrechtsverbrechen vorgestellt, in welchen Vergangenheit und Sorge zentral zusammenhän­ gen: zwei Aussagen von Betroffenen in Südafrikas Wahrheits- und Versöh­ nungskommission sowie eine kurze Darstellung aktueller Performance Art in Südafrika. Im Ergebnis kann daraus eine dreifache Kategorisierung der Vergangenheitsbezüge von Sorge herausgearbeitet werden: a) Die Sorgen der Vergangenheit wirken als erlebtes Leid fort und verfolgen Betroffene. Dies ist formulierbar als ein negatives, evtl. angsterfülltes Sich-Sorgen um in der Vergangenheit Geschehenes. b) Es wird durch Rückblick und Anerkennung Nachsorge um die Wunden der Vergangenheit geleistet – hierbei werden Betroffene sorgend durch Akteure (Einzelpersonen/Institu­ tionen/Staaten) unterstützt. c) Es wird eine zukunftsorientierte Fürsorge mit Interesse an gesellschaftlicher Veränderung getätigt, welche aus der Vergangenheit motiviert und begründet ist – dies kann durch Einzelperso­ nen, Institutionen oder Staaten etwa in Erinnerungsarbeit, Reformen oder Garantien auf Nichtwiederholung geschehen.

3 Der zunächst nach 1945 verwendete Begriff der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ wur­ de u. a. von Theodor W. Adorno und Ralph Giordano kritisiert, da der Ausdruck ‚Bewältigung‘ impliziere, man könne sich außerhalb des Geschehens stellen, dieses bearbeiten und dann womöglich hinter sich lassen. Entsprechend wurde auch im Historikerstreit um einen (un)möglichen Schlussstrich über die NS-Zeit gestritten. Vgl. dazu Augstein et al. 1991 [1987]; Straßner 2018. 4 Vgl. hierzu Buckley-Zistel et al. 2014; Mihr et al. 2018; Werle und Vormbaum 2018. 5 Vgl. Butler et al. 2019; Wale 2017; Gobodo-Madikizela 2016 und den Beitrag von Cornelia Richter (2023) in dem vorliegenden Band.

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Retrospektivität von Sorge nach Menschenrechtsverbrechen in Südafrika

Die folgende Darstellung beginnt mit einer kurzen Erläuterung des südafrikanischen Kontextes, bevor die Fallbeispiele verschiedener Bezüge von Sorge und Vergangenheit erörtert werden. Anschließend werden die Ergebnisse konzeptualisierend zusammengefasst. Den Abschluss bilden Fa­ zit und Ausblick. 1 Südafrika als Kontext massiver individueller und kollektiver Unrechtserfahrung Südafrika erlebte in den 1990er Jahren die Transition von dem Unrechtsre­ gime der Apartheid hin zur Demokratie. In der Apartheid wurde ein Sys­ tem sogenannter ‚Rassentrennung‘ eingeführt, bei welchem alle legislative und exekutive Macht einer sogenannten „race group“ vorbehalten war, welche lediglich 1/7 der Bevölkerung ausmachte (vgl. Corder 1994, S. 521). Die Bevölkerung wurde im Population Registration Act rassistisch als ‚Black‘, ‚Coloured‘ und ‚White‘ kategorisiert, wobei den als weiß kategori­ sierten Personen diverse Privilegien zukamen (vgl. Marx 2012, S. 225).6 Weiterhin wurde die Opposition verboten, brutal durch die Sicherheitsbe­ hörden niedergeschlagen und verfolgt (vgl. ebd., S. 241–243). Eine schwie­ rige wirtschaftliche Lage und ein relativer Patt zwischen Sicherheitskräften und (bewaffneten) Befreiungsbewegungen führte schließlich zu einer durch Verhandlung erreichten Transition zur Demokratie mit Nelson Mandela als erstem demokratisch frei gewählten Staatspräsidenten im Jahr 1994 (vgl. ebd., S. 279–285). Eingerichtet wurde eine staatliche Wahrheitsund Versöhnungskommission, welche als Instrument zur Aufklärung der Gräueltaten der Vergangenheit, als Forum für Storytelling für Opfer und als

6 Die problematischen Begriffe ‚Black‘, ‚Coloured‘ und ‚White‘ werden an dieser Stelle verwendet zur Beschreibung der rassistischen südafrikanischen Rechtsge­ schichte. Die rassistische Kategorisierung des Population Registration Act (s.u.) der Apartheid-Regierung darf aber nicht fortgeschrieben werden. Wird in der Folge von Schwarz oder weiß gesprochen, wird kein naturalistisches Verständnis oder Bewertungen jedweder Art impliziert. Vielmehr werden die Begriffe analog zu ge­ sellschaftspolitischen Selbstbezeichnungen von Bevölkerungsgruppen in Südafrika verwendet (‚Schwarz‘ etwa als Übersetzung der Selbstbezeichnung in der Black Consciousness-Bewegung, vgl. Biko 2006) und analog zur Verwendung in Südafrika etwa bei Vorhaben, ehemals benachteiligte Bevölkerungsgruppen z. B. durch Affirmative Action besser zu stellen. Vgl. zu letzterem etwa BEE Com. 2001; Moosa 2021. Die Beschreibung weiß impliziert, dass eine Person keine Probleme durch Rassismus erfährt.

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(in den Transitionsverhandlungen festgelegter) Amnestierungsmechanis­ mus diente (Parliament of South Africa 19.07.1995). 2 Fallbeispiele retrospektiver Sorge Die ersten beiden Fallbeispiele stammen aus der Arbeit der südafrikani­ schen Wahrheits- und Versöhnungskkommission, während das dritte Fall­ beispiel der Performance Art mehr auf in der Transition versäumte Themen hinweist. 2.1 Ann-Marie McGregors schriftliche Aussage vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission Ann-Marie McGregors Sohn Wallace McGregor kam im Rahmen seines Wehrdienstes bei der südafrikanischen Armee an der namibisch-angolani­ schen Grenze ums Leben. Die Mutter beschreibt in einer schriftlichen Stellungnahme vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission, wie we­ nig sie über den Wehrdienst und die damit verbundenen Verpflichtungen wusste und wie sehr sie bereut, dem Abschied von ihrem Sohn nicht mehr Bedeutung beigemessen zu haben: I didn’t know much about what would happen to him, or what he would do in the army. We had come to accept that it is the law. […] Had I been aware of that danger, I would have made more of the good-byes I shared with my son. If I knew he was going to fight in a war, I would have held him closer to me. And held him up in my prayers. (TRC 1996b) Nach dem Tod ihres Sohnes wird ihr nicht gestattet, diesen noch einmal zu sehen: And then on Thursday, March 9th, I was confronted with the total shock of the news of his death. I was told that my son was killed a few kilometers off Oshakati. He was brought home wrapped in a thick sealed plastic bag. The instructions was [sic!] that the plastic bag should not be opened. The only thing I know about the state my son was in, is that all his limps were in tact [sic!]. And this I heard from his uncle, who could only establish this by running his hands over his plastic bag.

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Retrospektivität von Sorge nach Menschenrechtsverbrechen in Südafrika

Again I accepted this as Military law. You are not allowed to have the last glimpse of your own child. Even as he laid there, lifeless. On the day of Wallace’s funeral, his coffin wasn’t opened. (Ebd.) Im Folgenden beschreibt sie, wie sie seitdem nicht zur Ruhe kommt und sich ihre Sorgen immer wieder ihrem Sohn und seinen Todesumständen zuwenden: It is ten years since I last laid eyes on my child. Nine years since he was laid to rest. But in this [sic!] nine years I’ve been struggling to complete the process of mourning for Wallace. A part of me wanders [sic!] if in fact it was him in that plastic bag. How can I lay him to rest within my heart if I didn’t see him go. When I lost my mother, whom I loved very much, I saw her, I touched her and therefore I was able to separate from her, release her and move on. But with Wallace there are so many question that are still unanswered. In my struggle with my grief, I would like to know were [sic!] exactly he died. How it had happened. Who was there with him when it happened. Did anybody help him to prevent it from happening. Who was the doctor who attended to him. I’ve never had the opportunity to ask these questions. Nobody has ever explained anything to me about my son’s death. […] I sometimes see Wallace in the streets. I remember two distinct occasi­ ons when I though [sic!] I was seeing him. And it turned out to be somebody who looked like him. […] I’ve kept an album of all his photographs as a way of dealing with the many feelings I have about the loss. But it is very hard, when there are so many things you are not sure about. (Ebd.) Die Wahrheits- und Versöhnungskommission ermöglichte später ein Tref­ fen zwischen der Mutter und einem jungen Mann, der bei Wallace gewe­ sen war, als dieser starb. Das Gespräch fand zehn Jahre nach seinem Tod statt (vgl. Gobodo-Madikizela 2006, S. 142) und erst die Aufklärung der Todesumstände führte schließlich zu einem Loslassen- und AkzeptierenKönnen auf Seiten der Mutter: He told her exactly what had happened. As he described Wallace’s last moments, she looked at him and said, ‚So, Wallace is really dead‘ and wept inconsolably for about ten minutes. It was only at that moment that she actually acknowledged and accepted that her son was dead. (TRC 1999a, S. 242) Aus den geschilderten Statements wird ersichtlich, wie sehr die Mutter in der Gegenwart von der Vergangenheit mit ihren Sorgen verfolgt wurde. 55

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Zum einen fehlte ihr jegliche Möglichkeit eines Abschiedes von ihrem Sohn, sei es durch ein bewussteres Auseinandergehen vor dem Militär­ dienst, sei es durch einen Blick auf den toten Sohn oder eine Berührung des Körpers.7 Zum anderen sind der Mutter die Umstände des Todes so unklar, dass sie die sorgenvollen Gedanken an Wallace nicht loslassen kann. Erst durch einen gezielten Blick zurück und das Klären ihrer offenen Fragen konnten Sorgen und Schmerz gelindert und die sorgenvolle Verge­ genwärtigung der Vergangenheit losgelassen werden. 2.2 Lucas Sikweperes Aussage vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission Als zweites Fallbeispiel wird die Aussage von Lucas Sikwepere vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission herangezogen. Dieser wurde durch den als „Rambo of the Pensinsula“ (TRC 1996a) berüchtigten Po­ lizisten H. G. J. Barnard angeschossen und erblindete dadurch. In der Einleitung durch den stellvertretenden Kommissionsvorsitzenden Alex Boraine wird die Gegenwärtigkeit des in der Vergangenheit erfahrenen Unrechts offenbar: „[N]ow you have an opportunity to speak for yourself about some very dreadful actions that were taken against you which live with you today“ (ebd., Hervorh. durch Autor). Nachdem Sikwepere von dem Angriff auf ihn, der unvollständigen Genesung, den erfolglosen Ge­ richtsverfahren gegen den Täter und den Erfahrungen weiterer regelmäßi­ ger Folter berichtet hat, wird er gefragt, wie er sich nun fühle: I feel what – what has brought my sight back, my eyesight back is to come back here, and tell the story. But I feel what has been making me sick all the time is the fact that I couldn’t tell my story. But now I – it feels like I got my sight back by coming here and tell you the story. (Ebd.) Aus diesem Resümee Sikweperes werden zwei Dinge ersichtlich: Zum einen haben ihn die Unrechtserfahrungen der Vergangenheit und die Unmöglichkeit, davon zu berichten, anhaltend krank gemacht. Zum an­ deren war es das Nachsorgen in der Form des Erzählen-Dürfens, des Anerkannt-Werdens und des Begleitet-Werdens, das Linderung verschafft hat; mehr noch: Der weiterhin biologisch Erblindete spricht davon, dass er seine „sight back“ bekommen habe. Dies kann als eine Form der Hei­

7 Vgl. zur Bedeutung der auch physischen Abschiednahme in Trauerprozessen: Klessmann 2017, S. 93–95; Lammer 2013 [2003].

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lung verstanden werden.8 Neben der Nachsorge durch das Erzählen dürfte von Relevanz sein, dass die Anhörung im Rahmen der Wahrheits- und Versöhnungskommission erstens eine breite Öffentlichkeit miteinschließt und zweitens durch ein offizielles staatliches Forum geschieht: Die als Nachsorge verstehbaren Anhörungen wurden teilweise im Fernsehen li­ ve übertragen oder zumindest der Öffentlichkeit durch Zeitungsartikel und schließlich die Berichtsbände zugänglich gemacht. Der Anerkennung des vergangenen Unrechts durch die Kommissionsvertreter*innen kommt eine besondere Bedeutung aufgrund ihres staatlichen Mandates zu: Sie geschieht so von der Seite, die in der Rechtsnachfolge der staatlichen Unrechtverursacher*innen steht. Die Unrechtmäßigkeit des vergangenen, fortwirkenden Leids wird hierdurch bestätigt, was zu einem Ende des fortwährenden Leidens am vergangenen Unrecht führen kann. Außerdem verband sich mit einem Statement vor der TRC die Möglichkeit auf Repa­ rationen in Form monetärer Zuwendungen und der Revision von unrecht­ mäßigen Verurteilungen etc., sodass Anerkennung sowohl emotional wie auch materiell zum Tragen kam. 2.3 Performance Art Auch in der Performance Art gibt es ein bedeutsames Zusammenspiel von Vergangenheit und Gegenwart. Performance Art „entwickelte sich in den 60er Jahren des 20. Jh. in den USA und kam in den frühen 70er Jahren nach Europa“ (Rivuzumwami 2003, S. 1106). Aus südafrikanischer Per­ spektive wird geltend gemacht, dass eine lange Linie zu diversen indigenen Kulturformen vorliegt (vgl. Pather und Boulle 2019, S. 4). Im Zentrum steht der Vollzug körperlichen Handelns durch die/den Künstler*in „in­ nerhalb eines ‚Echt-Zeit-Raumes‘“, wobei „fließende Grenzen zw. aktiver und passiver Beteiligung eines Publikums, Planung und Zufall bestehen“ (Rivuzumwami 2003, S. 1106). Hierdurch wird ein virtueller Raum ge­ schaffen, in dem Erinnerung, (Re-)Inszenierung und Fantasie verschwim­ men (vgl. Parker 2019, S. 246). Performance Art wird oft als Widerstand ge­ 8 Diese Vorstellung einer Heilung durch Erzählen hat allerdings auch kritischen Wi­ derspruch erfahren. So bemängelt etwa Christopher J. Colvin (2018, S. 33f.), die Kommission habe eine sehr spezifische Form des Erzählens favorisiert, welche an­ dere Formen verdrängt und Storytelling stark essentialistisch verstanden habe: Als brächte allein der Akt des Erzählens an sich, unabhängig von historischem, politi­ schem und kulturellen Kontext Besserung und mache es so zur vorzugswürdigen Antwort auf Leiden.

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gen gängige Narrative wahrgenommen, wodurch die Grenze zwischen Kunst, Politik und Aktivismus überschritten wird (vgl. Pather und Boulle 2019, S. 5–10). Entsprechend versteht sich südafrikanische Performance Art als Gegenpol zu staatlichen Museen, Erinnerungsstätten und der staatli­ chen Erinnerungskultur insgesamt: Diese lasse zu wenig Raum für Trauer, Verlust und Erinnerung und repräsentiere zu wenig ein „embodied know­ ledge of historical events and our interpretation […] in the present“ und hätte darum auch keinen Erfolg dabei, eine „unified national identity“ zu schaffen, wie Khwezi Gule (2019, S. 267) feststellt. In dem Festhalten auch an Denkmälern aus der Kolonialgeschichte sei Erinnerungskultur eben nicht neutral und universalistisch, sondern transportiere koloniale Bedeu­ tungsgehalte weiter und führe so zur Alienation großer Teile der Bevölke­ rung (vgl. ebd., S. 268–277). Diese Einschätzung geht einher mit einem „mistrust of the founding narrative of national reconciliation“ (ebd., S. 267). In diesem Diskussionsfeld verweist Sikhumbuzo Makandulas Arbeit mit dem Titel Ingqumbo (Zorn) auf das problematische Fortdauern kolonialer Bedeutungsgehalte und Strukturen im aktuellen Südafrika.9 Seine Perfor­ mance am 17. September 2016 vollzieht sich in Makhanda (ehem. Gra­ hamstown) zwischen Symbolen westlicher Hegemonie: Vor der Kathedra­ le St. Michael and St. George und Drostdy Gateway (dem Eingang der Rho­ des-Universität) verbrennt er sein Messdienergewand und führt das Publi­ kum dann einem Kreuzweg ähnelnd an verschiedene Orte mit weiteren Performance-Elementen (vgl. ebd.). Gule beschreibt, wie das Publikum – durch das in der Performance an einer Station vollzogene Erinnern an den Sieg der Buren über die Xhosa – gewissermaßen zu einer religiösen Ge­ meinschaft und die Aufführung zu einem „ritualised act […] of remem­ brance which serve[s] as catalysts for healing“ wird (ebd., S. 269f.). Durch die Performance wird die vergangene Unrechtsgeschichte wieder gegenwär­ tig bzw. wird das in der Vergangenheit begonnene und noch fortwirkende Unrecht aufgedeckt. Makandula wird dadurch zum Symbol und zur Ver­ körperung der unzähligen in der Vergangenheit Unterdrückten, die teilwei­ se nicht mehr sind, ihre Stimme nicht mehr erheben können oder in Ver­ gessenheit zu geraten drohen. Außerdem bewirkt er die Vergegenwärtigung der Befreiungsbewegung und reinszeniert ihren Aktivismus. Und schließ­ lich nimmt er zukünftige Emanzipation mahnend vorweg, indem er auf­ zeigt, was gesellschaftlich noch geschehen muss, aber in seiner Performance

9 Bilder seiner Performance sind unter https://makandulas2.wixsite.com/sikhumbuzo makandula/project04 zu finden (zuletzt geprüft am 19.08.2022).

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schon beispielhaft vollzogen wurde. In seiner Performance verschmelzen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Aspekt der Verkörperung spielt auch in Buhlebezwe Siwanis Perfor­ mance Inzilo; Ngoba ngihlala kwabafiley10 eine große Rolle.11 Siwani, die sowohl Künstlerin als auch eine Sangoma (traditionelle Heilerin) ist, beerdigt sich zeremoniell selbst auf einem Bett aus dunkler Erde. Damit begibt sie sich in eine „liminal position as artist-sangoma“ „living between two worlds as a medium“ (ebd., S. 279) und evoziert so regelmäßig bei ihren Aufführungen Trauer in ihrem Publikum (vgl. Stielau 2015). Durch die Performance wird Vergangenheit auf unterschiedliche Art und Weise gegenwärtig: Siwani erlaubt einen Blick auf traditionelle Bestattungen, welche teilweise kulturell durch westliche Praktiken in den Hintergrund geraten sind. Dass es notwen­ dig erscheint, diese Formen der Bestattung aktiv ins Gedächtnis zu rufen, vergegenwärtigt vergangenes koloniales Unrecht, überwindet es in gewissem Maße aber auch, da die Performance den verdrängten Praktiken öffentlichen Raum schafft. Weiterhin erinnert die Performance an den Tod vieler Schwar­ zer Südafrikanerinnen und die Trauer Schwarzer Frauen und macht deut­ lich, wie dieser Kummer fortlebt. Schließlich ermöglicht die Performance mit Siwani als Medium zwischen Leben und Tod den Zuschauenden, auch an eigene Erfahrungen mit Sterben, Abschied und Tod anzuknüpfen und diese in der aktualisierten Erinnerung erneut zu erleben. Das gegenwärtige An­ dauern der Sorgen der Vergangenheit lässt sich auch daran erkennen, dass „national healing“ nach Auffassung Siwanis so lange unmöglich bleibe, wie es Dinge gebe, welche in und seit der Transitionszeit unbehandelt blieben (vgl. Gule 2019, S. 281). 3 Drei Vergangenheitsbezüge von Sorge Im Folgenden werden die bisherigen Beobachtungen in eine dreifa­ che Konzeptionalisierung des Bezugs von Vergangenheit und Sorge in (Post-)Konfliktgesellschaften überführt.

10 Übersetzung (CEH): Eine Zeit der Trauer; ich lebe mit den Toten. 11 Bilder ihrer Performance sind unter https://www.buhlebezwesiwani.com/inzilo-ng oba-ngihlala-kwabafileyo-2 zu finden (zuletzt geprüft am 19.08.2022).

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3.1 Das Fortwirken der Sorgen der Vergangenheit Ein Fortwirken vergangener Erfahrung bis hin zu einem Verfolgt- und Bestimmt-Werden durch die Sorgen der Vergangenheit findet sich eindrück­ lich in den Schilderungen der Opfer vor der Wahrheits- und Versöhnungs­ kommission: Längst vergangene Unrechtserfahrungen bereiten über die schweren materiellen Verluste hinaus einen Zustand der Unruhe, welcher der Zuwendung bedarf. Ein angsterfülltes Sich-Sorgen kann sich dabei explizit auf Vergangenes richten oder auch aus vergangenen Geschehnissen evoziert werden. Im Zentrum stehen hier zum einen traumatische Erfahrun­ gen. Zum anderen geht es um die Unsicherheit über die Vergangenheit, die mit der mit der Frage verbunden ist: Was ist geschehen? Die Wahrheits- und Versöhnungskommission spricht in diesem Zusammenhang von „haunting memories“ (TRC 1999b, S. 305). Die andauernde Präsenz dieses Phänomens wird auch im Titel eines Sammelbandes mit Schilderungen von Verbrechen aus der Zeit der Apartheid in Südafrika deutlich: „These are the things that sit with us“ (Gobodo-Madikizela et al. 2019): Die Erfahrungen der ApartheidVerbrechen sind noch mitten unter und in den Menschen. Im Bereich der Trauma- und Konfliktforschung werden für dieses Phänomen bereits kon­ zeptualisierende Überlegungen getätigt: Mit Rückgriff auf Jaques Derrida, Avery Gordon, Graham Dawson, Cillian McGrattan und Stephen Frosh wird von einer „hauntology“ gesprochen (Wale et al. 2020b, S. 7). Diese be­ schreibt, wie „absent presences […] haunt our being-in-the-world – from the past and from a future not yet brought into being“, sodass die Zeit aus den Fugen gerate und „the over-and-done-with comes alive, […] what’s been in your blind spot comes into view“ (ebd.). Dies wiege gesellschaftlich noch schwerer, da die Erfahrungen mitunter transgenerational weitergegeben werden könnten und zu einer „perpetuation of injustice“ als andauernde, unaufgelöste „legacy of what has come before us“ führe (Wale et al. 2020a, S. v). Im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung stelle dies elementare Anfragen an das Zeitverständnis, weil oft von einem „clear sense of post or after mass violence“ ausgegangen werde (Wale et al. 2020b, S. 7, Hervorh. im Original). Es wäre angezeigt, das Gespräch mit diesen Disziplinen fortzufüh­ ren, um so Erkenntnisse über das Verhältnis von traumatischer Erfahrung in der Vergangenheit, Sorgen im Jetzt und das grundsätzliche Verständnis von Zeit zu gewinnen.12

12 Vgl. zu diesem Themenkomplex auch Gobodo-Madikizela 2016. Zur (mitunter problematischen) Interpretation massenhafter Unrechtserfahrung in Konfliktgesellschaften als kollektive Traumata vgl. Kühner 2011.

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Auch im Feld der Performance Art liegt eine Verknüpfung von Sorgen und in der Gegenwart präsenter Vergangenheit vor: So antwortet die Per­ formance Art u. a. auf historisches, koloniales Unrecht, welches in Gebäu­ den und Verhaltensweisen weiterhin präsent ist und Menschen an einem sorgenfreien Leben hindert. Selbst ohne sichtbare Monumente der Vergan­ genheit ist die Vergangenheit der drängende Auslöser für gegenwärtige Performances. Die Soziologin Avery Gordon beschreibt dazu passend: [H]aunting is one way in which abusive systems of power make them­ selves known and their impacts felt in everyday life, especially when they are supposedly over and done with (slavery, for instance) or when their oppressive nature is denied (as in free labor or national security). (Gordon 2008 [1997], S. xvi) In diesem Zusammenhang spielt auch die „embodied past“ (Koloma Beck 2014, S. 186) eine große Rolle, welche gerade im Kontext massiver, oft bru­ tal-körperlicher Gewalt und Unterdrückung von großer Relevanz ist. Für die Vergangenheitsdimension von Sorge ist dies insofern von Bedeutung, als die „body memory“ nicht einfach durch die Unterzeichnung eines Frie­ densvertrages o. Ä. aufgelöst werden kann (vgl. ebd., S. 197). Stattdessen wird die sorgenvolle Vergangenheit als „incorporated reality“ in der Ge­ genwart weiter „enacted“ (ebd.). Um das Fortwirken der Sorgen der Ver­ gangenheit unterbrechen zu können, sollte die Bedeutung von ‚body me­ mory‘ in gesellschaftstransformativen Prozessen zwingend Beachtung finden. Die Arbeit der Performance Art ist in diesem Kontext besonders rele­ vant: Sie korrigiert die tendenziell kognitivistische Erinnerungskultur, in­ dem sie Verhaltensmuster und die Bedeutung des Körpers in die Praktiken der Erinnerungskultur einbezieht. 3.2 Nachsorge um die Wunden der Vergangenheit Der Aspekt der Schmerz lindernden Nachsorge konnte ebenfalls in allen Fallbeispielen beobachtet werden. Er ließe sich auch als auf die Vergan­ genheit ausgerichtete individuelle oder institutionalisierte Care-Arbeit be­ schreiben.13 Die Wahrheits- und Versöhnungskommission bot dabei den Raum, sich der Vergangenheit begleitet und wertgeschätzt zuzuwenden, Klarheit über Geschehenes zu erlangen, evtl. sogar transformative Erfah­

13 Vgl. zum Care-Begriff die Einleitung des vorliegenden Bandes: Bitzer et al. 2023, S. 12.

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rungen von Vergeben und Heilung zu machen und offizielle Anerken­ nung für vergangenes Leid zu erlangen. Umsorgender Akteur ist in dem Fall der Staat in der Institution der Kommission, die wiederum in der Per­ son der Kommissarin oder des Kommissars auftritt. Umsorgter Betroffener ist das Opfer schwerer Menschenrechtsverbrechen, wobei dieses in seinem Erzählen auch aktiv in die Nachsorge eingebunden ist. Das Nachsorgege­ schehen konstituiert sich also in dem Zusammenspiel beider Seiten. Es scheint von zentraler Bedeutung zu sein, dass der Staat als offizieller Ver­ treter und in der Rechtsnachfolge des Unrechtsregimes stehender Akteur das den Betroffenen widerfahrene Leid anerkennt und solche Taten damit als Unrecht festschreibt. Damit erhält die betroffene Person eine – wenn auch vermittelte – Entschuldigung von verantwortlicher Seite, selbst wenn die eigentliche Tatperson keine Entschuldigung o. Ä. formulierte. Auch die Performance Art bietet einen Raum für Erinnerung, bzw. erobert sich diesen erst, indem sie aktiv in den öffentlichen Raum eindringt und gegebenenfalls auch das Publikum einbindet. Sie kommt bevorzugt dort zur Anwendung, wo Vergangenheit als Unrecht erlebt wird und unbearbeitet oder als blinder, aber darum nicht minder schmerzender, Fleck existiert. Performance Art kann dabei auch eine Bearbeitung der Vergangenheit wie in der Wahrheits- und Versöhnungskommission unterstützen, wenn etwa Trauerrituale inszeniert werden. Umsorgte und umsorgende Person sind in der Performance Art zunächst deckungsgleich: Arbeitet ein*e Künstler*in eigene Vergangenheit auf, bedient sie/er sich zwar der Kunst als (quasiinstitutionelles) Mittel, führt die Sorgehandlung dann aber selbst aus. Arbei­ tet die/der Künstler*in allgemeinere gesellschaftliche Themen mit seiner Performance auf, dann werden Individuen mit ebensolcher Erfahrung bzw. die Gesellschaft als Ganze zum Objekt der Nachsorge. Anders als im Bereich der Wahrheits- und Versöhnungskommission ist hier von Relevanz, dass gerade nicht der Staat umsorgender Akteur ist, sondern die Kunst einen Gegenpol zu staatlich monopolisierter Erinnerungskultur und Gedenken darstellt und so auf Leerstellen hinweisen kann. Hiermit wird auch Gruppen eine Form der Anerkennung verschaffen, die sich durch den Staat nicht ausreichend repräsentiert fühlen. Bedenkenswert erscheint für den Bereich der Nachsorge durch Anerkennung Axel Honneths (2016 [1992]) Kategori­ sierung von drei Anerkennungsweisen in emotionale, kognitive und soziale Anerkennung. Die Bedeutung des Unrecht-anerkennenden-Akteurs hinge dann von der bisher vorenthaltenen Weise ab, also entweder affektiver Zuwendung, rechtlicher Anerkennung oder sozialer Wertschätzung.14

14 Vgl. Honneth 2016 [1992], S. 196, S. 211; 2003.

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3.3 Zukunftsorientierte Fürsorge Der Aspekt der zukunftsorientierten Fürsorge ist auf eine Verbesserung der Lebensumstände im größeren gesellschaftlichen Kontext bezogen. Dies kann durch Garantie auf Nichtwiederholung, Reparation oder Erinnerung geschehen. Die Motivation stammt hierbei aus der Erfahrung der (evtl. noch fortwirkenden) Vergangenheit, welche auch die Form der Fürsoge prägt. Besonders war dies am Beispiel der Performance Art sichtbar, kann aber auch im Storytelling der Wahrheits- und Versöhnungskommission ge­ funden werden. Performance Art kann als aktivistische Kunst verstanden werden, die einen Beitrag zu Transformation und Nichtwiederholung leis­ ten will: Vergangenheit mit ihren Schrecken und ihrer Gewalt wird reinszeniert und aktualisiert, wobei gleichzeitig auch eine Veränderung der Lebenswirklichkeit vorwegnehmend vollzogen wird – etwa im Ver­ brennen des Gewandes oder in der Schaffung von Öffentlichkeit für indi­ gene Trauerrituale. Die Performance bietet dabei gegenüber festen Denkmä­ lern die Besonderheit, dass Performende ihren Körper als Mittler bereitstel­ len, sodass die Stimmen der Toten durch die Lebenden sprechen können oder anders gesagt zu einer „living memory“ und „archive of the dead“ werden, wie Alan Parker (2019, S. 245, 262) feststellt. Parker merkt außer­ dem an, dass die ritualisierende Performance anders als Rituale im rein sa­ kralen Kontext offener für Reimagination und Kritik sei (vgl. ebd., S. 246f.). In ihrer Forderung nach radikalen Brüchen in der Erinnerungsar­ beit weist Performance Art außerdem auf ein Anerkennungsdefizit auf staat­ licher Seite hin und kann so zur Transformation beitragen. Im Bereich des Storytelling ist es die Offenlegung und Anerkennung von Wahrheit über die Vergangenheit, welche auf zweifache Weise dafür Sorge tragen soll, dass sich Vergangenheit nicht wiederholt: Indem gezeigt wird, welcher Brutalität sich ein System bediente und welches Leid diese verur­ sachte, wird erstens – so die Hoffnung – die transformative Erkenntnis in der Bevölkerung herbeigeführt, ein solches System nie wieder entstehen zu lassen.15 Zweitens geschieht durch die Anerkennung des Unrechts speziell durch eine staatlich-demokratisch eingesetzte Institution eine Delegitimie­ rung verbrecherischen Handelns, durch die der (neue) Staat wiederum an Legitimität gewinnt und beansprucht, für ein friedlicheres, auf Menschen­ rechten und demokratischen Prozessen basierendes Leben zu sorgen. Die mit den Statements verbundenen, möglichen finanziellen Reparationen

15 Vgl. hier etwa auch den Titel der argentinischen Wahrheitskommission: „Nunca Más!“ (Übersetzung Christian Ehrens: „Nie wieder!“): Argentina 1986 [1984].

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haben die doppelte Funktion, nachsorgend das Leid anzuerkennen und fürsorgend eine bessere Zukunft für die betroffene Person zu ermöglichen. 4 Fazit und Ausblick Die drei Vergangenheitsbezüge von Sorge – das schmerzvolle Fortwirken von Sorgen der Vergangenheit, die lindernde Nachsorge für Wunden der Vergangenheit und die aus der Vergangenheit motivierte, zukunftsorientierte Fürsorge für Nichtwiederholung und eine friedliche Transformation – haben deutlich gemacht, dass ein reiner Zukunftsbezug von Sorge nicht durchzuhalten ist. Berührt wurden dabei individuelle und gesellschaftliche Dimensionen von Sorge. Die Erläuterungen geschahen im Kontext schwe­ rer, mitunter traumatischer Menschenrechtsverletzungen. Die Übertrag­ barkeit auf gemäßigtere Kontexte ist dennoch anzunehmen: Zum einen verweist die kolonialismuskritische Arbeit der Performance Art darauf, dass es blinde Flecken in der Vergangenheitsaufarbeitung geben kann, welche Bearbeitung verdienen. Zum anderen bestehen auch in Gesellschaften oh­ ne schwere Menschenrechtsverbrechen Möglichkeiten individueller Trau­ matisierung. Für die Weiterarbeit wäre es interessant, das theologische Verständnis von Sorge und Zeit in die Debatten um Versöhnung und Heilung von Sor­ gen der Vergangenheit einzubringen. Aus südafrikanischer Perspektive ist dazu Anlass gegeben, weil die Wahrheits- und Versöhnungskommission in ihrem Abschlussbericht von den Religionsgemeinschaften gefordert hat, aktiv für Heilung und Versöhnung einzutreten (TRC 1999b, S. 316–318). Religiöse Organisationen in Südafrika werden für den Prozess von Versöh­ nung und Heilung in Umfragen vor allen anderen Organisationen als „sehr wichtig“ (40 %) oder „ziemlich wichtig“ (24 %) eingestuft (vgl. Moo­ sa 2021, S. 15). Jedoch wird gleichzeitig selbstkritisch angemerkt, dass man als Kirchen hinter den Erwartungen zurückgeblieben sei (vgl. Thesnaar 2018). Reflektiert man hier die möglichen Anknüpfungspunkte, muss die ambivalente Rolle von Christentum und Kirche im Rahmen von Christia­ nisierung und Kolonisierung kritisch mitgedacht werden. Literaturverzeichnis Argentina. 1986 [1984]. Nunca más. Informe de la Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas (Colección Derechos humanos FC 0170). 13. Aufl. Buenos Aires: Editorial Universitaria de Buenos Aires.

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Bin ich vergewaltigt worden? Sorge als Vergangenheitsbezug Olga Kedenburg

1 Sorge um eine offene Vergangenheit Sich zu sorgen bedeutet, sich auf etwas Unsicheres zu beziehen. Diese Offenheit bringen wir intuitiv mit der Zukunft in Verbindung: Es ist nahe­ liegend, sich darum zu sorgen, was geschehen könnte. In diesem Beitrag möchte ich anhand eines empirischen Fallbeispiels einen Zeitbezug von Sorge darstellen, der sich vor allem auf die Vergangenheit bezieht. Dieser Fall verweist darauf, dass Sorge auch die Auseinandersetzung mit einer offenen Vergangenheit beschreiben kann. Die Offenheit der Sorge betrifft hier nicht das, was passieren könnte, sondern das, was passiert ist. Die Ge­ schehnisse selbst können zwar rekonstruiert werden, eine sichere Deutung ist jedoch nicht zugänglich. In dieser Darstellung beziehe ich mich auf Daten aus einem Interview zur Grauzone sexueller Gewalt. Dieses Materi­ al eignet sich als Fallbeispiel, weil die Teilnehmerin auf eine Erfahrung eingeht, deren Bedeutung sich für sie im Zeitverlauf geändert hat und dabei uneindeutig geblieben ist. Sie sorgt sich, vergewaltigt worden zu sein, ohne dieses Ereignis zum Zeitpunkt des Geschehens als solches zu begreifen. Daran schließt eine Sorge an, die diese fehlende Sensibilität in der Vergangenheit betrifft. So sorgt sie sich nicht nur, vergewaltigt worden zu sein. Es versetzt sie darüber hinaus in Sorge, dass sie die Tat nicht als solche gedeutet hat. Das fragliche Erlebnis behält vor allem deshalb eine belastende Präsenz bei, weil die Interviewteilnehmerin es zum Zeit­ punkt des Geschehens nicht als Gewalt und nicht einmal als unangenehm empfunden hat. Sie ist im Rückblick vor allem davon betroffen, dass sie etwas als lustvolle sexuelle Erfahrung erlebt hat, das ihr heute als Gewalt erscheint. Richtet sich die Sorge auf bereits Erlebtes, kann sich die Bedeutung eines vergangenen Erlebnisses wandeln. Es kann so als fragliche Erfahrung eines spezifischen sozialen Phänomens Gestalt annehmen – hier als Fall von sexueller Gewalt. Die Ungewissheit bezieht sich darauf, wie die Ver­ gangenheit zu interpretieren ist. Der ausgewählte Fall zeigt beispielhaft, dass Sorge auch bedeuten kann, sich auf eine Vergangenheit zu richten, 69

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von der man sich betroffen sieht. Als Modus des Vergangenheitsbezugs be­ deutet Sorge, sich ausgehend von einem affektiven Getroffen-sein einer Deutung eigener Erlebnisse anzunähern, indem Diskurse zum fraglichen Phänomen auf die eigene Erfahrung bezogen werden. In diesem Fall führt die Sorge dazu, dass es möglich wird, biografische Erlebnisse als potenziel­ le Gewalterfahrungen zu befragen. Um den Fall und seinen Sorgebezug nachvollziehbar darstellen zu können, werde ich zunächst die besonderen Bedingungen der Formierung von Gewalterfahrungen in der Grauzone se­ xueller Gewalt skizzieren (Abschnitt 2). Anschließend verorte ich das Prob­ lem uneindeutiger Gewalterfahrungen vor dem Hintergrund phänomeno­ logischer und feministischer Auseinandersetzungen (Abschnitt 3). Anhand des ausgewählten Fallbeispiels zeige ich zunächst das Problem auf, dass hier die Frage nach Gewalt aufgeworfen wird, obwohl scheinbar keine Verletzung erlebt worden ist. (Abschnitt 4). Anhand der Sensibilisierung der Interviewteilnehmerin stelle ich dar, wie sich die subjektive Verletzbar­ keit verschieben und damit nachträglich Verletzungserfahrungen entste­ hen können (Abschnitt 5). Daran anschließend schlage ich vor, diese Kon­ stellation als eine Form der Sorge zu begreifen, die sich auf die Vergangen­ heit bezieht (Abschnitt 6). Abschließend schlage ich vor, diese Sorge als eine Form des Nicht-Wissens mit leiblicher Dimension zu begreifen (Ab­ schnitt 7). 2 Sexuelle Gewalt in der Grauzone Im Bereich sexueller Gewalt ist die Herausbildung von Gewalterfahrun­ gen1 aus biografischen Erlebnissen besonders voraussetzungsvoll. Seit Be­ ginn der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen zeigen sich deutliche Diskrepanzen zwischen Berichten erzwungener sexu­ eller Handlungen, von beängstigenden und demütigenden Erlebnissen und der Bezeichnung dieser Erfahrungen als Gewalt (vgl. Gavey 1999; Kel­ ly und Radford 1990; Koss et al. 1987). Die Uneindeutigkeit des Erlebens ist charakteristisch für sexuelle Gewalt: Einerseits, weil Vorstellungen ver­ breitet sind, die nicht mit der empirischen Realität sexueller Gewalt über­ 1 Unter Erfahrung verstehe ich das Ergebnis eines Verarbeitungsprozesses, in den diskursive Elemente und normative Vorstellungen eingehen. Die Erfahrung ent­ spricht nicht dem Erlebnis, sondern ist reflexiv durchlebt, kann artikuliert und da­ mit vermittelt werden. Durch die diskursiv-normativen Bezüge erhält sie eine Be­ deutung und wird so zu einem Fall von etwas (vgl. Jung 2019, S. 47f), z. B. einer Gewalterfahrung.

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einstimmen2 (vgl. Burt 1980; Hockett et al. 2016). Zudem können Gewalt­ taten in Form von Handlungen erscheinen, die Betroffene gewöhnlich einer positiv besetzten Sexualität zuordnen (vgl. Wolters 2022, S. 92). Mit dem Hashtag #metoo und daran anschließenden Debatten gerieten beson­ ders Situationen in den Fokus der gesellschaftlichen Diskussion, die retro­ spektiv der sogenannten Grauzone3 sexueller Gewalt zugeordnet wurden. Wo die Grenze zur sexuellen Gewalt verläuft, war eine zentrale Frage in der Aushandlung, die durch #metoo angestoßen wurde (vgl. Fileborn und Loney-Howes 2019). Die Herausbildung von Gewaltdeutungen untersuche ich in meinem Dissertationsprojekt rekonstruktiv anhand von Narrationen von Erfahrungen in dieser Grauzone. Weil Erfahrungen in diesem Bereich besonders uneindeutig sind, erweisen sich Anhaltspunkte für Gewaltdeu­ tungen als erklärungsbedürftig. Auch Interpretationen von Situationen in diesem Grenzbereich als nicht-gewaltsam erschließen sich nicht unmittel­ bar. Deshalb eignet sich die Grauzone besonders, um Prozesse der Ent­ wicklung von Gewaltdeutungen zu untersuchen: Die Analyse des Inter­ viewmaterials ermöglicht es, Kriterien herauszuarbeiten, die Betroffene für die Identifikation sexueller Gewalt heranziehen. 3 Gewalterfahrung und Ordnungsbezüge Die Uneindeutigkeit von Erfahrungen verweist auf die Frage, wie Erlebnis­ se zu Erfahrungen von etwas, also als Fall eines bestimmten sozialen Phäno­ mens verarbeitet werden (vgl. Waldenfels 2002, S. 28). Unter anderem die­ se Frage wird in der phänomenologischen Auseinandersetzung mit Gewalt verhandelt. Die Annäherung an das Erleiden von Gewalt steht vor dem Problem, dass bereits das leibliche Erleben vor dem Hintergrund von Wis­ sen und Erwartungen stattfindet (vgl. Liebsch 2014, S. 363; Staudigl 2014, S. 13). Auch aus phänomenologischer Perspektive kann Gewalt also nicht unabhängig von Ordnungsbezügen und jeweils gültigen Normen erlebt werden (vgl. Staudigl 2015). Dennoch sind Erleben und Erfahrungsbil­

2 Feministische Analysen bezeichnen diese Vorstellungen als Vergewaltigungsmy­ then, vgl. z. B. Burt 1980. Dazu zählen Vorstellungen wie die eines fremden Täters, der aus dem Nichts erscheint oder die Annahme, dass Betroffene die Vergewalti­ gung eigentlich gewollt hätten. 3 Der Begriff Grauzone (ebenso Graubereich) bezeichnet häufig Unklarheiten in Bezug auf die rechtliche Dimension. Im Anschluss an #metoo wurde er vor allem für den Bereich ethisch und politisch uneindeutiger Interaktionen an der Schwelle zu sexuellen Übergriffen zu beschreiben.

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dung Prozesse, die aktiv von Betroffenen gestaltet werden. Welcher Sinn einer Gewalterfahrung zugeschrieben wird, sollte daher empirisch offen untersucht und nicht entsprechend der modernen Gewaltaversion voraus­ gesetzt werden (vgl. Koloma Beck 2021). Frühe sozialwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit sexueller Ge­ walt waren stark von der Second Wave der feministischen Bewegung ge­ prägt (vgl. Brownmiller 1975; Dworkin 1999; MacKinnon 1991). In dieser Literatur wurde die Schwere und besondere Qualität sexueller Gewalt be­ tont. Sie sollte im Kampf gegen die Trivialisierung von Taten und die Be­ hauptung einer (Mit-)Verantwortung Betroffener einen Beitrag leisten (vgl. Gavey 1999, S. 68). Dieses Anliegen findet sich auch in der Bezeich­ nung 'Opfer' für Betroffene sexueller Gewalt wieder. Der Begriff sollte da­ zu dienen, Gewalt gegen Frauen als strukturelles Element einer patriarcha­ len Ordnung sichtbar zu machen und das Leid Betroffener anzuerkennen. Kritiker:innen dieser Position weisen darauf hin, dass das Überwinden bzw. Überleben der Erfahrung viel zentraler für die Selbsterzählung Be­ troffener sein könne als der Status als Gewaltopfer (vgl. Lamb 1999). Die Betonung des Opferstatus dränge Frauen eine Identität potenziell verge­ waltigter Subjekte und Betroffenen die dauerhafte Identifizierung als Op­ fer auf (vgl. Marcus 1992, aktueller vgl. Sanyal 2016, S. 77). Vor diesen Problemen der Deutung von Gewalterfahrungen steht die Frage, wie ein Erlebnis zu einer Gewalterfahrung verarbeitet wird. In der phänomenologischen Auseinandersetzung mit dem Erleiden von Gewalt wird angenommen, dass ein leiblich gespürtes Widerfahrnis diesen Verar­ beitungsprozess anstößt. Dieses bildet den „affektive[n] Kern“ (Bernhardt 2017, S. 11) einer Verletzungserfahrung. Schmerzen, Leid oder auch das vage Gefühl, dass einem etwas angetan wird, können diesen Ausgangs­ punkt für eine Interpretation des Erlebten als Verletzungserfahrung bil­ den. Die Fähigkeit, berührt zu werden (vgl. z. B. Lindemann 2020, S. 13)4, nimmt hier die Form einer unangenehmen bis schmerzlichen Affizierung an: einer Verletzung (vgl. Delhom 2014, S. 156; Liebsch 2014, S. 365). Da sie ein unerwünschtes Getroffen-sein bezeichnet (vgl. Bernhardt 2017, S. 11), kann auch die Verletzung nur in Bezug auf sozial geteilte Annah­ men über einen Anspruch auf Unversehrtheit als solche verstanden wer­

4 Dieses Vermögen, leiblich berührt zu werden, wird in unterschiedlichen Begriffen gefasst: Begründet in Vorstellungen vom Menschen und seiner Sensibilität (vgl. Nungesser 2019), Abhängigkeit vom Anderen (vgl. Lévinas 2012) oder Vermögen zum Getroffen-sein (vgl. Waldenfels 2016) setzt jede Auseinandersetzung mit dem Erleiden von Taten eine Vorstellung von Affizierbarkeit voraus.

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den. Wie auch immer dieser Anspruch geartet ist und begründet wird, er verweist auf die normative Dimension der Verletzungserfahrung. Von einer Verletzung, anstatt von Gewalt zu sprechen, befreit also nicht von dem oben angesprochenen Problem, dass die Erfahrung von Gewalt nur im Zusammenhang mit normativen Ordnungsbezügen gebildet wer­ den kann. Aus der phänomenologischen Diskussion über das Verhältnis von Verletzung und Gewalt wird jedoch deutlich, dass der Verletzungsbe­ griff auf die Erfahrung abzielt (vgl. Delhom 2000, S. 279; Liebsch 2014), während der Gewaltbegriff automatisch die Frage nach der Legitimität der Handlung aufruft (vgl. Lindemann 2014, S. 263; Lindemann 2017; Linde­ mann 2018 S. 68; Liebsch 2014). Das Sprechen von Verletzungserfahrun­ gen impliziert nicht den Anspruch der Allgemeingültigkeit eigener norma­ tiver Erwartungen. Im Gegensatz zur Rede von Gewalt ist kein Aushand­ lungsprozess notwendig, um eine Verletzungserfahrung zu artikulieren. Daher erlaubt die Differenzierung von Verletzungs- und Gewalterfahrun­ gen eine Annäherung an Erfahrungen, die sich unterhalb der Schwelle des­ sen ansiedeln, das unter Bezugnahme auf sozial geteilte Kriterien von Ge­ walt als solche bezeichnet werden kann. 4 Gewalt ohne Verletzung? Im Fallbeispiel schildert die Interviewteilnehmerin „Lina“5 Erlebnisse aus ihrer Jugend, die sie aus heutiger Sicht problematisiert. Sie erinnert sich, dass ein damaliger Freund während gemeinsamer Übernachtungen im Freundeskreis mehrmals sexuelle Handlungen6 an ihr vollzogen hat, wäh­ rend sie sich schlafend stellte. In der Deutung dieser Erlebnisse ergibt sich für sie ein Konflikt: Aus ihrer heutigen Perspektive stellt eine derartige Konstellation klar eine Gewalttat dar. Zum Zeitpunkt des Geschehens ver­ stand sie es jedoch eindeutig als positive sexuelle Erfahrung. Das damalige Erleben ist nicht mit ihrem heutigen Selbstbild zu vereinbaren, für das eine bewusst gestaltete, feministische Sexualität wichtig ist. Dieser Konflikt führt dazu, dass die Erfahrung sie nicht loslässt, sie „wirklich nachträglich noch viel beschäftigt.“

5 Bei diesem Namen handelt es sich um ein selbst gewähltes Pseudonym der Inter­ viewteilnehmerin. 6 Konkret nennt sie das orale und Versuche des analen Einführens, die Stimulation seines Penis mit ihren Händen sowie Berührungen an intimen Körperstellen.

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Obwohl sie eine derartige Situation aus heutiger Sicht theoretisch als Vergewaltigung bezeichnet, bleibt die Deutung ihrer eigenen Erfahrung offen. Für die Interpretation fehlt ihr in der Erinnerung ihres Erlebens das Moment, das in der phänomenologischen Diskussion als „affektive[r] Kern“ (Bernhardt 2017, S. 11) der Verletzungserfahrung bezeichnet wird: Im Moment des Erlebens waren die Berührungen nicht unerwünscht. Sie wurden nicht als Leiden erlebt und gingen nicht mit Schmerzen einher. Selbst ein unbestimmtes Gefühl, dass ihr gerade etwas zustößt, fehlt als Ausgangspunkt für die Herausbildung einer Verletzungserfahrung. Mit Blick auf den eingangs kurz dargestellten phänomenologischen Diskurs zum Verhältnis von Gewalt und Verletzung zeigt sich anhand dieses Falls auch ein theoretisches Problem: Er verweist auf die Frage, ob es Gewalt oh­ ne eine Verletzungserfahrung geben kann. Theoretisch beschreibt diese Frage den Aspekt, der Lina in ihrer Gewaltdeutung zweifeln lässt. Sie hat die sexuellen Handlungen an ihr nicht als Verletzung erlitten, sondern im Gegenteil genossen. Ihre eigene Lust in der fraglichen Situation stellt sie eindeutig dar: „Dieses heimlich und unbewusste war natürlich auch span­ nend und es hatte was Erregendes.“ Es ist jedoch heute erklärungsbedürf­ tig für sie, dass sie in diesen wiederkehrenden Situationen sexuelle Lust empfunden hat: „Aber ich frage mich halt, warum fand ich es gut?“ An­ hand der sexuellen Anziehung zur handelnden Person versucht sie zu er­ klären, warum sie das Geschehen nicht als verletzend erlebt hat. „Aber wenn ich mir die Situation mit irgendwem anders vorstelle, wo [ich] mich gar nicht hingezogen gefühlt hätte, dann ist es ein Horror-Situation“. Der starke Begriff Horror vermittelt die Affizierung, die sich durch die Vorstel­ lung einstellt, wie sie es auch hätte erleben können: Er steht für leibliche Regungen wie heftige Abscheu, Beklemmung und Ausgeliefertsein. Diese Wortwahl verweist darauf, dass das Erlebnis aus heutiger Sicht etwas völlig anderes sein könnte als eine positive sexuelle Erfahrung: Es wird aus heuti­ ger Sicht zu einem potenziell traumatisierenden Erlebnis. 5 Feministische Sensibilisierung Im Kontrast zu Aussagen über ihre heutige Herangehensweise an Sexua­ lität wird deutlich, weshalb Lina die Erlebnisse der Vergangenheit als mögliches Horrorszenario bezeichnet. Die Umsetzung feministischer Prin­ zipien erscheint im gesamten Interview als wichtiges Anliegen in ihrer Lebensführung. Sie scheinen zentral für ihr Selbstbild zu sein, da sie in Aussagen zu beinahe allen Themen des Interviews einfließen. Dabei benutzt sie Begriffe aus dem feministischen Aktivismus. So spricht sie 74

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häufig von weiblich bzw. männlich gelesenen Personen anstatt z. B. von Frauen und Männern. Diese Form, die Konstruiertheit von Geschlecht zu betonen, findet sich vielfach im (queer-)feministischen Diskurs. In ihre Erzählung eigener Erfahrungen fließen Reflexionen anhand analytischer Elemente dieses theoretisch-aktivistischen Umfelds ein: So ordnet sie ihr eigenes Verhalten im Zusammenhang mit der Sozialisierung von Frau­ en und entsprechenden Rollenbildern ein, denen sie eine Tendenz zum „People Pleasing“ zuschreibt. Weiterhin führt sie das Motiv der „Täter-Op­ fer-Umkehr“ aus der feministischen Analyse einer Rape-Culture7 an, um vergangene Unsicherheiten über ihr eigenes Verhalten zu erklären. Eine unangenehme sexuelle Begegnung versteht sie im Rückblick so, dass sie „objektifiziert“8 worden ist und sich daher nicht als gleichwertige Akteurin in der Interaktion gesehen gefühlt hat. Wie wichtig feministische Prinzipien insbesondere für die Gestaltung ihres Sexuallebens sind, stellt sie anhand der bewussten Arbeit an deren Umsetzung dar. Ihr Sprechen über diese Entscheidungen im Bereich der Sexualität betont die Ernsthaftigkeit dieses Projekts. So berichtet sie, sie würde zunächst lieber „mit körperlichen Signalen arbeiten“, bevor sie verbal wird und anspricht, wenn ihr etwas nicht gefällt. Eine Situation, bei der sie das Gefühl hatte, dass ihre Signale nicht beachtet wurden,

7 In diesen Erklärungsansätzen zu sexueller Gewalt werden binäre Geschlechterord­ nung und Heterosexualität als Bedingungen der Möglichkeit für Vergewaltigung selbst (vgl. Gavey 2019, S. 227f) und für die oben genannten Vergewaltigungsmy­ then (vgl. Burt 1980) verstanden Eine solche „Kultur der Vergewaltigung“ führe dazu, dass Betroffenen die Schuld an der Gewalt zugeschrieben werde, die sie er­ fahren („Victim-Blaming“, „Täter-Opfer-Umkehr“): So ließe sich die Vielfalt der Vergewaltigungsmythen den Grundaussagen „Es ist nichts passiert“, „Es ist kein Schaden entstanden“, „Sie wollte es“, und „Sie hat es verdient“ zuordnen (vgl. Burt 1991, S. 28ff, detailliert dazu vgl. Brosi 2004, S. 12). 8 Feministische Kritik an der Objektifizierung (auch Objektivierung) der Frau geht auf Simone de Beauvoir (2021 [1952] zurück, die Weiblichkeit und Frau-sein als männliche Konstruktion begreift. Den Prozess des Frau-werdens beschreibt sie als Verinnerlichung dieser äußeren Betrachtung. Der Begriff bezeichnet eine Selbst­ wahrnehmung von Frauen, die ihrer Darstellung als Objekt entspricht, das der Be­ wertung durch einen männlichen Betrachter ausgesetzt ist zu dessen Gefallen es geschaffen wurde). Andrea Dworkin (1985) begreift die Objektifizierung von Frau­ en als Bestandteil ihrer sexuellen Unterdrückung. Sie entmenschliche Frauen und ermögliche Pornografie und Prostitution, die Dworkin als Gewalt und Aufweis des Warencharakters von Frauen begreift. Objektifizierung verschleiere sich selbst, da unter diesen Bedingungen die männlichen Wünsche, die auf Frauen projiziert wer­ den, als ihre eigenen erscheinen. Gewalt an Frauen erscheine so als Bestandteil einer natürlichen Ordnung (vgl. ebd., S. 30f).

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habe sie im Nachhinein „nochmal nachbesprochen“. Einverständnis und Zustimmung sind Kriterien aus feministischen Diskursen um sexuelle Ge­ walt.9 Lina führt sie als wichtige Referenz für ihr Handeln in sexuellen Si­ tuationen an. Dabei verwendet sie den Begriff „Consent“, der aus englisch­ sprachigen feministischen Diskursen auch in den deutschen Sprachraum gelangt ist. Sie formuliert den Anspruch, das gegenseitige Einverständnis einzuholen, wenn unklar ist, ob eine sexuelle Interaktion beidseitig ge­ wünscht ist. Anstatt jemanden ohne explizites Einwilligen in sexueller Weise zu berühren, frage sie nach dem Einverständnis: „Und dann würde ich zum Beispiel das auch nie einfach machen, sondern ich frage dann. So halt nach Consent, ne? So, das finde ich auch beidseitig irgendwie wichtig. Danach zu fragen.“ Die heutige Perspektive auf einvernehmliche Sexualität unterscheidet sich also deutlich von der, die sie aus ihrer Jugendzeit berichtet. Sie stellt dar, wie sie in dieser Hinsicht sensibilisiert worden ist: Anhand dieses Prozesses problematisiert sie selbst, dass die Deutung einer Erfahrung als Gewalt voraussetzungsvoll ist. Um eine Gewaltdeutung entwickeln zu können, müssten konkrete Vorstellungen über Abläufe und Konstellatio­ nen von Gewaltsituationen verfügbar sein, die sich auf das übertragen las­ sen, was man selbst erlebt hat. Dabei kritisiert sie verbreitete Vorstellungen sexueller Gewalt, die in feministischen Diskursen als Vergewaltigungsmy­ then bezeichnet werden. Diese verorten sexuelle Gewalt im öffentlichen Raum und erzeugen die Vorstellung eines unbekannten Täters: „Also im Dunkeln alleine nach Hause gehen ist immer mit der Angst verbunden, einem Übergriff ausgesetzt zu sein“. Solange diese Narrative des brutalen Angriffs aus dem Nichts die Vorstellung sexueller Gewalt prägten, könn­ ten ihre realen Formen – z. B. im Rahmen freundschaftlicher Vertrautheit – nicht identifiziert werden. Sie schildert den Prozess, in dem sie für Formen von sexueller Gewalt sensibilisiert wurde, die sich in Beziehungen abspielen und subtiler gesche­ hen als ein plötzlicher Angriff. Erfahrungsberichte Betroffener hätten ihr ermöglicht, ihre Vorstellung von sexueller Gewalt zu erweitern und auf eigene Erfahrungen zu übertragen: „Erst dadurch, dass jemand anders das

9 Konsens als ethisches (und zunehmend auch rechtliches) Kriterium für sexuelle In­ teraktionen zu begreifen geht auf die Anti-Rape-Bewegung der Second Wave (Nein heißt Nein!) zurück (vgl. z. B. Wolters 2022, S. 85). Der Begriff ist so zentral in De­ batten um sexuelle Gewalt und ihre Grauzonen, dass die Beschreibung als „norma­ tive[r] Goldstandard“ (ebd., S. 85) treffend scheint. Die Verbreitung zeigt sich zum Beispiel in Öffentlichkeitskampagnen, die mit Slogans wie „Ja heißt Ja“ und „Kon­ sens ist Sexy“ arbeiten (vgl. Beres 2014)

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validiert als ‚Das ist ein Übergriff‘ und ‚So sieht ein Übergriff aus‘ und ‚So sieht auch ein Übergriff aus‘, dass man dann erst merkt: ‚Ah okay, das war auch einer‘“. Eine Übertragung auf eigene Erlebnisse wurde also durch Be­ richte über Erfahrungen sexueller Gewalt möglich, die Beziehungskonstel­ lationen und Interaktionsdynamiken konkret schilderten. Die präzise Dar­ stellung dessen, wie sich ein Übergriff abspielt, wie er ' aussieht ' ermögli­ che die Zuordnung eigener Erlebnisse zum Phänomen 'sexuelle Gewalt'. 6 Sorge als Vergangenheitsbezug Lina stellt im Interview ihre eigene Sensibilisierung für Formen sexueller Gewalt dar und beschreibt, wie es möglich wird, eine eigene Erfahrung als Fall von sexueller Gewalt zu erkennen. Ihre Interpretation ihrer eige­ nen Erfahrung aus der Jugend bleibt für sie dennoch uneindeutig. Die unabgeschlossene Vergangenheit behält für sie eine affizierende Präsenz bei. Sie ist von den Ereignissen leiblich-affektiv betroffen, kommt aber zu keinem sicheren Urteil darüber, ob sie Gewalt erlebt hat. Das leibliche Getroffen-sein motiviert dazu, die Vergangenheit daraufhin zu befragen, wie die Geschehnisse zu deuten sind. Sie sorgt sich, vergewaltigt worden zu sein, kann sich diese Interpretati­ on der Geschehnisse aber nicht als sichere Deutung aneignen. Da Lina kein abschließendes Verständnis der Erfahrung entwickeln kann, bleibt sie von der Vergangenheit affiziert: Sie kann weder ausschließen, noch akzep­ tieren und verarbeiten, dass sie vergewaltigt worden ist. Damit verbleibt sie in dem fragenden Zustand, mit dem sie sich auf die Vergangenheit richtet: in Sorge. Der Begriff Sorge wird in soziologischen und feministischen Diskursen in der Regel mit einem Fokus auf das „Worum der Sorge“ (vgl. Henkel et al. 2016, S. 15) im Sinne der Sorge um sich, der Sorge um den Anderen oder der Sorge um die Umwelt verwendet. Für aktivistischen Feminismus und Geschlechterforschung ist dabei vor allem das Thema 'Care' als Form der Sorge um Andere (vgl. z. B. Brückner 2010; Bomert et al. 2021; Hart­ mann 2022) und sich selbst10 zentral. Einen anderen Fokus setzt Gesa Lin­ demanns (2016) sozialtheoretischer Begriff von Sorge als motivierendem Zukunftsbezug. Er ermöglicht es, leibliches Motiviert-Sein „im Rahmen der vermittelten Unmittelbarkeit des Erwartens“ (ebd., S. 94) zu analysie­

10 Die Deutung von Selbst(für-)sorge als radikalen politischen Akt wurde im Schwarzen Feminismus entwickelt (vgl. z. B. Lorde 2017).

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ren. Die unmittelbar leiblich-affektive Dimension beinhaltet, dass eine er­ wartete Zukunft auf das Selbst und seine Betroffenheit von ihr bezogen wird11. Diskursiv vermittelt ist die Beurteilung der erwarteten Zukunft durch das Selbst als gelingende oder scheiternde Zukunft. In diesem Sinne handlungstheoretisch muss sich Sorge auf die Zukunft richten, da jede Handlung auf einen Erfolg abzielt, der noch nicht eingetreten ist. Die Sorge der Interviewteilnehmerin aus dem Fallbeispiel richtet sich aber auf die Vergangenheit. Denn Lina ist gegenwärtig leiblich affiziert durch etwas, das sie betreffen könnte. Mit einem sozialtheoretischen Sor­ geverständnis gemeinsam ist diesem Modus die leibliche Affizierung durch ein potenzielles Geschehen, von dem sie betroffen sein könnte. Es liegt jedoch nicht in der Zukunft, sondern hat sich bereits ereignet. Offen bleibt, ob dieses Geschehen als Gewalterfahrung zu verstehen ist. Damit liegt nicht nur das „Worum“ der Sorge in der Vergangenheit. Die Vergan­ genheit wirkt in die Gegenwart hinein: Sie ist vorbei, aber nicht vorüber (vgl. Assmann 2013)12. Die Handlungsmotivation wird von der leiblichen Bedrängung durch die Vergangenheit angestoßen. Wie im Sorgebegriff als reflektierten Zukunftsbezug konzipiert, ist sie leiblich davon affiziert, dass etwas sie betreffen könnte. Die Offenheit dessen, was sie betreffen könnte, liegt jedoch in der Vergangenheit: Es könnte ihr zugestoßen sein. Da die Interpretation uneindeutig bleibt, kann mit der Vergangenheit nicht abgeschlossen werden. Diese Unabgeschlossenheit erzeugt eine leibliche Spannung in der Gegenwart, in der die Vergangenheit sie nicht loslässt. Die Handlungsmotivation, die dieser Zustand erzeugt, richtet sich in die Vergangenheit und die Zukunft. Die Sorge motiviert zum einen eine Auseinandersetzung mit dem Erleb­ ten und den Versuch einer abschließenden Deutung. Aus heutiger Sicht deutet die Interviewteilnehmerin eine Konstellation, wie sie sie erlebt hat, theoretisch als Fall sexueller Gewalt. „Also ich bin der Überzeugung, dass er wirklich geglaubt hat, dass ich schlafe.13 Und das ist dann einfach 11 Lindemann bezeichnet diesen Bezug der erwarteten Zukunft auf das erwartende Selbst als „ipseistische Dimension des Erwartens“ (Lindemann 2016, S. 94). 12 Assmann (vgl. 2013, S. 302) bezieht sich mit dieser Unterscheidung auf die Ge­ genwärtigkeit, die historische Ereignisse behalten können, obwohl sie in der Ver­ gangenheit liegen (bzw. entsprechend des ‚modernen Zeitregimes‘ liegen sollten). Insbesondere traumatische Vergangenheiten könnten gegenwärtig bleiben, weil sie Forderungen an die Gegenwart stellen. 13 Für diese Überzeugung äußert Lina im Verlauf des Interviews verschiedene Be­ gründungen. Entscheidend für ihre Sorge und die Frage nach Verletzungs- und/ oder Gewalterfahrung ist jedoch nicht, was genau passiert ist. Ihre Auseinander­ setzung mit der Frage nach Verletzung und Gewalt geht davon aus, dass der Han­

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Vergewaltigung, so.“ Das Kriterium für ihre Gewaltdeutung entspricht ihrer feministischen Überzeugung aus der Gegenwart: Es konnte nicht davon ausgegangen werden, dass sie in der Lage war, ihr Einverständnis zu geben. Zwar sei sie wach gewesen, das habe die handelnde Person jedoch nicht wissen können: „Und ich war ja auch theoretisch gar nicht da. So, gar nicht bewusst anwesend.“ Sie unterstellt zudem, dass es für ihn Bestandteil der sexuellen Fantasie war, die Handlungen an ihr, ohne ihr Wissen und im wehrlosen Zustand, auszuführen. Einverständnis aus ihrer heutigen Sicht ist dabei mehr, als etwas zuzulassen und nicht abzuwehren. Obwohl sie nicht nein gesagt hat, sieht sie ihr Einverständnis nicht als evident an: „Aber ich hab‘ halt nicht zugestimmt.“ Trotz der fehlenden Zustimmung relativiert sie ihre Gewaltdeutung an mehreren Stellen: „Und für mich ist das jetzt, also gefühlt keine, keine dieser typischen Vergewaltigungserfahrungen, wo das so offensiv gegen den Willen geht. Weil ich das in der Situation auch gut fand“. Ihre eigene Lust in der Situation spricht für sie gegen eine Interpretation als Vergewal­ tigung. Mit der Beschreibung, es habe sich nicht um eine „typische“ Verge­ waltigungserfahrung gehandelt, lässt sie jedoch die Möglichkeit offen, dass es eine untypische Vergewaltigungserfahrung gewesen sein könnte. Auch die Formulierung, es sei nicht „offensiv“ gegen ihren Willen gegangen, deutet auf eine Schwierigkeit der Interpretation hin und nicht auf ein klares Verständnis als kein Fall von Vergewaltigung. Ihr Wille wurde zwar nicht gebrochen, von ihrem Gegenüber aber auch nicht als maßgeblicher Faktor für die Gestaltung der Situationen einbezogen. Dieses konfliktreiche Verhältnis von Lust, Willen und Einverständnis lassen für sie die Frage offen, ob sich ihr theoretisches Verständnis von Vergewaltigung auf die eigene Erfahrung übertragen lässt. Die rückblickende Sorge ist davon geprägt, dass das Affizierungsgeschehen nicht mehr verhindert oder beeinflusst werden kann. Dennoch for­ muliert Lina eine Handlungsmotivation, die sich auf die Vergangenheit bezieht. Sie möchte ihr jüngeres Selbst vor den Erfahrungen bewahren, die sie aus heutiger Sicht als verletzend einordnet: „Und das ist jetzt so im Nachhinein, dass ich mir so denke, so: ‚Oh mein Gott!‘ Also ich würde da so gerne mein Teenie-Ich in Arm nehmen und so sagen, so: ‚Lass das.‘" Mit der Bezeichnung „Teenie-Ich“ für ihr jüngeres Selbst stellt sie eine Kontinuität zwischen sich selbst und diesem jüngeren „Ich“ her.

delnde sie für schlafend hielt. Im Gegensatz zur journalistischen und polizeili­ chen Untersuchung (vgl. Boltanski 2015, S. 449) ist für die soziologische Untersu­ chung relevant, welchen Sinn die Interviewteilnehmerin ihrer Erfahrung zuweist.

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Sie selbst fühlt sich von den Erfahrungen der jüngeren Lina betroffen, die diese überhaupt nicht als problematisch ansieht. Dieses Affiziert-sein drückt sich auch im Ausruf „Oh mein Gott!“ aus. Zugleich schafft das Bild der Umarmung und die Ansprache mit „Du“ eine Distanz zum früheren Selbst. Diese markiert den Entwicklungsprozess, durch den sie in gewisser Hinsicht eine Andere geworden ist. Diese andere Lina stellt veränderte Ansprüche an den gegenseitigen Umgang in sexuellen Begegnungen und nimmt es deutlich wahr, wenn diese verletzt werden. Mit dieser heutigen Sensibilisierung kann sie jedoch nicht mehr wirksam in das vergangene Geschehen eingreifen, von dem sie sich betroffen sieht. In Bezug auf eine mögliche Zukunft formuliert sie den Wunsch, über ein Gespräch mit dem damals Handelnden eine abschließende Deutung über das Geschehen zu erreichen. Neben dem Fehlen eines damaligen Verletzungsgefühls ist sie heute davon betroffen, dass ihrem Willen in den Situationen keine Bedeutung beigemessen wurde. Daher sucht sie nach Anerkennung für diese Missachtung. Sie formuliert eine Reihe von Fragen an den damals Handelnden, die den Impuls nach weiterer Aufklärung anzeigen. Im Modus der Sorge als offene Vergangenheit kann sie mit dem Geschehenen nicht abschließen, sodass es für sie eine belastende Präsenz behält. Sie fragt sich, ob der Handelnde die Taten heute bereut und ob die Situation ihn ebenso beschäftigt wie sie: „Ob er sich jetzt mittlerweile da­ für schämt oder wie ihn das noch umtreibt?“ Genauso wie diese Möglich­ keit erwägt sie, dass er in ähnlicher Weise auch andere Frauen ohne deren Zustimmung sexuell berührt haben könnte. Sie fragt sich sogar, ob er bis heute diese Form von sexuellen Handlungen im scheinbar oder tatsächlich schlafenden Zustand vollzieht: „Ob das etwas ist, was er immer noch macht?“ Mit der Erwähnung eines potenziell andauernden Musters scheint die Möglichkeit auf, zumindest in Bezug auf Andere Einfluss zu nehmen. Abschließend überwiegt jedoch die Hoffnung, ein Gespräch könnte ihre Sorge auflösen. Sie beschreibt die Möglichkeit, dass auch er in seinen Handlungen heute eine Verletzung sehen könnte: „Mein Bauchgefühl sagt mir, dass das was ist, was er heute wahrscheinlich bereut und immer noch mit sich rumschleppt. Und deswegen würde ich das auch gemeinsam mal besprechen. So, um das irgendwie aufzulösen, diese Situation.“ Obwohl sie nicht mehr wirksam in das Geschehen eingreifen kann, zeigt sich eine deutliche Handlungsmotivation durch diese Form von Sorge. Die mögli­ che Anerkennung ihrer Verletzungserfahrung scheint ihr als Möglichkeit, mit der Vergangenheit abzuschließen.

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7 Die leibliche Dimension des Not-Knowing Die Gewaltdeutung der Interviewteilnehmerin bleibt vor allem deshalb unsicher, weil ihr das Erlebnis einer Verletzung fehlt. Wie oben darge­ stellt, wird jedoch auch die Verletzung – vermittelt über diskursive Vor­ stellungen – erlebt oder nicht erlebt. Das Fehlen einer Verletzungserfah­ rung ist für Betroffene also kein sicheres Zeichen dafür, dass ihnen nichts zugestoßen ist, das auch als Gewalt gedeutet werden könnte. Dieses Prob­ lem spricht Lina selbst an, wenn sie auf die gesellschaftliche Prägung des Erlebens eingeht. Damit greift sie anhand ihrer eigenen Erlebnisse das Problem auf, das wie oben dargestellt in der phänomenologischen Diskus­ sion als Normativität der Verletzung verhandelt wird. Sie erinnert sich, dass Gefühle des Unbehagens bei unerwünschten Berührungen oder Bemer­ kungen in ihrer Erziehung nicht als legitim vermittelt wurden: „Das war ja auch teilweise noch immer so als Schmeichelei irgendwie verkauft, wenn einen jetzt jemand angefasst hat oder sexualisiert hat, verbal oder körper­ lich.“ Mit dieser Sicht auf die Kontingenz persönlicher Grenzen und damit Verletzungserfahrungen verkompliziert sich ihre Deutung weiter. Was in der theoretischen Perspektive als Verletzungserfahrung bezeichnet wird, beschreibt sie so, dass etwas „sich schlimm anfühlt“ – oder eben nicht. Die gesellschaftliche Dimension dessen, wie sich etwas anfühlt, bringt sie wie folgt auf den Punkt: „Und dieses ‚Hat sich nicht so schlimm angefühlt‘, weil es gesellschaftlich akzeptiert ist und man gar nicht […] die Frage stellen darf, ob das jetzt gerade okay ist oder nicht. Weil das nicht der Anspruch war in der Situation“. Den Anspruch darauf, dass in einer sexuellen Situation zählen sollte, ob diese für sie „okay“ ist, sieht sie aus heutiger Perspektive als verletzt an. Es macht sie betroffen, dass sie die­ sen Anspruch nicht erhoben hat und durch Handlungen Lust empfinden konnte, die sie heute als Vergewaltigung ansehen würde. Obwohl sie die Kontingenz von Verletzungserfahrungen in ihre Reflexion der Erfahrung einbezieht, bleibt für sie unverständlich, dass sie sich zum Zeitpunkt des Geschehens nicht verletzt gefühlt hat. Die Grenze, die mit diesen Handlungen verletzt worden ist, hat sich erst in der Zeit nach dem Erlebnis herausgebildet. Die Frage nach der Gewalt­ deutung scheint zunächst ohne Verletzungserfahrung auszukommen. An­ hand des Materials zeigt sich jedoch, dass die Betroffene von ihrer eigenen Nicht-Betroffenheit nachträglich affiziert wird: Die Verletzungserfahrung tritt erst in der Gegenwart ein. Diese Konstellation weist darauf hin, dass die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Gewalt und Verletzung in mehrfacher Hinsicht erweitert werden muss: Verletzt werden können Betroffene nicht nur von einer potenziell gewaltsamen Tat. Die Verletzung 81

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kann auch in der Erkenntnis bestehen, in der Vergangenheit nicht für eine bestimmte Form der Verletzbarkeit sensibilisiert gewesen zu sein. Die Interviewteilnehmerin aus dem Fallbeispiel sieht ihren Anspruch als verletzt an, sexuelle Situationen als gleichwertige Akteurin mitzugestalten. Das beinhaltet, dass ihre Einwilligung gesucht und ihre Wünsche geachtet werden. Verletzt wird heute ihr Selbstbild, für das eine selbstbestimmte Se­ xualität und ein Leben nach feministischen Prinzipien wichtig sind. Dieses Getroffen-sein ist Ergebnis eines Sensibilisierungsprozesses (vgl. Liebsch 2018) nach dem die damaligen Erlebnisse als verletzend gedeutet werden. Erst durch diesen Prozess erweiterte sich die Wahrnehmung ihrer sexu­ ellen Verletzbarkeit. Sie erlebt sich heute auch in privaten Räumen und freundschaftlichen Beziehungen als sexuell verletzbar. Die Sensibilität für eine mögliche Verletzungsweise ist eine Voraussetzung für die Formierung einer Verletzungserfahrung. Der Fall verweist außerdem auf die komplexe zeitliche Struktur von Gewalt als sozialem Phänomen (vgl. Jung et al. 2019, S. 9). Diese muss auch in der Auseinandersetzung mit dem Verhält­ nis Verletzungs- und Gewalterfahrung beachtet werden. Die Herausbil­ dung einer Deutung von sexuell verletzenden biografischen Erlebnissen kann wie gezeigt in einem Prozess über Jahre hinweg stattfinden. Auch muss der Prozess zur Identifikation von Gewalt nicht der Abfolge entspre­ chen, nach der zunächst ein Widerfahrnis auftritt, das dann als Verletzung interpretiert und schließlich dem Phänomen Gewalt zugeordnet wird. Im Fallbeispiel setzt die Auseinandersetzung mit der Möglichkeit einer Ge­ walterfahrung in der eigenen Biografie vor der Formierung einer Verlet­ zungserfahrung durch die fraglichen Erlebnisse ein. Für Erfahrungen sexueller Verletzungen und Gewalt – insbesondere in der sogenannten Grauzone – sind Uneindeutigkeiten typisch. Die Ent­ wicklung einer Interpretation ist dementsprechend voraussetzungsvoll und kann, wie im Fallbeispiel, in einem Prozess über mehrere Jahre statt­ finden. Um die Komplexität von Erfahrungen im Grenzbereich sexueller Gewalt erfassen zu können, ist eine offene Auseinandersetzung mit der Ambivalenz dieser Erfahrungen notwendig (vgl. Alcoff 2018, S. 61). Wenn Erfahrungen in Auseinandersetzung mit Diskursen und vor dem Hinter­ grund kultureller Bedingungen gebildet werden, sind sie immer als ambi­ valent und wandelbar zu betrachten (vgl. ebd.). Das Konzept des „NotKnowing“ scheint dafür geeignet (vgl. Wallace 2021). Samantha Wallace (vgl. ebd.) zeigt anhand von Narrativen in fiktionalen Texten, dass ein Zu­ stand des „Nicht-Wissens“ für die Annäherung an sexuelle Verletzungen und Gewalt produktiv sein kann. Unsicherheit bedeute nicht nur die Ab­ wesenheit eines bestimmten Wissens. Sie biete auch die Möglichkeit, die eigenen Erfahrungen daraufhin zu befragen, ob etwas passiert sein könnte. 82

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Sorge in Bezug auf vergangene Erlebnisse kann in dieser Weise als produk­ tiver Zustand begriffen werden, der neben der Dimension des Wissens oder Nicht-Wissens die leibliche Ebene umfasst. Der Impuls für die Aus­ einandersetzung kommt hier aus der leiblichen Betroffenheit, die anzeigt, dass die diskursiven Kategorien, die zur Verfügung stehen, nicht mit der Erfahrung in Übereinstimmung gebracht werden können. Literaturverzeichnis Abdulali, Sohaila. 2018. What We Talk About When We Talk About Rape. La Vergne: Myriad Editions. Assmann, Aleida. 2013. Ist die Zeit aus den Fugen?: Carl Hanser Verlag. Beres, Melanie A. 2014. Rethinking the concept of consent for anti-sexual violence activism and education. Feminism & Psychology 24(3):373–389. DOI: https://do i.org/10.1177/0959353514539652 Bernhardt, Fabian. 2017. Der eigene Schmerz und der Schmerz der anderen. Versuch über die epistemische Dimension der Verletzlichkeit. Hermeneutische Blätter(1):7–22. Boltanski, Luc. 2015. Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 2153). Berlin: Suhrkamp. Bomert, Christiane, Sandra Landhäußer, Eva Maria Lohner und Barbara Stauber (Hrsg.). 2021. Care! Zum Verhältnis von Sorge und Sozialer Arbeit. Wiesbaden, Heidelberg: Springer VS. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-31060-8 Brosi, Nicola. 2004. Untersuchung zur Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen in verschiedenen Bevölkerungsgruppen. München: Ludwig-Maximilians-Universi­ tät. Brownmiller, Susan. 1975. Against our will. Men, women and rape. Harmonds­ worth: Penguin Books. Brückner, Margrit. 2010. Entwicklungen der Care-Debatte: Wurzeln und Begrifflichkeiten. In Care und Migration. Die Ent-Sorgung menschlicher Reproduk­ tionsarbeit entlang von Geschlechter- und Armutsgrenzen, Hrsg. Marianne Schmidbaur, 43–58. Opladen: Verlag Barbara Budrich. Burt, Martha R. 1980. Cultural myths and supports for rape. Journal of Personality and Social Psychology 38(2):217–230. DOI: https://doi.org/10.1037/0022-3514.38 .2.217 Burt, Martha R. 1991. Rape myths and acquaintance rape. In Acquaintance rape. The hidden crime (Wiley series in personality processes), Hrsg. Andrea Parrot, 251–269. New York: Wiley. Delhom, Pascal. 2000. Verletzungen. In Gewalt. Strukturen, Formen, Repräsenta­ tionen (Schriftenreihe Genozid und Gedächtnis des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum), Hrsg. Mihran Dabag, Ant­ je Kapust und Bernhard Waldenfels, 279–296. München: Fink.

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Gestern, Heute und Morgen in der hospizlich-palliativen Sorge und die Rolle der Seelsorge Lisa Stiller

1 Sorge und Zeit Sorge und Zeit stehen in einem engen konzeptionellen Zusammenhang. Individuen erleben sich eingebunden in raum-zeitliche Strukturen, die ihr Empfinden, Sorgen und Handeln maßgeblich beeinflussen. Als existentiel­ le Konstante des Individuums zeigt sich Sorge in unterschiedlichen Sorge­ verhältnissen zwischen dem sorgenden Subjekt und dem Objekt seiner Sorge, wobei verschiedene Zeitbezüge vorliegen können. Oftmals hat Sor­ ge dabei eine futurische Ausrichtung. Ausgangspunkt der folgenden Über­ legungen bildet die Definition von Henkel et al., die den Zusammenhang zwischen Sorge und Zeit folgendermaßen beschreiben: „Sorge ist gegen­ wärtig als mögliche Zukunft. Sorge wirkt also gegenwärtig durch die Vor­ aussicht, durch die Vergegenwärtigung dessen, was nicht ist, aber doch werden könnte“ (Henkel et al. 2016, S. 21, Hervorh. im Original). Dieser Aufsatz geht der Frage nach, welche Sorgen Menschen in Situa­ tionen haben, in denen die „Kontinuität von Zeit- und Erwartungsverhält­ nissen“ (Henkel 2021, S. 3) aufgrund des sich abzeichnenden nahenden Todes nicht aufrechterhalten werden kann und Zukunftsgestaltung im weiten Sinne als unrealistische Perspektive erscheint. Der hospizlich-pallia­ tive Kontext bietet dafür einen geeigneten Referenzrahmen, in dem Zeit in ihrer Begrenztheit aber auch in der Wertschätzung noch verbleibender Zeit eine besondere Bedeutung gewinnt. Die äußerlichen zeitlichen Rah­ menbedingungen dieses Kontextes werden im folgenden Kapitel beleuch­ tet. Anschließend werden ausgehend von den Erfahrungen, die Mitarbei­ tende in Hospizen und auf Palliativstationen im Kontakt mit Schwerkran­ ken, Sterbenden und ihren Angehörigen gemacht haben, schlaglichtartig Sorgen benannt und illustriert, die sich auf verschiedene Zeitdimensionen beziehen und diese selbst zum Gegenstand der Sorge werden lassen.1 Wel­ 1 Die in diesem Beitrag verwendeten Beispiele und Zitate der Mitarbeitenden stam­ men aus den Transkripten leitfadengestützter, teilnarrativer Experteninterviews, die im Rahmen der Dissertation der Autorin zur spirituellen Sorge in Hospizen

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che Rolle spielen dezidiert auf die Vergangenheit bezogene Sorgen und wie tragfähig ist eine explizit futurische Perspektive, wie sie Henkel et al. in ihrer Definition vorschlagen? Auch wenn verschiedene Professionen in die Begleitungen involviert sind, kommt insbesondere Seelsorger*innen eine Schlüsselstellung im Umgang mit der Zeitlichkeit des Menschen und den damit verbundenen Sorgen zu.2 Der christliche Glaube an den Gott, der selbst in die von ihm geschaffene Zeit durch seine Menschwerdung einging und sich damit der menschlichen Begrenztheit und Fragmentari­ tät aussetzte, ist die bestimmende Hintergrundfolie und Handlungsgrund­ lage ihrer Tätigkeit. In diesem Zusammenhang sollen abschließend die empirischen Ergebnisse praktisch-theologisch reflektiert und mit gängigen Seelsorgekonzeptionen ins Gespräch gebracht werden. Die besonderen Möglichkeiten und Potenziale, die sich daraus ergeben, sollen benannt und in ihrer möglichen Wirksamkeit für die Theorie und Praxis der Seel­ sorge sowie für den gesamten hospizlich-palliativen Kontext dargestellt und plausibilisiert werden. Der Assertion von Henkel et. al (2016) zufolge, richtet sich die Sorge des Individuums auf ein Objekt, das zeitlich in der Zukunft verortet ist und gegenwärtiges Handeln mitbestimmt. Um Zukunft zu gestalten, ori­ entieren sich die Individuen in der Regel an Erfahrungen und Werten, die sich in der Vergangenheit als tragfähig und hilfreich erwiesen haben und der Stabilisierung und Aufrechterhaltung ihrer Integrität dienlich waren (vgl. Henkel 2021, S. 2). Nicht immer ist es jedoch möglich, Zukunft durch den Rückgriff auf bisher zuverlässige Verhaltensweisen und Wert­ orientierungen zu gestalten. Dies betrifft – wie bereits angedeutet – insbe­ sondere Situationen, in denen die Zeitverhältnisse äußerst unübersichtlich und ungeordnet sind, z. B. im Kontext von schwerer Krankheit und Tod. Die Zukunft selbst ist in diesen Situationen Grund zur Sorge, erscheint sie doch vor dem Hintergrund (stark) begrenzter Lebenserwartung, Ein­ schränkungen im Alltag oder „belastende[r] leibkörperliche[r] Empfindungen“ (Moos 2018, S. 478) als völlig unbestimmt und unverfügbar. Schwere

und auf Palliativstationen geführt wurden. Die Zitationsabkürzungen beziehen sich dabei auf ein in der Dissertation verwendetes Schema: SPS=Seelsorger*in­ nen Palliativstation; PH=Pflegepersonal Hospiz; PPS=Pflegepersonal Palliativstati­ on; AH=Palliativmediziner*innen Hospiz; PsO=Psychoonkologin Palliativstation; PTH=Physiotherapeut Hospiz. 2 In der Untersuchung, der die Zitate für diesen Beitrag entnommen sind, geht es um christliche Seelsorger*innen. Diese sind in Hospizen und auf Palliativstationen tätig, die teils in kirchlicher, teils in nicht-kirchlicher Trägerschaft sind. Die Theo­ retisierungen in diesem Beitrag beziehen sich auf christliche Seelsorge.

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Gestern, Heute und Morgen in der hospizlich-palliativen Sorge

Krankheit und Sterben werden gemeinhin als unübersichtliche, existentiel­ le Situationen aufgefasst, die für die Betroffenen vielfach mit Krisen- und Grenzerfahrungen und einem Auf-dem-Spiel-stehen ihrer Integrität als ganze Person einhergehen (vgl. Henkel 2021, S. 2). Die folgenden Überle­ gungen möchten daher einen Beitrag dazu leisten zu eruieren, welche Möglichkeiten des Umgangs sich bieten, die Integrität des Selbst ange­ sichts von durch Krankheit und Sterben brüchig gewordenen Zeitbezügen wiederherzustellen und dadurch die vielfach als Krise erlebte Situation handhabbar zu machen und ggf. doch zu gestalten. 2 Zeit im Hospiz und auf der Palliativstation Sterben und Tod befinden sich im Wandel. Waren bis weit ins 20. Jahr­ hundert Lebens- und Sterbeort der Menschen weitgehend identisch, ist in der Gegenwart eine Verschiebung zu beobachten mit dem Ergebnis, dass das Sterben „zum Gegenstand von großflächigen und ausdifferenzierten Organisationen geworden ist“ (Knoblauch und Zingerle 2005, S. 16), pro­ fessionalisiert verwaltet und arbeitsteilig organisiert wird. Während es in der Vergangenheit vor allem die familiären, nachbar- und freundschaftlichen Auffangnetze waren, die im sozialen und öffentlichen Ereignis des Sterbens aktiviert wurden und dieses kollektiv begleiteten, sind es heute hochfunktionale Institutionen. Hospize und Palliativstationen sind dabei primär zu nennen, da sie sich auf die Begleitung schwer- und sterbenskran­ ker Menschen spezialisiert haben, um ihnen durch ganzheitliche Zuwen­ dung und Pflege und unter Beachtung körperlicher, psychischer, sozialer und spiritueller Bedürfnisse, bis zum Schluss die größtmögliche Lebens­ qualität, Würde und Selbstbestimmung zu ermöglichen. In diesen Institu­ tionen, in denen die Mitarbeitenden tagtäglich mit Sterben und Tod kon­ frontiert sind, spielt Zeit eine bedeutende Rolle: Den Gästen bzw. Pati­ ent*innen bzw. ihren An- und Zugehörigen3 bleibt oft nicht mehr viel Zeit und auch die Mitarbeitenden müssen sich mit kurzen Zeitfenstern und Verweildauern arrangieren. Thorsten Moos verweist auf einen für den palliativen Kontext nicht zu unterschätzenden Zusammenhang. Durch

3 Die Menschen im Hospiz werden Gäste genannt, auf der Palliativstation hingegen Patient*innen. Je nachdem, welche Institution im Folgenden gemeint ist, wird entweder der dafür entsprechende Begriff genutzt, oder bei Aussagen, die für beide Institutionen gelten, die Formen alternierend verwendet.

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eine letale Diagnose und das möglicherweise bereits absehbare Sterben än­ dern sich Lebensvollzug und Zeithorizont eines Menschen fundamental: Das gilt zum einen dann, wenn die Aussicht, ein hohes Alter zu errei­ chen, schwindet, und plötzlich in Zeiträumen von wenigen Jahren, Monaten oder Tagen gerechnet werden muss. Der ‚große‘ Zeithorizont des ganzen Lebens schrumpft unter dem Eindruck einer medizini­ schen Prognose, die biographische Zeit gerät unter den Druck der ka­ lendarischen Zeit. (Moos 2018, S. 479). Doch auch wenn wenig Zeit bleibt, will diese häufig noch bewusst genutzt werden. Dabei ist nicht mehr die lang- oder längerfristige Lebensplanung vordringlich, sondern es geht in erster Linie um „einen zweiten ‚kleinen‘ Zeithorizont“ (Moos 2018, S. 479), der davon absieht, weit in die Zukunft zu greifen, und sich auf das fokussiert, was gerade ansteht. Vielfach geht es nur darum, „irgendwie über den Tag zu kommen“ (ebd., S. 478, Hervorh. im Original), manchmal auch um die Erfüllung besonderer letzter Wünsche. Schnell wechselnde gesundheitliche Zustände der Patient*innen und un­ vorhersehbare Ereignisse, die den ohnehin schon geringen verbleibenden Zeithorizont noch rasanter verkürzen, stellen die Mitarbeitenden vor He­ rausforderungen, ihren Vorstellungen und Werthaltungen und vor allem denen der Umsorgten angemessenen Raum zu geben. Wie knapp die zur Verfügung stehende Zeit manchmal ist, schildert ein Seelsorger auf einer Palliativstation: Wir [hatten] eine Trauung auch auf der Station, wo dann die Frau, die schon etliche Jahre mit ihrem Partner zusammenlebte, die hatten es sich eben auch vorgenommen und ja, dann ging es eben so schnell, dass klar war, es wird nicht mehr möglich sein, Hochzeit zu feiern, also kirchlich alle Male nicht. Und das hatte das Team dann bespro­ chen und sehr schnell reagiert, ans Standesamt sich gewandt und die Standesbeamtin war auch klasse, die hat gesagt ‚Puh, ich komme morgen‘. Und dann wurde die Patientin gefragt, […] ‚Soll da auch der Seelsorger das ein bisschen gestalten?‘, die war jetzt nicht in der Kirche, glaube ich, aber ihr Partner schon, wenn ich das jetzt nicht durcheinanderbringe. Ja, und das war einfach so ein für uns alle unver­ gessliches Erlebnis. Da wurde dann, nachdem diese Standesbeamtin die Trauung vollzogen hat, und das war knapp, also die Patientin, die hatte dann Mühe, das ‚Ja‘ zu sprechen überhaupt und ich dann eben auf Wunsch auch des Ehepartners […] einen sehr würdigen, […] liebe­ vollen Segenszuspruch den beiden vermittelt habe, im Blick darauf, dass die gemeinsame Zeit ja gleichzeitig auch an ihr Ziel gelangt und 90

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wir trotzdem nicht ohne Hoffnung vielleicht sein müssen. (SPS4:463– 484) In dem kleinen Zeithorizont, der bleibt, werden Wünsche erfüllt und Schönes erlebt, kommen aber auch vielfach Sorgen und Ängste zur Spra­ che, die eines adäquaten Umgangs bedürfen. Häufig sind die unterschied­ lichen Zeitdimensionen selbst das Objekt der Sorge wie im Folgenden beschrieben. Während in der vormodernen Gesellschaft solche Themen von Familie, Nachbarn und Freunden solidarisch bearbeitet und getragen wurden, sind es heute vorrangig die professionellen Mitarbeitenden, die sich mit diesen Sorgen konfrontiert sehen und damit angemessen umge­ hen müssen. 3 Gestern, Heute und Morgen als Worum der Sorge 3.1 Gestern: Sorge um das, was war Sorgen, die in Hospizen und auf Palliativstationen geäußert werden, be­ ziehen sich häufig nicht auf die konkrete Gestaltung der Zukunft. Das Bewusstsein schwerkranker und sterbender Menschen, nicht mehr viel in und für die Zukunft tun zu können, führt dazu, dass gerade eine Retro­ spektive an Bedeutung gewinnt. Für viele Menschen am Lebensende ist es wichtig, noch einmal die eigene Lebensgeschichte nachzuzeichnen. Der Blick zurück auf die Biografie und die damit einhergehende Betrachtung und Bewertung des eigenen Lebens, dienen der Vergegenwärtigung und Erklärung dessen, wie der Mensch zu dem geworden ist, der er heute ist und ermöglichen das Herausfeilen eines bleibenden Kerns seiner Identität. Was bleibt von dem Leben, das gelebt wurde, was bleibt von mir als Person trotz Krankheit und Tod? Vielfach berichten Mitarbeitende davon, dass der retrospektive Blick mit Trauer einhergeht. In Gesprächen, in Bildern, die die Menschen während der Kunsttherapie malen oder im ge­ danklichen Durchleben zurückliegender Erlebnisse, werden Erinnerungen an vergangene Tage wach, von denen es nun schmerzhaft heißt, Abschied zu nehmen. Dieser Abschiedsschmerz korreliert häufig mit einem verstärk­ ten Bewusstsein des Verlustes an Eigenständigkeit und einem zunehmen­ den Angewiesensein auf Andere. Christoph Morgenthaler beschreibt die Ambivalenz zwischen Vergan­ genheit und Zukunft, die alle Menschen durch die Geschichte hindurch verbindet: „Jeder Mensch ist beispielsweise von der Kindheit bis ins Alter ‚progressiv‘ ausgespannt hin auf Zukunft und zugleich einem regressiven 91

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Sog rückwärts ausgesetzt, mit dem ihn die Vergangenheit festzuhalten droht“ (Morgenthaler 2009, S. 105).4 Besonders in Situationen, in denen die Integrität eines Menschen auf dem Spiel steht und sein Ich geschwächt ist, brechen sich Erfahrungen aus der Vergangenheit Bahn, die möglicher­ weise verdrängt wurden, und dringen an die Oberfläche (vgl. ebd. 2009, S. 102). Vor dem Hintergrund, dass die Gesellschaft heute stark dazu ten­ diert, den individuellen Menschen für seine Krankheit verantwortlich zu machen (vgl. Karle 2009, S. 22) und mit entsprechenden (Schuld-)Zu­ schreibungen zu versehen, werden Sinnfragen virulent. Der Blick in die Vergangenheit kann dazu führen, dass der Sterbende, der nach dem Grund seiner Krankheit und seines Sterbens fragt, Schuldgefühle ent­ wickelt, weil er den Eindruck gewinnt, zu Lebzeiten womöglich nicht ge­ sund genug gelebt und ausreichend für seine Gesundheit getan zu haben. Der schon innerbiblisch problematisierte Tun-Ergehen-Zusammenhang5 ist in den Köpfen vieler Menschen bis heute präsent: „Werde ich jetzt be­ straft, für alles das, was ich vielleicht falsch gemacht habe in meinem Le­ ben?“ (PH5:831–832), fragen sich viele Menschen angesichts von Krank­ heit und Tod. Sinnzusammenhänge werden gesucht und konstruiert, um die eigene Leiderfahrung zu begründen und die vermeintlich Schuldigen zu identifizieren. Daneben lassen auch nicht aufgearbeitete Streitigkeiten oder Vorkommnisse aus der Vergangenheit Schuldgefühle entstehen. Ge­ rade Familienstreitigkeiten, die unter Umständen schon Jahre zurückrei­ chen, aber noch aktuell sind, Worte, die bis jetzt nicht ausgesprochen wur­ den und Situationen, die offen geblieben sind, werden für Sterbende oft Grund zur Sorge. Die Retrospektive auf das eigene Leben und eine Reflexion dessen, drängen zu einem Umgang mit dieser mit Sorgen behafteten Vergangenheit. Ein typisches Beispiel schildert ein Physiotherapeut in einem Hospiz: Ich habe einen Patienten mal hier gehabt, der war mit seiner Familie zerstritten. Und man hatte so das Gefühl gehabt, […] dass die Person nicht loslassen kann, nicht gehen kann, weil gewisse Dinge noch nicht geklärt waren. Wir sind dann so ins Gespräch gekommen und sind 4 Auch der praktische Theologe Henning Luther beschreibt den unauflösbaren Zu­ sammenhang zwischen Vergangenheit und Zukunft, deren Elemente in der Ge­ genwart beide präsent bleiben. Er beschreibt den Menschen als Fragment aus Ver­ gangenheit und Zukunft, der stets unabgeschlossen und unvollkommen bleibt, sei­ ne Fragmentarität im Horizont der Rechtfertigung Gottes aber annehmen und mit dieser im Vertrauen auf die eschatologische Verheißung umgehen kann. Vgl. Lu­ ther 1991, S. 262–273 und Luther 1992, S. 160–182. 5 Vgl. z. B. Hi 1,1–3.13–19; Pred 8,10.14.

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dann also wirklich auch auf eine Ebene gekommen, sage ich mal, wo man da auch einen Zugang zu hatte. Weil das war eigentlich ein Pati­ ent, der nach außen hin sehr verschlossen war, schon fast unnahbar war so vom Gefühl her. Der sich dann aber in der Mitte des Gesprächs also wirklich auch geöffnet hat und man hat richtig bei diesem Patien­ ten gemerkt, dass ihm ein Riesenstein eigentlich so von den Schultern gerollt ist. Dass er mal jemand hatte, […] wo er sich so öffnen konnte. Und das hat dann im Endeffekt dazu geführt, dass der Bewohner dann die Familienangehörigen nochmal ins Hospiz hier gebeten hat und dann haben die diese Sache besprochen und aus der Welt geschafft. (PTH1:367–382) In exemplarischer Weise wird in dieser Sequenz deutlich, welche bedeu­ tende Stellung eine retrospektive Sorge im Kontext von Sterben und Tod haben kann. Werden Sorgen, die sich auf die Vergangenheit beziehen, nicht entsprechend berücksichtigt, können sie einem konstruktiven Um­ gang mit der noch verbleibenden Lebenszeit und einem ‚guten Sterben‘, das im Hospiz- und Palliativbereich zwar nicht unbedingt offen ausgespro­ chen, häufig aber hinter vorgehaltener Hand angestrebt wird, abträglich sein. Werden sie jedoch thematisiert und unter Umständen sogar bearbei­ tet, können sich daraus neue Perspektiven für den verbleibenden kleinen Zeithorizont entwickeln, denn oft ist es für Sterbende wichtig, Dinge noch zu klären und zu erledigen6, um dann auch loslassen und sterben zu können.7 3.2 Heute: Sorge um das, was ist Nicht nur Sorgen um das, was war, sondern auch um das, was gegenwärtig ist, spielen im Hospiz und auf der Palliativstation eine Rolle. Auf dieser Zeitdimension, die oftmals eng verknüpft ist mit einer Prospektive, liegt insbesondere auf Seiten der professionell Sorgenden das Augenmerk. Eine 6 Elisabeth Kübler-Ross spricht in diesem Zusammenhang vom Erledigen unerledig­ ter Geschäfte, vgl. Kübler-Ross 1990, 77–93. 7 An dieser Stelle soll nicht behauptet werden, dass es zwingend notwendig ist, dass alles, was unabgeschlossen und offen geblieben ist, bearbeitet und geklärt wird, um ‚gut‘ zu sterben. Insbesondere aus theologischer und seelsorglicher Perspektive ist die Fokussierung auf das ‚gute Sterben‘ kritisch zu hinterfragen. Dennoch gilt es achtsam und sensibel zu sein, dass es Situationen am Lebensende gibt, bei denen es eine Aufarbeitung braucht, um einen für die betroffene Person angemessenen Umgang mit dem eigenen Lebensende zu finden.

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Krankenschwester berichtet: „Es zählt das Hier und Jetzt und es zählt die Ist-Situation und darum geht es einfach, den Patienten bestmöglich zu supporten, um ihm die restliche Lebenszeit, die er hat, so schön wie mög­ lich zu ermöglichen“ (PPS3:717–719). Dazu gehört das Erfüllen kleinerer und größerer Wünsche, wie z. B. das Kochen des Lieblingsessens oder eine letzte Fahrt zum Meer, aber auch das Genießen und Feiern des Augen­ blicks, wie das obige Beispiel von der Hochzeit verdeutlicht. Es können sich teilweise sogar Zeiten der Sorglosigkeit einstellen, in denen es (zumin­ dest vordergründig) nicht darum geht, den Tag zu überstehen, sich um Vergangenes oder Zukünftiges zu sorgen oder über Tod und Sterben nach­ zudenken, sondern sich wie Andere am Leben mit seinen Themen zu be­ teiligen, zu lachen und sich zu freuen. Der bevorstehende Tod ist zwar prä­ sent, muss aber nicht immer explizit zur Sprache kommen. Eine Palliativ­ medizinerin berichtet: „Sterbende reden sehr gerne über Schuhe, über Ma­ ke Up, über irgendwas anderes, etwas Lebendiges und nicht ausschließlich über das Sterben. Da müssen sie sowieso hin“ (AH1:834–836). Indem aus­ schließlich die Gegenwart betont wird, werden die Sorgen auf das Heute begrenzt (vgl. Karle 2019, S. 22), dadurch handhabbar gemacht und er­ scheinen nicht übermächtig. Das, was morgen ist, ist zweitrangig, „heute ist wichtig“ (PH1:331).8 3.3 Morgen: Sorge um das, was wird Trotz der nicht zu unterschätzenden Bedeutung der Sorgen, die sich retro­ spektiv auf die Vergangenheit beziehen und trotz der Frage, was heute wichtig ist, drängen sich den Gästen bzw. Patient*innen angesichts ihrer verbleibenden, begrenzten Lebenszeit unweigerlich auch prospektive Fra­ gen auf nach dem, was wird. Dabei geht es nicht vorrangig um die konkre­ te Gestaltung der Zukunft, sondern eher um das Erleben dessen, was kommt. Die Sorge bezieht sich in diesem Zusammenhang zum einen auf den konkreten Sterbeprozess, seinen Ablauf, sein Erleben, auf möglicher­ weise auftretende Schmerzen und Ängste. Eine Palliativschwester erzählt aus ihrem Berufsalltag im Hospiz: Die Menschen „bringen viele Fragen mit […], was passiert mit mir, wie werde ich sterben, muss ich Schmerzen haben?“ (PH1:56–58). Besonders drängend werden auch Fragen, die sich mit einem möglichen Jenseits nach dem Tod beschäftigen: „Was kommt

8 Vgl. Mt 6,34: „Darum sorget nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.“

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nach dem Tod? Ist da jemand, der mich in Empfang nimmt?“ (PH5:829– 830). Unsicherheiten und Sorgen werden ausgesprochen, als tragend ge­ glaubte Hoffnungen und Gewissheiten bewähren sich oder geraten ins Wanken. Es ist vor allem der christliche Glaube an die Auferstehung, der sich im Kontext christlicher Seelsorge im Angesicht des Sterbens für viele Menschen im Sinne eines „Resilienznarrativ[s]“ (Richter und Geiser 2021, S. 27) als besonders hilfreich erweist. Dieser Glaube bringt eine weitere Zeitdimension ins Spiel, die die irdische Zeit übersteigt, auf Dauer, d. h. auf die Ewigkeit, angelegt ist, und dadurch das Leben und Sterben des Menschen neu kontextualisiert und in einen größeren Rahmen stellt. Der bereits angesprochene Tun-Ergehen-Zusammenhang ist auch in diesem Kontext von Bedeutung, greift er doch häufig über die gegenwärtige Situa­ tion hinaus und erstreckt sich bis in die Zukunft: „War das wichtig, dass ich was Gutes oder was Schlechtes getan habe für meine weitere Zukunft?“ (PsO1:616). Es ist auffallend und von unschätzbarem Wert, dass in Gesprächen über das, was kommt, auch die Mitarbeitenden herausgefordert sind, sich mit ihrer persönlichen Sichtweise einzubringen. Indem Sterbende in ihren Sorgen in Bezug auf die Zukunft ernst genommen werden, erhalten sie die Möglichkeit, ihre eigenen Ansichten einzuordnen, zu bestätigen oder zu überdenken. Sehr eindrücklich schildert ein Pfleger im Hospiz eine Situation zwischen einem Gast und ihm: Es gab mal ein Gespräch zwischen einem Gast und mir, in welchem es darum ging, was einen wohl nach dem Tod erwartet. Und jeder hatte so seine Sichtweise und er war Verfechter von ‚Ja, danach ist einfach dunkel und nichts‘ und ich hab gesagt ‚Ja, aber Moment. Wir beide haben ja zum Beispiel eine Seele und es ist ja ordentlich Kraft und Energie, das kann ja nicht einfach weg sein‘ […]. Und […] desto mehr wir darüber sprachen, desto mehr dachte er eben auch darüber nach, wie ich eben sagte: ‚Wenn man verstirbt, dann denke ich schon, dass diese Energie irgendwo hingeht, das ist nicht einfach alles weg.‘ Und wo jetzt schlussendlich der Ort ist oder eben nicht ist, wohin diese Energie geht, das haben wir offengelassen, weil wir uns das auch beide eben nicht beantworten können. […] Das hatte auch, wenn man hinter die Fassade geguckt hat, natürlich seinerseits viel damit zu tun mit Unsicherheit dessen, was kommt. Gibt es da eigentlich noch irgendwas nach dem Leben, was ich gelebt habe? Oder war es das dann einfach? (PH2:455–467, 470–473) Der gemeinsame und auf Augenhöhe stattfindende Dialog kann einem konstruktiven Umgang mit Sorgen und Ängsten zuträglich sein und hel­ 95

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fen, diese in geordnete Bahnen zu lenken. Neben den Sorgen der Betroffenen, die um eine mögliche Zukunft im Jenseits kreisen, hat die futurische Ausrichtung, die mit einer aktiven Ausgestaltung dieser Zeit einhergeht, wie bereits angedeutet, gerade für die Mitarbeitenden einen großen Stel­ lenwert. Für sie ist es wichtig, dass die Gäste bzw. Patient*innen ihre ver­ bleibende Lebenszeit möglichst schön und sinnvoll gestalten, sich bspw. nicht nur „vom Fernsehen oder so bedudeln [lassen]“ (PPS1:166–167). Ihr Bestreben, diese Gestaltung aktiv zu unterstützen, ist jedoch immer der Prämisse untergeordnet, dass der Gast bzw. die Patientin entscheidet, was passieren soll und was nicht. Ihnen wird dadurch zugetraut, aber gleichzei­ tig auch zugemutet, noch einmal Regisseur/in des eigenen Lebens zu sein. Ihre Entscheidungen werden respektiert, auch wenn die Mitarbeitenden anderer Ansicht sind und z. B. denken „Mensch, du könntest mit der Zeit, die du hast, […] noch viel bewegen und es wäre ja schade um, was weiß ich, Aktion xy oder hol doch mal die Enkelkinder hierher oder weiß der Kuckuck. Aber des Menschen Wille ist sein Himmelreich.“ (PH2:139– 142). Die Gestaltung der verbleibenden Zeit liegt ganz in den Händen der Umsorgten. 4 Zeit (in) der Seelsorge Sterbende haben vielfach Sorgen, die sich auf verschiedene Zeitdimensio­ nen beziehen. Für einen adäquaten Umgang mit diesen ist es wichtig, in der knappen Lebenszeit, die den Menschen oftmals nur noch verbleibt, Zeit zu schenken. Auch wenn es von unschätzbarer Bedeutung ist, dass sich viele verschiedene Professionen um Sterbende, ihre An- und Zugehö­ rigen und ihre jeweiligen Sorgen kümmern, kommt der Seelsorge hier eine herausgehobene Stellung zu.9 Zum einen, weil Seelsorger*innen, die auf Palliativstationen und in Hospizen tätig sind, über ein größeres und flexibler zu gestaltendes Zeitkontingent verfügen als die anderen Profes­ sionen und so explizit für die Menschen Zeit zur Verfügung stellen. So resümiert eine Seelsorgerin ganz deutlich: „Wir haben eine ganz andere Möglichkeit, Gesprächsangebote zu machen, äußerlich schon von unserem Zeitkontingent, weil wir auch speziell dafür da sind“ (SPS2:833–835). Das schätzen im Übrigen auch die anderen Mitarbeiter*innen als „entscheiden­ den Vorteil“ (AH2:215) ein: „Sie [die Seelsorge] hat mehr Zeit“ (AH2:215).

9 vgl. auch die Aussage einer Seelsorgerin: „Ich sehe da ein absolutes Prä der Seelsor­ ge“ (SPS1:364).

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Herausgehobene Bedeutung haben die Seelsorger*innen zum anderen, weil ihnen, wie bereits beschrieben, aufgrund der im christlichen Glauben aufgespannten Themen von Tod und Ewigkeit eine Schlüsselstellung im Umgang mit der Zeitlichkeit des Menschen zukommt.10 Alle Sorgen, die im Vorherigen in exemplarischer Weise beschrieben wurden, sind immer wieder Thema in Seelsorgegesprächen. In Bezug auf die bereits hingewiesene dominante Bedeutung der Lebensbilanz, die gera­ de vor dem Hintergrund eines geringen verbleibenden Zeithorizonts viru­ lent wird, ist mit Michael Klessmann festzuhalten: „Seelsorge bietet Hilfe zur Kommunikation, zur Lebensdeutung, zur Sinnarbeit“ (Klessmann 2010, S. 47). Seelsorge ist vielfach Biografiearbeit, in der es darum geht, Stationen des Lebens zu bedenken und zu würdigen, Wichtiges von Un­ wichtigem zu unterscheiden, sich über Gelungenes zu freuen, Schwieriges zu beklagen und zu betrauern, Verschüttetes freizulegen, das, was offengeblieben ist, zu benennen und in Gottes übergreifende Geschichte zu inte­ grieren. So formuliert auch ein Palliativmediziner in Abgrenzung zur eige­ nen Profession eine aus seiner Sicht vorrangige Aufgabe der Seelsorge: „Seelsorge ist dafür wichtig, dass man Fragen der Lebensbilanz und Fragen des ‚Nachdem‘ und […] was bleibt von mir, dass das besprochen wird. Und das ist sicherlich keine primäre Aufgabe des Arztes, sondern das wür­ de ich auch gerne abgeben“ (AH2:76–80). In solchen Seelsorgegesprächen werden „Lebensbilanzen möglich, die zugleich Zukunft in begrenzten Zeithorizonten ermöglichen“ (Morgenthaler 2009, S. 167). Indem der ster­ bende Mensch seine Vergangenheit vergegenwärtigt, d. h. noch einmal ex­ plizit zum Subjekt und Autor seines Lebens wird, kann er gemeinsam mit der Seelsorge positive und negative Erlebnisse bedenken: „Positive Erleb­ nisse der Vergangenheit können eine Ressource werden, wenn sie in der Gegenwart neu lebendig werden“ (Klessmann 2010, S. 145), aber auch Un­ erledigtes und Schuldbehaftetes können erzählend konkretisiert werden. Zur Sinndeutung und -findung gehört auch, Sinnlosigkeit nicht zu ver­ schweigen, sondern zu benennen und stehen lassen zu können, ohne sie vorschnell oder krampfhaft in Sinn umzubiegen. Hier liegt eine der beson­ deren Stärken der Seelsorge, indem sie ihrem Gegenüber eine Hilfestel­ lung gibt, „Unabänderliches auszuhalten und über die Bitterkeit und Sinn­ losigkeit des Widerfahrnisses zu klagen“ (ebd., S. 197f.). Psalmen und Ge­ 10 Vgl. dazu auch die Aussage eines Seelsorgers, dass Expertise für Sterben und Tod der Seelsorge auch von den nichtseelsorglichen Berufsgruppen attestiert wird: „Sicherlich auch die Nähe zu Sterben und Tod ganz einfach, dass die Palliativmit­ arbeitenden da sagen würden ‚Dann seid Ihr in erster Linie diejenigen, die wir dann rufen‘ oder die da was anbieten können“ (SPS4:655–658).

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bete geben Klage und Bitterkeit Raum und eröffnen die Möglichkeit, sich in einen überindividuellen Sinnzusammenhang einzuordnen, der ein Her­ austreten des Individuums aus seiner als sinnlos erfahrenen Wirklichkeit und damit aus der Sorge selbst erlaubt. Eng verknüpft mit dem Thema Biografie ist auch das Thema Schuld, das in vielen Seelsorgegesprächen am Lebensende zu den zentralen Inhalten gehört: „Schuld […] ist ja auch ein Thema, was auch gerade mit Seelsorge besprochen wird“ (SPS2:290–291). Da Seelsorge aus der biblischen Traditi­ on heraus die Lebens- und Glaubenserfahrungen des Gegenübers bedenkt, kann auch das Thema Schuld theologisch gedeutet und in einen neuen Rahmen gestellt werden. Mit dem Hinweis auf die Liebe und Treue Got­ tes, der die Menschen trotz ihrer Schwächen und ihres Schuldigwerdens annimmt, kann das Gegenüber ermutigt werden, das zu benennen, was es als schuldbehaftet wahrnimmt, um dann ggf. im liturgischen Vollzug der Beichte, im Spenden eines Vergebungszuspruchs, die Vergebung durch Gott glaubhaft und spürbar werden zu lassen. Auch das Abendmahl bietet dazu eine Gelegenheit, ist es doch ebenfalls Zeichen der Vergebung und kann insofern dazu anregen, über Belastungen und Unerledigtes zu spre­ chen (vgl. Klessmann 2010, S. 158). Im Abendmahl zeigt sich weiterhin exemplarisch das Potenzial von Ri­ tualen in der Seelsorge. Diese bieten die Möglichkeit, einerseits Zeitdimen­ sionen miteinander zu verschränken, andererseits neue Zeitperspektiven zu stiften bzw. die fundamentale Bestimmung des Menschseins, in Zeit und Geschichte eingebunden zu sein, neu zu kontextualisieren. Rituale sind „in Raum und Zeit gestaltete Abfolgen von Handlungen“ (Morgen­ thaler 2009, S. 270) und als solche überzeitlich. Die Verschränkung der Zeitdimensionen geschieht, indem in der Beichte der schuldbehafteten Vergangenheit Raum gegeben und diese mit Verweis auf Gottes ewige Treue und Liebe transzendiert wird; indem im Abendmahl Vergebung er­ fahren wird und eine eschatologische Dimension aufscheint, die auf ein neues Leben verweist; indem in Abschiedsritualen, die insbesondere im palliativen Bereich eine große Rolle spielen, der verstorbene Mensch mit allem, was er war und ist, gewürdigt wird, als Person, die einerseits irgend­ wie noch da, andererseits schon an einem anderen Ort ist. Erhard Weiher spricht im Zusammenhang des Sterbens von der „Schleusenzeit“ (Weiher 1999, S. 168f.), die die Seelsorger*innen als Schleusenwärter*innen beglei­ ten und an deren Ende eine doppelte Transformation und Neukontextuali­ sierung stattgefunden hat. Der Mensch ist von einem Verstorbenen zum Leichnam geworden, er ist nun in einer die irdische Dimension transzen­ dierenden Zeit. Die An- und Zugehörigen sind zu Trauernden geworden, die am Ende der Schleusenzeit ein verändertes Zeitgefühl haben: Sie sind 98

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in einer anderen Welt als ihr Angehöriger und werden auf einem veränder­ ten Lebensweg aus der Schleuse entlassen (vgl. ebd., S. 173). Seelsorger*in­ nen können diese Schleusenzeit begleiten und dabei auf den Glauben und die Hoffnung verweisen, dass Gottes Liebe auch weiterhin den Verstorbe­ nen umfasst und den Tod überdauert, und sei es in diesen Momenten bloß als „Fürhoffende“ (Morgenthaler 2009, S. 181), die entgegen aller Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Trauer stellvertretend für andere weiter hoffen. Durch den Verweis auf den Glauben an Jesus Christus, der selbst als Mensch in die Zeitlichkeit eingegangen ist und durch seine Auferste­ hung allen Menschen eine neue Zeitdimension eröffnet, repräsentieren und stiften Seelsorger*innen selbst eine die Situation transzendierende Perspektive und stellen Sterben und Tod in einen größeren Horizont. Es bleibt festzuhalten: Seelsorgliches Da-sein, Sprechen und Handeln kann in Situationen eingeschränkter Zeithorizonte ebenso wie in der Si­ tuation des Sterbens und des Todes helfen, Ordnung zu schaffen, aber auch Unordentliches auszuhalten. Dies geschieht durch Rituale, die die Menschen in Bezug zu einer Transzendenz stellen (vgl. Morgenthaler 2009, S. 273) und Zeitdimensionen verschränken, durch Gespräche, die eine Auseinandersetzung mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft er­ möglichen, und durch die Rolle der Seelsorger‘*innen als Repräsentant*in­ nen des Anderen und Heiligen, die durch ihre Präsenz und ihren Glauben eine neue Zeitperspektive stiften, indem sie als Träger der Verheißung von Ewigkeit erscheinen und das Immanente in den Bereich des Transzenden­ ten verlagern.11 5 Fazit Abschließend lässt sich konkludieren, dass Zeit, gerade wenn sie aufgrund schwerer Krankheit oder Alter sehr begrenzt ist, eine zentrale Rolle spielt und mit verschiedenen Sorgen korrelieren kann. Eine angemessene Be­ gleitung schließt dabei einen verantwortungsvollen Umgang mit Vergan­ genheit, Gegenwart und Zukunft ein. Insbesondere der hospizlich-palliati­ 11 Vgl. auch Traugott Roser, der der Seelsorge unter anderem heterochrones Poten­ zial zuspricht, d. h. ihr zugesteht, dass sie „Ander-Zeit[en]“ (Roser 2017, S. 496; vgl. ausführlich Roser 2017, S. 488–499) schafft. Morgenthaler beschreibt dies un­ ter Aufnahme von Wagner-Rau als Heterotopien, d. h. als „Zwischenräume, die quer zur herkömmlichen Zeit stehen“ (Morgenthaler 2009, S. 271 zitiert hier Wagner-Rau 2008, S. 18), Räume, in denen mitten in Sorge und Tod Hoffnung und Trost aufscheinen können, aber auch geklagt und protestiert werden darf.

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ve Kontext irritiert die eingangs zitierte Sorgedefinition von Henkel et al., weil Zukunft im Hospiz und auf der Palliativstation vielfach nicht mehr als groß gestaltbar erlebt wird und dadurch Angst und Unsicher­ heit entstehen können. Gespräche mit Mitarbeitenden haben gezeigt, dass alle Zeitdimensionen in der Begleitung Schwerkranker und Sterbender wichtig sind, vor allem aber der retrospektiven Ausrichtung von Sorge vermehrt Aufmerksamkeit zukommen sollte. Vor dem Hintergrund ihres bevorstehenden Todes werden Sterbende häufig von Schuldgefühlen belas­ tet oder von Unvollendetem umgetrieben. Nur der Blick zurück und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ermöglicht dann manchmal ein Loslassen und eine Neukontextualisierung der Situation, sodass diese nicht mehr unordentlich und unübersichtlich erscheint, sondern geordnet und handhabbar. Die besondere Bedeutung der Seelsorge als Hüterin und Wächterin12 der Zeit gilt es vor diesem Hintergrund zu berücksichtigen und ihr Potenzial auszuschöpfen. Es ist demnach sinnvoll und notwendig, das zeitliche Kontinuum, innerhalb dessen sich Sorgen potenziell konstitu­ ieren, um die Vergangenheit zu erweitern und die Sorgedefinition von Henkel et al. entsprechend auszuweiten. Literaturverzeichnis Henkel, Anna, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner. 2016. Drei Di­ mensionen der Sorge. In Dimensionen der Sorge. Soziologische, philosophische und theologische Perspektiven, Hrsg. Anna Henkel, Isolde Karle, Gesa Linde­ mann und Micha Werner, 21–34. Baden-Baden: Nomos. DOI: https://doi.org/10 .5771/9783845272597 Henkel, Anna. 2021. Zeit. Idealtypen und Perspektiven gegenwärtigen Zukunftsbezugs. Promotionsschwerpunkt Dimensionen der Sorge. Jahrestagung 2021, 1–4. Unveröffentlichter Tagungsbericht. Karle, Isolde. 2009. Sinnlosigkeit aushalten! Ein Plädoyer gegen die Spiritualisie­ rung von Krankheit. Wege zum Menschen 61:19–34. DOI: https://doi.org/10.13 109/weme.2009.61.1.19. Karle, Isolde. 2019. „Sorget nicht“ in der Sorgegesellschaft. In Sorget nicht – Kri­ tik der Sorge, Hrsg. Anna Henkel, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner, 19–30. Baden-Baden: Nomos. DOI:https://doi.org/10.5771/9783845289 212. Klessmann, Michael. 2010 [2008]. Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeu­ tung im Horizont des christlichen Glaubens. Ein Lehrbuch. 3. Auflage. Neukir­ chen-Vluyn: Neukirchener Verlag. 12 Vgl. auch: Roser 2017, S. 498.

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Gestern, Heute und Morgen in der hospizlich-palliativen Sorge Knoblauch, Hubert und Arnold Zingerle. 2005. Thanatosoziologie. Tod, Hospiz und die Institutionalisierung des Sterbens. In Thanatosoziologie. Tod, Hospiz und die Institutionalisierung des Sterbens (Sozialwissenschaftliche Abhandlun­ gen der Görres-Gesellschaft 27), Hrsg. Hubert Knoblauch und Arnold Zingerle, 11–27. Berlin: Duncker & Humboldt. DOI: 10.3790/978–3–428–51825–8 Kübler-Ross, Elisabeth. 1990 [1969]. Interviews mit Sterbenden. 15. Auflage. Gü­ tersloh: Gütersloher Verlagshaus. Luther, Henning. 1991. Leben als Fragment. Der Mythos von der Ganzheit. Wege zum Menschen 43(5):262–273. Luther, Henning. 1992. Identität und Fragment. Praktisch-theologische Überlegun­ gen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen. In Religion und Alltag. Bausteine zu einer praktischen Theologie des Subjekts, Hrsg. Henning Luther, 160–182. Stuttgart: Radius-Verlag. Moos, Thorsten. 2018. Krankheitserfahrung und Religion. Tübingen: Mohr Sie­ beck. Morgenthaler, Christoph. 2009. Seelsorge (Lehrbuch Praktische Theologie 3). Gü­ tersloh: Gütersloher Verlagshaus. Richter, Cornelia und Franziska Geiser. 2021. „Hilft der Glaube oder hilft er nicht?“ Von den Herausforderungen, Religion und Spiritualität im interdiszipli­ nären Gespräch über Resilienz zu erforschen. In An den Grenzen des Messba­ ren. Die Kraft von Religion und Spiritualität in Lebenskrisen, Hrsg. Cornelia Richter, 9–36. Stuttgart: Kohlhammer. Roser, Traugott. 2017 [2007]. Spiritual Care. Der Beitrag von Seelsorge zum Ge­ sundheitswesen. 2. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer. Wagner-Rau, Ulrike, 2008 [2000]. Segensraum. Kasualpraxis in der modernen Ge­ sellschaft. 2. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer. Weiher, Erhard. 1999. Die Religion, die Trauer und der Trost. Seelsorge an den Grenzen des Lebens. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag.

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II Gegenwart

Die Zeitlichkeit der Sorge. Zur temporalen Struktur von Selbstsorge und Fürsorge im Anschluss an Harry Frankfurt und Martin Heidegger Holmer Steinfath

Wir sorgen uns sowohl um uns selbst als auch um andere. Mit Zeit hat dies zunächst insofern zu tun, als jede Sorge Zeit in Anspruch nimmt. Das weiß jeder, der sich um Familienangehörige kümmert oder ‚Sorgear­ beit‘ in institutionalisierten Kontexten leistet. Aber zur Sorge scheint auch eine eigene Form der Zeitlichkeit zu gehören. So haben wir alle unsere eigenen Lebensrhythmen und die Sorge um uns wie um andere lässt uns immer wieder neu nach einem Ausgleich zwischen der Synchronisation und Desynchronisation verschiedener Lebensrhythmen suchen. Um die sich damit andeutenden Zusammenhänge zwischen Zeit und Sorge besser zu verstehen, lohnt eine Auseinandersetzung mit Reflexionen, die sich zur Zeitlichkeit der Sorge bei Harry Frankfurt und Martin Heidegger finden. Sie gehören zu den wenigen Philosophen, die sich überhaupt Gedanken zum Zusammenhang von Zeit und Sorge gemacht haben. Im ersten Abschnitt erläutere ich Kernüberlegungen Frankfurts zur Zeitlichkeit der Sorge. Für Frankfurt sind Personen wesentlich durch ihre Fähigkeit, sich um etwas oder jemanden zu sorgen, ausgezeichnet. Dieses Sichsorgen hat für ihn insofern eine spezifische Temporalität, als sie es Menschen allererst erlaube, in ihr Leben Kontinuität und diachronen Zu­ sammenhang zu bringen (vgl. Frankfurt 1999, S. 162). Im zweiten Ab­ schnitt zeichne ich Heideggers Konzeption der Zeitlichkeit der Sorge in groben Zügen nach. Für Heidegger ist die Sorge das „Sein des Daseins“ (Heidegger 1977, § 41) und Zeit der „Sinn der Sorge“ (§ 65). Das ist natür­ lich alles andere als selbsterklärend. Für mich sind Heideggers verwickelte Überlegungen vor allem dort von Interesse, wo sie über Frankfurt hinaus­ gehen. Im dritten und letzten Abschnitt soll versucht werden, temporale Aspekte genuin intersubjektiver Formen von Sorge freizulegen. Frankfurts und Heideggers Ansätze ähneln sich darin, dass sie einen konstitutiven Zu­ sammenhang zwischen Zeit, Sorge und Subjektivität behaupten. Frankfurt geht dabei so vom einzelnen Subjekt aus, dass seine Konzeption in gewis­ ser Weise eine Konzeption von ‚Selbstsorge‘ ist. Genau daraus resultieren jedoch Schwierigkeiten für ein adäquates Verständnis genuin intersubjek­ 105

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tiver Formen von ‚Fürsorge‘. Bei Heidegger finden sich dazu interessante Bemerkungen, an die angeknüpft werden kann. Ihm gelingt es indes nicht, das Potential seines Ansatzes zu entfalten. Deswegen ist zugleich mit ihm und gegen ihn auszuloten, welche Temporalität genuin intersubjektive Formen von Sorge aufweisen. Der eingangs angesprochene Gedanke einer Synchronisierung und Desynchronisierung von Lebensrhythmen liefert dafür einen fruchtbaren Anhaltspunkt, auf den ich ganz am Ende zurück­ komme. 1 Sorge, Liebe und Zeit bei Frankfurt Knüpft man an Frankfurt und Heidegger an, um Verbindungen zwischen Zeit und Sorge aufzuklären, so ist zu beachten, dass beide mehr und ande­ res mit ‚Sorge‘ meinen, als es umgangssprachlich naheliegt. Frankfurt spricht von „caring about“ (Frankfurt 2004, S. 14ff.) und meint damit, dass einem an etwas liegt oder man etwas wichtig nimmt. Der Bereich dessen, woran einem im Sinn von caring about liegen kann, ist denkbar weit. Je­ mandem kann eine andere Person wichtig sein, aber zum Beispiel auch ein Ideal oder irgendein Gegenstand. Es ist eine eigene Frage, auf die sich bei Frankfurt keine klare Antwort findet, ob es natürliche Grenzen für das gibt, woran Menschen liegen kann. Vieles erscheint zu trivial, um es wich­ tig nehmen zu können. Und vielleicht machen wir uns oft nur vor, dass uns an etwas liegt, das uns in Wirklichkeit gleichgültig ist. Andererseits mag es Dinge geben, die wir wichtig nehmen müssen, sofern wir über­ haupt etwas wichtig nehmen.1 Zur näheren Bestimmung des caring about verfolgt Frankfurt zwei komplementäre Wege. Zum einen grenzt er caring about von verwandten Phänomenen ab (vgl. Frankfurt 2004, S. 10ff.). Dass einem an etwas wirk­ lich liegt, ist nicht dasselbe, wie sich etwas zu wünschen oder es zu begeh­ ren. Ich kann ein Verlangen nach einer Süßigkeit haben, ohne dass mir da­ ran liegen muss. Caring about bedeutet jedoch auch etwas anderes als ein Werturteil zu fällen. Ich kann etwas für sehr wertvoll halten, ohne dass mir daran liegen muss. Als unmusikalischer Mensch kann ich den Wert von Musik anerkennen und doch feststellen, dass sie mir nichts sagt. Diese Abgrenzungen machen einerseits deutlich, dass caring about für Frankfurt eine mentale Einstellung ist, und zeigen andererseits, dass es sich für ihn um eine Einstellung sui generis handelt. 1 Für Frankfurt gehört dazu das eigene Leben (vgl. Frankfurt 2004, S. 27).

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Zum anderen bemüht sich Frankfurt um eine positive Strukturanalyse des caring about (vgl. Frankfurt 2004, S. 14ff.). Es wird als eine höherstufige Einstellung aufgefasst, die sich reflexiv auf niederstufige Einstellungen bezieht (wobei Reflexivität nicht Reflektiertheit impliziert). Frankfurt knüpft damit an seine Analyse von höherstufigen Wünschen und Volitio­ nen an, wie er sie im Rahmen seiner Personenkonzeption entwickelt hat (vgl. Frankfurt 1971). Mein Wunsch etwa, eine Süßigkeit zu essen, ist ein erststufiger, auf ein äußeres Objekt gerichteter Wunsch, zu dem ich stehen kann oder den ich lieber los wäre. Dieses Befürworten oder Ablehnen des eigenen Wünschens ist für Frankfurt selbst eine volitive Einstellung, ein Wunsch oder eine Volition zweiter Stufe.2 Caring about soll dieselbe reflexive Struktur haben und ebenfalls ein Willensphänomen sein. Liegt mir an etwas, dann habe ich in Bezug darauf ein Begehren, mit dem ich mich re­ flexiv identifiziere. Z. B. kann mir am Fußballspielen liegen; dann möchte ich nicht nur gerne Fußball spielen oder Fußballspiele im Stadion verfol­ gen, sondern ich bejahe diesen Wunsch auch, statt ihn abschütteln zu wol­ len. Trotzdem ist caring about für Frankfurt nicht einfach ein höherstufiger Wunsch oder eine höherstufige Volition. Von anderen höherstufigen Willensformen soll es gerade durch seine zeitlichen Implikationen unter­ schieden sein. Drei Momente sind dabei hervorhebenswert. Erstens nämlich hat das caring about immer eine gewisse zeitliche Dau­ er. Einen Wunsch kann ich in einem Augenblick haben und im nächsten schon nicht mehr. Diese Flüchtigkeit kann auch höherstufige Wünsche kennzeichnen. Um etwas wichtig nehmen zu können, braucht es dagegen Zeit. Liegt mir wirklich an etwas oder jemandem, hat dies notwendig eine signifikante zeitliche Erstreckung. Man kann nicht einer Person ver­ sichern, dass einem an ihr liegt, zugleich aber einräumen, dass das kurz vorher nicht so war und etwas später nicht mehr so sein wird. Und wenn mir am Fußballspielen liegt, dann nicht nur jetzt, aus einer Laune heraus (man denke etwa daran, was einen Fußballfan auszeichnet, der Fan nicht nur für einen Tag sein kann). Indessen können sich auch Wünsche und Neigungen längere Zeit halten. Deswegen ist zweitens zu berücksichtigen, dass ich nach Frankfurt im caring about auch will, dass das Wollen, auf das es sich reflexiv bezieht, andauert und nicht eine ephemere Erscheinung bleibt. Liegt mir an einer Person oder an einer Sache, dann wünsche ich mir sowohl deren Fortbestand als auch den Fortbestand meines auf

2 Volition ist bei Frankfurt ein Wollen im Sinn eines wirksamen Wünschens. Eine Volition zweiter Stufe ist der Wunsch, ein erststufiger Wunsch möge handlungs­ wirksam werden.

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sie gerichteten Begehrens. Ich stehe nicht nur zu meinem Wunsch, son­ dern auch zu dessen Persistenz. Wer sich um einen anderen Menschen sorgt, will dass es ihm gutgeht, aber er möchte auch, dass ihm dieser Mensch nicht plötzlich gleichgültig wird. Darin liegt zugleich, dass mir der Umstand, dass mir am anderen liegt, selbst wichtig ist. Auch deshalb kann Frankfurt drittens sagen, dass das caring about einen prospektiven, zukunftsgerichteten Charakter hat. Schon in einem relativ frühen Aufsatz heißt es: „The outlook of the person who cares about something is inherently prospective; that is, he necessarily considers himself as having a fu­ ture.“ (Frankfurt 1988, S. 83) Dagegen sei es vorstellbar, dass ein Wesen Wünsche und Überzeugungen hat, ohne ein Bewusstsein von der eigenen künftigen Fortexistenz zu ha­ ben (vgl. ebd.). Frankfurt zieht seine Beobachtungen zu der entscheidenden These zu­ sammen, dass die Sorge im Sinn des Wichtignehmens die unverzichtbare und grundlegende Aktivität sei, durch die wir Kontinuität und Kohärenz in unser volitionales Leben bringen (vgl. Frankfurt 1999, S. 162). Erst da­ durch, dass uns an etwas wirklich liegt, halten wir uns als ein Subjekt mit einem Willen in der Zeit durch. Würde uns hingegen an nichts liegen, wä­ ren wir Wesen „ohne aktives Interesse an der Etablierung oder dem Auf­ rechterhalten irgendeiner thematischen Kontinuität in unserem volitiona­ len Leben“.3 Unser Leben würde entweder eine Aneinanderreihung bloß momentaner und unverbundener Wünsche und Neigungen darstellen oder würde seine Kontinuität lediglich dem zufälligen Andauern eines Be­ gehrens verdanken, an dem wir selbst nicht beteiligt sind. Es käme so zu einer Fragmentierung unseres Lebens oder einer Fortführung von ihm, die für uns ohne Belang wäre. Zu den Schwierigkeiten von Frankfurts Ansatz gehört der unklare Sta­ tus der Art von Aktivität, die garantieren soll, dass der diachrone Zusam­ menhang unseres motivationalen Lebens unsere eigene Hervorbringung ist. Wir finden uns nicht schon mit einer einheitlichen Willensstruktur vor, sondern müssen diese erst synthetisieren. Frankfurts Vorstellung scheint zu sein, dass im caring about eine Festlegung des Subjekts auf das, was ihm wichtig ist, liegt, die von ihm in einem andauernden Prozess per­

3 „Suppose we cared about nothing. In that case, we would be creatures with no ac­ tive interest in establishing or sustaining any thematic continuity in our volitional lives.“ (Ebd.)

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formativ vollzogen wird. Darin liegt jedoch eine eigentümliche Zirkulari­ tät, weil sich das Subjekt erst über seine Sorge konstituieren soll, es dafür jedoch eines Subjekts bedarf, das sich mit dem, worum es sich sorgt, iden­ tifiziert. Die temporale Synthese, die das Subjekt im caring about so vor­ nimmt, dass es sich dadurch selbst als Subjekt verstetigt, muss freilich auch für Frankfurt kein bewusster Vorgang oder gar eine Entscheidung sein. Dass mir etwas wichtig war, merke ich vielleicht erst, wenn ich seiner ver­ lustig gegangen bin. Außerdem sieht Frankfurt eine spezielle Variante des caring about vor, für die gerade wesentlich sein soll, dass wir uns sie nicht aussuchen können. Es kann sein, dass wir gar nicht umhinkommen, etwas wichtig zu nehmen. Für Phänomene dieser Art hat Frankfurt den Aus­ druck „willentliche Notwendigkeit“ („volitional necessity“) (Frankfurt 1988, S. 86) geprägt. Die wichtigste Form einer notwendigen Bindung un­ seres Wollens ist für Frankfurt die Liebe, in der er zugleich die existenziell bedeutsamste Ausprägung der Sorge sieht (vgl. Frankfurt 1999, S. 165ff.). Auch dabei ist nicht nur an die Liebe zu einem Menschen zu denken; die Objekte des Liebens können für Frankfurt so divers sein wie die des übrigen caring about. Für Liebe in Frankfurts Sinn ist dreierlei bestim­ mend. Erstens eben der Umstand, dass man sich nicht aussuchen kann, was man liebt. Die Liebe ist zwar eine Aktivität, aber eine, die uns wider­ fährt. Wer liebt, kann nicht nicht lieben. Doch obwohl wir daran nichts zu ändern vermögen, ist die Liebe nichts, was uns gegen unseren Willen zu­ stößt. Die Liebe ist vielmehr wie das caring about generell eine Struktur unseres Willens; nur ist es ein Wollen, das wir nicht wählen. Wir können das Liebenmüssen sogar als eine Befreiung erfahren: eine Befreiung von uns selbst – von unseren wechselnden Neigungen – zu uns selbst – einem festen und nicht beliebigen Willen (vgl. Frankfurt 1988, S. 89f.). In diesem Müssen der Liebe manifestiert sich eine erste volitionale Notwendigkeit. Zweitens gehört zur Liebe die nicht eigeninteressiere Sorge um das Wohl des geliebten Objekts. Man liebt das Geliebte um dessen willen; die Liebe ist insofern, wie Frankfurt etwas missverständlich sagt, „desinteressiert“ (Frankfurt 1999, S. 167f.). Und drittens muss man das tun, was das Wohl dessen, was man liebt, fördert und Schaden von ihm abwendet. Es gilt dann, dass ich etwas tun muss, weil dies mir meine Liebe zu einer Person oder Sache gebietet. Darin manifestiert sich eine zweite Form von volitio­ naler Notwendigkeit, die phänomenal der Bindung durch eine moralische Verpflichtung ähnelt. So wie ich etwas aus moralischer Pflicht tun muss, so muss ich, folgen wir Frankfurt, etwas aus Liebe tun. Und doch dient die Selbstlosigkeit der Liebe auch der liebenden Person selbst. Abgesehen davon, dass uns das Wohl dessen, was wir lieben, ein Be­ dürfnis ist, haben wir ebenso ein Bedürfnis, etwas – gleich was es sei – zu 109

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lieben (vgl. ebd., S. 171). Der tiefere Grund dafür liegt wieder in der Not­ wendigkeit, sich als Subjekt über die Zeit zu verstetigen. Mehr noch als an­ dere Formen des caring about erlaubt uns für Frankfurt die Liebe, eine dia­ chrone Einheit in unser Leben zu bringen, die dieses als sinnvolles Ganzes verstehbar macht. Liebe schützt uns vor allem vor zwei, unser eigenes Wohl gefährdenden Übeln: der Indifferenz einerseits und der Ambivalenz andererseits. Wer nichts liebt, für den ist alles gleichgültig. Und wem es nicht gelingt, seine Liebe entschieden auf ein Objekt zu konzentrieren, der ist hin- und hergerissen zwischen den Dingen, die ihm wichtig sind; er hat einen gespaltenen Willen. Für die Zwecke unseres speziellen Interesses an Zusammenhängen zwi­ schen Zeit und Sorge können wir festhalten, dass Sorge im Sinn des caring about wie auch im Sinn von (weit verstandener) Liebe für Frankfurt eine inhärent zukunftsbezogene Aktivität des Willens ist, durch die wir zu zeitlich erstreckten Subjekten mit einer eigenen Perspektive auf die Welt werden. Sorge und Liebe stiften eine eigene Zeitlichkeit, die unserem Leben eine besondere temporale Struktur verleiht. Sie verlaufen nicht nur wie auch andere Prozesse in der Zeit, sondern sie haben darüber hinaus eine sie auszeichnende Temporalität. 2 Sorge, In-der-Welt-sein und Zeit bei Heidegger Auch Heidegger meint mit ‚Sorge‘ nicht die gewöhnliche Sorge. Jedenfalls soll der Ausdruck freigehalten werden von Assoziationen der „Mühsal“, des „Trübsinns“ und der „Lebenssorge“ (S. 57) oder der „Besorgnis“ (S. 192).4 Die Sorge soll etwas Grundlegenderes sein. Wenn Heidegger sie als „Sein des Daseins“ (§ 41) bezeichnet, so ist das als Versuch zu verstehen, das Wesen von Personsein oder Subjektivität zu bestimmen. Insofern ver­ folgt er ein ähnliches Erkenntnisinteresse wie Frankfurt, für den Person­ sein, wie wir gesehen haben, durch Sorge im Sinn des caring about und der Liebe ausgezeichnet ist. Im Unterschied zu Frankfurt setzt Heidegger nicht bei der Analyse einer komplexen mentalen Einstellung an. Vielmehr ist er an spezifischen Ver­ haltensweisen und Praktiken orientiert. Sorge als Charakteristikum von Personsein manifestiert sich in verschiedensten Varianten des ‚Besorgens‘ von Dingen und Angelegenheiten wie auch der ‚Fürsorge‘ für andere, wo­

4 Die Angaben in Klammern beziehen sich hier und im Folgenden auf Seiten und Paragraphen von Sein und Zeit.

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bei auch diese Begriffe wieder weiter als üblich zu verstehen sind (vgl. S. 56f., S. 121). Weisen des Besorgens sind für Heidegger beispielsweise „zutunhaben mit etwas, herstellen von etwas, bestellen und pflegen von et­ was, verwenden von etwas, […] erkunden, befragen, betrachten, bespre­ chen“ (S. 56f.), desgleichen die defizienten Modi des „Unterlassens, Versäu­ mens, Verzichtens, Ausruhens“ (S. 57). Dort, wo Heidegger von „Fürsorge“ spricht, stehen die defizienten Modi sogar zunächst im Vordergrund: „Das Für-, Wider-, Ohne-einandersein, das Aneinandervorbeigehen, das Einan­ der-nichts-angehen sind mögliche Weisen der Fürsorge.“ (S. 121) Bei den positiven Modi der Fürsorge unterscheidet Heidegger zwei extreme Aus­ prägungen, nämlich die „einspringende“ Fürsorge, die „dem Anderen die „Sorge“ gleichsam abnehmen“ will, und die „vorausspringende“ Fürsorge, die dem Anderen dazu verhelfen soll, für die eigene Sorge „frei zu werden“ (S. 121). Ich komme darauf im nächsten Abschnitt zurück. Bei den Praktiken, die Ausgangspunkt von Heideggers Analyse sind, handelt es sich um regelgeleitete und insofern normative Praktiken.5 Im Vollzug dieser Praktiken zeigt sich ein Können im Sinn einer Kompetenz (vgl. S. 143). Im Alltag wissen wir, wie ‚man‘ sich in verschiedensten Kon­ texten verhält. Wir wachsen in kulturell-historisch gegebene Praktiken des Tuns, Urteilens, Fühlens usw. hinein. Wir wissen, wie man einen Hammer benutzt, wie man einander grüßt, wie man sich für eine Beerdigung klei­ det, wann es angebracht ist, sich zu freuen oder Mitleid zu zeigen. Verge­ sellschaftung ist für Heidegger nichts, zu dem Subjekte erst gelangen müss­ ten. Vielmehr ist die Subjektivität, die Heidegger „Dasein“ nennt, eine durch und durch soziale. Wir sind, was wir betreiben (vgl. S. 126), und was wir betreiben bewegt sich gewöhnlich in sozial vorgezeichneten Bahnen. Das ist der tiefere Sinn davon, dass das „Wer“ (§ 25) des Daseins zunächst gerade nicht das einzelne Individuum (‚ich selbst‘) ist, sondern das „Manselbst“ (S. 129). Gegenüber der solipsistisch anmutenden Konzeption von Frankfurt hat dies den Vorzug, dass wir als soziale Wesen sichtbar werden, die über ihre Verhaltensweisen immer schon bei der Welt und den ande­ ren sind. Für Heidegger ist das „In-der-Welt-sein“ (§ 12) die „Grundverfas­ sung des Daseins“ (S. 52), zu der wesentlich auch das „Mitsein“ (§ 26) zählt. Das führt zu einer anderen Auffassung von Selbstbezüglichkeit als bei Frankfurt. Im In-der-Welt-sein verhalten wir uns gleichursprünglich (d. h.

5 Ich folge hier von Wittgenstein und dem Pragmatismus inspirierten Heideggerlek­ türen wie der von Haugeland (2013). Diese Interpretationslinie wird detailliert von Bledowski (2021, 2. Kapitel) ausgearbeitet.

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so, dass sich das eine Element nicht ohne die anderen erklären lässt) zur Welt, z. B. zu den Gebrauchsgegenständen, deren Benutzung uns vertraut ist, zu den anderen, vornehmlich in deren sozialen Rollen, und zu uns selbst. Die Einheit dieser drei Bezüge von Welt, anderen und selbst ist das, was Heidegger mit ‚Sorge‘ meint. Es kann für ihn kein ‚Besorgen‘ von Din­ gen ohne den Bezug auf andere in der ‚Fürsorge‘ und ohne ein Sichzusich­ verhalten geben, das er nur deshalb nicht ‚Selbstsorge‘ nennt, weil er die Vorstellung von einem „isolierten Verhalten des Ich zu ihm selbst“ (S. 193) abwehren möchte. Darin liegt dann auch, dass das Sichzusichverhalten kei­ ne höherstufige Einstellung zu den eigenen niederstufigen Einstellungen wie bei Frankfurt ist; es ist nichts bloß Inneres. Vielmehr verhalten wir uns zu uns selbst, indem wir uns zu den Möglichkeiten verhalten, die wir im Vollzug normativ-sozialer Praktiken realisieren. Ein Selbstverhältnis ist dies, weil wir nicht nur Möglichkeiten haben, sondern diese wesentlich sind. Zumal dann, wenn es sich um finale Möglichkeiten als letztem „Wor­ um-willen“ (S. 84) handelt, verstehen wir uns aus diesen Möglichkeiten. Übe ich etwa die Rolle des Lehrers aus, so verstehe ich mich normalerwei­ se auch als Lehrer. Und da diese Rolle als eine Möglichkeit und Weise zu sein wieder eine normative Praxis ist, sind mit ihr eigene Erwartungen hin­ sichtlich ihrer besseren und schlechteren Erfüllung oder spezifische Rol­ lenpflichten verbunden. Ich verhalte mich zu mir selbst, indem ich mich zu den Standards verhalte, über die die Möglichkeiten, die ich realisiere, definiert sind. Einen Zug dieses Selbstverhältnisses betont Heidegger allerdings genau­ so wie Frankfurt. Er markiert ihn im Begriff des „Sich-vorweg-seins“ (S. 192), der temporal auf Zukunft verweist. Das Sichverhalten zu den eige­ nen Möglichkeiten hat also einen prospektiven Charakter. Diese Zukunftsbezogenheit ist von der des Planens abzuheben. Planend verfolge ich be­ stimmte, in der Zukunft liegende Ziele. Im Planen bin ich mir jedoch in­ sofern nur begrenzt ‚vorweg‘, als es im Erreichen des Ziels zum Abschluss kommt. Bei einem Selbstverständnis wie dem Lehrersein ist dies dagegen nicht der Fall. Solange ich mich als Lehrer verstehe, bin ich mir ‚vorweg‘. Ich muss diese Möglichkeit als eine von vielen immer wieder neu vollzie­ hen und werde sie dabei auch neu interpretieren.6 Ähnliches gilt für Frankfurts caring about. Dass mir eine Person oder eine Tätigkeit wichtig ist, mag Anlass für vielerlei Pläne sein; aber es ist nicht selbst ein Planen.

6 Heidegger selbst grenzt ausdrücklich den „Entwurf“ vom „Plan“ ab (Heidegger 1977, S. 145). Subjektivitätstheoretisch drückt sich im „Sich-vorweg“ die Unmög­ lichkeit aus, mit sich identisch zu sein, was bei Frankfurt nicht bedacht wird.

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Bei Frankfurt wie bei Heidegger geht es in der ‚Sorge‘ um einen performa­ tiven Vollzug, durch den eine Zukunft allererst meine Zukunft wird. Gelei­ tet wird dieser Vollzug von normativen Erwartungen hinsichtlich des eige­ nen künftigen Verhaltens.7 Das „Sich-vorweg“ (S. 191f.) ist für Heidegger jedoch nur eine Seite der Sorge als „Sein des Daseins“ (§ 41). Die volle Struktur der Sorge wird im Bindestrichungetüm „Sich-vorweg-im-schon-sein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)“ (S. 192) umrissen. Im „Sich-vor­ weg“ soll eingefangen werden, dass wir uns auf Möglichkeiten hin ‚entwer­ fen‘ und uns aus ihnen verstehen (vgl. § 31), im „schon-sein-in“ wird re­ flektiert, dass wir immer schon in eine Welt als ein „Ganzes von Bedeut­ samkeit“ (S. 151) „geworfen“ sind, und im „Sein-bei“ wird darauf abgeho­ ben, dass wir es in unserem Verhalten stets mit den Dingen und den ande­ ren zu tun haben.8 Für die Frage nach Zusammenhängen von Zeit und Sorge ist dabei nun wichtig, dass Heidegger die Momente der Sorge tem­ poral interpretiert. Die Verknüpfung des Sich-vorweg mit der Dimension der Zukunft hatte sich schon angedeutet. Analog soll im „schon-sein-in“ ein Vergangenheitsbezug angelegt sein und im „Sein-bei“ ein Bezug zur Gegenwart (vgl. § 65). Zu Beginn war davon die Rede, dass für Heidegger Zeit der ‚Sinn‘ der Sorge sei. Der § 65 von Sein und Zeit ist präziser überschrieben mit „Die Zeitlichkeit als der ontologische Sinn der Sorge“. Gemeint ist damit, dass Zeitlichkeit die Bedingung der Möglichkeit von Sorge, bzw. noch etwas genauer: die Bedingung ihrer Einheit und Ganzheit ist. Ein einheitliches Phänomen kann Sorge indes nur sein, wenn ihre temporalen Dimensio­ nen selbst unauflöslich ineinandergreifen. Zukunft ist deswegen für Heidegger nicht bloß das, was ‚noch nicht‘ ist, Vergangenheit (Heidegger spricht von „Gewesenheit“) nicht bloß das, was ‚nicht mehr‘ ist, und Ge­ genwart nicht das punktuelle ‚Jetzt‘ als verschiebbare, infinitesimale Gren­ 7 Ich übernehme diese Charakterisierung aus einem unveröffentlichten Manuskript von Wolfgang Carl. Heidegger wie auch Frankfurt meiden dagegen normatives Vokabular. 8 Im Rahmen einer akribischen Heidegger-Exegese wäre zu zeigen, dass Heidegger beim „Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)“ häufig das Mitsein mit an­ deren herausfallen lässt. Das „Sein-bei“ wird dann zu einem Umgang mit „Zuhan­ denem“, also etwa Gebrauchsgegenständen, verkürzt. Zu einer weiteren Veren­ gung kommt es, wenn dann auch noch der Umgang mit „Zuhandenem“ mit dem „Verfallen“ und der „Uneigentlichkeit“ gleichgesetzt wird, so als könnte es nicht auch einen „eigentlichen“ Umgang mit Dingen geben. Die Unzulänglichkeiten ge­ rade des § 41 von Sein und Zeit über die Sorge stellt scharf Bledowski (2021, S. 323ff.) heraus.

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ze zwischen ‚noch nicht‘ und ‚nicht mehr‘. Vielmehr sollen sich die drei Zeitdimensionen wechselseitig aufeinander beziehen und nur in ihrer In­ terdependenz verständlich sein. Das ist nachvollziehbar, wenn man mit Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart die je eigene Lebenszeit meint. In einem emphatischen Sinn ‚habe‘ ich eine Vergangenheit nur, weil ich auf sie im Licht meiner zukunftsgewandten Entwürfe zurückkommen kann und muss. Umgekehrt sind meine Möglichkeiten zwar nicht durch meine Vergangenheit determiniert, aber durch sie doch soweit bestimmt, dass ich mich nicht ganz neu erfinden kann. Alles, was ich tue, vollziehe ich vor dem Hintergrund meines Gewordenseins. Ich muss die in diesem angeleg­ ten Möglichkeiten ‚wieder-holen‘ und in dieser Wiederholung zugleich verändern (vgl. § 74). Die biographische Vergangenheit ist nie einfach ver­ gangen; sie ist das, was ich ‚bin‘, was mich durch und durch ausmacht und dadurch auch meine Gegenwart und Zukunft prägt. Da ich jedoch nur be­ stimmte in der Vergangenheit angelegte Möglichkeiten realisieren kann, erscheint das Vergangene aus der Warte von Gegenwart und Zukunft je anders, es nimmt immer neue und andere Bedeutungen an. In diesem Sinn enthüllt sich die Bedeutung des Vergangenen erst durch Gegenwart und Zukunft. Die Gegenwart schließlich ist kein ungreifbarer Moment, die verschwindende Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft, son­ dern eine je nach Kontext mehr oder minder weit gefasste Zeitspanne. Sie ist die Situation, aus der heraus ich mich verstehe und in der ich diese oder jene Entscheidungen treffen muss. Die drei Zeitdimensionen bilden so ein temporales Verweisungsnetz, das die Einheit der Sorge sicherstellt und mit ihr die Einheit des Subjekts in der und über die Zeit. Wir finden bei Heidegger mithin ein reicheres Bild der Zeitlichkeit der Sorge als bei Frankfurt, obwohl beide ein ähnliches subjektivitätstheoreti­ sches Anliegen verfolgen. Eine weitere Differenz zwischen beiden Philosophen erscheint mir von Interesse. Für Frankfurt, so hatten wir gesehen, gehört zum caring about, dass man sich mit dessen Gegenstand identifiziert. Wer sich wirklich um etwas sorgt, tut dies, wie Frankfurt sagt, aus ganzem Herzen („wholehear­ tedly “) (vgl. Frankfurt 1988a). Dass dies bei Heidegger nicht der Fall ist, hängt mit seiner notorisch strittigen Unterscheidung zwischen „Uneigent­ lichkeit“ und „Eigentlichkeit“ (vgl. schon S. 42f.) zusammen. Alltäglich tun wir, was wir tun, zunächst im Modus des „Man“ (§ 27) und damit ‚uneigentlich‘. Ich erfülle meine sozialen Rollen so, wie ‚man‘ es von mir erwartet. Mein Tun ist durch die gesellschaftlichen Regeln und Normen gleichsam vorgespurt. Diese formieren selbst noch meine Gefühle (vgl. S. 170) und meine eigenen Erwartungen an mich. Deswegen bin ich in den Tätigkeiten, die mein Leben ausmachen, gewöhnlich gerade nicht 114

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‚ich selbst‘, so dass ich mich mit ihnen auch nicht in der von Frankfurt avi­ sierten Weise identifiziere (oder dies jedenfalls nicht tun muss). Das heißt nicht, dass die vorgespurten Tätigkeiten mein ‚wahres Selbst‘ verdecken würden. Vielmehr gehe ich in ihrem mechanischen Vollzug so auf, dass ich gar nicht erst etwas Eigenes habe, von dem ich durch sie entfremdet werden könnte. Anders als bei Frankfurt führt dies indes nicht automa­ tisch zum Zerfall der Einheit des Subjekts, denn diese Einheit kann auch durch die uneigentliche Sorge gesichert werden. Zumindest als Grenzfall ist eine Person denkbar, deren Zukunftserwartungen, Vergangenheitsprä­ gungen und Gegenwartsentscheidungen zwar ganz den Konventionen der Gesellschaft und Tradition verhaftet bleiben, aber dennoch (oder gerade deswegen) nahtlos ineinandergreifen und so das Subjekt zu einem einheit­ lichen synthetisieren. Das „Dasein“ ist in die „Möglichkeiten“, aus denen es sich versteht, erst einmal „hineingeraten oder je schon darin aufgewach­ sen“ (S. 12). Das, was Heidegger „Eigentlichkeit“ nennt, setzt dagegen einen Bruch mit dem sozial Überkommenen voraus. Er wird möglich durch die Erfah­ rung existenzieller Angst (§ 40) und durch das „Vorlaufen zum Tode“ (§ 53). Die heideggerische „Angst“ ist eine Sinnlosigkeitserfahrung, in der das ganze Gewebe meines alltäglichen Lebens, die mir vertraute Welt, ins­ gesamt „ohne Belang“ (S. 186) erscheint. „Die Welt hat den Charakter völ­ liger Unbedeutsamkeit“ (ebd.). Ich fühle mich von der Welt so entfremdet, dass ich auf mich selbst zurückgeworfen werde und es zur Sache meiner Freiheit wird, die Welt wieder mit Sinn zu erfüllen, indem ich meine eige­ nen Möglichkeiten ‚wähle‘. Ähnliches geschieht im ‚Vorlaufen zum Tode‘, in dem ich meiner Endlichkeit gewahr werde und mich auf das besinnen muss, was mir wirklich wichtig ist, ohne allerdings je meine Möglichkei­ ten erschöpfen und mit mir eins werden zu können. Ob es dieser Art von Erschütterung bedarf, um sich Möglichkeiten bewusst anzueignen und neue zu schaffen, sei hier dahingestellt.9 Es wäre jedoch ein Missverständ­ nis, würde man meinen, der Mensch würde in der eigentlichen Existenz aus allen sozialen Bezügen herauskatapultiert. Deutlich genug heißt es:

9 Es wäre eine Erwägung wert, Heidegger so gegen Frankfurt zu wenden, dass sich für ihn Indifferenz und Ambivalenz nie ganz aufheben lassen und man erst im Durchgang durch sie zu sich selbst kommen kann.

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„Das eigentliche Selbstsein beruht nicht auf einem vom Man abgelös­ ten Ausnahmezustand des Subjekts, sondern ist eine existenzielle Mo­ difikation des Man als eines wesenhaften Existenzials.“ (S. 130)10 3 Sorge um andere und geteilte Zeit Frankfurts Konzeption von Sorge im Sinn des caring about ist im Kern eine Konzeption von Selbstsorge. Sicherlich ist der Gegenstand der Sorge häufig nicht die eigene Person. Das gilt zumal von der speziellen Sorgeva­ riante der Liebe, obwohl für Frankfurt die Selbstliebe eine besonders reine Liebe ist (vgl. Frankfurt 2004, 3. Kapitel). Wir können anderes und andere lieben, und in dieser Liebe geht es uns um das Wohl des Geliebten, nicht um unser eigenes Wohl. Dessen ungeachtet handelt es sich bei Frankfurts Konzeption von Sorge insofern um eine Konzeption von Selbstsorge, als ihre wesentliche Funktion in der Verstetigung des Subjekts über die Zeit liegt. Als eine Aktivität, aus der die Persistenz des volitionalen Lebens der Person resultiert, verleiht die Sorge dem Leben der Einzelnen eine eigene Zeitlichkeit. Der Eindruck, dass Frankfurts Sorge primär Selbstsorge ist, wird dadurch verstärkt, dass er selbst die Liebe zu anderen Personen eigen­ tümlich undialogisch begreift.11 Ihr Paradigma ist nicht der gleichberech­ tigte Austausch zwischen erwachsenen Personen, sondern die Liebe zu den eigenen kleinen Kindern, die insofern besonders ‚desinteressiert‘ sein soll, als wir in ihr nicht auf Reziprozität und Gegenleistung aus sein würden (vgl. Frankfurt 2004, S. 42f.). Das mag erklären, dass es bei Frankfurt keine Reflexionen über die Zeitstruktur einer spezifisch intersubjektiven Sorge gibt. Auf den ersten Blick verspricht Heidegger in dieser Hinsicht mehr. Bei ihm ist das „Dasein“ als „In-der-Welt-sein“ von Grund auf auf anderes und andere bezogen. „Mitsein“ ist ein „Existenzial“ des Daseins (Heidegger 1977, § 26), gehört also zu dessen Konstitutionsbedingungen. Und zu den

10 Dadurch, dass das Man ein „Existenzial“ ist, gehört es so zur Verfassung von „Da­ sein“, dass es grundsätzlich nicht überwunden werden kann. Vgl. dazu auch fol­ gende Passage: „Dieser alltäglichen Ausgelegtheit, in die das Dasein zunächst hin­ einwächst, vermag es sich nie zu entziehen. In ihr und aus ihr und gegen sie voll­ zieht sich alles echte Verstehen, Auslegen und Mitteilen, Wiederentdecken und neu Zueignen. Es ist nicht so, daß je ein Dasein unberührt und unverführt durch diese Ausgelegtheit vor das freie Land einer „Welt“ an sich gestellt würde, um nur zu schauen, was ihm begegnet.“ (Heidegger 1977, S. 169) 11 Zu dieser Kritik vgl. Krebs (2015, S. 51ff.).

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Weisen des Zugangs zur Welt gehört neben der „Befindlichkeit“, die sich in Stimmungen ausdrückt (§ 29), und dem „Verstehen“, das sich als eine Form des Sichverstehens auf etwas aus der Realisierung eigener Möglich­ keiten und Entwürfe ergibt (§ 31), die „Rede “ als Grundlage einer gemein­ samen Sprache (§ 34). Doch treten die intersubjektiven Bezüge in der Kon­ zeption der ‚Sorge‘ und in der Analyse der ‚Zeitlichkeit‘ als Ermögli­ chungsbedingung der Sorge zunächst zurück.12 Die Verklammerung der drei Zeitdimensionen in der Sorge suggeriert ein freistehendes, mit sich ei­ niges Subjekt, und die Idee einer Subjektkonstitution durch die Zeitigung der Zeitlichkeit droht in die Art transzendentaler Subjekttheorie zurückzu­ fallen, die Heidegger gerade überwinden wollte (vgl. Bledowski 2021, S. 429ff.). Oder simpler (und simplifizierend) ausgedrückt: die Konzeption des Daseins und der Sorge als Lebensvollzug entlang der drei Zeitachsen evoziert das Bild eines Individuums, dessen Leben sich zwischen Geburt und Tod abspielt und das allein um seine eigene Existenz kreist. Um eine genuin intersubjektive Sorge zu denken und mit ihr eine ent­ sprechend modifizierte Zeitlichkeit, muss man mit Heidegger über ihn hi­ naus gehen. Einen ersten wichtigen Anknüpfungspunkt liefert dafür seine Konzeption der „Weltzeit“ (§ 80). Unter Weltzeit ist die ‚öffentliche‘ Zeit zu verstehen, in der wir alle unsere Tätigkeiten, einzelne wie gemeinsame, vollziehen. Ihre Koordinaten bilden sich ursprünglich im Rahmen ge­ meinsamer Tätigkeiten heraus. Heidegger erwähnt die Entwicklung rudi­ mentärer Zeitrechnungen unter Bezugnahme auf den Stand der Sonne. „Dann, wann sie aufgeht, ist es Zeit zu…“ (S. 412), etwa zur gemeinsamen Landarbeit. Die am Auf- und Untergang der Sonne sowie an ihrem wech­ selnden Stand bemessene Tageszeit stellt eine Datierung dar, die eine „im Miteinandersein „unter demselben Himmel“ für „Jedermann“ jederzeit und in gleicher Weise, in gewissen Grenzen zunächst einstimmig vollzieh­ bare Zeitangabe“ (S. 413) ist. Mit der Erfindung mechanischer Uhren emanzipieren sich Zeiteinteilungen von kosmischen Vorgängen wie dem Wechsel von Tag und Nacht. Aber jedes Miteinander bleibt auf ein zeitli­ ches Koordinatensystem angewiesen, auf das alle ihre Tätigkeiten beziehen können und das selbst erst im Rahmen einer gemeinsamen Lebenswelt etabliert werden kann. Vor allem können Akteure nur so ihre Tätigkeiten so synchronisieren, dass Kooperation möglich wird. Für Heidegger sind all dies Vorgänge, die in der Zeitlichkeit des Daseins wurzeln und ihm Aus­ druck geben.

12 Vgl. dazu oben die Fußnote 8.

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Soweit betrachtet, liefert die Weltzeit jedoch nur einen temporalen Hintergrund für Interaktionen gleich welcher Art. Sie ist nicht auf genuin intersubjektive Formen der Sorge etwa unter Freunden, Familienangehöri­ gen oder im Kontext einer Pflege, die sich im Idealfall durch wechselseitige Zuwendung und Anerkennung auszeichnet, zugeschnitten. Die öffentliche Weltzeit gehört niemandem im Besonderen. Sie ist deswegen auch die Zeit, in der sich von konkreten gemeinsamen Tätigkeiten abgelöste Zeitre­ gime ausbilden, die sich für die Einzelnen einengend auswirken können. Man denke nur an die repressiven Seiten von Arbeitszeiten, Schulzeiten, Rückzahlungsfristen oder allgemeiner an all die sozialen Taktungen, die zwar die Tätigkeiten vieler koordinieren helfen, sie aber zugleich in ein temporales Korsett zwingen, das wenig Rücksicht auf individuelle Zeitbe­ dürfnisse nimmt. Die Weltzeit wird hier zu einem anonymen Geschehen, in dem sich die entindividualisierenden Züge des ‚Man‘ spiegeln. Allerdings gibt es noch eine andere Seite der Weltzeit. Für Heidegger ist die Weltzeit nicht mit der „vulgären“ (S. 405) Vorstellung von Zeit als einer Abfolge qualitätsloser Jetztmomente zu verwechseln.13 Zeitangaben verweisen für ihn vielmehr auf Tätigkeiten, die in eine Welt als „Ganzes von Bedeutsamkeit“ (S. 151) eingebettet sind. ‚Jetzt‘ meint stets „jetzt, da das und das“, so wie ‚damals‘ immer meint „damals, als das und das“ und ‚dann‘ „dann, wann das und das“ (Heidegger 2005, § 19b). Das „das und das“ steht dabei für etwas, dem eine Bedeutung im Rahmen einer gemein­ samen Welt zukommt. Deswegen kann es intersubjektiv geteilte Zeit nur vor dem Hintergrund eines Horizontes geteilter Bedeutungen geben, die mir Formen gemeinsamen Wichtignehmens im Sinn von Frankfurts ca­ ring about einzuschließen scheinen. Das gilt selbst in überschaubaren Kon­ texten von Sorge und Fürsorge. Zeit wird hier nicht schon geteilt, wenn die Sorgenden für die, um die sie sich kümmern, Zeit aufbringen (so wich­ tig das natürlich ist), sondern erst, wenn dies mit Blick auf einen geteilten Zweck oder eine geteilte Wertschätzung dessen, worum sich gesorgt wird, geschieht. Die elementare Wichtigkeit eines geteilten evaluativen Hinter­ grundes als Implikation geteilter Zeit tritt im negativen Fall eines Zusam­ menbruchs dieses Hintergrundes mit besonderer Schärfe hervor. Jonathan Lear hat dies eindrucksvoll am Kollaps der kulturellen Welt der Crow de­ monstriert, den die Betroffenen als einen Stillstand ihrer (bedeutsamen) Zeit empfunden haben (vgl. Lear 2006, S. 40f.).14 Und Heidegger selbst hat

13 Ich sehe darüber hinweg, dass Heidegger „Weltzeit“ und „vulgäre Zeit“ nicht immer klar trennt, obwohl die Unterscheidung in der Sache klar genug ist. 14 Lear schließt in seiner Analyse direkt an Heidegger (2005) an.

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darauf hingewiesen, dass eine von ihren Bedeutsamkeitsbezügen abstra­ hierte Zeit als leere Abfolge von Momenten empfunden werden müsste, die einen verrückt machen könne (vgl. Heidegger 2018, S. 729). Gleichwohl fehlt auch hier noch etwas, was gerade paradigmatische Formen intersubjektiver Sorge wie beispielsweise unter Freunden charak­ terisiert. In diesen Formen begegnen wir uns nämlich nicht mehr nur als Vertreter sozialer Rollen oder Mitglieder besonderer Gruppen, sondern wesentlich als Menschen mit einer je eigenen Perspektive auf die Welt. Heidegger hat dafür kein rechtes Sensorium, weswegen seine Konzepti­ on von Sorge am Ende kaum weniger undialogisch wirkt als Frankfurts Konzeption von caring about. Natürlich sind auch wechselseitige Bezie­ hungen, Beziehungen zwischen ‚ich‘ und ‚du‘, auf den Rahmen einer öffentlich geteilten Zeit angewiesen. Aber sie gehen darin nicht auf. Am nächsten kommt Heidegger dem, was hier auf den Begriff zu brin­ gen wäre, in seinen extrem knappen Bemerkungen zum zweiten positiven Modus der „Fürsorge“ (Heidegger 1977, S. 122).15 Anders als Frankfurts Verständnis von Liebe betrifft Heideggers Konzeption von ‚Fürsorge‘ im­ mer das Verhältnis zu anderen Personen. Fürsorge ist durch den Bezug auf andere von Selbstsorge unterschieden, und da sie anderem Dasein gilt, ist sie auch etwas grundsätzlich anderes als das Besorgen von Dingen (‚Zu­ handenem‘ wie ‚Vorhandenem‘). Dies lässt jedoch Raum für ganz unter­ schiedliche Varianten von Fürsorge. Selbst im defizienten Modus der Für­ sorge, dem „Für-, Wider-, Ohne-einandersein, [dem] Aneinandervorbeige­ hen, [dem] Einander-nichts-angehen“ (S. 121), haben wir ein, sei es auch verdecktes, Bewusstsein davon, dass andere, in Kants Begriffen ausge­ drückt, nicht ‚Sachen‘, sondern ‚Personen‘ sind, deren Leben durch die Zeitlichkeit der Sorge bestimmt ist. Von einem echten Miteinander wird man hier aber nicht sprechen wollen. Ähnlich verhält es sich in der ersten Variante der beiden ‚positiven Mo­ di‘ der ‚Fürsorge‘, die Heidegger als „einspringend-beherrschende“ (S. 122) Fürsorge bezeichnet. Leider lässt er im Dunkeln, was alles er unter sie rechnen möchte. Unspezifisch heißt es, diese Fürsorge könne „dem Ande­ ren die „Sorge“ gleichsam abnehmen und im Besorgen sich an seine Stelle setzen“ (ebd.). In arbeitsteiligen Gesellschaften gilt das für sehr viele Inter­ aktionen. Wenn ich mein Auto von einem anderen reparieren lasse, ‚be­ sorgt‘ er damit an meiner Stelle etwas; er nimmt mir einen Teil meiner Sorge ab. Vergleichbares ließe sich von einer staatlich regulierten Gesund­ heitsvorsorge behaupten, die ihrem Empfänger die Last, für sich selbst zu

15 Zum Folgenden ist hilfreich McMullin (2013), bes. 6. Kapitel.

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sorgen, erleichtert. Das kann sehr nützlich sein und doch kann in „solcher Fürsorge […] der Andere zum Abhängigen und Beherrschten werden, mag diese Herrschaft auch eine stillschweigende sein und dem Beherrschten verborgen bleiben“ (ebd.). Von echter Wechselseitigkeit kann also auch hier nicht die Rede sein, obwohl der andere nicht als Ding wahrgenom­ men wird, denn ein Ding könnte man zwar manipulieren, aber nicht ei­ gentlich ‚beherrschen‘. Erst mit der zweiten positiven Form von Fürsorge kommt etwas Neues in den Blick. In dieser Fürsorge soll dem Anderen die Sorge nicht abgenommen werden, sondern „erst eigentlich als solche zurückzugeben“ (ebd.) sein. Sie betreffe nicht das, was der andere besorgt, sondern „die Existenz des Anderen“ und solle ihm dazu verhelfen, „in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden.“ (ebd.) Mir erscheint es nicht zu weit herge­ holt, darin entgegen Heideggers oft martialischem Sprachgebrauch eine Umschreibung für eine moralische Achtung der anderen als selbstbestim­ mungsfähigen Personen zu sehen. Dazu passt jedenfalls die Modifikation des eben zitierten Passus, der zufolge der andere in der „vorausspringendbefreienden“ Fürsorge „in seiner Freiheit für ihn selbst frei[gegeben]“ (ebd.) wird. Darin soll sich zugleich das „gemeinsame Sicheinsetzen für dieselbe Sache“ und damit „eigentliche Verbundenheit“ (ebd.) manifestie­ ren. Auch hier ist wieder unklar, welche Phänomene darunterfallen könn­ ten. Am Horizont steht, sehr wohlwollend interpretiert, die Vorstellung eines solidarischen Miteinanders, in dem jedem genug Spielraum für selbstbestimmte Tätigkeiten gelassen wird. Aber was kann dies – wenn irgendetwas – für ein besseres Verständnis der Zeitlichkeit wechselseitiger interpersonaler Beziehungen austragen? Ich glaube, dass hier zwei Momente zusammenzubringen sind, die Heidegger nicht weiter analysiert. Zu einem gelungenen Miteinander ge­ hört einmal, dem anderen einen selbstbestimmten Umgang mit seiner Zu­ kunft, Vergangenheit und Gegenwart zu ermöglichen. Das ist in Heideggers Rede davon, dass in der ‚vorausspringend-befreienden‘ Fürsor­ ge der andere für ihn selbst freizugeben ist, angedeutet. Konkret könnte dies zum Beispiel heißen, dem anderen genug Zeit für seine eigenen Anlie­ gen zu lassen und ihn in seinem spezifischen Lebensrhythmus zu respek­ tieren. Aber das klingt noch zu sehr so, als müsste man sich nur gegensei­ tig in Ruhe lassen. Deswegen ist als zweites Moment der von Heidegger nicht näher erläuterte gemeinsame Einsatz „für dieselbe Sache“ als Aus­ druck für eine „eigentliche Verbundenheit“ zu berücksichtigen, und zwar als notwendiges Gegenstück zum sich gegenseitig „in seiner Freiheit […] freigeben“ (S. 122). Vielleicht kann man dabei an gemeinsame Tätigkeiten denken, in denen sich die Lebensrhythmen der Beteiligten gleichsam auf­ 120

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einander einschwingen. Auf einer affektiv-leiblichen Ebene geschieht dies zum Beispiel schon in der gelungenen Mutter-Kind-Beziehung, die Voraus­ setzung dafür ist, dass sich das Kind überhaupt als selbständiges Subjekt er­ fahren und entwickeln kann. Noch vor jeder ausdrücklichen Verabredung geht es dabei um einen Ausgleich zwischen Synchronisation und Desyn­ chronisation, dem aufeinander Einschwingen und dem Respekt vor dem besonderen Lebensrhythmus des je anderen. Darauf aufbauend wäre zu überlegen, wie der Ausgleich zwischen Syn­ chronisation und Desynchronisation in anderen, elaborierteren Interaktio­ nen aussehen könnte. Wie kann man den Zeitbedürfnissen der anderen und ihrer je besonderen Zeitlichkeit gerecht werden, ohne die emphati­ sche Idee einer geteilten Zeit preiszugeben? Um an dieser Stelle weiter­ zukommen, bräuchten wir einmal empirische Studien über gelungene Formen des Miteinander in verschiedensten sozialen Kontexten. Sodann müssten wir aber auch noch weitere Kriterien herausarbeiten, um einen gelingenden Lebensvollzug in der Zeit von einem misslingenden zu unter­ scheiden.16 Weder Frankfurts wichtige Überlegungen zur Einheitsstiftung des caring about und der Verhinderung von für einen selbst problemati­ schen Formen von Indifferenz und Ambivalenz durch sie noch Heideggers Dichotomie von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit leisten dafür ausrei­ chend Hilfe.17 Literaturverzeichnis Bledowski, Jaroslaw. 2021. Zugang und Fraktur. Heideggers Subjektivitätstheorie in Sein und Zeit. Tübingen: Mohr-Siebeck. DOI: https://doi.org/10.1628/978-3-1 6-157737-6 Frankfurt, Harry. 1971. Freedom of the Will and the Concept of a Person. Journal of Philosophy 68: 5–20. DOI: https://doi.org/10.2307/2024717

16 Für einen Versuch dazu vgl. Steinfath (2020). 17 Diese Publikation entstand im Rahmen der Forschungsgruppe 5022 „Medizin und die Zeitstruktur guten Lebens“ (Sprecherin Claudia Wiesemann, Universi­ tätsmedizin Göttingen), gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Projektnummer 424883170. Für kritische Kommentare zu einer früheren Fassung dieses Textes danke ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern meines Philosophischen Kolloquiums am Philosophischen Seminar der Universität Göt­ tingen.

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Holmer Steinfath Frankfurt, Harry. 1988. The Importance of What We Care About. In Harry Frank­ furt. The Importance of What We Care About. Philosophical Essays, 80–94. Cambridge: Cambridge University Press. DOI: https://doi.org/10.1017/CBO9780 511818172 Frankfurt, Harry. 1988a. Identification and wholeheartedness. In Harry Frankfurt. The Importance of What We Care About. Philosophical essays, 159–176. Cam­ bridge: Cambridge University Press. DOI: https://doi.org/10.1017/CBO97805118 18172.008 Frankfurt, Harry. 1999. On Caring. In Harry Frankfurt. Necessity, Volition and Love, 155–180. Cambridge: Cambridge University Press. DOI: https://doi.org/ 10.1017/CBO9780511624643.015 Frankfurt, Harry. 2004. The Reasons of Love. Princeton: Princeton University Press. DOI: https://doi.org/10.2307/j.ctt7rqh3 Haugeland, John. 2013. Dasein Disclosed: John Haugeland’s Heidegger, Hrsg. Jo­ seph Rouse. Cambridge, MA: Harvard University Press. DOI: https://doi.org/10. 4159/harvard.9780674074590 Heidegger, Martin. 1977. Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. Heidegger, Martin. 2005. Die Grundprobleme der Phänomenologie, Hrsg. Fried­ rich-Wilhelm Hermann (Gesamtausgabe 24). Frankfurt a. M.: Klostermann. Heidegger, Martin. 2018. Zollikoner Seminare, Hrsg. Peter Trawny (Gesamtausga­ be 89). Frankfurt a. M.: Klostermann. Krebs, Angelika. 2015. Zwischen Ich und Du. Eine dialogische Philosophie der Liebe. Berlin: Suhrkamp. Lear, Jonathan. 2006. Radical Hope. Ethics in the Face of Cultural Devastation. Cambridge, MA: Harvard University Press. DOI: https://doi.org/10.4159/978067 4040021 McMullin, Irene. 2013. Time and the Shared World. Heidegger on Social Relati­ ons. Evanston: Northwestern University Press. DOI: https://doi.org/10.2307/j.ctv 43vth3 Steinfath, Holmer. 2020. Zeit und gutes Leben. Zeitschrift für Philosophische Forschung 74: 493–513. DOI: https://doi.org/10.3196/004433020830955996

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Identität in Grenzbereichen der Kommunikation – eine Sorge der Anderen? Jana John

1 Einleitung: Identität in Grenzbereichen der Kommunikation Die Frage danach, wer jemand ist, also nach der Identität, stellt sich in viel­ fältigsten Situationen alltäglichen Lebens spätmoderner Gesellschaften. Aus soziologischer Perspektive kann Identität als aus gesellschaftlichen Wissensbeständen hervorgehende Summe von Attribuierungen und Klassi­ fizierungen sowie damit einhergehenden Praktiken verstanden werden, entlang derer in kommunikativem Handeln (vgl. Reichertz 2013, S. 54–56) eine sozial sichtbare bzw. kommunikativ anschlussfähige Figur einer Per­ son konstruiert wird. In Interaktionen ist diese Identität für Andere – wenn auch in situativ wechselnden Qualitäten – im Sinne einer Abfrage nach einem „Wer bist du (in dieser Situation)?“ zur Handlungsabstimmung be­ deutsam. Auf subjektiver Ebene kann die Frage nach der eigenen Identität mithin nur in Auseinandersetzung mit einer sozialen Umwelt behandelt und bear­ beitet werden. Aufgrund der vielfältigen und wechselnden sozialen Be­ zugsfelder und Sinnwelten bleibt die Identitätsfrage somit grundsätzlich eine lebenslange Gestaltungs- und Verhandlungsaufgabe, was in einem Modus alltäglicher „Identitätsarbeit“ (Keupp et al. 1999, S. 217) Nieder­ schlag findet. Am Fall von Pflegeheimbewohnenden wird jedoch rasch deutlich, wie Identitätsarbeit und zur Handlungsabstimmung notwendige Identitäts­ kommunikation an ihre Grenzen geraten können: Zunächst erzeugt die organisationale Beschaffenheit von Pflegeeinrichtungen, die zwischen einem würdeorientierten Versorgungsauftrag und wirtschaftlichen Organi­ sationszielen changiert, spezifische lebensweltliche Kontexte und Interakti­ onsfelder zur Verhandlung und Gestaltung von Identität. Schon durch for­ mal strukturierte Pflege- und Versorgungspraktiken, organisationsspezifische Zeitverhältnisse oder etwa die spezifischen materialen Beschaffenheiten wird Identität gestaltet. Wenn Bewohnende darüber hinaus aufgrund ihrer konstitutionellen Voraussetzungen in ihrer körper- und/oder sprach­ vermittelten Mitteilungs-, Ausdrucks- und Handlungsfähigkeit einge­ 123

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schränkt sind, berührt das die Ausdrucks- und damit Verhandlungsmög­ lichkeiten von Identität in besonderem Maße: Wenn (Identitäts-)Kommu­ nikation an ihre Grenzen gerät und Anderen (z. B. in als schlafähnlich und/oder vegetativ erlebten Zuständen fortgeschrittener Demenz) mitun­ ter unklar ist, was Bewohnende (mitteilen) wollen, inwieweit diese aktiv an Situationen teilnehmen oder sich ihrer selbst gewahr bzw. als ein „Je­ mand“ (Hitzler 2011, S. 69) anwesend sind, gerät schließlich auch die Iden­ titätsarbeit der Betroffenen – der Wahrnehmung Anderer nach – an ihre Grenzen. Dann treten diese als (Ko-)Konstrukteure von Identität besonders auf den Plan. Weil demokratisch verfasste, spätmoderne Gesellschaften entlang eines Menschenbildes strukturiert sind, welches auf individuellen Persönlich­ keits- und Freiheitsrechten aufbaut1 und auf Handlungsebene in wechsel­ seitiger Anerkennung einer Identität als Jemand seinen Ausdruck findet, kann davon ausgegangen werden, dass Menschen nicht nur Sorge um ihre eigene Identität, sondern auch um die eines Gegenübers tragen. Wel­ che Bedeutung die Identität eines Gegenübers in alltäglichem kommuni­ kativem Handeln inne hat, wird in Grenzsituationen kommunikativen Handelns besonders deutlich. Wie diese dort verhandelt, bespielt und konstruiert wird, wird im Folgenden am Fall von Mitarbeitenden einer vollstationären Pflegeeinrichtung und ihrer Sorgepraktiken um die Identi­ tät Bewohnender mittels empirischer Erkenntnisse aus einer ethnografisch angelegten Untersuchung diskutiert. Zunächst werden die Fragestellung und der Fall vor dem Hintergrund identitätstheoretischer Überlegungen herausgearbeitet (2), wonach eine kommunikativ konstruktivistische Perspektive entfaltet wird (3), von der aus kommunikative Praktiken verschiedener an Konstruktionen Beteiligter in den Blick genommen werden können. Im nächsten Schritt werden auf empirischer Basis Überlegungen zur Bedeutung Anderer für Identitätskon­ struktionen angestellt (4), woran anschließend im letzten Schritt die These entfaltet wird, dass Menschen in kommunikativem Handeln nach der Identität eines Gegenübers suchen, diese notfalls auch selbst konstruieren und damit nicht nur existenzielle Sorge für ihre eigene, sondern auch für die Identität(sarbeit) eines Gegenübers tragen (5).

1 Dieses grundsätzliche gesellschaftliche Ordnungsprinzip spiegelt sich besonders eindrücklich in „würdezentrierten“ Verfassungsgrundsätzen wie jenem des § 1, GG.

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Identität in Grenzbereichen der Kommunikation – eine Sorge der Anderen?

2 Identitätskonstruktionen und das Pflegeheim Identität kann als in kommunikativen bzw. interaktiven Praktiken gewon­ nene Vorstellung (vgl. Reichertz 2013, S. 54f.) davon verstanden werden, dass ein Mensch nicht nur etwas phänotypisch Menschliches, sondern ein „Jemand“ (vgl. Hitzler 2011, S. 69) ist. Dieser kann mittels kommunikativ transportierter Attribuierungen bestimmt und dadurch als jemand Menschliches, jemand eines Typs und/oder als Individuum erfahrbar wer­ den. Die grundlegende Bedeutung Anderer, d. h. eines Gegenübers, um auf subjektiver Ebene überhaupt zu einer Vorstellung von sich selbst gelangen zu können (vgl. Mead 1973; Hurrelmann und Bauer 2020), aber auch die von Anderen ausgehenden Ansprüche und Herausforderungen, wer­ den im sozialwissenschaftlichen Identitätsdiskurs vielfach beschrieben (vgl. z. B. Goffman 2010, 1961; Butler 1997; Schroeter 2012; Gugutzer und Schneider 2007). Macht- und herrschaftstheoretische Konzepte verdeutli­ chen strukturelle Rückkopplungen (vgl. z. B. Klein und Meuser 2006; Foucault 1978; Bourdieu 2005) und kulturtheoretische Perspektiven zeigen die dem modernen Individualitätsverständnis innewohnenden Dialektiken und Paradoxien zwischen individuellen Gestaltungsräumen sowie kultu­ rell erzeugten Zwängen und Herausforderungen (vgl. z. B. Beck 1983, 2015; Bauman 2009; Margalit 2012; Rosa 2021). Identität wird dabei ent­ weder aus Sicht des Individuums oder entlang Identität konstituierender Rahmenbedingungen gedacht. Wie sich die Beziehung Anderer zur Identi­ tät eines Gegenübers strukturiert, bzw. welche Rolle und Bedeutung Ande­ re in alltäglichen Konstruktionsprozessen von Identität eines Gegenübers einnehmen, wird im Folgenden am Fall kommunikativ eingeschränkter Pflegeheimbewohnender und ihrer Anderen untersucht. Denn diese Fragen gewinnen besonders dann an Relevanz, wenn die Voraussetzungen zu Identitätsarbeit auf Dauer durch einen Kontext festge­ legt und vorstrukturiert sind und/oder die körperlichen bzw. sprachlichen Fähigkeiten zu kommunikativem Ausdruck erschwert oder verhindert sind. In Pflegeheimen stellen sich diese Fragen in besonderer Weise: Oft sind Bewohnende durch ihre körperlichen Voraussetzungen in ihren Handlungs- und Kommunikationsspielräumen eingeschränkt. Hinzu kom­ men Phänomene wie die erlebte Schrumpfung von Lebenszeit oder Kon­ frontationen mit der (eigenen) Endlichkeit, die ein prospektives Entwerfen von Identität spezifisch präfigurieren; denn für die meisten Bewohnenden markiert der Eintritt ins Pflegeheim die letzte Lebensphase bis zum Tod. Zudem ist (insbesondere in schlafähnlichen Zuständen fortgeschrittener Demenz) mitunter unklar, inwieweit Bewohnende gerade (noch) an­ 125

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sprechbar, zurechnungsfähig oder präsent sind, d. h. inwiefern sie an Kom­ munikationsprozessen teilnehmen und als „Akteure“ (Pfadenhauer und Hitzler 2020, S. 289) anwesend sind. Neben oder gerade wegen den individuellen Voraussetzungen vieler Be­ wohnender strukturieren die „Lebenswelt“ (Schütz und Luckmann 2017, S. 29) des Pflegeheims und die in ihr wirkenden Anderen das, was als Iden­ tität der Bewohnenden erfahrbar wird in hohem Maße. Dabei erzeugen die strukturellen Rahmenbedingungen, materialen Beschaffenheiten und all­ täglichen Praktiken innerhalb von Pflegeeinrichtungen zusammen mit den sozialen und konstitutionellen Voraussetzungen der Bewohnenden so­ ziale Situationen, die insbesondere von außen mitunter mit „sozialem Tod“ (Richter et al. 2014, S. 368) assoziiert werden. Jüngst erst wurde in diesem Zusammenhang eine fortschreitende Kasernierung vollstationärer Einrichtungen vor dem Hintergrund der Coronapandemie konstatiert und problematisiert (vgl. etwa Schulz-Nieswandt 2021). Zugleich sind Pflegeeinrichtungen ihrem Auftrag und Selbstverständnis nach längst keine wie in den 1960er Jahren von Erving Goffman beschrie­ benen „Totalen Institutionen“ (Goffman 1961, S. 11) mehr, sondern viel­ mehr „sozialraumorientierte Fürsorgeeinrichtungen“ (Hillebrecht 2020). Diese verpflichten sich – trotz marktwirtschaftlich organisierter Betriebs­ struktur – einem würdefokussierten Selbstverständnis, welches sich etwa über pflegebezogene Gesetzgebung (vgl. z. B. HeimG, SGB XI), personen­ zentrierte Ansätze pflegerischen Handelns (vgl. z. B. Kitwood 2019) und die Gestaltung der materialen und organisationalen Struktur in die Le­ benswelt der Bewohner*innen und Alltagspraktiken der dort Lebenden und Wirkenden einschreibt. Dabei sollen etwa eine umfangreiche Pflegedokumentation (vgl. BmfFSFJ 2007) und ein umfassendes, zunehmend di­ gital verwaltetes Qualitätsmanagement Monitoring und Qualität gewähr­ leisten. Dass diese Standards und Maßnahmen nicht dazu führen, dass Selbstbestimmung, Handlungsfreiheit und Würde her- und sichergestellt werden können, verdeutlichen neben den beschriebenen Diskursen über Kasernierungseffekte etwa auch Befunde zu Gewalt in Pflegekontexten (vgl. Lindemann und Barth 2020), Zeitdruck und Personalmangel sowie Ambivalenzen zwischen Aktivierung und Deaktivierung im Umgang mit Bewohnenden (vgl. Miklautz 2006). Die durch diese Ambivalenzen zwi­ schen normativen Ansprüchen und Praxis entstehenden Erfahrungen Pflegender werden im sozialwissenschaftlichen Diskurs als „Moral Distress“ (Kada und Lesnik 2019) beschrieben, was sich im Umgang mit zu Pflegenden in einem Gap zwischen persönlichem Involviertsein und Verdingli­ chung spiegelt (vgl. Schniering 2021, S. 268).

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Die auf diese Weise entstehenden Pfadabhängigkeiten alltäglichen Han­ delns und Kommunizierens schaffen spezifische Kontexte zur Identitätsver­ handlung und -konstruktion: Schon Alltagspraktiken wie die Auswahl von Kleidung, spezifische Körperpflege oder die flüchtige Anordnungen etwa von im Rollstuhl sitzenden Personen im Raum positionieren Bewohnende im Interaktionsfeld und erzeugen einen kommunikativ anschlussfähigen Eindruck, der Identität vermittelt und konstruiert (vgl. Reichertz 2013, S. 52). Damit wird eine am Anspruch auf Anerkennung der Individualität der Bewohnenden und ihrer individuellen Bedürfnisse bemessene Identi­ tätsfrage auch zu einer Frage, deren Antwort sich daran bemisst, wie und ob in alltäglichen Handlungs- und Kommunikationsvollzügen der Einrich­ tungen eine „gemeinsame Vollzugswirklichkeit“ (Reichertz et al. 2020, S. 221) zwischen Bewohner*innen und Pflegenden geschaffen werden kann, wie Kommunikationsmacht (vgl. Reichertz 2009; 2013, S. 56f.) ent­ faltet und wie an Grenzen der Kommunikation (vgl. Pfadenhauer und Hitzler 2020) Identitätsfragen verhandelt und bearbeitet werden. Annäherungen an diese Problematik verschafft eine Untersuchung von Ronald Hitzler (2011) zur Kommunikation mit Wachkomapatienten, bei denen sich die Frage eines „Ist da jemand?“ (Hitzler 2011, S. 69) und damit verbunden Fragen nach Voraussetzungen für Kommunikation und Rezi­ prozität unmittelbar aufdrängen. Ihm zufolge kann eine (noch so kleine) körperliche Aktivität einem Gegenüber – vermittelt über leibliche Apprä­ sentationen – eine Vorstellung davon vermitteln, dass da Jemand ist. Da­ mit sei die Einschätzung über den situativen Personenstatus eines mensch­ lichen Individuums an die Einschätzung einer (kommunikativen) Präsenz gekoppelt, wobei es sich auch um eine (leibliche) „Appräsentation“ (Schütz und Luckmann 2003, S. 636), d. h. ein wahrgenommenes Zeichen mit Verweis auf etwas prinzipiell außerhalb der gegenwärtigen Erfahrung Liegendes (z. B. fremdes Bewusstsein), handeln kann. Sobald also eine Ap­ präsentation fremden Bewusstseins – wenn auch nur zeitweise – besteht, entsteht ein Eindruck von Intersubjektivität und Kommunikation vor de­ ren Hintergrund ein Gegenüber als ein gegenwärtig präsenter Jemand er­ fahrbar wird (vgl. Hitzler 2011, S. 80 f.). Ein anderes Beispiel für Grenz- und Verhandlungsfragen von Kommu­ nikation und den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Kommunikati­ on und Identität liefert eine von Jo Reichertz et al. (2020) unternommene Analyse zur kommunikativen Handlungsabstimmung zwischen einem De­ menzerkranken und seiner (ihn pflegenden) Ehefrau: In dieser wird aufge­ zeigt, wie unterschiedliche Sinneswahrnehmungen Reziprozität schaffen können, wenn Sprache als Kommunikationsmedium ausfällt. Demnach entwirft ein Anderer (hier die Ehefrau) sozusagen eine Theory of Mind 127

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über ihr Gegenüber, wodurch dessen Handlungsprobleme (hier die des de­ menzerkrankten Mannes) identifiziert und bearbeitet werden sollen. Die Feinabstimmung des Handelns erfolgt über multimodale Sinneswahrneh­ mungen des Sehens, Hörens, Fühlens, Spürens, Riechens, Tastens und Af­ fektiert-Seins (vgl. ebd., S. 232). Dabei verstehen die Leibkörper einander aufgrund einer vorprädikativen, wenn auch semiotisierten Praxis. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen wird Kommunikation als leib-körperli­ che Praxis sichtbar, welche eben jene unintendierten und/oder vorprädika­ tiven Kommunikationspraktiken einbezieht. Dadurch wird ersichtlich, dass kommunikatives Handeln nicht ausschließlich auf Bewusstsein und kognitiv entwickelte Pläne angewiesen ist (vgl. ebd., S. 236). Zudem zeigen Reichertz et al. auf, dass diese Weise gebildete Handlungseinheiten das Selbstbestimmungsrecht der Einzelnen nicht zwangsläufig zurücknehmen, da beide als mit einer Identität versehene Subjekte erhalten bleiben (vgl. Reichertz et al. 2020, S. 232). Damit hören Menschen auch in Grenzberei­ chen der Kommunikation nicht zwangsläufig auf, Agenten im Leben An­ derer zu sein (vgl. S. 232f.). Diese Überlegungen zu Identität in Grenzbereichen der Kommunikati­ on geben erste Hinweise darauf, welche Bedeutung Anderen in der Definition von Identität zukommen kann. Sie verdeutlichen, wie ein Gegenüber in gemeinsamen Handlungssituationen nach kommunikativen Zeichen sucht, die es ermöglichen, jemanden als Person mit situativen Handlungs­ problemen zu identifizieren. Eine weitere Zuspitzung erfahren diese Überlegungen am Beispiel „postexistenzielle[r] Existenzbastelei“ (Meitzler 2017), wenn etwa durch Angehörige in der Gestaltung eines Grabes ein manifester Ausdruck des verstorbenen Selbst erzeugt wird. Zwar bilden derartige Praktiken einen Extremfall fremdkonstruierter Identität, bei dem kein lebendiger Körper als potenzieller Verhandlungspartner anwesend ist, jedoch bekräftigt die­ ses Beispiel nur umso anschaulicher die von Reichertz (2013) angestellte These, dass jedes (in kommunikativem Handeln hervorgebrachte) so-tunals-ob bereits Identität konstruiert (vgl. S. 55). 3 Identitätskonstruktionen in kommunikativem Handeln Ausgehend von diesen Vorüberlegungen wird im Folgenden eine theoreti­ sche Perspektive entfaltet, welche es ermöglicht, die Bedeutung Anderer für Identitätskonstruktionen empirisch einzufangen: Versteht man Identi­ tät als kommunikativ hervorgebrachtes, symbolisch vermitteltes soziales Konstrukt und zielt darauf, die damit verbundenen Verhandlungs- und 128

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Schaffensprozesse in den Blick zu nehmen, eignet sich eine kommunikativ konstruktivistische Perspektive (vgl. Reichertz und Thuma 2017, S. 7). Die­ ser zufolge bildet kommunikatives Handeln den Ausgangspunkt jeder Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit. Kommunikation ist dem­ nach nicht nur ein Mittel, um Menschen absichtsvoll Botschaften zukom­ men zu lassen, sondern eine menschliche Praktik, mit der zugleich Identi­ tät, Beziehung und Gesellschaft her- und festgestellt werden (vgl. Keller et al. 2013, S. 13): „Kommunikation ist somit die Basis gesellschaftlicher Wirklichkeit.“ (ebd., S. 13) In kommunikativem Handeln wird zugleich Identität (Wer bist du und wer bin ich?), Beziehung, Gesellschaft, Wirk­ lichkeit, Werte und Normen (Was ist hier los? Was gilt hier? Weshalb bin ich hier? Was soll ich tun?) fest- und hergestellt. Dabei werden die Antwor­ ten auf diese Fragen in endlos vielen pfadabhängigen Kommunikationssi­ tuationen in einem machtstrukturierten Mit- und Gegeneinander geschaf­ fen. Im Zuge dieser Prozesse werden diese objektiviert, institutionalisiert und verfestigt, bleiben aber grundsätzlich fluide (vgl. ebd.). Alltägliches kommunikatives Handeln (absichtsvoll) und Tun (inkorporiert) bedienen sich einer Fülle (i. d. R. semiotisierter) körperlicher Praktiken des Ausdrü­ ckens, Wahrnehmens und Deutens (vgl. Reichertz 2020, S. 12). Grundlage dazu sind – v. a. sprachlich, körperlich und leiblich vermittelte – Zeichen­ systeme. Bedeutung gewinnen Zeichen nicht aus sich heraus, sondern in­ nerhalb sozialer Praktiken, d. h. kommunikativer Einheiten, in denen sie zum Einsatz kommen (vgl. ebd., S. 20). Auf diese Weise werden mittels Kommunikation unter Zuhilfenahme pfadabhängig gewachsener kultur­ spezifischer Symbolsysteme Handlungsprobleme bearbeitet. Kommunika­ tion umfasst demnach geplantes wie nicht geplantes zeichenvermitteltes Handeln und ist daher grundsätzlich symbolische Interaktion (vgl. ebd., S. 50). Identität (Wer bin ich in dieser Situation? Wer ist der andere?) kann dieser Lesart zufolge als ein mögliches, situativ zu bearbeitendes Hand­ lungsproblem verstanden werden. Dieses einer kommunikativ konstruktivistischen Perspektive inhärente Identitätsverständnis eignet sich in besonderer Weise, Konstruktionspro­ zesse von Identität in kommunikativen Grenzbereichen – zu erforschen und die (machtstrukturierten und pfadabhängigen) Beziehungen der Be­ teiligten in den Blick zu nehmen. Dabei steht weniger im Fokus, wie Men­ schen ihre Identität erleben, sondern eher, wie diese zu welchem Zweck sozial kommuniziert und konstruiert wird und welche Wirkung (im Sinne von Kommunikationsmacht) Identitätskommunikationen dabei entfalten. Die in diesem Ansatz entfalteten theoretischen Prämissen leiten ein dezi­ diert empirisches Vorgehen an, welches an der Alltagswirklichkeit der Be­ forschten ihren Ausgangspunkt zu nehmen habe (siehe methodologischer 129

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Empirismus als Merkmal des Kommunikativen Konstruktivismus (vgl. z. B. Knoblauch 2013, S. 27). Entsprechend sind die folgenden Überlegungen Ergebnisse einer ethno­ graphisch angelegten Untersuchung, welche mittels einer Grounded Theo­ ry (vgl. Strübing 2014) fundierten Analyse und sequenzanalytischer Ergän­ zungen (vgl. Reichertz 2016, S. 262–273) gewonnen wurden. Die zur Argu­ mentation herangezogenen Daten setzen sich aus (meist) in beobachtender Teilnahme und Feldgesprächen gewonnenen Transkripten und Protokol­ len zusammen. Die Erhebung fand während eines knapp zweimonatigen Feldaufenthalts im Frühling 2021 in einer vollstationären Pflegeeinrichtung statt. 4 Überlegungen am Fall – Sorge um die Identität der Anderen als Frage der Würde? Rasch hat sich im zyklischen Forschungsprozess ‚Würde‘ als zentrales Kon­ zept des Feldes abgezeichnet, das in zahlreichen Situationen thematisiert und bearbeitet wird. Im Folgenden wird herausgearbeitet, wie mithilfe dessen auch identitätsrelevante Handlungs- bzw. Kommunikationsproble­ me innerhalb der Einrichtung bearbeitet werden. Zunächst ist der Anspruch, die ‚Würde und Einzigartigkeit‘ der Person zu achten, Teil des offiziellen Selbstkonzeptes der Einrichtung. Dieses spie­ gelt sich z. B. in der auf der Homepage der Einrichtung präsentierten ‚Philosophie‘ der Einrichtung. Auf Handlungsebene spiegeln sich Wissensbestände um Würde und Identität in Selbstaussagen von in der Einrichtung Beschäftigten zu würdi­ gen bewohner*innenbezogenen Praktiken: So gilt es etwa, Bewohnende in ihrer Selbstständigkeit zu fördern bzw. möglichst viele Tätigkeiten selbst ausüben und probieren zu lassen. Dabei folgen die in Einrichtungen Prak­ tizierenden dem Ziel, ‚den Leuten nichts wegzunehmen‘ und schreiben sich selbst eine möglichst zurückhaltende, aber bei Bedarf ‚unterstützende‘ Rolle zu. In der Kommunikationsordnung des Feldes zeigt sich der würde­ zentrierte Ansatz in Praktiken wie jenen einer direkten Ansprache der Be­ wohnenden bei ihrem Namen oder dem Einhalten von ‚Standardhöflichkeiten, die auch bei unsicheren Kommunikationsstatus des Bewohnenden routinemäßig beibehalten werden. Beispiele hierfür sind das Anklopfen vor Betreten eines Zimmers, Fragen nach Befindlichkeiten, das Erkundi­ gen nach Neuigkeiten aus dem Leben der Bewohnenden oder das Begrü­ ßen und Verabschieden bei Betreten und Verlassen eines Raumes. Auch das regelmäßige Einholen eines informierten Einverständnisses, indem 130

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beispielsweise pflegerische Tätigkeiten vor deren Verrichten angekündigt werden und Zustimmende Gesten der Bewohnenden abgewartet werden, werden als angemessene Versorgungs- und Fürsorgepraktiken im Umgang mit Bewohnenden angesehen. Für Pflegende bedeutet ‚Würde‘ auch das Her- und Sicherstellen von Diskretion und Privatsphäre gegenüber Dritten, was beispielsweise in der Praktik zum Ausdruck gebracht wird, Bewohnende im Waschvorgang mit­ hilfe eines Handtuchs vor Blicken Dritter zu schützen. Zentral für das Wohlergehen der Bewohnenden sind aus Sicht des Per­ sonals darüber hinaus Infrastrukturen wie der hauseigene Friseursalon, von der Einrichtung veranstaltete Feste, regelmäßig stattfindende Einzel­ angebote wie Handmassagen oder Spaziergänge, aber auch Gruppenange­ bote wie Stammtische oder Gottesdienste und Orte zur freien Nutzung wie die hauseigene Cafeteria oder die aufwändig begrünte und weitläufige Gartenanlage. Auch Sterbende mit dem zu versorgen, was sie ‚brauchen‘ und sie auf ‚ihrem Weg‘ zu unterstützen, erachten Pflegende, Betreuungskräfte und im Haus tätige Ordensschwestern als ihren Auftrag. Diese hier nur exemplarisch herangezogenen Beispiele verdeutlichen, wie ein Konzept von ‚Würde‘ als formaler Anspruch im Umgang mit Bewohnenden und Grundlage des Selbstkonzepts pflegerischen Handelns innerhalb der Einrichtung strukturierend wirkt. Darüber hinaus scheinen mit Würde verbundene Fragen und Heraus­ forderungen die Pflegenden selbst auch als Person in hohem Maß zu bewegen: Es zeichnet sich der Anspruch ab, Bewohnende als Person zu behandeln und zu adressieren und im Umgang mit ihnen nur so viel ‚Territorium‘, wie es eine (Versorgungs-)Praktik erfordert, zu übergreifen. Dabei werden auch Versuche unternommen, Diskretion herzustellen. Si­ tuationen, in denen so verstandene ‚Würde‘ nicht gewahrt oder hergestellt werden kann, werden als belastend wahrgenommen, was nicht mit dem Organisationsauftrag, sondern empathisch begründet wird: So antizipiert beispielsweise eine Auszubildende Situationen als ‚unangenehm für beide‘, in denen die so verstandene Privatsphäre der Bewohnenden nicht einge­ halten werden kann (z. B. wenn vom Gang aus beim Waschen zugesehen werden kann). Sie beschreibt, wie sie sich bei ihrer Wahrnehmung nach kommunikationslosen Bewohnenden für Handlungen entschuldigt, die sie selbst nicht wollen würde. Zugleich zeigt sich das Sprechen über Bewoh­ nende in deren Beisein ein wesentlicher und selbstverständlicher Aspekt der Kommunikationsordnung des Pflegeheims. Häufig werden beispiels­ weise gesundheitliche Veränderungen, Veränderungen im Verdauungsap­ parat oder Verhaltensweisen, Vorlieben der Bewohnenden etc. in deren 131

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Beisein an Dritte kommuniziert, ohne die Bewohnenden selbst zu adressie­ ren und in die Interaktionen einzubeziehen. Im Hinblick auf Identität sind diese Beispiele dahingehend interessant, als dass unter Zuhilfenahme und der Konstruktion von Wissensbeständen darüber, was ‚würdige‘ Praktiken kennzeichnet, eine ‚kollektive Bewoh­ ner*innenidentität‘ konstruiert wird. Darüber hinaus adressieren Andere Bewohner*innen als Person, um deren Würde sie sich sorgen. Dadurch treten Bewohnende einerseits durch bestimmte Klassifizierungen als indi­ viduelle Person zurück, zugleich werden sie als Jemand im Sinne einer individuellen Merkmalskonstellation begriffen. Schließlich wird in würde­ bezogenen kommunikativen Akten Anderer an den jeweiligen sozialen Identitäten der Bewohnenden ‚gebastelt‘, wobei darüber hinaus der Ver­ such unternommen wird, eine personale Identität zu projizieren. Dies pas­ siert wie beschrieben beiläufig in alltäglichen Vollzügen kommunikativen Handelns oder konkret in Praktiken wie jenen der Biografiearbeit oder der täglichen Aktendokumentation, wodurch Akten zu einem zentralen Instrument zur Identitätskommunikation und -konstruktion werden – ins­ besondere dann, wenn Bewohnende in ihrer kommunikativen Ausdrucks­ fähigkeit eingeschränkt sind. Auch wenn manche Bewohnende kaum merklich selbst an Situationen beteiligt sind bzw. als Akteure hervortreten, scheinen würdezentrierte Annahmen darüber, was ein Mensch braucht das Handeln in Bezug auf Bewohnende zu strukturieren. Auf diese Weise werden über Einzelsituationen hinaus an Identitäten konstruiert, die um Konzepte von Würde herum strukturiert und bemessen werden. Diese sind auch anschlussfähig für weitere Andere (d. h. z. B. neue Praktikan­ ten, Personal etc.) ist. Der folgende Audiomitschnitt verdeutlicht diesen Aspekt. Eine Mitarbeiterin der Pflegeeinrichtung (Julia) reicht einer in fortgeschrittenem Stadium dementen Bewohnerin (Frau Arnold) das Mit­ tagessen an und unterhält sich dabei mit der Ethnografin, als eine weitere Beschäftigte (Nicole) in das Zimmer der Bewohnerin tritt: Ethnografin: Wir unterhalten uns gerade über Menschenwürde und dies das. Nicole: Die Menschenwürde ist schon ganz wichtig. Ethnografin: Und auch ein schwieriges Thema. Ja. Nicole: Dann schauen wir. Also wenn wir schon bei der Menschen­ würde sind, dann schalten wir eigentlich den Fernseher ab. ((Nicole schaltet den Fernseher mit der Fernbedienung aus.)) Ethnografin: @(.)@ Aber vielleicht mag Frau Arnold den Fernseher. Nicole: Beim Mittagessen nicht. beim Mittagessen sollte eigentlich kein Fernseher laufen. /mhm/ Wenn du allein bis nicht, weil eigentlich. 132

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und dann (.) setzen wir die Brille nach hinten, ((Nicole setzt Frau Arnold die schief sitzende Brille gerade auf die Nase und schiebt sie hoch)) das ist nämlich auch Menschenwürde. Frau Arnold: ((unverständliches Gemurmel)) Nicole: Dass es würdig ist. Dass die Brille nach hinten kommt. Gell Frau Arnold, jetzt lass es dir schmecken. Hier sieht man, wie eine Bewohnerin in eine kommunikative Handlung eingebunden wird, sogar in gewisser Weise ins Zentrum des Geschehens rückt, wobei ihr eigener Ausdruck (der unverständliche Laut) nicht kom­ munikativ aufgegriffen wird, sondern vielmehr Andere um sie verhandeln und beanspruchen zu wissen, was das zugrundeliegende Handlungspro­ blem von Frau Arnold sei bzw. ihr in der Situation ‚Würde‘ gäbe. Die per­ sönliche Ansprache erfolgt ohne Abwarten einer Antwort. Obwohl Frau Arnold, deren körperliche Regungen sich weitestgehend auf ein seltenes Augen sowie Mund öffnen und schließen beschränkt, in dieser Situation weitestgehend durch Andere definiert wird, wird ‚Frau Arnold‘ auf diese Weise durch diese auch als Jemand in die Situation hineingeholt: Eine Ansprache und kommunikative Vergegenwärtigung ihrer Person, die ohne das kommunikative Handeln Anderer ausbleiben würde. Diese Sequenz gibt jedoch noch keinen Aufschluss über die zugrunde­ liegende Motivation, die Andere dazu antreibt, für ein Gegenüber Identität ausdrücken und herstellen zu wollen: Die in der abgebildeten Sequenz über Frau Arnold getroffenen Annahmen lassen sich einerseits auf die feldimmanenten Grundsätze von als fürsorglich und ‚würdig‘ verstande­ nen Pflegepraktiken zurückführen. Andererseits verweisen viele der erleb­ ten Alltagsausschnitte und Gespräche darauf, dass sich Pflegende in der Interaktion mit zu Pflegenden selbst ‚als Mensch‘ berührt fühlen. Da sie sich ‚als Mensch‘ einem Menschen gegenübersehen, scheinen sie das, was diesen ihrer Meinung nach als Menschen – d. h. als Jemand – ausmacht, auch aus eigener Motivation hervorbringen zu wollen. Diese Eigenmotiva­ tion, als Mensch einem Menschen begegnen zu wollen, findet etwa darin Ausdruck, dass sich Pflegende bei Bewohnenden, von denen sie nicht an­ nehmen, dass diese sie hören können, nach als unangemessen reflektierten Handlungen entschuldigen. Referenz dieser Bewertungen sind dabei sie selbst im Sinne eines ‚ich geh da immer von mir aus‘ oder empathische Perspektivübername im Sinnes eines ‚man muss sich in sie hineinverset­ zen‘. Auch Aussagen, dass Pflegende trotz Zeitdruck den Anspruch an sich stellen, in der Interaktion mit den Bewohnenden ‚ganz bei einem Men­ schen sein‘, um ‚abends noch in den Spiegel schauen zu können‘, oder dass 133

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man den Pflegeberuf ‚mit dem Herzen machen müsse‘, bekräftigen diese Annahme. Darüber hinaus beschreiben viele Pflegende, dass sie mitunter tiefe Bindungen zu Bewohnenden aufbauen, die sogar so weit gehen, dass sie sich zu Sterbenden ins Bett legen oder außervertragliche Fürsorgeprak­ tiken – wie etwa das Erledigen von Einkäufen, Boten- oder Geleitdiensten – ausüben. Auch persönliche Geschenke an Bewohnende oder private Verabredungen mit diesen zeigen, dass viele der mitunter geschaffenen Verbindungen ein rein formales Verhältnis überschreiten. Der Anspruch der Einrichtung, ein ‚zu Hause‘ für die Bewohnenden zu schaffen, kann vor dem Hintergrund derart gedeutet werden, als dass das Personal zur Erfüllung dieses Institutionsziels auch informelle Interaktionsräume und Beziehungen hervorbringt, die ihrerseits zur Erfüllung formaler Organi­ sationsziele beitragen. Diese koexistieren neben formalen (etwa Pflege-, Betreuungs-, Dokumentations- oder Verwaltungs-)Praktiken bzw. sind mit diesen verflochten und weichen auf diese Weise sterile Formalität durch Beziehung und individualisierende Praktiken auf. Auf Basis dieser Beobachtungen liest sich auch das folgende Beispiel als eine durch das Personal geschaffene Möglichkeit, einer sprach- und wei­ testgehend bewegungslosen Bewohnerin eine situative (Selbst-)Verortung zu ermöglichen, sie ins Zentrum eines Interaktionsfeldes zu rücken und sie darin zu unterstützen, sich als Jemand hervorzubringen: Nicole: Also wie jetzt Frau Feierabend zum Beispiel, das ist jetzt das beste Beispiel. […] weil die zum Beispiel weiß genau wir kommunizie­ ren, die kann sich auch nicht mitteilen, nur durch Mimik und Gestik. Und wenn ich jetzt sag wie ist es jetzt, magst du das oder geht das? Und dann zeigt sie das. Oder wie wertvoll das ist, wenn ich mit ihr fingerhakel […] und das ist ihre Wertschätzung. Und die hat trotzdem, obwohl dass sie im Bett liegt so viel Kraft, die hat wirklich Kraft. In der Situationsbeschreibung wird einerseits auf einen kommunikativen Handlungsvollzug verwiesen. Hier findet sie sich eine von Reichertz et al. (2020) gemachte Beobachtung wieder: Einerseits wird durch die Abstim­ mung innerhalb des Handlungsvollzugs eine soziale Ordnung geschaffen, die ihrerseits Handlungsorientierung ermöglicht (vgl. S. 229). Dabei stel­ len solche Momente typisierter und routinemäßiger Kommunikation im­ mer Momente der Entindividualisierung dar. Zugleich schaffen sie aber auch Seinsgewissheit: „Die beiden operieren gemeinsam und offensichtlich einvernehmlich. Ihre Handlungen komplettieren einander – sie ma­ chen etwas gemeinsam oder anders: ihre Körper bewegen sich miteinan­ der, wenn auch auf eigene Weise.“ (Ebd., S. 230) Das ‚Fingerhakeln‘ als Form nonverbaler Kommunikation und gemeinsames Handeln schafft 134

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Frau Feierabend aus Sicht der Betreuungskraft einen Moment der SelbstVergegenwärtigung; das Ziel des sozialen Handlungsvollzugs scheint zu sein, Frau Feierabend Hilfe zum Ausdruck und Spüren zu leisten. Auch dies kann einerseits als routinemäßiger Teil pflegerischer Praxis gedeutet werden. Andererseits kann die Szene vor dem Hintergrund des hier (nur exemplarisch) beschriebenen Felddiskurses als Wunsch gedeutet werden, wechselseitige Seinsgewissheit zu schaffen: Schließlich verweist das Perso­ nal immer wieder selbst darauf, dass man ‚als Mensch‘ da sei, mit ‚Men­ schen‘ arbeiten müsste und dass ‚jeder anders ist‘, die Menschen einem ‚ans Herz‘ wachsen. Am Ende scheint die Beziehung, welche die Bewoh­ nenden und Pflegenden jeweils verbindet (oder die von Pflegenden erlebt wird) entscheidend dafür zu sein, ob es diese Bereitschaft gibt oder wie weit sie reicht, für die Identität eines Gegenübers zu sorgen. Zugleich grei­ fen die in den Szenen Sprechenden aus vergangenen Situationen erwachse­ nes Wissen und soziale Ordnung auf, wodurch sie an der sozialen Identität von Frau Feierabend ohne deren Anwesenheit fortschreiben (– ebenso wie die Ethnografin mit dem Verfassen dieser Zeilen). Auf diese Weise wird Frau Feierabend als Jemand in den feldimmanenten Diskurs transportiert – wenn auch in höchstem Maße fremd gedeutet, kommuniziert und kon­ struiert. Es wird deutlich, wie ein an ‚Achten der Individualität‘ gekoppel­ tes ‚Würdeverständnis‘ in alltägliche Wissensbestände darüber, was ‚Mensch sein‘ bedeutet eingeschrieben ist und damit auch kommunikati­ ves Handeln strukturiert: Menschen schreiben nicht nur sich selbst, son­ dern auch Anderen das Recht auf eine eigene Identität zu. Kann ein Ge­ genüber seine Identität nicht in ‚normaler‘ Weise selbstständig zum Aus­ druck bringen, wird Identität zum Handlungsproblem der Anderen. 5 Fazit: Identität als Sorge der Anderen Einerseits verdeutlichen die dargestellten Beispiele eine identitätsbezogen hoch prekäre Situation, in der sich Bewohner*innen befinden. Frau Feier­ abend und Frau Arnold selbst setzen den Situationen wenig entgegen und treten nur durch nichtsprachliche Gesten (hier der Eindruck der Freude von Frau Feierabend, der bei Nicole entsteht) als Akteure (vgl. Pfadenhau­ er und Hitzler 2020, S. 289) in Erscheinung. Diese Verhaltensweisen wer­ den von Anderen nicht immer als Handeln gedeutet und/oder kommuni­ kativ aufgegriffen und berücksichtigt (z. B. Laute von Frau Arnold). Ande­ rerseits zeigt sich, dass Andere Sorge für die Identität der Bewohnenden tragen: Sie tun dies erstens, indem sie zur Selbstvergewisserung und zum Ausdruck von Identität aktivieren. Im Fingerhakeln wird die tonische Star­ 135

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re der Finger von Frau Feierabend aufgegriffen und durch die Betreuerin eine Situation geschaffen, in der sich Frau Feierabend selbst und in sozia­ ler Bezogenheit erfahren kann. Dadurch werden Andere zweitens zum Stellvertreter des Ausdrucks von Identität, wie bewohnerbezogene Prakti­ ken (das beschriebene Fingerhakeln, aber z. B. auch das Fahren eines Roll­ stuhls durch den Raum oder das Ankleiden von Bewohner*innen) verdeut­ lichen. Andere greifen zwar einerseits in die Territorien (vgl. Goffman 1982) der Bewohnenden ein, werden dabei aber andererseits zu deren leibkörperlichen Erweiterung. Andere handeln für sie, ermöglichen im Rah­ men dieser Verbindung aber auch Handeln und lassen sie als Jemand sichtbar werden. Drittens wird Identitätsarbeit durch Andere übernom­ men, wenn diese ein Gegenüber nicht (mehr) in der Lage sehen, diese ei­ genständig zu betreiben. Das wird insbesondere in Aktenarbeit und alltäg­ lichen Aussagen über Bewohnerinnen und Bewohner deutlichen. Inner­ halb des Feldes werden kommunikativ anschlussfähige und wirkmächtige Bilder von Identität konstruiert (z. B. durch die Attribuierung von Frau Feierabend als lustig), welche die betreffenden Bewohnenden repräsentie­ ren und an denen ‚weitergearbeitet‘ werden kann. Die beschriebenen Praktiken lassen sich einerseits auf feldimmanente Selbstverständnisse kulturell legitimierter Fürsorge zurückführen. Darüber hinaus verweisen sie auf ein grundlegend (spät-)modernes Identitätsver­ ständnis: Weil Menschen sich selbst als Jemanden mit einer Identität ver­ stehen, erwarten sie diese auch in einem Gegenüber. Man sucht Identität im Anderen und konstruiert diese notfalls selbst. Damit leisten Menschen nicht nur existenzielle Sorge um ihre eigene, sondern auch um die Identi­ tät eines Anderen. Literaturverzeichnis Bauman, Zygmund. 2009. Leben in der flüchtigen Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Beck, Ulrich. 1983. Jenseits von Klasse und Stand? Soziale Ungleichheit, gesell­ schaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer For­ mationen und Identitäten. In Soziale Ungleichheiten (Sonderband 2, Soziale Welt), Hrsg. Reinhard Kreckel. Göttingen: Schwartz. Beck, Ulrich. 2015. Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. 22. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. BmfFSFJ. 2007. Pflegedokumentation stationär. Das Handbuch für die Pflegeleitung. https://www.bmfsfj.de/resource/blob/79108/391791ec4d2bee12f694780cc5 95f845/handbuch-pflegedokumentation-data.pdf (Zugegriffen: 12. September 2022).

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Zeit sich Sorgen zu machen. Wahrnehmung und Deutungen des Hier und Jetzt unter Pfarrerinnen und Pfarrern Jonas vom Stein

1 Einleitung „Es ist nicht falsch, die heutige Lage unter […] fast durchweg negativen Aspekten zu sehen und zu beurteilen“ (WzM 1964, S. 208). Derart vernich­ tend fällt das Urteil eines Pfarrers aus Königswinter im Jahr 1964 über die Zeit aus, in der er seinen Beruf ausübt. Ein Kollege formuliert 1959 eine ähnliche Einschätzung zum Zustand der Christenheit: „Weisen nicht alle Zeichen auf die Entchristlichung der Welt und auf das Nahen der letzten Zeit? Ja, gewiß, genau wie in der ersten Christenheit“ (DtPfBl. 1959, S. 246). Die Lage scheint ernst – wenn nicht gar hoffnungslos zu sein. Die Wahrnehmungen, die hier formuliert werden, sind eindeutig defizitorientiert: die ‚heutige Lage‘ ist durchweg durch negative Aspekte geprägt und die Zeichen der Zeit weisen geradezu auf die Entchristlichung der Welt hin. Beide Zitate stammen aus Zeitschriften, in denen sich Pfarrerinnen und Pfarrer über ihren Beruf austauschen.1 Solche Zeitschriften bieten ein Forum, in dem unter Kolleginnen und Kollegen Wahrnehmungen und Deutungen der eigenen Gegenwart und Praxis ausgetauscht werden können. Sie stellen somit den Rahmen für einen pfarrberufsinternen Dis­ kurs.2 Der vorliegende Beitrag untersucht eben solche Wahrnehmungen und Deutungen näher und untersucht die Gründe für die hier vorliegende Defizitorientierung unter Evangelischen Pfarrerinnen und Pfarrern. Dabei wird bewusst auf Material aus den Transformationsprozessen der ‚langen

1 Im Verlauf des Untersuchungszeitraumes wurden in den meisten deutschen Lan­ deskirchen Frauen zum Pfarrdienst zugelassen. Doch bleiben Pfarrerinnen als Au­ torinnen die Ausnahme. 2 Im Rahmen dieses Beitrages ist es nicht näher möglich, auf den Diskursbegriff und die Methodik der Diskursanalyse einzugehen. Für diesen Beitrag und die oben erwähnte Dissertation war der Ansatz der wissenssoziologischen Diskursanalyse von Reiner Keller maßgeblich (vgl. Keller 2011).

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1960er Jahren‘ zurückgegriffen, deren historischer Ereigniszusammenhang in einem ersten Schritt kurz skizziert wird. Es folgt die Darstellung weite­ rer publizistischer Zeugnisse evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer.3 Mit Hilfe eines diskursanalytischen Vorgehens wird dann näher untersucht, welche Deutungsmuster sich im Material formieren und wie sich diese auswirken. Als eine Erklärung für die dominante Defizitorientierung wird der Pfarrberuf als sorgende Profession skizziert und abschließend einige Implikationen für die gegenwärtige pastoraltheologische und praktischtheologische Debatte formuliert. 2 Historischer Ereigniszusammenhang Die einleitenden Zitate stammen aus den ‚langen 1960er Jahren‘ also der Zeit zwischen 1958 und 1973, die disziplinübergreifend als „Phase tiefgrei­ fender Transformation“ betrachtet werden (Schildt 2007, S. 30ff.). In die­ sen Jahren entwickelte sich in Westdeutschland das, was man später als moderne Gesellschaft verstehen würde. Zusammenfassend sei hier von einer Vielzahl von Pluralisierungs- und Individualisierungsprozessen die Rede und damit von Ausdifferenzierungen und Vervielfältigung der Mög­ lichkeiten in der persönlichen Lebensführung. Kategorien wie Klasse, Kon­ fession und Milieu verloren ihre Integrationskraft und machten Platz für individuell gestaltete Lebensläufe (Großbölting 2018, S. 13). Insbesondere für Frauen entwickelte sich jenseits des Daseins als Hausfrau und Mutter die Möglichkeit auf ein Stück „eigenes Leben“ (Beck-Gernsheim 1983). Frank Biess formuliert zusammenfassend für die vielen wegweisenden Ver­ änderungen, die sich in diesen Jahren vollzogen: „Die Zukunft der Bun­ desrepublik begann zwischen den späten 1950er und den frühen 1960er Jahren“ (Biess 2019, S. 157). Diese Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse in allen Berei­ chen der Lebensführung stellten auch die kirchliche Praxis vor neue He­ rausforderungen. In der kirchengeschichtlichen und kirchensoziologi­ schen Forschung besteht weitestgehend Einigkeit darüber, dass die langen 1960er Jahre einen gewichtigen Einschnitt darstellen, bisweilen werden sie 3 Als Material dienen die Zeitschriften Deutsches Pfarrerblatt und Wege zu Men­ schen. Beide Zeitschriften zeichnen sich dadurch aus, dass sie keiner theologischen oder (kirchen)politischen Richtung zugeordnet werden können und daher für die gesamte Pfarrer*innenschaft als repräsentativ gelten können. Ebenso zeichnen sie sich durch viele Beiträge und Zuschriften von Pfarrerinnen und Pfarrern an der Basis aus.

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sogar mit der Zäsur des Reformationszeitalters verglichen (McLeod 2007, S. 1). Innerhalb der beiden großen Kirchen vollzogen sich zahlreiche Neu­ orientierung, um auf eine sich verändernde Umwelt zu reagieren. Viele der Umbrüche der langen 1960er Jahre prägen die kirchliche Praxis bis heute.4 Für die beiden großen christlichen Kirchen und ihre Vertreterinnen und Vertreter waren die langen 1960er Jahre nicht nur eine Phase der Transformation, sondern zweifelsohne auch der Erosion. Die beiden gro­ ßen Kirchen verloren auf vielen Ebenen des gesamtgesellschaftlichen Dis­ kurses ihre zuvor dominante Position und wurde so zunehmend zu einzel­ nen Stimmen unter vielen (vgl. Großbölting 2018, S. 118; Greschat 2010, S. 362) Scheinbar ‚über Nacht‘ stiegen die Kirchenaustrittszahlen in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre an (vgl. Gabriel 1992, S. 46). Die rasante Entwicklung dieser Jahre erschien umso dramatischer, weil sie auf die zu­ vor lang gehegte Hoffnung nach Rechristianisierung der Nachkriegsjahre und eine Phase zumindest oberflächlicher Stabilität und kirchlicher Brei­ tenwirkung und -geltung in Staat und Gesellschaft folgten (vgl. Großböl­ ting 2018, S. 177). Der gerade für Pfarrerinnen und Pfarrer deutlichste Ausdruck einer sich ändernden religiösen Praxis und einer sich verändern­ den Bedeutung der Kirchen in der Gesellschaft waren die Gottesdienstbe­ sucherzahlen. Besuchten 1963 noch 15 % der Protestanten nach Selbstaus­ sage regelmäßig den Gottesdienst, waren es 1973 nur noch 7 %.5 Die lan­ gen 1960er Jahre mit ihren vielfältigen Transformations- und auch Erosi­ onsprozessen boten für evangelische Pfarrerinnen und Pfarrer zahlreiche Anlässe sich Sorgen zu machen. 3 Wahrnehmungen und Deutungen unter Pfarrerinnen und Pfarrern Im gesamten Untersuchungszeitraum sind sich die Autorinnen und Auto­ ren des untersuchten Materials darüber im Klaren, dass man sich in einer Periode tiefgreifender Veränderungen befindet. Es ist von „Zeiten der Um­

4 Siehe dazu die beiden von der evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte herausgegebenen Aufsatzbände (vgl. Lepp et al. 2016; Hermle et al. 2007). 5 An dieser Stelle muss offen bleiben, inwieweit der Gottesdienstbesuch als sicherer und verlässlicher Indikator der Religiosität der Bevölkerung verwendet werden kann. Entscheidend ist, dass das Leerbleiben der gerade für Pfarrerinnen und Pfar­ rer eines der deutlichsten Zeichen zunehmender Entkirchlichung war (Pollack 2016, S. 42; Pollack 2017, S. 196ff.).

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wälzungen“ (DtPfBl. 1964, S. 491), Zeiten des „Umbruchs“ (DtPfBl. 1964, S. 491; DtPfBl. 1962, S. 588; DtPfBl. 1966, S. 186) oder von der „Revolutio­ nierung all unserer Lebensformen“ (DtPfBl. 1961, S. 130; DtPfBl. 1964, S. 469) die Rede. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf den Veränderungen der Arbeitswelt. Die bundesdeutsche Gesellschaft wird vor allem als eine „Industriegesellschaft“ (DtPfBl. 1961, S. 294; DtPfBl. 1962, S. 198; WzM 1965, S. 434; DtPfBl. 1967, S. 7; DtPfBl. 1970, S. 368; DtPfBl. 1973, S. 285) und „Leistungsgesellschaft“ (DtPfBl. 1967, S. 7; WzM 1971, S. 70; DtPfBl. 1973, S. 284) wahrgenommen, die sich insbesondere durch eine hohe Ge­ schwindigkeit auszeichnet: „Heute aber macht das Tempo des Berufes auch vor dem eigenen Heim nicht mehr Halt. Die Überflutung durch Rei­ ze wird nicht abgeschaltet. […] Wo hat der Mensch von heute noch eine wirkliche Wohnung?“ (WzM 1959, S. 113). Im Zuge der wahrgenomme­ nen Veränderungen wird insbesondere thematisiert, dass viele Dinge, die man wertschätzt, verloren gehen. In Wege zum Menschen beispielsweise wird 1964 für „unsere Zeit“ der „Verfall alles vorher gültigen, aller gesun­ den menschlichen Bindungen und Erscheinungsformen“ konstatiert (WzM 1964, S. 208). Das Resultat sei eine Moderne die heimatlos, orientie­ rungslos, richtungslos und letztlich hilflos ist (WzM 1959, S. 113; WzM 1965, S. 434; DtPfBl. 1959, S. 108; DtPfBl. 1961, S. 294; DtPfBl. 1968, S. 116; DtPfBl. 1964, S. 492; WzM 1969, S. 262; DtPfBl. 1968, S. 116). Ne­ ben dem Verlust von Bewährtem und Geschätztem ist es die vermeintliche Substanzlosigkeit der Moderne, welche wahrgenommen wird. Die zeitge­ nössische Kultur- und Medienlandschaft bringe zum Beispiel lediglich „Reizüberflutung“ hervor (WzM 1959, S. 113; WzM 1964, S. 209; DtPfBl. 1967, S. 594). Ein Pfarrer resümiert über den nicht zu leugnenden techni­ schen Fortschritt bei gleichzeitiger Geschichtsvergessenheit, dass eben die­ se eine kranke Gesellschaft hervorbringt: „Aber eine Gesellschaft ist sehr krank, die nur aus dem Heutigen lebt […], wenn auch ihre Taten bis zu den Sternen reichen“ (WzM 1961, S. 324). Diese und ähnliche defizitorientierte Wahrnehmungen und Deutungen der Moderne weisen über den ganzen Untersuchungszeitraum hin eine hohe Kontinuität auf. Im Diskurs lässt sich nur vereinzelt Kritik an dieser Wahrnehmung der Moderne fest­ stellen. Doch liegt auch dieser Kritik nicht etwa eine positive Deutung der Moderne zu Grunde, sondern lediglich der Wunsch, die Rede von einem ‚früher war alles besser‘ zu vermeiden. In der Wahrnehmung der Moderne taucht wiederholt das Klischeebild des ‚modernen Menschen‘ auf. Der moderne Mensch ist im Diskurs ein Mängelwesen, das stellvertretend für alle Defizite der Moderne steht. Ein Pfarrer fasst 1968 entsprechend zusammen: „Der Verlust des inneren Le­ bens hat den Verlust der persönlichen Freiheit und Souveränität zur Folge. 144

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So entwickeln sich jene unsicheren, den Verhältnissen ausgelieferten, ihr Los beklagenden Existenzen, denen wir unablässig begegnen und zu de­ nen wir möglicherweise selbst zählen“ (WzM 1968, S. 85). Die für Pfarrerinnen und Pfarrer eindrücklichste und dementsprechend auch ausführlich wahrgenommene und diskutierte Entwicklung der lan­ gen 1960er Jahre ist der Resonanz- und Relevanzverlust der großen Kir­ chen: „Immer wieder hört man und liest man, daß unsere Kirche oder der Protestantismus oder das Christentum überhaupt zur Zeit eine gewaltige Krise durchzumachen habe, bei der es ums Sein oder Nichtsein gehe“ (Dt­ PfBl. 1966, S. 40). Diese Entwicklung gilt als typisch für die Moderne. Im „harten Kampf der Glaubensüberzeugungen und Weltanschauungen“ (Dt­ PfBl. 1958, S. 77) oder auf dem „Markt der Weltanschauungen“ (DtPfBl. 1960, S. 194) setzten sich Wissenschaft und Technik durch: „Die Kennzei­ chen der heutigen Situation sind durchgehende Weltlichkeit, radikale Sä­ kularisierung, die technisierte, industrialisierte verweltlichte Lebensform, die Herrschaft der modernen Wissenschaft und Technik“ (WzM 1967, S. 470). Damit einher gehe auch ein Relevanzverlust für Pfarrerinnen und Pfarrer: „Geht der moderne Mensch mit seinen Komplexen und Nöten nicht erfahrungsgemäß zum Psychotherapeutischen anstatt zum Pfarrer?“ (WzM 1959, S. 102). Man geht dennoch von einem „unabweisbare[m] Be­ dürfnis nach ‚Religion‘“ in der Bevölkerung aus und nimmt ein großes In­ teresse am Thema Religion wahr, insbesondere an Meditation: „Das ist nicht Optimismus, der so spricht. Dieser Mensch von heute vertraut auf seine Technik, die ja alles kann: den Mond erobern und die eigene Welt in die Luft sprengen. Aber in sein Auto hängt er dann doch einen Talisman“ (DtPfBl. 1972, S. 676). Die Ablehnung der Kirche und ihrer Praxis habe weniger mit der Kir­ che selbst zu tun, sondern liegt in den Prozessen der Moderne und der Konstitution des modernen Menschen begründet. Das „harte Gesetz der Industrie“ sei verantwortlich. „Es entfremdet ihn – ohne daß er es merkt – sich selbst und seiner Kirche […]“ (DtPfBl. 1966, S. 320). Andere Posi­ tionen machen den Menschen der Moderne für die Erfolglosigkeit der ei­ genen Praxis verantwortlich: „Der Mensch hat sich selbst in die Lage des Nichtmehrverstehens hineinversetzt“ (DtPfBl. 1959, S. 156)6. Weil eben der „moderne Mensch“ in seinem „verwegene[n] Hochmut“ nur sich selbst als Mitte kenne, habe er keinen Zugang mehr zur Kirche. Kirchen­ austritte werden dementsprechend interpretiert: „Es wird heute kaum

6 Auch Wilfried Engemann schreibt dem Klischee des ‚modernen Menschen‘ eine „Entlastungs- bzw. Sündenbockfunktion zu“ (Engemann 2020, S. 450).

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einer aus offener Ablehnung des christlichen Glaubens – wenigstens in der Bundesrepublik – aus der Kirche austreten. Es erfolgen aber manche Aus­ tritte aus völliger Gleichgültigkeit der Kirche gegenüber, oder sie haben andere äußere Gründe: persönliche Verärgerung oder Einsparung der Kir­ chensteuer“ (DtPfBl. 1960, S. 447). Viele Beiträge sehen hingegen die Schuld bei der Kirche selbst, sie selbst ist ungenügend für die Moderne. Ein Beitrag im Pfarrerblatt fasst den gän­ gigen Inhalt der Kritik an der kirchlichen Praxis zusammen: „Über die ne­ gativen Erfahrungen mit der Kirche, die langweiligen Predigten, die unzu­ reichend vorbereiteten Religionsstunden, die abstoßenden Pastoren und die muffige Atmosphäre in den Jugendkreisen wird viel geredet“ (DtPfBl. 1965, S. 224). Nicht die Moderne oder eine vergleichbare Größe wird für das Scheitern kirchlicher Praxis verantwortlich gemacht, sondern die Kir­ che selbst habe „sich aus der Gesellschaft zurückgezogen und ist nicht mehr in der Lage, die Probleme der Zeit aufzunehmen“ (DtPfBl. 1967, S. 6). Diese und ähnliche wahrgenommene Defizite der kirchlichen Praxis werden von Pfarrerinnen und Pfarrern in erster Linie als ihr Problem ge­ deutet: „Man kann es ja heute in jeder Tageszeitung lesen und auf allen Akademietagungen hören, daß die Menschen von heute die Sprache der Kirche, d. h. doch in erster Linie: die Sprache des Mannes auf der Kanzel – nicht mehr verstehen“ (DtPfBl. 1959, S. 59). Pfarrerinnen und Pfarrer sind stets die ersten, die Relevanz- und Resonanzverlust vor Augen haben, er betrifft sie unmittelbar: „Nicht wenige Pastoren leiden geradezu physisch unter den leerer werdenden Kirchen“ (DtPfBl. 1969, S. 380). Die Reflexion eines Pfarrers aus dem Jahr 1959 verdeutlicht, dass diese unmittelbare Be­ troffenheit auch mit dem Gefühl von Verantwortung einhergeht: „Den­ noch muß ich mich bei jedem Kirchenaustritt, der mir begegnet, fragen: Was habe ich an euch versäumt?“ (DtPfBl. 1959, S. 1). Ein weiterer Beitrag fragt angesichts von Kirchenaustritten: „[O]b ich selbst irgendetwas falsch gemacht habe“ (DtPfBl. 1960, S. 102). 1958 resümiert ein Pfarrer im Pfarr­ erblatt, „daß ein großer Teil ‚Schuld‘ an all dem großen Manko in der Kir­ che und der Welt nicht zuletzt an uns Pfarrern liegt“ (DtPfBl. 1958, S. 224). Die einzig mögliche Reaktion auf die wahrgenommenen Defizite ist für viele Autorinnen und Autoren eine tiefgreifende Reform von Kirche und Pfarrberuf. In Wege zu Menschen liest man die drastische Einschätzung: „Und ich bin auch davon überzeugt, daß ohne revolutionäre Wendung in­ nerhalb der abendländischen Christenheit diese Christenheit ihre ge­ schichtliche Rolle ausgespielt hat“ (WzM 1959, S. 122–123). Die Notwen­ digkeit einer Reform der Kirche wird im gesamten Untersuchungszeit­ 146

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raum formuliert. Ohne Frage sei die Kirche reformbedürftig, sie brauche eine „Reformation an Haupt und Gliedern“ (DtPfBl. 1962, S. 35) und müs­ se den sich veränderten Bedingungen Rechnung tragen. Im weiteren Ver­ lauf des Diskurses werden die Formulierungen drastischer. 1965 liest man in einem Beitrag: „Es ist fünf Minuten nach Zwölf“ (DtPfBl. 1965, S. 671). 4 Deutungsmuster Die verschiedenen Diskursstränge übergreifend und für den gesamten Un­ tersuchungszeitraum lässt sich eine dezidiert negative Wahrnehmung von beinahe allem, was sich diesseits und jenseits der Kirchenmauern vollzieht, feststellen. Der überwiegende Teil der negativen Deutungen wird in einer allgemeinen Bezugnahme zu ‚der Moderne‘, ‚der Welt‘ oder ‚dieser Zeit‘ for­ muliert. Ähnlich wird auch über die Kirche häufig verallgemeinert gespro­ chen. Die Kirche sei in ihrer Praxis unzulänglich, nicht etwa nur spezifische, konkret identifizierbare Praxisfelder. Die negative Konnotation die­ ser übergeordneten Bezugsgrößen blendet positive Wahrnehmungen und Deutungen im Kleinen, beispielsweise in der eigenen Berufspraxis, syste­ matisch aus (vgl. Lakoff und Johnson 2008, S. 188ff.). Auffällig ist, dass die Mängel der Kirche im Kontrast zu ihrem vergange­ nen Zustand wahrgenommen werden. Es ist häufig davon die Rede, was die Kirche nicht mehr leistet und nicht mehr ist. Im Vergleich zu einer zumeist nicht näher spezifizierten Vergangenheit gilt die Kirche nur noch als ein Schatten ihrer selbst. Für Pfarrerinnen und Pfarrer bedeutet dies eine stetige Abwertung der eigenen Praxis, im Diskurs stehen Muster der Wertschätzung kaum zur Verfügung. In den dargestellten Deutungsmustern, welche Welt, Kirche und den Pfarrberuf als überwiegend defizitär deuten, findet sich ein gemeinsames Element. Die vordergründigen Errungenschaften und die oberflächliche Erscheinung dieser Größen werden in ihrem positiven Zustand nicht ge­ leugnet, aber angesichts der eklatanten Mängel der Substanz gelten sie als bedeutungslos. So wird beispielsweise eingestanden, dass ohne Frage in der Moderne materieller Wohlstand herrscht und der technische Fort­ schritt nicht zu leugnen ist, aber für die eigentlichen und entscheidenden Werte wird dennoch ein eklatanter Mangel in jeder Hinsicht wahrgenom­ men. Analog dazu wird auch nicht bestritten, dass der ‚moderne Mensch‘ viel besitzt, aber er ist innerlich leer und verloren. Nach der Bewertung im Material erfreut sich die evangelische Kirche in der Bundesrepublik zwar zahlreicher Privilegien, aber sie verliert auch zunehmend an Resonanz. Besonders in den frühen Jahrgängen findet sich die Deutung, welche 147

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die religiöse Praxis eines überwiegenden Teils der Kirchenmitglieder als ‚Scheinchristentum‘ abwertet. Es handele sich nicht um wirkliche, um ‚echte‘ Christen, auch wenn sie ab und zu in die Kirche gingen. Es legt sich angesichts dessen der Eindruck nahe, dass Welt, Kirche und Pfarrberuf nur unter dem Blickwinkel einer Hermeneutik des Verdachts betrachtet werden. Defizite werden geradezu gesucht. Positives wird hingegen konse­ quent ausgeblendet. Im Diskurs entsteht so für die Wahrnehmungen und Deutungen der eigenen Gegenwart eine Eigendynamik: Für das Hier und Jetzt stehen sowohl in Bezug zur Welt als auch in Bezug zur Kirche beinahe ausschließ­ lich defizitorientierte Deutungsmuster zur Verfügung. Gegenläufige Wahr­ nehmungen werden ausgeblendet und es entsteht das Gesamtbild einer zutiefst verlorenen modernen Welt und einer in jeder Hinsicht zum Schei­ tern verurteilten Kirche. Diese Deutungsmuster stellen den Rahmen für die Wahrnehmung und Deutung der eigenen Praxis. Es überrascht daher kaum, dass die zahlreichen Aufbrüche und Neuanfänge im deutschen Pro­ testantismus, welche ebenso für die langen 1960er Jahre typisch sind, im Material kaum als solche wahrgenommen werden. 5 Der Pfarrberuf als sorgende Profession Die im Material erhobenen Deutungen sind keine Seltenheit im westdeut­ schen Protestantismus. Sie decken sich in weiten Teilen mit einem typi­ schen Kulturpessimismus (vgl. Großbölting 2018, S. 30–31; Jähnichen 2016; Neumaier 2016). Sie decken sich außerdem mit dem, was für die ge­ samte bundesdeutsche Gesellschaft als „moderne Ängste“ zu beschreiben ist (Biess 2019, S. 159ff.). Warum gerade Pfarrerinnen und Pfarrer zu über­ wiegenden defizitorientierten Wahrnehmung tendieren, lässt sich unter anderem aus ihrem Beruf selber erklären: Der Pfarrberuf ist eine sorgende Profession und neigt daher zur Defizitorientierung. Für den Pfarrberuf bezeichnend ist, dass er für andere sorgt, dass er we­ sentlich durch helfende Handlungen bestimmt ist.7 Schon Martin Luther formulierte: „Wenn ich ein Diener des Wortes bin, dann predige ich, trös­ te die Kleinmütigen und spende die Sakramente“ (Luther 1987, S. 27). Pfarrerinnen und Pfarrer als Dienerinnen und Diener des Wortes kommu­ nizieren nicht nur das Evangelium, sondern trösten auch die Kleinmüti­

7 Nach Hegel wird hier Helfen als „Handeln zum Wohl des Anderen“ verstanden (Hegel 1996, S. 125–126).

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gen. Helfen oder das Sorgen für andere ist eine wichtige Motivation für den Pfarrberuf, wenn auch bei weitem nicht die einzige. So verstehen Pfar­ rerinnen und Pfarrer Formen von Sorge wie beispielsweise Begleitung oder Seelsorge als eine ihrer primären Aufgaben (Schendel 2017, S. 73; Klessmann 2012, S. 95). Konflikte entstehen insbesondere da, wo sich die­ ser Selbstanspruch nicht mit dem tatsächlichen Arbeitsalltag deckt, wenn beispielsweise mehr Zeit und Energie für organisatorische Aufgaben einge­ setzt werden müssen. Wenn der Pfarrberuf als helfender oder sorgender Beruf zu bezeichnen ist, dann stellen sich für ihn auch die typischen Herausforderungen im Hinblick auf den Hang zur Defizitorientierung. Christian Morgenthaler formuliert für den Pfarrberuf und andere helfende Berufe gleichermaßen: „Weit verbreitet ist in Psychologie, Psychotherapie und Seelsorge ein pro­ blemorientierter Blick auf Menschen, die Hilfe suchen. Bereits die Tatsa­ che, dass sie Hilfe suchen, macht sie verdächtig, lässt nach Schwierigkeiten fragen, die sie offenbar nicht bewältigen“. Und weiter: „Diese Perspektive ist so geläufig, dass sie meist gar nicht mehr als eine Wahrnehmungsper­ spektive unter anderen gesehen wird“ (Morgenthaler 2009, S. 94). In der praktisch theologischen Diskussion der Gegenwart ist weitest­ gehend unumstritten, dass es für erfolgreiche pfarrberufliche Praxis von entscheidender Bedeutung ist, um die Lebenswirklichkeit der Menschen zu wissen, die einem in jener Praxis begegnen. Pfarrerinnen und Pfarrer müssen Bescheid wissen über die Welt, in der ihre Gemeinden leben. Es ist demnach unabdinglich in der Vorbereitung für die Predigt, die konkrete ‚homiletische Situation‘ zu klären. Dazu gehören auf der einen Seite die genaue Kenntnis der Gemeinde, ihrer demografische Struktur, ihrer theologischen Prägung sowie ihrer spirituellen Ausrichtung, aber eben auch aktuelle Ereignisse, politische und gesellschaftliche Themen und ihre Wirkung auf die Hörer, die sogenannte „homiletischen Großwet­ terlage“ (Lange 1976, S. 19; Engemann 2020, S. 361ff.). Nicht selten wird auch hier der Fokus auf Defizite, Gefährdungen und Verletzlichkeit gelegt. Bewaffnete Konflikte, gesellschaftliche Zerrissenheit und Mitglieder­ schwund der Kirche sind wiederkehrende Motive in der homiletischen Praxis der Moderne. So wird Sorge zu einem methodischen Schritt in der Predigtvorbereitung. Bezeichnenderweise gehören für Ernst Lange „Ängs­ te, Hoffnungen, Resignation, das Gefühl der Ohnmacht gegenüber den großen gesellschaftlichen Prozessen“ zur homiletischen Großwetterlage (Lange 1976, S. 38). Auch in der Poimenik wird gegenwärtig betont, dass es für Seelsorgerin­ nen und Seelsorger unabdinglich ist, auch die gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu kennen und sie im Vollzug von Seelsorge einzu­ 149

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beziehen (Karle 1996, S. 206ff.). Dies kann ebenso zu einer defizitorientierten Perspektive auf Gesellschaft und moderne Lebenswelt führen. So zählt Michael Klessmann bezeichnenderweise „Orientierungslosigkeit“ und „Desintegrationsängste“ als erstes zu den „gegenwärtigen Lebenskontex­ ten“ (Klessmann 2015, S. 12). Wenn der Pfarrberuf also als sorgende Profession beschrieben wird, dann ist demnach nicht nur daran zu denken, dass Pfarrerinnen und Pfar­ rer – was auf der Hand liegt – sich um andere kümmern, sondern dass sie durch ihren Beruf einen spezifischen Zugang zur Welt einüben, der zur Defizitorientierung neigt. Christoph Meyns hat aus der Forschung zu NonProfit Organisationen den Schluss gezogen, dass „Experten für das brüchi­ ge Leben“ Gefahr laufen, selbst in eine Selbstabwertungsspirale zu geraten: „Wer dicht an Übergängen und Grenzen arbeitet und wer seine berufliche Karriere der Bewältigung von Tod, Schuld, individuellen und kollektiven Katastrophen sowie der Unterstützung schwacher, benachteiligter und dis­ kriminierter Menschen widmet, sieht auch bei seinen eigenen Aktivitäten eher die Fehler als die Erfolge“ (Meyns 2013, S. 99). 6 Implikationen Es bietet sich an, aus den Diskursen der langen 1960er Jahre Implikatio­ nen für gegenwärtige Diskurse zu formulieren. Pfarrberuf und Kirche se­ hen sich durchaus ähnlichen Herausforderungen gegenüber, auch für die Gegenwart lassen sich Resonanz- und Relevanzverlust ebenso als Heraus­ forderungen benennen wie fortlaufende Pluralisierung und Individualisie­ rungsprozesse. Historische Untersuchungen liefern in der gegenwärtigen Debatte immer noch neue Impulse.8 Beim Blick in die gegenwärtige praktisch-theologische Literatur fällt auf, dass insbesondere jene Gesellschaftstheorien und soziologischen An­ sätze rezipiert werden, die den Fokus auf den Eigencharakter individueller Lebenswege und Lebensbezüge und damit auch der Religiosität richten (vgl. Berger 1980; Kunstmann 1997; Reckwitz 2017). Im Gegensatz zum historischen Material werden zumindest auf der Ebene der praktisch-theo­ 8 Siehe für einen vergleichbaren Ansatz zum Beispiel Detlef Pollack, der an die Dis­ kussion verschiedener Erklärungsmodelle für den religiösen Traditionsabbruch der langen 1960er Jahre anschließt und konkrete „Vorschläge für kirchliches Handeln“ daraus ableitet (Pollack 2017, S. 210ff.). Birgit Weyel versteht „[h]istorische Rekon­ struktionen“ als eine „Wahrnehmungshilfe“ für gegenwärtige Debatten (Weyel 2015, S. 12).

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logischen Forschung Klischees und Pauschalurteile reflektiert. Wilfried En­ gemann setzt sich beispielsweise mit dem im Material häufig vorkommen­ den Klischee des „modernen Menschen“ aus homiletischer Perspektive auseinander (Engemann 1996, insb. S. 450). Doch zeigen sich in anderen Diskursen der Gegenwart ähnlich proble­ matische Deutungsmuster, wie im untersuchten Material. So macht bei­ spielsweise Florian Höhne hinsichtlich des gegenwärtigen kirchlichen Dis­ kurses zur Digitalisierung darauf aufmerksam, dass kontinuierlich wieder­ holte und negativ konnotierte Narrative wie das der ‚Filterblase‘ oder das des ‚Turmbaus-zu-Babel‘ für eine sachliche Auseinandersetzung keines­ wegs förderlich sind (vgl. Höhne 2019). Vielmehr schränken solche Nega­ tivdeutungen den Blick ein und verbauen so auch den Blick auf Lösungs­ wege. Höhne resümiert: „Pragmatisch wirken der Fokus auf der Problem­ wahrnehmung und die im Vagen verbleibende Beschreibung des Krisen­ haften kaum handlungsfördernd“ (Höhne 2019, S. 36). Es wäre für kirchli­ che Diskurse auf allen Ebenen eine Bereicherung über verwendete Seman­ tik, Narrative und Deutungsmuster zu reflektieren.9 In der Praktischen Theologie besteht ebenso weiterhin ein Fokus auf Defizite und Gefährdungen. Wenn Ulrike Wagner-Rau im Anschluss an Henning Luther die Praktische Theologie als „Schwellenkunde“ versteht, so ist damit ein zentraler Auftrag der praktischen Theologie und damit auch der pfarrberuflichen Praxis benannt (vgl. Wagner-Rau 2002). Die für den Ansatz konstitutiven Schwellen werden vor allem als „Krisenerfahrung“ verstanden (ebd., S. 179). Eine ähnliche Perspektive samt Fokus auf das Krisenhafte liegt bereits bei Henning Luther vor, an den Wagner-Rau anknüpft: „Mir scheint aber, daß der Praktischen Theologie der sichere Ort der Mitte verwehrt ist. Die Mitte der Praktischen Theologie – das, worum es ihr in allem, was sie treibt, letztlich geht – ist nichts anderes […] als die Bearbeitung der Erfah­ rung von Grenze oder von Grenzen“ (Luther 1992, S. 45). Auch in der Reflexion individueller Lebensgeschichten empfiehlt es sich, defizitorientierte Deutungsmuster zu hinterfragen. Die Wahrnehmung und Gestaltung erfreulicher Wendepunkte des Lebens sollte auch als integraler Bestandteil pastoralen Handelns gesehen werden. Es wäre eine Bereicherung für die Kommunikation des Evangeliums, wenn der Fokus nicht nur auf dem Krisenhaften läge, sondern vermehrt auch Sprachformen für gelingendes Leben gefunden würden. Menschen erleben sich nicht ausschließlich als Gefährdete und Verletzliche, sondern auch „als Menschen, denen vieles

9 Erste Ansätze zu solchen semantischen Untersuchungen finden sich bereits in der Praktischen Theologie (vgl. u. a. Altmeyer 2021; Pohl-Patalong 2006).

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gelingt, die zu viel Gutem in der Lage sind, die dankbar auf ihr Leben zurückschauen“ (Karle 2020, S. 240). Es muss Raum bleiben für Momente der Sorglosigkeit, in denen das Geborgensein als Geschöpf und das Vertrau­ en auf Gott den Vorzug erhalten vor den Sorgen der Welt und des eigenen Lebens (vgl. Karle 2019, S. 27). In der Poimenik wird sogar bisweilen das bewusste Transzendieren der eigenen Sorgen als wichtiger Schritt hin zu neuen Perspektiven verstanden (vgl. Eschmann 1998). Auch Diskurse zum Zustand von Kirche und Pfarrberuf könnten von einem Nachdenken über Deutungsmuster profitieren. Es ist wichtig und richtig zu reflektieren, dass sich die Kirche und damit auch der Pfarrberuf in einer Phase elementarer Veränderung befinden. Zugleich blendet aber die Reduzierung aller Formen kirchlichen Lebens und pfarrberuflicher Praxis auf eine irgendwie geartete Krise systematisch gegenläufige Erfah­ rungen aus. Es ist fraglich, ob ein einseitiger Fokus auf Niedergang und Bedeutungsverlust für innerkirchliche Diskurse produktiv ist. In der prak­ tisch-theologischen Forschung gibt es zahlreiche Beiträge, die jenseits der Wahrnehmung von Niedergang und Bedeutungsverlust auch Chancen für kirchliche und pfarrberufliche Praxis sehen und benennen (vgl. Karle 2020, S. 71; Beckmeyer und Mulia 2021). Kirchliche Diskurse des 21. Jahr­ hunderts könnten davon profitieren, wenn Deutungsmuster unter dem Gesichtspunkt der Defizitorientierung auch kritisch reflektiert und einge­ ordnet werden. Karl E. Weick hat bereits beschrieben, welchen Anteil Organisationen an der Entwicklung und vor allem Aufrechterhaltung von Deutungs- und Handlungsmuster haben (vgl. Weick 1995). Er formuliert ganz konkret zu Sorge: „Die Umwelt, über die sich die Organisation Sorgen macht, ist durch die Organisation aufgebaut worden“ (ebd., S. 220). Die Krise, in der sich die evangelische Kirche befindet, konstituiert sich auch durch ihre ei­ genen Deutungsmuster, sie liegt nicht einfach objektiv vor. Für die Orga­ nisation Kirche, aber auch Presbyterien und Pfarrerschaft, wäre zu fragen, wie sie solche Muster reproduzieren und wie diese Prozesse gegebenenfalls zu verändern wären. Die Sensibilität des Christentums für Gefährdungen und Vulnerabilitä­ ten ist eine wertvolle und entscheidende Ressource auch für den Pfarrbe­ ruf. Sie ist Bedingung gelingender Fürsorge. Es kann also nicht darum gehen, die Sensibilität für Gefährdungen und Verletzlichkeiten zu vernei­ nen. Fruchtbar wäre aber sowohl für den innerkirchlichen Diskurs als auch für den Vollzug pfarrberuflicher Praxis eine Reflexion der eigenen Deutungsmuster. Das Bewusstsein, dass der Pfarrberuf und in erweitertem Sinne sicherlich auch die gesamte evangelische Kirche zur Defizitorientierung neigen, kann dabei einen entscheidenden Dienst leisten. 152

Zeit sich Sorgen zu machen. Wahrnehmung und Deutungen des Hier und Jetzt

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Ambivalenzen zwischen einer Freiheit von und einer Freiheit zu in Zeiten der Sorge Melanie Bitzer

1 Freiheit und Sorge – eine zeitdiagnostische Einordnung Die Idee der Moderne ist geprägt von der Idee eines freiheitlichen Indivi­ duums. Jedoch ist die Vorstellung eines als frei begriffenen Individuums, die mit Beginn der Aufklärung einsetzt und sich im Verlauf der Moderne fortschreibt und verfestigt, bereits in ihren Grundfesten ambivalent (vgl. Beck 1986, S. 211): Diese Ambivalenz drückt sich im Widerspruch zwi­ schen dem Recht auf Individualität und den sozialen Bedingungen aus, die Individualität kontrollieren, behindern oder auch ermöglichen können (vgl. Bauman 2003, S. 50). Zu konstatieren ist, dass Individualisierung und personale Freiheit eng miteinander verbunden sind (vgl. Rössler 2017, S. 33). In Zeiten der Sorge, in denen Individuen in eine ungewisse, unsichere Zukunft blicken und versuchen, Sicherheit durch regulierende Maßnahmen zu erlangen, um ge­ genwärtige Zukunftsbezüge zu ermöglichen, führt dieser Konnex schnell zu Konflikten (vgl. Henkel 2016, S. 37). Dadurch baut sich ein Spannungs­ dreieck aus individuellen Werthaltungen bzw. Strebungen, divergierenden Freiheitsverständnissen und einer Sorge um auf. In einer solchen Heuristik wird Sorge als gegenwärtiger Zukunftsbezug zwischen einem sorgenden Selbst und einem ‚Worum‘ der Sorge bestimmt (vgl. Henkel et al. 2023, S. 30). Häufig ist das, um was sich ein Selbst sorgt, gefärbt von individuellen Werthaltungen. Die Beziehung zwischen dem sorgenden Selbst und dem ‚Worum‘ der Sorge schränkt Freiheitsoptionen ein, bzw. die Freiheit der einen kollidiert mit der Freiheit der anderen (vgl. Berlin 1995, S. 204). Situative Beispiele für ein solches Spannungsdreieck sind zum einen die seit drei Jahren währende Corona-Pandemie und zum anderen die aktuelle Kriegssituation zwischen Russland und der Ukraine. Gegenwärtig blicken viele Bürger:innen aus Deutschland sorgenvoll in die kommenden Herbst- und Wintermonate, weil eine Gasunterversorgung droht. Andere vergleichbare disruptive Zeiten waren die Wende in Deutschland nach dem Mauerfall, die Ölkrise der 1970er Jahre oder die Kriegs- und Nach­ kriegszeiten in Europa. Krisen wie diese können als Zeiten der Sorge 157

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klassifiziert werden, weil sie gegenwärtig erlebt werden und gleichzeitig sich einschneidende Konsequenzen in der Zukunft abzeichnen. In solchen Sorge-Situationen treffen unterschiedliche Freiheitsverständnisse und indi­ viduelle Entscheidungen oft spannungsgeladen aufeinander. Für Zeiten der Sorge lohnt es, sich mit dem Freiheitsbegriff auseinan­ derzusetzen und zu fragen, wie Freiheit und eine Sorge um zusammenhän­ gen. Um dieser Frage nachzugehen, eignet sich insbesondere ein Blick auf den Freiheitsbegriff nach Erich Fromm. In Die Furcht vor der Freiheit (1941) setzt er sich zentral mit den Begriffen der negativen und positiven Freiheit auseinander, um das Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit, das mit einer Sorge um korreliert, aus einer sozialpsychologischen Perspektive zu beleuchten. Insbesondere interessieren ihn in Zeiten disruptiver Verände­ rungen, wie „in bestimmte Formen geprägte Energien des Menschen ihrer­ seits zu Produktivkräften werden, welche den gesellschaftlichen Prozeß formen“ (Fromm 2021a, S. 16). Mit dem Frommschen Freiheitsbegriff lässt sich nachvollziehen, dass Individuen nicht isoliert zu verstehen sind, sondern immer bezogen auf sich selbst, andere und auf ein gesellschaftliches Kol­ lektiv (vgl. ebd., S. 15). Hieraus leitet sich die These ab, dass positive und negative Freiheit und die beiden Formen der Sorge – Sich-Kümmern-um als aktive Praxis und des In-Sorge-Seins als Zustand – miteinander korrelie­ ren. Fromm beschäftigt sich zeitlebens intensiv mit Fragen des freiheitlichen Selbsterlebens von Individuen im Verhältnis zu einem gesellschaftlichen Kollektiv. Gleichzeitig interessiert ihn, wie sich das Selbst von einem in Abhängigkeit definierten Leben emanzipiert und dabei gesellschaftliche Individualität wagt (vgl. Funk 2018, S. 300). Im Folgenden werden seine Perspektive und sein Verständnis von Freiheit ausgebreitet. Zunächst er­ folgt hierzu eine Erläuterung seiner Freiheitsbegriffe von positiver und ne­ gativer Freiheit (Abschnitt 2). Sodann werden Verknüpfungen zwischen seiner Theorie des Sozialcharakters in Zeiten der Sorge hergestellt (Ab­ schnitt 3). Daraus folgt, inwiefern der positive Freiheitsbegriff eines sor­ genden Selbst hinsichtlich einer aktiven Praxis des Sich-Kümmerns zusam­ mengedacht werden kann und der negative Freiheitsbegriff mit einem Zu­ stand des In-Sorge-Seins in Wechselbeziehung steht (Abschnitt 4). Der Bei­ trag wird mit zusammenfassenden Folgerungen beendet (Abschnitt 5). 2 Anthropologie der Freiheit bei Erich Fromm In der Auseinandersetzung mit Sigmund Freuds Triebtheorie zeichnet Fromm eine Anthropologie der Freiheit in Die Furcht vor der Freiheit nach, 158

Ambivalenzen zwischen einer Freiheit von und einer Freiheit zu in Zeiten der Sorge

die Ausgangspunkt seines wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens ist. Seine zentrale anthropologische Prämisse ist, dass der Mensch nicht nur auf sich, sondern auch auf die Welt außerhalb seines Selbst bezogen und deshalb in dieser sozialen Umwelt auf Anerkennung angewiesen ist. Indi­ viduen versteht er als soziale Bezugswesen, welche sich aufgrund ihrer Po­ sitionalität und ihrer Fähigkeit zur Reflexivität auf alles beziehen können, was ihrem personalen Selbst in der sozialen Wirklichkeit begegnet. Das kann sowohl das eigene Selbst als auch das andere Selbst sein, eine soziale Gruppe, Objekte der Begierde und der Hingabe oder Orientierungsrah­ men, Ideen, Narrationen u. n. m. (vgl. Fromm 2016b, S. 42). Das Verhält­ nis der Bezugnahme diagnostiziert er als Ausgangsproblem für das freiheit­ liche Selbst, denn wenn ein Individuum keine Anerkennung in dieser er­ fährt und sich nicht verbunden erlebt, führt das zu sozialer Isolation und Ohnmachtsgefühlen. Fromm folgend, seien das mit die mächtigsten Ängs­ te des Selbst, weil es ein auf sich selbst beziehendes Wesen und sich seiner individuellen Entität bewusst sei (vgl. Fromm 2021a, S. 21). Mit Rosa ge­ sprochen, der auf Fromm rekurriert, strebt das Selbst danach, die Kluft zur Welt und zum anderen zu überwinden und sich die Welt aktiv, in reso­ nanten Bezügen anzueignen (vgl. Rosa 2016, S. 53). Dabei ist eine wirkli­ che Vereinigung mit der Welt nur möglich, wenn das individuelle Selbst erhalten bleibt (vgl. Fromm 2021a, S. 172). Mit dem Begriff des Selbst im­ pliziert Fromm eine organisierte, persönliche Struktur (vgl. ebd., S. 27). Diese grenzt er zum Charakter ab: Er beschreibt den Charakter als geform­ tes Selbst, welcher durch individuelle und gesellschaftliche Beziehungser­ fahrungen geprägt ist (vgl. Fromm 2014, S. 54). Die Geschichte der Moderne sieht Fromm als Geschichte einer doppel­ ten Freiheit und analysiert unterschiedliche Ausgangslagen, die Freiheit zur Bürde und Gefahr für ein individuelles Selbst werden lassen (vgl. Fromm 2021a, S. 60). Er stellt fest, dass mit zunehmendem Voranschreiten der Moderne sich Freiheit von und damit die negative Freiheit stetig vergrö­ ßert hat. Dies bedeutet, dass einerseits Individuen tun und denken kön­ nen, was sie für richtig halten. Andererseits bemerkt Fromm, dass ein Selbst häufig nicht weiß, wer es ist und was es wirklich möchte. Dann sucht es nach Orientierung, indem es sich beispielsweise anonymen Auto­ ritäten unterwirft oder sich allgemein legitimierten Verhaltensmustern an­ passt und in der Folge sich selbst verleugnet (vgl. ebd., S. 185). Je mehr es dies tut, desto ohnmächtiger fühlt es sich und umso mehr passt es sich äu­ ßeren Gegebenheiten an. Das kann zu einer Krise der Identität führen, denn in solchen Situationen bezieht sich das Selbst auf Erwartungsanfor­ derungen und -strukturen, die nicht originär eigenen Impulsen entsprin­ gen. Dadurch werden wiederum Zweifel und Verunsicherungen an der ei­ 159

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genen Identität hervorgerufen. Fromm diagnostiziert den paradoxen und ambivalenten Sachverhalt, dass trotz einem Mehr an Freiheit in Moderni­ sierungsprozessen individuelle Gefühle von Ohnmacht und Isolation zu­ nehmen. In der Philosophie hat die begriffliche Unterscheidung zwischen positi­ ver und negativer Freiheit eine lange Tradition, die einflussreiche Aufsätze hervorgebracht hat (vgl. Rössler 2017, S. 37; Berlin 1995; Dierksmeier 2016; Frankfurt 2001). Fromms Verständnis von positiver Freiheit baut auf der Annahme auf, dass das personale Selbst in Beziehung mit anderen oder sich selbst tritt und dabei ‚erhalten‘ bleibt, d. h. seine organisierte und per­ sönliche Struktur nicht versteckt oder verleugnet, sondern in die Bezie­ hung hineingibt und Anerkennung erfährt. Unter der Freiheit zu versteht er also die Verwirklichung des Selbst, zu der die komplette Bejahung der Einzigartigkeit des Individuums gehört (vgl. Fromm 2021a, S. 191). In die­ sem Fall spricht er von einer produktiven Bezugnahme des individuellen Selbst. Demzufolge kann positive Freiheit nur verwirklicht werden, wenn sie in Verbindung und Gebundenheit zu anderen besteht und ist daher als Selbstbestimmung in Beziehung stehender Individuen aufzufassen. Per­ sönliche Beziehungen und gesellschaftliche Rahmenbedingungen können diese Selbstbestimmung ermöglichen oder unterstützen, aber auch behin­ dern. Mit dem Begriff der negativen Freiheit fasst Fromm die Freiheit von Zwängen und Bindungen auf und setzt ein Selbst voraus, welches zwar un­ abhängig von kollektiven Gemeinschaften, aber gleichzeitig isoliert ist (vgl. ebd., S. 33). In dieser Situation kann das Individuum sich die Welt nicht positiv anverwandeln und flieht vor der negativen Freiheit ins Auto­ ritäre, ins Destruktive oder ins Konformistische und entwickelt eine nichtproduktive Charakterorientierung (vgl. ebd., S. 103–151). Fromms Freiheitsbegriff hat damit zwei Bedeutungen: Einerseits impli­ ziert er mit ihm eine Haltung und somit eine Prägung individueller Cha­ rakterstrebungen, die sich in Interaktionen zeigen und bei der es um indi­ viduelle Bezugnahme geht. Andererseits sieht er eine zweite Bedeutung der Freiheit in der Wahl zwischen verschiedenen Alternativen entscheiden zu können (vgl. Fromm 2016a, S. 172). Daher versteht er Freiheit nicht als Willkür, sondern als Chance, das Wachstum und die Möglichkeit, das ei­ gene personale Selbst zu entwickeln (vgl. Fromm 2021a, S. 27). Gleichzei­ tig sind diesem Wachstum durch individuelle Bedingungen und gesell­ schaftliche Umstände Grenzen gesetzt. In der Folge sollte ein personales Selbst die Option haben, durch individuelle und gesellschaftliche Gelin­ gensbedingungen zwischen verschiedenen Alternativen wählen zu kön­ nen, um die Chance zu haben eine ausbalancierte, produktive Charakter­ 160

Ambivalenzen zwischen einer Freiheit von und einer Freiheit zu in Zeiten der Sorge

struktur zu entfalten (vgl. Fromm 2021b, S. 209). Aus diesem Grund hat er immer auch politische und soziale Rahmenbedingungen im Blick, anhand derer er seine Gesellschaftstheorie entwickelt. Disruptive gesellschaftliche Veränderungsphasen wie zum Beispiel die Corona-Pandemie oder die gegenwärtige Kriegssituation zwischen Russ­ land und der Ukraine kennzeichnen sich dadurch, dass tradierte Formen des Zusammenlebens und des Miteinanders irritiert sind, zusammenbre­ chen und die Einbindung in Neues – also in die Zukunft – noch nicht vollzogen sind. In diesem Vakuum oder ‚leeren Raum‘ kann es herausfor­ dernd sein, sich positiv frei auf andere zu beziehen, weil die aktive Herstel­ lung und Gestaltung von Handlungsinteraktionen durch Ängste und Unsi­ cherheiten getrübt sind. Daraus folgt, dass auch gegenwärtige Zukunftsbezüge, die sich einem sorgenden Selbst aufdrängen, durch Ungewissheiten und Unsicherheiten gekennzeichnet sind. Demzufolge lässt sich festhalten, dass nicht nur Freiheit ein ambivalentes und paradoxes Phänomen ist, son­ dern auch Sorge einerseits handlungshemmend und andererseits hand­ lungsmotivierend sein kann (vgl. Henkel et al. 2023, S. 32). Somit charak­ terisiert sich also auch Sorge als ambivalentes Phänomen. In den nachfolgenden beiden Abschnitten wird eine Möglichkeit ange­ boten, wie Fromms Verständnis von Freiheit, das eng in Verbindung zu seinem theoretischen Modell des Sozialcharakters gedacht werden muss, in Korrelation zu zwei unterschiedlichen Formen der Sorge – Sich-Küm­ mern-um als aktive Praxis und des In-Sorge-Seins als Zustand – stehen. Damit wird sich der Forschungsfrage ‚Wie hängen Freiheit und eine Sorge um im Frommschen Verständnis zusammen?‘ weiter angenähert. In Ab­ schnitt 3 geht es zunächst um Fromms Theorie des Sozialcharakters und in Abschnitt 4 wird mit dieser Theorie Bezug genommen auf die beiden Formen der Sorge. 3 Die Entwicklung idealtypischer Sozialcharakterstrebungen in Zeiten der Sorge Mit seiner Theorie zielt Fromm auf die Entwicklung und Analyse idealty­ pischer Charakterbeschreibungen ab, die durch die Beschäftigung mit dem Thema Freiheit motiviert worden sind. Dabei ist der Sozialcharakter vom Individualcharakter zu unterscheiden (vgl. Fromm 2021a, S. 200). Der In­ dividualcharakter beruht primär auf Beziehungserfahrungen, die inner­ halb des sozialen Nahfeldes von Familien und Freunden wiederholt ge­ macht werden. Der Sozialcharakter resultiert vorrangig aus gesellschaftlichen Sozialisationserfahrungen, die sich aus den Anforderungen des Wirt­ schaftens, kultureller und technischer Entwicklung ergeben. Mit seinem 161

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theoretischen Modell beschreibt Fromm die Qualitäten der Bezogenheit im Denken, Fühlen und Handeln in Beziehungen und inwieweit diese charakterlichen Bezogenheits-Strebungen das Wohl des Einzelnen und das Gemeinwohl befördern oder behindern. Sowohl der Individual- als auch der Sozialcharakter wirken auf die Umgangsweisen eines sorgenden Selbst im Hinblick auf Freiheit von und Freiheit zu. Zentral sind für Fromm die Anziehungskräfte zwischen Gesellschaft und Individuum und wie Ideen zu wirkmächtigen Kräften innerhalb der Gesellschaft werden. Da er Individuen als gesellschaftliche Wesen versteht, räumt er den Sozialcharakterprägungen eine größere Bedeutung als den individuellen Charakterprägungen ein (vgl. Funk 2017, S. 44). Probleme und Herausforderungen entstehen dort, wo Gesellschaftsmitgliedern Handlungsmacht fehlt, um ihre freiheitlichen Vorstellungen umzusetzen, weil bspw. vordefinierte Rahmenbedingungen diese hindern. Wenn gesell­ schaftliche Strukturen nicht in Resonanz mit den individuellen Strebun­ gen eines sorgenden Selbst stehen, da die Bezugnahme des sorgenden Selbst sich im Widerspruch zur eigenen organisierten Struktur befindet, bilden sich Asymmetrien. Diese Asymmetrien können z. B. sichtbar wer­ den, wenn positive Freiheitspraxis gehemmt ist. In diesen Fällen neigt ein Selbst dazu vor der eigenen organisierten Struktur zu fliehen und passt sich äußeren Bedingungen an, weil es das Bedürfnis nach Anerkennung und Zugehörigkeit hat. In der Folge entwickelt es Charakterzüge, die das Selbst in eine Richtung formen, die nicht mit dem eigenen Selbst in Reso­ nanz stehen. In Die Furcht vor der Freiheit diagnostiziert Fromm drei ideal­ typische Charakterbeschreibungen – die Autoritäre, die Destruktive und die Konformistische. Im Laufe seines wissenschaftlichen Arbeitens ergänzt er diese um weitere spezifische, ausdifferenzierte Sozialcharaktere, wie z. B. die Narzisstische oder die Marketing-orientierte (vgl. Fromm 2014). Die genannten qualifiziert er als nicht-produktive Sozialcharaktere. Konträr da­ zu setzt er die produktive oder biophile Charakterorientierung, die für ihn die Liebe zum Leben beinhaltet (vgl. Fromm 2016a). Unter dieser produk­ tiven Kategorie ist auch sein Verständnis eines guten, gelungenen Lebens zu subsumieren. Die von Fromm beschriebenen idealtypischen Gesellschafts- oder Sozial­ charaktere beziehen sich auf die Gesamtgesellschaft und nicht auf verschie­ dene Felder innerhalb einer Gesellschaft. Zwar sind zwangsläufig unter­ schiedliche Gruppen und Schichten innerhalb der Gesellschaft anzutref­ fen, bspw. sind die einen ökonomisch arm und andere vermögend. Jedoch sind nicht die Vermögensverhältnisse ausschlaggebend, welche Sozialcha­ rakterstrebungen sich in unterschiedlichen Gesellschaftsschichten bilden. Viel eher sind es strukturelle Rahmenbedingungen, welche eine Freiheit 162

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von oder eine Freiheit zu für die jeweiligen Gesellschaftsmitglieder ermögli­ chen oder behindern. Dabei kann es ein Sozial- bzw. Gesellschaftscharakter sein, der in beiden Gruppen – monetär arm und vermögend – mehr oder weniger gleichermaßen zu einer Flucht ins Autoritäre führt oder ein Sozialcharakter, der trotz unterschiedlicher Vermögensverhältnisse Ideale bejaht, die bspw. zu einer kreativen, biophilen Charakterorientierung füh­ ren und demgemäß zu einer spontanen, liebevollen Individualität (vgl. Fromm 2021a, S. 185–199). Wie bereits im zweiten Abschnitt Anthropologie der Freiheit thematisiert, ist der ‚leere Raum‘ zwischen Herauslösung aus tradierten Sozialformen und -strukturen und einer Aneignung und eine Einbindung in neue For­ men besonders sensibel, weil in diesen Zeitabschnitten Verunsicherungen und Gefühle von Isolation besonders prominent sind. Wenn in Zeiten der Sorge der gegenwärtige Zukunftsbezug des sorgenden Selbst von Unsi­ cherheiten, Befürchtungen und Ängsten geprägt ist, dann fällt die aktive Gestaltung positiver Freiheit schwerer als sonst. Brechen soziale Bindun­ gen teilweise oder ganz weg oder werden Wertvorstellungen irritiert, die Sicherheit geboten haben, dann besteht die Gefahr, dass „Freiheit zu einer unerträglichen Last“ wird und das sorgende Selbst vor der Freiheit flieht (ebd., S. 33). Teilweise flieht es vor der Freiheit, indem es sich unterwirft, regrediert oder andere Mechanismen praktiziert, um Zugehörigkeit und Anerkennung zu erleben (vgl. negative Freiheit). Fromm konzeptualisiert ein Selbst grundsätzlich als frei. Deshalb gibt es innerhalb jeder der von ihm beschriebenen nicht-produktiven Charak­ terorientierungen auch Spielräume für produktives Handeln. Dementspre­ chend spricht er jeder Sozialcharakterorientierung die Möglichkeit zu, zu wählen und positiv frei zu agieren. Allerdings bedeuten Ausmaß und Ausgestaltung in der jeweiligen Orientierung immer etwas anderes. So ist die Antwort auf die Frage, was positive Freiheit im autoritären Charakter bedeutet, eine andere, als was positive Freiheit im marketing-orientierten bedeutet oder in der kreativen, biophilen Charakterorientierung. Zu be­ denken ist, dass es sich um idealtypische Charakterprägungen handelt, die sich als Mischformen in der Empirie zeigen. Zudem beziehen sich die verschiedenen ausdifferenzierten Produktivitätsnarrative jeweils anders zu positiver und negativer Freiheit. Demzufolge haben sie jeweils unter­ schiedliche Umgangsweisen, wie sie sich auf positive und negative Freiheit einlassen. Eine Herausforderung für Fromms Theorie ist, dass ein Selbst in gesell­ schaftliche Rollen eingebunden ist und innerhalb dieser agiert. Individuen verfügen immer über unterschiedliche Identitäten, die rollenspezifisch zu verstehen und in soziale Kontexte eingebettet sind (vgl. Rössler 2017, 163

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S. 33). Daraus resultiert, dass mit der Idee einer personalen Freiheit immer auch Spannungen oder Ambivalenzen einhergehen, die einerseits zwi­ schen dem individuellen Streben nach Selbstbestimmung und andererseits dem sozialen Geschehen, wie z. B. das Eingebundensein in Rollen oder sich aus Ansprüchen und Verbindlichkeiten anderer ergeben (vgl. ebd., S. 14). Im sozialen Alltag übernimmt das Selbst gesellschaftliche Rollen und diese Rollen bilden die Ordnungsstruktur (vgl. Goffman 2019, S. 19). Gesellschaftliche Rollen können dem Selbst Freiräume eröffnen und gleichzeitig aber Wahlmöglichkeiten einschränken. Bei einer zu starken Selbst-Identifikation mit der gesellschaftlichen Rolle oder wenn Zwänge dem eigenen Denken, Fühlen und Handeln zuwiderlaufen, kann ein Ver­ lust des individuellen Selbst drohen. Dabei kann ein gesellschaftliches Pseudo-Selbst entstehen, welches vor der negativen Freiheit flieht, mit an­ deren konform geht und demzufolge vermehrt an der eigenen Identität zweifelt (vgl. Fromm 2021a, S. 184). Das Pseudo-Selbst ist dann mehr oder weniger eine Stellvertreterin für das individuelle Selbst (vgl. ebd., S. 150). Jede soziale Situation ist durch normative Erwartungen gekennzeichnet. Wenn Erwartungen anderer erfüllt werden, erhofft sich das gesellschaftliche Pseudo-Selbst anerkannt zu werden. In gesellschaftlichen Situationen sind Freiheitseinschränkungen immer vorhanden, so z. B. durch die gesell­ schaftlichen Rollen, die an Individuen herangetragen werden (vgl. Goffman 2019, S. 232). Unterdessen erfüllen Individuen diese Rollen und in den Rollen erkennen sich Individuen wieder. Gesellschaftliche Rollen sind weder gut noch schlecht, sie sind die Ordnungsstruktur, in denen sich In­ dividuen vorfinden. Das ist ein paradoxer und ambivalenter Umstand. In­ nerhalb ihrer Rollenübernahme haben Individuen freiheitliche Ausgestal­ tungsmöglichkeiten und ein Selbst kann viele Rollen übernehmen. Jedoch begrenzen oder ermöglichen Rollenausübungen immer auch soziale Iden­ tität. Besonders in Zeiten der Sorge, wenn ein sorgendes Selbst mit engen­ den gegenwärtigen Zukunftsbezügen konfrontiert ist, ist es nicht leicht herauszufinden, was die eigene organisierte, persönliche Selbst-Struktur ist und was die charakterlichen Strebungen und die Rollen sind, mittels derer ein Selbst agiert. Um sich aus engenden gegenwärtigen Zukunftsbezügen zu emanzipieren, ist nach Fromm eine Handlungsalternative, dass das sor­ gende Selbst selbstbestimmt und souverän mit eigenen Ambivalenzen um­ geht. Damit meint er, sich auf positive Freiheit einzulassen und sich in spontaner und liebevoller Bezogenheit auf das zu beziehen, was der eige­ nen organisierten Struktur des Selbst entspricht. Jedoch ist das in solchen Situationen erschwert und diese Ambivalenzen verdeutlichen, dass es not­ wendig ist, den Freiheitsbegriff abhängig von gesellschaftlichen Kontexten zu konzeptualisieren. Dieser Lösungsansatz, wie ein sorgendes Selbst sich 164

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aus engenden gegenwärtigen Zukunftsbezügen befreien kann und in wel­ chem Zusammenhang das mit unterschiedlichen Formen der Sorge steht, wird im nächsten Abschnitt erörtert. 4 Positive Freiheit eines sorgenden Selbst Fromms Auseinandersetzung mit dem Freiheitsbegriff, dabei im Besonde­ ren sein Verständnis von positiver Freiheit, ist eng gekoppelt mit seinen Ausführungen zur Liebe, die wiederum in enger Verbindung zur Fürsorge steht. Der Begriff der positiven Freiheit wird weiter oben im Beitrag bereits erklärt: Sie zeigt sich also im spontanen Tätigsein (activity) der gesamten, inte­ grierten Persönlichkeit (vgl. Fromm 2021a, S. 187). Darunter sei zu verste­ hen, dass das Selbst seine Persönlichkeitsanteile integriere und frei und selbstbestimmt entscheide, wie es sich auf seine Arbeit, auf andere Indivi­ duen oder die Übernahme gesellschaftlicher Rollen beziehe. Für Fromm sind andere oder ein Tätigsein zentral, weil er das Selbst immer relational versteht. Da er positive Freiheit als Selbstbestimmung in Beziehung und im Dialog mit anderen Individuen auffasst, sind Individuen nicht völlig isoliert. Sie sind sozial eingebunden und auf Formen sozialer Anerken­ nung angewiesen (vgl. Rössler 2017, S. 54). Aus diesem Grund beschäftigt sich Fromm eingehend mit der Liebe und setzt bei der Selbstliebe und Selbstachtung an (vgl. Fromm 2021a, S. 87). Wenn ein personales Selbst nicht über Formen von Selbstachtung und Selbstliebe verfügt, ist es nicht in der Lage, frei zu handeln. Es muss sich selbst konstitutiv anerkennen. Das verleiht ihm legitime Autorität über die eigenen Gründe und Hand­ lungsmacht (vgl. Rössler 2017, S. 335). Ebenso können Individuen nur frei handeln, wenn wenigstens einige bestimmte Andere oder Gruppen ihrer sozialen Umgebung das anerkennen, schätzen und für sinnvoll halten, was sie selbst als wertvoll erachten (vgl. ebd., S. 54). Diese relationale und soziale Perspektive auf Freiheit beinhaltet die Prä­ misse, dass Freiheitsverständnisse immer auch auf normative Dimensio­ nen, wie z. B. ethische, moralische oder rechtliche Vorstellungen verwei­ sen. Demzufolge hat ein freies Selbst die Option, sich für Liebe zu ent­ scheiden. Auch hier unterscheidet Fromm wieder zwischen zwei qualifizierenden Formen, und zwar einer produktiven und einer nicht-produktiven Liebe. Die produktive Liebe beschreibt er mit folgenden Merkmalen: Für­ sorge, Verantwortungsgefühl, Achtung vor dem anderen und Erkenntnis (vgl. Fromm 2018, S. 48). Unter Fürsorge versteht er ein Sich-Kümmern-um sowie aktive Sorge für das Leben und Wachstum dessen, was geliebt wird. Demzufolge ist zu 165

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erkennen, dass dem Sorgebegriff in Zusammenhang mit positiver Freiheit bei Fromm ausschließlich eine handlungsmotivierende Bedeutung zugrun­ de liegt. Gleichzeitig lässt diese Art des Handelns Rückschlüsse auf das ‚Wie‘ des Handelns zu, nämlich diese fürsorgliche Praxis verweist auf ein Handeln aus ganzem Herzen. Daraus folgt, dass die Art und Weise der Verantwortlichkeit und der fürsorglichen Praxis wiederum mögliche Zu­ sammenhänge auf den Charakter eines Selbst zulassen. Des Weiteren kann abgeleitet werden, dass der gegenwärtige Zukunftsbezug, den das Selbst herstellt, im besten Fall als gelassen und im schlechtesten Fall als gefärbt von gutem bzw. tolerierbarem Stress typisiert werden kann (vgl. Henkel und Peters 2019, S. 134). Ist ein Selbst in Sorge und ein Handeln ge­ hemmt, so ist davon auszugehen, dass das sorgende Selbst sich im Zustand des In-Sorge-Seins und einer negativen Freiheit befindet. Folglich fühlt es sich isoliert und der gegenwärtige Zukunftsbezug kann toxischen Stress auslösen (vgl. ebd.). In späteren Jahren konstituiert Fromm aus der Beziehungsliebe das Konzept der Biophilie, mit welchem er – wie bereits kurz angedeutet – eine Liebe zum Leben beschreibt, die allem Lebendigen zugrunde liegt. Interessant ist, dass er sich mit dieser theoretischen Weiterentwicklung zur Zeit der Kubakrise und des damit drohenden atomaren Weltkrieges be­ fasst, also in einer Krisensituation, in der Individuen dazu neigen, sorgen­ volle gegenwärtige Zukunftsbezüge herzustellen, weitendende Zukunftsbezüge in den Hintergrund treten und schwieriger zu entwickeln sind (vgl. Funk 2017, S. 40). Zeitlebens interessiert sich Fromm für gesellschaftliche Beziehungserfahrungen und deren behindernde oder vereitelnde Wirkung im Spannungsverhältnis individueller Freiheits- und Liebesfähig­ keit (vgl. ebd., S. 44). Dabei kritisiert er asymmetrische und stressfördernde Rahmenbedingungen, denen ein sorgendes Selbst ausgesetzt ist. Für ihn ist es keine Leistung, wenn sich ein sorgendes Selbst an eine pathogene Ge­ sellschaft anpasst, die dauernd Zukunftsbezüge herstellt, die von Ängsten und Unsicherheiten geprägt sind. Für ihn stellt eine Lösung dar, sich immer wieder positiv auf Freiheit zu beziehen. Damit meint er, Vorhaben zu verfolgen und sich in soziale Be­ ziehungen zu begeben, die der eigenen praktischen Identität entsprechen. Individuen sollten ihre eigenen Projekte verfolgen und nicht die von ande­ ren. Diese Projekte sollten einen sinnvollen Stellenwert in der Biografie des Selbst einnehmen und Anerkennung von signifikanten Anderen erhal­ ten (vgl. Rössler 2017, S. 363). Dabei müssen Individuen nicht in allen Be­ reichen des Lebens frei sein, um ein freies Leben zu führen. Auch in totali­ tären Gesellschaften ist es möglich Formen von Freiheit zu entwickeln, wenn man diese nicht an inhaltlich substanzielle Werte und Normen bin­ 166

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det (vgl. ebd., S. 364). Zwar bindet Fromm positive Freiheit an eine Praxis der Liebe und demzufolge an faktische Werte und Normen, gleichzeitig sei dies nur relational zu verstehen, weil positive Selbstbestimmung nur in Verbindungen und Gebundenheit mit anderen möglich sei. In der Selbst­ liebe, in der Liebe zum Leben und in der aktiven Fürsorgepraxis sieht er Lösungsmöglichkeiten, um mit Ambivalenzen des Lebens und mit engen­ den Zukunftsbezügen umzugehen. Dadurch sei es einem sorgenden Selbst möglich, sich als freies Selbst zu verstehen, auch wenn es in bestimmten Handlungen oder Aspekten unfrei sein mag. 5 Korrelationen zwischen Freiheit und Sorge In der spätmodernen Gesellschaft nehmen Freiheit von und Freiheit zu eine zentrale Funktion bei Entwicklungsprozessen von Individualität ein. Da­ bei müssen beide Ausprägungen der Freiheit zusammengedacht werden. Nach Fromm geht es nicht darum, noch mehr Freiheit sondern qualitative Freiheit zu erwerben (vgl. Fromm 2021a, S. 82). Gleichzeitig ist jedes Frei­ heitsverständnis von Ambivalenzen flankiert und Freiheit kann nur rela­ tional interpretiert werden. In den vorangegangenen Abschnitten ist ge­ zeigt worden, dass personale Selbste nicht ausschließlich auf einzelne An­ dere bezogen sind, sondern Individuen sich als soziale Wesen dadurch cha­ rakterisieren, dass sie sich einer Gruppe zugehörig fühlen müssen. Ein per­ sonales Selbst hat zwei Arten sich auf andere und sich selbst einzulassen: Die eine ist aus Liebe und die andere ist aus Angst vor sozialer Isolation. Nach Fromms Analyse entstehen dadurch unterschiedliche Produktivitäts­ narrative oder Sozialcharaktertypen und es lässt sich folgende Antwort auf die Frage ‚Wie hängen Freiheit und eine Sorge um zusammen?‘ aus seinen Werken ableiten: Ist ein Selbst in Sorge und ein Handeln gehemmt, so ist davon auszu­ gehen, dass das sorgende Selbst sich im Zustand des In-Sorge-Seins und einer negativen Freiheit befindet. Folglich fühlt es sich isoliert und der ge­ genwärtige Zukunftsbezug kann toxischen Stress auslösen. Unter Fürsorge versteht Fromm ein Sich-Kümmern-um sowie aktive Sorge für das Leben und Wachstum dessen, was geliebt wird. Demzufolge ist zu erkennen, dass dem Sorgebegriff im Zusammenhang mit positiver Freiheit bei Fromm eine handlungsmotivierende Bedeutung zugrunde liegt. Für Fromm kann es kein Zuviel an Individualität geben, weil er verant­ wortungsvolle Individuen und Gesellschaft in reziproker Abhängigkeit denkt und in der Freiheit ein sozialpsychologisches Problem sieht. Daraus schlussfolgert er: Freiheit im Zusammenhang mit einem individuellen 167

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Selbst hat einen kritischen Punkt erreicht und birgt Gefahren, die ins Ge­ genteil umschlagen können, wenn Individualismus zu einer ‚leeren Wort­ hülse‘ wird (vgl. ebd., S. 195). Je mehr der Mensch als Individuum aus sei­ nen Verbindungen zu anderen oder zur Welt heraustritt, hat er je nach Ausprägung seiner Charakterstrukturen die Wahl, entweder in spontaner Liebe und produktiver Arbeit in Beziehung zu treten und dabei sein unab­ hängiges Selbst zu erhalten und gleichzeitig Verbundenheit und Anerken­ nung zu erfahren. Andernfalls geht das Individuum Bindungen ein, die ihm zwar Sicherheit geben, aber die Freiheit und Integrität des individuel­ len Selbst zerstören (vgl. ebd., S. 22). Ein Kern der analytischen Konzeption von Sorge im Rahmen des For­ schungsschwerpunktes Dimensionen der Sorge ist, wie Zukunftssicherheit hergestellt und gestaltet wird. Laut Fromm geschieht dies, indem ein sorgendes Selbst sich positiv frei bezieht und aktive Fürsorgepraxis und Praxen der Liebe kultiviert, angefangen im Bezug zum eigenen Selbst, zu Anderen und zur Welt. Dies beinhaltet für ihn auch mit Ambivalenzen des Lebens umzugehen. So sei es möglich sich auf Ambivalenzen selbst liebend zu beziehen, wie bspw. die, die sich aus den Spannungen zwischen Selbst und Rollenausübung oder zwischen Selbst und gegenwärtigen Zu­ kunftsbezügen ergeben. Dadurch sei es einem sorgenden Selbst möglich, frei zu sein und Sicherheit in der Gegenwart zu gewinnen und weiten­ de Zukunftsbezüge herzustellen, auch wenn gesellschaftliche Krisen zu disruptiven Veränderungen führen. Aus all den dargelegten Gründen ist es notwendig, den Freiheitsbegriff abhängig von sozialen und gesellschaftlichen Kontexten zu konzeptualisieren. Eine solch verstandene Freiheit kann auch als Fähigkeit interpretiert werden. Fromms Leistung und gleichzeitig der Aspekt, für den er immer wieder kritisiert wird, ist in der normativen Wertung begründet, die seinen theo­ retischen Ausführungen zugrunde liegen. Gleichzeitig ist es sein Anliegen nicht bei einer Gesellschaftskritik zu bleiben, sondern darüber hinaus Vi­ sionen von besseren und gelingenderen gesellschaftlichen Verhältnissen zu entwickeln. Er vertritt die Ansicht, dass es positive Visionen des Gelingens bedarf, um die Welt humaner zu machen. Mit seiner Perspektive können soziologische Forschungsarbeiten den Blick auf Asymmetrien und Spannungen zwischen Individuen und Ge­ sellschaft lenken und fragen: Wie wird Freiheit durch gesellschaftliche Strukturen eingeschränkt? Dabei könnte positive und negative Freiheit als analytisches Werkzeug dienlich sein.

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III Zukünfte

Sorgeübernahme in Zeitintervallen. Selbstregulierende Technologien im Sorgesetting Julia Sellig

1 Technologie und Mensch: Wenn Nähe für Sorge nicht ausreicht Vierundzwanzig Stunden am Tag werden selbstregulierende technologi­ sche Systeme mit eckigen starren Formen, Schläuchen, aber auch Nadeln oder Sonden von Interessierten, Selbstoptimierer*innen oder auch von Patient*innen neben, am oder im Körper getragen. Was hier fast wie ‚Science-Fiction‘ klingt, ist alltägliche Lebensroutine und erscheint damit in einem gewissen Sinne trivial; die Technologie gehört quasi einfach dazu. Dies demonstriert eindrucksvoll die Lebenspraxis von Typ-1-Diabetiker*in­ nen. Um lebensgefährliche Situationen im Alltagsvollzug aber auch Fol­ geschäden der Erkrankung in der Zukunft zu vermeiden, kann auf ein selbstregulierendes technologisches System aus Insulinpumpe und Sensor zurückgegriffen werden. Ein solches System muss allerdings 24 Stunden am Tag nicht nur neben und am Körper getragen werden, sondern es dringt ebenso unter die Haut ein. Wie sich Insulinpumpen- und Sensor­ träger*innen mit dieser Kopplung arrangieren, soll hier unbeantwortet bleiben. Entscheidend ist aber, dass die Technologie zur Alltäglichkeit wird. Auch ein Dabeisein technologischer Systeme ohne selbstregulieren­ de Funktionen, wie z. B. Sportuhren in der Verbindung mit Applikationen am Smartphone, Hörgeräte oder Prothesen, wird alltäglich. Dass diese (selbstregulierenden) technologischen Systeme dabei unterschiedlichste Sorgeleistungen ausüben, ist ein (un)intendierter Beweggrund für deren vielfältige Nutzung und Integration in den Lebensalltag. Sozial- und Geisteswissenschaften, wie auch deren Sektionen (bspw. der Deutschen Gesellschaft für Soziologie) beforschen dieses Verhältnis, da hier Verhandlungen zu deren zentralen Begriffen ausgetragen werden. So treffen individuelle Freiheiten auf Grade von Unterstützung oder Hierar­ chien. Aber auch Machtlinien strukturieren das Miteinander. Es eröffnen sich zudem philosophisch-anthropologische Fragestellungen: Wer bin ich und wo endet mein Körper? Was zählt zu meinem Körper? Während so die ‚disability studies‘ Sorge im Kontext von Unterdrückung bzw. Entmündi­ gung bis hin zu einem Ausschluss von behinderten Menschen thematisie­ 173

Julia Sellig

ren, vertritt der ‚care research‘-Bereich ein Anliegen zu Sorgebeziehungen und -verhältnissen (vgl. Kröger 2009, S. 389). Auch Forschungen zu ‚self tracking‘ oder die ‚quantified self‘-Bewegung – gesammelt und wissen­ schaftlich bearbeitet in den ‚science and technology studies‘ – befassen sich mit der Betreuung von chronischen Krankheiten und der damit zusam­ menhängenden Nutzung von selbstregulierender oder selbstlernender Technologie. Technologie(n) und Nutzende werden u. a. als netzwerkarti­ ges Gebilde aus Akteuren (Menschen) und Aktanten (Dinge) aufgefasst und damit im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie zum Hybrid (vgl. Mei­ dert et al. 2018, S. 91ff.; Belliger und Krieger 2006). Eine erneute Re-Thematisierung dieser alltäglichen Sorge-Verhältnisse begründet sich nun darin, dass Sorge-Verhältnisse für selbstregulierende Technologien und deren Nutzenden zwar herausgearbeitet wurden, je­ doch weder im Verhältnis zu Zeitlichkeit noch damit zusammenhängend in einem leib-körperlichen Verständnis (vgl. Schmitz 1980) behandelt wer­ den. Angenommen wird im Folgenden, dass selbstregulierende Technologi­ en als eine Form von Sorge gelten. Was diese Form wiederum auszeichnet, gilt es herauszuarbeiten: Die hierfür untersuchten und von Nutzer*innen eingesetzten selbstregulierenden Technologien werden neben, am oder im Körper getragen. Damit kommen selbstregulierende Technologien den Nutzenden nicht nur körperlich, sondern ebenso besonders leiblich nahe. Die neben, am oder im Körper getragenen Technologien berühren also nicht nur die sichtbare und erstastbare Körperhaut, sondern werden vom eigenen Leib an ganz unterschiedlichen Orten in ihm selbst gespürt: Eine Vertrautheit mit Technologien durchströmt den Leib-Körper oder Ver­ wunderung, Ärger und Stress stechen wie eine Nadel mit Plötzlichkeit ein und können den Leib-Körper in eine Anspannung versetzen (vgl. Schmitz 2014, S. 37). Trotz dieser ergreifenden, intensiven und spürbaren Nähe müssen Nutzende Körperdaten geben, um Sorge für sich zeitlich begrenzt borgen zu können. Aber nicht nur dies, Batterien müssen ersetzt werden, Daten mit weiteren neuen Körperdaten kalibriert werden oder es muss auf technische Störungen reagiert werden. Leibliche Nähe ‚alleine‘ zwischen selbstregulierenden Technologien und Nutzenden setzt damit keine Sorge­ leistung; Initiator*in für eine Sorgeleistung im Gespann aus selbstregulie­ renden Technologien und Nutzer*in bleibt das menschliche Subjekt. Her­ ausgearbeitet wird in diesem hier skizzierten Verständnis eine Sorge-Form, die also vielmehr von einem zeitlich-technologischen Faktor getrieben ist, der sich wiederum auf das leib-körperliche Befinden von Nutzer*innen auswirkt.

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Sorgeübernahme in Zeitintervallen. Selbstregulierende Technologien im Sorgesetting

Von einer leibphänomenologischen Fundierung ausgehend, können so­ mit im Folgenden empirisch-analytisch Sorge-Verhältnisse zwischen Men­ schen und selbstregulierenden Technologien anders aufgeschlüsselt wer­ den. Dabei wird schließlich auf einen Wandel des Sorge-Verhältnisses durch selbstregulierende Technologien und deren Zeitabhängigkeit hinge­ wiesen; es ergibt sich eine spezifische Sorge-Form. Dieses Vorhaben ist im Sorgediskurs in dieser Ausarbeitung noch nicht vollzogen worden. Im Fol­ genden wird dazu am Fall eines selbstregulierenden technologischen Hilfs­ mittelsystems für Diabetiker*innen aufgezeigt, wie sich Kopplungen zwi­ schen Menschen und selbstregulierenden Technologien strukturieren (Ka­ pitel 2). Darauf folgt eine knappe Darstellung der Leibphänomenologie von Schmitz (Kapitel 3), mithilfe derer Sorge-Konstellation zwischen Dia­ betiker*innen und selbstregulierenden Technologien analysiert werden (Kapitel 4). Dabei wird herausgearbeitet, dass die Wandlung des Sorge-Be­ griffs zu einem Sorge-Dilemma führt: Faktor hierfür ist ein Verantwortlich­ bleiben der Nutzenden trotz einer Sorgeleistung von selbstregulierenden Technologien. Provoziert wird dies durch selbstregulierende Technologi­ en, die lediglich in Zeitintervallen „Sorge um den Anderen“ (Henkel et al. 2016, S. 21) leisten können. Das Geschilderte wird mit einem Fazit ge­ schlossen (Kapitel 5). 2 Selbstregulierende Technologie für Diabetiker*innen Diabetes mellitus Typ 1 ist eine Autoimmunerkrankung mit einer steigen­ den Erkrankungszahl und betrifft in Deutschland derzeit rund 373.000 Menschen; hierunter befinden sich ca. 32.000 Kinder und Jugendliche (vgl. Daniel 2021). Für die Behandlung ist eine Insulinzufuhr unabdingbar. Insulin kann hierfür mittels Insulinpen1 injiziert werden oder, wie im Folgenden näher thematisiert wird, mittels einer Insulinpumpe2. Diese muss 24 Stunden am Tag getragen werden. Für einen stabilen Blutzucker­ verlauf3 bietet dieses System zudem an, einen Sensor zur kontinuierlichen Ermittlung des BZ-Spiegels zu nutzen. Die neueren Insulinpumpen fun­ 1 Aufgrund einer Nicht-Eigenproduktion von Insulin (Hormon) der Bauchspeichel­ drüse, wird Insulin via Insulinpen oder Insulinpumpe nach Mahlzeiten aber auch über den gesamten Tagesverlauf abgegeben (Helmholtz 2019) 2 Im Artikel wird sich auf das Insulinpumpen-Sensor-System von Medtronic bezo­ gen (Medtronic 2021a). 3 Im Folgenden werden alle Wörter, die den Term ‚Blutzucker‘ mitbeinhalten mit ‚BZ‘ abgekürzt.

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gieren als Steuereinheit bei einer gemeinsamen Verwendung von Insulin­ pumpe und Sensor. In Adaption an das momentane individuelle Gesche­ hen (gemessen am BZ-Verlauf) kann die Insulinzufuhr von der Insulin­ pumpe in einem selbstregulierenden Modus geregelt werden. Erzielt wer­ den kann damit ein besserer BZ-Verlauf im gesamten Tagesverlauf. Dies impliziert zugleich ein Rückgang von Folgeerkrankungen, die sich oftmals aufgrund einer BZ-Einstellung außerhalb der sog. Soll-Werte (niedriger und v. a. hoher BZ bzw. Hyperglykämien) einstellen können. Damit wird dieses technologische Hilfsmittelsystem zu einer selbstregulierenden Technologie. In der Konsequenz wird minütlich eine neue und differente Insulinrate entwickelt und diese an die Patient*in automatisch abgegeben (Medtronic 2021b). Im Folgenden wird für dieses Hilfsmittelsystem der Begriff des „Semi-Closed-Loop“ (Diabetes News Media AG 2021) Systems in seiner Abkürzung SCLS herangezogen. Diese selbstregulierenden Funktionen können einige Modelle der SCLS jedoch nur in Zeitintervallen ausüben (Medtronic 2021a). Danach benö­ tigt die technologische Einheit eine Kalibrierung zur Sicherstellung der Datenqualität. Hierfür müssen Nutzer*innen ihren momentanen BZ via BZ-Messgerät eigenhändig bestimmen und diese Körper-Daten in die Steu­ ereinheit eingeben. Wird auf diese Forderung nach einer Kalibrierung sei­ tens der Diabetiker*innen nicht eingegangen, endet der selbstregulierende Modus der Insulinabgabe meist nach weiteren zwei Stunden. Da diese Zeitintervalle (meist 12 Stunden) vorgegeben und unumgänglich sind, wissen sich die Nutzenden meistens hiermit zu arrangieren. Es kommt aber auch oft zu – u. a. leib-körperlichen – Aushandlungsproblematiken: Die Zeitintervalle nehmen keine Rücksicht auf bspw. berufliche oder per­ sönliche Situationen. Zudem sollten zum Zeitpunkt einer Kalibrierung die Nutzer*innen über einen stabilen BZ-Verlauf verfügen und zusätzlich keine hohen Mengen von noch wirkendem Insulin im Körper haben4. Häufig werden daher zwei bis vier Kalibrierung pro Tag durchgeführt, um diesen Bedingungen gerecht werden zu können (Medtronic 2020). Der selbstregulierende Modus der Insulinabgabe kann aber auch durch eine technologische Störung oder einen Defekt unterbrochen werden. Dann ist ebenso eine Insulinzufuhr in Adaption an das momentane Geschehen des BZ-Verlaufes, der mit dem persönlichen leiblichen Befinden (bspw. die Zufriedenheit durch Sommerstimmung oder Unsicherheit durch Dun­ kelheit auf der Straße) gekoppelt ist, beendet. In beiden Fällen kann

4 Je nach dem welches Insulin verwendet wird, kann die Wirkzeit bis zu vier Stun­ den betragen (vgl. Detlef 2009; Thurm und Gehr 2019).

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eine Insulinabgabe via Insulinpumpe weiter ablaufen, jedoch nach einer vorgegebenen statischen Insulinrate. In anderen Worten: Das Zeitintervall im selbstregulierenden Modus der Insulinpumpe ist beendet und Insulin wird unabhängig von (plötzlichen) Befindensänderungen durch die Insu­ linpumpe abgegeben (vgl. Medtronic Schweiz AG 2019; Rodbard 2017). 3 Leiblichkeit als Zugang zum Sorgeverständnis zwischen Technologie und Mensch Das Fallbeispiel verdeutlicht, dass eine Nutzung von SCLS nur in der Befolgung von Zeitintervallen funktioniert. Aus der einzuhaltenden Zeit­ struktur und der Beschaffenheit des gesamten technologischen Systems ergeben sich spezifische Sorge-Konstellationen, die im Folgenden näher untersucht werden. Hierfür eignet sich die Schmitz’sche Leibphänome­ nologie besonders, da ein Verständnis von Leiblichkeit diese Sorge-Kon­ stellationen bereichert. Die philosophisch-phänomenologische Arbeit von Schmitz eröffnet nämlich einen differenten Kommunikationsbegriff: Din­ ge, wie ein SCLS, können zu einem Gegenüber mit einem (Teil-)Subjektsta­ tus werden. Zu dieser Einsicht gelangt Schmitz u. a. durch sein Verständ­ nis über den Leib. In der sozial- und geisteswissenschaftlichen Forschung dominiert kon­ trär hierzu eine naturwissenschaftliche Thematisierung des Körpers. Der Körper wird nach diesem Verständnis lediglich als ein in Organe eingeteil­ tes Objekt verstanden. Eine gewisse Ersetzbarkeit prägt also den Körper. Darüber hinaus bleibt der Körper-Begriff aber grundsätzlich bis dato noch immer wenig sozialwissenschaftlich betrachtet. Dies betrifft noch über­ spitzter den Begriff des Leibes. In diesem Zusammenhang werden sog. Lei­ bempfindungen oftmals auf die Innenwelt des Menschen zurückgeführt und es wird ihnen eine sozialwissenschaftliche Relevanz und damit einher­ gehend ein prominenter Platz im gesamtwissenschaftlichen Diskurs abge­ sprochen. Das Bewusstsein als analytische Prämisse bleibt weiterhin der Maßstab, an dem wissenschaftlich-empirische Studien aber auch theoreti­ sche Auslegungen gemessen werden. Zurückzuführen ist diese For­ schungshaltung auf den bis dato vorherrschenden cartesianischen Dualis­ mus und auf die phänomenologischen Arbeiten Husserls (vgl. Schroer 2005b, S. 12; Husserl 1992), die wiederum eine phänomenologische Fun­ dierung der Sozial- und Geisteswissenschaften bspw. im Sinne von Schütz maßgeblich strukturieren (vgl. Hitzler 2009, S. 84; Schütz und Luckmann 2017). Trotzdem gibt es Versuche, diese Haltung zu durchbrechen: bspw. innerhalb der Körper- und Sportsoziologie (vgl. Gugutzer 2004; Schroer 177

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2005a), in der Biographieforschung (vgl. Spahn 2022; Fischer-Rosenthal 1999; Hansens 2013) oder auch durch eine Integration von leibphänome­ nologischen Perspektiven in die Soziologie (vgl. Lindemann 2009; Gugut­ zer 2017; Uzarewicz 2011; Gahlings 2006; Dörpinghaus 2013; Antony 2017, 2018; Burow 2022). All diese zuletzt genannten Arbeiten basieren auf einer leib-körperli­ chen Fundierung, die u. a. auf die Leibphänomenologie von Schmitz zurückgreift. Diese Fundierung wird ebenso im hiesigen Artikel herange­ zogen, um so einen Wandel des Sorge-Begriffs und die damit zusammen­ hängenden Implikationen für die Nutzenden als auch eine Verortung von SCLS mit einem möglichen (Teil-)Subjektstatus greifbar zu machen. Nahe­ liegenderweise wird nun der Leib-Begriff von Schmitz eingeführt. Unter Leib fasst Schmitz alles, was um, am oder im Körper selbst er­ spürt werden kann. Ein leibliches Spüren erfolgt ohne sich „auf das Zeug­ nis der fünf Sinne und des perzeptiven Körperschemas“ (Schmitz 1999, S. 109) zu beziehen; d. h. ein leibliches Spüren vollzieht sich ohne „Sehen, Hören, Tasten, Riechen [und] Schmecken“ (Schmitz 1993, S. 36). Diese Definition zum Leib legt bereits, ohne die Schmitz’sche Leibphänomeno­ logie in groben Zügen dargelegt zu haben, Folgendes nahe: Nicht nur ein Mensch, sondern auch jedes Ding und damit auch bspw. ein SCLS, kann leiblich erspürt werden. Dieses ‚leiblich Erspüren‘ bzw. ‚leibliche Befinden’ hat grundsätzlich seinen ‚Ausgangspunkt‘ im sog. „vitalen Antrieb“ (Schmitz 2014, S. 33) des Leibes. Dieser ist im Menschen verwurzelt und spannt eine Achse auf (vgl. Schmitz 2005, S. 21) zwischen zwei gegensätzlichen Polen – der „Enge“ und der „Weite“ (Schmitz 1982, S. 75). Auf dieser Achse bewegt sich der Mensch hin und her. Es ist also ein ‚Hin‘ zur Enge und damit „Engung“ bzw. „Spannung“ (ebd., S. 75) und/oder ein ‚Her‘ zur Weite und damit „Weitung“ bzw. „Schwellung“ (ebd., S. 89) stets gegeben. Der Mensch ver­ sucht zwischen beiden Polen eine Balance zu finden. Für ein besseres Ver­ ständnis dieser beiden Begriffe (Enge/Weite) ist es wichtig, der Leib-Kör­ per-Differenz nach Schmitz zu folgen: Der Körper stellt sich nämlich – im Gegensatz zum Leib – als etwas Er­ tastbares, Flächiges mit klaren Lagen- und Abstandsmaßen dar (vgl. Schmitz 1998, S. 5ff.). Über unsere Haut gelingt es, den Körper greifbar zu machen. Dies gilt für sich selbst als auch für die Gegenüber. Außerdem gibt die Haut dem Körper seinen Raum vor und zugleich zeigt die Haut dem Körper aber auch seine eigenen Grenzen auf: Mit den Fußzehen en­ det bspw. der Körper. Anders ist dies eben für den Leib. Er ist nicht ertastbar, da er nicht durch eine Haut fixiert wird. Die Funktion der Haut im Falle des Körpers 178

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übernimmt hier für den Leib in gewissem Sinne der oben bereits geschil­ derte vitale Antrieb: Er ist der ‚Motor‘ des Leibes und provoziert damit das leibliche Befinden. An einem Beispiel soll dies nun näher expliziert wer­ den. Der Mensch wird von etwas oder von jemandem affiziert und gerät in dessen Bann. Bspw. zeugt ein Konzertbesuch von beiden – also engende aber auch weitende – Tendenzen: Die Besuchenden sehen die Künstler*in­ nen und wollen mehr von der rhythmischen Musik, von der umgebenden Atmosphäre und ersehnen sich schon die nächsten Strophen des Liedes. Die Besucher*innen sind also in vieler Hinsicht gespannt und durchleben leiblich eine Engung. Zugleich aber geben sie sich zur Musik hin, wiegen sich im Rhythmus und versinken in eine Art Trance. Somit handelt es sich zugleich um eine leibliche Schwellung bzw. Weitung. So kann der Leib mit­ tels seines vitalen Antriebes zur leiblichen Kommunikation werden, die nicht nur Menschen einbezieht, wie dies das Beispiel des Konzerts zeigt, sondern ebenso Dinge, wie die rhythmische Musik. Diese hier explizierte Kommunikation ist also mehr als eine rein sprachliche Kommunikation: Eine leibliche Kommunikation ist ausdifferenzierter, integriert Konzert­ mitglieder, Neudazukommende, wie auch Dinge. Dies ist möglich, da ein Affiziert-werden via Leiblichkeit eine vorreflexive Leistung ist: Die Gesamt­ situation des Konzerts trifft in einem ersten Schritt auf einen Leib-Körper. Dieser wird sodann affiziert und erst nach dieser Affizierung folgt in einem zweiten Schritt eine Stellungnahme des Menschen. Widersetzt dieser sich nicht dieser Affizierung, beginnt eine „Einleibung“ (Schmitz 2015, S. 36). Dies bedeutet: Der „innerleibliche Dialog zwischen Engung und Weitung“ (Schmitz 2014, S. 14) in Form des vitalen Antriebs wird nun ausgeweitet und spannt sich zwischen Mensch-Mensch oder Mensch-Ding auf (vgl. ebd., S. 14). Die gesamte „Atmosphäre“ (ebd.) aber auch lediglich Bestandteile des Konzerts – wie Gesang, Zuhörer*innen oder technisches bzw. materielles Equipment – können also leiblich erfahrbar und eingeleibt werden. D. h. eine solche Einleibung kann ebenso mit selbstregulierenden Technologi­ en, wie bspw. einem SCLS, um auf das hier dargelegte Beispiel zurückzu­ kommen, ablaufen (vgl. Schmitz 2015, S. 64). Damit präsentiert die Schmitz’sche Leibphänomenologie keine Verengung nur auf das menschli­ che Subjekt; in anderen Worten: Das Verständnis von Kommunikation än­ dert sich durch diese Fundierung, da diese philosophisch-phänomenologi­ sche Haltung eine weitere und nicht unwesentliche Integration von Din­ gen in die Kommunikationsdefinition eröffnet. Hieraus ergibt sich, dass das leib-körperliche Subjekt in den vollzogenen Kommunikations- und Einleibungsmomenten dem eingeleibten Gegenüber ein (Teil-)Subjektsta­ tus zuteilt. Damit wird nicht nur das Menschliche zum Subjekt, sondern 179

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ebenso (teilweise) das Dinghafte und Technologische (vgl. Lindemann 2002). Hiermit ist folglich die Voraussetzung gegeben, dass sich nun den technologisch-zeitlich strukturierten Sorge-Verhältnissen zugewandt und eine spezifische Sorge-Form herausgearbeitet werden kann. 4 Sorgeübernahme in Zeitintervallen Um auf die Forschungsfrage, wie sich eine spezifische Sorge-Form durch die Hinzunahme von selbstregulierenden Technologien als (Teil-)Subjekt im Sorgefeld unter Betrachtung von einer technologisch bedingten Zeit­ lichkeit bildet, bearbeiten zu können, wird hierfür in einem ersten Schritt dargelegt, mit welchem Sorge-Verständnis gearbeitet werden soll. Die dar­ auffolgende Anwendung wird im zweiten Schritt durch zentrale Aussagen aus verschiedenen eigenen Erhebungen untermauert. Der Datenkorpus bezieht drei von Sellig geleiteten Datenerhebungen mit ein: eine qualita­ tive Einzelerhebung im Jahr 2020 (Schweiz), eine Fragebogenerhebung aus dem Themengebiet ‚Extremkörper‘ mit Diabetiker*innen aus dem Jahr 2020 (Deutschland) sowie eine Fragebogenerhebung aus dem Jahr 2018 (Frankreich). Das skizzierte phänomenologische Vokabular dient hierbei als Fundierung. Ziel der Darlegungen ist es, die Wandlung des Sorge-Begriffs durch eine Integration von selbstregulierenden Technologi­ en anhand des Fallbeispiels hin zu einer zeitlich strukturierten Sorge-Form herauszuarbeiten. Zur Aufschlüsslung dieses Forschungsvorhabens wird das Sorgever­ ständnis von Henkel, Karle, Lindemann und Werner (2016) herangezogen. Ausarbeitungen zu Sorge unter einer leibphänomenologischen Fundie­ rung finden sich außerdem bei Gugutzer (2019) in „Sorge als Atmosphä­ re“. Diese können aber nicht auf das Vorhaben überführt werden, da die entwickelten drei Sorge-Typen lediglich unterschiedliche Intensität eines Sich-sorgens präsentieren. Henkel et al. (2016, S. 21) gliedern hingegen den Sorge-Begriff in drei Dimensionen auf: „in die Sorge um sich, die Sor­ ge um den Anderen und die Sorge um die Umwelt“. Für das hiesige Vor­ haben sind v.a. die beiden ersteren Sorgedimensionen von Interesse5.

5 Damit soll keineswegs die ‚Sorge um die Umwelt‘ herabgestuft werden soll: Um in den Worten Böhmes zu sprechen, ist die Umwelt und damit auch die Natur nicht lediglich die Voraussetzung für eine „körperliche Lebensfähigkeit“ (Henkel et al. 2016, S. 24), sondern Natur ist Leib, „weil er [Leib] uns in Selbsterfahrung gegeben ist“ (Böhme 2019, S. 33).

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Die ‚Sorge um sich‘ stellt eine erste Sorge-Form dar, in der die bzw. der Sorgende mit dem oder der Umsorgten in eins fallen: Ein sorgendes Selbst umsorgt folglich ihr oder sein „eigenes Erleben, […] Seele, Bewusstsein, Psyche oder […] Körper-Leib“ (ebd., S. 24). Dabei ist es beinahe selbstver­ ständlich, dass diese Um-sich-Sorgenden in ein gesellschaftliches Netzwerk integriert sind: Beziehungen zu Freund*innen, Familie und Partner*innen aber auch Teilhabe in Organisationen und sozialen Netzwerken, die be­ stimmte kulturelle Auffassungen und gesellschaftliche Normen und Werte teilen. Aus der Kommunikation mit diesen verschiedenen ‚Anderen‘ kann nach Henkel et al. eine zweite Dimension von Sorge resultieren: die ‚Sorge um den anderen‘ (vgl. ebd., S. 24). Dieses Sorgeverständnis ist anschlussfähig an das hier dargelegte Fallbei­ spiel. Medizintechnologien, wie das SCLS, werden von Diabetiker*innen selbst mit Begriffen wie ‚etwas Persönliches‘, ‚ein*e Freund*in‘ oder ‚ein*e Lebenspartner*in‘ umrissen6 (Fragebogenerhebung Sellig Frankreich 2018 bzw. vgl. Sellig 2018). Werden diese Zuschreibungen leibphänomenolo­ gisch betrachtet, kann von „Einleibungen“ (Schmitz 1980, S. 24) gespro­ chen und ein besonderes Sorge-Verständnis herausgearbeitet werden. Wie angeführt, gilt der Leib als etwas ‚Flexibles‘. Das kann dazu führen, dass Diabetiker*innen eben ihre genutzten selbstregulierenden Technolo­ gien höchst individuell unterschiedlich ‚einleiben‘ und in Kommunikati­ on mit diesen Technologien treten: Ein SCLS, getragen an und im Körper, wird ‚vom Leib ergriffen‘. Diese Ergriffenheit äußert sich dann – auch bereits nach wenigen Tagen der erstmaligen Benutzung – wie folgt: „Ich bin jetzt seit drei Tagen im Automodus7 und sonst schon recht zufrieden. In manchen Momenten staunend glücklich (…) das ist für mich ein Ge­ fühl der Leichtigkeit“ (Einzelerhebung Sellig Schweiz 2020). In dieser Ein­ leibungs-Phase vollzieht sich also eine intensive ‚Sorge um den anderen‘ ausgehend von dem SCLS. Hier wird absichtlich nicht von ‚Sorge um sich‘ gesprochen, obwohl der Leib der Nutzenden das SCLS eingeleibt hat, da

6 Die damalig Befragten nutzten zum Zeitpunkt der Befragung noch kein SCLS jedoch eine Vorform dieser. Die Teilnehmer:innen benutzten allesamt einen spezi­ ellen Sensortyp, der ebenso auf der Haut bis zu 2 Wochen getragen wurde und in den Körper zur Bestimmung der Sensorglukose eindrang. Daher können diese Er­ gebnisse der schriftlichen Befragung auch auf das hier skizzierte SCLS übertragen werden. 7 Im sog. Automodus der Insulinpumpe wird das basale Insulin in Adaption an dem Glukosewert (erhalten vom Sensor) automatisiert abgegeben. Insulineinheiten müssen dabei wie gehabt für Nahrung manuell abgegeben werden (vgl. Schlüter et al. 2021). Ein Automodus entspricht damit den Funktionen eines SCLS.

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aus Beobachter*innensicht (also aus der Perspektive einer dritten Person auf eine Dyade) ‚von außen‘ zwei Entitäten mit einer höchst unterschied­ lichen Materialität vorliegen: körperliche Haut vs. u. a. Hartplastik des SCLSs. Gelingt die geschilderte Einleibung und das SCLS funktioniert, wie in diesem Beispiel, können weitere Begriffe gefunden werden, die das neugewonnene Befinden der Nutzerin veranschaulichen: ‚Vertrauen‘, aber auch ‚Zuverlässigkeit‘ (vgl. ebd.). Nicht nur mit wissenschaftlich-quantitativen Erhebungen kann eine Verbesserung des BZ-Spiegels (hbA1c) durch eine regelmäßige Nutzung von SCLS aufgezeigt werden (vgl. Beck und et al. 2017), sondern auch qualitative Befragungen verdeutlichen dies: „Ins­ gesamt bin ich sehr zufrieden. War ja 14 T[age] nach Erhalt der Pumpe beim Diabetologen. HbA1c 8,2 – aber der [von der Pumpe] errechnete von den letzten 2 Wochen lag bei 7,0! Ich bin total beeindruckt. Das zeigt, was diese Pumpe kann“ (Einzelerhebung Sellig Schweiz 2020). Das hier Festgehaltene kann für eine Form der ‚Sorge um den Anderen‘ gelten und geht von einem technologischen System aus. Diese Sorge-Dimension findet aber in einem 12-stündigen Zeitintervall statt und wird durch die Kalibrierungen des SCLS jeweils unterbrochen. Das heißt, die Sorgephase ist strikt technologisch-zeitlich strukturiert. Vergehen nämlich die vorgegebenen 12 Stunden und eine Kalibrierung wird erforderlich, kann diese Einleibungs-Phase enden, d. h. zugleich, dass eine plötzliche Entleibung stattfindet und damit auch diese Form der ‚Sor­ ge um den anderen‘ endet. Ist bspw. Diabetiker*innen situativ die Mög­ lichkeit genommen eine solche erforderliche Kalibrierung durchzuführen, endet nämlich das selbstregulierende Programm. Dem leiblichen Befinden unterläuft nun ein Wandel: Der Übergang von Einleibung und Entleibung verändert die gewonnene körperlich-leibliche Balance zwischen Engung und Weitung auf der Achse des vitalen Antriebs. Dass hieraus Stress resultieren kann, liegt auf der Hand. Hier kann dieser spannende Punkt nicht näher ausgearbeitet werden (vgl. dazu Sellig 2022), vielmehr gilt es darzulegen, was es für die Erkrankten bedeutet, dass sich ein Wandel des Sorge-Verhältnisses vollzieht. Endet nämlich das Zeitintervall nach Plan (12 Stunden) oder auch plötzlich aufgrund eines technischen Defekts, befinden sich die Nutzenden in einer unübersichtli­ chen Situation (vgl. Bitzer et al. 2023). Die Sorgeleistung liegt nun wieder gänzlich in ihren Händen; es beginnt bzw. es muss die sog. Sorge um sich beginnen. Diese Selbstsorge ist für Diabetiker*innen ‚verpflichtend‘, da ohne diese Gefährdungen drohen: Eine Hypoglykämie durch etwa ein Mangel an Nahrung, ein Zuviel von Insulin oder durch sportliche Betätigung oder auf der anderen Seite eine Hyperglykämie als eine körper­ 182

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liche Reaktion auf ein Zuviel von Nahrung, ein Zuwenig an Insulin oder aufgrund einer Erkältung. All diese beispielhaft genannten Gefährdungen äußern sich leib-körperlich. Auf das Beispiel der Hypoglykämie wird zum Verständnis näher einge­ gangen: Nicht nur körperliche Symptome, wie Schwitzen, schwere Beine, Herzklopfen, eine taube Zunge oder zittrige Hände und Beine liegen also vor. Auch leiblich vollzieht sich eine Veränderung: Ein Ausgeliefert-sein, ein Anschein des Verlusts der Kontrolle, ein blockiertes Denken wie im (Alkohol-)Rausch, ein Schweben bzw. Schwindel oder gar der Eindruck, dass der Leib leer wäre, stellt sich ein (Fragebogenerhebung Sellig Deutschland 2020). Wird die Hypoglykämie nicht behandelt, droht der Verlust des Bewusstseins bis hin zum Tod. Die angeführten Zustände ver­ deutlichen, dass unter Heranziehung eines leibphänomenologischen Ver­ ständnisses die bisherige Balance aus dem leib-körperlichen Gleichgewicht gekommen ist. Dies bedeutet wiederum, dass sich das leibliche Befinden auf der Achse des vitalen Antriebs sich in Richtung der Extrempole von Weite und/oder Enge hinbewegt. Wird diese Bewegung nicht ‚gestoppt‘, kann es zu einem Bewusstseinsverlust führen; Bewusstsein schwindet nach Schmitz dann, wenn eine Überschreitung des Extrempols der Weite oder Enge vorliegt (vgl. Schmitz 1994, S. 121). Wie hier deutlich werden kann, ist diese Selbstsorge – auch bei beflissener Befolgung der Regeln von bspw. den behandelnden Ärzt*innen – ein durchaus schwieriges Unterfangen. Selbstregulierende Technologie kann zahlreiche Gefährdungen, wie eine Hypoglykämie, minimieren oder ver­ ändern. Gänzlich können diese jedoch nicht unterbunden werden, da bis dato mit Zeitintervallen ‚gelebt‘ werden muss. Es stellt sich also quasi ein immerwährendes ‚Sorge-Dilemma‘ für erkrankte Personen mit selbstregu­ lierenden Technologien ein – durch ein immer wiederkehrendes Geben und Nehmen von Sorge werden betroffene Personen eben nicht von ihrer Verantwortung für sich und damit von ihrer ‚Sorge um sich‘ freigespro­ chen. Das Sorge-Dilemma bündelt also einerseits ein Verantwortlichblei­ ben im Dualismus zwischen Zeitintervallen (Abgabe der Verantwortung an selbstregulierende Technologie) und andererseits die niemals gänzlich gelingende ‚Sorge um sich‘ in der (Übergangs-)Phase zwischen zwei funk­ tionierenden SCLS, d. h. zwischen zwei Zeitintervallen. Diese ‚Sorge um sich‘ umfasst die Schwierigkeit den leib-körperlichen Biorhythmus in nu­ merische Einheiten zu übersetzen. Als Beispiel könnte eine Mahlzeit her­ angezogen werden: Nicht nur Kohlenhydrate und Fette der Lebensmittel müssen berechnet bzw. geschätzt werden, sondern ebenso die vorherigen und folgenden Alltagsausschnitte. Wird oder wurde beispielsweise Sport getrieben? Oder liegt eine Erkältung vor? Wie fühle ich mich heute? All 183

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diese Parameter fließen in die Berechnung der abzugebenden Insulinmen­ ge im Falle der ‚Sorge um sich‘ mit ein. Selbstverständlich können die errechneten Parameter sich nur einer körperlichen Eigenproduktion von Insulin, die bei den Diabetiker*innen eben fehlt, annähern. Eine technologisch-zeitlich gestützte Sorgeform im Zeitintervall eines SCLS zeichnet sich hingegen durch die folgenden Schritte aus: Zum Be­ ginn einer 12-stündige Sorgephase, müssen die Diabetiker*innen BZ-Da­ ten via BZ-Messgerät dem SCLS geben. Erst dann können Diabetiker*in­ nen sich diese Sorge – in Form einer Fürsorge – borgen. Durch ihr Geben von Körperdaten (BZ), nehmen sich die Nutzenden also Sorge, wissen aber zugleich, dass Sie nach einer bestimmten Stundenanzahl erneut einen BZWert geben müssen, um erneut Sorge nehmen zu können. Dieser Rhythmus von Geben und Nehmen läuft unabhängig von individuellen Befindlichkeiten ab (siehe Falldarlegung Kapitel 2). Dieses zwingende und zeitlich kurze Element der Zeitintervalle stellt einen Stressfaktor (vgl. Sellig 2022) dar, der grundsätzlich einem bisheri­ gen Sorgevorhaben zuwiderläuft. Eine technologisch gestützte Sorge kann also nur funktionieren, wenn Diabetiker*innen nicht nur Körper-Daten geben, sondern ihren gesamten Lebensalltagsrhythmus an diese Sorgeleis­ tung, an das Sorge-Nehmen, anpassen. Damit müssen Nutzer*innen im­ mer das aufgezeigte Sorge-Dilemma mit sich tragen. Darüber hinaus gelingt eine technologische Sorgeübernahme nur, wenn die Vorteile einer Minderung der Gefahren – und damit die Steigerung und Verlängerung des Lebens – nicht dem gewohnten Lebensalltagsrhyth­ mus entgegenstehen. Für diese entstehende Sorgeform spricht aber, dass sie trotzdem eine Selbstbestimmung der Erkrankten weiter vorantreiben kann. Hinter dem Wort der Selbstbestimmung soll hier auch das Wort Eigenverantwortlichkeit und Fähigkeitserweiterung stehen. Dies ist selbst­ verständlich ein Prozess der Aushandlung zwischen Nutzer*innen von SCLS, wie dies auch das folgende Zitat demonstriert: „Es [SCLS] ist noch nicht ganz Normalität geworden“ (Einzelerhebung Schweiz Sellig 2020). Offen bleibt hierbei auch absichtlich, was für Diabetiker*innen Normalität bedeutet. Ob jedoch Normalität in Zeitintervallen erlebbar ist, bleibt frag­ lich. 5 Technologisch generierte Sorge: Anschlussfähigkeit? Herausgearbeitet wurde, dass durch eine leibphänomenologische Fundie­ rung zum Sorge-Verhältnis zwischen selbstregulierenden Technologien und Nutzer*innen leibliche Nähe alleine keine Sorgeleistung darstellt. 184

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Dennoch dient eine leibphänomenologische Fundierung dafür, dass dieses Sorge-Dilemma erst aufgedeckt werden kann. Demnach wird diese Form der Sorge zeitlich verortet. Die herausgearbeitete Sorge-Form macht also eine Anpassung an die technologisch orientierte Zeit zur Bedingung von Sorge-Leistungen. Nutzer*innen, die sich nicht mit den Zeitintervallen arrangieren können, bleibt eine Sorge-Leistung verwehrt. Damit kann eine solche Sorge nur durch ein fortwährendes Geben und Nehmen von aus­ schließlich der sorgebedürftigen Person initiiert werden, die selbst immer in einem Sorge-Dilemma ‚gefangen‘ bleibt: Durch Zeitlichkeit wird eine Sorgeleistung zum Selbststress und führt wiederkehrend zu einer ‚Sorge um sich‘ selbst; selbstregulierende Technologie belässt also ein Verantwort­ lichbleiben bei den Nutzenden. Ob diese Sorge-Leistung zielführend ist, bleibt offen; umso lohnenswerter wären diesbezüglich sozialwissenschaftliche Studien, die sich mit selbstregulierenden oder selbstlernenden Techno­ logien und deren Nutzer*innen befassen. Literaturverzeichnis Antony, Alexander. 2017. Aktive Teilnahme. Sinnlich-leibliche Erfahrung als Ins­ trument und Gegenstand ethnografischer Praxis. In Kulturen der Sinne: Zugän­ ge zur Sensualität der sozialen Welt, Hrsg. Karl Braun, Claus-Marco Dieterich, Thomas Hengartner und Bernhard Tschofen, 199–206. Würzburg: Königshau­ sen & Neumann. Antony, Alexander. 2018. Eine Soziologie leiblichen Relationiert-Seins. Am Bei­ spiel einer Ethnographie der „Atemarbeit“. In Wissensrelationen. Beiträge und Debatten zum 2. Sektionskongress der Wissenssoziologie, Hrsg. Angelika Poferl und Michaela Pfadenhauer, 512–522. Weinheim Basel: Beltz Juventa. Beck, Roy W., Tony Riddelswoth, Katrina Ruedy, Andrew Ahmann, Richard Ber­ genstal, Stacie Haller, Craig Kollman, Davida Kruger, Janet B. McGill, William Polonsky, Elena Toschi, Howard Wolpert und David Price. 2017. Effect of Continuous Glucose Monitoring on Glycemic Control in Adults With Type 1 Diabetes Using Insulin Injections. The DIAMOND Randomized Clinical Trial. JAMA 317 (4):371–378. DOI: https://doi.org/10.1001/jama.2016.19975 Belliger, Andréa, und David J. Krieger. 2006. ANThology: ein einführendes Hand­ buch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: Transcript. Bitzer, Melanie, Isabelle Bosbach, Johannes Burow, Laura Band, Christian Ehrens, Mareike Hoffmann, Jana John, Olga Kedenburg Julia Sellig und Lisa Stiller. 2023. Einleitung: Zeit und Sorge. Eine Verhältnisbestimmung. In Zeit und Sor­ ge (Dimensionen der Sorge 8), Hrsg. Melanie Bitzer, Isabelle Bosbach, Johannes Burow, Laura Band, Christian Ehrens, Mareike Hoffmann, Jana John, Olga Ke­ denburg, Julia Sellig, Lisa Stiller, Anna Henkel, Isolde Karle, Gesa Lindemann und Micha Werner 11–28. Baden-Baden: Nomos.

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Sorge in Zeiten der Robotik. Zur Erweiterung einer transhumanen Sorgekonzeption Johannes Frederik Burow

1 „Ich bin kein Mensch, aber ich kann dir helfen, wenn du Sorgen hast.“1 In Zeiten des demographischen Wandels und des damit einhergehenden ‚Pflegenotstands‘ sowie einer allgemeinen (auch institutionell geförderten) Technisierung und Algorithmisierung der Gesellschaft werden besonders für Sorge-Kontexte zunehmend Sozialroboter*innen2 konzipiert und reali­ siert. Ein solcher ist bspw. der in der Kapitelüberschrift zitierte Chatbot, der Kindern in Notsituationen vertrauensvoll Unterstützungsangebote ver­ mitteln soll (vgl. Botti 2020). Interaktive Spielzeugroboter*innen verspre­ chen, Betreuungs- und Erziehungsaufgaben zu übernehmen (vgl. McRey­ nolds et al. 2017). Liebe gebende Partnerroboter*innen (vgl. Levy 2008) und fürsorgliche Pflegeroboter*innen (vgl. Hergesell et al. 2020) werden seit Jahrzehnten entworfen und nehmen in den letzten Jahren konkretere Gestalt an. Die Robotik selbst ist dabei – nicht nur in der Science-Fiction, sondern auch in Forschung und Entwicklung – ein auf die Zukunft gerichtetes, ge­ sellschaftliches Sorge-Versprechen: Die Unübersichtlichkeit der Zukunft muss uns keine Sorge bereiten, Roboter*innen werden uns das Leben er­ leichtern und uns ein sorgloses Leben ermöglichen. „Die Setzung, dass Ro­ botik den Auftrag habe, an der Realisierung vorgestellter Zukünfte mitzuwir­ ken, wird zur Legitimation und Motivation der Robotikforschung“, formu­ liert Bischof (2017, S. 145, Herv. i. O.) in Bezug auf das seit Jahrzehnten immer wieder erneuerte Versprechen einer bald eintretenden Zukunft mit Roboter*innen. Im Folgenden wird aber nicht dieses übergreifende Ver­

1 Zitat eines Prototypen des Botti Chatbots (Botti 2020). 2 Mit der gendergerechten Schreibweise wird auf den Widerspruch verwiesen, dass ‚Roboter‘ fast ausschließlich männlich bezeichnet werden, obwohl die Konstrukti­ on und Programmierung in vielen Fällen darauf abzielt, dass die ‚Roboterinnen’ als weiblich gelesen werden (vgl. Robertson 2011). Dies ist insbesondere im SorgeKontext von hoher Relevanz, da auch in diesem Weiblichkeitskonzeptionen und -stereotype beinhaltet sind und verhandelt werden.

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sprechen der Robotik als Form der Sorge betrachtet, sondern zunächst her­ geleitet, wie konkrete Sorge-Situationen mit robotischer Beteiligung über­ haupt theoretisch eingeordnet und empirisch untersucht werden können. Denn erst darauf aufbauend lässt sich fragen, ob und wie Roboter*innen Sorge tragen können und ob das großangelegte Zukunftsversprechen der Robotik für den Sorge-Kontext tragfähig ist. Der Kontext Sorge stellt Roboter*innen vor eine ‚Extremsituation‘, wird doch für Sorge-Situationen ein besonders hohes Maß an Menschlichkeit und Empathiefähigkeit insinuiert. Empirische Studien legen nahe, dass es, wenn Sorgeroboter*innen Menschen nahekommen, zu Formen von Sorge kommt und damit zu Interaktionssituationen mit persönlichen und gesell­ schaftlichen Auswirkungen. Eine genaue Analyse der Bedingungen und Grenzen solcher transhumanen Sorge-Situationen ermöglichen klassische soziologische Interaktionstheorien nur begrenzt, da diese meist Subjekte oder Akteur*innen voraussetzen. Das Konzept der „Dimensionen der Sor­ ge“ (Henkel et al. 2016) bietet sozialtheoretische Offenheit in Bezug auf die Form sorgender Entitäten. Es ermöglicht trotzdem, in seiner bisheri­ gen Ausrichtung, nur eine eingeschränkte Sicht auf Roboter*innen im Sor­ ge-Kontext, was mit dem zentralgestellten reflexiven sorgenden Selbst zu­ sammenhängt. Um die Kontingenz sorgender Einheiten theoretisch und empirisch für Sorge-Situationen mit Beteiligung von nicht-menschlichen Entitäten weiter zu öffnen, wird mit den Formen der „Einleibung“ (Schmitz 2011, S. 29) eine neophänomenologisch orientierte Interaktions­ perspektive als Ergänzung vorgeschlagen. Die vorgeschlagene Perspektive fügt sich in den bestehenden Rahmen der ‚Dimensionen der Sorge‘ ein und ermöglicht es, robotische und andere transhumane Sorge nicht impli­ zit auszuschließen, sondern ihre Möglichkeiten und Grenzen zu analysie­ ren. Zunächst wird dafür die Problemstellung der theoretischen Verortung von sorgenden Roboter*innen begründet: Gemeinhin werden ein Ak­ teur*innenstatus für Interaktion sowie Reflexionsfähigkeit für Sorge vor­ ausgesetzt oder fokussiert (Kapitel 2). Mit den Formen der „Einleibung“ (ebd.) wird daraufhin eine transhumane Interaktionsperspektive vorge­ schlagen (Kapitel 3). Anhand bestehender Forschungsergebnisse wird an­ schließend aufgezeigt, wo transhumane Sorge mit robotischer Beteiligung auftritt, und wie diese exemplarisch re-interpretiert werden kann (Kapitel 4). Abschließend wird im Ausblick argumentiert, wie mit dieser erweiter­ ten Situations- und Beziehungsanalyse transhumane Praktiken und Phäno­ mene zentral gestellt werden können (Kapitel 5).

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2 Theoretische Hürden für Sorge-Roboter*innen Sozialroboter*innen sind dazu konzipiert, mithilfe ihrer maschinellen Kör­ per und ‚künstlicher Intelligenz‘ mit Menschen zu interagieren – sie sind darauf ausgelegt, sozial zu erscheinen oder zu wirken. In Sorge-Situationen treten die Schnittstellen von Leiblichkeit, Sorge und Interaktion besonders zutage und zeigen die Grenzen soziologischer Interaktionstheorien auf. Sie ermöglichen es nicht oder nur bedingt, Sozialroboter*innen einzuschlie­ ßen, da ihnen dafür der entsprechende Subjekt- oder Akteur*innenstatus fehlt. Ein analoger Fokus in Sorge-Konzeptionen erschwert auch dort die Inklusion von Sorgeroboter*innen und anderen Formen transhumaner Sorge. 2.1 Keine Interaktion ohne Subjektstatus Im interdisziplinären Feld der Human-Computer-Interaction (HCI), in das man auch die Human-Robot-Interaction (HRI) einordnen kann (vgl. Bart­ neck et al. 2020), haben sich im Laufe der Zeit und in den verschiedenen Disziplinen sehr unterschiedliche Interaktionsbegriffe ausgebildet. Dies wird anhand der Beschreibung von drei Paradigmen deutlich: Das erste Paradigma aus Ingenieurswissenschaften und Programmierung sieht Inter­ aktion als optimierbare „form of man-machine coupling […] inspired by industrial engineering“ (Harrison et al. 2007, S. 4). Das zweite Paradigma versteht Interaktion als Informationsaustausch zwischen Gehirn und Com­ puter. Der Blick im dritten Paradigma, aus Disziplinen der Sozialwissen­ schaften, bettet die Interaktion von Mensch und Computer ein und sieht „all action, interaction, and knowledge […] as embodied in situated hu­ man actors“ (ebd., S. 7). Eine solche sozialwissenschaftliche HRI-Forschung liefert vielseitige Er­ kenntnisse, besonders zur Soziabilität von Roboter*innen und hebt her­ vor, dass sie diese erst durch das Zutun ihrer menschlichen Gegenüber er­ halten. Menschen verhalten sich, laut Alač, in Form einer „situativ gebun­ denen interaktionalen Unterstützung“ (Alač 2016, S. 42). Bischof (2017) stellt fest, dass Roboter*innen bereits in der Entwicklung durch aufwändi­ ge Einordnungs- und Einbettungsarbeit sowie inszenierende Praktiken der Entwickler*innen und Ingenieur*innen belebt werden, um als soziale Ak­ teur*innen wahrgenommen zu werden. Diese Hinwendung zu Fragen des Subjekt- oder Akteur*innenstatus in soziologischen Analysen von Sozialro­ botik (vgl. bspw. auch Straub 2020) ist in den Perspektiven soziologischer Interaktionstheorien begründet. 191

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Klassische soziologische Interaktionstheorien sind festgelegt auf Situa­ tionen, in denen handelnde Personen miteinander in Beziehung treten. Berger und Luckmann betonen bspw., dass die „fundamentale Erfahrung des Anderen“ diejenige in „Vis-à-vis-Situationen“ ist (Berger und Luck­ mann 1977, S. 31f.). Auch Goffmans Interaktionsbegriff geht von einer Be­ gegnung zweier Subjekte aus. So „kann ‚Interaktion‘ […] grob als der wechselseitige Einfluß [sic!] von Individuen untereinander auf ihre Hand­ lungen […] definiert werden“ (Goffman 2003, S. 18). Interaktion mit Be­ teiligung von Roboter*innen wäre damit nur möglich, wenn diese auf einer Stufe mit menschlichen Individuen stünden, was aber verneint wer­ den muss (vgl. Burow 2019). Auch Luhmanns (1997) Kommunikations­ theorie setzt durch die Betonung der ‚Selektion‘ von Informationen Be­ wusstseinssysteme voraus, die meist als menschlich interpretiert werden, wenngleich neuere systemtheoretische Überlegungen versuchen, auch Al­ gorithmen einzuschließen (vgl. bspw. Baecker 2018; Muhle 2013). Die Ak­ teur-Netzwerk-Theorie (vgl. Latour 1997) schließt zwar die Möglichkeit nicht-menschlicher Akteur*innen ein, fokussiert aber die Netzwerke und ihre Wechselwirkungen, weniger die Interaktion selbst. Die Sozialtheorie der „Weltzugänge“ von Lindemann (2014) stellt der Individualperspektive eine „reflexive Ordnungsbildung“ entgegen, in der es als empirisch offen und historisch ausgehandelt gilt, „welche Wesen als Glieder der personalen Mitwelt anzuerkennen sind“ (ebd., S. 19). Robo­ ter*innen könnten somit aus einer „triadischen“ (ebd., S. 119f.) Perspekti­ ve als soziale Personen anerkannt werden. Der empirische Fokus liegt bis­ her allerdings auf den „Grenzziehungen“ (ebd., S. 104) zwischen sozialen Personen und anderen Entitäten, wie auch im folgenden Kapitel aufge­ zeigt wird. Der Blick auf Bedingungen und Formen des Gelingens oder Misslingens von transhumaner Interaktion – im konkreten Fall von sor­ genden Roboter*innen – ist aus dieser Perspektive grundsätzlich möglich, bedarf jedoch eines differenzierteren Analysekonzepts. Als Ergänzung bie­ tet sich ein Zugang an, der Schmitz‘ Neue Phänomenologie einbezieht, wie in Kapitel 3 dargelegt wird. Zunächst wird jedoch aufgezeigt, wie sich die Einschränkungen durch die Akteur*innenfokussierung teilweise in den Konzeptionen von Sorge fortsetzen. 2.2 Keine Sorge ohne Reflexionsfähigkeit Der bisher im Forschungsprogramm entwickelte Umriss der ‚Dimensio­ nen der Sorge‘ zielt darauf, „einen neutralen wie interdisziplinär anschluss­ fähigen Rahmen“ (Henkel et al. 2016, S. 30) zu schaffen und distanziert 192

Sorge in Zeiten der Robotik. Zur Erweiterung einer transhumanen Sorgekonzeption

sich damit von normativen Sorgedefinitionen. Die Fokussierung auf sor­ gende Selbste erschwert jedoch die Analyse von robotischer und anderer transhumaner Sorge. Diese wäre bspw. in der fürsorgenden Wirkung von Tieren oder anderen Entitäten, wie der vertrauten Umgebung des heimi­ schen Schlafzimmers, anzunehmen. Auch die anderen vielschichtigen Konzeptionen von Sorge und Care – ob als Machtverhältnis, Arbeit, Prak­ tiken – fokussieren Akteur*innen oder ihre Verhältnisse (vgl. bspw. Fine 2007; Thelen 2014), weshalb ihnen die genannten Einschränkungen ge­ mein sind. Die anschließend präsentierte Erweiterung könnte für verschie­ dene Sorge-Verständnisse bereichernd sein, zielt aber explizit auf die ‚Di­ mensionen der Sorge‘ ab. Als Kern dieses Forschungsprogramms wird „die methodische Bestim­ mung von Sorge als Beziehung zwischen einem sorgenden Selbst und einem ‚Worum‘ seiner Sorge“ (Henkel et al. 2016, S. 21) dargestellt und in die drei Dimensionen der „Sorge um sich“, der „Sorge um den Anderen“ und der „Sorge um die Umwelt“ (ebd.) gegliedert. Die drei Dimensionen leiten sich dabei von Plessners (1975) Philosophischer Anthropologie ab. Diese gibt auch die Definition des sorgenden Selbst in den ‚Dimensionen der Sorge‘ vor, das sich durch eine „exzentrische Positionalität“ (ebd., S. 327) auszeichnet, wie Henkel (2016, S. 44) und Lindemann (2016, S. 81) präzisieren. Das Programm der ‚Dimensionen der Sorge‘ betont die Offenheit darüber, „welche Einheit in diesem Sinne eines gegenwärtigen Zu­ kunftsbezugs ‚sich sorgt‘“ (Henkel 2016, S. 44). Auch Plessner (1975) be­ tont, dass keine bestimmte Gestalt an diese exzentrische Positionalität ge­ bunden sei. Aus Sicht einer individualistischen Interpretation Plessners las­ sen sich deren Aspekte fast ausnahmslos auf den Menschen anwenden, denn dieser „lebt und erlebt […] nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben“ (ebd., S. 292). Auch bei systematischer Überprüfung der Aspekte, die ein einzelnes exzentrisch positionales Selbst nach Plessner auszeichnen, bleibt nur der Schluss, dass Entitäten wie Roboter*innen diese Stufe ebenso we­ nig erreichen können, wie bspw. die meisten Tiere. Hinderungsgründe da­ für sind u. a. „die menschengemachte Künstlichkeit sowie das fehlende Selbst-Bewusstsein“ (Burow 2019, S. 210). Die „dividualistische“ Mitwelt-Perspektive Lindemanns (2019, S. 14ff.), die auch für ihre Konzeption von Sorge leitend ist, plädiert aber für eine Re-Interpretation Plessners. Diese stellt die Reflexivität der Beziehungen leiblicher Selbste in den Vordergrund und rekonstruiert aus den triadi­ schen Verhältnissen, welche Bedingungen in diesen für die Anerkennung als soziale Person ausschlaggebend sind. Eine so entstehende „gesellschaftliche Grenzziehung“ (Lindemann 2014, S. 123) bleibt daher kontingent

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und „empirisch zugänglich sind nur die Formen, in denen die Grenzzie­ hungen zum Ausdruck kommen“ (ebd., S. 104). Die Herleitung über Plessner ist somit geeignet, um sich von individua­ listischen und normativen Perspektiven des sorgenden oder umsorgten Menschen zu lösen. Durch die gleichzeitig für Sorge gesetzte Bedingung der Reflexionsfähigkeit von Zukunftsbezügen bleibt der Fokus bisher aber auf die (Nicht-)Anerkennung ebendieser gesetzt. Die ‚Dimensionen der Sorge‘ und die empirische Anwendung der ‚Weltzugänge‘ sollten um die Analyse konkreter Interaktionssituationen erweitert werden, in denen es nicht bzw. nicht nur um generalisierte Anerkennung geht, sondern darum, wie Sorge und Interaktion gelingen oder misslingen. Um den Aspekt der unmittelbaren leiblichen Interaktion präziser auszuarbeiten, schlage ich eine Ergänzung um die Formen der Einleibung nach Schmitz vor. Die Sorge-Perspektive läuft sonst Gefahr auch bspw. den sorgetragenden oder -lindernden Einfluss von Architektur (vgl. Uzarewicz 2012), Kunst (vgl. Edwards 2004) oder anderen Gegenständen wie Erinnerungsfotos auf eine rein vermittelnde Funktion als Medien der Sorge um den Anderen oder auf die „Außenverhältnisse“ (Henkel et al. 2016, S. 25) von Sorge-Re­ lationen zu reduzieren. Die Beziehungen zu und Bezugnahmen auf solche nicht-menschlichen Entitäten in Sorge-Situationen könnten in der aktuel­ len Sorge-Konzeption lediglich als Akt der Selbstsorge betrachtet werden. Eine Öffnung auf Interaktionsebene kann andere Seiten von Sorge in den Blickpunkt rücken und neue Erkenntnisse über Sorgebezüge und deren Einflüsse auf konkrete Sorge-Situationen liefern. Durch die Verkörperung als scheinbar interaktiv agierende Entitäten tritt bei Roboter*innen die Sorgehandlung eines anderen exzentrisch po­ sitionalen Selbst möglicherweise in den Hintergrund, die mit der Kon­ struktion oder Inbetriebnahme intendiert war. Es entspricht nicht den empirischen Phänomenen, solche Interaktionen mit Roboter*innen auf die Selbstsorge der umsorgten Person zu reduzieren, wie im folgenden Kapitel dargestellt wird. Auch bei anderen Entitäten in Sorgekonstellatio­ nen, wie einer geliebten Wärmflasche oder dem Haustier, begrenzen die vorangestellte Frage nach der Reflexivität sowie die Betrachtung als Medi­ um oder Selbstsorge die empirischen Möglichkeiten, sich den erlebten Phänomenen zu nähern. Als Selbstsorge oder Außenbeziehung wird die sorgetragende Wirkung von nicht-reflexiven Entitäten allein in die Hände und die Handlung der beteiligten sorgenden Selbste gelegt. Im phänome­ nalen Erleben würde aber bspw. der sich um sein verletztes ‚Herrchen‘ kümmernde Hund weder von der umsorgten Person noch von beobachte­ ten Dritten als Einheit der Selbstsorge der Eigentümer*innen angesehen, 194

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sondern als sorgende Entität. Die gesetzte Kontingenz in Bezug auf die Form der sich sorgenden Entität gibt hier zwar Raum, es fehlt aber an einem differenzierenden Konzept, um die Interaktion in solchen konkre­ ten Sorge-Situationen zu analysieren. 3 Einleibung als Interaktionsperspektive transhumaner Sorge Im dritten Paradigma der HCI und auch in der HRI werden zunehmend soziologische Theorien als Interaktionsperspektiven angelegt. Klassische soziologische Interaktionstheorien können allerdings Sozialroboter*innen nicht einschließen, da diesen der entsprechende Subjekt- oder Akteur*in­ nenstatus fehlt. Auch die bisherige Fokussierung der drei Dimensionen der Sorge auf das reflexive sorgende Selbst schränkt die Analyse von trans­ humanen Sorge-Situationen ein. Durch die Betrachtung von Sorgerobo­ ter*innen als Außenbeziehung, als Medium oder als Instrument der Selbst­ sorge kann nur eingeschränkt danach gefragt werden, ob und wie Sorge durch Roboter*innen geleistet werden kann – während die technischen Innovationen eben dies großmütig verheißen und menschliche Sorgeleis­ tende durch sie ersetzt werden sollen. Die Untersuchung von Sorge-Situationen, in denen Roboter*innen Menschen nahe kommen, benötigt eine offenere Interaktions-Perspektive. Im Unterschied zu den klassischen soziologischen Interaktionstheorien er­ laubt es die Einbeziehung der Neuen Phänomenologie von Schmitz, trans­ humane Interaktionssituationen empirisch zu untersuchen. Lindemann schlägt bereits vor, das „leibliche Betroffensein“ nach Schmitz in die Kon­ zeption von Sorge zu integrieren, um zwei Formen von Sorge als „motivie­ renden reflektierten Zukunftsbezug“ und als „Art des leiblichen Motiviert­ seins“ zu unterscheiden (Lindemann 2016, S. 86). Die leibliche Betroffenheit passiert nach Schmitz im Erleben von „Gefühle[n] als Atmosphären“ (Schmitz 2014, S. 30) oder dann, wenn andere Entitäten in das eigene Be­ finden einwirken. Eine Ergänzung der Sorge-Konzeption um die differenzierte Betrachtung solcher ‚Einleibungen‘ ist insbesondere für transhuma­ ne Sorge-Situationen gewinnbringend. In der Neuen Phänomenologie geht die leibliche Wahrnehmung der bewussten Wahrnehmung voraus. Somit ermöglicht diese Perspektive es unter anderem, auch Interaktions-Situationen mit nicht-bewussten bzw. nicht-exzentrischen Entitäten zu analysieren, – die einschränkende Frage

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zum Subjekt- und Objektstatus bspw. von Roboter*innen kann in den Hintergrund rücken.3 Als Hauptunterschied zur klassischen Phänomenologie Husserls herrscht bei Schmitz nicht das Bewusstsein als zentrales Primat, sondern die oben genannte „affektive Betroffenheit“ (Schmitz 1964, S. 10) des Leibs. Darauf aufbauend entwickelt Schmitz die ‚leibliche Kommunikati­ on‘, ‚Gefühle als Atmosphären‘ und eine Raumtheorie, die über die den messbar ausgedehnten Raum hinausgeht. In der von Schmitz formulierten Leibphänomenologie ist der Leib das, was man von sich selbst spürt, „ohne sich auf das Zeugnis der fünf Sinne (Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken) und des perzeptiven Körperschemas (des habituellen Vorstel­ lungsbildes vom eigenen Körper) zu stützen“ (Schmitz 2003, S. 25). Im Ge­ gensatz dazu ist der Körper das, was man von sich sieht oder tastet, also sinnlich wahrnimmt. Der Leib meint nicht ein zweites Ding wie den Kör­ per, sondern zielt auf den Zustand, auf die „leiblichen Regungen“ (ebd.). In dem umfassenden Vokabular zur Beschreibung der Leibregungen, dem „Alphabet der Leiblichkeit“ (Schmitz 1965, § 55), sind „Enge“ (auch „Engung“) und „Weite“ (auch „Weitung“) (ebd., § 48) die elementaren Ty­ pen, die Extrema. Das Wechselspiel der beiden bezeichnet Schmitz als „vi­ talen Antrieb“ (ebd.). Dieser führt, solange er nicht gestört ist, nach einem Extrem über das andere wieder in ein gewisses Gleichgewicht zurück (vgl. Schmitz 2003, S. 26f.). Verschiedene Autor*innen haben Schmitz für soziologische Fragestel­ lungen fruchtbar gemacht. Früh schon hat Lindemann (1993), Schmitz mit Plessner kombiniert und beide als zentrale Ausgangspunkte ihrer Sozi­ altheorie der „Weltzugänge“ (Lindemann 2014) herangezogen. Henkel (2022) schlägt beide wiederum als mögliche Erweiterung von Luhmanns

3 Das „Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit“ (Plessner 1975, S. 321), auf das auch Lindemann Bezug nimmt, besagt, dass die ‚exzentrische Positionsform‘ seine Gren­ ze kennt und diese zusätzlich reflektieren kann. Es entsteht eine „indirekt-direkte Beziehung“ (ebd., S. 324), in der die Vermitteltheit unmittelbar wahrgenommen wird. Auch leibliche Regungen können empirisch nur in der sprachlich-symbo­ lisch vermittelten Form untersucht werden, in der sie vermittelt dargestellt werden und bilden somit eine methodologische Herausforderung. Die Rekonstruktion von leiblichen Regungen aus soziologisch untersuchbaren Daten kann in dieser knappen Ausführung nicht ausführlich dargestellt werden, wird aber in den unten genannten soziologischen Anwendungen der Neuen Phänomenologie teils disku­ tiert oder angewandt. Die Einbeziehung von nicht-menschlichen Entitäten wie Ro­ boter*innen bedeutet zusätzliche methodische Hürden. Hier geht es zunächst darum, den theoretischen Ausgangspunkt für Interaktionen mit nicht-reflexiven Entitäten darzustellen.

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Systemtheorie vor. Andere Autor*innen entwickeln soziologische Pro­ gramme, die nah an der Neophänomenologischen Theorie angelehnt sind. Michael Uzarewicz (2011) stellt eine „neophänomenologische Soziologie des Transhumanen“ vor, die sich als Kritik der geschilderten SubjektivitätsFokussierung der klassischen Soziologie liest. Gugutzers (2017) Programm der „Neophänomenologischen Soziologie“ stellt die „passiv-pathische Ein­ gebundenheit der Menschen in soziale Kontexte“ (ebd., S. 162) in den Mit­ telpunkt und will die „rationalistisch-kognitivistische Reduktion sozialer Wirklichkeitskonstruktion um die Idee einer untrennbaren Verschrän­ kung von Leib und Welt“ erweitern (ebd.). Er betont die Wichtigkeit der „wechselseitigen Einleibung“ als „Grundform des Sozialen“ (ebd., S. 153, Herv. i. O.). Uzarewicz und Uzarewicz (2019) unterstreichen konkret den Bedarf empirischer Forschung zu leiblicher Kommunikation in MenschMaschinen-Verhältnissen in der Pflege. Sellig (2022) betrachtet bereits sol­ che leib-körperlichen Verhältnisse am Beispiel von medizintechnologi­ schen selbstregulierenden Systemen, die von Diabetiker*innen im und am Körper getragen werden. Die Zahl empirischer soziologischer Arbeiten ist bisher begrenzt. Ne­ ben einem Beitrag von Lindemann und Schünemann (2020) zu leiblicher Anwesenheit in mediatisierter Kommunikation arbeitet Gugutzer mit sei­ nem Ansatz einer NPS zu Themen rund um Körper und Sport (vgl. bspw. Gugutzer 2002; Elm und Gugutzer 2021). An einer empirischen Untersu­ chung von Nähe und Interaktion in Videokonferenzen (vgl. Burow 2022) zeigt sich, dass Phänomene in einem interaktionstheoretisch schwierigen Terrain mit Schmitz soziologisch zugänglich gemacht werden können. Die Übertragung auf transhumane Sorge ermöglicht Zugang zu einem weiteren Grenzbereich des Sozialen. Zentral für die Analyse von Interaktion mit (nicht-)menschlichen Enti­ täten ist dabei der Begriff der „Einleibung“ (Schmitz 2011, S. 29). Dieser beschreibt Situationen, in denen Leiber mit anderen Leibern oder Dingen in Kontakt treten und diese somit in das eigene Befinden eingreifen. So entsteht ein übergreifender „Quasi-Leib“ (ebd.). In der „antagonistischen Einleibung“ (ebd.) ist der ‚vitale Antrieb‘ auf mehrere Partner*innen ver­ teilt. Diese Form kann dabei „einseitig“ (ebd., S. 38) sein, wenn die Rollen­ verteilung in Bezug auf die Dominanz festgelegt ist und das eingeleibte (passive) Gegenüber völlig von dem anderen abhängig ist, an ihm hängt wie gefesselt. Ein Beispiel dafür ist das intuitive Ausweichen vor einer her­ annahenden Masse (vgl. ebd.). In der „wechselseitigen“ (ebd., S. 40) Form der antagonistischen Einleibung wechselt sich die Dominanzrolle im ge­ meinsamen vitalen Antrieb ab. „Die Partner[*innen] wechselseitiger Ein­ leibung spielen sich in kleinen Intervallen die Dominanz wie einen Ball 197

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zu.“ (Schmitz 2011, S. 40) Diese Form entspricht dem klassischen Interak­ tionsverständnis und ein Beispiel wäre der Blickwechsel in einem Flirt. Während es aus dieser Perspektive gewiss zu einseitigen antagonisti­ schen Einleibungen mit Roboter*innen kommt, kann auch hergeleitet werden, wie es zu wechselseitig antagonistischer Einleibung zwischen Menschen und Roboter*innen kommen kann und welche Bedingungen für solche Situationen ausschlaggebend sind. Solche Fälle der „Du-Evi­ denz“ (ebd., S. 41) würden in Plessners Ansatz der Inanspruchnahme von Reflexivität des Gegenübers (vgl. Plessner 1975, S. 300) entsprechen. Somit ermöglichen sie, konkrete inkludierende Formen der sozialen Grenzzie­ hung zu analysieren. Im Gegensatz zu anderen Interaktionstheorien lassen sich auf diesem Weg die situativ kontingente Grenze zwischen einseitiger und wechselseitiger antagonistischer Einleibung und ihre Bedingungen detailliert untersuchen. Diese Möglichkeit lässt sich schließlich auch auf andere Formen transhumaner Sorge und auf Interaktion im Allgemeinen übertragen. 4 Sozialroboter*innen in Sorge Sowohl soziologische Interaktionstheorien als auch das Konzept der ‚Di­ mensionen der Sorge‘ profitieren von der dargestellten Erweiterung. Aus­ gehend von den Formen der Einleibung wird dies nun anhand einer Re-Interpretation bestehender Forschung exemplarisch gezeigt: Die ent­ wickelte Interaktionsperspektive weist darauf hin, dass es zu transhuma­ nen Bezugnahmen kommt, die als Einleibungen betrachtet werden kön­ nen. Am Diskurs um Partnerroboter*innen zeigt sich, dass die (un)mög­ liche Zuordnung als Subjekt auch rechtliche und moralische Fragen be­ rührt. Mit Fokus auf Einleibungen kann (robotische) tiergestützte Thera­ pie als Sorgekonstellation begriffen werden. Die Verbindung von Robotik und institutioneller Sorge zeigt, wie die Betrachtung als Außenbeziehung die intimen Interaktionen von robotisch Umsorgten übersieht. Die Sozial­ roboter*innen in Sorge werden zur Übersicht in drei Gruppen unterteilt, in Spiel-, Partner- und Pflegeroboter*innen, welche den Lebenslauf mensch­ licher Sorge-Bedürfnisse überspannen, und für die eine weitreichende An­ wendung angenommen wird. An Studien zu Spielroboter*innen für Kinder zeigt sich, dass Formen von Interaktion stattfinden, die über die Beschäftigung von Menschen mit Objekten hinausgehen und fürsorgliche Komponenten beinhalten. Spiel­ roboter*innen erzählen Gutenachtgeschichten, unterrichten Sprachen und versprechen, Betreuungs- und Erziehungsaufgaben wie das abendliche 198

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Zähneputzen zu übernehmen (vgl. McReynolds et al. 2017). Die Interakti­ on mit ihnen wird in verschiedenen Studien untersucht: Turkle beschreibt eine Generation von Kindern und Jugendlichen, welche von interaktivem Spielzeug umgeben ist, das Emotionen und Zuwendung darstellt und im Gegenzug auch Sorge (i. S. v. „care“ (Turkle 2011, S. 10f.)) einfordert. Als Unterschied zum Spiel mit klassischen Puppen hebt sie hervor, dass Kin­ der sich ihre Spielroboter*innen als Vorbild nähmen und sich an deren Ausdruck und Auftreten anpassten (vgl. ebd., S. 292). Außerdem neigten Kinder dazu, die Äußerungen und das Verhalten ihrer smarten Spielzeuge bis in die Wortwahl nachzuahmen (vgl. McReynolds et al. 2017, S. 5201). Das körperliche und sprachliche Nachahmen lässt darauf schließen, dass es zu intensiven Einleibungen der Kinder mit den Roboter*innen kommt. In­ wieweit dies wechselseitige Formen von antagonistischer Einleibung sind, kann in der Re-Interpretation nicht detailliert analysiert werden. Die Nachahmung und Identifikation der Kinder mit den Roboter*innen spricht aber dafür, dass die Dominanzrolle im Austausch hin- und her­ wechselt. Eine Metastudie zeigt, dass Vertrauen und Nähe zwar geringer als im Umgang mit anderen Menschen empfunden würden, aber in Inter­ aktion mit Roboter*innen stärker ausgeprägt seien als beim Spielen allein oder mit nicht-interaktiven Spielzeugen (vgl. van Straten et al. 2019). Die Autor*innen beschreiben Spielroboter*innen daher als eine hybride onto­ logische Kategorie zwischen dem Lebendigen und dem Unbelebten, da mit ihnen soziale Beziehungen aufgebaut würden. Eine Untersuchung ebendieses Zwischenbereichs ist mit einer um Schmitz‘ Vokabular erwei­ terten Sorgekonzeption möglich. Anhand solcher Spielroboter*innen zeigt sich, dass Sorgeroboter*innen mehr sind als ein Medium der Sorge, da sie in einem komplexen Verantwortungs- und Beziehungsgeflecht aus Eltern, Unternehmen, Programmierenden und der Politik verortet sind (vgl. Bu­ row 2021). Die wiederkehrenden Versuche der nötigen Zuordnung des Subjektsta­ tus verdeutlichen sich im Diskurs um Partnerroboter*innen und in den mit diesen einhergehenden ethischen und rechtlichen Fragen. Dies zeigt schon die unterschiedliche Benennung des Gegenstands: Einerseits richtet sich der Blick auf „Sex Robots“ (Szczuka und Krämer 2017, S. 73) mit Ob­ jektcharakter, andererseits ist von partnerschaftlichen „Love Robots“ (Pan­ dey 2013, S. 1) die Rede. Schon im Ausgangspunkt anhaltender Diskurse, in Levys (2008) Buch „Love and Sex with Robots“, zeichnet sich diese Wi­ dersprüchlichkeit ab. Es sagt voraus, dass es bis zum Jahr 2050 für Men­ schen normal sein werde, Sex mit Roboter*innen zu haben, diese zu lieben und sogar zu heiraten. Diese würden „generally perceived as being similar to biological creatures“ (ebd., S. 303) gleichzeitig jedoch stellt Levy Sexro­ 199

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boter*innen als dienstleistende „popular human activity“ (ebd., S. 307) für Sexualtherapie, Prostitution und Sex-Spaß dar. Die Gründerin der Cam­ paign Against Sex Robots kritisiert den Prostitutionsvergleich: „Levy shows that the sellers of sex are seen by the buyers of sex as things and not re­ cognised as human subjects“ (Richardson 2015, S. 290). Sie stellt außerdem die Objektifizierung (im Sinne von Nussbaum 1995) der Frau durch männliche Ingenieure heraus, die in Roboter*innen im Allgemeinen und in Sexroboter*innen im Speziellen zutage trete. Überlegungen darüber, Partnerroboter*innen im Bereich sex care für Menschen mit Beeinträchti­ gungen oder Ältere einzusetzen (vgl. Fosch-Villaronga und Poulsen 2020), unterstreichen auch die moralischen Herausforderungen an den Schnitt­ mengen von Leiblichkeit, Sorge und Interaktion, die sich für Sorgerobotik ergeben. Eine transhumane Interaktionsperspektive würde auch morali­ sche Diskurse empirisch öffnen, die bislang häufig an der Frage des Sub­ jektstatus enden. Pflegeroboter*innen sind als Unterstützung oder Ersatz von menschli­ chen Pflegekräften konzipiert, um Medikamente oder Speisen zu reichen, um zu mobilisieren und bei körperlichen Bewegungsabläufen zu helfen. Der gesellschaftliche Bedarf von Robotik in der Pflege wird mit dem de­ mographischen Wandel und dem damit einhergehenden ‚Pflegenotstand‘ begründet, in dem Roboter*innen technische Lösungen versprechen (vgl. Hergesell et al. 2020). Allerdings erfüllen sie diese bisher technisch nicht und werden auch von Pflegepersonal und Pflegebedürftigen nicht beson­ ders nachgefragt (ebd.). Am Beispiel der robotischen Robbe PARO, die seit 2003 in tiergestützter Therapie eingesetzt wird, zeigt sich, dass die meisten Studien wenig Fokus auf die Gepflegten und die Interaktion legen, son­ dern die Forschenden und die technischen Funktionen ins Zentrum stel­ len (vgl. Hung et al. 2019). Sowohl die tiergestützte Therapie an sich, als auch solche mit einem robotischen Tier, lassen sich aus Einleibungs-Per­ spektive detaillierter analysieren und verstehen. Das Tier ist in diesen Fäl­ len nicht allein sorgend, aber in der Sorgekonstellation Teil eines transhu­ manen übergreifenden Quasi-Leibs. Strukturell ermöglicht werde Robotik in der Pflege durch die Institutionalisierung und die rationalisierten Routi­ nen der Pflegepraxis, welche den Einsatz von Technik in der Pflege verein­ fachen, so Bischof (2020). Dabei verlaufe „die eigentliche Implementati­ onsarbeit […] selten entlang der Bedürfnisse der zu Pflegenden“ (ebd., S. 47) sondern entlang organisationaler und technologischer Bedingungen. Diese Ausrichtung der Forschung und Entwicklung von Pflegerobotik scheint dabei in einer Perspektive begründet, die auf die Gestaltung der in­ stitutionellen Außenbedingungen der Sorge um den Anderen ausgerichtet ist. So wird ausgeklammert, dass Pflegebedürftige in Sorge-Situationen in 200

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nahe, teils intime Kontakte mit Roboter*innen geraten, in denen Formen sozialer Interaktion unumgänglich sind – und somit in Situationen, in de­ nen eine transhumane Sorgeperspektive vonnöten ist. 5 Beziehungen und Bezüge in Sorge-Situationen Eine Analyse der Bedingungen und Grenzen von transhumanen Sorge-Si­ tuationen lässt sich mit klassischen soziologischen Interaktionstheorien kaum durchführen, da diese Subjekte oder Akteur*innen voraussetzen. Das Konzept der ‚Dimensionen der Sorge‘ erlaubt eine offenere, aber dennoch eingeschränkte Sicht auf HRI im Sorge-Kontext, da das reflexive sorgende Selbst im Zentrum steht. Lindemanns triadische Konstellation der sozialen „Unentschiedenheitsrelation“ (Lindemann 2019) ermöglicht grundsätzlich Sorge-Beziehungen mit robotischer Beteiligung zu betrach­ ten, bedarf jedoch einer Ergänzung zur Analyse des Gelingens konkreter Interaktionen. Die beispielhafte Re-Interpretation empirischer Studien aus Einleibungs-Perspektive deutet an, wie transhumane leibliche Interaktion sowie Nähe und Sorge analysiert werden können. Eine Betrachtung der Roboter*innen als Medium oder Außenbeziehung könnte diesen Phäno­ menen kaum gerecht werden. Mit einer differenzierten Betrachtung der Formen der Einleibung als Interaktionsperspektive kann eine konzeptuelle Differenzierung der empirischen Analyse von transhumanen Sorge-Situa­ tionen innerhalb des bestehenden Rahmens der ‚Dimensionen der Sorge‘ sowie der ‚Weltzugänge‘ gelingen. Der vorhandene Fokus auf das sorgende Selbst wird so um einen Fokus auf die Interaktionen und Bezugnahmen in Sorge-Situationen ergänzt. Die „Beziehung zwischen einem sorgenden Selbst und einem ‚Worum‘ seiner Sorge“ (Henkel et al. 2016, S. 21) ist in den ‚Dimensionen der Sorge‘ be­ reits angelegt und kann mit dieser Ergänzung fokussiert werden. Mit Blick auf das Gelingen dieser Sorgebeziehungen zu und Sorgebezüge auf unter­ schiedlichste Entitäten können Praktiken und Phänomene fokussiert wer­ den, die Sorge mitkonstituieren und potenziell mehr sind als die Außenbe­ ziehung eines exzentrisch positionalen sorgenden Selbst. Das sorgende oder umsorgte Selbst rückt dabei in den Hintergrund und macht Platz für eine umfassendere Situations- und Beziehungsanalyse. Diese könnte bspw. an Thelens (2014), als „Konstruktion, Reproduktion und Auflösung be­ deutsamer Bindungen“ beschriebene, Sorge-Definition anschließen und über sie hinausgehen, da sie auch Beziehungen und Bezüge zu nichtmenschlichen Entitäten einschließt.

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Dabei geht es keineswegs darum, humane Sorge zu entwerten. Viel­ mehr sollen die Besonderheiten und Unterschiede humaner und trans­ humaner Sorge-Aspekte einer empirischen Untersuchung zugänglich ge­ macht werden. So kann eine robotische Form der Sorge theoretisch fun­ diert empirisch untersucht werden, wie es hier nur angedeutet werden konnte. Daran anschließend wird es möglich zu betrachten, ob das große Zukunftsversprechen der Robotik für den Sorge-Kontext wirklich tragfä­ hig ist. Sonst wäre das Versprechen nicht mehr als die Daseinsberechti­ gung für immer neue Robotik-Entwicklungen und gleichzeitig die Recht­ fertigung einer weiteren Rationalisierung institutioneller Sorge. Literaturverzeichnis Alač, Morana. 2016. Zeigt auf den Roboter und schüttelt seine Hand. Intimität als situativ gebundene interaktionale Unterstützung von Humanoidtechnologien. In Technik, Intimität, Hrsg. Michael Andreas, Dawid Kasprowicz und Stefan Rieger, 41–71. Zürich: Diaphanes. DOI: https://doi.org/10.25969/mediarep/1902 Baecker, Dirk. 2018. 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt (Merve 459). Leipzig: Merve Verlag. Bartneck, Christoph, Tony Belpaeme, Friederike Eyssel, Takayuki Kanda, Merel Keijsers und Selma Sabanovic. 2020. Human-Robot Interaction. An Introduc­ tion. Cambridge: Cambridge University Press. Berger, Peter L., und Thomas Luckmann. 1977. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie (Conditio humana). 5. Aufl. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag. Bischof, Andreas. 2017. Soziale Maschinen bauen. Epistemische Praktiken der Sozi­ alrobotik. Science Studies. Bielefeld: transcript Verlag. Bischof, Andreas. 2020. „Wir wollten halt etwas mit Robotern in Care machen“. Epistemische Bedingungen der Entwicklungen von Robotern für die Pflege. In Genese und Folgen der „Pflegerobotik“. Die Konstitution eines interdiszipli­ nären Forschungsfeldes, Hrsg. Jannis Hergesell, Arne Maibaum und Martin Meister, 46–61. Weinheim: Beltz Juventa. Botti. 2020. Zitat eines Prototyps des Botti Chatbots (Screenshot). https://www.inst agram.com/bottichatbot (Zugegriffen: 18. Dezember 2020). Burow, Johannes Frederik. 2019. The Next Step. Können digitale Entitäten als eine neue Stufe im Sinne der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners verstanden werden? In Mensch und Welt im Zeichen der Digitalisierung. Per­ spektiven der Philosophischen Anthropologie Plessners (Dimensionen der Sor­ ge 3), Hrsg. Johannes F. Burow, Lou-Janna Daniels, Anna-Lena Kaiser, Clemens Klinkhamer, Josefine Kulbatzki, Yannick Schütte und Anna Henkel, 209–228. Baden-Baden: Nomos. DOI: https://doi.org/10.5771/9783845293226-209

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Zeit und Kryotechnologien. Vorsorge im Spannungsfeld von biografischer Zukunftsorientierung, biologischer Eigenzeit und Gegenwartsdehnung Isabelle Bosbach

1 Vorsorge ist besser als Nachsorge „Wo Vorbeugung möglich erscheint, […] wird es riskant, darauf zu ver­ zichten“ (Bröckling 2008, S. 40). In diesem Sinne gilt in westlichen indivi­ dualisierten und technisierten Gesellschaften, es sei besser, sich gegenwär­ tig um zukünftige Belange zu kümmern und antizipierten Risiken vorzu­ beugen. So sollten u. a. Krankheiten vor dem Ausbruch erkannt, Eventua­ litäten durch Versicherungen abgesichert und Risikofaktoren in der Le­ bensführung möglichst vermieden werden. Im Zuge dieser vorsorgenden Zukunftsorientierung gewinnen Techno­ logien an Bedeutung, die in verschiedenen Bereichen die Risikoprävention umsetzen sollen und im Gesundheitssektor neben dem psychischen Wohl­ befinden vornehmlich den biologischen Körper adressieren, wie bspw. in der pränatalen oder prädiktiven Diagnostik (vgl. Viehöver und Wehling 2011). So auch bei kryotechnologischen Verfahren, die die kältetechnolo­ gische Aufbewahrung von biologischem (Human-)Material für die zukünf­ tige Nutzung ermöglichen. Neben mehr-als-menschlicher DNA bedrohter Tier- und Pflanzenarten werden u. a. menschliche Hornhaut, Eizellen, Spermien, Stammzellen und Embryonen kältetechnologisch aufbewahrt, um zukünftig dem eigenen oder anderen menschlichen Körper(n) zuge­ führt oder in der Forschung verwendet zu werden. Die kryotechnologische Aufbewahrung von Humanmaterial steht dabei nicht nur im Kontext medizinischer Therapieempfehlungen, sondern wird zunehmend auch als private Vorsorgeoption angeboten.1 In dem Zusammenhang vermitteln kryotechnologische Angebote die Möglichkeit zeitlich wahrgenommene 1 Die Unterscheidung zwischen medizinischer Therapie und privater Vorsorgeopti­ on wird aus der Empirie übernommen. Trotz der Differenzierung zwischen krank und gesund wird mitgeführt, dass diese Grenzziehung sozial entschieden wird (vgl. Clarke 2014; Conrad 2007; Viehöver und Wehling 2011). So zeigt u. a. die repro­

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Unvereinbarkeit vereinbar zu machen, Unvorhersehbares planerisch abzu­ sichern und Optionen zu konservieren (vgl. u. a.: Bosbach 2020; Feiler 2020; Lemke 2019; Schlebusch 2010). Dadurch berühren Kryotechnologien auch gesellschaftliche Zeitverhältnisse. Das Verhältnis von Zeit und Kryotechnologien wird jüngst auch ver­ mehrt in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung aufgegriffen (vgl. u. a.: Lemke 2021; Liburkina et al. 2021; Myers und Martin 2021; Rimon-Zarfaty und Schicktanz 2022; Wolff 2021 u. w.). Allerdings deuten die bisherigen Bearbeitungen i. d. R. nur die Komplexität des Gegenstands an, gehen aber nicht auf die mit dem Gegenstand der Kryotechnologien verbundenen Schwierigkeiten der Beschreibung des Verhältnisses von Zeit und Kryotechnologien ein. Diese scheinen vor allem in dem zeitlich ver­ standenen Aussetzen der biologischen Prozesse durch Kryotechnologien begründet zu sein. Im vorliegenden Beitrag widme ich mich dieser Leerstelle und gehe der Frage nach, wie das Verhältnis von Kryotechnologie und Zeit bisher unter­ sucht wird und welche gegenstandsbezogenen Schwierigkeiten sich aus der Analyse dieses Verhältnisses identifizieren lassen. Darauf Bezug neh­ mend werde ich ausführen, warum mit dem Begriff der Vorsorge – entge­ gen jüngst formulierter Kritik (vgl. Lemke 2021, S. 12; Wolff 2021, S. 90f.) – eine zeittheoretisch offene und gegenstandsangemessene Beschreibung verbunden sein kann. Die Analyse kryotechnologischer Zeitbezüge im Rahmen eines zeittheoretisch offenen Vorsorge-Verständnisses vermag es, gesellschaftliche Zeitverhältnisse zu rekonstruieren oder deren potenzielle Veränderung zu beschreiben. Zeitverhältnisse werden als historisch-kultu­ rell variabel verstanden (vgl. Franz und Patzel-Mattern 2015; Hölscher 2016; Lindemann 2014) und entsprechend im Folgenden als mehr-als-mo­ derne Zeitverhältnisse bezeichnet.2 Die Analyse kryotechnologischer Zeit­ bezüge vermag neben der Beschreibung von mehr-als-modernen Zeitver­

duktionsmedizinische Diskussion um das Social Freezing, dass auch medizinische Gründe für die Konservierung von Eizellen angeführt werden (vgl. Nawroth 2015). 2 Die Bezeichnung mehr-als-modern ist von der Bezeichnung von mehr-als-mensch­ lichen Akteur*innen inspiriert (vgl. Haraway 2018). Mit diesem Ausdruck versucht Donna Haraway (ebd.) das Mit-Werden auf diesem Planeten jenseits anthropozen­ trischer Vergesellschaftung denkbar zu machen. An ihren Ausdruck anknüpfend spreche ich von mehr-als-modernen Zeitverhältnissen. Damit trage ich dem Um­ stand Rechnung, dass Zeitverhältnisse historisch-kulturell variabel sind und auch mehr-als-menschliche Akteur*innen an der Reproduktion gesellschaftlicher Zeit­ verhältnisse beteiligt sein können (vgl. Lindemann 2014).

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hältnissen auch die potenzielle Veränderung derselben in den Blick zu nehmen. Dafür veranschauliche ich zunächst die historische Entwicklung des kryobiologischen Interesses an den Auswirkungen von Kälte und die für die Analyse von Zeitverhältnissen elementare Konzeption des Zustands des latent life. Daran anknüpfend stelle ich durch empirische Bezüge bei­ spielhaft dar, inwiefern der Zustand des latent life das Verhältnis von Zeit und Kryotechnologien betrifft. Anschließend erörtere ich mit Bezug auf den sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungsstand zu Kryo­ technologien, wie das Verhältnis von Zeit und Kryotechnologien bisher verhandelt wird. Dabei wird neben der überblicksartigen Systematisierung zukunftsbezogener Arbeiten intensiv auf einen neuen zeitkonzeptionellen Ansatz der Dauer eingegangen. Abschließend werde ich herausarbeiten, weshalb ein Festhalten an dem Begriff der Vorsorge im Kontext der Analy­ se von Kryotechnologien sinnvoll ist und inwiefern damit auch eine Offenheit für mehr-als-moderne Zeitverhältnisse im Sinne einer übergeordneten Dauer verbunden sein kann. 2 Latent Life – Kein Leben und kein Tod Voraussetzung für die Entwicklung der Kryotechnologie war die zuneh­ mend systematisierende Erforschung und Beeinflussung der Auswirkun­ gen von Kälte auf organisches Material. Diese begann in den 1930er Jahren zunächst noch unter dem Begriff „low temperature biology“ (Parkes 1964, S. 3; vgl. Gosden 2011). Vorangegangene Forschungen zu Pilzen, Bakterien oder Bärtierchen sensibilisierten bereits für die richtungsweisende Er­ kenntnis, dass die Unterscheidung zwischen lebender und toter Materie an ihre Grenzen stößt, wenn tiefgefrorenes organisches Material zwar leblos, aber gleichzeitig lebensfähig ist (vgl. Keilin 1959). In diesem Zusammen­ hang wurde der Zustand der tiefgefrorenen Überdauerung von organi­ schem Material u. a. als latent life definiert: „as a state of an absolute chemi­ cal indifference characterized by the suppression of all interrelationships between organisms and their media“ (ebd., S. 166). Für die Forschung erwies sich Bastille J. Luyet’s und Marie P. Gehenio’s (1940) Entdeckung der kryoprotektiven Eigenschaft von Glucose als Auf­ takt in eine neue Ära. Sie stellte zu Beginn der 1940er Jahre erstmals in Aussicht, biologisches Material über einen unbestimmt langen Zeitraum für die zukünftige Nutzung verfügbar zu machen (vgl. ebd.; Friedrich und Höhne 2014). Erstmalig gelang es systematisch die zellschädigende Eiskris­ tallbildung bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt zu unterbinden, 209

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sodass das betreffende Material seine Vitalität über das Herabkühlen, die Aufbewahrung und das Wiederauftauen hinweg behielt. An dem Begriff des latent life anknüpfend veranschaulichen Luyet und Gehenio diesen Zu­ stand mit einer in doppelter Hinsicht zeitlich zu verstehenden Metapher: An organism which resists extreme cold behaves like a watch which, though well wound, is stopped by some braking mechanism. This watch is in perfect condition as to its own accord as soon as the brake is removed. In a similar manner, the activities of living matter can be stopped entirely without the destruction of the mechanism which con­ ditions them. (Luyet und Gehenio 1940, S. 255) Das Verständnis des Aussetzens biologischer Prozesse als (herstellbares) Stoppen zeigt sich auch in anderen kryobiologischen Arbeiten. So führt bspw. Peter Mazur (1984, S. C125f.) unter der Überschrift „Stopping Bio­ logical Time“ aus, dass bio-chemische Prozesse bei der Lagerung in flüssigem Stickstoff wegen dessen Temperatur (-196°C) vollständig aussetzten, keine genetischen Veränderungen dokumentiert seien und die Aufbewahrung so auf unbestimmte Zeit erfolgen könne. Das Stoppen der bio-chemi­ schen Prozesse wird explizit zeitlich verstanden, weil ihr Aussetzen mit der im Zeitverlauf potenziell wiederkehrenden Aktivität verbunden wird, wes­ halb auch nicht von Letalität gesprochen wird (vgl. Bosbach 2020, § 34). Nachdem mit dem Kryoprotektiva Glyzerol die Konservierung von Ge­ flügelsperma im Jahr 1949 gelang, revolutionierten Kryotechnologien erst die Viehzucht und dann die humane Reproduktionsmedizin (vgl. Fried­ rich und Höhne 2014, S. 28). In den 1960er Jahren wurden in den U.S.A. die ersten kommerziellen Human-Samenbanken gegründet, um im Fall des Hodenkarzinoms oder dem Kriegstod die Reproduktionsmöglichkeit zu erhalten (vgl. ebd., S. 29ff.; Polge 2006, S. 266, 280f.). Das Beispiel des drohenden männlichen Fertilitätsverlusts zeigt, inwiefern Vorstellungen über Fertilität, reproduktive Praktiken und Elternschaft kryotechnologisch verhandelbar sind: (Un)erwünschte Zukunftsszenarien können antizipiert und gegenwärtig vorsorgend abgesichert werden. Mit der Optimierung der Kryokonservierung von Eizellen nach der Jahrtausendwende (vgl. Gook 2011) formieren sich auch neue soziale Kon­ stellationen und Fragen, die bspw. Elternschaft nach dem Tod, die sog. ‚späte‘ Mutterschaft, das Verhältnis von biologischer und oder sozialer Elternschaft betreffen oder im Kontext queerer Beziehungen auftauchen. An dem Beschriebenen zeigt sich, dass kryotechnologische Verfahren Fragen und Diskurse eröffnen, die gesellschaftliche Orientierungen betref­ fen, wie bspw. Gesundheit/Krankheit und Reproduktion/Elternschaft/ Familie sowie die Grenzziehung von Leben(sbeginn)/Lebensende/ Nicht210

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Leben (vgl. u. a.: Liburkina et al. 2021, S. 6; Bosbach 2021; Friedrich und Höhne 2014; Lemke 2019). Diese Auswirkungen thematisieren die Sozialund Kulturwissenschaften: So verweisen sie auf eine umfassende (Bio-)Me­ dikalisierung3 des Lebens, die sich auch in der Attribution von Verantwor­ tung für das eigene Leben oder das von (nahestehenden) Dritten spiegelt, und kritisieren wegen der oftmals privaten Finanzierung und der NichtVorhersehbarkeit der Zukunft kryotechnologische Verfahren als Kapitali­ sierung von Hoffnungen (vgl. u. a.: Myers und Martin 2021; Kroløkke und Bach 2020, S. 15; Baldwin 2018; Romain 2010; Schlebusch 2010; Lafontai­ ne 2009). Darüber hinaus suggerieren kryotechnologische Verfahren durch die Aufbewahrung für die Zukunft Planbarkeit und werden als Chance der Gestaltbarkeit für die Lebensführung relevanter biologisch-zeitlicher Pro­ zesse versprochen. So berühren sie gesellschaftliche Zeitverhältnisse. Diese sind eben nicht stabil und gesetzt, sondern kulturell variabel (vgl. Franz und Patzel-Mattern 2015; Hölscher 2016; Lindemann 2014). Deshalb ist es relevant kryotechnologische Verfahren im Kontext von Zeit und (Vor-)Sorge zu untersuchen. 3 Im Dazwischen – Kontexte vorsorglicher Kryokonservierung In diesem aufgezeigten Zusammenhang zwischen ausgesetzten bio-chemi­ schen Prozessen und der Idee der Einflussnahme auf Zeit scheint sich die Attraktivität kryotechnologischer Verfahren in diversen Anwendungsberei­ chen zu begründen. Das spiegeln auch die empirischen Kontexte, die in einem hohen Maße zeitlich strukturiert sind: So wird bspw. Social Free­ zing als „prophylaktische Anlage einer Fertilitätsreserve“ (Nawroth 2015, S. 3) kommuniziert: Frauen4 könnten „vorsorglich unbefruchtete Eizellen“ (kiwup 2022) einfrieren und sich „mit der Familiengründung mehr Zeit lassen“ (ebd.), weil „der Alterungsprozess der Eizellen“ (Kinderwunschzen­ trum Bonner Bogen 2022) für den „gewünschten Zeitpunkt“ (ebd.) „ange­ halten“ (ebd.) werde. Ähnlich dominant treten Zukunftsbezüge im Kon­

3 Medikalisierung bezeichnet „a process by which nonmedical problems become de­ fined and treated as medical problems, usually in terms of illness and disorders“ (Conrad 2007, S. 4). Krankheit wird also als soziale Konstruktion perspektiviert und rekonstruierbar (vgl. Viehöver und Lehmann 2022). Das Präfix Bio ergänzt, dass Medikalisierungsprozesse zunehmend von gen- und biotechnologischen Ent­ wicklungen geprägt sind (vgl. Clarke 2014.). 4 Auf den einschlägigen Webseiten werden typischerweise Cis-Frauen adressiert. Durchführbar ist es i. d. R. bei Personen mit Eierstockgewebe vor der Menopause.

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text der Konservierung von Nabelschnurblutstammzellen oder der Kryo­ nik auf. So versucht letztere durch die Kältekonservierung von verstorbe­ nen Menschen (oder Haustieren) „die biologische Uhr mit Hilfe von Tief­ kühlverfahren anzuhalten“ (DGAB e.V. 2022), um den kryokonservierten Körpern „die medizinischen Fortschritte der Zukunft“ (ebd.) zu erschlie­ ßen und „Menschen für die Zukunft zu erhalten“ (ebd.). Die Hoffnung in den zukünftigen Lebenserhalt kennzeichnet auch die Konservierung von Nabelschnurblutstammzellen. Diese wird als „einmalige Chance der Vor­ sorge für die gesundheitliche Zukunft des Neugeborenen“ (Eticur o. J., S. 4) beworben oder angemahnt, dass eine „gesunde Zukunft […] nicht selbstverständlich“ sei (Vita34 2021, S. 4). Obgleich sich die Phänomene hinsichtlich ihrer Relevanz, Akzeptanz und adressierter Orientierungsrah­ men unterscheiden, teilen sie diskursive Beschreibungen im Spannungs­ feld von Zeit und Sorge: Für jetzt nicht lösbare, antizipierte und mitunter noch unbekannte Probleme wird als Lösung nahgelegt, biologisches Mate­ rial der Gegenwart für die Zukunft anzulegen und dadurch gegenwärtig in die Absicherung der Zukunft zu investieren. Dabei ist stets das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft handlungs­ weisend. Vorsorge erscheint möglich, weil der biologische (menschliche) Körper gegenwärtig selbst zur materiellen Ressource für die Zukunft und damit zum Gegenstand von zukunftssichernden Angeboten wird. Darin spiegelt sich ein spezifisches Bild des biologischen Lebens, das durch eine „den menschlichen Körper bzw. das Leben in Gewebe, Zellen und bio-che­ mische Prozesse fragmentierende Perspektive gekennzeichnet“ (Bosbach 2020, § 15) ist. So unterläuft der als vitalitätserhaltend geltende Zustand die Einordnung von lebenden Entitäten auf einem Kontinuum von Leben, Tod und Nicht-Leben. Er bezeichnet „the liminal period in which a biolo­ gical substance is neither fully alive nor dead“ (Radin 2013, S. 487) und entspricht auch zeitlich einem Zwischenzustand: Dieser wird aus dem Aussetzen vorangegangener Aktivität bei möglicher Wiederfortsetzung ab­ geleitet, weil sich aus der Erhaltung der Zellstruktur – linear gedacht – eine vitale Zukunft ableitet. So scheint der gesellschaftlich auch zeitlich bestimmte Verlauf des bio­ logischen Körpers eines verkörperten Selbst veränderbar, weil Zeit als Phä­ nomen betrachtet wird, das sich in der Gegenwart kryotechnologisch bear­ beiten lässt. Grundlegend für die Anwendung und Verbreitung derartiger Verfahren ist daher einerseits eine Eventualitäten absichernde Perspektive auf die Zukunft, und andererseits eine umfassende (Bio-)Medikalisierung des Lebens und zwar von der Lebenserzeugung, dem Lebenserhalt bis zum Versuch der Überwindung des Todes (vgl. u. a.: Roberts und Waldby

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2021; Feiler 2020; Kroløkke und Bach 2020; Schlebusch 2010; Lafontaine 2009). Zusammenfassend kennzeichnen Kryotechnologien daher einerseits die Diskursivierung einer biologisch gestaltbaren Zukunft und andererseits die Vorstellung, zeitlich konzeptualisierte Probleme beeinflussen zu kön­ nen. Die Perspektive einer gestaltbaren biologischen Zukunft wirft diverse Fragen für sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung auf: Welche zeit­ lichen Vorstellungen sind für Kryotechnologien grundlegend? Inwiefern berühren Kryotechnologien gesellschaftlich kontingente Zeitverhältnisse? Wie können Zeitbezüge im Kontext von Kryotechnologien gegenstandsan­ gemessen erforscht werden? 4 Zukunftsvorsorge, Eigenzeit und Gegenwartsdehnung – ein Systematisierungsversuch Die Analyse von kryotechnologischen Zeitbezügen ermöglicht Aussagen über gesellschaftliche Zeitverhältnisse. Sie steht allerdings vor dem Prob­ lem, dass Zeitverhältnisse dynamisch sind und gleichermaßen situieren, wie in ihnen situiert sind (vgl. Lindemann 2014). Obgleich gesehen wird, dass Kryotechnologien gesellschaftliche Zeitverhältnisse betreffen, sind zeitkonzeptionelle Herausforderungen im Kontext von Kryotechnologien noch wenig beachtet: Gängig sind allgemeine Verweise auf das Verhältnis von Gegenwart und kontingenter Zukunft, die Herausarbeitung von Zu­ kunftsrisiken und individueller Verantwortung, eine Irritation des linearen Zeitverständnisses oder eine Perspektive auf Kältetechniken, die durch die Rekonstruktion der Akteur-Netzwerke das raum-zeitliche Dispositivs der Kryosphäre fokussiert.5 Jedoch stellt sich die Frage, inwieweit kryotechnologisch potenziell in Bewegung gebrachte Zeitverhältnisse mit der notwendigen Offenheit untersucht werden können, ohne die Phänomene durch die Brille des eigenen Zeitverständnisses zu ordnen. Um dieses Problem zu illustrieren, werde ich im Folgenden relevante sozial- und kulturwissenschaftliche The­ matisierungen von Zeit und Kryotechnologien exemplarisch systematisie­ ren und jeweils aufzeigen, welche analysetheoretischen Probleme sie mit 5 vgl. u. a..: Gramelsberger et al. 2021; Kroløkke 2021; Majumdar 2021; Roberts und Waldby 2021; Bosbach 2020; Feiler 2020, 2017; Kroløkke und Bach 2020; Waldby 2019; Baldwin 2018; Höhne 2018; Friedrich 2017; Radin und Kowal 2017; Waldby 2014; Friedrich und Höhne 2014; Radin 2013; Schlebusch 2010; Landecker 2007; Waldby und Mitchell 2006 u. w.

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sich bringen. Auf diese Weise werden gegenstandsbezogene Herausforde­ rungen für ausstehende Untersuchungen herausgearbeitet. Im Wesentlichen lassen sich in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung drei – mitunter miteinander verflochtene – Perspektiven auf die Relation von Zeit und der Krykonservierung von (mehr-als‑)mensch­ lichem Material herausarbeiten: 1. Die Perspektive Biografische Zukunftsorientierung und Vereinbarkeit leitet das o. g. Verhältnis aus der Zukunftsorientierung ab. 2. Die Perspektive Biologische Eigenzeit und Synchronisierung wählt als Bezugspunkt das Aussetzen bio-chemischer Prozesse. 3. Die Per­ spektive der Gegenwartsdehnung führt die zeitkonzeptionelle Kategorie der Dauer ein. Diese werden im Folgenden systematisiert beschrieben. Biografische Zukunftsorientierung und Vereinbarkeit Erstens werden Kryotechnologien als technischer Umgang mit kontingen­ ter Zukunft verstanden, indem sie für gegenwärtige und antizipierte Pro­ bleme, Ängste und Sorgen vorsorglich Lösungen anbieten: Gegenwärtige Optionen sollen erhalten, das Eintreten unerwünschter Zukünfte vermie­ den und Vereinbarkeit hergestellt werden. Dies wird insbesondere beim Social Freezing thematisiert. Dabei reduziert sich die Explikation der zeit­ lichen Dimension weitestgehend auf das Alter(n) des Selbst: dem voraus­ schauenden und planenden Umgang mit der eigenen Biografieabsicherung und dem, was gesellschaftlich als dem Alter angemessen gilt und zur Disposition steht (vgl. Kroløkke 2021; Feiler 2020; Waldby 2014). Die zeitlich wahrgenommene Unvereinbarkeit wird auf Karriere- und Famili­ enplanung bezogen und erscheint durch das Social Freezing individuell zeitlich bearbeitbar (vgl. ebd.). Kryotechnologische Verfahren werden so oftmals als Ausdruck eines vorsorgenden, Risiken vermeidenden Zukunftsbezugs interpretiert und ihre Analyse auf diesen Punkt reduziert. Damit hängt mitunter eine chronologisch beschriebene Um-zu-Logik zusammen, die in der Gegenwart Szenarien in Richtung Zukunft entwirft. Für diese Perspektive auf Zeit sind i. d. R. die Adressat*innen oder Nutzer*innen derartiger Angebote der sozialwissenschaftliche Bezugspunkt. Dementspre­ chend begrenzt ist die Perspektive auf den zeitlichen Bezugspunkt zur Kryotechnologie. Er reicht hier von dem Moment der Antizipation in­ dividueller Optionen und ihren biografischen Zukunftsrisiken bis zum Moment der Entscheidung. Unbeachtet hingegen bleibt der Zukunftsbeginn nach dem Beginn der Kryokonservierung, weil der Fokus dieser Ansätze auf den Hoffnungen oder Erwartungen von Akteur*innen liegt. Obwohl es nicht expliziert wird, deutet sich hier eine nutzenorientierte 214

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Logik an, die an Akteur*innen der Rational Choice Theorie erinnert. Diese durch Zukunftsorientierung begrenzte Perspektive droht durch die lineare Richtung zu übersehen, dass nicht nur (kalkulierte) Zukunftsentwürfe handlungsdominierend sein müssen. Ebenso kann eine unaushaltbare Ge­ genwart motivierend wirken oder die Gegenwart von Zukunftsszenarien durch Ängste, Sorgen oder Wünsche eingenommen sein. Weiterhin bleibt hier offen, wie Akteur*innen Zukünfte (und Gegenwart) nach der Kryo­ konservierung entwerfen und welches Zeitverhältnis sich anhand dieses Entwurfs identifizieren lässt. Während hier für das Verhältnis von Zeit und Kryotechnologien das motivierende Moment der Entscheidung als zeitlicher Bezugspunkt betrachtet wird, bleibt der zeitliche Bezugspunkt auf das kryokonservierte Material implizit, der in der folgenden Perspekti­ ve dominiert. Biologische Eigenzeit und Synchronisierung Zweitens vermischt sich die Perspektive der Zukunfts- und Vereinbarkeitsori­ entierung mitunter, wenn als zeitlicher Bezugspunkt die Berücksichtigung der (technischen) Eigenzeit der biologischen Materie und die technische Synchronisierung an Bedeutung gewinnen (vgl. Gramelsberger et al. 2021, S. 164; Nowotny 1993). So wird in dieser Perspektive versucht, eine Ver­ bindung zu schlagen: Einerseits zwischen Alter(n), wahrgenommener (Un-)Vereinbarkeit von Arbeit und Familie, nachlassender Funktionalität biologischer Prozesse und Erkrankungen. Andererseits zwischen der inter­ pretierten Möglichkeit des Stoppens oder der Pausierung des als vital gel­ tenden Materials. So wird bspw. mit Blick auf die Kryokonservierung von Eizellen festgehalten: „Egg freezing subverts our commonsense understan­ ding of linear time” (Myers und Martin 2021, 6). Trotz Irritation kenn­ zeichnet diesen Ansatz der sozial- und kulturwissenschaftlichen For­ schung, der Versuch der Reintegration in ein lineares Zeitverständnis. Die Perspektive auf die Eigenzeit des Materials fokussiert das parallele unge­ kühlte und gekühlte Fortbestehen sowie die spätere Reintegration in kör­ perliche Prozesse. Sie sorgt auch dafür, dass Vorstellungen von sog. „Age Chimaera[s]“ entstehen (Landecker 2007, S. 154; Gramelsberger et al. 2021, S. 191).6 Die Kryokonservierung erscheint so als Technik, die die

6 Das Konzept der Altersschimäre geht auf erste Hauttransplantationsexperimente zurück und bezeichnet die autologe Transplantation von zeitweise kryokonservier­ tem Gewebe. Betont wird hier, dass organisches Material desselben Organismus

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Synchronisierung verschiedener „timelines“ (u. a. Waldby 2014, S. 6) er­ möglicht, indem die Zeit der kryokonservierten Materie als relevante Grö­ ße in die Betrachtung einbezogen wird. Damit wird auch ein zeitlicher Entwicklungsverlauf zwischen der initiierten Kryokonservierung und der Verwendung des Materials als Bezugspunkt mitgeführt. Der Körper als sol­ cher wird zwar als zeitlich und biologisch zusammenhängende Entität ver­ standen, allerdings ermöglicht die fragmentierende Perspektive auf ihn gleichermaßen die Pausierung. Deshalb kann das isolierte Material später wieder mit diesem oder einem anderen Körper synchronisiert werden, wenn gesundheitliche, biografische oder medizinisch-technische Entwick­ lungen damit stimmig sind. Aus der Aufbewahrung des kryokonservierten Materials wird gewissermaßen ein neuer Zeitstrang abgeleitet, der asyn­ chron zu körperlichen Prozessen oder technischen Entwicklungen ver­ läuft, mit diesen aber zu einem geeigneten Zeitpunkt verbunden werden kann (vgl. ebd.; Gramelsberger et al. 2021; Landecker 2007). Je nach Phä­ nomen ist die Synchronisierung entweder auf die Zeitzone der medizi­ nisch-technischen Entwicklung oder und auf die biografische Zeitzone ge­ richtet. Ausgangspunkt für diese Analyseperspektive zeitlicher Implikationen ist die Zeit des biologischen Lebens, und zwar sowohl des latenten als auch des damit verbindbaren, vergehenden Lebens. Unterscheiden lassen sich diese Ansätze danach, ob sie die Eigenzeit der kryokonservierten Materie fokussieren oder, ob sie versuchen, diese mit dem nicht kryokonservierten Leben zu verbinden. Der zeitliche Bezugspunkt beginnt dementsprechend mit dem Moment der Kryokonservierung und reicht bis zur Zusammen­ führung von zeitweise gekühltem und ungekühltem Leben. Dabei steht die mögliche Verbindung von zeitweise von der Umwelt isoliertem Mate­ rial mit der potenziell zukünftigen Umwelt desselben im Fokus. Die Perspektive der zeitlichen Synchronisierung wahrgenommener Un­ vereinbarkeit zwischen Biologie, Biografie/Leben und Medizin/Technik legt nahe, Kryotechnologien als Vereinbarkeitstechnologien der Gegen­ wart zu verstehen. Implizit zeigt sich schon hier, dass die Idee der Dauer eines auf den biologischen Körper bezogenen Selbst für die Verwendung dieser Technik grundlegend ist.

durch die Kryokonservierung unterschiedlich alt ist (vgl. Gramelsberger et al. 2021, S. 191; Landecker 2007, S. 154f.).

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Gegenwartsdehnung Drittens gibt es vereinzelt andere Perspektiven, die weder einen biografisch orientierten Zukunftsbezug noch die an der biologischen Materie orien­ tierte Eigenzeit und Synchronisierbarkeit fokussieren. Sie nehmen die Syn­ chronisierbarkeit dennoch als materiellen Anknüpfungspunkt, um die raum-zeitliche Liminalität von Kryotechnologien zu betonen. Einen sol­ chen Ansatz wählt Wolff (2021), indem er für die Analyse der Kryokonser­ vierung von Saatgut in der Svalbard Global Seed Vault (SGSV) die zeitli­ che Kategorie der Dauer einführt: Wolff arbeitet mit Rückgriff auf Luh­ manns Zeitkonzeption und dessen operativer Unterscheidung von Reversi­ bilität und Irreversibilität. Anknüpfungspunkt ist hier die zeittheoretische Frage, wie etwas gleichzeitig bestehen und vergehen kann. Für die zeitli­ che Analyse der Kryokonservierung von Saatgut arbeitet er mit Luhmanns Differenzierung zwischen punktueller, jeden Moment vergehender und dauernder Gegenwart (vgl. ebd., S. 82f.). Er argumentiert, dass die kryo­ technologische Aufbewahrung von Saatgut, dem Verhindern der Irreversi­ bilität entspreche, weil Reversibilität gesichert werde. Weil die kryotechnologische Sicherung das irreversible Verschwinden von Biodiversität verhindere, spricht er von einer Ausdehnung der Gegen­ wart. Das Ziel der Saatgutsicherung sei es, die Gegenwart davor zu bewah­ ren eine irreversible Vergangenheit zu werden, indem die Kontinuität der Gegenwart erhalten wird. Die ausgedehnte Gegenwart wird als Dauer ver­ standen, weil die Grenzen dessen, was als irreparabel gilt, kryotechnisch ausgedehnt werden, um Reversibilität zu sichern (vgl. ebd., S. 84). An die Idee, Luhmann’s Konzept der dauernden Gegenwart auf kryo­ technische Phänomene zu beziehen, knüpft auch Lemke (2021) an: Im Unterschied zu Wolff diskutiert er die zeitliche Konzeption auch mit Heideggers (2007 [1962]) Bestand und vergrößert außerdem den Gegen­ standsbereich. So bezieht er sich nicht nur auf die SGSV, sondern insge­ samt auf das suspended life als Resultat einer sog. politics of suspension. Diese kennzeichnet er durch eine zeitliche Liminalität und heideggert die kryotechnisch gesicherte Reversibilität als materialisierten „Bestand“ (vgl. Lemke 2021, 7f.). Mit Fokus auf die Reversibilität erhaltene, ausgedehnte Gegenwart grenzt sich auch Lemke von Vorsorgelogiken ab: [T]he politics of suspension also differs from rationalities of prevention and preparedness as it does not react to an uncertain future, seeking to adapt or to accommodate to it, but rather acts directly on temporal ho­ rizons by extending the present. […] Instead of anticipating future processes, the politics of suspension keeps events in limbo, postponing 217

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(or not) decisions on the concrete ”when” of the ”whenever” and de­ termining when the present is due to become the past. (ebd., 12; vgl. hierzu a. Wolff 2021, S. 90) Die kryotechnologische Fixierung von Materie begreifen Wolff und Lemke also als Technik, die Reversibilität ermöglichen soll. Im Unterschied zu den ersten beiden Perspektiven, die durch zeitliche Bezugspunkte von Akteur*innen gekennzeichnet sind, wird eine solche zeitliche Gliederung hier nicht vorgenommen, weil eine strukturelle Ebene fokussiert wird. Der gewählte Ansatz der Dauer schafft es hier, das Vergehen von Körpern oder Umwelt und das gleichzeitige Nicht-Vergehen biologischer Materie zeitkonzeptionell einzufangen. Gegenwartsdehnung und Vergangenheits­ vermeidung treten so an die Stelle der Zukunftsorientierung. Die theo­ retische Annäherung an die zeitkonzeptionellen Herausforderungen des Gegenstands ist gleichermaßen Stärke dieses Ansatzes wie Unterschied zu bisherigen Ansätzen, in denen zeitkonzeptionelle Heuristiken weitgehend abstinent oder kursorisch sind. So verdeutlichen die ersten beiden Ansätze eine an linearer Zeit orientierte Analyseperspektive. Zwar wird zum Teil auf Irritationen eines linearen Zeitverständnisses hingewiesen, diese Irrita­ tionen aber letztlich in die Linearität reintegriert. Weniger überzeugend erscheint, dass Kryotechnologien von Vorsorgera­ tionalitäten abgegrenzt werden und Lemke zumindest zeitweise auch den Zukunftsbezug negiert (vgl. ebd.). Ausgangspunkt der Abgrenzung von Vorsorge oder Prävention ist einerseits eine Kritik, die sich auf ein norma­ tives Verständnis von Vorsorge bezieht und beurteilt, ob Vorsorge erfolgt. In diesem Sinne sollte Vorsorge stattfinden, bevor Schäden entstehen und nicht die mögliche Reversibilität der Schäden bezwecken. Wenn aber der Gegenstandsbereich des Verhinderns von Schäden nur auf die zukünftige Erhaltung von Reversibilität bezogen wird, muss die Konservierung als eine Form des vorsorgenden Umgangs mit drohender Irreversibilität be­ trachtet werden. Andererseits wird Vorsorge auch wegen ihres zeitlichen Bezugspunkts abgegrenzt. So wird die Antizipation der Zukunft bzw. die vorsorgende Ausrichtung an dieser für den Gegenstandbereich der politics of suspension ausgeschlossen, weil der Bezug auf Zukunft nicht mit der kryotechnologischen Ausdehnung der Gegenwart vereinbar sei (vgl. ebd., S. 13f.). Obgleich Lemke den Zukunftsbezug negiert, nimmt er an anderer Stelle auf ihn Bezug, wenn er etwa auf fiktionale und zukünftige Orientie­ rungen hinweist (vgl. ebd.). Dieser Bruch zeigt, dass die Theorieperspekti­ ve einer verlängerten Gegenwart nicht ohne Modifikation alle empirisch relevanten Zeitbezüge erfassen kann. Zudem muss Vorsorge nicht im Kon­ trast zur Erhaltung der Gegenwart gedacht werden. Schließlich kann Vor­ 218

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sorge – wie mitunter im Kontext des Social Freezings – auch dazu dienen, Gegenwart unverändert zu erhalten, wenn und weil Zukunft gesichert er­ scheint. Ob Kryotechnologien gesellschaftliche Orientierungen also eher in Richtung Gegenwartsdehnung, Vergangenheitsvermeidung oder Zu­ kunftssicherung berühren, sollte durch die in empirischen Arbeiten einge­ nommene Heuristik analysierbar bleiben. Logiken der Vorsorge, Präventi­ on und Vorbeugung für den Gegenstandbereich auszuschließen, sollte da­ her nicht durch die theoretische Perspektivierung, sondern die empirische Analyse entschieden werden. 5 Vorsorge und Dauer – abschließende Überlegungen Die Notwendigkeit einer offenen Zeitkonzeption ohne festgelegten Zu­ kunftsbezug, wie es sie zur empirischen Analyse von gesellschaftlichen Auswirkungen durch Kryotechnologien braucht, stellt allerdings den Be­ griff der Vorsorge in Frage. Weil der Begriff der Vorsorge im Kontext hu­ maner Kryotechnologien empirisch absolut zentral ist, halte ich dennoch an dem Begriff fest. Schließlich ist er Feldvokabular (vgl. 3. Kapitel) und wirkt damit auch auf die Semantik des Begriffes zurück. In diesem Sinne ist unklar, ob Vorsorge überhaupt an ein modernes Zukunftsverständnis gebunden sein muss. Der Systematisierungsversuch hat dafür sensibilisiert, ein zeitkonzeptionell offenes und gegenstandsangemessenes Verständnis von Vorsorge zu bedenken. So kann z. B. mitgeführt werden, dass es viel­ fältige Zeitbezüge gibt und Semantik sich durch verändernde Zeitbezüge bei Vorsorgepraktiken ändern können. Das heißt, ich lege mit Vorsorge nicht fest, dass und wie Vorsorge auf Zukunft bezogen sein muss. Selbst wenn der Begriff der Vorsorge zunächst ein lineares, von individuellen Akteur*innen ausgehendes Zeitverständnis nahelegt, in dem von einem Punkt X für die Zukunft vorgesorgt wird, ist ein lineares Zeitverständnis nicht zwangsläufig grundlegend für das, was unter Vorsorge verstanden wird. Denn dieses Verständnis ist potenziell auch kryotechnologisch verän­ derbar. So wurden im 17. Jahrhundert Für- und Vorsorge oft synonym verwendet. Das zeitlich orientierte Verständnis von Vorsorge setzte sich erst im Laufe des 17. Jhd. und 18. Jhd. allmählich durch (vgl. Vorsorge 2021).7

7 Auch das, was wir unter Zukunft verstehen ist potenziell veränderbar (vgl. Höl­ scher 2016). Die sich mit Beginn der Neuzeit allmählich formierende „Vorstellung von einer homogenen, allmählich verfließenden Zeit, in der sich solche Ereignisse

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Kryotechnologische Vorsorge könnte daher vielleicht im Sinne der Her­ stellung oder Sicherung einer unbestimmten Dauer oder der Vergangen­ heitsvermeidung realisiert sein und gleichzeitig Zukunftsbezüge enthalten. Wie die verschiedenen Zeitbezüge aber aufeinander bezogen werden, müsste Gegenstand der Analyse sein, um zu sehen, wie sich das Verhält­ nis von Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit zueinander gestaltet und wie eine mögliche Dauer dazu im Verhältnis steht. Ferner können Zu­ kunftsbezüge daraufhin differenziert werden, ob zukünftige Vergangenheit vermieden, Kontinuität gewahrt, Gegenwart verändert oder zukünftige Gegenwart gesichert werden soll. In diesem Sinne geht es darum, das Verhältnis von Kryotechnologien und den verschiedenen Zeitbezügen zu entfalten. Das bedeutet zu rekonstruieren, wie sich die Zeitbezüge hier von- und zueinander verhalten, um auf diese Weise auch die theoretische Konzeptionalisierung der Dauer im Verhältnis zu modalzeitlichen empi­ risch relevanten Bezügen beschreiben zu können (vgl. Lindemann 2014). Ich schlage daher vor, Vorsorge nicht daran zu messen, ob sie geeignet oder zeittheoretisch stimmig ist, sondern als empirischen Begriff in seinen Verwendungszusammenhängen zu untersuchen. So kann rekonstruiert werden, welche Zeitbezüge für die hier diskursivierte Form der Vorsorge essenziell sind. Damit geraten spezifische kryotechnologische Praktiken in den Analysefokus, die als solche auf bestimmte Eventualitäten (ab)si­ chernd oder vermeidend Bezug nehmen.8 Zudem erscheint es sinnvoll, Vorsorge konzeptionell nicht ausschließlich auf die zukünftige Gegenwart zu verengen, weil gerade in aktuellen Arbeiten deutlich wird, dass mit dem Konzept der Sorge (vgl. Henkel et al. 2016) als sozialtheoretischem Ausgangspunkt nicht nur das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft, sondern auch der Vergangenheitsbezug zunehmend in den Blick geraten muss (vgl. die Beiträge von Ehrens und Kedenburg in diesem Band). Für die Analyse der Zeitverhältnisse (humaner) Kryotechnologien be­ deutet dies, das Zeitverhältnis von Modalzeit und Dauer (vgl. Lindemann 2014, S. 136ff.) zu analysieren, ohne es vorschnell in ein modalzeitliches Alltagsverständnis zu integrieren. Das Potential einer solchen Perspektive liegt darin, die Dauer des Materials und die Bezüge zu den Modi in ihrer Verbindung zu analysieren. So ist ein Einblick in kryotechnologische Zeit­ verhältnisse möglich, der auch sich verändernde (mehr-als-)moderne Zeit­ verhältnisse beobachtbar macht.

[zukünftige] ansiedeln ließen“ (ebd, S. 10.) ist selbst eine historisch entstandene Konzeption der Zukunft. 8 Vgl. analog dazu auch den Präventionsbegriff bei Bröckling (2008, S. 38).

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IV Jenseits linearer Zeit

Die Sorgen um das Klima von morgen Michael Schnegg

1 Einleitung Mit dem Schatten schwindet auch die Hoffnung auf Regen. Thomas, Pete und ich warten, dass die Tiere nachmittags nach Hause kommen.1 Bald werden wir wissen, wie viele Schafe den Rückweg geschafft haben. Mehr als 12 Monate hat es nicht geregnet und die aride Landschaft im Norden Namibias ist trockener als in den Jahren zuvor. Während wir warten, lösen sich die Regenwolken auf, die sich seit dem Morgen gebildet haben. „ǁGarub geht“, sagt Pete. ǁGarub, das ist der Schatten, den die Wolken werfen und der von Kindern besungen wird, während sie in ihm tanzen. Zunehmend durch die Sonne bedrängt, rücken wir im Schatten eines nahestehenden Baumes ein paar Steine zurecht, um uns daraufzusetzen. Wir, das sind Thomas und Pete, zwei Khoekhoegowab2 sprechenden Pas­ toralisten, die im Hinterland von Fransfontein, rund 450 Kilometer nord­ westlich von Namibias Hauptstadt Windhoek leben, und ich.3 Während wir dort sitzen, beginnt Pete zu erzählen: „Neulich habe ich einen Work­ shop besucht, bei dem es darum ging, wie man mit ‚der Situation‘ umge­ hen kann.“ Mit ‚der Situation‘ ist gemeint, dass es kaum mehr regnet. „Wahrscheinlich wird es nie wieder so regnen, wie in der Vergangenheit und man muss überlegen, wie man sich anpassen kann. Ja, Anpassung an den Klimawandel, das war das Thema.“ Einige hätten gesagt, man solle sich gänzlich vom pastoralen Leben verabschieden und Hühner und Schweine halten. Aber beides berge ganz neue Risiken. Anders als bei Ziegen und Schafen, die selbst auf den offenen Weiden grasen, müsse man

1 Alle Namen sind Pseudonyme. 2 Khoekhoegowab ist eine Sprache der Khoe-Kwadi-Familie mit vier (primären) Klicklauten (ǂ, palatal; ǁ, lateral; ǀ, dental; !, alveolar), die wie andere Konsonanten funktionieren. Die Khoe-Kwadi-Sprachen gehören zu den südafrikanischen NichtBantu-Sprachen mit Klick-Phonemen, die zwar keine sprachliche Einheit bilden, aber üblicherweise unter dem Oberbegriff Khoisan subsumiert werden (vgl. Gülde­ mann und Fehn 2014). 3 Ich bin ein 1971 in München geborener Mann, der als Ethnologe an der Universi­ tät Hamburg arbeitet und seit 2003 in Namibia forscht.

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Michael Schnegg

diese Tiere füttern. Wenn man das nicht täte, wären sie noch vor dem nächsten Regen tot. Andere, so Pete weiter, hätten bei dem Workshop von ihren Erfahrungen mit einer Fischfarm berichtet, einem Projekt, wel­ ches von einer deutschen Nichtregierungsorganisation unterstützt würde. „Fische in der Wüste? Was ist, wenn das Wasser vertrocknet? Das ist doch eher was für die Küstenstadt Walvis Bay. Die beste Möglichkeit zur Anpas­ sung ist, die eigenen Tiere zu verkaufen, solange man noch Geld für sie bekommt und dann in Ruhe zu überlegen, was man in Zukunft mit dem Geld machen kann. Wenn man allerdings einmal Geld in der Tasche hat“, fährt er fort, „dann ist das auch schnell wieder weg. Dann kommen die Leute und wollen ihren Teil davon abhaben, auch das ist also keine sichere Bank.“ Während Pete das Verschwinden von ǁGarub und die sich auflösenden Wolken zum Anlass nimmt, von seinem Erlebnis bei dem Workshop zu berichten, bleibt Thomas erstaunlich ruhig. Seine Augen richten sich auf den Berg, an dem die Ziegen und Schafe bald als kleine weiße Punkte auftauchen werden. „Machst du dir denn keine Sorgen um die Zukunft?“, möchte ich von Thomas wissen. Seine Antwort ist eindeutig. „Nein. Ir­ gendwann wird es wieder regnen und dann wird es viel Gras für die wenigen gebliebenen Tiere geben.“ Diese Begegnung fand 2018 in einer kleinen Gemeinde einige Kilome­ ter außerhalb von Fransfontein statt. Sie bringt Einschätzungen zum Aus­ druck, die man in weiten Teilen der Region finden kann. Thomas und Pete stimmen darin überein, dass sich das Klima, das durchschnittliche Wetter, verändert hat. Das Khoekhoegowab-Wort für Klima, ǂoab tsî ǀnanub masib (wörtlich: „die Tatsache des Windes und vom Regen“) ist eine recht rezente Wortschöpfung. Das unterstreicht, dass es in der Vergangenheit kein Wort für das durchschnittliche Wetter gab und daher wahrscheinlich auch kein Trend einer langfristigen Veränderung des Durchschnitts beob­ achtet worden ist. Heute sieht das anders aus, Thomas und Pete sind sich einig, dass es früher deutlich regenreicher war. Thomas und Pete sind sich auch einig, wo die Ursachen für die Verän­ derungen zu suchen sind: bei ihnen selbst, in ihrer Gemeinschaft. Wie für viele andere Menschen schafft das Wetter für sie eine Beziehung zwischen Menschen und anderen Teilen der Welt. Wetter verbindet – auch durch seine moralische Funktion. Schlechtes Wetter ist oft Folge unmoralischen Handelns, und nur wenn sich das menschliche Handeln ändert, wird das Wetter wieder gut (vgl. Schnegg 2021a,b; Schnegg et al. 2021). Diese Kau­ salität ist selbstverständlich nicht auf Namibia oder den globalen Süden beschränkt. Beispielsweise auch in Deutschland bekommen viele Kinder

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Die Sorgen um das Klima von morgen

zu hören, dass das Wetter morgen schlecht werde (und sie nicht draußen spielen können), wenn sie den Teller nicht aufessen. Auch im Nordwesten Namibias ist diese Interpretation des fehlenden Regens keine Einzelmeinung von Thomas und Pete. Um das besser ab­ schätzen zu können, habe ich 2020 eine nicht-repräsentative Befragung mit 133 Bewohnerinnen und Bewohnern Fransfonteins und umliegender Gemeinden durchgeführt. Fast alle so Befragten stimmen zu, dass sich das Wetter zum Schlechteren verändert hat und 78,2 Prozent sind der Meinung, dass die Veränderungen damit zusammenhängen, wie sich die Menschen in Namibia gegenwärtig verhalten. Nur 12,9 Prozent glauben, dass das Verhalten der Menschen im globalen Norden für diese Verände­ rungen verantwortlich ist. Darüber hinaus sind sich 97,7 Prozent einig, dass nicht die Menschen, sondern ausschließlich Gott das Wetter wieder ändern kann. Und 65,2 Prozent stimmen der Aussage zu, dass Gott das Wetter auch nutzt, um die Menschen für ihr Fehlverhalten zu bestrafen (vgl. Schnegg 2021b). Diese Aussagen deuten bereits an, dass es in der lokalen Wahrnehmung deutliche Unterschiede zu der wissenschaftlichen Lesart des Klimawandels gibt, die auch für die spätere Analyse des Zusam­ menhangs von Zeitlichkeit und Sorge eine Rolle spielen werden. So viel zum Konsens. Das Ziel dieses Beitrages ist zu erklären, wieso sich Thomas, Pete und andere Menschen in der Region angesichts einer ähnlichen Einschätzung der Veränderungen des Wetters dennoch so unter­ schiedlich viele Sorgen um das Wetter von morgen machen. Um das zu verstehen, werde ich zeigen, dass die Konstruktion dessen, was Wetter ist, in unterschiedliche Vorstellungen von Zeit und Zukunft einbettet ist, die dafür mitverantwortlich sind, dass sich die Menschen in unterschiedli­ chem Maße sorgen (vgl. Schnegg 2021c). Dazu diskutiere ich im folgenden Abschnitt den Zusammenhang von Sorge und Zeit bei Heidegger. Dem anschließend werde ich mein methodisches Vorgehen und die ethnogra­ phische Situation beschreiben. Damit ist die Grundlage geschaffen, um im Hauptteil zu zeigen, wie Zeitlichkeit und Sorge zusammenhängen, und wie man diesen Zusammenhang mit Bernhard Waldenfels als ein Ant­ worten auf Ansprüche des Fremden verstehen kann, die sich Situationen stellen. Der Schluss fasst den Gedankengang nochmals zusammen. 2 Zeit und Sorge bei Heidegger Der Bezug zwischen Zeit und Sorge ist erstmals von Martin Heidegger systematisch herausgearbeitet worden. Das übergeordnete Ziel der Philo­ sophie Heideggers besteht darin, den Sinn des Seins zu ergründen (vgl. 231

Michael Schnegg

Heidegger 2006). Diese Frage sei, so Heidegger, in der Philosophie kaum ernsthaft gestellt worden. Da man also nicht wirklich auf fundiertem phi­ losophischem Vorwissen aufbauen kann, schlägt Heidegger vor, bei der Analyse damit zu beginnen, wie der Mensch der Welt im Alltag Sinn gibt (vgl. Wentzer 2013). Um das zu systematisieren, entwirft Heidegger eine Vorstellung von der Grundstruktur des Daseins (sein Wort für den Menschen oder das menschliche Sein), die aus einer Reihe von sogenannten Existentialen be­ steht. Dazu zählen In-sein, Mitsein, Geworfenheit, Rede, Angst, Sorge und Sein zum Tode (vgl. Heidegger 2006; Wentzer 2013). Wenn man sein Projekt sozialwissenschaftlich liest, so kann man darin Grundelemente einer Handlungstheorie sehen, die die Fragen beantworten möchte, wie Menschen in der Welt situiert sind (Geworfenheit, Mitsein, In-sein), was ihr Handeln bewegt (Sein zum Tode) und wie darin sinnhafte Bezüge zur Welt entstehen (Rede, Angst, Sorge). Als Grundmoment stellt Heidegger fest, dass wir in die Welt geworfen sind. Mit Geworfenheit bezeichnet er den Zustand, dass wir uns immer in einer Welt befinden, die bereits sinnhaft und geordnet ist, deren Zu­ sammenhänge wir uns jedoch erst erschließen müssen. Wie machen wir das? Um das zu verstehen, müssen wir beachten, was uns von anderen Lebewesen unterscheidet. Als einzige Lebewesen wissen wir Menschen, dass wir sterben werden. Wir leben also immer im Angesicht unseres eigenen Todes. Daher malen wir uns aus, was wir erreichen wollen, bevor dieses Ende eintritt. Dieses Angesicht des Todes ‚zieht‘ unser Handeln und Denken gewissermaßen in die Zukunft. Wir betrachten unsere Situation im Jetzt immer schon in Hinblick auf die Zukunft. Heidegger benutzt den Begriff Sich-vorweg-sein zur Beschreibung dieser Zukunftsorientierung und ihrer Folgen. In dieser Zukunftsorientierung besteht ein wesentlicher ‚Motor‘ für unser Handeln. Betrachten wir ein Beispiel, um dies zu verdeutlichen. Viele Menschen haben eine ‚bucket list‘ mit Dingen, die sie einmal gemacht haben wollen. Was bewirkt das? Wenn ich nicht sterben will, ohne ein Haus gebaut, einen Baum gepflanzt, oder ein Kind erzogen zu haben, so strukturiert das sich daraus ergebende Mir-vorweg-sein, wie ich heute mit der Welt in Beziehung trete. Es strukturiert etwa im Bereich des ökonomischen Handelns die Beziehungen, die ich zu Arbeit und Besitz habe, denn alle oben genannten Dinge kosten in unserer Gesellschaft Geld. Damit soll nicht negiert werden, dass das Dasein auch gegenwarts- oder vergan­ genheitsorientiert ist (Heidegger spricht von Sein-bei und Schon-sein-in-derWelt); Heidegger argumentiert aber im Gegensatz zu anderen Philosophen

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(etwa Aristoteles, von dem er sich absetzt), dass die Zukunft Dasein am entscheidendsten prägt. Die Art und Weise, wie wir mit der Welt angesichts der erwarteten Zukunft in Beziehung treten, beschreibt Heidegger mit dem Konzept der Sorge, die er umständlich und doch passend als Sich-vorweg-schon-sein-in(der-Welt) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden) bezeichnet. Sorge oder Fürsorge sind dabei nicht als Pflege zu verstehen, sondern bezeichnen alle Bezüge des in-der-Welt-Seins, die sich aus der Zukunftsorientierung unseres Daseins ergeben. Also auch, wenn ich beispielsweise keine Lust habe aufzustehen, da ich ‚besorgt‘ bin, dass mich ein weniger angenehmer Arbeitstag erwarten könne. Da Heidegger die sinnhaften Bezüge zur Welt aus dem Sich-vorweg-sein in der Zeit ableitet, kann er den Sinn des Seins auf einen Punkt bringen: Zeitlichkeit. Denn Zeit schafft diese Bezüge des in-der-Welt-Seins. Während einerseits mein Beitrag im Wesentlichen auf der Analyse Heideggers aufbaut und damit die sinnhaften Bezüge zur Welt als Sorge in dem Sich-vorweg-sein ergründet, werde ich andererseits detaillierter als Heidegger differenzieren, wie man sich selbst voraus sein kann. Wie die Analysen zeigen werden, haben unterschiedliche Konzepte von Zeit und Zukunft Auswirkungen darauf, wie Menschen sich sinnhaft in der Welt verorten. Die Bedeutung der Konzeption von Zeit zeigt sich bereits bei der Be­ trachtung von Heideggers eigenen Analysen und der Rolle des Todes. Der Tod markiert für ihn ein Ende, über das wir uns im Klaren sind und auf das wir hinleben. Somit basiert seine Analyse, meiner Lesart nach, auf seinem Verständnis vom „europäischen Alltagsmenschen“. Diesen nimmt er sich schließlich zum Vorbild. Wenn wir jedoch, wie in vielen Ontologi­ en, annehmen, dass der Tod ein Moment in einem Zyklus ist, so ändert sich dessen Bedeutung und die Art und Weise, wie er auf unser Leben abstrahlt. Oder, wenn wir, wie das etwa Luther noch getan hat, davon ausgehen, dass die irdische Welt ein baldiges Ende haben wird, dann hat diese Sicht auf die Zukunft ebenfalls gravierende Folgen dafür, wie wir in-der-Welt sind. Diese kulturspezifischen Konstruktionen von Zeitlichkeit in ihren Konsequenzen zu verstehen, ist Teil dessen, was ich Heidegger hinzufüge. 3 Methodische Herangehensweise Die meiner Analyse zugrundeliegenden ethnographischen Daten habe ich seit 2003 in Namibia erhoben. In dem Jahr bin ich zum ersten Mal mit 233

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meiner Frau und Kollegin Julia Pauli nach Fransfontein gekommen, um dort eine einjährige ethnologische Feldforschung durchzuführen (vgl. Pau­ li 2019). Seitdem komme ich regelmäßig in die Region und habe mehr als drei Jahre dort gelebt. Ein wichtiger Bestandteil meines Arbeitens ist das Erlernen der Sprache Khoekhoegowab geworden. Ein zweiter wichtiger Bestandteil ist das Erlernen der Grundlagen des pastoralen Wirtschaftens. Dazu habe ich mir eine kleinere Anzahl an Ziegen und Schafen gekauft und versorge diese während meiner Aufenthalte selbst. Während diese langfristig erhobenen ethnographischen Daten den Hin­ tergrund für meine Auswertungen darstellen, habe ich in den letzten Jahren qualitative und quantitative Interviews dazu durchgeführt, wie Menschen die Veränderungen des Wetters wahrnehmen und erklären. In diesem Zusammenhang habe ich mehr als 30 leitfadengestützte Interviews durchgeführt. Bei der Zusammenstellung der Stichprobe habe ich mich bemüht, Menschen einzubeziehen, die sehr unterschiedliche Zugänge zu dem Thema haben: Menschen, die vollständig im ländlichen Hinterland leben und allein auf die Viehhaltung angewiesen sind; Menschen, die als Angestellte in den benachbarten Städten ihr Geld verdienen und nur gelegentlich an den Wochenenden ins Hinterland fahren, wo sie Tiere als finanzielle und kulturelle Anlage halten und auch Menschen, die mit der Landwirtschaft weniger unmittelbar in Verbindung stehen. Ziel der hermeneutischen Datenanalyse war es, unterschiedliche Dis­ kurse herauszuarbeiten. Dabei konnte ich mich auf meine Vorarbeiten zu Erklärungen des Wetterwandels in der Region stützen (vgl. Schnegg 2021a,b). Während die Analysen, auf die sich die vorliegende Interpretati­ on stützt, alle Daten einbeziehen, werde ich in diesem Text nur einige Akteure stellvertretend für die herausgearbeiteten Positionen sprechen las­ sen. Ich werde mich bei der Auswertung dieser Interviews zunächst auf die wichtigsten Diskurse fokussieren und zeigen, wie Vorstellungen von Zeit und Zukunft zu sehr unterschiedlichen Ausmaßen an Sorgen führen. Darüber hinaus werde ich die Daten in einem zweiten Schritt nutzen, um herauszuarbeiten, dass es sich hierbei nicht um starre Denkgebäude handelt, in denen Individuen immer auf die gleiche Weise über Zeit und Zukunft nachdenken, sondern dass Menschen je nach Situation auf unterschiedliche Konzepte von Zeit zurückgreifen können – was zu un­ terschiedlichen Graden an Sorgen führen kann. Diese situative Analyse wird nur dadurch möglich, dass ich mit denselben Menschen in unter­ schiedlichen Situationen interagiert habe. Bevor ich auf die Ergebnisse zu sprechen kommen kann, ist es notwendig, das Leben der Menschen in und um Fransfontein etwas genauer darzustellen. Nur vor diesem Hintergrund 234

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ist verständlich, worüber sie sich Sorgen machen und weshalb die Sorgen variieren. 4 Ethnographische Situation Die Region um Fransfontein wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert durch das Deutsche Reich kolonialisiert. Um den Anspruch auf das Land zu festigen und die Ressourcen zu nutzen, warb die deutsche Regierung Siedler:innen an, die auf großen Flächen eine kommerzielle Viehwirtschaft aufbauten. Bei den Siedler:innen handelte es sich oft um ehemalige Mit­ glieder der sogenannten Schutztruppe, die selbst an der Eroberung und gewaltsamen Unterdrückung des Landes beteiligt waren. Die Kolonisie­ rung hatte weitreichende Folgen für die Menschen rund um Fransfontein. Ihnen wurde ein Großteil des Landes genommen, das sie in der Vergan­ genheit zum Jagen, Sammeln und Weiden genutzt hatten (vgl. Schnegg et al. 2013). Der deutsche Kolonialstaat hat den Menschen aber nicht nur wesentli­ che Teile ihrer Lebensgrundlage genommen, er hat darüber hinaus Steu­ ern erhoben, um die Menschen schnell in das koloniale Projekt zu inte­ grieren. Solche Steuern betrafen vornehmlich Ziegen, Schafe und Rinder, aber auch Hunde, die diese hüteten und zum Jagen genutzt wurden. Insge­ samt hat die Besteuerung die Menschen gezwungen, landwirtschaftliche Produkte für den Markt zu produzieren, um die Steuern bezahlen zu können. Neben den Steuern war ein zweiter Faktor für die Veränderung der Lebensbedingungen entscheidend. Die den Menschen als Reservate ausge­ wiesenen Flächen waren viel zu klein, um dort nachhaltig Viehwirtschaft betreiben zu können. Dahinter steckte Kalkül, denn so wurden die Men­ schen gezwungen, auf den angrenzenden Farmen für sehr niedrige Löhne zu arbeiten. Während der südafrikanischen Kolonialisierung, die sich der deutschen anschloss, war dies ein wesentlicher Grund dafür, dass Men­ schen in die Minenstädte ziehen mussten, um ein Einkommen zu erwirt­ schaften, das ein Auskommen ermöglichen würde. Ein Resultat dieser Mo­ bilitätsmuster, die Clemens Greiner (2011) als „Translokalität“ beschrieben hat, sind multilokale Haushalte, in denen ein Teil der Mitglieder in der Region um Fransfontein lebt, während die mittlere Generation in den Städten oder auf den Farmen im Umland in Lohn oder Anstellung ist (vgl. Greiner 2011). Mit der Unabhängigkeit Namibias im Jahr 1990 haben sich die Mög­ lichkeiten, mit dieser Mobilität eigene Lebensziele zu realisieren, signifi235

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kant verbessert. Neben einer Mittelklasse hat sich eine Elite herausgebil­ det. Dabei ist Bildung eine zunehmend wichtige Zugangsmöglichkeit zu beiden Klassen geworden. Was Zugang zu Bildung und damit einherge­ hende Potentiale zur Realisierung von Wünschen für die einen sind, bleibt ein Traum für viele andere. Viele Menschen, die in Fransfontein und ande­ ren ländlichen Regionen zurückbleiben, fühlen sich von den Entwicklun­ gen abgehängt und nicht selten sehnen sie sich nach den alten Verhältnis­ sen zurück, in denen es ihnen zwar nicht besser, aber in Relation zu ihren Verwandten in der Stadt auch nicht viel schlechter ging (vgl. Pauli 2019). In diesem Umfeld des Sich-zurückgelassen-Fühlens wecken Pfingstkirchen zunehmend Hoffnungen. Sie können dabei auf eine als positiv wahr­ genommene Tradition der Missionierung aufbauen. Bereits die Gründung der Gemeinde Fransfontein war eine Kollaboration von staatlichen Stellen und der Rheinischen Missionsgesellschaft. Während der überwiegende Teil der Menschen sich heute als christlich bezeichnet, variieren die Kirchen, denen Menschen angehören, stark. Die Zugehörigkeit wird dabei flexibel gehandhabt. Viele Menschen wechseln von den etablierten christlichen Kirchen (protestantisch, römisch-katholisch) in eine der kleinen, regiona­ len Pfingstkirchen, und dann ggf. auch wieder zurück. Die Pfingstkirchen verfolgen einen sehr viel strikteren moralischen Kodex, der etwa Sex vor der Ehe verbietet. Sie sind auch dahingehend moralisierend, dass sie viele Geschehnisse in der Welt als Strafe Gottes interpretieren, der das Fehlver­ halten der Menschen missbilligt (vgl. Pauli 2019). Während viele Pfingstkirchen auf die Ankunft Gottes ausgerichtet sind, so bedeutet das nicht, dass Menschen nicht auch für ihr Handeln zur Verantwortung gezogen werden. Strafen durch die Gemeinschaft und durch Gott spielen in den körperlich und emotional aufgeladenen Messen eine entscheidende Rolle. 5 Drei Zukünfte, drei Sorgen Damit ist der Hintergrund dargestellt, vor dem Menschen dem Ausbleiben des Regens Sinn geben, wenn sie in die Zukunft blicken. In der folgenden Analyse werden diese Blicke entlang von drei Diskursen geordnet, die ich als den wissenschaftlichen, den landwirtschaftlichen und den christlichen (pfingstkirchlichen) Diskurs bezeichne. Es ist wichtig zu betonen, dass es sich dabei um Idealtypen handelt, die sich überlappen und situativ variie­ ren können.

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5.1 Wissenschaftlicher Diskurs Wir sind auf dem Weg nach Khorixas, als Charles anfängt darüber zu sprechen, wie karg das Land ist und wie schwer es für die Tiere ist, etwas zu essen zu finden. „Früher“, sagt er, „war es viel besser, da hat es schon im September geregnet.“ Die Regenfälle seien so stark gewesen, dass die Tiere zu Weihnachten schon lange von dem frischen Gras gefressen hätten. Dann, im Dezember, wenn die Verwandten aus den Städten kamen, wären die Tiere bereits so fett gewesen, dass man sie mit Freude geschlachtet hätte. Dabei hätte man kein Öl zum Braten gebraucht.4 „Heute“, so Charles weiter, „ist vieles anders. Seit vielen Jahren hat es zum Jahresende nicht geregnet. Da ist man froh, wenn der Regen im Januar oder Februar ausreicht, um zu überleben.“ Er könne diese Verände­ rungen genau beschreiben, denn vor seinem Haus in Fransfontein habe er einen Regenmesser aufgestellt. Einen, wie sie ihn auch auf den Farmen der Weißen nutzen. Die würden sich nach dem Regen immer gegenseitig anrufen, um zu vergleichen, wieviel es bei ihnen geregnet habe. Besorgt fährt Charles fort: „In diesem Jahr hat es noch gar nicht gereg­ net.“ – „Wie stellst du dir die Zukunft der Viehwirtschaft in der Region vor?“, möchte ich wissen. „Es hat keine Zukunft. Der Trend ist doch klar. Seit ich den Regen beobachte, wird dieser immer weniger. Und man braucht einfach ausreichend Niederschlag, um in dieser Landschaft Tiere halten zu können.“ Er erwarte, dass immer mehr Menschen die ländlichen Regionen verlassen würden. Aber was sollten sie in den Städten machen? Arbeit gäbe es ja keine. Daher würden viele Menschen, die nach Khorixas ziehen, bei ihren Verwandten oder in dem stark wachsenden Township eine Unterkunft suchen. Beides koste nichts. „Aber was machen sie da?“, fragt er rhetorisch. „Bereits jetzt nimmt die Kriminalität immer weiter zu. Und das wird kein Ende haben. Menschen, die auf dem Land kein Aus­ kommen finden, werden in die Städte kommen, Alkohol trinken, Drogen konsumieren und beides durch Kleinkriminalität finanzieren.“ Aber auch für diejenigen, die bleiben, wird es kein einfaches Leben. Eventuell müssen sie mit den kommerziellen Farmer:innen sprechen, die angefangen haben, Weideflächen zu vermieten. Das könne eine Chance 4 Um diese Bewertung verstehen zu können, muss man wissen, dass Fett in weiten Teilen Namibias als wichtiger Energielieferant geschätzt wird. Mageres Fleisch ist schlechtes Fleisch. Während dieses Modell in den ländlichen Regionen weiterhin eine große Bedeutung hat, setzt sich von den Städten und den Mittelklassen ausge­ hend langsam auch ein gesundheitswissenschaftliches Denken durch, das Fett als Gefahr und Auslöser von Krankheiten betrachtet.

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sein. Da kann man in den Zeiten, in denen es besonders wenig Weideland gibt, Vieh für einen Fixpreis pro Tier und Monat grasen lassen und sie so durchfüttern. Aber auch das ist nicht leicht. Da die Weiden weit entfernt sind, benötigt man ein Auto und einen Anhänger, den man sich leihen muss. Das lohnt sich nur, wenn man viele Tiere hat. „Wir wissen nicht, was die Zukunft bringen wird, aber klar ist, dass es nicht so ist wie es ein­ mal war. Wir müssen uns anpassen. Das ist der Klimawandel“, so Charles. Die Erzählung von Charles steht exemplarisch für viele Gespräche, die ich in Namibia geführt habe und die sich zu einem Diskursfeld zusam­ menfügen, welches ich als den wissenschaftlich geprägten Zukunftsdiskurs bezeichne. Es zeichnet sich dadurch aus, dass die Gegenwart als von der Vergangenheit verschieden erlebt wird. Zeit wird dabei linear konstruiert und die Zukunft als eine Fortführung der Gegenwart gedacht, die sich nochmals von Vergangenheit und Gegenwart unterscheidet. Sie ist jedoch nicht nur offen, sondern unterliegt auch der Gestaltung durch den Men­ schen. Was wir morgen vorfinden, ist das Ergebnis dessen, was wir heute tun. Da Menschen in der Vergangenheit und in der Gegenwart falsch gehandelt haben, ist damit zu rechnen, dass die Zukunft schlecht werden wird. Wissen kann man das aber nicht. Diese Vorstellung von Zeit, die wir bei Charles und vielen anderen finden, entspricht dem, was Reinhart Koselleck so überzeugend als das dominante Zeitkonzept der Neuzeit her­ ausgearbeitet hat (vgl. Koselleck 1995). Aber was soll man tun? Wenn man wie Charles davon ausgeht, dass die Zukunft neu, offen und anders sein wird, so kann man Wissen darüber nur schwer aus Erfahrungen der Vergangenheit ableiten. Das ist ein Punkt, auf den Walter Benjamin (1977) bereits hingewiesen hat. Durch diesen Umstand nimmt die Unsicherheit zu. Mehr noch, die ganze Situation wird unübersichtlicher. Es ist diese Unübersichtlichkeit, die immer wieder die Frage aufwirft, wie man sich verhalten soll. Sollte man weiter in die Vieh­ wirtschaft investieren, sollte man sie aufgeben oder sollte man doch etwas ganz anderes machen? Da die Erfahrung keine Leitlinien mehr gibt, kann man der Unsicherheit nur noch mit Informationen begegnen. Da diese aber, wie einige der Themen des Workshops (beispielsweise Klimawandel, Anpassung, Fischzucht), von dem Pete zu Beginn berichtete, in so hohem Maße von der Lebenswelt der Menschen entkoppelt sind, können sie die Unsicherheit und das Ausmaß an Sorgen nur teilweise beheben.

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5.2 Landwirtschaftlicher Diskurs Während wir die Tiere weiden, weist mich Otto auf ein paar Gräser hin, deren abgefressene Stümpfe aus dem Boden ragen. „Das Problem ist, dass aufgrund der hohen Viehzahlen der Anteil der mehrjährigen Gräser so stark zurückgegangen ist, dass der wenige Regen nicht ausreicht, um die Weide wieder wachsen zu lassen“, so Otto. Die einjährigen Gräser seien schwach und würden zu Beginn der Trockenzeit, wenn die Winde vom Meer stärker würden, entwurzelt und nutzlos über das Land verteilt wer­ den. Wenn sie dann nicht ausreichend Samen gesät hätten, würden sie sich auch nicht reproduzieren. Die mehrjährigen Gräser hingegen würden viel schneller wachsen. In der Vergangenheit habe es mehr davon gegeben, heute allerdings, und er weist auf einen der wenigen Büschel vor uns, gibt es diese kaum noch. „Mit dem Regen ist es wie mit dem Mond“, sagt er. „Er kommt und er geht. Unsere Eltern und Großeltern haben das auch schon gewusst. Es gab Dürren, bei denen der Großteil der Tiere gestorben ist.“ Die letzte Dürre kam, so Otto, als er ein Kind war. „Damals haben die Kadaver der Tiere überall auf dem Feld gelegen und es roch Monate lang nach verfaulendem Fleisch. So schlimm ist es heute nicht. Aber dann haben wir auch erlebt, dass der Regen wiederkam“, erzählt er. „Manche sagen, dass auf sieben gute, sieben schlechte Jahre folgen und vielleicht ist es auch so. In jedem Fall kommen die guten Jahre wieder, das haben wir immer erlebt.“ In einem vergleichbaren Gespräch klagt Magdalene, wie viele ihrer Tie­ re verstorben sind. „Du weißt das ja, Michael, du konntest das bei deinem letzten Besuchen mit den eigenen Augen sehen. Nur zwei Rinder sind mir geblieben, mehr als 30 sind tot.“ Auch wenn die beiden verbleibenden Rinder noch nicht groß genug seien, dass man ihre Milch trinken könne, so werde sich das bald ändern. Wenn der Regen wiederkäme, dann könne eine Kuh jedes Jahr ein Kalb bekommen. Einige der Kälber wären weiblich und nach wenigen Jahren könnten sie ebenfalls Nachwuchs bekommen. Dann ginge es immer schneller und die Herde könne wieder zu der Größe anwachsen, die sie einmal hatte. „Dann“, seufzt sie, „werden wir wieder hier sitzen und saure Milch trinken.“ Beide Erzählungen zeichnen sich dadurch aus, dass das Jetzt – die Dürre und die Trockenheit – als Teil eines Zyklus erlebt wird, in dem man sich an einer Talsohle – der Dürre – befindet. Aber so wie auf den Vollmond der Neumond folgen wird, so wird auf die Dürre der Regen folgen. Die Zukunft wird dabei als etwas wahrgenommen, das sich aus den Erfahrun­ gen der Vergangenheit ableiten lässt. Das bedeutet nicht, dass Menschen die langfristige Tendenz nicht sehen, dass die Bedingungen schlechter wer­ 239

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den. In ihrem Versuch, das Beobachtete verständlich zu machen, verorten sie den „Trend“ aber in hohem Maße als eine momentane Phase innerhalb zyklischer Schwankungen. Die Dinge werden sich wiederholen und daher kann Erfahrung Sicherheit geben. Wenn die Kölner:innen sagen ‚et hätt noch emmer joot jejange‘, meinen sie damit ganz ähnliches. Diese Konzep­ tion führt auch dazu, dass Situationen, in denen sich die Menschen befinden, als übersichtlicher wahrgenommen werden, da die Erwartungen an die Zukunft aus den eigenen Erfahrungen in der Vergangenheit abgeleitet werden können. Auch wenn es momentan schlecht um die Weiden steht, kann man damit rechnen, dass sich das in Zukunft wieder ändern wird. Diese Zukunft ist eine Wiederkehr der Vergangenheit und das Wissen da­ rüber macht die Erfahrungen der Vergangenheit zu einem guten Ratgeber. 5.3 Christliche (pfingstkirchliche) Diskurse Wir stehen in der Hütte, die Robert neben sein Haus gebaut hat. Unser Interview ist beendet und er will mir auf dem Weg nach draußen zeigen, wovon er mir eben erzählt hat, seine Kirche, in der er jetzt für mich beten würde. Robert gehört einer Minderheit an, die römisch-katholisch erzogen wurde. In seinem Fall fand ein guter Teil dieser Erziehung auf einem kirchlichen Eliteinternat statt, das er wegen seiner guten schulischen Leis­ tung besuchen durfte. Nachdem sein Leben nach der Unabhängigkeit mehr ökonomische Abs als Aufs erfahren hatte, lebt er inzwischen seit vie­ len Jahren in Fransfontein, wo er mit unterschiedlichen wirtschaftlichen Strategien experimentiert und ein durch viele Unsicherheiten geprägtes Leben führt. Dort ist er auch vor einigen Jahren „umgekehrt“ (engl. re­ pent), d. h. er hat seinen Weg zu Gott neu gefunden, indem er erst einer Pfingstkirche beigetreten ist und dann mit der prophetischen Begabung beschenkt wurde. Ich dürfe ihn jetzt Prophet nennen, sagte er mehrfach während des Interviews. Sein Glaube prägt seine Weltsicht. Auch er stimmt dem zu, dass sich die Dinge verschlechtert haben. „Es regnet nicht mehr so wie in der Vergan­ genheit, das sieht man sofort. Schuld daran sind“, sagt Robert, „die politi­ schen Eliten, die ihren moralischen Kompass verloren und sich von Gott entfernt haben. Da die Elite nicht mehr an Gott glaubt und nicht mehr nach seinen Werten lebt, machen die Menschen das auch nicht mehr.“ Das, was sie momentan in Bezug auf das Wetter und den Regen erlebten, wäre eine Warnung Gottes, dass man umkehren müsse, sonst wäre die Menschheit nicht zu retten. Umkehren heißt für ihn, zu beten und ein an den Moralvorstellungen, die er der Bibel entnimmt, ausgerichtetes Leben 240

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zu führen. Nur so könne man sich auf die Ankunft Gottes vorbereiten und wäre für diesen Tag bereit. Diese christliche Vorstellung konstruiert die Zukunft zum einen im eschatologischen Sinne als auf uns zukommend. Das Ende der irdischen Welt wird unmittelbar erwartet und man sollte dafür präpariert sein. Anders als in dem linearen Zeitdenken bewegen wir uns nicht in die Zukunft hinein, sondern die Zukunft kommt auf uns zu, das französische l'avenir und das deutsche Zu-kunft bringen dieses Denken sehr schön zum Ausdruck. Morgen bleibt uns ein Tag weniger als heute. Die Zukunft (das Ende der Welt) kommt uns näher. Gleichzeitig ist die Vorstellung von Zukunft aber auch davon geprägt, dass Menschen das Ausbleiben des Regens als Warnung Gottes verstehen, mit der er sie dazu auffordert, ihr Verhalten zu überdenken und zu ändern. Damit, so der pfingstkirchliche Diskurs, haben sie eine gewisse Gestaltungsmacht für die Zukunft. Erst wenn sich das Verhalten der Menschen ändere, würde es auch wieder mehr Regen geben und der Trend, den Robert und andere sehen, ließe sich umkehren (vgl. Schnegg 2021a,b). In dieser Konzeption von Zeit kommt die Zukunft weitestgehend auf uns zu, aber in einer Form, die durchaus gestaltbar ist. Darin scheint mir ein wesentlicher Unterschied zwischen der pfingstkirchlichen Interpretation und der mittelalterlichen katholischen Zukunftskonzeption zu liegen. Durch Gott als Bezugspunkt wird die von Robert und anderen erlebte Situation eingeordnet. Ein Resultat dieser Konstruktion von Zukunft ist, dass sich Menschen weniger signifikant Sorgen um die Zukunft des Klimas und des Wetters machen, die nicht nur in ihrer, sondern auch in Gottes Hand liegt. 5.4 Schweregrad der Besorgnis Ich habe eingangs herausgearbeitet, dass Heidegger die Vorstellung ge­ prägt hat, dass wir uns sinnhaft in der Welt verorten, indem wir uns immer schon vorweg-sind. Wir denken und sehen uns mehr oder minder bewusst in der Zukunft und das prägt, was und wie wir in der Welt sind und welche Bedeutung die Dinge der Welt für uns haben. Dabei bedenkt Heidegger allerdings nicht, dass Menschen unterschiedliche Modelle von Zukunft haben. Er sieht die Orientierung auf das Ende und den Tod als zentral an. Die Analysen zeigen, dass sich diese Modelle deutlich unterscheiden und dass dies Konsequenzen hat. Wenn das Sich-vorweg-sein in einer Zu­ kunft liegt, die als offen und gestaltbar wahrgenommen wird, so beinhaltet 241

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das die Möglichkeit, dass ich eine Situation als unsicher erlebe und die Beziehungen zur Welt ebenfalls durch diese Unsicherheit geprägt sind. Pete fragt: „Was soll ich mit den Tieren machen? Soll ich sie verkaufen und das Geld für etwas Anderes nutzen oder doch besser warten, dass die Wetterbedingungen besser werden?“ Diese Offenheit der Zukunft bietet auch Potential. Wäre es nicht besser, in eine andere Form von Landwirt­ schaft zu investieren, etwa Schweinezucht oder Fischfarmen, von denen er bei dem Workshop gehört hat? Könnte das nicht auch eine Anbindung an die Märkte und damit ein Weg in die sich herausbildende Mittelklasse Namibias sein? Wenn Menschen, wie Otto und Magdalene, davon ausgehen, dass die Zukunft primär eine Wiederholung von Vergangenem ist, so hat das un­ mittelbare Konsequenzen für die Sicherheit, mit der sie sich in der Welt bewegen können und für ihr Handeln. Wenn ich mir sicher bin, dass der Regen wiederkommen wird und die Herden wieder wachsen werden, dann gibt es weniger Gründe, das Handeln grundlegend in Frage zu stel­ len oder zu verändern. Das Sich-selber-vorweg-Sein in einer zyklischen Zeit verringert nicht nur das Maß an Unsicherheit, sondern führt auch dazu, dass man sehr viel eher gewillt ist, in einer Krise die Hoffnung nicht aufzugeben und in den Fortbestand der Herde zu investieren. Etwa, indem man die Tiere oft täglich über viele Stunden begleitet, um ihnen dabei zu helfen, Gras zu finden. Handeln und Denken sind damit unmittelbar dadurch geprägt, wie ich Zukunft wahrnehme. Der pfingstkirchliche Diskurs verortet sich zwischen den beiden ande­ ren Konzeptionen. Hier verbinden sich Elemente einer auf den Menschen zukommenden Zukunft, die von Gott vorgegeben ist, mit der Vorstellung, dass man sich darauf vorbereiten muss. Dadurch wird Handeln notwendig und überflüssig zugleich. Diese Situation wird als übersichtlich erlebt, da man sich in die Hand Gottes begeben hat. Die Folge ist der Versuch, sein Handeln an den Prinzipien auszurichten, die man für moralisch richtig hält. Im Vergleich zeigt sich also, dass das Wie des Sich-selber-vorweg-Seins reale Konsequenzen für die sinnhafte Verortung der Menschen in der Welt hat. 6 Zukunftskonzeption und die Sorge durch das Fremde In der einführenden Vignette habe ich von meinem Gespräch mit Thomas berichtet und davon, wie er Regen als etwas erlebt, das sich grundlegend verändert hat. Gleichzeitig zeichnet er ein Bild einer Zukunft, die er als wenig bedrohlich wahrnimmt. Die guten Dinge werden wiederkehren. 242

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Wie die meisten Menschen in der Region ist Thomas aber nicht nur Pasto­ ralist, sondern auch Angestellter an einer Schule, ein religiöser Mensch, und vieles mehr (vgl. Schnegg 2021a). Als wir uns an einem der folgenden Tage treffen, kommt er – der Lehrer – gerade von der Schule und berich­ tet, dass er den Wasserkreislauf unterrichtet hat. Er hält die Zettel und das Schulbuch der 8. Klasse noch unter dem Arm. Da er von meinem Interesse an dem Thema weiß, erzählt er mir, dass sich der Regen an der Schnittstelle von Hoch- und Tiefdruckgebieten bildet und dass sich die Thermik mit dem Klimawandel ändert (vgl. Schnegg 2019). Wie genau, das wisse auch die Wissenschaft noch nicht. Diese Veränderungen wären aber auch dafür verantwortlich, dass sich das Wetter in Namibia geändert habe. Das würden auch die langfristigen Daten zeigen. Schon seit Beginn der Kolonialzeit würden in Namibia Niederschlagsmengen gemessen und es zeige sich immer deutlicher, dass diese zurückgegangen sind. Auch wenn unklar sei, wohin das noch führen werde, so wisse man inzwischen, dass der Trend unumkehrbar sei. Da würde er sich schon auch fragen, wie die Kinder in der Klasse einmal leben würden. Das erneute Treffen zeigt, dass Thomas – wie wahrscheinlich viele ande­ re Menschen auch – situativ auf unterschiedliche Konzeptionen von Zeit und Zukunft zurückgreift (vgl. Bender et al. 2010). Diese Situiertheit der zeitlichen Verortung ist in der Literatur nur recht selten berücksichtigt worden, wenn etwa sehr generell und essentialisierend von der „African time“ (Mbiti 1969) gesprochen wird, oder wenn eher zyklischen eher lineare, oder eschatologische Zeitverständnisse gegenübergestellt werden (siehe dazu Widlok et al. 2021). Dabei erleben wir Zeit immer durch bestimmte Objekte und als Teil bestimmter Ordnungen, die ihre jeweilige Eigenzeit haben (vgl. Bryant und Knight 2019; Schatzki 2010). In den hier beschriebenen Fällen zeigt sich etwa, dass Thomas Zeit durch die Objekte in der Umwelt – Gräser, Tiere, Wolken – erst zyklisch erlebt, und dann beim Anblick der Grafiken auf seinem Zettel ein anderes Zeitverständnis zugrunde legt. Es zeigt sich aber auch in vielen weiteren Bereichen, wenn Menschen ihren Körper als endlich erleben, einen politischen Prozess als Teil einer Legislaturperiode erfahren, ein Auto mit einer Garantie kaufen. All diese Objekte und weitergefasst gesellschaftliche Felder aus denen sie stammen (Körper, Politik, Wirtschaft), haben Eigenzeiten, die jeweils mitbestimmen, wie wir über die Zukunft nachdenken (vgl. Nowot­ ny 1992). Da Menschen Zeit über unterschiedliche Objekte erleben und in unterschiedlichen Ordnungen zuhause sind, können oder müssen sie auch zwischen diesen Zeitlogiken ‚switchen‘. Für die Analyse bedeutet das, dass ein ‚Switch‘ zu einem anderen Grad an Sorge führen kann.

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Um auszumachen, auf welche dieser Eigenzeiten Bezug genommen wird, spielen die Objekte und Praktiken, über die Menschen den Regen erfahren und durch die er für sie sinnhaft wird, eine entscheidende Rolle. In dem Fall von Thomas sind das bei der ersten Begegnung die Tiere und das Gras, das wir inmitten der ariden Landschaft erleben und von dem letztlich seine Existenz maßgeblich abhängt. Dies alles ist Zyklen unterworfen und damit wird auch dem Objekt Regen eine zyklische Zeit­ lichkeit zugeschrieben, beziehungsweise tritt diese zyklische Zeitlichkeit durch die Art der Interaktion deutlich in den Vordergrund. Das sieht bei der zweiten Begegnung anders aus. Hier wird der Regen stark durch die, über einen langen Zeitraum erhobenen, Messdaten erfah­ ren, die eine andere Perspektive auf Zeitlichkeit werfen. Sie rücken in den Vordergrund, dass der Regen abgenommen hat und dass man nicht genau weiß, wie die Linien in den Grafiken wohl weiter verlaufen werden. Da die Zukunft als viel offener erlebt wird und es wenig Anzeichen dafür gibt, dass sich der Trend umkehren kann, wird auch dem Regen diese lineare Zeitlichkeit zugeschrieben. Aber auch Robert, der Prophet, ist nicht nur in seiner Kirche aktiv. In einer anderen Rolle ist er ebenfalls Pastoralist. Wie fast alle Menschen in Fransfontein besitzt er eine kleinere Anzahl an Tieren. Während einer mei­ ner Besuche auf seiner Farm sitzen wir gemeinsam vor seinem Haus und betrachten die Wolken, die sich am Horizont bilden. Während wir über den trockenen Sandboden in die Ferne blicken, frage ich ihn: „Können wir nicht mal wieder Jagen gehen?“ – „Es gibt momentan keine Tiere in der Region. Hier finden sie kein Wasser. Wir müssten dann schon auf eine der Farmen im Norden fahren, wo es bereits geregnet hat. In Fransfontein müssen wir noch warten, bis der Regen die Seen wieder füllt und die Tiere zum Trinken kommen. Dann können wir wieder an unserer gewohnten Stelle ausharren.“ Der Kontext des Jagens und des In-der-ariden-UmweltSeins konstruiert den Regen und das Wetter auf eine andere Art. Hier steht primär die Erfahrung der Zyklizität im Vordergrund und nicht der moralisierende Zugang, der unser Gespräch in seiner Kirche geprägt hat. Damit stellt sich die Frage, weshalb der Regen in unterschiedlichen Situationen jeweils eine bestimmte Zeitlichkeit erhält und wie diese Ord­ nungen selektiert werden. Um diese Frage zu beantworten, müssen wir fragen, wie der Regen uns als Phänomen erscheint. Dazu bietet die re­ sponsive Phänomenologie von Bernhard Waldenfels (1994, 1998) einen sehr interessanten Ansatzpunkt. Sie rückt in den Blick, dass wir Phänome­ ne nicht nur als etwas wahrnehmen, wie Edmund Husserl gezeigt hat, son­ dern dass diese Intentionalität erst ein zweiter Schritt ist. Im ersten Schritt werden wir von der Welt angesprochen. Was uns als Phänomen erscheint, 244

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ist somit die kreative Antwort auf die Ansprüche, die die Umwelt an uns richtet (vgl. Waldenfels 1994, 1998). Aber wie werden wir angesprochen und wieso müssen wir antwor­ ten? In Waldenfels responsiver Phänomenologie erfahren wir die Welt zunächst als fremd. Ihre Fremdheit fordert uns heraus. Nach Waldenfels ist damit jede Erfahrung eine Fremdheitserfahrung. Durch unser Antwor­ ten versuchen wir das Fremde zu ordnen, zu beherrschen. Gleichzeitig entzieht sich das Fremde dem Versuch des Ordnens, sodass immer etwas außerordentlich bleibt. Das Außerordentliche, Fremde, Nicht-Verstandene affiziert uns weiter, fordert uns heraus und ist der Antrieb für die Verän­ derungen von Ordnungen. An dieser Schnittstelle von Ordnendem und Fremdem entsteht somit die Bedeutung eines Phänomens (vgl. Waldenfels 1994). In dem von mir untersuchten Fall stellt das Ausbleiben des Regens in allen Situationen das Fremde, das Außerordentliche dar. Ich werde im Folgenden zeigen, wie diese Fremdheit uns jeweils anders affiziert und damit eine andere Ordnung herausfordert, was dazu führt, dass die Dürre jeweils zu einem eigenen Phänomen mit einer eigenen Zeitlichkeit wird. Betrachten wir zunächst die landwirtschaftliche Situation und die Dis­ kurse, die sich daraus ergeben, so zeigt sich deutlich, dass der Regen und das Wetter durch die Auseinandersetzung mit den Tieren, den Gräsern, den Wolken und ihren Dynamiken in unser Blickfeld rücken. Sie sprechen uns an. Aber was ist fremd? Fremd ist, dass wir nicht wissen, ob sie über­ leben werden. Wir versuchen diese Fremdheit innerhalb dieser Ordnung zu verstehen und das zentrale Moment dieser Ordnung ist ein Fokus auf das Ganze. Auch wenn das Einzelne nicht überlebt, werden die Wolken, die Gräser und die Tiere fortbestehen. Es wird sie auch in Zukunft geben. Auch wenn der massive Tod während der Dürre die Ordnung herausfor­ dert, so entsteht das Grundmoment des Phänomens, seine Zyklizität, als Antwort auf die Frage, ob die Dinge überleben und in Zukunft noch da sein werden. Ganz ähnlich lässt sich die Konstruktion des Regens über Messreihen und Daten verstehen. Was Messgeräte und Tabellen ausdrücken, richtet den Blick auf die langfristige Entwicklung, die zeigt, dass es immer we­ niger regnet. Was ist uns an den Messreihen und dem sich dadurch dar­ stellenden Phänomen fremd? Fremd ist, wohin die Linie führen wird. Wie versuchen wir dies zu ordnen? Wir ordnen, indem wir die Zukunft als offen konstruieren. Die Linie kann in viele Richtungen weitergeführt werden. Vielleicht wird es nicht ganz so schlimm? Vielleicht ist noch eine Umkehr des Trends möglich? Der Regen und das Klima erscheinen als etwas, das viele Zukünfte haben kann. Es liegt an uns, wohin die Linie führen wird. Auch hier wird deutlich, dass die Art und Weise, wie uns 245

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das Ausbleiben des Regens affiziert, Auswirkungen darauf hat, wie uns das Phänomen erscheint und welche Zeitlichkeit es erhält. Auch im religiösen Kontext tritt das Ausbleiben des Regens auf eine bestimmte Art und Weise an uns heran. Die Frage nach dem Überleben des Menschen steht im Vordergrund und bestimmt, was uns fremd ist. Ist die Menschheit noch zu retten? Die Ordnung, mit der der Frage begegnet wird, ist eine religiöse und moralische und rückt das ins Zentrum, was Menschen falsch gemacht haben. Das Ausbleiben des Regens als Strafe, die wieder aufgehoben werden kann, wenn Menschen umkehren, ordnet das Fremde und schreibt dem Regen eine bestimmte Zeitlichkeit ein. Es kann gut werden, wenn wir umkehren. 7 Schluss Ich habe mit diesem Beitrag die Frage gestellt, wieso sich Menschen in so unterschiedlichem Maße Sorgen um das Klima von morgen machen, obwohl sie bei der Beurteilung, wie sich das Klima geändert hat, nahe bei­ einanderliegen. Dabei habe ich zu zeigen versucht, dass Sorge ein sinnhaf­ ter Bezug zu den Dingen in der Gegenwart ist, der durch die Erwartungen an die Zukunft geprägt wird. Die Sorgen um die Tiere und darum, ob sie vom Feld wiederkommen und langfristig überleben, ist ein Beispiel dafür. Diese Überlegungen bauen auf den Vorstellungen von Heidegger und Waldenfels auf und erweitern diese. Während Heidegger gezeigt hat, dass das, was wir von der Zukunft erwarten, entscheidend prägt, wie wir uns im Jetzt sinnhaft verorten, habe ich ergänzt, dass es sehr unterschiedliche Konzeptionen davon gibt, was Zukunft ist, und in welchem Verhältnis sie zu Gegenwart und Vergangenheit steht. Die Art der Zukunftskonzeption, so mein Hauptargument, hat Einfluss darauf, ob und wie ich mir Sorgen mache. In einer Konzeption von Zukunft, in der ich davon ausgehen kann, dass die Dinge wiederkehren, besteht weniger Anlass zur Sorge. Die Situation stellt sich als weitestgehend übersichtlich dar. Das sieht anders aus, wenn ich die Zukunft als offen und neu wahrnehme. Diese Offenheit birgt das Potential für eine Unruhe, die als Unsicherheit in die Gegenwart und auf die Situation, wie ich den Mangel an Regen erlebe, ausstrahlen kann. Das religiöse Erleben des Regens steht dazwischen. Hier ist die Vorstellung von der Zukunft zum einem durch die Erwartung der Ankunft des Erlösers geprägt und wird zum anderen dadurch beeinflusst, dass ich mich auf diese in der Gegenwart vorbereiten muss. Zusammengenommen zeigen die Analysen, dass die unterschiedlichen Ausmaße an Sorge mit den Kon­ 246

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zeptionen von Zukunft zusammenhängen, die sich wiederum aus der Art und Weise herleiten lassen, wie der Regen situativ als Phänomen erfahren wird. Waren nun die Sorgen, die sich Pete in der eingangs beschriebenen Szene gemacht hat, gerechtfertigt? An dem Tag sind alle Tiere nach Hause gekommen. Auch wenn sich ihre Anzahl in den kommenden Monaten kontinuierlich vermindert hat, so haben – zumindest bis jetzt – einige Tie­ re überlebt. Damit dürften sich beide bestätigt fühlen, Pete, der sich Sorge um das einzelne Tier macht und für den unklar ist, wie es weitergeht, und Thomas, dessen Zuversicht sich aus der Erfahrung der Zyklizität des Lebens speist. Danksagung Ich danke Julia Pauli, Inga Sievert, und Robert Pultke für die anregenden Diskussionen zu den hier behandelten Themen und der konstruktiven Kritik des Manuskriptes. Als Herausgeber:innen haben Julia Sellig und Johannes Burow akribisch und kreativ zur Verbesserung des Textes beige­ tragen. Ohne die Unterstützung der Menschen in Namibia, bei denen ich seit rund 20 Jahren forsche, hätte diese Arbeit nicht stattfinden können. Ich bin allen genannten Personen zutiefst dankbar. Die Forschung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) als Teil des Exzellenz­ initiative – EXC 2037 ‘CLICCS — Climate, Climatic Change, and Socie­ ty’– Project Number: 390683824, Universität Hamburg, finanziert und durch das DFG-Projekt „Wetterwissen“ (423280253) finanziert. Literaturverzeichnis Bender, Andrea, Sieghard Beller und Giovanni Bennardo. 2010. Temporal Frames of Reference. Conceptual Analysis and Empirical Evidence from German, English, Mandarin Chinese and Tongan. Journal of cognition and culture 10:283–307. DOI: https://doi.org/10.1163/156853710X531195 Benjamin, Walter. 1977.Erfahrung und Armut. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bryant, Rebecca, und Daniel M. Knight. 2019. The Anthropology of the Future. Cambridge: Cambridge University Press. DOI: https://doi.org/10.1017/97811083 78277 Greiner, Clemens. 2011. Migration, Translocal Networks and Socio-Economic Stra­ tification in Namibia. Africa 81:606–627. DOI: http://dx.doi.org/10.1017/S00019 72011000477

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Die Sorgen um das Klima von morgen Widlok, Thomas, Joachim Knab und Christa Van Der Wulp. 2021. #African Time. Making the Future Legible. African Studies 80:397–414. DOI: https://doi.org/10. 1080/00020184.2021.1942786

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Reclaiming the Right to Imagine Pacific Pasts, Present and Futures. Climate Change Narratives by Pacific Climate Warriors Mareike Sophie Hoffmann

1 Storying Climate Change through Pacific Acts of Struggle and Resilience Across the Pacific Islands, climate change is affecting not only livelihoods, but also the culture and traditions of local populations as they are deeply entangled with the natural environment. It is predicted that impacts of climate change will be further concentrated in this region in the future, making it partly unhabitable and forcing large parts of the population to resettle elsewhere (cf. McNamara and Farbotko 2017, p. 17). Thus, caring for the natural environment and just climate futures is of tremen­ dous importance to directly affected local actors, particularly Indigenous peoples and Pacific youth. However, their priorities and agency are often overlooked in adaptation strategies. Discourses in media, research, and politics – particularly in the Global North –, that directly influence deci­ sion-making on national and global levels, frequently paint a picture of inhabitants of the Pacific Islands to be “victims” (McNamara and Farbotko 2017, p. 18) of climate change living in “disappearing nations” (Steiner 2015, p. 166). Such so-called narratives, i.e., established tales, perspectives or convictions that influence a group's or culture's perception of the world and are reinforced through different stories, have significant impact on how climate change is addressed (cf. McNamara and Farbotko 2017, p. 18). Pacific grassroots organisations and climate activists are actively resisting giving into “doom and gloom” narratives (Nairn 2019, p. 436) and rejec­ ting the inevitability of losing their island homes (cf. McNamara and Far­ botko 2017, p. 23). Uniting behind the mantra ‘we are not drowning, we are fighting’ the Pacific Climate Warriors (aka 350 Pacific), a Pacific youthled climate movement, are an example for such resistance. By changing the narratives of Pacific islanders from ‘drowning’ to ‘fighting’, the activists are reclaiming the right to tell their stories of the pasts and present, and to imagine better climate futures (cf. McNamara and Farbotko 2017, p. 23; See also: Chao and Enari 2020; Steiner 2015).

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Although the study of narratives in social movements and in climate change politics has gained increasing attention (cf. Fløttum and Gjerstad 2017; Kleres and Wettergren 2017; Lee et al. 2020), there is a lack of studies focussing on local sub-narratives of global movements (cf. Han and Ahn 2020, p. 18) and particularly youth climate activists in the Global South, such as 350 Pacific. An analysis of their narratives, and thus their priori­ ties and imaginations, can provide insightful findings to inform climate adaptation measures and policies. This paper aims to shed light on the Pacific Climate Warriors’ narratives of climate change with connection to their ancestoral pasts, their relation­ ship with the natural environment and their imaginations of more just futures. Building on a thematic analysis of social media posts, it finds that the activists express the importance of continuity of Pacific life by emphasising the interconnection of past, present and future generations, as well as the relationship between humans and the natural world. This interlinkage of different time dimensions contrasts linear perceptions of time and shapes human-nature care relations in the Pacific Islands. In the following, chapter two shortly outlines the research methodology and the role of storytelling and climate change narratives in the Pacific Is­ lands. Thereupon, chapter three elaborates on four key themes underlying the identified narratives: agency, intergenerational relations, human-nature relations and hope. Finally, chapter four concludes the article with a call for further research on youth activists’ narratives and time conceptualisati­ ons as well as a postcolonial perspective in research, politics, and develop­ ment practice. 2 Theoretical and Methodological Framework This article seeks to explore the imaginations of the Pacific Climate Warri­ ors related to climate change, their ancestors’ history, and human-nature relations. ‘Imagination’ in this context does not merely refer to forming of mental images of unreal scenarios, but rather to the various perceptions, conceptualisations, and contestations of realities (Mittermaier 2011, p. 3). A narrative analysis is helpful in understanding such imaginations and how they are shaped and communicated, particularly on social media. The­ refore, the following chapter elaborates on the framework of the narrative analysis of Instagram posts and outlines the relevance of storytelling in the context of the Pacific Islands based on explicit examples of the activists’ posts.

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2.1 Social Media Narrative Analysis of Pacific Climate Warriors As “homo narrans” (Fisher 1984, p. 7), humans use stories to make sense of the world and to pass on knowledge within as well as across generations (cf. Han an Ahn 2020, p. 3; Chao and Enari 2020, p. 39). In interaction, various stories produce narratives, i.e., overarching ideas about certain topics or subjects. They do not only manifest through storytelling in the traditional sense (i.e., as a specific discursive activity for sharing and inter­ preting events) but also through argumentation (cf. Fløttum and Gjerstad 2020, p. 2). Narratives can “define problems, indicate causes and possible solutions as well as moral responsibilities” (ibid.) Through narratives, actors or subjects of stories can be portrayed in contrasting roles, such as heroes and villains (cf. Bushell et al. 2017, p. 7), enabling narrators to assign blame or glory accordingly (cf. Han and Ahn 2020, p. 3). By applying different discursive methods, narrators can thus translate negative feelings and attributions into positive ones, e.g., turning feelings of shame into empowerment and thereby shaping public opinion and political discourses (ibid.). Such narratives that seek to achieve a par­ ticular purpose through communicating a desired outcome and ways to achieve it are considered “strategic narratives” (Bushell et al. 2017). As social media is gaining relevance as spaces to negotiate and share common narratives (cf. Nairn 2019, p. 438), this study is based on a nar­ rative analysis of posts by @pacificclimatewarriors [PCW] on the platform Instagram. The profile belongs to 350 Pacific, a youth-led grassroots net­ work working across 18 Pacific Island nations and diaspora communities in Australia, New Zealand, and the United States of America. The net­ work aims to “highlight [their] island countries’ vulnerabilities to climate change while showcasing [their] strength and resilience of people” (350 Pacific 2022). Ultimately, the organisation demands to stop fossil fuels and transition to clean and renewable energy. In total, 743 posts from 31st of May 2018 (establishment of the profile) to 8thof March 2022 (date of data collection) have been reviewed, out of which 312 included narrative patterns and thus were considered for further analysis. Inductive thematic coding was deployed to categorise the themes into a hierarchical coding frame. The complete narrative analysis is part of a doctoral dissertation that is still in progress. Thus, this paper focuses merely on the results of the analysis and substantiates them with secondary literature.

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2.2 The Role of Storytelling and Climate Change Narratives in the Pacific Islands Narratives and storytelling play a crucial role for the Pacific Climate Warri­ ors to make sense of their lives and climate realities, as well as to shape collective identities and drive climate action. In the context of climate change, narratives are inherently part of how affected populations experi­ ence, interpret and socially construct the impacts of climate change (cf. Han and Ahn 2020, p. 2). Here, climate change is not only subject of the stories told, but also influences the everyday experiences of narrators and their relationship with the changing natural environment (cf. Fløttum and Gjerstad 2017, p. 3). In other words, as Kabutaulaka, a political theorist from the Solomon Islands, phrases it: “stories frame our beliefs, understan­ dings, and relationships with each other and the world around us…our lives are interwoven stories…we live in an ocean of stories” (Kabutaulaka 2020, p. 47). Therefore, Fløttum and Gjerstad (2017, p. 3) argue that climate change stories are “part of the larger story of human existence and subsistence.” Furthermore, decolonial scholars Sophie Chao and Dion Enari (2020, p.39) point out that collectively produced stories present an “intangible heritage” being passed on across generations. Through storytelling, the subjects of stories are commemorated and kept from oblivion. By featuring stories of Pacific peoples, ancestors, environment, and non-human others, Chao and Enari (2020, p. 39) suggest “we fa’aola (bring to life) the urgency of the climate crisis”. Thus, stories are not just “cultural artefacts” (ibid.), but amidst environmental and cultural destruction constitute “political tools” (ibid.) that can help to (re)imagine climate and to believe in and achieve a better world. Pacific Climate Warriors explicitly acknowledge this power of stories: Our world is truly designed by the stories we tell. […] The stories we have collected across the region, represent our climate realities. It also represents our shared hope for the Pacific and the world. (PCW, 23/6/20). In such efforts of (re)imagination and instilling hope, narratives further play a significant role in shaping collective identities and spurring collec­ tive action (cf. Han and Ahn 2020, p. 3). Narratives bear great organisatio­ nal power by allowing individuals to recognise their contributions to a common cause. Thereby, individual activists can place their life narratives into the wider context, i.e., master narrative. For instance, the individual decision to recycle becomes part of a larger collective effort to preserve the 254 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 24.02.2023, 01:27:36.

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environment (Bevan et al. 2020, p. 10). Potentially, such a collective sense could make activists less likely to abandon their efforts due to feeling of hopelessness (cf. Nairn 2019, p. 444). In addition, it can become a crucial part of strategies to attract new activists (cf. Han and Ahn 2020, p. 3). These aspects are particularly relevant for the Pacific Climate Warriors, as becomes apparent in the following post: Using storytelling, we have been able to weave together young people across the region, and the world, in order to create a collective sense of place, people and purpose. (PCW, 21/8/19) Overall, narratives play a crucial role in the public communications of the activists and fulfil several purposes, such as recruiting members or instilling hope, as will be elaborated in the following chapter. 3 Narratives of the Pacific Climate Warriors Based on the social media analysis introduced in the previous section, four key themes in the narratives of the Pacific Climate Warriors have been identified and will be further illustrated in this chapter: agency, intergene­ rational relations, human-nature relations, and hope. 3.1 Agency: “We are not drowning. We are fighting.” The Pacific Climate Warriors aim to change prevalent narratives about Paci­ fic Islanders from externally imposed images of ‘victims’ to an internally created vision that focuses on their agency, resilience and the power and potential of Indigenous knowledge. In this process of re-imagination, the activists acknowledge the extent of threats by climate change and yet refuse to give up, thus insisting on caring despite uncertainties for the future. Climate change impacts, such as rising sea levels, increasing tempera­ tures, intensifying weather events and disasters undeniably pose serious threats to the Pacific Islands region, inter alia by affecting water and food security, inhabitants’ health and local livelihoods (cf. McNamara and Farbotko 2017, p. 18). Over the last decades, these high risks have been gaining relevance for local governments and communities, as well as in international political and academic discourses, particularly in the Global North. Common terms used to describe the situation and the region have been “‘most vulnerable’, ‘sinking’, ‘drowning’, ‘doomed’ and so on” (ibid.). Such externally imposed narratives implicitly deny affected people 255 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 24.02.2023, 01:27:36.

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their agency and shift the discourse towards vulnerability of the ‘victims’ rather than focusing on the cause (ibid.). Building on Hau’ofa’s (2018) famous essay “Sea of Islands” that turned the external vision of Pacific islands as isolated, remote and dependent into an internal vision based on social interconnectivity between islands and the ocean, Candice E. Steiner (2015, p. 149) argues that “there is a world of difference” between viewing Pacific Islanders as climate change victims or a sea of warriors, as it shifts the focus from helplessness to Islanders’ agency and resilience. The Pacific Climate Warriors straightforwardly express their dissatisfac­ tion with how their situation and stories are used to support the externally imposed narrative of victimisation: For too long have our stories been used to paint a picture of the realities of the Climate Crisis. Enough is Enough. (PCW, 11/10/21) Therefore, changing the perception of Pacific Islanders is the explicit inten­ tion of the Pacific Climate Warriors’ narrative of fighting climate change: We rally behind the mantra “we are not drowning, we are fighting.” The ideals behind this mantra allows us to retell the world stories about our people living on the frontlines of climate change. To shift it from one that only paints us as mere victims of climate change to one that recognises that while our cultures and identities face an exis­ tential threat from climate change, we are also actively drawing on our indigenous knowledge and time tested traditions to mitigate impacts of climate change and strengthen our resilience. (PCW, 22/11/19) The acknowledgement of the “existential threat from climate change” shows that the activists neither question climate science, nor do they play down the extent of climate impacts. Rather, they refuse to accept the inevitability of such threats and to be limited to wait in inaction, which is implied in the resistance to be painted “as mere victims”. Further, the activists emphasise their agency, resilience and remedies grounded in Indi­ genous and local knowledge. By storying climate change through activism and focusing on these aspects, they are reclaiming the right to construct an internal vision of Pacific Islanders and their climate realities, in order to replace external imaginations based on victimisation. Interpreted with the concept of “radical care” by Hi’ilei J. K. Hobart and Tamara Kneese, one can understand the activists’ struggle as a form of “audacity to produce, apply, and effect care despite dark histories and futures” (Hobart and Kneese 2020, p. 2). Essentially, it constitutes a refusal not to care (cf. Chao and Enari 2021, p. 45). For the activists, to insist on

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imagining better futures and to enact care accordingly is how they pave the way for their imaginations to materialise. 3.2 Intergenerational relations: “We are not fighting only to protect the future, but to protect our past.” In their efforts of reclaiming the right to imagine the Pacific, the activists are not only focussing on imaginations of the future and understandings of the present, but also on rewriting stories of the past. They emphasise the interconnectivity of generations across time by cherishing their ancestors’ resilience and recognising the heritage of their decolonisation struggles for present and future generations. Resilience is a recurring topic in many of the activists’ narratives. This is not surprising, as Indigenous communities have been forced to develop resilience in many aspects over the past, particularly in the face of coloni­ sation, exploitation, and destruction of sacred lands (cf. Stewart-Harawira 2018, p. 158). Indigenous peoples are still partly denied basic human rights in the Pacific Islands and decolonisation struggles are still ongoing (cf. Banivanua Mar 2016). According to Chao and Enari (2021, p. 47), climate imaginaries are severely influenced by “violent histories” of colonialism. The authors suggest framing the climate crisis as “colonial déja-vu – a perpetuation of long-standing processes of dispossession, displacement, and disempowerment” (ibid.). Similarly, Stewart-Harawira (2018, p. 159) argues that “faced with new modes of colonisation” the same resilience is giving rise to new forms of (dis)engagement. With regards to the narratives of the Pacific Climate Warriors, this resilience indeed seems to shape their climate activism as shown in the following post: Remembering who we are, the past we carry with us, and all the knowledge and power given to us to shape the strong and resilient people we are today. (PCW, 19/3/21) The Pacific Climate Warriors also acknowledge the challenges that their ancestors faced in the past and the ways in which they were subordina­ ted in hegemonic structures, such as colonial power systems. However, their narratives again focus on resilience that is “engrained within [their] island cultures” (PCW, 17 March 2020) and other aspects of strength and knowledge that they draw from their ancestors’ legacy and traditions. The recurrence of the topic of resilience is not surprising. The latest report by the International Panel on Climate Change asserts that colonialism has not only exacerbated the effects of climate change, but particularly increased 257 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 24.02.2023, 01:27:36.

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the vulnerability of some groups and places, especially in the Global South (cf. IPCC 2022). The report recognises that to address climate change, policymakers must address the continuous impacts of colonialism (ibid.). Relatedly in one post, the activists explicitly mention the impact of climate change and colonial history on their peoples – and the Global South overall – by referring to their exploitation. However, the main focus of the story is not victimisation but rather the demand for Global North countries to take responsibility for their past actions: The global north is in environmental debt to the global south, for wealth built on the exploitation of the people and natural resources of the south that have created a climate crisis – and needs to pay its fair share to the South in climate finance for mitigation. (PCW, 15/10/20) Implicitly, the activists embed a similar critique into a call for system change after the Category 5 cyclone Harold hit several Pacific islands in April 2020. They argue that Harold was “a disaster exacerbated by the climate crisis which will cause loss and damage from a problem the Pacific has not caused” (PCW, 7/4/20). Hence, they underline that the islands are burdened with the effect of climate change. However, the responsibility lies elsewhere – most likely referring to Global North countries as mentio­ ned in other posts. In terms of characterisation of actors in the past, the Global North was frequently portrayed as the villain while ancestors were repeatedly featured as “great warriors” and protectors of the land, thereby ascribing to them the role of heroes in the narrative format. In particular, articulating their positions as protectors reflects the importance of caring for the earth (cf. Hobart and Kneese 2020, p. 1). The following quote provides an example: Our ancestors were great warriors, fighting to protect our lands, our people and our tribes. Today, we must combine our resilience with the legacy of our ancestors, to protect the homes that remain, and secure a Vanuatu for the future. (PCW, 24/8/19) Similarly, in stories about individual motivations for climate activism, many activists named the “legacy” of their ancestors and calls to honour them as key aspects, hinting towards the great respect for and the sense of presence of past generations in the present. In this context, the relevance of storytelling in the Pacific across generations again becomes evident: We as Pacific Climate Warriors are fighting not only to protect our future but to protect our past, our ancestor’s history, our people’s

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mana, our families homes are all at risk, and some have already been lost (PCW, 19/3/21) We are future ancestors fighting to protect the interwoven stories and knowledge systems that continue to breathe life into the people and places we call home. (PCW, 11/9/19) We inherit these lands from our ancestors and borrow it from our future generations. (PCW, 17/3/20) The “interwoven stories” narratives show the interconnectivity of generati­ ons and time dimensions. Time is not conceptualised as linear, but rather pasts, present, and futures melt into one, as histories and knowledge of the past are passed on and lay the foundation for resilience in the present and imaginations of the future. The continuity of Indigenous and Pacific human as well as non-human existence is a crucial aspect of the activists’ narratives. This is also shown in the relationship with the land which is inherited from past and borrowed from future generations and thus does not only belong to those in the present. 3.3 Human-nature relations: “Our connection to our land is our identity” The themes of conflation of time dimensions, legacy, and resilience as well as calls to protect the island homes as described in the last chapter are further connected to questions of identity and human-nature relations in the Pacific Islands. Environmental identity, i.e., “the amalgamation of cultural identities, ways of life, and self-perceptions that are connected to a given group's physical environment” (Figueroa 2011, p. 233), is a recurring underlying topic in the activists’ narratives. One can observe that collective identity and a sense of belonging are built on the intertwining of nature and culture, which is further emphasised through material culture. Material culture, i.e., a form of cultural expression through objects made from natural resources that reflect societal values and beliefs of communities (cf. Abbot 2013, p. 3), forms an essential part of said Pacific ways of being. In their activities as well as online posts, the Pacific Climate Warriors frequently utilise items of material culture, such as vessels, woven mats, canoes and paddles, which represent close “ties to the island environ­ ment and the way of life that it has sustained for generations” (Steiner, 2015, p. 165). The activists state that they showcase the items to “celebrate the natural world” (PCW, 20/8/19) and to represent their “homes and everything [they] are fighting to protect” (PCW, 23/8/20). Thereby, such 259 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 24.02.2023, 01:27:36.

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material culture items further again underline the continuity of life and the interconnection between different generations. The strong relationships with the island environment are reflected in many posts of the Pacific Climate Warriors: Our connection to our land is our identity. Our stories, our beliefs, our people flow from the trees, the rocks and the mountains that make up our islands into the waters that connect us. (PCW, 19/7/19) If we lose our ancestral homelands, we lose a part of our identity. (PCW, 24/8/18) Our Vanua (our lands) have been tied to our identity, our roots, defining ourselves in the memories of our ancestors as voyagers (PCW, 28/1/20) One thing we know to be true is that Indigenous and First Nations people continue to maintain an unbreakable human and sacred spi­ ritual connection with our land, air, water, forests, sea ice, plants, animals, and our communities handed down to us from our ancestors. We draw our strength and our identity from these stories and these places. (PCW, 22/4/20) The activists conceptualise the natural and cultural as deeply intertwined. Their collective identity is rooted in and tied to their natural surroun­ dings, such as land and water, that simultaneously function as a source of strength. Stories, such as the memories of “ancestors as voyagers”, are engrained in the natural environment and ensure the presence of ancestors and continuity of life. The activists imply that losing the land would not only mean losing their geographical homes but threaten their identity and their “sacred spiritual connection” with the land. Similarly, Steiner (2015, p. 148) finds that to Pacific Islanders, the Pacific “islands are com­ plex sites, sources, and sustainers of identity, culture, and continuity with the past”. Therefore, she argues that losing land and resettling elsewhere furthermore results in loss of environmental heritage (cf. Steiner 2015, p. 148), i.e. “the expression of an environmental identity in relation to the community viewed over time" (Figueroa 2011, p. 233). Moreover, as local­ ly meaningful stories and relations with nature are tied to these places, losing them also threatens Pacific ways of being and belonging (cf. Chao and Enari 2021, p. 45). Relatedly, the term ‘home’ is frequently mentioned in the activists’ posts and addresses the sense of belonging in addition to the physical space. In their narratives, home is considered something to protect and to 260 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 24.02.2023, 01:27:36.

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fight for. The perception of home is rooted in the places themselves, which shows for instance in the word compositions of “homelands” and “island homes” (PCW, 12/11/21). This place-bound identity becomes particularly critical once homelands are irreversibly destroyed (cf. Morrice 2012, p. 35). Home can be conceptualised as “’something that must be returned to’ and re-claimed as part of intimate embodied space and sense of self” (Re­ surrección 2017, p. 79). Therefore, the prospect of losing ones’ home can erase people’s sense of place, self and belonging (cf. ibid.). This is further demonstrated by the strong relationship between identity and nature, as emphasised the following excerpts: For Pacific and Indigenous people all around the world, our relation­ ship with the land is also our relationship with ourselves. (PCW, 4/2/20) To ‘teu le va’ means to nurture and value the sacred and secular spaces of relationships. Relationships are the essence of our Pacific identity and with the close spiritual and cultural relationships we share with our moana, we are called to ‘teu le va’. In order for ethical practice to be enacted we must respect and protect the relational space we share with our moana. (PCW, 8/6/21) In Samoa, my dear Mama’s home, the word for land is fanua which is the same word for placenta. Both protect and nurture. As Pacific people, we are always linked to, and indivisible from our fanua. (PCW, 4/2/20) We are indigenous, we are first nations, we are pasifika.. We are ocean, we are land, we are rainbow. (PCW, 3/3/20) ’Pasifika’ is a “term used by Pacific Islanders as a pan-Pacific Islander identity shared by community groups living in transnational contexts, particularly in Australia and New Zealand” (Enari and Faleolo 2020, p. 110). Pacific Islanders are portrayed as inseparable from the land and the natural environment, and the activists identify with nature and its elements (e.g., ocean [moana] and land). This also becomes apparent in the use of the word “fanua” that represents a vital connection to the land, as it also translates to placenta. In stressing its role to “protect and nurture” the activists implicitly recognise their people’s acute vulnerability to land destruction. Hence, instead of merely being the protectors of the earth, they are themselves cared for by it. The meaning of relationships with the natural environment speaks to the activists’ understanding of the value of nature, which seems primarily 261 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 24.02.2023, 01:27:36.

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relational. Natural surroundings are not perceived only as material or geographic spaces, but they carry significant cultural and spiritual value and are embedded in people’s everyday lives (cf. Pereira et al. 2020, p. 1184). Pereira et al. (ibid., p. 1183) refer to this view as “Nature as Culture, in which humans are perceived as an integral part of nature […] living in harmony”. Recognising this framing of human-nature relationships is crucial to understand the imaginations of climate futures and transformati­ ve changes the Pacific Climate Warriors call for, such as radically caring for (i.e., nurturing and protecting) nature (cf. Hobart and Kneese 2020). 3.4 Hope: “Hope is not lost. Hope is us.” Stories told by the Pacific Climate Warriors show that the activists take the immediate threat of climate impacts seriously without plunging into despair. Instead, they are conscious of drawing a picture of climate change as a challenge that can and must be tackled. On the one hand, the activists build on negative emotions such as grief and fear of loss to underline the urgency of climate action. On the other, they also raise hope and inspire collective action through sharing imaginations of better futures. Similar to the narratives related to agency that were construed with the approach of “radical care” (Hobart and Kneese 2020), the activists’ posts regarding the future can be interpreted with the help of Jonathan Lear’s concept of “radical hope” (Lear 2006). Hope is radical in the sense that transformative change is acknowledged as necessary for better climate ima­ ginaries; however, it is recognised that it can never be guaranteed (cf. Chao and Enari 2020). Clinging to hope in this context of poor prospects can be a means to cope with climate threats and shows that hope often works together with negative emotions, such as despair (cf. Nairn 2019). For social movements, this is strategically relevant: If activists are constantly confronted with doom and gloom narratives focussing on grief of past and fear of future losses, affected activists may suffer from anxiety and other negative emotions that can drive them to burn out (ibid., p. 444). Therefore, generating hope is crucial to encourage and maintain individu­ al and collective action, among other things through creating a sense of togetherness (ibid.). Moreover, Kari A. B. Chew at el. (2019, p. 147) argue that hope is deeply connected to agency as it is linked to the aim to recover a community’s voice, i.e., “the expression of Indigenous identities, belonging, and responsibility to self and community” (McCarty et al. 2018, p. 160). Additionally, the authors suggest that hope is “sustained through

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intergenerational relationships that connect the past present, and future” (Chew et al. 2019, p. 147). The connection between acknowledging the threats of climate change and instilling hope becomes particularly clear in the following post reflecting on an art performance: [The performance] painted the picture of a Tokelau [island] in her final hours before being engulfed by the rising sea. And it told the sto­ ry of a young Tokelauan man who grew up in the diaspora returning home in those last moments to discover within himself the grief his people had long carried. It was a powerful look into what could be a reality for Tokelau and for the Pacific as a whole. […] And whilst the tears flowed, hope was never lost. For we know in the climate movement, Tokelau people are the most fierce of warriors. And those fatele songs that were sung during this powerful performance, are the same ones we hear in our canoe blockades, in our rallies and in our actions. (PCW, 15/8/19) In particular, the phrase “whilst the tears flowed, hope was never lost” rep­ resents the close interconnection between emotions of grief and hope. The Pacific Climate Warriors navigate this emotional connection by thematising grief of potential loss to emphasise the urgency of climate action and stres­ sing the collective role of warriors. As in the post above, the activists tend to end their posts on an empowering note, as giving up hope would mean the loss of purpose for the activists and thus result in inaction. Furthermo­ re, action is incentivised through the collective aspects touched on in the post. Especially by including the audience explicitly through the use of the first-person plural pronoun “we” and by referring to a common song, a sense of collectiveness is enforced. Relatedly, the connection between hope, collective identity and agency can be observed in the following post, in which the activists propose that the activist community itself represents hope: People are on the frontlines of the crisis. People are on the frontlines of the fight to stay alive. We will step up and be heard. Hope is not lost. Hope is us. (PCW, 15/11/21) Through manifesting that hope is embodied in the activists themselves, the Pacific Climate Warriors not only foster a sense of collective identity, but also implicitly emphasise collective responsibility. This call becomes more explicit in other narratives that directly request readers to act or join the movement. Among these calls, the narrators appeal to the addressees’ future selves: “What kind of ancestor do you want to be?” (PCW, 20/7/18), 263 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 24.02.2023, 01:27:36.

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again underlining the importance of ancestral legacy, intergenerational relationships and continuity of time. To a significant extent, the Pacific Climate Warriors seem to build radical hope on this sense of responsibility to ensure continuity of Pacific life as well as the recognition that better futures are indeed possible. 4 Conclusion The narratives that the Pacific Climate Warriors use to re-imagine the Pacific and the climate show that they actively refuse to give into pessimistic visions of the future and to take on the role of victims of climate change. Through telling their own stories, including those of their ancestors, the land around them and future generations, the activists reclaim their agency as well as emphasise agency of affected human and non-human others. Building on the resilience of their ancestors, the activists draw on Indige­ nous knowledge and culture for acts of resistance against externally impo­ sed visions, policies and culture, as well as the impacts of climate change itself. Thereby they strive to be recognised as subjects and not objects of the climate change discourse. The movement’s narratives can be partly interpreted with the concept of radical care and hope, as it recognises the magnitude of the challenges of climate change and acknowledge the possi­ bility of darker futures and yet refuses not to care and not to try. Adding to the concepts of radical care and radical hope, this paper emphasises the role of (strategic) narratives for social movements – specifically in digital spaces. Here, it shows that the Pacific Climate Warriors’ narratives about imaginations of better climate futures can be powerful drivers of hope, resilience and resistance, which build the grounds for collective action and social change. Moreover, the analysis showed how emotions of grief and fear of loss can be instrumentalised to call for action and create collective identities. How far strategic narratives generate an impact, particularly if they are openly communicated as such, provides a worthwhile subject for further research. Finally, throughout the activists’ stories, it becomes apparent that their conceptualisation of time is crucial to understand their motivations and claims of climate activism. Drawing on Pacific Indigenous culture, the Pa­ cific Climate Warriors imagine time not as linear, but rather as continuity in which pasts, present and futures are deeply entangled. This conceptualisati­ on has significant implications on local understandings of human-nature relations as well as practices, that can – and in the interest of inclusivity and capabilities should – inform climate adaptation and resilience approa­ 264 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 24.02.2023, 01:27:36.

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ches. Acknowledging agency of Pacific people and meaningfully involving them in decisions that affect them is crucial to successfully developing and implementing effective climate adaptation strategies, and related research. To this end, legacies of colonialism with regard to climate change and (in­ ternational) decision-making processes must be recognised and addressed. Adopting a postcolonial perspective in research, politics and development practice allows understanding and tackling ongoing patterns of inequity and will ultimately pave the way for more just climate futures. References Abbott, Rachel Gianni. 2013. The Scandinavian immigrant experience in Utah, 1850–1920. Using material culture to interpret cultural adaptation. Fairbanks: University of Alaska Fairbanks. Banivanua Mar, Tracey. 2016. Decolonisation and the Pacific. Indigenous Globali­ sation and the Ends of Empire (Critical Perspectives on Empire). Cambridge: Cambridge University Press. DOI: https://doi.org/10.1017/CBO9781139794688 Bevan, Luke D., Thomas Colley and Mark Workman. 2020. Climate change stra­ tegic narratives in the United Kingdom. Emergency, Extinction, Effectiveness. Energy Research and Social Science, 69:101580. DOI: https://doi.org/10.1016/j.er ss.2020.101580 Bushell, Simon, Géraldine S. Buisson, Mark Workman and Thomas Colley. 2017. Strategic narratives in climate change. Towards a unifying narrative to address the action gap on climate change. Energy Research and Social Science 28:39–49. DOI: https://doi.org/10.1016/j.erss.2017.04.001 Chao, Sophie and Dion Enari. 2021. Decolonising Climate Change. A Call for Beyond-Human Imaginaries and Knowledge Generation. eTropic: electronic journal of studies in the Tropics 20(2):32–54. DOI: https://doi.org/10.25120/etro pic.20.2.2021.3796 Chew, Kari A. B., Vanessa Anthony-Stevens, Amanda LeClair-Diaz, Sheilah E. Nicholas, Angel Sobotta and Philip Stevens. 2019. Enacting hope through nar­ ratives of Indigenous language and culture reclamation. Transmotion 5(1):132– 151. DOI: https://doi.org/10.22024/UniKent/03/tm.570 Enari, Dion and Ruth Faleolo. 2020. Pasifika collective well-being during the CO­ VID-19 crisis. Samoans and Tongans in Brisbane. Journal of Indigenous Social Development 9(3):110–126. Figueroa, Robert M. 2011. Indigenous peoples and cultural losses. In The Oxford handbook of climate change and society, Eds. John S Dryzek, Richard B. Nor­ gaard and David Schlosberg, 232–249. New York: Oxford University Press. DOI: https://doi.org/10.1093/OXFORDHB/9780199566600.003.0016

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Mareike Sophie Hoffmann Fisher, Walter R. 1984. Narration as a human communication paradigm: The case of public moral argument, Communication Monographs 51(1):1–22. DOI. https://doi.org/10.1080/03637758409390180 Fløttum, Kjersti and Øyvind Gjerstad. 2017. Narratives in climate change discour­ se. Wiley Interdisciplinary Reviews: Climate Change, 8(1):e429. DOI: https://doi .org/10.1002/wcc.429 Han, Heejin and Sang Wuk Ahn. 2020. Youth mobilization to stop global climate change: Narratives and impact. Sustainability 12(10):4127. DOI: https://doi.org/ 10.3390/su12104127 Hau‘Ofa, Epeli. 2008. We are the ocean. In We Are the Ocean. Honolulu: Universi­ ty of Hawaii Press. DOI: https://doi.org/10.1515/9780824865542 Hobart, Hi’ilei Julia Kawehipuaakahaopulani and Tamara Kneese. 2020. Radical care: Survival strategies for uncertain times. Social Text 38(1):1–16. DOI: https:// doi.org/10.1215/01642472-7971067 IPCC [International Panel for Climate Change]. 2022. Climate Change 2022. Im­ pacts, Adaptation, and Vulnerability. Contribution of Working Group II to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. Cambridge, UK and New York: Cambridge University Press. Kabutaulaka, Tarcisius. 2020. COVID-19 and Re-Storying Economic Development in Oceania. Oceania 90(1):47–52. DOI: https://doi.org/10.1002/ocea.5265 Kleres, Jochen and Åsa Wettergren. 2017. Fear, hope, anger, and guilt in climate activism. Social Movement Studies 16(5):507–519. DOI: https://doi.org/10.1080/ 14742837.2017.1344546 Lear, Jonathan. 2006. Radical hope. Ethics in the face of cultural devastation. Cambridge, London: Harvard University Press. Lee, Katharine, Nathalia Gjersoe, Saffron O'Neill and Julie Barnett. 2020. Youth perceptions of climate change. A narrative synthesis. Wiley Interdisciplinary Reviews: Climate Change 11(3):e641. DOI: https://doi.org/10.1002/wcc.641 McCarty, Teresa L., Sheilah E. Nicholas, Kari A. B. Chew, Natalie G. Diaz, Wesley Y. Leonard and Louellyn White. 2018. Hear Our Languages, Hear Our Voices. Storywork as Theory and Praxis in Indigenous-Language Reclamation. Daeda­ lus, 147(2):160–172. DOI: https://doi.org/10.1162/DAED_a_00499 McNamara, Karen E. and Carol Farbotko. 2017. Resisting a ‘doomed’ fate. An analysis of the Pacific Climate Warriors. Australian Geographer 48(1):17–26. DOI: https://doi.org/10.1080/00049182.2016.1266631 Mittermaier, Amira. 2011. Dreams That Matter. Egyptian Landscapes of the Imagi­ nation. Berkeley: University of California Press. DOI: https://doi.org/10.1525/97 80520947856 Morrice, Stephanie. 2013. Heartache and Hurricane Katrina. Recognising the in­ fluence of emotion in post‐disaster return decisions. Area, 45(1):33–39. DOI: https://doi.org/10.1111/j.1475-4762.2012.01121 Nairn, Karen. 2019. Learning from young people engaged in climate activism. The potential of collectivizing despair and hope. Young 27(5):435–450. DOI: https:// doi.org/10.1177/1103308818817603

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Reclaiming the Right to Imagine Pacific Pasts, Present and Futures Pereira, Laura M., Kathryn K. Davies, Eefje den Belder, Simon Ferrier, Sylvia Karlsson-Vinkhuyzen, HyeJin Kim, Jan J. Kuiper, Sana Okayasu, Maria G. Palomo, Henrique M. Pereira, Garry Peterson, Jyothis Sathyapalan, Machteld Schoolenberg, Rob Alkemade, Sonia Carvalho Ribeiro, Alison Greenaway, Jen­ nifer Hauck, Nicholas King, Tanya Lazarova, Federica Ravera, Nakul Chettri, William W. L. Cheung, Rob J. J. Hendriks, Grigoriy Kolomytsev25, Paul Lead­ ley, Jean-Paul Metzger, Karachepone N. Ninan, Ramon Pichs, Alexander Popp, Carlo Rondinini, Isabel Rosa, Detlef van Vuuren, Carolyn J. Lundquist. 2020. Developing multiscale and integrative nature–people scenarios using the Nature Futures Framework. People and Nature, 2(4): 1172–1195. DOI: https://doi.org/1 0.1002/pan3.10146 Resurrección, Bernadette P. 2017. From ‘women, environment, and development’ to feminist political ecology. In Routledge handbook of gender and environ­ ment, Ed. Sherilyn MacGregor, 71–85. Oxon: Routledge. Steiner, Candice E. 2015. A sea of warriors. Performing an identity of resilience and empowerment in the face of climate change in the Pacific. The Contem­ porary Pacific 27(1):147–180. DOI: https://doi.org/10.1353/cp.2015.0002 Stewart-Harawira, Makere. 2018. Indigenous resilience and pedagogies of resistan­ ce. Responding to the crisis of our age. University of Alberta. DOI: https://doi.or g/10.2139/ssrn.3185625 350 Pacific. 2022. 350 Pacific. What does it mean to be a warrior?. https://350.org/p acific/ (Accessed 25th May. 2022).

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Abschiedsrituale im stationären Hospiz. Inszenierte Verschränkung von Zeitdimensionen in der Grenzsituation des Todes Laura Brand

1 Der Tod als Grenzsituation Der Tod ist eine „Grenzsituation par excellence“ (Berger und Luckmann 2007, S. 108). Als rätselhaftes und zugleich unvermeidliches Ende jeden menschlichen Lebens bleibt er „als unser Ureigenstes [zugleich] das uns Fremdeste“ (Jüngel 1985, S. 17). Durch den toten Körper des/der anderen ist er zwar von außen sichtbar, der eigene Tod aber entzieht sich der Erfah­ rung und bleibt für das Selbst unzugänglich (vgl. Macho und Marek 2007, S. 9; Nassehi 1992, S. 12). Er gefährdet die Gewissheit der alltäglichen Wirklichkeit und fordert gerade deswegen zur Bewältigung heraus. Im Umgang mit dem Tod haben gemeinsam geteilte Rituale, kollektive Hand­ lungs-, Kommunikations- und Deutungsmuster in der modernen westli­ chen Gesellschaft jedoch an Bedeutung verloren. Infolge der Ausdifferenzierung der Gesellschaft gibt es keine sinnhafte „Zentralposition oder Zen­ tralperspektive“ (Nassehi 2021, S. 307) mehr. Die Religion ist zu einem Teilbereich neben weiteren geworden. Die in vormodernen Gesellschaften insbesondere christlich-religiös geprägten Traditionen im perimortalen Umfeld werden als in der Vergangenheit bewährte Orientierungsmuster angesichts der Individualisierung und Pluralisierung zunehmend als nicht mehr anwendbar erlebt (vgl. Schützeichel 2017, S. 116). Darüber hinaus nehmen Primärerfahrungen mit Sterbenden und Toten gegenwärtig infol­ ge gestiegener Lebenserwartungen sowie der Institutionalisierung des Ster­ bens ab, womit zugleich eine zunehmende Professionalisierung der Sterbeund Trauerbegleitung verbunden ist. Als eine wesentliche Institution er­ weist sich dabei das stationäre Hospiz. In der Hospizbewegung wird der Tod zwar durch Normalitätszuschrei­ bungen als natürlicher Bestandteil des Lebens konzeptualisiert, bleibt aber für die Hinterbliebenen eine „Situation existentieller Sorge“ (Henkel 2021, S. 3) und damit „ein Problem der Lebenden“ (Elias 2002, S. 11). Nicht nur die Integrität ihres Selbst, sondern auch die Fraglosigkeit der erlebten all­ täglichen Lebenswelt zerbrechen angesichts des Todes (vgl. Schütz und 269 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 24.02.2023, 01:27:36.

Laura Brand

Luckmann 2003, S. 627f.). Eine Orientierung an in der Vergangenheit ge­ bildeten Erwartungen verliert ihre Plausibilität. Die Zukunft ohne die ver­ storbene Person erscheint als nicht gestaltbar. Das Hospiz hat die Aufgabe, den An- und Zugehörigen ebenso wie den Mitarbeiter*innen in dieser Si­ tuation Deutungs-, Handlungs- und Kommunikationsformen zur Verfü­ gung zu stellen. Es ist herausgefordert, Bewältigungsstrategien im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer zu entwickeln, zu erproben und zu etablie­ ren. In dem Zusammenhang kommt den gemeinsamen Abschiedsritualen eine wesentliche Funktion zu, die unmittelbar nach dem Tod eines Hos­ pizgastes von den Hospizmitarbeiter*innen für die An- und Zugehörigen gestaltet und im Beisein der verstorbenen Person durchgeführt werden. Temporale Aspekte spielen in diesen Ritualen eine zentrale Rolle. Dabei ist nicht nur der Zeitpunkt der Durchführung, sondern auch die inszenier­ te Verschränkung der Zeitdimensionen im Ritual selbst von Bedeutung. Dies möchte ich im Folgenden veranschaulichen. Dafür gehe ich zunächst auf den Wandel der Trauerkultur ein, um die Hospizbewegung in diesem Kontext als Teil der Palliative Care zu verorten. Anschließend werde ich die Bedeutung von Ritualen im Trauerkontext herausarbeiten, wobei ein besonderer Fokus auf die Übergangsrituale gelegt wird, die zu Beginn des Trauerprozesses unmittelbar nach dem Tod im stationären Hospiz durch­ geführt werden. Vor diesem Hintergrund werde ich dann die Besonder­ heit dieser Abschiedsrituale unter spezieller Berücksichtigung temporaler Aspekte verdeutlichen. 2 Trauerkultur im Wandel Während der Kirche in westlichen Gesellschaften bis ins 16. Jh. im Um­ gang mit Sterben, Tod und Trauer eine besondere Rolle zukam, zeichnete sich in der Folgezeit ein Bedeutungswandel ab. Trauer- und Begräbnisri­ tuale entfernten sich zunehmend aus dem kirchlichen Kontext und die „räumliche Einheit von Kirche, Grabstätte und Trauerkultur“ (Fischer 2001, S. 42) löste sich auf. An eine Phase der Ästhetisierung im Verlauf des 19. Jh. schloss sich eine der Technisierung, Bürokratisierung und Professio­ nalisierung an. Leichenhallen und Krematorien wurden gebaut, Bestat­ tungsinstitute übernahmen vermehrt Aufgaben, die zuvor im Zuständig­ keitsbereich von Zünften, Familien oder Nachbarschaften lagen. Im 20. Jh. wurden Sterben und Tod zunehmend institutionalisiert (vgl. Elias 2002, S. 86). Durch die Verlagerung des Sterbeortes vom vertrauten häuslichen Umfeld hin zu institutionellen Orten wie Krankenhäuser oder Alten- und 270 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 24.02.2023, 01:27:36.

Abschiedsrituale im stationären Hospiz

Pflegeheime verschwanden traditionelle Abschiedsrituale beinahe vollstän­ dig (vgl. Kretzschmar 2013, S. 177). In der Folgezeit gewannen anonyme Bestattungen an Bedeutung, Trauer wiederum wurde zur intimen Angele­ genheit. Räume des Erinnerns und Gedenkens wurden insofern plurali­ siert, als der traditionelle Friedhof als Trauer- und Beisetzungsort durch die zunehmende Attraktivität „fluide[r] Totenorte“ (Benkel et al. 2019, S. 12) infrage gestellt wurde. Gegenwärtig gewinnen neben den vielfältigen Möglichkeiten einer Na­ turbestattung insbesondere „künstliche ästhetisierte“ (ebd., S. 10) Um­ gangsformen mit der Totenasche, wie bspw. Diamantpressungen, an At­ traktivität (vgl. dazu ebd.). Die sich in der Bestattungs- und Erinnerungs­ kultur abzeichnenden Individualisierungstendenzen lassen sich auch im Rückgang kollektiver traditioneller Rituale im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer feststellen. Die Entwicklung hin zu individualisierten Aus­ drucksformen der Trauer kann für die Betroffenen die Annahme zur Folge haben, im Erleben der Trauer von Anderen nicht mehr verstanden werden zu können (vgl. Winkel 2002, S. 72f.). Trotz der dargestellten Wandlungsprozesse im Blick auf Sterben, Tod und Trauer, die in der Diskussion um die These der Todesverdrängung (vgl. u. a. Nassehi und Weber 1989) mitunter für diese geltend gemacht werden, kann nicht generell von einer Verdrängung des Todes in der mo­ dernen Gesellschaft gesprochen werden. Vielmehr trägt insbesondere die Palliativ- und Hospizentwicklung seit Ende des 20. Jh. zu einer „neuen öf­ fentlichen Auseinandersetzung um das Sterben“ (Nassehi 2021, S. 321) bei. Konstitutiv für die Palliative Care, die die Palliativmedizin sowie die statio­ näre und ambulante Hospizarbeit umfasst, ist eine Zusammenarbeit unter­ schiedlicher Bereiche. Verschiedene funktionsspezifische Logiken werden aufeinander bezogen und miteinander ins Gespräch gebracht, sodass ein und dasselbe Problem aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wird. Der „Kulminationspunkt“ (ebd., S. 322) der unterschiedlichen Funktions­ bereiche im Kontext von Palliative Care ist der Patient*innenwille. Dieser ist konstitutiv für das Ziel, die Erhaltung bzw. Verbesserung der Lebens­ qualität des oder der einzelnen und dessen An- und Zugehörigen (vgl. WHO 2020). Mit diesem Verständnis von Palliative Care durch die WHO werden im medizinischen Kontext erstmals auch die An- und Zuge­ hörigen der Gäste bzw. Patient*innen explizit in den „Behandlungspfad“ (AWMF et al. 2020, S. 48) mit einbezogen. Neben der Sterbebegleitung spielt vor diesem Hintergrund die Trauerbegleitung der An- und Zugehö­ rigen in ambulanten und stationären Palliativ- und Hospizdiensten eine zentrale Rolle.

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3 Rituale in der perimortalen Trauerbegleitung Trauer lässt sich als komplexe Reaktion auf eine Verlusterfahrung verste­ hen. Im Kontext des Hospizes kommt dabei nicht nur die Trauer um die verstorbene Person nach Eintritt des Todes, sondern auch die antizipatori­ sche Trauer vor dem Todesereignis in den Blick. Diese umfasst einerseits die gedankliche Vorwegnahme der Todeserwartung, anderseits die Ausein­ andersetzung mit Verlusterfahrungen, die bereits mit dem Sterbeprozess einhergehen können (vgl. Rando 1986, S. 3–37). In der Trauerforschung wurde wegen der Annahme einer am Anfang des Trauerprozesses stehenden Schockphase vielfach betont, dass eine Trauerbegleitung unmittelbar nach dem Tod nicht nötig bzw. möglich ist. Trauernde galten in dieser Phase als „betäubt, wahrnehmungs- und kom­ munikationsunfähig“ (Lammer 2016, S. 123). Derartige Trauerphasenmo­ delle1 gehen davon aus, dass der Trauerprozess überindividuell und kultu­ rell invariabel verläuft und die verschiedenen Trauerreaktionen in ihrer chronologischen Abfolge gewissermaßen festgelegt sind. Diese Auffassung kann dazu führen, dass bestimmte Verhaltenserwartungen an Trauernde erzeugt und das Trauerverhalten normiert wird. Trauernde werden in den Phasenmodellen als primär passiv und von der Hilfe Anderer abhängig verstanden. Ein hierarchisches Rollenverhältnis zwischen Helfenden und Trauernden entsteht (vgl. Lammer 2014, S. 72f.). Neuere Traueraufgabenmodelle betonen im Gegensatz dazu nicht nur die Individualität der Trauerverläufe, sondern auch die potenzielle Aktivi­ tät Trauernder in diesem Prozess (vgl. Jungbauer 2013, S. 59f.). Darüber hi­ naus wird die besondere Bedeutung der Zeit unmittelbar nach dem Tod für den Trauerprozess der Hinterbliebenen betont. Hervorgehoben wird, dass das persönliche Abschiednehmen von der verstorbenen Person der Realisierung des Todes und damit auch der Initiierung des Trauerprozesses dient. Weitere Aufgaben sind nach Kerstin Lammer (vgl. Lammer 2014, S. 76), die sich am Modell William Wordens orientiert, das Durcharbeiten der Trauer, das Zurechtfinden in der Wirklichkeit ohne die verstorbene Person und die Neuverortung der Beziehung zu ihr. Trauerarbeit ist somit

1 Im Blick sind hierbei lineare Phasenmodelle, wie sie bspw. von Elisabeth Küb­ ler-Ross, Yorick Spiegel und Verena Kast entwickelt wurden. Kübler-Ross unter­ scheidet fünf (Nicht-Wahrhaben-Wollen, Zorn, Verhandeln, Depression und Zu­ stimmung, vgl. Kübler-Ross 1969), Spiegel (Schock, Kontrolle, Regression und Adaptation, vgl. Spiegel 1973) und Kast (Nicht-Wahrhaben-Wollen, Aufbrechende Emotionen, Suchen und Sich-Trennen, Neuer Selbst- und Weltbezug, vgl. Kast 2015) hingegen vier Phasen.

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nicht ausschließlich ein „Akt der Ablösung“ (Stetter 2021, S. 98) mit dem Ziel des Loslassens der verstorbenen Person. Vielmehr wird mit dem Ab­ schied vom „lebendigen Körper“ (Wagner-Rau 2010, S. 40) zugleich die Bedeutung der Neuverortung der Beziehung zur verstorbenen Person her­ vorgehoben. Ritualen wird in diesem Abschiedsprozess im perimortalen Kontext eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Abschiedsrituale, die auch als Übergangsrituale klassifiziert werden (vgl. dazu van Gennep 2005), sind als wiederkehrende, in ihrer Struktur festgelegte Handlungsmuster zu verste­ hen. Rituale sind durch einen klaren Anfang und ein klares Ende gerahmt. Sie werden zu einem festgelegten Zeitpunkt in Gemeinschaft vollzogen und haben einen Feiercharakter. Durch ihre feste Struktur tragen sie trotz individueller Ausgestaltung den Anschein der Unveränderlichkeit. Sie stif­ ten Ordnung und Verhaltenssicherheit und leisten gerade darin einen Bei­ trag für die Bewältigung der Grenzsituation des Todes (vgl. Schäfer 2011, S. 98–102; Wulf und Zirfas 2004, S. 22; Soeffner 2010, S. 40f.). Als schein­ bar in der Vergangenheit überindividuell bewährte Handlungsformen wird ihnen eine besondere Autorität verliehen (vgl. Michaels 2003, S. 6f.). Als Beispiele für traditionelle Trauerrituale, die in westeuropäischen Kulturen unmittelbar nach dem Tod durchgeführt wurden, lassen sich das Schließen der Augen und des Mundes der verstorbenen Person, das Öffnen der Fenster, das Verhängen der Spiegel und das Verhüllen des Leichnams sowie das Läuten von Totenglocken nennen. In vielen Bereichen der modernen Gesellschaft haben diese Rituale zwar an Bedeutung verloren, im stationären Hospiz aber gewinnen einzelne im Zusammenhang der Aufbahrungspraxis wieder an Aufmerksamkeit.2 Neben dem Rückgriff auf bewährte traditionelle Rituale, wie bspw. das Öffnen der Fenster sowie das Waschen, Ankleiden und Bedecken des Leichnams, werden hier zugleich ‚neue‘ rituelle Praktiken entwickelt. Das Abschiedsritual, das unmittelbar nach dem Versterben eines Hospizgastes von den Mitarbeiter*innen im Hospiz für die An- und Zugehörigen gestaltet und mit ihnen am Bett der verstorbenen Person durchgeführt wird, ist dafür ein Beispiel und wird im Folgenden Gegenstand der Analyse sein.

2 Ich beziehe mich hierbei auf Erkenntnisse meines ethnografisch angelegten Dis­ sertationsprojekts. Auch für die folgende Analyse der Abschiedsrituale greife ich auf Beobachtungen und Interviews, die ich ihm Rahmen meines Projekts geführt habe, zurück. Interviews werden mit dem Kürzel I verschlüsselt. Die weiteren Abkürzungen beziehen sich ebenfalls auf ein in der Dissertation verwendetes Schema: P=Pflegeperson, PDL=Pflegedienstleitung, PSD=Psychosozialer Dienst, HL=Hospizleitung, S=Seelsorger*innen, E=Ehrenamtliche Mitarbeiter*innen.

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4 Eine raumsensible Betrachtung Während im Krankenhaus eine Aufbahrung des Leichnams im Sterbebett aufgrund knapper zeitlicher und räumlicher Ressourcen nur begrenzt möglich ist, haben die An- und Zugehörigen im Hospiz bis zu 36 Stunden Zeit, sich von der verstorbenen Person im Hospizzimmer zu verabschie­ den. Die verstorbene Person wird dafür unmittelbar nach dem Tod von den Pflegekräften gewaschen, eingecremt und angekleidet. Das Hospizzim­ mer wird individuell dekoriert und medizinische Gegenstände werden entfernt. In der räumlichen Gestaltung orientieren sich die Hospizmitar­ beiter*innen dabei jeweils an der Person bzw. an dem, was sie über ihre Biografie erfahren haben. Auf dem Nachttischschrank werden bspw. eine Kerze, ein Bilderrahmen und weitere persönliche Gegenstände, die von einem Holzkreuz über einen Rosenkranz bis hin zu einem Schlüsselanhän­ ger, einer Zigarette oder einer Flasche Bier reichen, dekorativ platziert. Eine Decke umhüllt den Unterkörper der verstorbenen Person und ein persönlicher Gegenstand wird in ihre Arme gelegt. Die Hände werden über dem Bauch gefaltet oder ineinander verschränkt. Blütenblätter wer­ den auf der Decke verstreut und Duftöle im Raum verteilt. Die Kleidung, die die verstorbene Person trägt, hat sie zuvor selbst bzw. haben die Anund Zugehörigen oder die Hospizmitarbeiter*innen ausgesucht. Als Teil des materiellen Arrangements im Zimmer trägt die Kleidung dazu bei, dass der Tod als selbstverständlicher Teil des Lebens erkennbar wird. Das Bild der verstorbenen Person soll „Besänftigung, Harmonie und Stabilität vermitteln“ (Buchner 2018, S. 238) und dem Tod seinen Schrecken neh­ men. Sie soll als „emotionale Bezugsperson in guter, harmonischer Erinne­ rung behalten“ (ebd., S. 236) werden können: Und nicht ein Gesicht/ nicht dieses schwere Atmen, das Rasseln, was die zum Schluss hatten. Sondern, da liegt jemand ganz friedlich und entspannt und sieht wirklich aus wie schlafend. Schön angezogen. Das muss nichts Dolles sein. […] Aber sie liegen dann, ja wie, wenn sie sich selber angezogen hätten/ sich zurecht gemacht und liegen fried­ lich im Bett. Und dieses schöne Bild, das ist uns wichtig. (I-P7:40–46) Eine weitere Hospizmitarbeiterin erklärt in diesem Zusammenhang: […] die Kleidung, da sehen die quasi ihren Lieben da nochmal wieder. Das ist so ein anderes Bild, was den Menschen dann auch mitgegeben werden kann. (I-P1:191–193) Die Kleidung schützt nicht nur den wehrlosen toten Körper, sondern wirkt in ihrer symbolisch-kommunikativen Funktion auch identitätsstif­ 274 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 24.02.2023, 01:27:36.

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tend. Sie lässt ihn in einer bestimmten sozialen Rolle erscheinen: Ob im Fußballtrikot, Hochzeitskleid, Arbeits- oder Alltagskleidung. Die Klei­ dung dient dazu, dass der tote Körper nicht als „leere Hülle“ (I-PDL1: 177f.), sondern als vertrautes personales Gegenüber wiedererkannt wird. Die Fremdartigkeit des Todes wird so von der sichtbaren Vertrautheit der Kleidung zu umhüllen versucht. Dieses „Bild“ (I-P1: 192) soll nach Aussage der interviewten Hospizmit­ arbeiterin nicht nur für den gegenwärtigen Moment die Erinnerung an das Sterben überlagern, sondern auch für die zukünftige Erinnerung an die Person konserviert werden. Es soll den Eindruck der Kontinuität der Per­ son und damit auch der Beständigkeit der Beziehung zu ihr über den Tod hinaus vermitteln. Diese Funktion erfüllen häufig auch die persönlichen Gegenstände, die das Zimmer dekorieren, ebenso wie Erinnerungsobjekte, die den An- und Zugehörigen als verbindende Elemente zur verstorbenen Person mitgegeben werden. Meist handelt es sich hierbei um mit dem je­ weiligen Namen, Geburts- und Sterbedatum beschriftete und bemalte Stei­ ne. In ihrer Funktion als mobile Gedenkorte sind sie nicht nur sichtbar, sondern auch berührbar (vgl. dazu Benkel et al. 2019, S. 18f.). Die fühlbare Stabilität des Materials lässt dabei die im Gedenken vergegenwärtigte Kon­ tinuität der Beziehung zur verstorbenen Person sinnlich erfahrbar werden (vgl. dazu Klie und Kühn 2020, S. 8). In diesem Sinne können diese Erin­ nerungsobjekte als portable „Präsenzmedien […] [dienen], durch die der Verstorbene ‚auch nochmal lebendig‘ werden kann“ (Stetter 2021, S. 400). 5 Eine zeitsensible Betrachtung In vielen Einrichtungen wird auf Wunsch der An- und Zugehörigen unmittelbar nach dem Versterben eines Hospizgastes von den Hospizmit­ arbeiter*innen ein Abschiedsritual im Zimmer der verstorbenen Person durchgeführt.3 Ausgehend vom empirischen Material lässt sich feststellen,

3 Als Hospizmitarbeiter*innen, die Abschiedsrituale gestalten und leiten, kommen sowohl Seelsorger*innen, als auch Pflegekräfte infrage. In Ausnahmefällen erwei­ sen sich zudem Leitungskräfte sowie Ehrenamtliche als zuständig. Wenngleich das Abschiedsritual in den meisten der von mir beforschten Hospizeinrichtungen als gewissermaßen institutionell verankertes Angebot den An- und Zugehörigen gemacht wird, wird es nicht in jedem Fall angenommen. Darüber hinaus gibt es Situationen, in denen Abschiedsrituale entweder auf zuvor geäußerten Wunsch der verstorbenen Person oder von externen Seelsorger*innen einer Religionsge­ meinschaft gestaltet und durchgeführt werden.

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dass die Form dieses Rituals in den beforschten Hospizeinrichtungen typi­ scherweise der Liturgie einer traditionell christlichen Aussegnung ähnelt: Auf einen Moment der Stille oder ein Eingangslied folgt die Begrüßung mit einer Kurzansprache durch den/die Ritualleiter/in, in der die Würdi­ gung der verstorbenen Person im Vordergrund steht. Anschließend wird den An- und Zugehörigen Raum für persönliche Erinnerungen gegeben. Weitere Ritualelemente sind ein Gedicht, Psalm oder Gebet, die Ausseg­ nung der verstorbenen Person, ein weiteres Lied, die persönliche Verab­ schiedung der Ritualteilnehmer*innen, das Vaterunser sowie ein Segen für die Trauernden. Im Anschluss an das Abschiedsritual werden die An- und Zugehörigen ähnlich dem traditionellen Leichenschmaus nach der Bestat­ tung auf eine Tasse Kaffee im Raum der Stille bzw. Raum der Begegnung eingeladen. Bereits bei der Begrüßung im Ritual wird der tote Körper in der direk­ ten Ansprache durch den/die Ritualleiter/in zum personalen Gegenüber gemacht, indem er als leibhaftig gegenwärtiges Du adressiert wird. Die ver­ storbene Person erscheint dadurch als „Schwellenwesen“ (Stetter 2020, S. 251). Die vermeintlich klaren Grenzen zwischen Gegenstand und adres­ sierbarer Person, lebendig und tot, abwesend und anwesend ebenso wie Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem beginnen zu verschwim­ men (vgl. ebd., S. 251). Verstärkt wird dieser Eindruck in der Aussegnungs­ praxis und der sich anschließenden persönlichen Verabschiedung im Ritu­ al. Hier ist die Interaktion mit der verstorbenen Person für die Hinterblie­ benen nicht nur von einer auditiven und visuellen, sondern auch einer tak­ tilen Kommunikationserfahrung geprägt. Der/Die Ritualleiter/in tritt zur verstorbenen Person ans Bett, spricht ihr Segensworte zu und berührt sie. In der sich im Ritual anschließenden persönlichen Verabschiedung wird den An- und Zugehörigen die Möglichkeit des unmöglichen „Hätte“ oder „Wäre ich doch noch…“ gegeben. Die Vergangenheit wird hier durch die Aktivität nicht nur des/der Ritualleiters/in, sondern auch der An- und Zugehörigen in der Gegenwart inszeniert und das Raum-Zeit-Ge­ füge in der Ritualzeit außer Kraft gesetzt. Das Abschiednehmen findet zwar zeitlich nach dem Tod statt, vollzieht sich aber im Ritual, als ob es vorher sei. Durch die Enaktierung der verstorbenen Person als Schwellen­ wesen (vgl. ebd., S. 251) und dem damit verbundenen Verschwimmen der vermeintlich klaren Grenzen wird die Kontinuität der Beziehung zu ihr in dieser Situation gestiftet bzw. gewahrt. Der Tod soll keinen Beziehungsab­ bruch bedeuten. Vielmehr eröffnet der/die Hospizmitarbeiter/in durch sei­ ne/ihre Handlungen und Bewegungen als Ritualleiter/in einen „performa­ tive[n] Raum“ (Fischer-Lichte 2019, S. 200), in dem die anwesenden Hin­ terbliebenen in die Inszenierung des Abschiednehmens von der verstorbe­ 276 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 24.02.2023, 01:27:36.

Abschiedsrituale im stationären Hospiz

nen Person involviert werden. In diesem Raum können sie das Unausge­ sprochene laut oder leise aussprechen, für das Gesagte oder Getane um Entschuldigung bitten oder sich bedanken. Sie haben die Möglichkeit, noch einmal zur verstorbenen Person ans Bett zu treten, ihr über die Wan­ ge zu streicheln oder einen Kuss zu geben. In der Berührung können sie nicht nur ihre Zuneigung gegenüber der verstorbenen Person ausdrücken, sondern auch die Kälte und die Regungslosigkeit des toten Körpers spü­ ren. Sie können die Realität der Vergänglichkeit sowie der Fremd- und An­ dersartigkeit des Toten sinnlich erfahren und sich zugleich vergewissern, dass der tote Körper trotz dieser Realität „mit dem früheren lebenden Kör­ per“ (Birnbacher 2017, S. 160) identisch ist. Ihm als Schwellenwesen nä­ hern sich die Hinterbliebenen nicht nur physisch, sondern auch durch ihre „Empathie und Zuwendung“ (Hasenfratz 1998, S. 194). Der tote Körper erweist sich dabei als Gegenstand und Person zugleich (vgl. Coenen 2021, S. 253; Macho 2000, S. 99). Diese Ambiguität löst das Ritual nicht auf, sondern erhält sie vielmehr, um den An- und Zugehöri­ gen Gelegenheit zu geben, den Verlust zu realisieren und sich dem toten Körper als ansprechbarem Wesen im Fühlen des Trauerschmerzes versöhn­ lich zuzuwenden. In der rituellen Kommunikation bzw. Interaktion mit dem Leichnam treten die Hinterbliebenen auf diese Weise scheinbar ein letztes Mal in Beziehung mit der Person selbst: „Gibt es noch irgendetwas, was Sie dem Verstorbenen oder der Ver­ storbenen noch mit auf den Weg geben möchten, an Dankbarkeit, an vielleicht auch Unversöhntem?“ Damit sie versöhnt Abschied neh­ men können. Das finde ich ganz wichtig. Und, ja, und dann hat man manchmal ganz spannende, wirklich spannende Sachen. Also wo auf einmal alles rauskommt, was noch da ist. Wenn die das dann sagen können. Ich war mal mit einer Frau alleine, die dann alles sagen konnte, was da wirklich/ ja, wirklich noch an Unerledigtem war. Und die dann/ habe ich mehrmals eigentlich erlebt, die dann auf einmal sagen können: „Ja, jetzt kann ich Abschied nehmen und jetzt kann ich auch mein Leben wieder neu beginnen.“ (I-E1: 80–89) Durch das persönliche Abschiednehmen im Ritual soll eine Versöhnung in der Beziehung zwischen An- und Zugehörigen und der lebendigen Per­ son stattfinden. Die An- und Zugehörigen sollen diese Beziehung für die Zukunft als versöhnte in Erinnerung behalten können. Das Vergangene soll einerseits abgeschlossen und dadurch die Möglichkeit gestiftet werden, offen für die Zukunft und das Leben jenseits der Beziehung zu sein. Andererseits soll die Integration des Verlusts ins Leben gerade dadurch

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gelingen, dass die Beziehung zur verstorbenen Person nicht durch frühere Konflikte belastet oder durch Bilder des grausamen Sterbens getrübt wird. Ein gelungener Abschied erweist sich vor diesem Hintergrund im statio­ nären Hospiz als Akt der Versöhnung der Hinterbliebenen mit der leben­ digen Person, die im Ritual durch den toten Körper symbolisiert wird. Weil diese Relation zwischen totem Körper und lebendiger Person jedoch nicht auf unbestimmte Dauer besteht, ist das Abschiednehmen im Ritual zugleich ein „Akt der Ablösung“ (Stetter 2021, S. 398) vom toten als „le­ bendigen Körper“ (Wagner-Rau 2010, S. 40). Für die An- und Zugehörigen gilt es zukünftig, das Verhältnis zur verstorbenen Person auf andere Weise als über dessen Körper aufrechtzuerhalten. Dies zu realisieren und im ‚Gu­ ten‘, d. h. versöhnt Abschied zu nehmen, erweist sich als Ziel des Ab­ schiedsrituals, das wiederum den An- und Zugehörigen ermöglichen soll, „gut in die Trauer reingehen [zu] können“ (I-S6: 167). Während in der Trauerarbeit für die An- und Zugehörigen mit der Ab­ lösung auf der einen, die Neuverortung der Beziehung zur verstorbenen Person auf der anderen Seite verknüpft ist, steht für die Hospizmitarbei­ ter*innen der Aspekt der Separation im Vordergrund. Für sie bedeutet das rituelle Abschiednehmen den Abschluss der Sterbebegleitung, wenngleich die Finalität sozialer Beziehungen zur verstorbenen Person erst mit der Ab­ holung des Leichnams durch den/die Bestatter/in und der damit verbunde­ nen Herausnahme des/der Toten „aus den sozialen Interaktionszusammen­ hängen“ (Stetter 2020, S. 403) im stationären Hospiz zum Ausdruck ge­ bracht wird: Manchmal ist es/ also wir bieten es immer an, wenn der Bestatter kommt, ob jemand jemanden mit einsargen möchte. Relativ selten der Fall. Die meisten scheuen sich da sehr vor. Was man auch nachvoll­ ziehen kann, weil es auch ein komisches Gefühl ist, wenn man auf jemanden so einen Deckel macht. Weil bei uns liegen sie ja im Bett, wie sie auch vorher im Bett gelegen haben. Also so, dass es sich nicht komisch anfühlt. Aber in dem Moment, wo man was zumacht, ist es ganz klar/ das ist: Der atmet nicht mehr. (I-HL3: 100–106) Aus Sicht der Hospizmitarbeiterin ist der Transformationsprozess des to­ ten Körpers als „der verbleibende Kern der Person“ (Birnbacher 2017, S. 161) zum toten Körper als leere Hülle mit der Abholung des Leichnams durch den Bestatter und dem Schließen des Sargdeckels abgeschlossen. Das Verschließen wird somit als Zeichenhandlung gedeutet: Nun „ist es ganz klar […]: Der atmet nicht mehr“ (I-HL3: 106). Der Atem als Lebens­ hauch lässt den toten Körper als leere Hülle zurück. Eine Beziehung zum toten Körper im Sinne einer Beziehung zur Person ist nach der Einsargung 278 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 24.02.2023, 01:27:36.

Abschiedsrituale im stationären Hospiz

nicht mehr möglich. Die Kerze im Eingangsbereich des Hospizes wird er­ loschen, für die Hospizmitarbeiter*innen ist die „Mission zu Ende“ (IP5:364). 6 Abschiedsrituale und Trauer Durch die inszenierte Verschränkung der Zeitdimensionen im Vollzug er­ möglicht das Ritual eine Verabschiedung der Hinterbliebenen von der ver­ storbenen Person, in der Vergangenes und Gegenwärtiges zu harmonisie­ ren versucht wird. Dieses Abschiednehmen vollzieht sich im Hospiz in Ab­ grenzung zu gesellschaftlichen Verdrängungstendenzen, die sich aus Sicht der Hospizbewegung in den sozialen Konventionen stiller Trauer wider­ spiegeln. Den vielfältigen Facetten der Trauer soll hier möglichst schon zu Beginn des Trauerprozesses Ausdruck verliehen werden: Weinen, Seufzen und Schluchzen spielen dabei eine zentrale Rolle. Die Kanalisierung nach außen wird als „reinigend“ (I-HL2: 154) und die persönliche Aussprache mit der verstorbenen Person im Sinne einer Aussöhnung gewissermaßen als Voraussetzung gedeutet, sich nach dem Abschied dem Leben wieder „guten Gewissens“ (Lammer 2014, S. 76) zuwenden zu können. In fast chronologischer Reihenfolge wird im Ritual in Anlehnung an die Trauer­ aufgabenmodelle das Begreifen des Todes, das Durcharbeiten der Trauer, das Erinnern und Erzählen, die Neuverortung der Beziehung zur verstor­ benen Person und der Wiedereintritt ins alltägliche Leben nachgeahmt und eingeübt. Aktivität und Passivität, Tun und Geschehen-Lassen wech­ seln sich ab und gehen ineinander über. Die Abschiedsrituale im stationären Hospiz erweisen sich dabei als indi­ viduell angepasste Rituale, die im Rückgriff auf Traditionen den Schein der Unveränderlichkeit wahren und gerade darin in der Grenzsituation des Todes stabilisierend wirken. In den Ritualen werden verschiedene Zeitdi­ mensionen durch die Vergegenwärtigung des Vergangenen und die Insze­ nierung des Zukünftigen ineinander verwoben und das Zeiterleben der Teilnehmer*innen auf den gegenwärtigen Moment fokussiert. In der In­ szenierung des Abschiednehmens üben die Hinterbliebenen im Ritual einen Umgang mit dem Tod des/der Anderen und der eigenen Trauer ein. Hier erleben sie sich trotz der Passivität, die aus der Konfrontation mit dem Tod resultiert, in der unübersichtlichen Situation als handlungsfähig. Die trauernden Hinterbliebenen vergewissern sich in der Situation existen­ zieller Sorge ihrer selbst und ihrer „soziale[n] bzw. kommunikative[n] ‚An­ schlussfähigkeit‘“ (Häußler 2018, S. 245), die die verstorbene Person als re­ lationales Gegenüber einschließt. Von ihr als lebendiger Person nehmen 279 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 24.02.2023, 01:27:36.

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sie am Sterbebett Abschied. Die im rituellen Vollzug inszenierte Ver­ schränkung verschiedener Zeitdimensionen bildet dafür die Vorausset­ zung. Literaturverzeichnis AWMF, DKG und DKH. 2020. Erweiterte S3–Leitlinie Palliativmedizin für Patien­ ten mit einer nicht-heilbaren Krebserkrankung. Langversion 2.2 https://www.dg palliativmedizin.de/images/stories/pdf/LL_Palliativmedizin_Langversion_2.2. pdf (Zugegriffen zuletzt am: 14.02.2022). Benkel, Thorsten, Thomas Klie und Matthias Meitzler. 2019. Artefakt und Erinne­ rung. Zur Transformation von Materialität im Trauerkontext. In Der Glanz des Lebens. Aschediamant und Erinnerungskörper, Hrsg. Thorsten Benkel, Thomas Klie und Matthias Meitzler, 8–22. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Assmann, Jan. 2018. Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien. Mün­ chen: C.H. Beck. Berger, Peter L. und Thomas Luckmann. 2007. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt am Main: Fischer Verlag. Birnbacher, Dieter. 2017. Tod. Berlin/Boston: De Gruyter. Buchner, Moritz. 2018. Warum weinen? Eine Geschichte des Trauerns im liberalen Italien (1850–1915). Berlin/Boston: De Gruyter. https://doi.org/10.1515/9783110 598513 Coenen, Ekkehard. 2020. Zeitregime des Bestattens. Thanato-, kultur- und arbeits­ soziologische Beobachtungen. Weinheim/Basel: Beltz Juventa. Elias, Norbert. 2002. Über die Einsamkeit der Sterbenden. Humana conditio. Bd. 6. In Gesammelte Schriften in 19 Bänden, Hrsg. Reinhard Blomert, Heike Ham­ mer, Johan Heilbron, Annette Treibel und Nico Wilterdink, 9–90. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. Fischer, Norbert. 2001. Geschichte des Todes in der Neuzeit. Erfurt: Sutton Verlag. Fischer-Lichte, Erika. 2019. Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main: Suhr­ kamp. Gennep, Arnold van. 2005. Übergangsriten (Les rites de passage). Frankfurt/Main: Campus Verlag. Häußler, Michael. 2018. TrauerFallGeschichten. Anmerkungen zu Trauer und Be­ stattung. Darmstadt: wbg. Hasenfratz, Hans-Peter. 1998. Leben mit den Toten. Eine Kultur- und Religionsge­ schichte der anderen Art. Freiburg/Basel/Wien: Herder. Henkel, Anna. Zeit. Idealtypen und Perspektiven gegenwärtigen Zukunftsbezugs. Promotionsschwerpunkt Dimensionen der Sorge. Jahrestagung 2021, 1–4. Un­ veröffentlichter Tagungsbericht. Jüngel, Eberhard. 1985 [1971]. Tod. 3. Aufl. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

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Der Mensch zwischen Vergangenheit und Zukunft. Zeitdimensionen in der Seelsorge Carina Kammler

1 Menschliche Zeitlichkeit in der Seelsorge Christliche Seelsorge ist eine Form der Lebensbegleitung von Menschen in ihrer jeweils einmaligen, konkreten Situation. Damit steht sie immer im Kontext anthropologischer Grundannahmen darüber, was den Menschen ausmacht, was ihm möglich und wozu er bestimmt ist. Solche Grundan­ nahmen bringen alle Beteiligten in die zwischenmenschliche Begegnung mit ein, sodass die Seelsorger*innen es immer auch mit gesellschaftlich vermittelten Menschenbildern und Erzählungen zu tun bekommen, wäh­ rend sie ihrerseits selbst von solchen geprägt werden. Diese Narrative wer­ den besonders in Krisen- und Schwellensituationen virulent, auf die das Individuum und sein soziales System mit dem Wunsch nach Selbstverge­ wisserung und Neuorientierung reagieren. Gerade dann wird der Blick häufig in die Vergangenheit und in die Zukunft gelenkt, die beide das Er­ leben der Gegenwart beeinflussen. Hier wird erfahrbar, dass der Mensch als endliches Wesen immer zeitlich bestimmt ist. Gerade dort, wo seine Zeit ins Wanken gerät, hat Seelsorge ihren Platz. Weil „Krisen menschli­ cher Systeme [...] ganz wesentlich auch Krisen der Zeitkonstrukte der Be­ teiligten“ sind (Morgenthaler 2002, S. 163), ist es wichtig, den Umgang mit den verschiedenen Dimensionen der Zeit in der Seelsorge zu reflektieren. Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie sich gesellschaftliche Zeitver­ ständnisse auf die Konstruktionen des ‚Selbst‘ in der Seelsorgesituation auswirken können. Als christliche Praxis muss Seelsorge die Zeitlichkeit des Menschen besonders ernst nehmen. Sie handelt aus dem Glauben an den Gott heraus, der in seiner Menschwerdung selbst in die von ihm geschaffene Zeit gekommen ist und sich damit der menschlichen Verfallenheit an die Zeit ausgesetzt hat.1 Im Glauben an die Schöpfung und die eschatologische Vollendung der Geschichte hat Seelsorge Teil an einem linearen Zeitverständnis. Vor diesem Hintergrund gewinnen die

1 „‚Das Wort ward Fleisch‘ heißt auch: ‚Das Wort ward Zeit‘.“ (Barth 1938, S. 55).

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Unwiederholbarkeit des einmal Vergangenen und die Ungewissheit des Zukünftigen eine besondere Radikalität. Die verschiedenen Zeitebenen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind dabei die Bühnen, auf denen der Umgang mit dem existenziellen Spannungsfeld von menschli­ cher Handlungsfähigkeit und Kontingenzerfahrung konkret verhandelt wird. Der kulturelle und begriffliche Rahmen hierfür wird der Soziologin Eva Illouz zufolge heute von einer im weitesten Sinne „therapeutische[n] Er­ zählung“ (Illouz 2009, S. 288) des Individuums gesetzt, deren spezifische Zeitbezüge im Folgenden herausgearbeitet werden. Illouz beschreibt da­ mit keine psychotherapeutischen Gesprächssituationen, sondern psycholo­ gisch inspirierte Denkweisen, die in Familie, Wirtschaft und Medien un­ terschwellig die Art prägen, wie Menschsein verstanden wird. Für die Re­ flexion der Zeitlichkeit des Menschen in einer christlichen Sorgepraxis wird daneben der Praktische Theologe Henning Luther herangezogen, der mit seiner Beschreibung des Menschen als „Fragment“ aus Vergangenheit und Zukunft (Luther 1992b, S. 167) die menschlichen Möglichkeiten wie auch deren bleibende Begrenztheit einfängt. Hierbei soll Luthers Sicht nicht als die ‚richtige‘ Alternative zur ‚therapeutischen Erzählung‘ darge­ stellt werden. Falls die kulturelle Dominanz letzterer tatsächlich so umfas­ send ist wie von Illouz angenommen, dürfte es auch kaum möglich sein, sich vollständig von ihr zu lösen. Es soll vielmehr darum gehen, bestehen­ de Muster zu benennen und theologisch in einen weiteren Horizont zu stellen. Daraus ergeben sich, über Illouz und Luther hinausgehend, neue Perspektiven und Ansätze für die Theorie und Praxis der Seelsorge. 2 Doppelstruktur und Fragmentarität: Zwei Perspektiven 2.1 Die Doppelstruktur des Selbst im ‚therapeutischen Diskurs‘ nach Eva Illouz Aus der Perspektive der Kultursoziologie analysiert Illouz, wie sich seit Be­ ginn des 20. Jahrhunderts der „therapeutische Diskurs“ (Illouz 2009, S. 16) zur dominierenden kulturellen Sprach- und Denkform im privaten wie im öffentlichen Leben entwickelt habe. Die breite Rezeption psychologischer, vor allem psychoanalytischer Einsichten habe die Weise verändert, wie heute Personsein gedacht und gesellschaftlich kommuniziert wird. Illouz identifiziert eine frühe und anhaltende Synthese von psychoanalytischen Vorstellungen mit der (vornehmlich amerikanischen) Popkultur, im Rah­ men derer die Identitätsfragen des modernen Selbst verhandelt und aufge­ wertet werden (vgl. ebd., S. 51). Die Bedeutungsaufladung von Alltagsphä­ 284 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 24.02.2023, 01:27:36.

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nomenen rechtfertige eine unbegrenzte Beschäftigung mit den eigenen Gefühlen, ohne den modernen Rationalitätsanspruch aufzugeben (vgl. ebd., S. 85–86, 93). Durch die Verschmelzung des amerikanischen „Ethos der Selbstverbesserung“ (ebd., S. 261) mit psychologischem Gedankengut (gegen Freuds Pessimismus bezüglich einer Selbstheilung durch Willens­ kraft, vgl. ebd., S. 260) bildete sich laut Illouz eine neue Erzählform dafür heraus, wie Leben heute geschildert wird. Diese ‚therapeutische Erzählung‘ hat dabei wenig mit der klinischen Praxis zu tun, sondern bildet vielmehr eine kulturelle Matrix, welche die Kommunikation und Selbstdeutung im familiären, gesellschaftlichen und medialen Raum durchdringt. Illouz ana­ lysiert hier etwa den „neue[n] emotionale[n] Stil“ in Unternehmen (ebd., S. 128–133) und das „Ethos der Kommunikation“ (ebd., S. 231) in Partner­ schaften ebenso wie beispielsweise die von Oprah Winfrey angestoßene neue Talkshow-Kultur (vgl. ebd., S. 301–306). Wie hier übergreifend die Zeitdimensionen des Selbst konstruiert werden, ist für den hiesigen Kon­ text besonders interessant. Als Merkmal der ‚therapeutischen Erzählung‘ des Selbst macht Illouz ihre Retrospektivität aus: Der biografische Blick zurück erklärt, wie der einzelne Mensch zu dem geworden ist, der er heute ist. Die „therapeuti­ sche Kultur“ (ebd., S. 291) stellt dabei frühere Leiderfahrungen ins Zen­ trum und erzeugt eine „narrative Struktur [...], in der das Selbst durch sein Leid und seine Opferrolle definiert ist“ (ebd.). Der Blick auf Vergangenes, der eigentlich vom Leid befreien soll, bringt es erst neu zur Geltung (vgl. ebd., S. 297). Im Rückbezug auf die Vergangenheit entsteht nach Illouz zu­ gleich eine vermeintliche lebensgeschichtliche Kohärenz, die keinen Platz für Brüche und Sinnlosigkeit lässt, indem „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer nahtlosen Erzählung“ verbunden werden (ebd., S. 327). Leid hat sich hier in ein lösbares Problem verwandelt. Seine Gründe wer­ den in das Individuum verlagert, sodass es in eine Position der Selbstver­ antwortlichkeit für sein künftiges Ergehen rückt: Die quälende Frage nach der Verteilung des Leids [...], diese Theodi­ zee, die die Weltreligionen und die modernen Gesellschaftsutopien umgetrieben hat, ist von einem Diskurs, der das Leid als die Folge schlecht verwalteter Gefühle oder einer dysfunktionalen Seele oder so­ gar als notwenige Phase der emotionalen Entwicklung betrachtet, auf eine noch nie dagewesene Banalität reduziert worden. [...] Im thera­ peutischen Ethos gibt es weder Unordnung noch sinnloses Leid. (Ebd., S. 405–406) Die ‚therapeutische Erzählung‘ verbindet zwei moderne, sich eigentlich widersprechende Sichtweisen auf das Selbst: „das Selbst als (potenzielles 285 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 24.02.2023, 01:27:36.

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oder tatsächliches) Opfer sozialer Umstände und das Selbst als Akteur und alleiniger Autor des eigenen Lebens“ (ebd., S. 308–309). So ist die Person zwar einerseits verantwortlich für ihr aktuelles und künftiges Befinden, trägt andererseits aber keinerlei moralische Verantwortung für ihre Situati­ on, die durch Kindheit und Familie verursacht wurde (vgl. ebd., S. 309). Dadurch entsteht eine temporale Doppelstruktur, in der dem Menschen auf der einen Seite im Blick auf seine Vergangenheit keinerlei Verantwor­ tung zukommt und er primär als passiv angesehen wird. Er erscheint hier geradezu als Spielball der Kontingenzen des Lebens. Im Blick auf seine Zu­ kunft allerdings herrscht auf der anderen Seite die Idee eines offenen Hori­ zontes, in dem für alle Menschen durch ihre Entschlusskraft und ihre per­ sönlichen Fähigkeiten jede Veränderung möglich erscheint, wenn sie sie denn wählen (vgl. ebd., S. 311). Die Kehrseite dieser Vorstellung ist der Anspruch, auch selbst den Unterschied machen zu müssen. Wenn es für je­ de Lebenssituation eine Lösung geben kann, so liegt es letztlich in der Ver­ antwortung jeder und jedes Einzelnen, diese auch zu ergreifen, und wird zu einer Frage des Willens (vgl. ebd., S. 327). Illouz geht es mit ihrer Schilderung darum, wie sich kulturelle Muster verändern und neue Codes im Verständnis der Welt und des Selbst eta­ blieren. Kritisch sei hier angemerkt, dass die Denkweisen, die von Illouz unter den Begriff der ‚therapeutischen Erzählung‘ gebracht werden, an der Methodik moderner Psychotherapien in vielfacher Hinsicht vorbeige­ hen. Dennoch können gesellschaftlich im weitesten Sinne ‚therapeutische‘ Erzählungen vom Selbst aktiv sein, die sich außerklinisch verselbständigt haben. Gerade für den Seelsorgekontext ist zu erwarten, dass diese dort be­ sonders wirkmächtig sind. Seelsorgegespräche können solche unterschwel­ ligen Narrative benennen und relativieren, indem sie andere Deutungen anbieten. Daher möchte ich die Einsichten Illouz' mit den theologischen Ausführungen Luthers zu Grenzen und Möglichkeiten individueller Ent­ wicklung ins Gespräch bringen. 2.2 Der Mensch als Fragment aus Vergangenheit und Zukunft im praktischtheologischen Denken Henning Luthers Der praktische Theologe Henning Luther hat sich zu Beginn der frühen 1990er Jahre mit Identitätskonzepten in der Pädagogik und ihren Implika­ tionen für die Konstruktion des Personseins beschäftigt (vgl. Luther 1991, 1992b). Luthers Ausführungen zur Handlungsfähigkeit des Menschen in seiner zeitlichen Verfasstheit stehen im Kontext einer theologischen Deu­ tung der Grundbedingungen des menschlichen Lebens. In Abgrenzung zu 286 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 24.02.2023, 01:27:36.

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modernen Bildungsidealen weist Luther die Idee zurück, dass der Mensch durch eigenes Handeln und eine vorbildliche Entwicklung jemals einen Zustand von Ganzheit erreichen könnte. Stattdessen zeichnet er den Men­ schen als Fragment aus Zukunft und Vergangenheit, um seine beständige Unabgeschlossenheit zu verdeutlichen. Allein schon die menschliche Un­ wissenheit über den Zeitpunkt des eigenen Todes mache deutlich, dass der Mensch als „Fragment aus Vergangenheit“ (Luther 1991, S. 266), welches gleich einer Ruine immer die Spuren seiner Geschichte mit ihren Brüchen in sich trage, niemals zu Ganzheit und Vollkommenheit fähig sei. Als „Fragment aus Zukunft“ (ebd.) sei der Mensch wie ein unvollendetes Kunstwerk gleichzeitig von einer Sehnsucht und der Bewegung nach vor­ ne geprägt. Vergangenheit und Zukunft werden bei Luther nicht als voneinander getrennt gesehen. Ihre Spuren sind in der Gegenwart gleichzeitig präsent, im Schmerz über unvollendet gebliebene Pläne und Wünsche ebenso wie in der Sehnsucht, die in der Hoffnung auf ausstehende Vollendung und Erlösung über sich selbst hinausweist. Da der Mensch also immer zugleich Fragment aus Vergangenheit und Zukunft ist, kann seine Handlungsfähig­ keit wie auch seine Ohnmacht nicht einer bestimmten Zeitdimension zu­ geordnet werden. Luther würdigt die menschliche Fähigkeit zur Gestal­ tung des Lebens, denn „Leben aus Glauben [bedeute] nicht die Negation von Selbstverwirklichung“ (Luther 1992b, S. 171). Gleichzeitig weist er aber normative Ansprüche zurück, die in einer einseitigen Betonung der Handlungsfähigkeit mitschwingen können (vgl. ebd., S. 160, 162). Die Ein­ sicht in die menschlichen Fähigkeiten und ihre Grenzen ist für Luther ein Schlüssel zu einer christlichen Anthropologie: Das eigentümlich Christliche scheint mir darin zu liegen, davor zu be­ wahren, die prinzipielle Fragmentarität von Ich-Identitäten zu leugnen oder zu verdrängen. Glaube hieße dann, als Fragment zu leben und le­ ben zu können. (Ebd., S. 172) Diese Sichtweise ist für Luther theologisch begründet (vgl. ebd., S. 172– 176). Im Leugnen der eigenen Unvollständigkeit drücke sich das Wesen der Sünde aus, das nicht akzeptieren kann, im Gegensatz zu Gott nicht selbstständig ‚ganz‘ zu sein. Im Horizont der Rechtfertigung kann die eige­ ne Fragmentarität allerdings angenommen werden. Exemplarisch wird an Jesus Christus die Bruchstückhaftigkeit des Lebens deutlich, die im österli­ chen Licht der Auferstehung, das auf den Karfreitag zurückfällt, verwan­ delt wird. So leuchtet auch in der bleibenden Unabgeschlossenheit des menschlichen Lebens schon die eschatologische Perspektive auf: die Hoffnung auf von Gott ermöglichte Neuwerdung. 287 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 24.02.2023, 01:27:36.

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3 Zeitlichkeit zwischen Kontinuität, Abbruch und Verheißung In der Darstellung der von Illouz beschriebenen ‚therapeutischen Erzäh­ lung‘ vom Selbst wurden zwei Aspekte als charakteristische Zeitbezüge deutlich: Einerseits ist die Kohärenz der Lebensgeschichte für die biografische Sinnstiftung zentral. Andererseits erscheint in einer temporalen Dop­ pelstruktur der Verantwortung die Vergangenheit als die Zeit völliger Fremd­ bestimmung, die Zukunft hingegen steht als Raum der Möglichkeiten ganz unter dem Imperativ der Eigenverantwortung. Im Folgenden werde ich diese beiden Aspekte in der Zusammenschau mit Luthers Konzept des menschlichen Fragments aus Vergangenheit und Zukunft untersuchen, um daraus in Auseinandersetzung mit anderen Aufsätzen Luthers neue Einsichten für den Seelsorgekontext zu gewinnen. Dabei soll die Themati­ sierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Seelsorge als den drei Bühnen der Zeit besondere Beachtung finden. 3.1 Verantwortung in der Zeit Das laut Illouz für die ‚therapeutische Erzählung‘ charakteristische „Mo­ dell einer gespaltenen Verantwortung“ (Illouz 2009, S. 311) stellt den Men­ schen in eine zeitlich dichotome Struktur. Nach Luther bewegt sich der Mensch hingegen durch alle Zeiten als Fragment aus Vergangenheit und Zukunft: Unvollkommen war er schon in seiner Vergangenheit und bruchstückhaft-unabgeschlossen wird er auch in seiner Zukunft bleiben. Das menschliche Leben trägt also immer beide Aspekte in sich. Eine sol­ che Sichtweise ermöglicht es, im Seelsorgekontext persönliche Verantwor­ tung für Vergangenes wahrzunehmen, und zwar im Blick darauf, worin der Mensch schon damals mehr als ein Opfer seiner Umstände war. Gera­ de dass die Verantwortung für Vergangenes nicht verabsolutiert wird, kann dabei helfen, die Augen nicht vor ihr zu verschließen. Gleichzeitig können so im Sinne einer realistischen Anthropologie auch für die Zu­ kunft die bleibenden Grenzen der menschlichen Handlungsfähigkeit mit­ bedacht werden. Damit wird der Einzelnen nicht die alleinige Verantwor­ tung für ihr zukünftiges Ergehen aufgebürdet und strukturelle Dimensio­ nen jenseits individueller Verfügungsmacht können in den Blick kom­ men. Allerdings sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Bezug auf Vergangenheit und Zukunft ein kategorialer Unterschied bestehen bleibt: Die harten Tatsachen der Vergangenheit lassen sich aus der menschlichen Gegenwart heraus nicht mehr ändern. Die Zukunft dagegen und ihre indi­ 288 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 24.02.2023, 01:27:36.

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viduelle Gestaltung sind offen. In diesem grundlegenden Faktum mensch­ licher Existenz hat die ‚therapeutische Erzählung‘ einen berechtigten Aus­ gangspunkt für ihre temporale Doppelstruktur, der bei aller Problematisie­ rung durch Illouz und Luther nicht geleugnet werden sollte. Stefan Gärt­ ner formuliert für die Seelsorge diesbezüglich treffend: Bei „der Neukon­ struktion von Vergangenheit und Zukunft […] werden die realen Deter­ minanten und Koordinaten eines Lebensweges allerdings nicht überspielt. Die Tatsachen der Vergangenheit bleiben nämlich letztlich unveränderbar, und die Zukunft ist immer ungewiss.“ (Gärtner 2009, S. 153). 3.2 Kohärenz versus Fragmentarität Laut Illouz wird der Mensch in der ‚therapeutischen Erzählung‘ mit seiner Leidens- und Opfergeschichte identifiziert. Dies geschieht im Dienste der biografischen Sinnstiftung. Damit wird dem Defizitären eine neue Macht über die Gegenwart und Zukunft verliehen (vgl. Illouz 2009, S. 294, 297) und die Leiderfahrung dabei schnell auf die „schlecht gehandhabte Seele“ des bzw. der Einzelnen zurückgeführt (ebd., S. 405–406). An dieser Stelle kann im Sinne Henning Luthers der Glaube an die Rechtfertigung eine wohltuende Differenz einschreiben, um die Person und ihr Schicksal nicht miteinander gleichzusetzen. Die Gleichzeitigkeit von Angenommen-Sein und Unvollkommen-Bleiben ermöglicht es – in Aufnahme der Gedanken des simul iustus et peccator und des extra nos –, den Wert der eigenen Person in „heilsame[r] Selbstentfremdung“ (Bieler 2014, S. 21) unabhängig von Erlebtem und den eigenen Taten zu begreifen (vgl. Luther 1992b, S. 172– 173). Seelsorge kann daran erinnern, „dass eine sinnerschließende Verbin­ dung der drei Zeitmodi Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit Blick auf die Lebensgeschichte des Pastoranden nicht von ihm selbst, sondern letztlich nur von Gott garantiert“ (Gärtner 2009, S. 144) werden kann. Lu­ ther sieht eine genuine Aufgabe der Seelsorge darin, auf die Konstruktion vermeintlicher Kohärenz zu verzichten und Raum für das Aussprechen von erlebter Sinnlosigkeit (auch in historischer Dimension) und für das Aufbegehren dagegen zu schaffen (vgl. Luther 1998, S. 164–165, 170). Ehr­ lichkeit und Widerstand gegenüber als sinnlos erlebten Abbrüchen schaf­ fen erst den Rahmen, in dem eine Hoffnung auf noch ausstehende Verän­ derung formuliert und erlebt werden kann.2 Dadurch wird auch eine Ent­

2 An anderer Stelle schreibt Luther (1992c, S. 27) sogar: „In der Religion ist also die Erfahrung von Widersprüchlichkeit, Brüchigkeit der Welt, wie sie ist, und das

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kopplung von Person und Schicksal möglich, die das Ergehen vom Han­ deln des Einzelnen löst. Wer die Trostlosigkeit der Welt verdrängt und ihre sinnvolle Ordnung behauptet, sitzt nach Luther dagegen einer schäd­ lichen Täuschung auf, die zu einer „Individualisierung des Leidens“ (ebd., S. 165) führt. Wie bereits ausgeführt, beobachtet Illouz eine ganz ähnliche Problematik, wenn aufgrund einer kulturellen Inakzeptanz gegenüber sinnlosem Leid dieses zu einem Selbststeuerungsproblem des bzw. der Ein­ zelnen umgedeutet wird (vgl. Illouz 2009, S. 405–406; vgl. mit einem ähn­ lichen Anliegen Karle 2009). Einschränkend sollte hier aber aus seelsorger­ licher Sicht die Möglichkeit begründeter Sinn- und Kohärenzerfahrungen nicht geleugnet werden. Die Gefahren von Sinnkonstruktionen zu ken­ nen, darf ihre individuelle Bedeutung und sachliche Berechtigung nicht ausschließen. Es ist daher eine bleibende Aufgabe der Seelsorge, Menschen auch in Suchbewegungen nach Kohärenz zu unterstützen (vgl. Bieler 2014, S. 24). 3.3 Die Bühnen der Zeit Die obigen Ausführungen zeigen, wie auf den Bühnen der verschiedenen Zeitdimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zentrale Fragen nach dem Menschen und seinen Möglichkeiten verhandelt werden. Im Blick auf die Vergangenheit laufen die von Illouz kritisierte ‚therapeu­ tische‘ und die von Luther vorgeschlagene theologische Konzeption an einer entscheidenden Stelle überraschenderweise zusammen. Die von Illouz beschriebene Retrospektive auf die Vergangenheit als Leidensge­ schichte ähnelt Luthers Konzentration auf den Schmerz als Zeichen der Anwesenheit des Vergangenen in der Gegenwart. Hier wird deutlich, dass Luther selbst das Potenzial seines eigenen Ansatzes nicht voll ausschöpft. Gerade in der Freiheit vom Kohärenzzwang auf allen Zeitebenen sollte auch die Vergangenheit nicht nur auf das Scheitern und ihre abgebroche­ nen Pläne und Beziehungen festgelegt werden. Wenn der Mensch schon immer ein Fragment aus Vergangenheit und Zukunft war, so können auch schon in der Vergangenheit die Skizzen der künftigen Vollendung ange­ legt gewesen sein. In diesem Sinne kann die biografische Vergangenheit le­ bendig gemacht werden als ein Ort des Gelingens und der erfüllten Hoff-

Ernstnehmen eines Versprechens zugleich. Religion transportiert immer auch den Einspruch zur Welt, der aus dem Widerspruch von ‚Deutung‘ und ‚Erfahrung‘ lebt. Dieser Einspruch ist Kritik und Hoffnung.“

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nungen, der erlebten Geborgenheit und mancher Wendung zum Guten.3 Dies kann als eine Art des Reframing verstanden werden, wie es in der sys­ temischen Seelsorge angewendet wird (vgl. Morgenthaler 2014, S. 145). Unabhängig von methodischen Fragen, hat Seelsorge gute Gründe auf ihrer Seite, hier mutig zu sein und auch den mitschwingenden Schmerz über die Vergänglichkeit des Guten und die drohende Annullierung frühe­ ren Glücks durch die Zukunft (vgl. Wagner-Rau 2014, S. 134) zu riskieren. Im Glauben an die eschatologische Vollendung und Erlösung des abgebro­ chenen und bedrohten Schönen kann sie nicht nur hoffnungsvoll in die Zukunft, sondern ebenso in die Vergangenheit blicken. Im Blick auf die Gegenwart beschreibt Illouz die ursprüngliche Psycho­ analyse, vor ihrer Fusion mit Erfolgsnarrativen, als christlich inspirierte Geschichte der Erlösung aus einem negativ gezeichneten Jetztzustand (vgl. Illouz 2009, S. 76–77). Auch bei Henning Luther erscheint die Gegenwart implizit vor allem als eine Zeit des Erlebens von Trostlosigkeit. Dies scheint mir allerdings der Widersprüchlichkeit des Gleichzeitigen nicht ge­ recht zu werden (vgl. auch Mulia 2014, S. 106). Die Lebenserfahrung der Gegenwart umfasst eben auch das Gelingende, Freudvolle und Gute. Im Unterschied zu Vergangenheit und Zukunft ist sie gerade darin der Ort, an dem Menschen Gottes Nähe im Hier und Jetzt erfahren können. Seelsorge sollte sich daher nicht scheuen, hierfür Methoden traditioneller christli­ cher Gebetspraxis oder moderner Formen der Achtsamkeit anzubieten – ohne allerdings den Eindruck der Machbarkeit solcher Erfahrungen zu er­ wecken, da Gottes Gegenwart immer unverfügbar bleibt. Mit der Zukunft als dritter Zeitdimension verbindet sich für Luther der Begriff der Sehnsucht. Dieser bleibt allerdings recht vage. Ihren Ursprung nimmt die Sehnsucht in einer Mangelerfahrung in der Gegenwart (vgl. Wagner-Rau 2014, S. 132, 135). Durch ihre eschatologische Konnotation kann allerdings schnell aus dem Blick geraten, dass der gegenwärtige Mensch auch ganz konkrete Wünsche und Sehnsüchte für seine Zukunft hat. Für den Seelsorgekontext scheint es mir entscheidend, dass diese nahe Zukunft auch explizit zur Sprache kommt, da sie ja oft gerade der Anlass für das Aufsuchen eines Seelsorgegesprächs ist. Hier trifft die ‚therapeuti­ sche Erzählung‘ mit ihrer Betonung menschlicher Handlungsfähigkeit einen wichtigen Punkt. Bei aller berechtigten Kritik an illusorischen Machbarkeitsphantasien sollte daher die konkrete Zukunft in der Seelsor­

3 Zumindest eine „Auseinandersetzung zwischen Glauben und Erfahrung“ in der Arbeit mit „biographischem Material“ ist dabei durchaus im Sinne Luthers (1992d, S. 43).

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ge nicht zu kurz kommen. Ingo Neumann (2006) stellt hierzu in seiner Analyse von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft als den Arbeitsrich­ tungen der Seelsorge fest, dass die Zukunft die Seelsorgetheorie und -praxis theologisch am stärksten herausfordert: Die individuelle Ausrichtung habe es der Seelsorge trotz ihrer Nähe zur politischen Theologie der 1960er Jah­ re schwer gemacht, an deren große Zukunftsvisionen anzuschließen (vgl. ebd., S. 30–31). Erst ab den 1990er Jahren sei es durch den Einfluss lö­ sungsorientierter Beratungs- und Therapieansätze zu einer Hinwendung zur näheren Zukunft mit einem pragmatischeren Ansatz gekommen (vgl. ebd., S. 33). Der theologische Begriff der Hoffnung lebte dabei in einer neuen Bedeutungsschattierung wieder auf. Auch in der von Gärtner (2009) angeregten „eschatologisch-pragmatischen Zeitauffassung“ (ebd., S. 138) der Seelsorge sind die Begriffe der Hoffnung und des Pragmatismus zen­ tral. Dabei geht es nicht um eine „Zukunftsorientierung jenseits der Reali­ tät, sondern durch sie hindurch“ (ebd., S. 143). Auf eine solche Weise kann die nahe Zukunft in den Horizont der weiten Zukunft Gottes mit der Welt gestellt werden. Dies scheint mir letztlich auch im Sinne Henning Luthers zu sein, der von der „Hoffnungs- und Möglichkeitsperspektive der Sorge“ (Luther 1992a, S. 228) spricht: „Sie zielt darauf, Menschen aus der Fixierung auf je bestimmte Zustände zu befreien und ihnen Möglichkeiten der Veränderung freizulegen“ (ebd.). Eine solche Eröffnung neuer Per­ spektiven ist nicht ohne eine Bewegung auf die nahe Zukunft hin denk­ bar. 4 Hoffen und Handeln Menschliches Handeln vollzieht sich wesentlich im Medium der Zeit. Da­ mit wird die Erfahrung des Vergehens der Zeit aufgeladen mit einer Grunddialektik endlicher Existenz, einerseits im Erleben von Handlungs­ fähigkeit und Verantwortlichkeit, andererseits in der Erfahrung von Kon­ tingenz als der „Zufälligkeit und Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz“ (Morgenthaler 2014, S. 116). Die Möglichkeiten und Grenzen menschli­ chen Handelns erhalten ihre Dringlichkeit gerade vor dem Hintergrund einer unerbittlich ablaufenden Zeit zwischen unveränderlicher Vergangen­ heit und ungewisser Zukunft. Die Diskussion der Beobachtungen Illouz' und der Gedanken Luthers hat gezeigt, wie schwer es ist, in einer zeitli­ chen Perspektive eine Balance zwischen beiden Aspekten des menschli­ chen Lebens zu halten. In der ‚therapeutischen Erzählung‘ wird die Ver­ gangenheit ganz in der Erwartung von Kontingenzerfahrungen betrachtet und die Zukunft dagegen rein unter den Chancen von selbstwirksamem 292 Generiert durch Staatsbibliothek zu Berlin, am 24.02.2023, 01:27:36.

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Handeln vorgestellt. Auch Luther verbindet in seiner Beschreibung des Menschen als Fragment aus Vergangenheit und Zukunft mit diesen Zeit­ ebenen eine Aussage über den menschlichen Handlungsspielraum und sei­ ne Grenzen. Bei ihm gehören jedoch beide Aspekte genuin zusammen. So ist der Mensch dazu fähig, aus sich heraus Entwicklungsschritte zu vollzie­ hen, allerdings werden diese niemals zu einem Abschluss in Ganzheit füh­ ren. Das kann von dem Druck befreien, lebensgeschichtliche Kohärenz durch die Zeiten hindurch zu konstruieren – in der Absicht, Kontingenz­ erfahrungen und den Grenzen eigener Handlungsmacht einen übergeord­ neten Sinn entgegenstellen zu können. So müssen keine erklärenden Zu­ sammenhänge und Leidursachen konstruiert werden, wo diese letztlich im Dunkeln bleiben werden. Die Sinnlosigkeit von Leiderfahrungen muss und darf nicht beschönigt werden. Zugleich habe ich über Luther hinaus­ gehend dargelegt, wie unter diesem Vorbehalt aber auch der Blick auf eige­ ne Handlungsmöglichkeiten und Ressourcen gelenkt werden kann, und dies auf allen drei Zeitebenen von Vergangenheit, Gegenwart und Zu­ kunft. Seelsorge kann die christliche Hoffnung zur Geltung bringen, dass all diese Zeiten noch nicht ‚fertig‘ sind. Sie lädt zum Vertrauen auf den Gott ein, der den Menschen zuspricht, dass er ihre Zeit, sowohl die indivi­ duell-biografische als auch die weltzeitliche, vollenden und erlösen wird. Die zweifache Spannung menschlicher Existenz zwischen Handlungsfähig­ keit und Ohnmacht sowie zwischen Vergangenheit und Zukunft kann da­ mit zugleich aus- und offengehalten werden. In der Hoffnung auf ausste­ hende Vollendung des Gelungenen, das in menschlicher Zeit Stückwerk bleibt, und in der Sehnsucht nach Erlösung des Zerbrochenen, das nie­ mals völlig verloren ist, wird weder das eine noch das andere zur Totalbe­ stimmung. Beides ist in das größere Licht dessen hineingestellt, was die christliche Hoffnung erwartet. Darin sind sowohl die menschliche Hand­ lungsfreude als auch die menschliche Sehnsucht aufgehoben, die beide ihren Ort und ihre Zeit in der Seelsorge haben. Literaturverzeichnis Barth, Karl. 1938. Die Kirchliche Dogmatik (Vol. I/2). Zürich: Zollikon. Bieler, Andrea. 2014. Leben als Fragment? Überlegungen zu einer ästhethischen Leitkategorie in der Praktischen Theologie Henning Luthers. In Henning Lu­ ther. Impulse für eine Praktische Theologie der Spätmoderne, Hrsg. Kristian Fechtner und Christian Mulia, 13–25. Stuttgart: Kohlhammer. Gärtner, Stefan. 2009. Zeit, Macht und Sprache. Pastoraltheologische Studien zu Grunddimensionen der Seelsorge. Freiburg i.Br., Basel, Wien: Herder.

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Carina Kammler Illouz, Eva. 2009. Die Errettung der modernen Seele. Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Karle, Isolde. 2009. Sinnlosigkeit aushalten. Ein Plädoyer gegen die Spiritualisie­ rung von Krankheit. Wege zum Menschen 61(1):19–34. DOI: https://doi.org/10. 13109/weme.2009.61.1.19 Luther, Henning. 1991. Leben als Fragment. Der Mythos von der Ganzheit. Wege zum Menschen 43(5):262–273. Luther, Henning. 1992a. Alltagssorge und Seelsorge. Zur Kritik am Defizitmodell des Helfens. In Religion und Alltag. Bausteine zu einer praktischen Theologie des Subjekts, Hrsg. Henning Luther, 224–238. Stuttgart: Radius Verlag. Luther, Henning. 1992b. Identität und Fragment. Praktisch-theologische Überle­ gungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen. In Religion und Alltag. Bausteine zu einer praktischen Theologie des Subjekts, Hrsg. Henning Luther, 160–182. Stuttgart: Radius-Verlag. Luther, Henning. 1992c. Religion als Weltabstand. In Religion und Alltag. Baustei­ ne zu einer praktischen Theologie des Subjekts, Hrsg. Henning Luther, 22–29. Stuttgart: Radius-Verlag. Luther, Henning. 1992d. Theologie und Biographie. In Religion und Alltag. Bau­ steine zu einer praktischen Theologie des Subjekts, 37–44. Stuttgart: Radius Verlag. Luther, Henning. 1998. Die Lügen der Tröster. Das Beunruhigende des Glaubens als Herausforderung für die Seelsorge. Praktische Theologie 33(3):163–176. Morgenthaler, Christoph. 2002. Begrenzte Zeit – erfüllte Zeit. (Kurz)Zeitperspekti­ ven in der systemischen Seelsorge. Wege zum Menschen 54(3):161–176. Morgenthaler, Christoph. 2014. Systemische Seelsorge. Impulse der Familien- und Systemtherapie für die kirchliche Praxis. 5. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer. Mulia, Christian. 2014. Heilsame Unruhe. Religiöse Bildung als kritisch-kreativer Umgang mit Differenzerfahrungen. In Henning Luther. Impulse für eine Prakti­ sche Theologie der Spätmoderne, Hrsg. Kristian Fechtner und Christian Mulia, 94–113. Stuttgart: Kohlhammer. Neumann, Ingo. 2006. Die drei Arbeitsrichtungen der Seelsorge. Tiefe – biografische Weite – Zukunft. Leipzig: Engelsdorfer Verlag. Wagner-Rau, Ulrike. 2014. Seelsorge als religiöse Praxis. Überlegungen im Ge­ spräch mit Henning Luther. In Henning Luther. Impulse für eine Praktische Theologie der Spätmoderne, Hrsg. Kristian Fechtner und Christian Mulia, 127– 140. Stuttgart: Kohlhammer.

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Autor*innenverzeichnis

Bitzer, Melanie studierte Kultur und Management an der Hochschule Zittau/Gör­ litz und anschließend absolvierte sie ihr Masterstudium im Fach Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen. Aktuell ist sie Doktorandin am Lehrstuhl für Soziologie mit Schwerpunkt Techniksoziologie und nachhal­ tige Entwicklung an der Universität Passau. Besonderes Interesse liegt bei ihr auf der Erich-Fromm-Forschung. Forschungsschwerpunkte: Organisationssozio­ logie, Kritische Theorie und (Leib-)Phänomenologie. Bosbach, Isabelle ist seit 2020 Stipendiatin im Promotionsschwerpunkt „Dimen­ sionen der Sorge“ des Evangelischen Studienwerks Villigst und Doktorandin in der Arbeitsgruppe Sozialwissenschaftliche Theorie der Universität Oldenburg. Seit 2017 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Evangelischen Hoch­ schule RWL und studierte zuvor Sozialwissenschaftliche Innovationsforschung (MA). In ihrem Dissertationsprojekt beschäftigt sie sich mit dem Verhältnis von Zeit, Körper und Leben im Kontext humaner Kryotechnologien. Lehrund Forschungsschwerpunkte sind: Wissens-, Medizin- und Techniksoziologie, qualitative Sozialforschung, Soziologie des Fremden sowie interkulturelle Tha­ natosoziologie. Brand, Laura studierte von 2014 bis 2019 evangelische Theologie an der RuhrUniversität Bochum und der Georg-August-Universität Göttingen. Seit 2021 ist sie Doktorandin am Lehrstuhl für Praktische Theologie von Prof. Dr. Isolde Karle an der Ruhr-Universität Bochum und Stipendiatin im Promotionsschwer­ punkt „Dimensionen der Sorge“ des Evangelischen Studienwerks Villigst. In ihrer Promotion beschäftigt sie sich mit Abschiedsritualen im stationären Hos­ piz. Burow, Johannes Frederik ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Soziologie mit Schwerpunkt Techniksoziologie und nachhalti­ ge Entwicklung der Universität Passau und Stipendiat im Promotionsschwer­ punkt “Dimensionen der Sorge” des Evangelischen Studienwerks Villigst. Zu­ vor studierte er, nach langjähriger Tätigkeit als Produktionsleiter für Spielfilme, von 2016 bis 2020 das Studium Individuale an der Leuphana Universität Lüne­ burg. Seit dem Grundstudium lieferte er Beiträge zu Tagungen und Sammel­ bänden und gab in dieser Reihe den Band „Mensch und Welt im Zeichen der Digitalisierung“ mit Anna Henkel et al. heraus. 2022 erschien seine Mono­ graphie „Beieinander an getrennten Orten“ zu Interaktion in Videokonferen­ zen. Forschungsschwerpunkte: (Sozial-)Robotik, HCI, digitale Arbeit, Philoso­ phische Anthropologie, Leibphänomenologie. Ehrens, Christian ist Promovend und Stipendiat im Forschungsschwerpunkt „Di­ mensionen der Sorge“ des Evangelischen Studienwerks Villigst. Zuvor studierte er Evangelische Theologie an der Humboldt-Universität Berlin und am Instituto Superior Evangelico de Estudios de Teología in Buenos Aires. Nach der Univer­ sität folgte eine Zeit bei Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst

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Autor*innenverzeichnis in der Abteilung „Weltweit und Europa“, das Vikariat mit 2. Theologischen Examen in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland sowie ein Sondervikariat bei dem Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland bei der Bundesrepublik in den Dienststellen Berlin und Brüssel. Seit 2018 promoviert er mit Betreuung durch Prof. Friedrich Lohmann und Prof. Fernando Enns an der Universität Hamburg in Systematischer Theologie in der Friedens- und Konfliktforschung zum Thema „Gerechtigkeit vs. Versöh­ nung? Konfliktnachsorge und Konfliktvorsorge in der Transitional Justice als Herausforderung für die Evangelische Sozialethik“. Forschungsschwerpunkte sind: Südafrika, Versöhnung, Gerechtigkeit, Restaurative Gerechtigkeit, Postko­ loniale Theologie, Befreiungstheologie und Ethik. Henkel, Anna ist Professorin und hat seit 2019 den Lehrstuhl für Soziologie mit Schwerpunkt Techniksoziologie und nachhaltige Entwicklung an der Universi­ tät Passau inne. Zuvor war sie Juniorprofessorin für Sozialtheorie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg sowie Professorin für Kultur- und Medien­ soziologie an der Leuphana Universität Lüneburg. Nach einem Studium der Ökonomie promovierte sie zur „Soziologie des Pharmazeutischen“. Ihre For­ schungsschwerpunkte liegen in der soziologischen Theorie sowie der Wissens-, Materialitäts- und Nachhaltigkeitsforschung. Sie verbindet gesellschaftstheoretische Perspektiven mit empirischer Forschung etwa bei der Frage nach dem Wandel von Verantwortungsverhältnissen. Aktuelle Publikationen: Corona-Test für die Gesellschaft. In: Soziologie und Nachhaltigkeit (SuN), Sonderband 2. 2020, S. 35–47; Henkel, Anna: Toxischer Gesellschaftsstress. Erwartungsmodelle und irritierte Irritationsfähigkeit. In: Sociologia Internationalis 58. 2020, S. 1– 21. Hoffmann, Mareike Sophie ist seit 2022 Doktorandin am Lehrstuhl für Critical Development Studies (Fokus: Südostasien) der Universität Passau unter der Lei­ tung von Prof. Dr. Martina Padmanabhan und Stipendiatin des Evangelischen Studienwerks Villigst im Promotionsschwerpunkt „Dimensionen der Sorge“. Zuvor studierte sie Development Studies (M.A.) und war nebenberuflich in der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Feministische Politische Ökologie, Intersektionaler Feminismus, De­ kolonialität und Bewegungsforschung. In ihrem Dissertationsprojekt beschäftigt sie sich mit Jugend-Klimaaktivismus und sozial-ökologischer Transformation auf den Pazifik Inseln. John, Jana ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Soziologie mit Schwerpunkt Techniksoziologie und nachhaltige Entwicklung an der Univer­ sität Passau und Stipendiatin des Evangelischen Studienwerks Villigst im Pro­ motionsschwerpunkt „Dimensionen der Sorge“. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich soziologischer Identitätstheorie und Sozialtheorie sowie in ethnografisch orientierter qualitativer Sozialforschung. In ihrem Dissertations­ projekt untersucht sie Identitätskonstruktionen am Fall Pflegeheimbewohnender.

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Autor*innenverzeichnis Kammler, Carina promoviert an der theologischen Fakultät Heidelberg am Lehr­ stuhl für Seelsorge bei Jun.-Prof. Dr. Annette Daniela Haußmann. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit Seelsorge im anthropologischen Spannungs­ feld von Selbstwirksamkeit und Kontingenzerfahrung. Sie ist Stipendiatin der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg und der Heidelberger Gradu­ iertenschule für Geistes- und Sozialwissenschaften sowie assoziiertes Mitglied des Forschungsschwerpunkts „Dimensionen der Sorge“. Von 2014 bis 2020 stu­ dierte sie als Stipendiatin des Evangelischen Studienwerks Villigst in Heidelberg und Durham (UK) evangelische Theologie. Eine zweijährige berufsbegleitende Weiterbildung als systemische Beraterin schloss sie 2021 am Wieslocher Institut für systemische Lösungen ab. Karle, Isolde hat in Tübingen, Cambridge (MA/USA) und Münster evangelische Theologie studiert. Promoviert wurde sie 1996 in Kiel, die Habilitation folgte 2000 in Bonn. Seit 2001 ist sie Professorin für Praktische Theologie, insbesonde­ re Homiletik, Liturgik und Poimenik, an der Ruhr-Universität Bochum. Seit einem abgelehnten Ruf an die HU Berlin ist sie Direktorin des Instituts für Reli­ gion und Gesellschaft. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Religion und Gesellschaft, Professions- und Kirchentheorie, Religionssoziologie, Seelsorge und Spiritual Care sowie Gender, Sexualität und Körperlichkeit. Ihre aktuellste monographische Publikation ist das Lehrbuch „Praktische Theologie“ (2. Aufl. 2021). Kedenburg, Olga ist Soziologin und promoviert an der Universität Oldenburg zum Thema sexuelle Gewalt in der Grauzone. Sie ist Stipendiatin des Evangeli­ schen Studienwerks Villigst im Rahmen des Promotionsschwerpunkts „Dimen­ sionen der Sorge“ und assoziiertes Mitglied des Forschungsprojekts „Umstrit­ tene Gewaltverhältnisse. Die umkämpften Grenzen verbotener, erlaubter und gebotener Gewalt in der Moderne“, gefördert von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Lindemann, Gesa studierte Soziologie und Rechtswissenschaften in Göttingen und Berlin und erhielt ihr Diplom im Jahr 1986. Daraufhin wurde sie im Jahr 1993 promoviert und vollendete 2001 ihre Habilitation. Seit Juni 2007 ist sie Professorin für Soziologie an der Carl von Ossietzky-Universität in Oldenburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sozial- und Gesellschaftstheorie, Soziologie der Menschenrechte, Methodologie der Sozialwissenschaften, Anthropologie und Medizinsoziologie. Wichtige Publikationen sind unter anderem: „Welt­ zugänge. Die mehrdimensionale Ordnung des Sozialen“ (Weilerswist: 2014), „Strukturnotwendige Kritik. Theorie der modernen Gesellschaft“. Bd. 1 (Weiler­ swist: 2018) und „Die Ordnung der Berührung. Staat, Gewalt und Kritik in Zeiten der Coronakrise“ (Weilerswist: 2020). Richter, Cornelia, * 1970 in Österreich, hat Evangelische Theologie und Philoso­ phie in Wien und München studiert. Nach der Qualifikationszeit in Marburg und Kopenhagen hat sie Lehrstühle in Gießen und Zürich vertreten und Rufe nach Gießen, Kiel und Bonn erhalten. Seit 2012 ist sie Professorin für Systema­ tische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und Co-Direktorin des Bonner Instituts für Hermeneutik. 2014 hat Richter den Forschungsschwerpunkt „Resilience and

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Autor*innenverzeichnis Humanities“ etabliert und war von 2019 bis 2022 Sprecherin der zugehörigen DFG-Forschungsgruppe „Resilienz in Religion und Spiritualität. Aushalten und Gestalten von Ohnmacht, Angst und Sorge“ an der Universität Bonn. Es handelt sich um eine interdisziplinäre Kooperation aus Theologie, Philosophie, Psycho­ somatischer Medizin und Psychotherapie, Palliativmedizin und Spiritual Care. Einschlägige Publikationen: „An den Grenzen des Messbaren. Die Kraft von Religion und Spiritualität in Lebenskrisen“ (Kohlhammer: 2021); “Integration of Negativity, Powerlessness and the Role of the Mediopassive: Resilience Fac­ tors and Mechanisms in the Perspective of Religion and Spirituality” (JRaT 7, 2021/2, 491–513). Schnegg, Michael ist seit 2010 Professor für Ethnologie an der Universität Ham­ burg. Er hat Feldforschungen in Mexiko und Namibia durchgeführt und be­ schäftigt sich mit der Frage, wie Menschen ihre natürliche Umwelt und deren Veränderungen wahrnehmen. Um das Verhältnis zu theoretisieren, verbindet er Phänomenologie und Politische Ökologie. Sellig, Julia ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Techniksoziologie und nachhaltige Entwicklung der Universität Passau. Nach einem Studium der ‚Soziologie‘ und ‚Politikwissenschaft‘ absolvierte Julia Sellig den binationalen Masterstudiengang ‚Interkulturelle Studien Deutschland und Frankreich‘ an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und an der Université Lumière Lyon 2. In Ihren Forschungen verbindet sie medizin-, technik- und natursoziologischen Fragestellungen mit einer leibphänomenologischen Fundierung. So befasst sich ein kürzlich erschienener Artikel (2022) aus der Vortragsreihe „10 Minuten So­ ziologie: Stress“ (Hrsg. Mundt, Sellig und Henkel) im transcript Verlag damit, wie sich ein Technologiewechsel dargelegt am Fall von Medizintechnologie für Diabetiker:innen zu einem Stressfaktor – ja bis hin zu einem Identitätsstress – entwickeln kann. Steinfath, Holmer ist seit 2006 Professor für Philosophie an der Georg-AugustUniversität in Göttingen. Er hatte zuvor Professuren an der RWTH-Aachen und in Regensburg inne. Auf die Promotion 1988 an der FU Berlin mit einer Arbeit zur Substanztheorie des Aristoteles (Athenäum 1991) folgte im Jahr 2000 die Habilitation an der Universität in Konstanz mit der Studie „Orientierung am Guten“ (Suhrkamp 2001). Seit der Herausgabe des Bandes „Was ist ein gutes Leben? Philosophische Reflexionen“ (Suhrkamp 1998) beschäftigt ihn die Frage, wie die Leitfrage der antiken Ethiken nach dem guten Leben für heutiges philosophisches Nachdenken fruchtbar gemacht werden kann. Gegenwärtig gilt sein Interesse besonders der Rolle der Zeit für ein gutes Leben („Zeit und gutes Leben“, 2020, Zeitschrift für philosophische Forschung 74). Zusammenhänge von Zeit und gutem Leben untersucht er auch als Principal Investigator der DFG-FOR „Medizin und die Zeitstruktur des guten Lebens“, die 2021 ihre Arbeit aufgenommen hat.

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Autor*innenverzeichnis Stiller, Lisa studierte von 2014 bis 2020 Evangelische Theologie an der RuhrUniversität Bochum und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit 2020 ist sie Stipendiatin im Promotionsschwerpunkt „Dimensionen der Sorge“ des Evangelischen Studienwerks Villigst. Sie promoviert zu spiritueller Sorge in interprofessioneller Perspektive im Hospiz- und Palliativbereich. Im Sommerse­ mester 2022 hatte sie einen Lehrauftrag an der Ruhr-Universität Bochum. Sie beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den Bereichen Seelsorge, Spiritualität und Spiritual Care. vom Stein, Jonas studierte Geschichte und Evangelische Theologie in Bochum und Bonn. Seit Dezember 2017 bis Anfang 2022 war er Stipendiat der Evangeli­ schen Studienwerks Villigst im Rahmen des Promotionsschwerpunktes „Di­ mensionen der Sorge“. Im Juli 2022 schloss er seine Promotion zum Dr. theol. ab. Seit dem 1. Oktober 2022 ist er Vikar der Evangelischen Kirche im Rhein­ land. Werner, Micha H. ist Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Praktische Philosophie an der Universität Greifswald. Seine Forschungsinteressen und Publikationen betreffen Themen der allgemeinen Ethik (insbes. neo-kantische Ansätze und Theorien der Verantwortung) sowie Methodenfragen und einzelne Felder „angewandter“ Ethik.

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