Care/Sorge: Konstruktion, Reproduktion und Auflösung bedeutsamer Bindungen [1. Aufl.] 9783839425626

»Care« has moved increasingly into the focus of public debate in recent years. Against the background of German reunific

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German Pages 298 Year 2014

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Inhalt
Danksagung
Verzeichnis der Abkürzungen
I. Einführung und Grundlegung
I.1 Einführung
I.2 Theoretische Grundlegung
I.3. Kontext und Vorgehen
II. Praktiken ›privater‹ Sorge: Care, Politik, Wirtschaft
Einführung
II.1 Care über die deutsch-deutsche Grenze
II.2 Sorgende Großeltern
III. Praktiken öffentlicher Sorge: Care, Arbeit, Identität
Einführung
III.1 Care am Arbeitsplatz
III.2. Von der Veteranen- zur Seniorenbetreuung
III.3 Care als Widerstand: das ELISENCAFE
IV. Schlussbetrachtung
IV.1 Zusammenfassung und Ausblick
IV.2 Literaturverzeichnis und Anhang
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Care/Sorge: Konstruktion, Reproduktion und Auflösung bedeutsamer Bindungen [1. Aufl.]
 9783839425626

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Tatjana Thelen Care/Sorge

Kultur und soziale Praxis

2014-07-24 10-26-11 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372606853230|(S.

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4) TIT2562.p 372606853238

Tatjana Thelen ist Professorin an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Gebieten Care, Verwandtschaft/Familie und Staat sowie den Transformationen in Zentral- und Südosteuropa.

2014-07-24 10-26-11 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372606853230|(S.

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4) TIT2562.p 372606853238

Tatjana Thelen

Care/Sorge Konstruktion, Reproduktion und Auflösung bedeutsamer Bindungen

2014-07-24 10-26-11 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372606853230|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagabbildung: Giorgio Morandi, Still Life, 1920 (oil on canvas), Bridgeman Berlin/ © Bildrecht, Wien 2013. Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2562-2 PDF-ISBN 978-3-8394-2562-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2014-07-24 10-26-11 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372606853230|(S.

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Inhalt Danksagung | 7 Verzeichnis der Abkürzungen | 9

I. E INFÜHRUNG UND G RUNDLEGUNG I.1

Einführung | 13

Theoretische Grundlegung | 23 I.2.1 Care: sozialwissenschaftliche Ansätze | 24 I.2.2 Care: eine Arbeitsdefinition | 37 I.2.3 Care: temporale Einbettung | 42

I.2

Kontext und Vorgehen | 45 I.3.1 Regionale Debatten, Vorgehen, Personen | 46 I.3.2 Lokale Bedingungen und Diskurse | 73

I.3

II. PRAKTIKEN ›PRIVATER ‹ S ORGE: CARE , P OLITIK, WIRTSCHAFT II.1 Care über die deutsch-deutsche Grenze | 105

II.1.1 Care und Verwandtschaft über die deutsch-deutsche Grenze | 107 II.1.2 Auflösung bedeutsamer Bindung nach der Wende | 118 II.1.3 Schlussbemerkung: Care in Reproduktion und Auflösung von Bindung | 131 II.2 Sorgende Großeltern | 135

II.2.1 Care durch Großeltern | 136 II.2.2 Temporale Einbettung großelterlicher Sorge | 142 II.2.3 Ambivalenzen der Sorge | 151 II.2.4 Schlussbemerkung: Staat, Lebenslauf und Care in der Familie | 156

III. P RAKTIKEN ÖFFENTLICHER S ORGE: CARE , ARBEIT, I DENTITÄT III.1 Care am Arbeitsplatz | 163

III.1.1 Care und Arbeit | 165 III.1.2 Care am Arbeitsplatz im Sozialismus | 168 III.1.3 Verlust bedeutsamer Bindungen am Arbeitsplatz | 178 III.1.4 Schlussbemerkung: Von Care in Arbeitsbeziehungen zu Care in der Familie | 189 III.2 Von der Veteranen- zur Seniorenbetreuung | 193

III.2.1 Care für Senioren im sozialistischen BETRIEB | 196 III.2.2 Care für Senioren nach der Wende | 201 III.2.3 Schlussbemerkung: Care für Senioren zwischen staatlich und nicht-staatlich: materiell und emotional | 218 III.3. Care als Widerstand: das E LISENCAFE | 221

III.3.1 Care im gemeinnützigen Verein | 222 III.3.2 Care, Identität und Reproduktion bedeutsamer Bindung | 232 III.3.3 Bestätigung bedeutsamer Bindungen nach dem Sozialismus | 236 III.3.4 Schlussbemerkung: Care, Widerstand, Identität | 240

IV. S CHLUSSBETRACHTUNG IV.1 Zusammenfassung und Ausblick | 245 IV.2 Literaturverzeichnis und Anhang | 257

IV.2.1 Literaturverzeichnis | 257 IV.2.2 Anhang | 289

Danksagung

Ich möchte mich bei all jenen bedanken, die mich während und nach der Forschung unterstützt haben und ohne die diese Arbeit nicht fertig gestellt worden wäre. Hier sind zuallererst meine Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen während der Forschung zu nennen, die mir mit großer Geduld geholfen und mit viel Offenheit mit mir gesprochen haben. Viele Freunde und Freundinnen haben mit kleineren und größeren Hilfen sowie mit Rat und Tat ebenfalls zum Gelingen beigetragen. Christoph Roolf, Agnieszka Pasieka und Patrick Muigg haben mich bei unzähligen Formalien und der Formatierung unterstützt. Claudia Roth, Annegret Scholz, Katharina Schramm, Willemijn de Jong, Andrea Behrends, Evangelos Karagiannis und Larissa Vetters danke ich vor allem für ihre wertvollen Kommentare zu Teilen dieser Arbeit. Besonderer Dank gebührt Ina Dietzsch für ihre fundierten Anregungen; ich habe unsere intensiven Gespräche sehr geschätzt. Richard Rottenburg, Erdmute Alber und Keebet von BendaBeckmann danke ich für die vielfältigen Anregungen und Diskussionen über den Zeitraum der letzten Jahre. Die Forschung wurde innerhalb der Gruppe Rechtspluralismus am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle finanziell unterstützt – auch dafür meinen Dank. Nicht zuletzt konnte diese Arbeit nur entstehen, weil mir meine Familie durch alle Phasen hinweg zur Seite gestanden und mich mit unterschiedlichsten Formen von Care unterstützt hat. Ich danke Euch dafür.

Verzeichnis der Abkürzungen

ABM AWG BRD DDR FDGB Genex

Arbeitsbeschaffungsmaßnahme Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft Bundesrepublik Deutschland Deutsche Demokratische Republik Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Geschenkdienst- und Kleinexporte GmbH (später nur noch Geschenkdienst GmbH) LPG Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands VEB Volkseigener Betrieb

I. Einführung und Grundlegung

I.1 Einführung

»Na, jetzt ist es auch anders, würde ich sagen, damals hatte man den Zusammenhalt und man konnte das untereinander, sag’ ich mal, man konnte so seinen ganzen Frust untereinander austauschen. Man konnte wirklich so sein Herz ausschütten, und da ist dann trotzdem nichts passiert. Jetzt steht aber jeder mit seinem Elend alleine da und wer nicht gerade in der Familie den Halt hat, also auf Arbeit kann man das jetzt nicht mehr. Man hat vielleicht eine Vertraute noch, aber alles möchte man auch nicht mehr preisgeben. Man weiß letztendlich nich’, wie es doch wieder gegen einen verwendet wird.« (Frau Schlosser über Arbeitsbeziehungen, 17.9.2003) »Das is’ Mongoloismus gewesen ne, diese Krankheit. Ja, das kommt ja unter Tausenden einmal vor, ne? Das trifft aber viele Familien, egal wo sie herkommen. Das wurde im DDR-Fernsehen mal dargestellt, wie das passiert. Das sind Zusammentreffen von bestimmten Genen, die äh dann so was verursachen, ne? Das kann keiner beeinflussen. Ja, das ist natürlich ein Problem für uns und damit müssen wir uns auseinandersetzen, ne Lösung finden, ganz klar. Das is’ richtig. Die Frau muss dann immer auch zu Hause sein nachmittags, wenn er kommt, 14 Uhr oder ich, je nach dem, nich? Und ich helf’, soweit ich kann, auch sehr und sie alleine kommt manchmal gar nicht mit ihm klar, weil er auch so’n bisschen starrsinnig is’ manchmal, ne? Dass er nich so recht will, nich? Dann muss Vatter denn mal ‘n Wort sagen, ne?« (Herr Paul über das Leben mit seinem Sohn, 29.4. 2003)

Beide Zitate stammen aus meiner Feldforschung im Osten Deutschlands, aber die beschriebenen Beziehungen scheinen zunächst wenig gemeinsam zu haben. Dennoch thematisieren beide Aussagen bedeutsame Bindungen, die mit unterschiedlichen und geschlechtsspezifischen Care-Erwartungen verbunden werden. So thematisiert Herr Paul eine typische Sorgesituation im privaten Haushalt. Care für den gemeinsamen Sohn siedelt er dabei eher bei seiner Frau an, der er dabei zur Seite steht. Frau Schlosser dagegen spricht über ihre Erwartungen an

14 | C ARE/SORGE eine (ebenfalls weibliche) Vertraute am Arbeitsplatz. Mag die Erwartung einer emotionalen Unterstützung durch weibliche Bezugspersonen manchem Leser oder mancher Leserin ›natürlich‹ erscheinen, so kann ihre Lokalisierung am Arbeitsplatz doch auch befremdlich wirken. Schließlich wird solche emotionale Unterstützung häufig ausschließlich im privaten Bereich von Familie und Freundschaft angesiedelt. Kann es ein Care in ›öffentlichen‹ Bindungen überhaupt geben? Des Weiteren verweisen beide Aussagen auf die temporale Einbettung von Care zwischen vergangenen Erfahrungen und Erwartungen an die Zukunft. So spricht Frau Schlosser darüber, dass sie früher ihren Arbeitskolleginnen »ihr Herz ausschütten« konnte und emotionalen Beistand erhielt, wohingegen man »jetzt« alleine sei. Während Frau Schlosser ihren Blick in die Vergangenheit richtet, um die gegenwärtige Situation zu beschreiben, blickt Herr Paul vom ›Jetzt‹ in das ›Morgen‹, als er in sachlichem Ton über die Zukunftspläne der gemeinsamen Sorge mit seiner Frau für ihren erwachsenen Sohn spricht. In beiden Aussagen wird auf diese Weise deutlich, dass Care in gegenwärtigen Bindungen anhand vergangener Erfahrungen reflektiert und auf dieser Grundlage für die Zukunft geplant wird. Mit dieser Ansiedlung von Care zwischen privat und öffentlich, zwischen emotional und sachlich sowie zwischen Vergangenheit und Zukunft umspannen beide Zitate trotz ihrer Unterschiedlichkeit das Themenfeld dieser Arbeit. Mit Blick auf diese Gemeinsamkeit des ›Dazwischen‹ soll gefragt werden: Wie entstehen durch Care bedeutsame Bindungen? Wie werden diese Bindungen durch Care reproduziert? Aber auch: Wie trägt Care zur ihrer Auflösung bei? Care im Sinne vertrauensvoller Zuwendung aber auch im Sinne liebender Pflege und Betreuung ist gerade in den letzten Jahren zunehmend sowohl in den Mittelpunkt des öffentlichen als auch des sozialwissenschaftlichen Interesses gerückt. Die gegenseitige Durchdringung beider Diskussionsarenen zeigt sich mithin in diesem Themenfeld besonders deutlich. In den Debatten manifestieren sich die Wahrnehmungen von Veränderungen in den Zuschreibungen der Sorgeverantwortung zwischen Staat, Markt und Familie. Zusätzlich verschärft die demographische Alterung die »Aura der Krise«, die solchen Analysen zumeist anhaftet (Fine 2007: 8). Die Folgen der historisch bislang einzigartigen demographischen Situation sind schwer abschätzbar, übersetzen sich jedoch häufig in die Befürchtung, dass es mehr und mehr Menschen gibt, die auf Care angewiesen sind, während gleichzeitig das familiäre Sorgepotential sinkt. Zum allgemeinen Eindruck einer Krise trägt die Erkenntnis bei, dass mit den früher ›natürlicherweise‹ von Frauen erbrachten unbezahlten Leistungen in immer geringerem Maße zu rechnen ist.

E INFÜHRUNG

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Angesichts der Stimmungslage rückt in den Hintergrund, dass diese aktuellen Entwicklungen auch ein neues Licht auf eine alte Kernthematik sozialwissenschaftlicher Theoriebildung werfen. So veranschaulichen die alltäglichen Gespräche und politischen Debatten um die angenommene Care-Krise neben den generellen Befürchtungen weitergehende Vorstellungen über bedeutsame Bindungen und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Vor allem diese Diskurse spiegeln den Zusammenhang wissenschaftlicher Forschung und gesellschaftlicher Selbstbeschreibung besonders deutlich. In diesem Sinne wird weithin davon ausgegangen, dass ›warme‹ verwandtschaftliche Sorge nicht nur eine Pflicht, sondern auch besser sei als Care in ›kalten‹ staatlichen Institutionen (Hochschild 2003; vgl. Mol/Moser/Pols 2010; Brown 2010). Parallel zu solchen dichotomisierenden Einteilungen von formaler/technischer gegenüber informeller/emotionaler bzw. bezahlter oder unbezahlter Sorge verläuft die Klassifikation von Bindungen in privat und öffentlich. Die expressiven Beziehungsdimensionen sowie Care werden demnach der Privatsphäre von Freundschaft und Verwandtschaft zugeordnet. Das Eindringen solcher ›privater‹ Motive in die ›öffentliche‹ Sphäre ist daher negativ und kann in Gestalt von Patronage und Klientilismus zu Korruption führen (Holzer 2006). Dagegen wird der Austausch von Gütern in privaten (auf emotionaler Zuneigung gründenden) Bindungen, vor allem Freundschaften, nahezu bestritten (Seligman 1997). Die Unterscheidung geht dabei häufig mit der Dichotomie zwischen ›Vorher‹ (traditionell) und ›Nachher‹ (modern) einher. Demnach erfolgt im Übergang zur Moderne nicht nur eine Auflösung traditioneller Bindungen, sondern auch eine Ausdifferenzierung in eine öffentliche und eine private Sphäre, an welche jeweils spezifische Beziehungsformen und -normen geknüpft sind. Dementsprechend zielen politische Programme in Antwort auf die angenommene Krise familiärer Sorge denn auch verschiedentlich darauf ab, vermeintlich private Care-Praktiken wahlweise rechtlich (wieder) zu erzwingen oder auch (neu) anzuerziehen. Genau an diesem Schnittpunkt von Politikentwicklung und etablierter Beziehungsklassifikation setzt die vorliegende Analyse an, um im Blick auf gelebte Sorge neue Perspektiven zu eröffnen. * Diese westlichen Selbstbetrachtungen ›moderner‹ Sozialbeziehungen werden zum Ausgangspunkt wissenschaftlicher Beobachtung anderer Gesellschaften und somit zum Maßstab erhoben, an welchem etwaige Abweichungen von der (europäischen) Norm gemessen werden. Aus einer solchen modernisierungstheoretischen Perspektive ergibt sich die Versuchung einer Konstruktion von Ungleichzeitigkeit, in der andere Modalitäten mit ›unserer Vergangenheit‹ gleichgesetzt werden (Fabian 2002 [1983]; Gupta 1995). In der Folge findet die For-

16 | C ARE/SORGE schung beispielsweise in der ›eigenen‹ Gesellschaft Familie und bei ›anderen‹ Gesellschaften ›noch‹ Verwandtschaft; bei ›uns‹ ist die ›moderne‹, emotional begründete Freundschaft charakteristisch, während bei den ›anderen‹ interessengeleitete Beziehungen der Patronage, Klientschaft usw. dominieren. Während in vielen anderen Bereichen die Setzung einer europäischen Bezugsnorm für den Vergleich zu einer Abwertung der ›anderen‹ Gesellschaften führte (Heintz 2010: 165; Chakrabarty 2007: 8), zeigt sich in Bezug auf Care eine eher ambivalente Hierarchisierung. In der frühen Phase der Beschäftigung mit dem Thema gingen die Ethnologen zunächst in Übertragung ihrer eigenen Vorstellungen von einem Primat der blutsverwandten Kleinfamilie auf dem Gebiet der Sorge aus. Diese wichtigsten bedeutsamen Bindungen konnten dann durch erweiterte Verwandtschaftsbeziehungen, Freunde, Bekannte und Arbeitskollegen (in abnehmender Signifikanz) ergänzt werden. Gleichzeitig erschien die Care innerhalb der europäischen Familie bereits seit den Anfängen der Forschung als gefährdet. So thematisierten beispielsweise sozialwissenschaftliche Debatten seit Durkheim (1993 [1897]) die Folgen der vermuteten Auflösung ›traditioneller‹ Bindungen durch die Moderne bis hin zu den (vermeintlichen) Gefahren der Anomie. Diese generelle Sichtweise spiegelt sich bis heute in wiederkehrenden öffentlichen Diskussionen über die scheinbar schwindende ›natürliche‹ Sorge in europäischen Familien. Diese Perspektive erweist sich als erstaunlich beständig, obwohl Sozialhistoriker die Imagination von weit verbreiteten großfamiliären Lebensarrangements in der Vergangenheit regelmäßig widerlegen (Finch 1989; Hareven 1991; Ostner 1994; Laslett 1995; Horden 1998; Rosenbaum/Timm 2008). Im Licht dieser Vorstellungen über die ›eigene‹ Vergangenheit erscheint die Annahme einer größeren Bedeutung verwandtschaftlicher Bindungen in ›anderen‹ Gesellschaften zwar einerseits als ein Zeichen der Abweichung von der europäischen Entwicklung, aber andererseits auch als Ausdruck von deren Überlegenheit, Care zu sichern. Während also modernisierungstheoretische Annahmen vom Geschichtsverlauf in der Regel in einer angestrebten »not yet« Diagnose für nichtwestliche Gesellschaften münden, wie Chakrabarty es nennt (2007: 8), soll im Fall von Care die westliche Entwicklung auf einen imaginierten Vergangenheitszustand zurückgeführt werden (vgl. Franz v. Benda-Beckmann 2005 bezüglich sozialer Sicherung). Politische Reformer und wissenschaftliche Vordenker bemühen sich daher Ligaturen, wie Ralf Dahrendorf (1979, 1994) solche bedeutsamen Bindungen nennt, zu stärken oder neu zu schaffen. In der englischsprachigen Literatur zu Care wird dies häufig unter dem Stichwort community behandelt (Cancian/Oliker 2000).

E INFÜHRUNG

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Nach Dahrendorf sollten sich diese neuen Ligaturen vor allem auf zivilgesellschaftlichen Vereinigungen gründen. Damit vertritt er eine republikanische Variante der Dichotomie zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, die Staat und Bürgerschaft gegenüberstellt. Vielen anderen politischen Debatten liegen zwei weitere Spielarten der Dichotomie zugrunde. Die wirtschaftsliberale Version sieht die Abgrenzung vornehmlich als eine zwischen staatlicher Verwaltung und privatem Markt. Die für Care relevanten Diskussionen konzentrieren sich dann auf die Frage, welche sozialen Dienste vom Staat übernommen bzw. dem Markt überlassen werden sollten (Weintraub 1997). Dahingegen wird in der vor allem sozialhistorisch und feministisch grundierten Dichotomie-Variante die Intimität persönlicher Bindungen und des häuslichen Lebens mit Privatheit gleichgesetzt. Diese Konstruktion entspricht auch vielen der schon erwähnten öffentlichen Debatten, die emotionale und intime Sorge als eingebettet in informelle und unbezahlte private Bindungen sehen, wohingegen bezahlte Sorge im öffentlichen Bereich verortet wird. Allerdings lässt sich die Dichotomisierung zwischen familiär und staatlich, zwischen informell und formell oder zwischen traditionell und modern im Bereich von Care aus verschiedenen Gründen nicht (mehr) aufrechterhalten. Am Beispiel elterlicher Sorge, die zwar durch staatliches Recht geregelt ist, aber dennoch selten als formell angesehen wird, argumentieren beispielsweise Franz und Keebet von Benda-Beckmann, dass diese Dichotomisierungen die Quellen der Regulierung und diejenigen der Bereitstellung (provision) auf unzulässige Art und Weise vermischen (1994: 13). Auch andere Formen von Care lassen sich anhand dieser Dichotomien und mit den damit einhergehenden Beziehungsklassifikationen von Verwandtschaft, Freundschaft, Klient – Staat, Patronage nicht oder nur partiell erfassen. Aus diesem Grund werden in der vorliegenden Studie keine Beziehungskategorien, sondern Sorgepraktiken zum Ausgangspunkt der Analyse genommen. * Die häufig impliziten Annahmen und ihre Aushandlung in alltäglichen Praktiken sowie die bisher genannten temporalen, institutionellen, demographischen und geschlechtsspezifischen Aspekte von Care lassen sich besonders gut in Situationen beschleunigten sozialen Wandels untersuchen. In solchen Zeiten müssen Sorgeerwartungen und -praktiken expliziter als sonst überdacht und angepasst werden. Daher stellen die fundamentalen Veränderungen im Zuge des Vereinigungsprozesses in Deutschland (Storch 2000, Baer 1998; Kolinsky 1995) einen besonders geeigneten Hintergrund für die Untersuchung von Care dar. Die ehemaligen DDR-Bürger und Bürgerinnen erlebten nicht nur den Untergang des sozialistischen Staates mit seinen Institutionen sozialer Sicherung, sondern auch

18 | C ARE/SORGE die Erschütterung des historisch gewachsenen und nun transferierten Systems der sozialen Sicherung aus der alten Bundesrepublik. In dieser doppelten Transformation verloren viele der Sorgeerwartungen und -praktiken ihre vormals sinnvolle Einbettung und mussten neu verhandelt werden. Insbesondere die Bedeutung der temporalen Einbettung von Care lässt sich anhand solcher Prozesse der Neuaushandlung gut nachvollziehen. Besondere Bedeutung erhalten in diesen Prozessen bestimmte Wertvorstellungen, die – im Foucault‘schen Sinne – von jeweiligen Dispositiven (institutionelle Gefüge, rechtliche Regelungen und wissenschaftliche Erkenntnisse) verfestigt werden. In diesem Zusammenhang erweisen sich in Ostdeutschland insbesondere die normativen Grundhaltungen eines säkularen Selbstverständnisses sowie die positive Bewertung der Erwerbstätigkeit beider Geschlechter als prägend. Beide Wertorientierungen stehen im Gegensatz zu denjenigen in den alten Bundesländern und machen den Osten Deutschlands im Zuge der politischen Reformen zu einem interessanten Untersuchungsfeld. Zum einen stehen CarePraktiken, wie oben bereits angedeutet, immer mit bestimmten Sorgenormen und Geschlechterkonstruktionen in Verbindung, so dass ein solches Aufeinandertreffen unweigerlich die sonst häufig impliziten Aushandlungen offenbaren lässt. Zum anderen bietet sich mit dem Zusammenkommen zweier unterschiedlicher institutioneller Formen sozialer Sicherung und Förderung von Care (unter anderem bezüglich der Bedeutung religiöser Akteure1, bzw. der Rolle weiblicher Sorge) ein geeignetes Feld für die Untersuchung der Verbindungen zwischen öffentlichen und privaten Bereichen. Schließlich intensivierte sich zusätzlich zu den legalen und ökonomischen Veränderungen im Umfeld des Vereinigungsprozesses auch die gesellschaftliche Alterung und machte familiäre wie institutionelle Anpassungen von Care nötig. * Trotz der gesellschaftspolitischen Bedeutung des Themas und des steigenden Interesses in anderen sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen fristet Care in den ethnologischen Fachdebatten eher ein Schattendasein. Dies verwundert umso mehr, als dass Fragen der Entstehung und Reproduktion bedeutsamer Bindungen die Ethnologie seit ihren Anfängen beschäftigt haben. Trotz intensiver Diskussionen, vor allem in der Verwandtschaftsethnologie, bilden die Grundlage der Beschäftigung mit diesen Fragen Beziehungskategorien und -ideale, die aus der Reflexion über westliche Gesellschaften entstanden sind. 1

Auf Bitte des Verlages und im Sinne einer besseren Lesbarkeit wurde auf die Verwendung einer Kennzeichnung verschiedener Geschlechter im Schriftbild verzichtet. Im Folgenden schließt die männliche Bezeichnung Frauen und andere Geschlechter mit ein.

E INFÜHRUNG

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Sorgepraktiken und ihre Bedeutung für die Konstruktion und Reproduktion bedeutsamer Bindungen stehen auch im Zentrum der neueren Verwandtschaftsethnologie. So wird Verwandtschaft nach David Schneiders fundamentaler Kritik an der Übertragung europäischer Verwandtschaftskonstruktion auf andere Gesellschaften (1984), aber auch in Folge der neuen Reproduktionstechnologien in den sogenannten new kinship studies nicht mehr als gegeben vorausgesetzt, sondern deren Konstruktion in der Praxis untersucht (Hayden 1995; Faubion 2001; Stone 2001; Howell 2006; Beck/Çil/Hess/Klotz/Knecht 2007; Alber/ Beer/Pauli/Schnegg 2010). Während die ältere Forschung also Verwandtschaft als einen speziellen Typus an Bindungen mit gegenseitigen Verpflichtungen beschreibt – »kinship is binding; it creates inescapable moral claims and obligations« (Fortes 1969: 242) –, wird diese Annahme in den neueren Studien umgekehrt: Nicht Verwandtschaft führt unausweichlich zu Care, sondern durch Care wird verwandtschaftliche Bindung konstruiert und reproduziert (so z.B. in den Studien von Weismantel 1995; Carsten 1995). Diese Erkenntnisse zur Bedeutung von Care in der Konstruktion bedeutsamer Bindung bleiben jedoch weitgehend auf Verwandtschaftsbeziehungen beschränkt. Somit stellen sie die übergeordnete Klassifikation bedeutsamer Bindungen in getrennte Bereiche von privater Freundschaft und Verwandtschaft gegenüber öffentlichen Beziehungen nicht in Frage. Zudem geraten durch die Konzentration auf die ›Produktion‹ von Verwandtschaft (kinning, doing kinship) nicht nur die über die konkrete Verwandtschaftsbindung hinausgehende gesellschaftliche Bedeutung von Care, sondern auch Prozesse der Auflösung von Bindung aus dem Blick. Daher greife ich auf diese Erkenntnisse zurück, um sie aber zugleich auf ein weiteres Feld auszudehnen. Diese konzeptionelle und empirische Erweiterung erlaubt, die Konzentration auf (positiv bewertete) Familienund Verwandtschaftsbeziehungen in Frage zu stellen und gleichzeitig auch die Auflösungsprozesse von Bindung in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken. Das Hauptargument dieser Arbeit lautet also, dass Care einen guten Ausgangspunkt bietet, um die soziale Konstruktion, Reproduktion und Auflösung bedeutsamer Bindungen zu erfassen. * Die Konzentration auf Praktiken anstatt einer Vorabdefinition von Beziehungstypen enthält zunächst ein methodisches bzw. praxeologisches Argument. Diese Vorgehensweise ermöglicht die Erfassung von Care als Basis verdeckter Gemeinsamkeit bedeutsamer Bindungen aus unterschiedlichen Lebensbereichen. Allerdings erfordert dieses ›Sichtbarmachen‹ einige Vorarbeit, bevor eine Betrachtung empirischer Daten möglich wird. Daher schließt sich an diese einleitenden Bemerkungen zunächst eine theoretische Spurensuche an, die die The-

20 | C ARE/SORGE matisierung von Care in verschiedenen wissenschaftlichen Debatten sowie deren Übersetzung in politische Forderungen behandelt. Die verschiedenen wissenschaftlichen Ansätze zu Care sind zum Teil von unterschiedlichen nationalen Wissenschaftstraditionen geprägt. So wird im deutschsprachigen Raum Care vor allem in häuslichen Problemsituationen wie derjenigen von Herrn Paul verortet. Die englischsprachige und skandinavische Literatur zieht dagegen andere Grenzen. Zusätzlich prägen theoretische Strömungen die Wahl des Ausgangspunkts entweder von der Geber- oder Empfängerseite von Care, was auch zu unterschiedlichen Bewertungen der Praktiken führt. Im Hinblick auf die fachinternen Debatten der Ethnologie wiederum erschwert die bereits genannte überwiegend getrennte Beobachtung bedeutsamer Bindungen (entweder im Bereich von Politik bzw. Wirtschaft oder im Bereich der Verwandtschaft) eine Erfassung der übergreifenden Bedeutung von Care. Daher werden zunächst jene Theoriedebatten thematisiert, die am ehesten die Klassifizierung in ›öffentlich‹ und ›privat‹ unterlaufen (insbesondere neo-marxistische und feministische), um dann Überschneidungen zu Fragen politischer Anthropologie und Verwandtschaftsethnologie zu thematisieren. Auf Grundlage dieser Überlegungen wird eine Arbeitsdefinition vorgeschlagen, die eine Verbindung der unterschiedlichen Perspektiven eröffnet. Eine Konzeption von Care als Dimension sozialer Sicherung vermag, neben den besonderen lokalen und individuellen Sinngebungen, auch ihre Einbettung in übergeordnete Strukturen und die Zeit Rechnung zu tragen. Care wird somit als sensitizing concept im Sinne von Blumer (1954) verwendet, um den Blick auf die Gemeinsamkeiten der beschriebenen Phänomene innerhalb der »Unordentlichkeit« des sozialen Lebens (Law 2004) richten zu können. Eine Perspektive auf Care, die Gemeinsamkeiten verschiedener Praktiken und Beziehungen ins Licht rückt, ermöglicht es in Folge die Klassifizierungen bedeutsamer Bindungen entlang der Dichotomien von häuslich/institutionell, staatlich/nicht staatlich, gut/schlecht, kalt/warm, emotional/technisch zu überwinden. Aus dieser Ausweitung des Blicks ergibt sich nicht zwangsläufig ein Modell des ›homo caritas‹ als Gegenmodell des in den 1990er Jahren (wieder) vorherrschenden ›homo oeconomicus‹. Auch wird der Subjektivierungsform des unternehmerischen Selbst (Bröckling 2007) kein karitatives Selbst als Idealbild gegenübergestellt. Vielmehr liegt das Konzept quer zu diesen Einteilungen, indem es mitfühlende Sorge auch in ökonomisch ausgerichtetem Handeln sichtbar und gleichzeitig auch die Ambivalenzen von Care für Identitäten und Gefühlsqualitäten verwandtschaftlicher Bindungen deutlich macht. Ziel der Arbeit ist es also, das theoretische Potential des Care-Konzepts für das Fach Ethnologie,

E INFÜHRUNG

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aber auch für gesellschaftspolitische Debatten aufzuzeigen, ohne dabei ein idealistisches Gegenmodell zu entwerfen. * Auf die theoretische Grundlegung folgt eine konzentrische Verortung der Forschung in regionalen Debatten, lokalen Diskursen und Bedingungen sowie dem konkreten Vorgehen. Die empirische Umsetzung beruht auf dem ›Aufspüren‹ und ›Folgen‹ verschiedenster Care-Praktiken und -Beziehungen sowohl in als ›öffentlich‹ wie ›privat‹ verstandenen Orten. Die Darstellung des Vorgehens schließt mit einer Vorstellung einiger Hauptakteure. Dieser Abschnitt kann je nach Lesegewohnheit ausgelassen oder lediglich zum Nachschlagen verwendet werden. Dieser dritte Teil der Studie schließt mit der Einbettung von Care in wichtige lokale Diskurse und staatliche Transformationen. Die Transformation staatlicher Rahmen sozialer Sicherung einschließlich der Familienpolitik bildet den Hintergrund für die Interpretationen meiner Gesprächspartner in den folgenden ethnographischen Erkundungen. Die beiden folgenden empirischen Teile nehmen jeweils spezifische Sorgepraktiken als Ausgangspunkt zur Annäherung an bedeutsame Bindungen. Dieses Vorgehen erlaubt in den einzelnen Kapiteln jeweils die Grenzüberschreitungen zwischen den etablierten Vorstellungen von ›privat‹ und ›öffentlich‹. Teil II der Studie widmet sich in diesem Sinne zunächst dem Zusammenhang von Care in Verwandtschaftsbeziehungen und den als öffentlich definierten Bereichen von Politik bzw. Wirtschaft. Als Gegenpol zum Bild der Kernfamilie und als Charakteristikum moderner Gesellschaften stehen in beiden Kapiteln erweiterte Verwandtschaftsbeziehungen im Mittelpunkt der Betrachtung. In Teil III rücken wiederum die ›privaten‹ Anteile öffentlicher Sorge in den Vordergrund. Die vorgestellten Sorgepraktiken in allen Kapiteln lassen sich nicht ohne den Hintergrund ihrer temporalen Einbettung verstehen. Inmitten von Unsicherheit trägt Care nicht nur zu biographischer Stabilität, sondern auch zur Konstruktion von Gemeinschaft und Zugehörigkeit bei. Damit haben sie eine weit über den lokalen Rahmen hinausweisende Bedeutung. Insgesamt erlaubt es dieses multilokale Vorgehen, Care auch in solchen Beziehungen zu finden, wo die bisherigen Beziehungsklassifikationen eine solche Bedeutung verdecken. Ausgehend von Care verschwinden einerseits klare Trennungslinien zwischen scheinbar autonomen Gebern und abhängigen Empfängern ebenso wie eine Einteilung der Praktiken entlang der Dichotomien privat/öffentlich, informell/formal und staatlich/familiär. Dies ermöglicht zugleich einen Einblick in die eingangs angesprochenen und bisher zu wenig beachteten Aspekte der temporalen Einbettung von Care. Es wird zudem deutlich werden, dass Sorge nicht nur im verwandtschaftlichen Zusammenhang untersucht werden

22 | C ARE/SORGE sollte, um Rückschlüsse auf deren Bedeutung zur Schaffung, Reproduktion und Auflösung bedeutsamer Bindungen ziehen zu können. Um zusätzlich dem für die Verwandtschaftsethnologie angesprochenen ›positiven bias‹ auf Herstellung und Reproduktion entgegen zu wirken, beginnen die empirischen Teile jeweils mit einer Untersuchung der Auflösung bedeutsamer Bindungen, bevor ihre Herstellung und Reproduktion durch Sorgepraktiken dargestellt wird. Im letzten Kapitel werden die verschiedenen Diskussionsstränge zusammengeführt bevor ein abschließender Ausblick auf die sich aus der Arbeit ergebenden Forschungsperspektiven erfolgt. Manchem Leser und mancher Leserin mag die in dieser Arbeit vorgenommene Anwendung von Care in weiter entfernte Bereiche des Alltagshandelns ungewöhnlich erscheinen. Das Ergebnis dieses Vorgehens ist auf den ersten Blick eine scheinbar willkürliche Anordnung – dem Titelbildes dieses Buches auf dem die Unordnung der Gefäße lediglich durch einen fragilen Tisch zusammengehalten wird – nicht unähnlich. Gleichwohl lautet die Hauptthese dieser Arbeit, dass im Blick auf alltagsweltliche Praktiken – wie etwa des gemeinsamen Essens an einem Tisch – die Antworten auf die Fragen nach dem Wesen von Care und damit nach der Konstruktion bedeutsamer Bindungen zu suchen sind. Mit einer solchen Herauslösung von Care aus dem engen Rahmen bestehender Klassifikationen und mit der (Wieder-)Einführung des Konzepts in zentrale Fachdebatten ist das Ziel verbunden, die Bedeutung von Sorge für die Gemeinschaftsbildung und Politik zu verdeutlichen. Ich argumentiere also, dass eine Perspektivenverschiebung auf Care neue Einsichten in die Herstellung, Reproduktion und Auflösung bedeutsamer Bindung und damit die Möglichkeit einer Neu-Klassifizierung sozialer Beziehungen entlang von Care-Praktiken eröffnet.

I.2 Theoretische Grundlegung

Der englische Begriff Care lässt sich nur sehr schwer ins Deutsche übersetzen. Als Verb kann Care auf Werte und einen Gefühlszustand (caring about someone), aber auch auf konkrete Praktiken (caring for someone) verweisen (Ungerson 1983: 31; siehe auch Fine 2007: 2; Dalley 1996: 13-15). Übersetzungen ins Deutsche existieren daher gleich mehrere, so z.B. kümmern, betreuen oder pflegen. In letzter Zeit bürgert sich in der sozialwissenschaftlichen Literatur jedoch zunehmend der Begriff der Sorge ein. Dieser kann, wie der englische Begriff Care, ebenfalls beide Bedeutungen annehmen – sich »sorgen um jemanden« sowie »sorgen für jemanden«. Allerdings ruft das deutsche Wort Sorge nicht dieselben positiven Assoziationen »von Apfelkuchen und Mutterliebe« hervor, wie Fine (2007: 23) es für den englischen Begriff beschreibt. Im Gegenteil ist im deutschsprachigen Alltagsverständnis Sorge mit Problemen, im Sinne von »sich um etwas/jemanden Sorgen machen«, verbunden. Damit hat Sorge zwar tatsächlich dieselbe Bedeutung wie caru, die altenglische etymologische Wurzel von Care, allerdings hat Care im Englischen in der heutigen Verwendung die Bedeutung von caritas – selbstloser Liebe – angenommen (Fine 2007: 8). Sorge ist also die korrekte Übersetzung, die aber vom Sprachgefühl im Deutschen abweicht. Dem doppelten Ziel Sorge sowohl aus dem engen Rahmen bisheriger (deutschsprachiger) Analysen mit der Beschränkung auf (schwerwiegende) Probleme wie auch Care aus dem allzu positiven (englischen) Assoziationsrahmen zu lösen, ist die synonyme Verwendung beider Begriffe geschuldet. Obwohl es beinah unmöglich erscheint, das alltagsweltliche Vorverständnis zu Gänze zu umgehen, soll diese Verwendung doch ein durchgehender Hinweis auf die analytische Anwendung in der vorliegenden Studie sein. Der Entwicklung eines solchen theoretischen Konzeptes dient die folgende Einbettung in verschiedene sozialwissenschaftlichen Debatten um Care. In der Ethnologie ist Sorge als Konzept bisher trotz der hohen gesellschaftlichen Relevanz am Rande der zentralen theoretischen Debatten angesiedelt. Dies ist umso

24 | C ARE/SORGE erstaunlicher, als dass die Fragen der Konstruktion und Reproduktion bedeutsamer Bindungen durchaus zentrale Fragestellungen innerhalb des Faches sind. Entscheidend zu dieser Entwicklung beigetragen hat die Ausdifferenzierung und Auseinanderentwicklung von Verwandtschaftsethnologie und Politischer Ethnologie ab Mitte des 20. Jahrhunderts, da mit dieser eine Aufsplittung der von der jeweiligen Teildisziplin untersuchten Bindungen einherging. Die Politische Anthropologie konzentrierte sich die nächsten Jahrzehnte auf sogenannte staatenlose Gesellschaften außerhalb Europas und die Verwandtschaftsethnologie auf die Konstruktion von Bindung im ›privaten‹ Bereich. Somit war hier die eingangs angeführte westliche Selbstbeschreibung moderner Beziehungen und die etablierte Klassifizierung sozialer Beziehungen entlang den ihnen zugeordneten Bereichen besonders folgenreich. Daher werden auf den folgenden Seiten im ersten Schritt vor allem jene Ansätze thematisiert, die die Dichotomie von ›privat‹ und ›öffentlich‹ am ehesten unterlaufen, nämlich feministische und neomarxistische Perspektiven. Im zweiten Schritt wird dann der Versuch unternommen, diese früheren Ansätze mit den neueren verwandtschaftsethnologischen Arbeiten zu verbinden. Die folgenden Überlegungen zielen somit darauf ab, diese unterschiedlichen Debatten zusammenzuführen und so die Relevanz von Care für übergreifende theoretische Diskussionen zu verdeutlichen. Daher wird auch in den empirischen Kapiteln der komplexe Bezug von Care-Praktiken zu Fragen der Identitäts- und Gemeinschaftsbildung bzw. zur Politik ein wiederkehrendes Thema sein

I.2.1 C ARE :

SOZIALWISSENSCHAFTLICHE

ANSÄTZE

Möglicherweise als Folge der unterschiedlichen Konnotationen des Begriffs im Englischen und im Deutschen setzen nationale Wissenschaftstraditionen unterschiedliche Schwerpunkte bei der Untersuchung von Care. Im deutschen Sprachraum kreist die wissenschaftliche Beschäftigung unter dem Stichwort Sorge vornehmlich um die Pflege alter, kranker und sonstigen physischen oder psychischen Einschränkungen unterworfenen Menschen. Es wird also von speziellen Problemen auf Seiten der Care-Empfänger ausgegangen, somit von all denen, die nicht dem Ideal eines unabhängigen (erwachsenen) Individuums entsprechen. Dagegen wird die Sorge für Kinder weniger problematisiert. Obwohl sich manche der physischen Tätigkeiten in beiden Fällen sehr gleichen, wird letztere vielmehr unter dem weniger negativ konnotierten Stichwort der Betreuung gesondert behandelt. In der englischsprachigen Literatur aus Großbritannien, den USA und Australien hingegen wird gemeinhin unter Care die Gesamtheit unbe-

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zahlter Tätigkeiten der häuslichen Reproduktion verstanden. Wiederum im Gegensatz dazu fassen skandinavische Studien neben diesen Praktiken im privaten Haushalt auch die bezahlte Sorge in öffentlichen Institutionen unter dem Begriff von Care zusammen. Diese Vielschichtigkeit und Ambivalenz hat einen Konsens zur präzisen Definition des Begriffs bislang verhindert (Cancian/Oliker 2000; Thomas 1993; Fine 2007). Neben den Übersetzungsproblemen spiegeln diese unterschiedlichen Verwendungen auch verschiedene Forschungstraditionen und deren entsprechende Einbettung in politische Diskurse wider. Während die einen von bestimmten ›Problemstellungen‹ und daher von den Empfängern der Sorge ausgehen, wählen die anderen ihren Ausgangspunkt bei den sorgenden Personen. Der folgende Überblick über diese sozialwissenschaftlichen Debatten dient als Basis für die Entwicklung einer Arbeitsdefinition, die es ermöglicht, beide Ausgangspunkte miteinander zu verbinden und damit zugleich neue Perspektiven zu eröffnen. I.2.1.1 Care als ›labour of love‹: Ökonomie und Identität Die Befassung mit Care aus der Sicht von Sorgenden ist eng verbunden mit der Entwicklung der feministischen Forschung. In diesen Studien ist es das vorrangige Ziel, zu einem besseren Verständnis der untergeordneten Stellung von Frauen in westlichen Gesellschaften zu kommen. Aus dieser Perspektive wird die Rolle der unbezahlten (weiblichen) Sorgenden zum Ausgangspunkt der jeweiligen Untersuchungen. Feministische Studien der 1960er und 1970er Jahre konzeptualisierten Care zunächst in deutlicher Nähe zu marxistischen Strömungen als domestic labour. Unbezahlte Sorge für Ehemänner und Kinder steigere die Produktivität gegenwärtiger und zukünftiger Arbeitergenerationen. Der so geschaffene Mehrwert trage zur Profitabschöpfung bei, weshalb Hausfrauen ebenso ausgebeutet seien wie bezahlte Kräfte (Dalla Costa/James 1972; Mies 1983a; Werlhof 1978; spätere Zusammenfassung dieser Richtung auch bei England 2005: 385-386). Folgerichtig forderten etwa Bock und Duden (1977), dass die im Kapitalismus als selbstverständlich hingenommene familiäre Sorge von Frauen bezahlt werden sollte. Häusliche Sorge erschien in dieser Perspektive nicht romantisch, sondern als »dull, monotonous and traditional, and thus an obstacle to self-fullfillment« (Sevenhuijsen 1998: 5). Aus marxistischer Perspektive würde dieses bürgerliche

26 | C ARE/SORGE Relikt ohnehin bald technologischer Entwicklung und Vergesellschaftung der Reproduktion weichen.1 Auf ähnliche Weise wurde auch in der Ethnologie das Themenfeld zunächst unter dem Stichwort modes of production, und hier besonders domestic mode of production, behandelt. Allerdings ist den ethnologisch-marxistischen Interpretationen eine andere normative Grundstimmung eigen. Ähnlich der eingangs erwähnten ›Krisenstimmung‹ um Care wird das Vordringen kapitalistischer Produktionsweisen und das dadurch eingeleitete Verschwinden von Formen ›traditioneller‹ häuslicher Reproduktion mit Skepsis betrachtet. Entgegen der klassischen marxistischen Interpretation der Verdrängung argumentiert allerdings Meillassoux (1975), dass die häusliche Produktionsweise eben nicht untergeht. Vielmehr existiere sie außerhalb von kapitalistischen Produktionsverhältnissen weiter und würde durch diese gewissermaßen künstlich am Leben erhalten, da sie ständig billige Arbeitskräfte produziere. Die dahin gehenden Überlegungen von Meillassoux zum Wert der Arbeitskraft umfassen auch die Gesunderhaltung des Arbeiters durch Ernährung, seinen Unterhalt in Zeiten von Krankheiten und Arbeitslosigkeit sowie die Aufzucht der Nachkommen (1975: 118). Ähnlich schließen auch Mies (1983a, 1983b) und Werlhof (1978) die Kindererziehung und Ernährung der Familienmitglieder in ihren Begriff der Subsistenzproduktion ein und kritisieren zusätzlich eine Übertragung des westlichen Verständnisses von Hausarbeit auf die damals sogenannten Entwicklungsländer, was dort zu Prozessen der »Hausfrauisierung« führe. In der Folge dieser Debatten wurden in der Ethnologie viele Care-Praktiken, wie die genannte Pflege von Kranken, der Unterhalt ›unproduktiver‹ Haushaltsmitglieder sowie die Sorge für Kinder und alte Menschen, aus wirtschaftlichem Blickwinkel diskutiert. Die Thematisierung von Care in der (marxistischen) Wirtschaftsethnologie bleibt auf unbezahlte Tätigkeiten im Haushalt beschränkt. Die gegenseitige 1

In diesen beiden Herangehensweisen und den damit verbundenen politischen Forderungen (Bezahlung bzw. Abschaffen der häuslichen Sorge) deutet sich bereits eine tendenziell unterschiedliche Vorstellung von Gendergleichheit in kontinentaleuropäischen, bzw. angelsächsisch geprägten Publikationen an. Während sich Erstere um eine Gleichstellung weiblicher Sorgetätigkeit bemühen, fordern Letztere eine Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt (Fraser 1997). Damit finden sich die angelsächsischen Feministinnen in deutlicher Nähe zum sozialistischen Ideal der Emanzipation – durch Einbezug von Frauen in den Arbeitsmarkt – wieder. Mit der Umsetzung dieser Präferenzen in konkrete Gleichstellungspolitik kam es daher in der Folge manchmal zu mehr Ähnlichkeit über die Systemgrenze zwischen Sozialismus und Kapitalismus hinweg als zwischen Ländern eines ›Lagers‹ bestand (siehe Thelen 2006a; sowie Abschnitt I.3.2.2).

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Abhängigkeit zwischen außerhäuslicher Wirtschaft und scheinbar privater Reproduktion wurde nur insofern betrachtet, als dass Care im Haushalt die Arbeit in der öffentlichen Sphäre ergänzt. Übergänge und Verschränkungen beider Bereiche, wie etwa durch bezahlte Sorge im Haushalt oder mit Emotionen verbundene Sorge in der Öffentlichkeit, bleiben außerhalb der Betrachtung. Diese eingeschränkte Perspektive ergibt sich direkt aus der Trennung zwischen privaten und öffentlichen Bereichen und den an diesen geknüpften Sozialbeziehungen, wie sie sowohl in der neo-klassischen Ökonomie als auch im Marxismus beibehalten werden. Demnach gehören Liebe und Altruismus in den (weiblichen) Bereich von Familie und Haushalt, bezahlte Tätigkeiten in den männlich dominierten öffentlichen Bereich (England 2005: 393; ähnlich auch bei Haukanes 2007; Zelizer 1997, 2005).2 Die vorherrschende ökonomistische Betrachtungsweise ließ unter anderem die Auswirkungen von Sorge auf die Individuen und ihre emotionalen Aspekte übersehen. Diese Limitierung sollte schon bald von feministischen Autorinnen problematisiert werden, so dass die anfängliche Allianz von Marxismus und Feminismus auf politischer und wissenschaftlicher Ebene nicht lange Bestand hatte. Gerade das Aufzeigen der Komplexität intimer, anscheinend ›privater‹ Erfahrungen und ihrer gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen war ja ein Anliegen feministischer Forschung. In Folge dieser Trennung und des nachfolgenden Bedeutungsverlusts marxistischer Strömungen ist Care aus den ethnologischen Fachdebatten beinah gänzlich verschwunden. Bis heute nimmt das Konzept in der Ethnologie nicht den zentralen Stellenwert ein, den das Thema mittlerweile in anderen Sozialwissenschaften innehat. Care-Praktiken sind zwar zentral für die neuere Verwandtschaftsethnologie, verbleiben aber damit zumeist in diesem als privat geltenden Bereich (siehe unten). In den 1980er Jahren kommt es dann zu einer neuen Konjunktur von Care in feministischen Debatten und gleichzeitig auch zu einem normativen Umschwung. Zwar wird die mangelnde Anerkennung von Care weiterhin kritisiert, aber die Praktiken sowie deren Effekte werden positiv beschrieben. Sorge versteht nun beispielsweise von Graham (1983) als »labour of love« (so auch im Titel des Buches von Finch und Groves 1983). Zentral wird zudem die Überlegung, dass Care ein wichtiges Element im Prozess der Entwicklung weiblicher (im Gegensatz zur männlichen) Identität darstellt:

2

Diese Klassifizierung beeinflusst auch die ethnologische Beschäftigung mit sozialen Beziehungen in (post-)sozialistischen Gesellschaften (siehe im folgenden Kapitel Abschnitt I.3.1.1).

28 | C ARE/SORGE »Caring is ›given‹ to women: it becomes the defining characteristic of their self-identity and their lifework. At the same time, caring is taken away from men: not caring becomes a defining characteristic of manhood.« (Graham 1983: 18)

In westlichen Gesellschaften bestätigt Sorge also Frauen in ihrer weiblichen Rolle und ist somit eingebunden in ihren Lebenslauf. Grahams Analysen boten einen Ausgangspunkt für viele weitere Studien, die die Naturalisierung von Sorge als weibliche Aufgabe untersuchen. So zeichnen etwa sozialhistorische Studien nach, wie sich die Annahme von Care als in der weiblichen »Natur« begründet im Zusammenhang mit Vorstellungen einer Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit im Laufe der Industrialisierung entwickelt hat. Mit der Unterscheidung produktiver (männlicher) Arbeit und (weiblicher) Hausarbeit geht einerseits eine Abwertung häuslicher Sorge einher. Andererseits entwickeln sich innerhalb des entstehenden Bürgertums auch neue Care-Ideale; so kommt es beispielsweise zu einer Aufwertung sentimentaler mütterlicher Sorge. Auch die in der Folge neu entstehenden Institutionen öffentlicher Sorge werden von diesen Vorstellungen durchdrungen (Cancian/Oliker 2000: Kapitel 2). Eine weitere wichtige Forschungsrichtung stellt daher in diesem Zusammenhang die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung dar. Diese untersucht neben Unterschieden in der historischen Entwicklung anerkannter Bedürftigkeit (deservingness) und staatlicher Wohlfahrtsregime unter anderem die rechtliche Institutionalisierung weiblicher Sorge (Esping-Andersen 2003). Nach wie vor ist in westlichen Gesellschaften mit der Naturalisierung von Care als weiblicher Aufgabe eine geringe Wertschätzung vieler dieser Praktiken verbunden. Große Teile der Sorgearbeit sind weiterhin unbezahlt und, wenn sie bezahlt sind, dann vorwiegend in den unteren Lohnsegmenten unter schlechten Arbeitsbedingungen sowie mit einem niedrigen Grad an institutionalisierter sozialer Sicherung (Cancian/Oliker 2000; England 2005). Spätere Autoren sprechen daher im Hinblick auf die hohe intrinsische Motivation trotz geringer Bezahlung der Sorgenden auch von »prisoners of love« (Folbre 2001). Allerdings führte die Fokussierung auf weibliche Care-Praktiken dazu, von Männern erbrachte Sorge systematisch zu unterschätzen und dadurch auch in wohlfahrtsstaatlichen Strukturen auszublenden (Arber/Gilbert 1989).3 Zudem spielen neben der sozialen Konstruktion 3

Durch die Einbettung von Sorge in den Lebenslauf und ihre Verbindung zu hegemonialen Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen, werden Männer vor allem bei der Pflege ihrer Ehefrauen zu häuslichen Sorgenden. Männliche Interviewpartner sehen dabei ihre Care-Praktiken überwiegend als in Liebe begründet, während Frauen dazu neigen, ihre vielschichtigere Sorge als Pflicht zu bezeichnen (Arber/Gilbert

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von Geschlecht auch Hierarchisierungen von sozialer und ethnischer Herkunft eine Rolle, denn es sind hauptsächlich farbige Frauen und Migranten, die bezahlte Sorgetätigkeiten für Angehörige westlicher Eliten ausführen (Graham 1991; siehe auch Cancian/Oliver 2000; England 2005; Tronto 1993: 112-117). In dieser Hinsicht reproduziert und symbolisiert die ungleiche Verteilung von Care soziale Ungleichheit in der Gesellschaft. Eine weitere im Zusammenhang dieser Studie wichtige Kritik an der frühen feministischen Literatur zu Care bezieht sich auf die Lokalisierung und Bewertung von Emotionen in Sorgebeziehungen (Wouters 1989; Steinberg/Figart 1999; Read/Thelen 2007). Graham beschreibt diese als positiv und siedelt sie ausschließlich im Bereich familiärer Sorge an. Care in der Familie ist daher ›besser‹ als institutionelle bzw. bezahlte Sorgearbeit: »[…] substitute services are not ‘care’, since they lack the very qualities of commitment and affection which transform caring-work into a life-work, a job into a duty.« (Graham 1983: 29) In diesem Zitat zeigt sich besonders deutlich, dass die frühe Forschung zu Care in vielerlei Hinsicht zunächst ein Abbild öffentlicher Diskurse war (und zum Teil noch ist). So führt die eingangs erwähnte Annahme, dass familiäre Sorge in westlichen Gesellschaften durch die Moderne gefährdet ist, zu eben jener Sichtweise, die institutionelle Sorge lediglich als (schlechten) Ersatz für verwandtschaftliche Praktiken versteht. Wenn aber Care im Rahmen von Verwandtschaft demnach sowohl wissenschaftlich wie gesellschaftlich als ›erwünscht‹ gilt, tut sich die Frage auf, wie es zu der angenommenen Abnahme familiärer Sorge kommt. So schließt sich an die Unterscheidung in Care und ›schlechter‹ Ersatz eine kontroverse Debatte in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung zu den Auswirkungen staatlicher Bereitstellung von Sorge an. Das eine Lager behauptet dabei, dass als institutionelle Substitute verstandene Leistungen, wie Graham sie anspricht, familiäre Sorge verdrängen (Crowding-out-These). Diese These baut auf dem bereits in der Einleitung thematisierten Bild einer sorgenden Großfamilie auf, die im Zuge der Industrialisierung und dann aber vor allem durch Übernahme von Care durch den Staat verdrängt worden sei. Dieser Position wird wiederum die Crowding-inThese entgegen gesetzt, nach der wohlfahrtsstaatliche Transferleistungen familiäre Sorge teilweise erst ermöglichen (Kohli 1999; Künemund/Rein 1999). Die Verbindung zwischen familiärer Sorge und staatlichen Leistungen ist allerdings weit komplexer, als es diese Thesen vermuten lassen. Ein Beispiel dafür wird 1989; Finch 1989: 27, 40). Zudem zeigen sich Männer in Studien im Gegensatz zu Frauen eher »außenorientiert«, d.h. sie suchen in Situationen belastender häuslicher Sorge schneller und häufiger Hilfe in außerhäuslichen Netzwerken und Institutionen (Chamberlayne/King 2000).

30 | C ARE/SORGE anhand großelterlicher Sorgeleistungen in Kapitel II.2 dargestellt. Zudem kann der Staat zum Teil auch erfolgreich versuchen, verwandtschaftliche Verpflichtungen zu etablieren (siehe Kapitel II.1) oder auch ganz neue Formen von Sorge zu schaffen (Kapitel III.1 und III.2). Um die Bedeutung von Care für soziale Beziehungen in ihrer Gesamtheit erfassen zu können, ist es daher nötig, den Rahmen hegemonialer Diskurse über das, was Care ist bzw. sein soll, also das Abbild vorgestellter familiärer Sorgeleistungen, zu verlassen. In dieser Hinsicht richtet sich ein weiterer kritischer Einwand auf den vielfach angenommenen emotionalen Mehrwert familiärer Sorge. So wiesen diverse Studien entgegen den Thesen von Graham nach, dass familiäre Care-Beziehungen auch von Abneigung bzw. Missbrauch gekennzeichnet sein können (Cancian/Oliker 2000), während dagegen bezahlte Sorge in der öffentlichen Sphäre durchaus Elemente von Liebe und Zuneigung enthalten kann (Karner 1998; siehe auch Qureshi 1990). In der feministischen Literatur zu bezahlter Sorge in privaten Haushalten wird allerdings häufig angenommen, dass diese wegen der ›falschen‹ Gefühle am ›falschen‹ Ort schädlich für die jeweiligen Sorgenden sein könne (so etwa in Hochschild 2000; Lutz 2007). Als Konsequenz plädiert etwa Ungerson (2005; ähnlich Thomas 1993 und Duden 2009) dafür, den emotionalen Anteil von Care eher zweitrangig zu behandeln und sich in der Forschung auf den Arbeitsaspekt zu konzentrieren. Verbunden mit dieser Argumentation feministischer Wissenschaftlerinnen ist, nach wie vor, das politische Ziel, Care als Arbeit sichtbar zu machen und diesen Praktiken in Folge einer gesteigerten gesellschaftlichen Wertschätzung auch bessere Entlohnung und Arbeitsbedingungen zu verschaffen. Interessanterweise kommt die sozialwissenschaftliche Forschung, die von Sorgeempfängern ausgeht, zwar zu einer entgegengesetzten Einschätzung der emotionalen Qualität familiärer Sorge, gleichzeitig aber zu sehr ähnlichen forschungsstrategischen und politischen Forderungen. I.2.1.2 Care als Gabe: Verwandtschaft und Politik Wenn im Gegensatz zum feministischen Blick die Empfänger von Care in den Mittelpunkt der Analyse gestellt werden, ist der Ausgangspunkt meist eine sozial anerkannte Bedürftigkeit. Obwohl die feministische Literatur unter anderem nachgewiesen hat, dass alle Menschen Care empfangen, wird das receiving of care dennoch in der Regel mit Alter oder Gesundheitsstatus verbunden. Sorgeempfänger werden daher in unterschiedliche Gruppen von ›Abhängigen‹, z.B. Kinder, Alte, Kranke sowie Menschen mit Einschränkungen verschiedenster Art,

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eingeteilt. Lange Zeit wurden sie in der Forschung demnach nicht als aktiv Handelnde, sondern als passive Empfänger behandelt. Diese Form der Behandlung des Themas wurde vor allem von Seiten der sozialwissenschaftlichen Forschung über Behinderte und Behinderung in Frage gestellt (Williams 2001). Ähnlich wie in der feministischen Forschung wird auch in der Disability-Forschung betont, dass alle Menschen abhängig von anderen sind (Galvin 2004: 138). Während aber vor allem die feministische Forschung der 1980er Jahre, wie dargestellt, tendenziell die positiven Aspekte familiärer Sorge wie Liebe, Intimität und Reziprozität heraushebt, haben die Vertreter dieser neueren und wesentlich kleineren Forschungsrichtung deutliche Zweifel an der positiven Konnotation von Care angemeldet. Insistiert die feministische Forschung auf die entscheidende Rolle von Care in der Konstruktion ›natürlicher‹ Geschlechterunterschiede, rückt diese Richtung die Naturalisierung von Behinderung durch Sorge in den Vordergrund. Folgerichtig und entgegen der feministischen Fokussierung auf den sozial konstruierten Charakter der Abhängigkeit (sorgender) Frauen und ihren Care-Praktiken als Opfer, wird in der Disability-Forschung die Wahrnehmung von behinderten Menschen als Last und die damit verbundene Exklusion und Marginalisierung der Empfänger von Care in den Vordergrund gerückt. Sorgebeziehungen werden daher vor allem als Machtbeziehungen beschrieben, welche die persönliche Autonomie der Empfänger beschränken, indem die Care-Gebenden die Formen der Sorge definieren. Wood etwa schreibt: »The concept of care seems to many disabled people a toll through which others are able to dominate and manage our lives.« (Wood 1991: 199-200 zitiert nach Williams 2001; ähnlich Morris 1993; Cancian/Oliker 2000: 98-99; Watson/McKie/Hughes/Hopkins/Gregory 2004). Während die feministische Forschung Care in der Familie überwiegend positiv beschrieb und die Bedeutung für weibliche Identitätskonstruktionen hervorhob, wird diese Form unbezahlter Sorge in der Disability-Forschung mit der »Last zur Dankbarkeit« verbunden und als negativ für die Identität der CareEmpfänger angesehen. Galvin (2004) beispielsweise führt aus, dass die Mehrheit ihrer Interviewpartner, die auf Care durch Familienmitglieder angewiesen waren, diese mit Schuld- und Schamgefühlen assoziierten. Sie zitiert einige von ihnen, die von der Verpflichtung zur Dankbarkeit unter anderem als »currency of dependency«, als »bitter payment«, »labor« sprechen oder die Sorgebeziehung als »briar batch« charakterisieren (Galvin 2004: 146). Diese in familiären Sorgebeziehungen lokalisierte und als belastend empfundene Verpflichtung zur Dankbarkeit erinnert deutlich an ethnologische Forschungen zur Gabe. So besteht nach Mauss (1990 [1950]) der Gabentausch aus drei Verpflichtungen: der Verpflichtung zum Geben, der Verpflichtung zum

32 | C ARE/SORGE Nehmen und der Verpflichtung zur Reziprozität. In seinem berühmten Essay betont er, dass es keine »freie Gabe« geben könne und Austausch ein wichtiges Mittel der Statusdemonstration sei. Der Beschenkte fühlt sich in der Schuld des Schenkenden, so dass sich, falls es ihm nicht möglich sein sollte, eine Gabe zeitnah zu erwidern, länger währende Verpflichtungen entwickeln (Seiser 2009: 169). Dieses Argument findet sich auch in der Disability-Forschung zu Care in der Familie. Damit wird die angenommene Bedingungslosigkeit verwandtschaftlicher Unterstützung als »sharing without reckoning« (Fortes 1969: 238) ebenso wie die Annahme einer generalisierten Reziprozität, die keine sofortige Rückzahlung verlangt (Sahlins 1965: 147-149), in Frage gestellt. Die unmittelbar erwartete Gegengabe besteht zwar nicht in einer gleichwertigen Arbeits- oder materiellen Leistung, allerdings im Zeigen der ›adäquaten‹ Gefühle.4 Wird Reziprozität im Rahmen von Verwandtschaft in der sozialwissenschaftlichen Literatur im Sinne einer »World–we-have-lost«-Ideologie (Laslett 1965) häufig idealisiert, so ist der Austausch diverser gegenseitiger Leistungen in ungleichen Beziehungen außerhalb dieser ›privaten‹ Sphäre in der Politischen Anthropologie eher negativ konnotiert. Als Patronagebeziehungen und Klientilismus geltend, werden sie, ähnlich wie in der Wirtschaftsethnologie, nicht mit Begriffen von Care beschrieben. Dies ergibt sich aus der Vorstellung von Politik als ›öffentlichem‹ Bereich. Die in diesem (männlichen) Bereich verorteten Beziehungen gelten als rational und instrumentalisiert im Gegensatz zum (weiblichen) Bereich ›privater‹ und durch Emotionen geprägter Beziehungen.5 Durch einen Fokus auf Care kann diese Klassifizierung überwunden und so neue Perspektiven eröffnet werden, wie unter anderem die folgenden ethnographischen Erkundungen im ›öffentlichem‹ Bereich zeigen. * Ähnlich wie die feministische Forschung zu Care entwickelte sich auch die Disability-Forschung in besonderer Nähe zu sozialen Bewegungen und aktuellen politischen Diskussionen. Dementsprechend wird insbesondere die Konzentration der öffentlichen Debatten auf die Kosten von Care und die damit zusammenhängende Reduktion der Empfänger als passive »Last« kritisiert (Oliver 1990). Gleichzeitig wird hervorgehoben, dass Care-Empfänger häufig gleichzeitig auch Sorgende sind (Williams 2001). Als politischer Ausweg bietet sich 4

Im Rahmen dieser Studie wird die Ambivalenz von Care insbesondere bei der Untersuchung verwandtschaftlicher Bindungen über die ehemalige deutsch-deutsche Grenze (Kapitel II.1) thematisiert.

5

Die Übertragung dieser Klassifizierungen auf den (post-)sozialistischen Raum hat zu spezifischen normativen Deutungen geführt, die den Blick auf mögliche andere Beziehungsqualitäten verstellen (siehe auch das folgende Kapitel I.3.1).

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aus der Perspektive dieser Forschungsrichtung – ähnlich wiederum wie in der feministischen Forschung – die pragmatische Fokussierung auf den materiellen Anteil von Care und die spezifische Forderung nach bezahlter Sorge durch persönliche Assistenten an (Watson/McKie/Hughes/Hopkins/Gregory 2004; Morris 1993; Williams 2001). Ein großer Teil dieser Literatur entsteht Mitte der 1990er Jahre, so dass manche dieser Forderungen auch mit vorherrschenden neo-liberalen Strömungen in Einklang stehen. Jedenfalls finden sie Eingang in verschiedene Reformprojekte, in denen nun zum Begriff des Klienten oder Kunden übergegangen wird, um z.B. die aktive Wahlfreiheit oder auch Bürgerrechte zu betonen (Mol/Moser/Pols 2010:8-10; siehe auch Mol 2008). Andere Projekte führen sogenannte cash-for-care-schemes, also Bezahlung für Care in privaten Haushalten, ein (Hughes/McKie/Hopkins/Watson 2005; Ungerson 2000, 2005).6 Der Verzicht einer Betonung des emotionalen Anteils von Care, wie er sowohl in der feministischen wie der Disability-Forschung gefordert wird, übersieht – wiewohl als politischer Pragmatismus verständlich – zwei Aspekte. Zum einen war es ein Verdienst der Forschung zu Care auf die enge Verwobenheit von Emotionen, Identitätskonstruktionen und staatlicher Politik hingewiesen zu haben. Zum anderen besteht ein beträchtlicher Anteil bezahlter Arbeit, wie Hochschild (2003 [1983]) in ihrer Pionierarbeit zu Flugbegleiterinnen zeigen konnte, in der Produktion von Emotionen. So ist es nicht verwunderlich, dass Studien die als unpersönlich gedachten Sorgebeziehungen der neu eingeführten persönlichen Assistenten zu ihren Klienten schnell als äußerst komplex und emotional dynamisch beschrieben (Karner 1998; Skär/Tamm 2001). Bei der Betrachtung des Beitrags von Care zur Herstellung, Reproduktion und Auflösung bedeutsamer Beziehungen erscheint es daher notwendig, an der Erkenntnis der emotionalen Bedeutung von Sorgepraktiken festzuhalten. Dabei soll jedoch, wie in der Einleitung schon angedeutet, der Blick in mehrerlei Hinsicht erweitert werden. Eine erste Ausweitung betrifft die Bedeutung des emotionalen Anteils von Care. Dieser kann über die durch die Sorgepraktiken adressierten Bedürfnisse hinausgehen und so nicht nur zur Bedeutsamkeit der Bindung, sondern auch der Konstruktion von Zugehörigkeit beitragen. Daher sollte nicht wie bei Hochschild ein Dualismus von ›richtigen unbezahlten‹ Gefühlen im privaten und ›falschen bezahlten‹ Gefühlen im öffentlichen Bereich 6

Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass die Disability-Forschung und -Bewegung in den angelsächsischen Ländern einen deutlich größeren Einfluss als in Deutschland hat. Dies kann auf den höheren Stellenwert des Autonomieideals sowie auf die damit zusammenhängende soziale Konstruktion gesellschaftlicher Teilhabe zurückgeführt werden.

34 | C ARE/SORGE vorausgesetzt werden. Einige der in den folgenden Kapiteln beschriebenen Sorgepraktiken des ›öffentlichen‹ Bereichs tragen beispielsweise in Zeiten beschleunigten Wandels zur Aufrechterhaltung einer ›privaten‹ biographischen Kontinuität bei. An diesem Punkt zeigt sich die Bedeutung von Care auch für die Produktion und Reproduktion von Gemeinschaft. Für diese Ausweitung sind zwei Elemente der Disability-Forschung relevant: zum einen der Zweifel an einer ausschließlich negativen Bewertung bezahlter Sorge sowie der Umstand, dass Care-Empfänger häufig zugleich Sorgende sind. Zum anderen werden nicht nur die Identitätskonstruktionen der Sorgenden, auf welche die feministische Forschung fokussiert ist, sondern auch die Identitätskonstruktionen der Empfänger von Care bestärkt. Diese Bestätigung stellt eine emotionale Qualität von Care dar, die im Gegensatz zu den pejorativen Zuschreibungen der DisabilityForschung auch positiv erlebt werden kann. Gleichzeitig ist die Erkenntnis der feministischen Forschung, dass Care nicht so sehr die Konsequenz einer Beziehung ist, sondern dass Sorge vielmehr – vor allem wenn sie über einen längeren Zeitraum besteht – eine Bindung herstellt, ebenfalls zentral. An diesem Punkt trifft sich die Forschung zu Care mit der neueren Verwandtschaftsethnologie. Als zentrale Elemente in den Prozessen der Herstellung von Verwandtschaft werden in der ethnologischen Literatur das Geben und Teilen von Nahrung hervorgehoben. Schon 1977 weist Marshall auf die Bedeutung des nuturing für die Konstitution von Verwandtschaft hin. Diese Erkenntnis gewinnt neue Popularität in den Arbeiten der 1990er Jahre zur prozessualen Herstellung von Verwandtschaft durch verschiedene Sorgepraktiken. So beschreibt etwa Weismantel (1995) wie die Versorgung von Kindern mit Nahrung Elternschaft etablieren und bestätigen kann. Die Studie von Carsten (1995) zeigt, wie die gemeinsame Nahrungsaufnahme (Kommensalität) nicht nur zur relatedness innerhalb eines Haushalts, sondern darüber hinaus zur Gemeinschaftsbildung beiträgt (für ähnliche Ergebnisse in westafrikanischen Gesellschaften siehe Alber/Häberlein 2011).7 7

Durch das Konzept der Verbundenheit (manchmal auch als Verwandtsein ins Deutsche übersetzt) sollen im Anschluss an die Kritik Schneiders (1968) an den ethnozentrischen Fundamenten der älteren Verwandtschaftsethnologie gerade auch Bindungen außerhalb biologischer oder formaler Konstruktionen erfasst werden. Letztlich konnte jedoch auch relatedness das grundsätzliche Definitionsproblem von Verwandtschaft nicht lösen, da beide Begriffe zunehmend synonym verwendet werden (Holy 1996: 168). Zudem wurde das Konzept unendlich inklusiv, ohne dass die Erkenntnisse aus diesen Diskussionen auf andere Bereiche übertragen werden. Ferner sind durch die Konzentration auf (positive) Prozesse der Herstellung von Verwandtschaft durch Care, die Ambivalenz von Bindungen sowie deren Auflösung aus dem Blick geraten.

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Interessanterweise wurden diese Erkenntnisse über die Bedeutung von Nahrungsversorgung und gemeinsamen Mahlzeiten aus außereuropäischen Kontexten kaum in Bezug auf westliche Gesellschaften thematisiert.8 Trotz der grundsätzlich größeren Bereitschaft in der Ethnologie als in anderen Disziplinen auch auf die wechselseitigen Interdependenzen zwischen Verwandtschaft, Politik und Wirtschaft hinzuweisen, gibt es dennoch eine Tendenz, Gesell-schaften außerhalb Europas eher ein Primat der Verwandtschaft zu unterstellen, während dies für die ›eigene‹ Gesellschaft weniger angenommen wird. Im Verbund mit einer im europäischen Kontext üblichen kognitiven Orientierung auf die Kernfamilie, wird so schnell nicht nur die alltagsweltliche Bedeutung von Care in anderen Bindungen übersehen (Thelen 2010), sondern auch ihre darüber hinausgehende gesellschaftliche Bedeutung. Im Gegensatz zu den genannten Studien aus nicht-westlichen Gesellschaften konzentrieren sich Forschungen zur prozesshaften Herstellung und Reproduktion von Verwandtschaft in Europa und den USA auf Verwandtschaftskonstruktionen, wie sie sich aus der Anwendung neuer Reproduktionstechnologien oder durch neue internationale Adoptionsverfahren und transnationale Familienformen ergeben. Dadurch rücken insbesondere Fragen der Herstellung von Elternschaft durch Care am Anfang des Lebens in das Zentrum der Diskussionen (Franklin/Ragoné 1998; Hayden 1995; Howell 2006; Kahn 2000; Beck/Çil/Hess/ Klotz/Knecht/2007; Ragoné 1994; Strathern 1992). Durch diese Fokussierung auf Prozesse der Herstellung von Verwandtschaft, des kinning oder auch doing kinship, gerieten allerdings die Prozesse der Aufrechterhaltung von Bindungen über den Lebensverlauf sowie diejenigen der Auflösung oder des de-kinning zunehmend aus dem Blickfeld.9 Gleichzeitig führt bei der Untersuchung von ›Anderen‹ eine grenzenlose Ausdehnung des Begriffs von Verwandtschaft ins Leere. Bezeichnend hierfür ist, wie Drotbohm (2009) den Begriff der Verwandtschaft innerhalb eines transnationalen Haushalts so weit ausdehnt, dass schließlich auch eine enge Freundin 8

Eine Ausnahme stellt DeVaults Studie (1991) zu solchen Praktiken aufgrund qualitativer Interviews innerhalb US-amerikanischer Familien dar. Relativ viel Literatur gibt es dagegen zum Essen im Zusammenhang mit ethnischer Identifikation (siehe beispielsweise die verschiedenen Beiträge in Caplan 1997) sowie zu Mahlzeiten in bäuerlichen Haushalten Europas (für einen Überblick siehe etwa Medick/Sabean 1984: 14-15).

9

Nachdem in der Verwandtschaftsethnologie lange vor allem die Herstellung von Verwandtschaft im Mittelpunkt der Untersuchung stand, führt Howell 2006 erstmals analog zu ihrem Begriff des kinning (»Verwandtschaft-Machen«) auch den umgekehrten Prozess des dekinning ein.

36 | C ARE/SORGE des weiblichen Haushaltsvorstands dazu zählt. Die beiden Frauen sind durch emotionalen Beistand und konkrete Hilfen verschiedenster Art – also Care – einander eng verbunden. In ihrer Beschreibung rückt die Autorin aber die Verwandtschaft – die Freundin ist zugleich Taufpatin einer der Töchter der Hauptakteurin – in den Vordergrund, obwohl die Bindung in der ethnographischen Beschreibung weder durch die Akteurinnen so begründet noch die gegenseitige Sorge über diese Patenbeziehung kanalisiert wird. Vielmehr basiert der gegenseitige emotionale Beistand in ihrer Darstellung auf der empfundenen Nähe. Die mit Care verbundene Aufnahme einer ihrer Töchter (nicht die des Patenkindes) in den portugiesischen Haushalt der Freundin hingegen wird mit deren individuellen Vorliebe für das Reisen begründet. In ähnlicher Weise bezeichnet auch Fischer (2010) die durch aktive gegenseitige Sorge gekennzeichneten Bindungen zwischen Arbeitskolleginnen in einer tansanischen Zigarettenfabrik als Verwandtschaft. Die Autorin führt dafür den Begriff der »assistierenden Verwandtschaft« als alternative Form zur Herstellung von Verwandtschaft durch Konsanguinität oder Affinalität ein. Beide Studien zeigen auf überzeugende Weise, wie bedeutsam die Einbeziehung von Care für das Verständnis der Prozesse von Herstellung und Reproduktion bedeutsamer Bindung ist. Allerdings wird nicht deutlich, weshalb die Autorinnen am Begriff der Verwandtschaft als zentraler Kategorie festhalten. Es drängt sich vielmehr der Eindruck auf, dass die Datenerhebung in einer ›fremden‹ Gesellschaft Verwandtschaft als Konzept nahelegt, während eine Darstellung ähnlicher alltagsweltlicher Sorgepraktiken in einem europäischen Kontext nicht zur Zuordnung dieser Bindungen zur Verwandtschaft führen würde. Die Darstellung des ethnographischen Materials in beiden Studien allerdings legt die Eignung von Care als Ausgangspunkt der Analyse nahe, die zu neuen Perspektiven hinsichtlich Klassifikation und Vergleichbarkeit führen könnte. Mit dieser Zielsetzung werden in den folgenden Kapiteln der prozessuale Charakter und die Bedeutung alltäglicher Praktiken – wie etwa der Versorgung mit Essen und Kommensalität – aus der neueren Verwandtschaftsethnologie aufgegriffen, aber auch erweitert. Bereits 2001 plädiert John Borneman in einem Aufsatz für Care als Ausgangspunkt der Analyse. Er bleibt allerdings in seinen Fallbeispielen bei der Herstellung von rechtlich anerkannter Verwandtschaft. So beschreibt er den schwierigen Prozess der Adoption eines erwachsenen Mannes durch seinen Lebenspartner, der dann auch Care in Form von Vererbung ermöglicht sowie eine Serie von »Scheinehen«, die das Zusammenleben eines lesbischen Paares und das Verlassen der DDR erlauben. Mit diesen Beispielen argumentiert Borneman gegen die Fokussierung (und die damit verbundene Heteronormativität) verwandtschaftsethnologischer Diskussionen auf Fragen der

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Abstammung und der Allianz. Dagegen setzt er Care als positiven Gegensatz, der zur freiwilligen Herstellung von Bindung aus dem menschlichen Bedürfnis für andere zu sorgen dient. Zum Teil ist die politische Diskussion solchen Vorschlägen bereits gefolgt, indem zunehmend gleichgeschlechtliche Lebensformen anerkannt werden und gefordert wird, Familie nicht mehr anhand rechtlicher Allianzen, sondern dort zu sehen, »wo Kinder sind«. Auch ich möchte diesem Vorschlag teilweise folgen, ihn aber aus dem Rahmen einer grundsätzlich positiven Bewertung lösen. Auch die Beschränkung auf Verwandtschaft soll überwunden werden, um so den Begriff allgemein auf die Untersuchung der Herstellung, Reproduktion und eben auch die häufig übersehene Auflösung bedeutsamer Bindungen anwendbar zu machen. Letztlich kann nur auf diese Art und Weise eine neue Klassifikation entstehen, die Verwandtschaft als eine mögliche lokale Konstruktion biologischer Verbundenheit akzeptiert, gleichzeitig aber neue Einsichten ermöglicht. Im Folgenden soll daher eine Arbeitsdefinition vorgestellt werden, die zur Überwindung einer Konzentration entweder auf Empfangende oder Gebende von Care bei gleichzeitiger Herauslösung von Sorge aus dem ›privaten‹ Bereich von Familie und Verwandtschaft beitragen kann.

I.2.2 C ARE :

EINE

ARBEITSDEFINITION

Aus der dargestellten bisherigen wissenschaftlichen Beschäftigung mit Sorge ist bisher keine eindeutige und ausreichende Definition hervorgegangen. Die pragmatischen Vorschläge der Eingrenzung auf bestimmte Arbeitsleistungen erleichtern zwar die Umsetzung in politische Programme, allerdings gehen dabei wichtige Einsichten verloren. Andere Autorinnen, wie etwa die Soziologinnen Cancian und Oliker, versuchen daher, sowohl den physischen wie auch emotionalen Qualitäten von Care Rechnung zu tragen. Sie definieren Care als »feelings of affection and responsibility combined with actions that provide responsively for an individual’s personal needs or well-being, in a face-to-face relationship« (2000: 2).

In dieser Definition stehen die affektiven Gefühle im Vordergrund, die zu verantwortlichem Handeln in direkten Beziehungen führen. Mit ähnlicher Zielrichtung versucht die Politologin Tronto durch den Einbezug der Motivation der Handelnden eine gleichzeitige Ausweitung und Eingrenzung von Care vorzunehmen, indem sie auf der Basis ihrer Zusammenarbeit Fisher folgende Definition vorschlägt:

38 | C ARE/SORGE »[W]e suggest that caring be viewed as a species of activity that includes everything that we do to maintain, continue, and repair our ›world‹ so that we can live in it as well as possible. That world includes our bodies, and our environment, all of which we seek to interweave in a complex, life-sustaining web.« (Tronto 1993: 103; siehe auch: Fisher/Tronto 1991: 40, Hervorhebung im Original)

Für unseren Zusammenhang besteht der Vorteil dieser Definition darin, dass Sorge nicht mehr an bestimmte Problemlagen oder Aktivitäten gebunden ist.10 Im Weiteren arbeitet Tronto (1993: 105-108) ein Vierphasenmodell von Care aus. Die einzelnen Phasen bezeichnet sie als caring about, taking care of, care giving und care receiving. Die erste Prozessphase des caring about umfasst zunächst die Anerkennung eines Bedürfnisses sowie die Einsicht, dass dieses befriedigt werden sollte. Diese Anerkennung kann sowohl auf gesellschaftlicher wie individueller Ebene angesiedelt werden. Taking care of als nächster Schritt des Sorgeprozesses bedeutet, die Verantwortung für das erkannte Bedürfnis zu übernehmen und festzulegen, was getan werden sollte. Care giving ist die direkte Handlung, die oft physischer Art und fast immer in Kontakt mit dem Empfänger erfolgt. In der letzten Phase des care receiving reagiert der Empfänger auf die Sorgepraxis. Die beiden ersten Schritte sind nach Tronto (1993) eher bei mächtigen und (daher) männlichen Akteuren angesiedelt. Das eindrücklichste Beispiel für taking care of stellt das sogenannte männliche Ernährermodell dar, nach dem ein Mann durch seine Erwerbstätigkeit für seine Familie sorgt, indem er das Geld zur Verfügung stellt, mit dem seine Frau konkretes care giving für die gemeinsamen Kinder, aber auch etwa für seine Eltern, ausüben kann (zum Ernährermodell siehe auch Cancian/Oliker 2000; Finch 1989).11 Hinsichtlich der Unterschiede in der sozialen Position von Sorgenden sowie mit Blick auf die unterschiedlichen Sorgepraktiken stellt dieses Modell eine wichtige Weiterentwicklung der feministischen Forschung dar. Auch die Loslösung von Care aus bestimmten Handlungszusammenhängen oder Beziehungstypen ist ein Fortschritt. Dennoch sind speziell mit dieser Definition auch Probleme verbunden.

10 Tronto selbst geht es mit der Entwicklung ihrer Sorgeethik vor allem um eine Zurückweisung anderer Traditionen, speziell einer Ethik der Gerechtigkeit; sie stellt den Prozess der Aushandlung lokaler Lösungen über universelle Prinzipien (siehe dazu auch Mol/Moser/Pols 2010: 13). 11 Mit dieser Form des taking care of wiederum hängt die Anerkennung – das caring about – einer generellen Bedürftigkeit von Witwen zusammen, die unabhängig von ihren Vermögensverhältnissen in vielen staatlichen Regulationen und Leistungen institutionalisiert ist (Benda-Beckmann 1994: 11-12).

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Ein Problem liegt darin, Care aus dyadischen Mensch-Mensch-Beziehungen zu lösen, indem nun das Konzept auch die Sorge für die Umwelt einbezieht, was letztlich Care in ein relativ beliebiges Handlungsfeld verwandelt (ähnlich argumentiert auch Fine 2007). Zudem bleibt Sorge nicht nur – wie zuvor schon bei Graham, Borneman und in der Definition von Cancian und Oliker – grundsätzlich positiv bewertet, sondern muss nun auch von den Akteuren so beabsichtigt sein. Diese Verlagerung des emotionalen Anteils von Care auf die Handlungsmotivation ist problematisch. Aufgrund der oben bereits diskutierten Einbettung von Care in soziale Konstruktionen von Gender und in politischwirtschaftliche Bedingungen wird eben nicht jede Sorgeleistung freiwillig oder gar ›mit guten Gefühlen‹ vollzogen. Gerade viele bezahlte Sorgetätigkeiten werden ausgeführt, um Geld zu verdienen, und nicht, um die Welt zu verbessern. Gleichzeitig wird familiäre Sorge, wie schon erwähnt, häufig als unfreiwillige Verpflichtung erlebt. Auf der anderen Seite mag zwar die Motivation egoistisch sein, das Ergebnis kann aber durchaus eine positive Erfahrung auf der Empfängerseite zur Folge haben. Schließlich bleiben der Beitrag der Empfänger sowohl bei Tronto als auch bei Cancian und Oliker unklar. Insbesondere die Konstruktion von Bedürftigkeit (und der Anteil der Empfänger daran) erscheinen als unhinterfragt, ebenso wie die übergeordneten Strukturen in die Care-Beziehungen eingebettet sind. Zum anderen ist deutlich erkennbar, dass es den Autorinnen ein Anliegen ist, das Konzept als politischen Begriff zu erhalten. Insbesondere Tronto möchte soziale Bewegungen wie den ökologischen Feminismus in ihre Definition von Care einbeziehen können. Hier zeigt sich ein weiteres Problem der CareDebatten für die ethnologische Adaption. Care als Teil hegemonialer Genderkonstruktionen und Konstruktion von Behinderung wurde überwiegend im Zuge einer Kritik an westlichen Gesellschaften diskutiert. Aus dem Blickfeld geriet so der allgemeine Anteil von Care in der Konstruktion und Reproduktion bedeutsamer Bindungen als Teil des Umgangs mit Unsicherheit und Wandel. Eine Einordnung von Sorge in den größeren Rahmen sozialer Sicherung erlaubt die nötige Erweiterung der Perspektive. Unter dem Begriff der sozialen Sicherung werden in der ethnologischen Literatur zum Teil ähnliche oder benachbarte Themenfelder wie unter dem Stichwort Care diskutiert. Vor allem im Kontext diverser Entwicklungsdebatten in den 1970er und 1980er Jahren geriet dadurch die Begrenzung des Konzepts auf staatlich organisierte Gesundheits-, Renten- und Arbeitslosenversicherungen zunehmend in die Kritik (Ahmad/Drèze/Hills/Sen 1991; v. Benda-Beckmann/v. Benda-Beckmann/Casino/Hirtz/Woodman/Zacher 1988; Leliveld 2000 [1994]; Midgley 1984; Partsch 1983). Auf Länder der damals noch sogenannten Dritten

40 | C ARE/SORGE Welt, in denen staatliche bzw. staatlich organisierte Leistungen nur kleine Teile der Bevölkerungen erreichten, lasse es sich nicht übertragen (v. Benda-Beckmann 2005). Zur gleichen Zeit wurde aber auch die Vielschichtigkeit sozialer Sicherung in den westlichen Wohlfahrtsstaaten erkannt, was sich unter anderem an den zu dieser Zeit neu etablierten Begriffen wie welfare pluralism oder welfare mix (Johnson 1987; Zacher 1988) ablesen lässt. Im Ergebnis wird die bis dahin begrenzte Perspektive auf soziale Sicherung um Institutionen wie Nachbarschaft oder Gemeinschaft (community) erweitert, die zu sozialer Sicherung beitragen, ohne dass dies ihre explizite lokale Bedeutungszuschreibung wäre. Allerdings bleibt selbst bei einer Einbeziehung sogenannter traditioneller oder informeller Institutionen in das Konzept sozialer Sicherung die Dichotomie zwischen modern und traditionell bzw. formell und informell erhalten. Aufbauend auf dieser Kritik an institutionalistischen Ansätzen definieren Franz und Keebet von Benda-Beckmann (1994: 14) soziale Sicherung als »dimension of social organisation dealing with the provision of security not considered to be an exclusive matter of individual responsibility«.

Ausgehend von dieser Definition schlagen sie vor, soziale Sicherung in fünf Schichten zu analysieren. Als erste, »ideologische« Schicht bezeichnen sie Vorstellungen und Ideale über Unsicherheit, Vulnerabilität und Sorgeverantwortung. Die zweite Schicht bilden die Leistungen, die institutionell zur Verfügung gestellt werden (provisions). Diese sind oft durch staatliches Recht geregelt und meist restriktiver als die allgemeinen Vorstellungen der ersten Schicht. Diese beiden – in der Terminologie der Autoren – ersten layers überschneiden sich grob mit den ersten beiden Phasen des caring about (Anerkennung von Problem und Verantwortlichkeit) und des taking care of (konkrete Verantwortungszuweisung) von Tronto. Die Beziehungen zwischen Empfangenden und Gebenden, letztlich also die Sorgebeziehungen, konstituieren die dritte Schicht. Die Praktiken sozialer Sicherung, die man auch als das Geben von Care im Sinne Trontos auffassen kann, werden von ihnen als vierte Schicht bezeichnet. Die fünfte und letzte Schicht schließlich besteht aus den sozialen und ökonomischen Konsequenzen dieser Praktiken. Ähnlich wie in der feministischen Literatur zu Care werden also auch in der ethnologischen Debatte um soziale Sicherung simplifizierende Unterscheidungen in öffentlich/privat, bzw. staatlich/nicht-staatlich kritisiert. Wichtig an dem hier vorgestellten Konzept sozialer Sicherung ist die Verbindung der Sorgepraktiken und -beziehungen zu sozial konstruierten Vorstellungen über Unsicherheit und Bedürftigkeit sowie das Augenmerk auf deren institutionelle Im-

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plementierung. In diesem Sinne verstehe ich, aufbauend auf meinen früheren Überlegungen mit Rosie Read (Read/Thelen 2007), Care/Sorge als einen Prozess, der als Dimension sozialer Sicherung eine gebende und eine nehmende Seite in solchen Praktiken verbindet, die sich auf die Befriedigung sozial anerkannter Bedürfnisse richten.

Diese Definition behält den prozessualen Charakter von Care bei, wie ihn Tronto herausgearbeitet hat, verortet Sorge aber weiterhin in dyadischen Beziehungen. Dabei lenkt das Konzept den Blick auf die Verbundenheit von Menschen durch Sorgepraktiken, ohne den Ausgangspunkt zwangsläufig allein bei der gebenden Seite zu setzen. Es sind somit die Care-Praktiken und nicht die Beziehungskategorien wie Verwandtschaft oder Freundschaft, die der Analyse als Ausgangspunkt dienen. Im ersten Schritt ermöglicht es diese Herangehensweise, Care auch dort ernst zu nehmen, wo sie von Interaktionspartnern beschrieben wird, aber nicht in die etablierten Klassifikationsschemata passt, also mithin die lokalen Bedeutungszuschreibungen sichtbar zu machen. Nichtsdestotrotz stimmen die lokalen Interpretationen nicht zwangsläufig mit der vorgeschlagenen geschichteten Vorgehensweise überein. Wenn etwa Care Teil der sozialen Konstruktion von Verwandtschaft und Freundschaft ist, werden viele familiär eingebettete Sorgepraktiken von den Akteuren als ›natürlich‹ oder ›individuell‹ und nicht als durch öffentliche Institutionen strukturiert angesehen. Dagegen werden viele Formen von Care in Institutionen nicht als solche wahrgenommen, weil im deutschen Sprachgebrauch, wie schon erwähnt, Sorge sehr eingeschränkt allein für bestimmte familiäre Problemsituationen verwendet wird. Das bedeutet, dass auch Bindungen in die Analyse einbezogen werden müssen, die durch Care hergestellt und reproduziert werden, aber ihrer kognitive Orientierung auf familiäre Sorge oder spezifische Genderkonstruktionen nicht verbalisiert werden können (siehe auch Thelen 2010b). Die Einbettung von Care in soziale Sicherung ermöglicht es im zweiten Schritt, trotz des praxeologischen Zugangs, historisch gewachsene institutionelle Gefüge und rechtliche Regelungen in die Analyse mit einzubeziehen ohne einer postmodernen Beliebigkeit zu verfallen. In einer solchen zweistufigen Analyse können die alltäglichen Praktiken mit der Wirkungsmacht der verfestigten Wertvorstellungen – im Foucault‘schen Sinne Dispositiven – verbunden werden. Erst auf diese Weise ist es auch möglich, Veränderungen und Überlappungen verschiedener Vorstellungen und Versionen der Dichotomie zwischen öffentlich und privat sowie die Übergänge öffentlicher in private Beziehungen und umge-

42 | C ARE/SORGE kehrt sichtbar gemacht (siehe auch Read/Thelen 2007) und damit gleichzeitig die über die konkrete Sorgebeziehung hinaus gehende Bedeutung von Care zu erfassen.

I.2.3 C ARE :

TEMPORALE

E INBETTUNG

Die Interdependenzen und Überschneidungen zwischen anscheinend öffentlichen und privaten Sorgepraktiken und -beziehungen sowie deren emotionale Qualität sind eingebettet in den individuellen Lebensverlauf. Vorstellungen und Ideale über Sorge, d.h. die ideologische Schicht oder auch das Sorgen um (caring about) bestimmte Probleme und Akteure, entstehen im Laufe des Lebens von Individuen. Zudem basieren viele Sorgepraktiken auf erlebter oder erwarteter Reziprozität. Daher muss die Temporalität von Care in die Analyse der Dynamik um Entstehung, Reproduktion und Auflösung bedeutsamer Bindungen einbezogen werden. Anhand eines Vergleichs zwischen japanischen und US-amerikanischen Senioren stellt beispielsweise Hashimoto (1996) dar, wie Normen und Werte bezüglich des Alters, aber auch hinsichtlich der zu erwartenden Bedürftigkeit die Bereitstellung familiärer Sorge beeinflussen. Die beiden unterschiedlichen Herangehensweisen an Bedürftigkeit im Alter in den USA und in Japan nennt Hashimoto den »contingency approach« bzw. den »protective approach«. Die Autorin analysiert verschiedene kulturelle Annahmen, auf denen diese Unterschiede beruhen sowie die unterschiedlichen Care-Netzwerke von Senioren in beiden Ländern. In Japan, so Hashimoto, folge aus der Erwartung, dass das steigende Alter unweigerlich bedürftig mache, der »beschützende Ansatz«. Demnach werde Care auch dann gegeben, wenn noch kein konkretes Bedürfnis erkennbar sei. Die persönlichen Netzwerke der alten Menschen in Japan seien klein und beruhten vor allem auf intergenerationellen Arrangements.12 Im Gegensatz zu diesem »will-need-script«, wie sie es nennt, folgten die Amerika-

12 Obwohl Hashimoto simplifizierende Kategorien, wie etwa »asiatische« oder »konfuzianische« Werte, vermeidet, drängt sich doch der Eindruck auf, dass sie die Pflichterfüllung der Kinder (filial piety) möglicherweise überbetont. Darauf deuten etwa die Einführung einer Pflegeversicherung nach dem deutschen Modell sowie die daran geknüpften Erwartungen an lokale Pflegeorganisationen hin (zur Einführung der Pflegeversicherung in Japan siehe Shimada/Tagsold 2006). Allerdings weist Hashimoto auch auf Probleme hin, wenn z.B. Reziprozitätsnormen nicht mehr strukturell (etwa durch Vererbung) gestützt werden.

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ner einem »might-need-script«. Letzteres setzt Selbständigkeit bis zu einem »kritischen« Punkt voraus. Als generelles Muster vertrauten die älteren Menschen hinsichtlich emotionaler und physischer Bedürfnisse auf ihr persönliches Netzwerk, hinsichtlich finanzieller Sicherheit auf ihre Renten. Dieses Muster, von Hashimoto »diffuse Sicherheit« genannt, kann, wie die Autorin betont, durch die darin verankerte Romantisierung der Unabhängigkeit genauso »teuer« sein wie eine Romantisierung der Verpflichtungen der Kinder gegenüber den Eltern. Dies gilt vor allem dann, wenn Bedürfnisse wegen eines hegemonialen Autonomiedeals zwischen den Generationen nicht geäußert werden können. Neben solchen möglicherweise kulturellen und nationalen Unterschieden konstituieren sich auch Genderunterschiede innerhalb einer Gesellschaft. Weibliche und männliche Sorgeverpflichtungen, -praktiken und -beziehungen, wie sie in der feministischen Forschung zu Care als labour of love thematisiert wurden, konstituieren sich in der jeweiligen Biographie. So zeigt etwa die Sozialhistorikerin Hareven (1982), wie Töchter von ihren Eltern im amerikanischen Kontext direkt zur zukünftigen Sorgenden auserkoren wurden. Sie arbeitet aber auch heraus, wie Erwartungen künftiger Risiken, die sozialen Konstruktionen von Bedürfnissen und die Normen gegenseitiger Hilfe zwischen Kohorten variieren, die ähnliche Erfahrungen zu einem ähnlichen Zeitpunkt in ihrem Leben gemacht haben (zu ähnlichen Kohortenunterschieden bei Migranten in den Niederlanden siehe auch Benda-Beckmann 1994). In den folgenden empirischen Kapiteln wird dementsprechend ausführlich herausgearbeitet, wie die Temporalität von Sorge sowie ihre Einbettung in historische Umstände und demographische Entwicklungen gerade erst im Blick auf den gesamten Lebenslauf von Akteuren zum Ausdruck kommt. Die Hegemonie bestimmter Sorgenormen bedeutet nicht zwangsläufig ihre universelle Akzeptanz. Im Gegenteil zeigen sozialhistorische und ethnographische Studien die Aushandlungsprozesse um Bedürftigkeit sowie der auf sie gerichteten Sorgepraktiken in konkreten Beziehungen. Dies gilt für Verhandlungen unter Familienmitgliedern (Finch 1989; Finch/Mason 1993) ebenso wie in Relationen zwischen Klienten und staatlichen Angestellten (de Konig 1988; Dubois 2010; Haney 2002; Howe 1990). Gleichzeitig dienen Konzepte der Bedürftigkeit immer auch partikularen politischen oder institutionellen Interessen, denn sowohl in individuellen wie gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen wird der Zugang zu Ressourcen, die Care ermöglichen, verhandelt (Risseuw/ Ganesh/Palriwala 2005: 4-5; Katz 1989; Lipsky 1980; Marcus 2006, Ticktin 2011). In der Folge werden die Sorgepraktiken an sich verändernde Vorstellungen über Unsicherheit und Verantwortung angepasst (Standing 1996; siehe auch Thelen 2005a, 2006b).

44 | C ARE/SORGE Dominante Vorstellungen von Bedürftigkeit beeinflussen auch die Zukunftserwartungen an Care und dadurch gegenwärtige Praktiken, die an diesen Erwartungen ausgerichtet sind (Hashimoto 1996; Benda-Beckmann 1994). Eine Analyse von Care muss also auch die Zukunftserwartungen der Akteure sowie ihre Erwartungen an das Handeln anderer einschließen. Diese Erwartungen beruhen auf den bereits gemachten eigenen Erfahrungen oder auf der Beobachtung vom Handeln Dritter im Verlauf des eigenen Lebens. Aus den Erfahrungen und Beobachtungen von Care werden wiederum Zukunftserwartungen an Sorge abgeleitet, die Vertrauen in bestimmte Beziehungen und eine Vertrautheit mit bestimmten Situationen voraussetzen.13 Vertrauen und Vertrautheit schlagen also gewissermaßen die Brücke zwischen vergangenen Erfahrungen, gegenwärtig wahrgenommenen Risiken und Erwartungen an eine kontingente Zukunft (in Bezug zu Netzwerken siehe auch Holzer 2006). Gerade solche Erwartungen an das Handeln anderer und das Vertrauen in sie werden in Zeiten der Krise oder des beschleunigten gesellschaftlichen Wandels deutlich, wenn sie neu und häufig explizit verhandelt werden müssen. Solche Zeiten fundamentalen sozialen Wandels oder tiefgreifender Zerrüttungen können Care-Praktiken und -Normen prekär und manchmal dysfunktional werden lassen. In schwerwiegenden Fällen stellen sie eine Herausforderung an die individuelle Fähigkeit dar, eine bedeutsame Biographie zu konstruieren (Skultans 1998). In solchen Situationen unternehmen Menschen große Anstrengungen, um eine gewisse Stabilität aufrechtzuerhalten oder wiederzuerlangen. Diese Umbruchzeiten sind also geeignet, um Prozesse der Herstellung, Reproduktion und Auflösung bedeutsamer Bindungen durch Care zu untersuchen. Der Prozess der deutschen Vereinigung stellt eine solche Phase dar, in der zahlreiche der Erwartungen von Bürger der ehemaligen DDR ihre ehemals sinnvolle Einbettung verloren. Dies zeigt sich insbesondere an Verlagerungsprozessen von Care-Erwartungen und -Praktiken und macht die neuen Bundesländer zu einem besonders fruchtbaren Forschungsfeld. Bevor einige der grundlegenden Veränderungen für Sorge in Ostdeutschland dargestellt werden, zunächst ein Blick auf die konkreten ›Schauplätze‹ und das Vorgehen im Feld.

13 Zu den Begriffen Vertrauen und Vertrautheit siehe Luhmann 1988.

I.3. Kontext und Vorgehen

Ausgehend von der bisher vorgenommenen thematischen Bestimmung des Feldes beschäftigen sich die beiden folgenden Kapitel mit der Kontextualisierung und empirischen Umsetzung der theoretischen Grundlegung. Wird nicht davon ausgegangen, dass die Form von Sorge durch bedeutsame Bindungen bestimmt ist, sondern dass umgekehrt durch Care Bindungen entstehen – wie lassen sich dann diese Prozesse der Herstellung, Reproduktion und Auflösung bedeutsamer Bindung durch Care jenseits der etablierten Klassifikationen untersuchen? Wie lassen sich also Sorgebeziehungen auch dort aufspüren, wo sie durch die etablierten Beziehungsklassifikationen verdeckt werden? Wie können also Serendipity-Effekte – die Erkennung des bisher Ungesehenen – in der Forschung, wenn schon nicht geplant, so doch wahrscheinlicher werden? Diese Fragen machen eine multiperspektivische und multilokale Annäherung von verschiedenen Beobachtungsschwerpunkten sowie eine Analyse der bisherigen Debatten im Blick auf die lokale Verortung der Forschung notwendig. Eine wichtige Rolle spielt die schon einleitend erwähnte Verortung der Forschung in den neuen Bundesländern. So spielte das Gebiet der ehemaligen DDR eine besondere Rolle in der Konstruktion der Ost-West-Grenze, was sich auf die wissenschaftliche Behandlung sozialer Beziehungen aber auch auf die Selbstwahrnehmung der Akteure sowie ihre Interpretationen der gesellschaftlichen Veränderungen nach der deutschen Vereinigung auswirkte. Viele dieser Interpretationen nehmen eine Abgrenzung und Selbstvergewisserung der ›eigenen‹ ostdeutschen Identität gegenüber derjenigen aus den alten Bundesländern anhand von Care vor. Zudem wird der Bezug auf Erfahrungen in der sozialistischen Vergangenheit genutzt, um Sorgepraktiken unter neuen Umständen zu begründen. Die folgende Kontextualisierung beginnt daher mit einem Überblick über die Kontrastfolie der regionalen wissenschaft-lichen Debatten bezüglich des (Post)Sozialismus und dessen Auswirkungen auf soziale Beziehungen. Danach erfolgt eine Beschreibung des Vorgehens in der Feldforschung

46 | C ARE/SORGE sowie Einführung in die lokalen Bedingungen und Diskurse zu Care als Grundstein für die folgenden ethnographischen Erkundungen der Teile II und III.

I.3.1 R EGIONALE D EBATTEN , V ORGEHEN , P ERSONEN Orte ethnologischer Feldforschung können nicht (mehr) als ›natürlich‹ abgegrenzte Einheiten vorgestellt werden. Sie sind vielmehr stets in globale Entwicklungen und regionale Debatten eingebunden (Gupta 1995; Marcus 1995; Gupta/Ferguson 1997). Daher können zusätzlich zu den bereits dargelegten Erschwernissen durch etablierte Konstruktionen sozialer Beziehungen weitere zeitliche wie diskursive Zusammenhänge eine Aufdeckung der übergreifenden Bedeutung von Care/Sorge erschweren bzw. erleichtern. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Erforschung von Care in Zeiten beschleunigten Wandels besonders fruchtbar ist, da solche Phasen spezielle Herausforderungen an sonst häufig unausgesprochene Care-Praktiken und Erwartungen an Sorgebeziehungen darstellen. In diesem Sinne kann die Transformation in den neuen Bundesländern als geeigneter Forschungsrahmen angesehen werden. Der Institutionentransfer von West nach Ost begünstigte eine Forschungssituation, die Einblicke in die Bedeutung von Care für die Konstruktion, Reproduktion sowie Auflösung bedeutsamer Bindungen ermöglicht. Bedingt durch die Veränderung (oft den Verlust) der vorher sinnvollen Einbettung der Erwartungen an Care in bestimmten Beziehungen und Institutionen, mussten diese neu verhandelt werden. Der gesellschaftliche Umbruch spiegelt sich in wissenschaftlichen wie öffentlichen Debatten, die unter anderem Selbst- wie Fremdzuschreibungen behandeln. Dies wirkt sich erschwerend und förderlich zugleich auf die Erforschung von Care aus. Einerseits wird im Umfeld der politischen und wirtschaftlichen Transformation die Ost-West-Differenz zu einer Ressource in der Aushandlung normativer Vorstellungen über Care – ein Prozess, der über diese explizite Thematisierung den Zugang zum Feld erleichtert. Andererseits hat die wissenschaftliche Diskussion über soziale Bindungen in und nach dem Sozialismus eine ebenso ungewöhnlich ökonomistische wie normative Komponente, die es wiederum erschwert, Care zu entdecken. Daher erfolgt an dieser Stelle zunächst eine Einbettung des thematischen Feldes in relevante Fachdebatten zum (Post)Sozialismus, bei der die ambivalente Konstruktion des (post)sozialistischen ›Anderen‹ zwischen ›eigen‹ und ›fremd‹ aufgezeigt wird (Thelen 2011). Erst eine Bewusstwerdung dieser Konstruktionen eröffnet die Möglichkeit, Care/ Sorge auch in unerwarteten Bindungen aufzuspüren.

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Ziel ist durch die Offenlegung, bisherige Limitierungen zu überwinden und so die Entdeckung von Care auch an unerwarteten Orten zu ermöglichen. Derselben Zielsetzung ist die anschließende Verortung der Forschung in verschiedenen Beobachtungsschwerpunkten geschuldet. Letztere wurden ausgewählt sowohl aus Bereichen, die als öffentlich gelten als auch aus solchen, die als privat definiert werden. Ebenso soll das multiperspektivische Vorgehen eine Vielfalt an Zugängen zu unterschiedlichen Care-Praktiken eröffnen und damit die einleitend dargestellte perspektivische Engführung auf Situationen erhöhten Pflegebedarfs umgehen. Abschließend werden einige der Hauptprotagonisten der folgenden Kapitel in ihrer Einbettung in unterschiedliche Sorgebeziehungen vorgestellt und es wird auf die Positionierung der Forscherin im Feld eingegangen. Im spannungsvollen Bereich diskursiver Abgrenzungen zwischen Ost- und West-Deutschen führten als von Akteuren im Feld als ›richtig‹ wahrgenommene Care-Praktiken der Ethnologin zu Momenten der Inklusion, des Vertrauens und der Offenheit in der Forschung. Die hier schon deutlich werdende Bedeutung und Aufteilung von Care in der Familie und zwischen den Geschlechtern als identifikatorischer Bezug wird im letzten Teil dieses Kapitels ausführlich behandelt. I.3.1.1 (Post)sozialistische Bindungen in regionalen Debatten Aus der Perspektive einer Wissenschaft, die ihren Gegenstand lange Zeit durch geographische Entfernung definierte, erschienen die Länder Zentral- und Osteuropas aufgrund ihrer »mangelnden« Exotik lange uninteressant.1 Nach dem

1

Weitaus beliebter als Forschungsregionen waren der mediterrane Raum (Kürti/Skalník 2009) sowie die Länder des Balkans, deren Imagination als exotische Räume sie schon lange zum ›Anderen‹ innerhalb Europas macht (Todorova 1997; Bakic-Hayden 1995). Auf die in den 1990er Jahre stattfindenden Prozesse der Um- bzw. Neudefinition geographischer Räume innerhalb der ›postsozialistischen Region‹ – etwa von Osteuropa in Zentral- und Südosteuropa – kann hier nicht näher eingegangen werden (siehe z.B. Prodromou 1996). Neben dem mangelnden disziplinären Interesse an einer Ethnologie der Länder Zentral- und Osteuropas trug auch die relative Geschlossenheit der sozialistischen Staaten dazu bei, dass auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht sonderlich viele ethnologische Arbeiten zu diesen Ländern entstanden. Dennoch gab es bestimmte sozialistische Länder und Zeiten politischer Entspannung, in denen auch eine lange Feldforschung vor Ort möglich war (siehe auch Roth 2005b). Zu diesen Ländern zählten Rumänien und Ungarn, so dass sich viele der ethnologischen Kenntnisse zum Sozialismus vor allem aus Forschungen in diesen Ländern speisen. Zum

48 | C ARE/SORGE zweiten Weltkrieg lieferte allerdings die sozialistische Wirklichkeit in den betroffenen Ländern eine Grundlage für die Vorstellung einer zumindest partiellen ›Andersheit‹.2 Entlang der politischen Systemgrenze kam es in den westlichen Sozialwissenschaften zu einer ambivalenten Konstruktion des sozialistischen ›Anderen‹.3 Demnach waren die Bevölkerungen sozialistischer Staaten in Europa im Prinzip mit den ›gleichen‹ Denkmustern und Handlungsmotiven wie jene des Westens ausgestattet, aber dazu verurteilt, unter den ineffizienten ›falschen‹ Institutionen des Sozialismus zu leben. Diese ambivalente Konstruktion des sozialistischen ›Anderen‹ ließ auch die Verwendung wirtschaftswissenschaftlicher Einsichten naheliegender erscheinen, als in Gesellschaften, denen – aufgrund ihrer geographischen Ferne – eine stärkere Fremdheit zugeschrieben wurde. So konnte in der Ethnologie, die sonst solchen Analysen meist kritisch gegenüber steht, eine spezielle ökonomische Interpretation des Sozialismus dominant werden (Thelen 2011 und 2010b). Grundlegend waren dafür die Arbeiten des in Yale lehrenden Ökonomen Janos Kornai (1992) zur sozialistischen Mangelwirtschaft.4 Wie die meisten Ökonomen geht Kornai in seiner Analyse von der grundlegenden Bedeutung des Eigentums für wirtschaftlichen Erfolg sowie von rational handelnden Akteuren aus. Die aus dieser Sicht unzulänglich geregelten Eigentumsbeziehungen in den Gebiet der ehemaligen DDR entstanden erst seit Ende der 1980er Jahre ethnologische Berichte von »außen« (Rueschemeyer 1988; Baer 1998). 2

Die frühen von westlichen Ethnologen in sozialistischen Ländern unternommenen Forschungen zeigen vor allem die Vielgestaltigkeit des Sozialismus insbesondere in ländlichen Gebieten auf (Bell 1984; Halpern 1957; Hann 1980; Humphrey 1983; Kligman 1988; Pine 1987; Vasary 1987, für einen Überblick siehe auch Hann 1994). Zur Innensicht auf die ›einheimischen Ethnologien‹ in den sozialistischen Ländern siehe Hann/Sárkány/Skalnik (2005) sowie Mihăilescu/Iliev/Naumović (2008) und auch Skalnik (2002). Die Frage der Marginalisierung dieser lokalen Wissenschaftler, ihre Unterteilung in ›echte‹ lokale Akteure, ›returnee anthropologists‹ oder auch in ›halfies‹ und ›hybrids‹ sowie die Frage nach Hierarchien zwischen Wissenschaftlern aus dem westlichen und östlichen Europa wird hier nicht behandelt. Diese Debatte wurde zumindest in der Ethnologie bereits von einigen Hauptprotagonisten geführt (Buchowski 2004 und Hann 2005; siehe auch Kürti/Skalnik 2009).

3

Diese beruht teilweise auf der bereits spätestens seit dem 19. Jahrhundert existierenden Unterscheidung in Ost und West, die dem Osten eine minderwertige, weibliche, ineffiziente Rolle zuschreibt (Wolff 1994; Todorova 1997).

4

Allein die Terminologie verrät eine normative Basis, die aus ethnologischer Sicht die Frage aufwirft, ob nicht andere Ökonomien der Welt auch durch Mangel gekennzeichnet sind.

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sozialistischen Ländern und die daraus folgenden Schwierigkeiten der Ressourcenverteilung führen zu Hortungsvorgängen und zum verbreiteten Diebstahl öffentlicher Güter. Letztlich bestimmt der institutionelle Rahmen der sozialistischen Wirtschaft die Motivationen und das Handeln nutzen-maximierender Akteure. Die Konzentration auf das institutionell ›Andere‹ im Sozialismus führt unter anderem dazu, dass Ähnlichkeiten in der Industriearbeit (Thelen 2010b) oder in der Familien- und Geschlechterpolitik (Thelen 2006a; siehe auch Kapitel I.3) leicht übersehen werden können. Insofern Kornai dem Westen die Rationalität der sozialistischen ›Fremden‹ nahebringt, ist seine Analyse einer ethnologischen Herangehensweise nicht unähnlich (siehe z.B. das Bestreben von Evans-Pritchard [1937] die Rationalität der Azande nachzuweisen). Allerdings hinterfragt ein solcher Zugang nicht die angenommene westliche Rationalität und birgt die Gefahr eines »banalen Okzidentalismus« (Okely 1996: 4). Im Hinblick auf den postsozialistischen Wandel förderte er zudem die Tendenz, die Ökonomie zum Ausgangspunkt auch ethnographischer Analysen dieser Veränderungen werden zu lassen. So standen vor allem in der ersten Dekade nach dem Fall des Sozialismus Fragen der Privatisierung und des Eigentums im Vordergrund ethnologischer Forschungen. Prozesse der Umsetzung von Landreformen wurden detailliert untersucht, wobei (wieder einmal) die Diversität lokaler Lösungen aufgezeigt wurde. Dieser Schwerpunkt verschob sich nur langsam hin zu neuen Themenstellungen im neuen Jahrtausend. Dennoch fußen fast alle ethnologischen Beiträge zum Postsozialismus weiterhin auf den Annahmen einer früheren sozialistischen Mangelwirtschaft, die im Sinne einer Pfadabhängigkeit die weitere Entwicklung gradlinig beeinflusst. Eine überraschende Interpretation widerspenstiger oder sich widersprechender Daten als Ergebnis nicht vorhersehbaren Handelns, von Irrationalität oder Emotionalität kann sich so nicht entwickeln. In Bezug auf bedeutsame Bindungen bedeutet diese Konzentration auf die institutionelle Andersheit, dass die als grundsätzlich ›anders‹ analysierte Ökonomie auch soziale Bindungen hervorbringt, die ›anders‹ sind. Da diese nun aber auf Grundlage der ambivalenten Konstruktion des sozialistischen ›Anderen‹ gleichzeitig mit den Begriffen westlicher Gesellschaftstheorie beschrieben werden, führt dies in Analogie zur ›mangelhaften‹ Wirtschaft zu ›mangelhaften‹ Beziehungen. So hat die Dominanz einer Defizitäranalyse sozialistischer Ökonomien unter anderem dazu geführt, dass bedeutsame Bindungen außerhalb der Familie im Sozialismus auf instrumentellen Austausch reduziert werden. Solche Bindungen werden im Kontrast zur angeblich interessenfreien Freundschaft in westlichen Demokratien als Ergebnis der sozialistischen Wirtschaft und mithin als Mittel zur Überwindung des Mangels an Konsumgütern interpretiert

50 | C ARE/SORGE (Ledeneva 1998; Verdery 1996; Wedel 1986).5 So beschreibt z.B. Srubar – bezugnehmend auf verschiedene Modernisierungstheorien sowie die Studie von Janine Wedel in Polen (1986) – die aus seiner Sicht vormodernen Beziehungen im Sozialismus: »Auf dieser Grundlage lässt sich im Bedarfsfalle eine Atmosphäre gegenseitiger Benevolenz evozieren, die es möglich macht, die erwiesenen Dienstleistungen als freundschaftliche Gefälligkeit erscheinen zu lassen, die zur Gegenleistung berechtigt und die ökonomische Seite der Beziehung verdeckt.« (1991: 422)

Die Beharrungskraft solcher »normativen Erwartungsgefüge und Handlungsmuster« führt schließlich zu der relativ düsteren Prognose, dass die »Orientierung auf Steigerung des Eigenkonsums durch den Missbrauch und die Einschränkung der publikumsbezogenen Leistung, einhergehend mit ressentimentgeladenem Egalitarismus« wahrscheinlich einen Verlauf der Modernisierung nach westeuropäischem Muster verhindern werden (Srubar 1991: 429). In dieser Analyse überdauert die Betonung der Ökonomie und instrumentellen Beziehungen aus der Sozialismusanalyse sogar die politischen Veränderungen und führt zu Defizitäranalysen auch der postsozialistischen Verhältnisse und Bindungen. So setzt im Verbund mit den Enttäuschungen über die Ergebnisse der politischen und ökonomischen Reformen nach dem Sozialismus rasch eine neue Phase des otherings ein, in der die früher ›gleichen‹, weil europäischen Akteuren der sozialistischen Länder nun zum postsozialistischen ›Anderen‹ werden. Giordano, der als Ethnologe zwar modernisierungstheoretische Annahmen kritisiert, kommt zu einem ähnlich negativen Urteil wie Srubar. Er betrachtet – sich hauptsächlich auf die Ethnographie von Ledeneva (1998) stützend – prägende soziale Beziehungen sowohl der sozialistischen wie postsozialistischen Gesellschaften als ein Netzwerk, »das dazu dient, persönliche, als vital empfun5

Ich möchte an dieser Stelle die Existenz solcher Formen des Austauschs nicht negieren, sondern lediglich den normativen Unterton dieser Charakterisierung in Frage stellen. Tatsächlich ist bekannt, dass die meisten Menschen in westlichen Ländern Zugang zu bezahlter Arbeit durch persönliche Bindungen finden, doch wird dies selten als Beleg für ökonomische Ineffizienz interpretiert. Solche Bindungen können trotzdem als Freundschaft bezeichnet werden, wohingegen persönliche Bindungen im sozialistischen Kontext eine pejorative Konnotation erhalten, die sie in die Richtung von Korruption verschiebt. Für einen Überblick zu informellen Beziehungen während des Sozialismus siehe Sampson (1985/86). Der ›Bedarf‹ an »nützlichen« Beziehungen ist allerdings im Fall der DDR wegen ihrer verhältnismäßig guten wirtschaftlichen Lage umstritten (Diewald 1995: 228).

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dene Vergünstigungen auf Kosten des öffentlichen Gemeinwohls und der Staatsressourcen auszutauschen« (2007: 30). Trotz scheinbar neutraler Darstellung ergibt die Gegenüberstellung ein Bild, in dem die eigenen, ›westlichen‹ Bindungen als ›besser‹ erscheinen. Noch deutlicher spricht etwa Roth in diesem Zusammenhang von funktionalen Beziehungen der »Korruption und Vetternwirtschaft«, die auch nach dem Sozialismus bestehen blieben, »sich aber in einer modernen demokratischen Gesellschaft eher schädlich auswirken« (2005b: 910). Ähnlich stellt Wedel (1998) die Verhältnisse in Polen nach 1989 dar, in denen private Netzwerke zu zivilgesellschaftlichen Organisationen ›mutieren‹, um US-amerikanische Ressourcen anzueignen. In all diesen Analysen wird persönlichen Beziehungen (post)sozialistischer Akteure eine ausschließlich wirtschaftliche Nützlichkeit unterstellt. In Anlehnung an neo-institutionalistische Argumentationen werden die Pfadabhängigkeit sowie lokale Normen als Ursachen für das angeblich mangelnde Funktionieren postsozialistischer Gesellschaften nach westlichen Mustern identifiziert. Die ehemals ineffizienten, ›anderen‹ Institutionen werden nach dem Ende der sozialistischen Regierungen durch ineffiziente bzw. essentiell ›andere‹ Akteure ersetzt. Deren Handlungsorientierungen und Interpretationen des Wandels verhindern nun die reibungslose Einführung westlicher Institutionen. Während die Institutionen durch die politischen und wirtschaftlichen Reformen zunehmend einander gleichen, erscheinen nun die Akteure aufgrund ihrer durch den Sozialismus bedingten Prädisposition fundamental ›anders‹. Erhalten blieb insbesondere die Perspektive auf persönliche Bindungen im (Post)Sozialismus als Mittel zur Überwindung ökonomischen Mangels. So urteilt Roth etwa: »To have such informal social networks, to have many friends and ›friends of friends‹ is not in the first place a matter of emotional need or social prestige; it is rather a matter of social and economic necessity and survival, an indispensable prerequisite for managing everyday life.« (2005b: 8)

Diese instrumentelle Haltung stellt Roth in einen längeren historischen Kontext staatlicher Bevormundung vor allem in Südosteuropa. Ähnlich lautet auch die Einschätzung von Giordano: »Obwohl heutzutage die Klientelrelationen von den Handelnden meistens mit einer Terminologie verschleiert werden, die an Familien-, Verwandtschafts- und Freundschaftsnetzwerke erinnert, stellen solche interpersonalen Beziehungen ein wesentliches Mittel dar, um der Undurchschaubarkeit und Rigidität flächenstaatlicher Organisation entgegenzuwirken.« (2005: 32)

52 | C ARE/SORGE Wie auch bei Srubar schwingt einerseits in dieser Aussage mit, dass die Akteure ihre Bindungen höchstens irrtümlich für emotional begründet halten. Andererseits ist die zitierte Passage auch von der Deutung durchdrungen, dass die scheinbare Notwendigkeit einer Opposition gegenüber staatlichem Handeln – anders als in Westeuropa – zu einer deutlicher ausgeprägten Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre führe. Diese striktere Dichotomie, die »unbelievable – to the Westerner« sei, wie Roth betont, führe dazu, dass »altruistic civic engagement in community welfare or in public affairs is the rare exception, particularly in Southeast Europe« (2005b: 7-8). Während Roth und Giordano sich explizit auf postsozialistische Staaten Südosteuropas beziehen, wurde ein Mangel an ›authentischer‹ Zivilgesellschaft als Folge staatlicher Bevormundung im Sozialismus auch anderen Transformationsländern attestiert (für Polen Wedel 1998; eine Kritik an der Übertragung des westlichen Konzepts in dieser Weise findet sich bei Hann 1996). Bezüglich der Gesellschaft der DDR spricht Grix von einer »Erosion der öffentlichen Sphäre« und einem Rückzug in private Netzwerke (2000: 268). Dabei geht er ebenfalls davon aus, dass sich zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse im expliziten Gegensatz zum sozialistischen Staat befinden müssten und zählt daher nur die oppositionellen Gruppen der späten 1980er Jahre dazu. Die entstandenen informellen Netzwerke der DDR-»Nischengesellschaft« bekommen, ähnlich wie bei Roth, nach der Wende einen »problematischen Charakter« (Grix 2000: 268). Solche negativen Einschätzungen potentiell bedeutsamer Bindungen der (post)sozialistischen Gesellschaften beruhen auf unhinterfragter Klassifikation von Beziehungsinhalten nach den Kriterien ›öffentlich‹ und ›privat‹. Zwar gehen die Autoren durchaus von verschiedenen Anordnungen privater und öffentlicher Bereiche im Laufe der Geschichte oder in unterschiedlichen Gesellschaften aus, dennoch bleibt das westliche Verhältnis die normative Richtschnur. Zugleich beeinflussen diese Diskurse durchaus auch wechselseitig die Selbstwahrnehmungen der Akteure im Feld, wie in den folgenden Kapiteln deutlich werden wird. Es existiert aber noch eine zweite weniger negativ konnotierte Wendung dieses othering. So analysiert beispielsweise Dunn (2004) die Restrukturierung einer polnischen Fabrik für Babynahrung mit Hilfe des Foucault’schen Konzepts der governmentality. Auf der Basis von Kornai betont sie zunächst die systemischen Unterschiede, um dann zu folgern, dass die erfolgreiche Einführung der Marktwirtschaft eine Veränderung der »very foundations of what it means to be a person« erfordere. In den späteren Kapiteln ihrer Ethnographie ›dramatisiert‹ sie folgerichtig den Unterschied zwischen sozialistischen und neu eingeführten kapitalistischen Arbeitsbeziehungen. So wird etwa bereits der

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Austausch von Geschenken zum Namenstag als Nachweis eines gravierenden Unterschiedes herangezogen (siehe auch Thelen 2005c). Hinsichtlich des Themas dieses Buches ist wichtig hervorzuheben, dass die Grundlage der Differenz weiterhin in der Organisation der Wirtschaft gesehen wird. In ähnlicher Weise untersucht Müller (2002) die Privatisierung dreier Ostberliner Firmen mit Hilfe einer Kombination aus Foucaults’ Machtkonzept und Kornais’ Analyse sozialistischer Mangelwirtschaft. Interessanter als die Tatsache, dass beide Autorinnen die Kombination solch divergenter Theoriestränge nicht für begründungsbedürftig halten, ist der Umstand der dadurch vorgenommenen normativen Verschiebung. Der anscheinend essentielle Unterschied des Sozialismus zum Kapitalismus wird von beiden Autorinnen nicht mehr negativ beurteilt. Demzufolge ist es die fundamental ›andere‹, nämlich in Austauschnetzwerke eingebundene, sozialistische Persönlichkeit, welche im Postsozialismus die Übertragung westlicher Herrschaftstechniken behindert und sich zur Wehr setzt. In dieser Interpretation werden also die früher durch die sozialistische Wirtschaft bedingten und als instrumentell beschriebenen Bindungen plötzlich zu einer Ressource in der Abwehr neo-liberaler Reformen. Interessanterweise liefert auch eine vergleichende Studie zu Care ein weniger negativ konnotiertes Bild zum Thema außerfamiliären Engagements bzw. privater Netzwerke. Anhand biographischer Interviews beschreiben Chamberlayne und King (2000) eine Disposition von Akteuren in den neuen Bundesländern, sich aufgrund ihrer Erfahrungen in Situationen schwieriger Sorge auch außerhalb häuslicher Netzwerke bei staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen Unterstützung zu suchen. Dieses »trawling the system«, wie sie es nennen, beruht zwar auch auf der habituellen Nutzung informeller Netzwerke, aber andererseits auch – ähnlich wie bei den von ihnen ebenfalls befragten Sorgenden in Großbritannien – auf einer Vorstellung von gesellschaftlicher Teilhabe durch Erwerbsarbeit. Diese von den Autorinnen (positiv) beschriebene Außenorientierung kann durch meine Forschung bestätigt werden (siehe z.B. Kapitel II.2). Sie steht im Gegensatz zu den oben angeführten dominanten Interpretationen, nach denen postsozialistische Gesellschaften durch ein geringes zivilgesellschaftliches Engagement bzw. die Beschränkung auf familiäre Bindungen charakterisiert sind, wie sie aus der sozialistischen Vergangenheit hergeleitet werden. An der Arbeit von Chamberlayne und King zeigt sich, dass ein disziplinär nicht zu verengter Blick teilweise zu neuen Erkenntnissen führen kann. Gleichzeitig beschränken sich die Autorinnen wiederum auf ein sehr kleines Feld von Care und können so die übergreifende Bedeutung von Sorge nicht erfassen. Erst wenn Care nicht mehr ausschließlich bei familiären Situationen erhöhten Pflegebedarfs verortet und zugleich die Basis der ambivalenten Konstruktion des

54 | C ARE/SORGE sozialistischen ›Anderen‹ überwunden wird, hat die Analyse postsozialistischer Verhältnisse die Aussicht, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Eine solche Herauslösung von Care/Sorge aus dem Alltagsverständnis konnte in der empirischen Forschung über eine Verortung des Feldes in mehreren Beobachtungsschwerpunkten sowie durch ein multiperspektivisches Vorgehen erfolgen. I.3.1.2 Multilokale Forschung und multiperspektivisches Vorgehen Die in den folgenden Kapiteln enthaltenen ethnographischen Informationen wurden in zwei unterschiedlichen Phasen der Feldforschung gewonnen. Die erste, stationäre Phase begann am 23. Januar 2003 und endete am 30. September desselben Jahres. Daran schloss sich eine zweite flexible Phase erst regelmäßiger Besuche alle 14 Tage und dann unregelmäßiger Aufenthalte bis Anfang 2006 an. Der Vorteil der stationären Phase liegt vor allem in der Möglichkeit zur Aufnahme intensiver Beziehungen im Feld. Dagegen wohnt der flexiblen Phase vor allem die Möglichkeit inne, die Entwicklung von Care-Praktiken über einen längeren Zeitraum hinweg zu verfolgen. Zusammen haben beide Phasen eine Annäherung an die Prozesshaftigkeit von Sorge ermöglicht. Die Aufteilung der Forschung in zwei Phasen erlaubte zudem über die ›künstliche‹ Herstellung von Abstand und anschließende Wiederaufnahme des Forschungsalltags eine immer wieder neue Aufmerksamkeit für die unerwartete Care-Praktiken und -interpretationen.6 Statt Care anhand einer Bedürftigkeit oder vorab als bedeutsam definierten Bindungen zu untersuchen, sollte ein multilokales Vorgehen gestatten, auch an unerwarteten Orten aufzuspüren. Daher wurden im ersten Schritt mehrere Ausgangspunkte für die teilnehmende Beobachtung in einer ostdeutschen Stadt, die ich hier SEESTADT nenne, ausgewählt.7 Sobald Care in Aussagen oder Praktiken meiner Interaktionspartner zum Vorschein kam, wurden diese nach Möglichkeit in unterschiedlichsten Zusammenhängen begleitet. Dieses ›Verfolgen‹ von Serendipity-Effekten führte dann zur Analyse der Bedeutsamkeit dieser Bezie-

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Zu den Vorteilen von verschiedenen Phasen der Feldforschung siehe auch Breidenstein/Hirschauer/Kalthoff/Nieswand 2013, Elwert 2002; Thelen 2003; Wulff 2002.

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Die Anonymisierung dient bedingt dem Schutz meiner Interaktionspartner, soll aber vor allem verdeutlichen, dass für die beschriebenen Ergebnisse und ihre Interpretation nicht so sehr eine spezifische Stadt als vielmehr die Verortung in unterschiedlichen Bindungen wichtig ist. Zeit- und geographiegebundene Kontextualisierungen werden insofern dargestellt, als dass sie thematisch relevant sind.

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hungen.8 Der Feldforschungsfokus liegt somit auf Sorge, wie sie in bedeutsamen Bindungen verortet ist, die sich auch über das Stadtgebiet bzw. den jeweiligen Beobachtungsschwerpunkt hinaus erstrecken können. Dieses »following the issue« zielt also weder auf die Erfassung einer (Care/Sorge-)›Kultur‹ von SEESTADT als Stadt noch einer dort angesiedelten ›exotisch anderen‹ Lebenswelt ab.9 Das Ziel lautete vielmehr, eine möglichst große Bandbreite unterschiedlicher Care-Praktiken einzufangen. Diese multilokale Forschung richtet sich nicht wie klassische multisited Ethnographien auf die Erfassung der Vernetzung bestimmter Akteursgruppen oder kultureller Aspekte unter Bedingungen erhöhter Mobilität im Zuge vielfältiger Globalisierungsprozesse (Marcus 1995; Wulff 2002; Falzon 2009). Vielmehr wurden gezielt aufgrund der konzeptionellen Vorüberlegungen Beobachtungsschwerpunkte gewählt, die sich eher durch Gegensätzlichkeit, denn im Vorhinein ausgemachte Ähnlichkeit oder Verbundenheit auszeichnen. Für die Auswahl stand im Vordergrund, Möglichkeiten zu entwickeln, Care-Praktiken und ihre Bedeutung in den Übergängen bzw. Überlappungen der als öffentlich und privat definierten Bereiche aufzuspüren. Konkret wurden ein ehemals sozialistisches Unternehmen (im Folgenden: BETRIEB) und eine gemeinsame Stelle des Arbeits- und Sozialamtes für unter 25-Jährige (im Folgenden: AMT) sowie zwei eingetragene Vereine mit

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Serendipty – seit langem anerkanntes Charakteristikum ethnologischer Erkenntnisgewinnung – ist in den letzten Jahren erneut in den Mittelpunkt methodischer Diskussionen gerückt. Dabei geht es um die Frage, wie die Konditionen für den Auf-tritt des »glücklichen Zufalls« erleichtert werden können (Rivoal und Salazar 2013).

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Frühen stadtethnologischen Forschungen dienten die Studien der Chicago School of Urban Sociology aus den 1920er Jahren, in denen die Stadt als Ansammlung räumlich geschlossener Einheiten von urban villages vorgestellt wurde als Vorbild (Kokot 1991; Welz 1991; Krausberg/Schmidt 2002: 12). Hinzu kamen als Forschungsorte in der Stadt später aus Sicht des Akademikers ›exotische‹ Orte oder randständige Gruppen in Ghettos, Slums oder Striplokalen. Beiden Ansätzen der ethnologischen Forschung in der Stadt ist ein auffälliger Prozess des otherings eigen (Lindner 1997: 322; siehe auch Clifford 1992), der wiederum abgelöst wurde durch einen Blick auf die Stadt als Ganzes in neueren Studien. In der deutschsprachigen Ethnologie setzte diese Entwicklung verspätet ein und hat sich auch erst seit den 1990er Jahren durchgesetzt, was sich auf die eigentümliche (Selbst-)Definition der Ethnologie und ihrer Nachbardisziplin der Volkskunde als Wissenschaften von ›einfachen Gesellschaften außerhalb Europas‹ bzw. ›bäuerlichen Traditionen‹ und die den beiden Disziplinen inhärenten zivilisationskritischen Wissenschaftskulturen zurückführen lässt (Lindner 1997: 319320).

56 | C ARE/SORGE unterschiedlichem Profil (im Folgenden: ELISENCAFE und ELAN e.V.) ausgewählt.10 Im Folgenden sollen diese im Anschluss an eine kurze Einführung in die Lebens- und Handlungsbedingungen in SEESTADT vor dem Hintergrund globaler und regionaler Wirtschaftsentwicklungen, die auf lokale Care-Praktiken und Beziehungen Einfluss nehmen, vorgestellt werden. Seestadt Herr Paul berichtet von seinem Umzug nach SEESTADT: »Und äh meine Frau war nun absolut dagegen, dass wir noch weiter auf dem Lande [bleiben], die wollte wieder in die Stadt zurück. Sie is’ Stadtmensch gewesen, ne? So und äh, ich hab das dann auch durchgesetzt, was ganz schwer war damals: vom Lande wieder in die Stadt zu kommen. Das war faktisch unmöglich. So, man musste nämlich, wenn man in die Stadt wollte, musste man ne Wohnung haben, denn es gab ja keine Wohnungen, in SEESTADT schon gar nich. So, nun hatten wir in BUSCHdorf ein Haus, ‘n kleines Haus mit zwei Zimmern drin, so und äh, dann habe ich meine Sachen auch schon ausjeräumt, beim Nachbarn auf‘n Dachboden jestellt [kurze Unterbrechung, weil es an der Türe klingelt]. Die Sachen alle ausgeräumt, viel hatten wir ja nich, beim Nachbarn auf’n Boden jestellt, guten Bekannten, denn zum LPG-Chef jejangen: ›Pass mal auf, ich hab die Wohnung geräumt.‹ Ich musste erst die Wohnung räumen, eh ich ›ne Freistellung kriechte von der LPG. Wir hatten aber die Kinder, ne? Da ham wir zwei Kinder, die Jüngsten, in einem Heim unterjebracht, vorläufig und mit den anderen [Kindern]: Wir krichten dann die Freistellung, zum Rat der Stadt, ne? Und äh ich hatte schon früher Verbindung zum BETRIEB aufjenommen, hatte da Eingaben jeschrieben und dort suchten sie Arbeiter. Der BETRIEB war damals neu jegründet worden in SEESTADT und äh da hab ich zujesacht, dass ich da arbeite und daraufhin hat man mir zujesacht, dass ich eine Zweieinhalbzimmerwohnung in SEESTADT bekomme. Aber die war noch nich fertig, die war noch im Bau. So, und dann wohnten wir im Wohnheim, ne? Mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern in einem halben Zimmer. So. Und ein Kind hatten wir noch unterjebracht bei andern. [Nachfrage TT: Bei wem denn, bei Freunden?] Bei Bekannten meiner Frau.« (tI, 29.9.2003). 10 Obwohl nicht Ausgangs- oder Schwerpunkt der Forschung ließen sich dennoch einzelne Überlappungen der Beobachtungsschwerpunkte durch die persönlichen Bindungen der Akteure ausmachen. Diese Überschneidungen boten stets einen Anlass zu tiefer gehenden Beobachtungen und Gesprächen über die Lebenswelt meiner Gesprächspartner, sie bilden aber nicht den Schwerpunkt der Analyse. Für die vorliegende Studie stellt daher die Öffnung des Blicks den größten Vorteil des gestreuten Vorgehens in der Feldforschung dar.

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In diesem Interviewauszug zeigen sich einige typische Merkmale der jüngeren Geschichte von SEESTADT sowie die Art und Weise, wie sie Care beeinflusst haben. So spiegeln sich in der Erzählung von Herrn Paul beispielsweise die Wohnungsknappheit in der DDR, die enge Verbindung von Arbeitsplatz und Wohnraum, aber auch die kreative Verteilung der Sorge für die Kinder zwischen Eltern, Bekannten und Staat. So wie Herr Paul nahmen auch viele andere Zuzügler während des Sozialismus zunächst unbefriedigende Wohnverhältnisse in Kauf, um in SEESTADT in der Nähe der wieder aufgebauten oder neuen industriellen Betriebe wohnen zu können. Dadurch stieg die Einwohnerzahl, die bis 1950 vor allem durch Kriegsheimkehrer und den Zustrom Vertriebener wieder auf den Vorkriegsstand angewachsen war, in den folgenden Jahren durch Zuzug aus anderen Teilen der DDR. So sind auch 16 der 23 Befragten aus der strukturierten Erhebung während der Forschung (siehe unten) wie Herr Paul nicht in SEESTADT geboren, sondern im Laufe ihres Lebens zugezogen. Viele der ehemals neuen Bürger der Stadt befinden sich zum Zeitpunkt der Forschung wie Herr Paul bereits im Rentenalter. Kurz vor dem Ende der DDR hatte die Stadt dann knapp über 250.000 Einwohner und obwohl bis dahin einige neue Großwohnsiedlungen entstanden waren, blieb der Wohnraum bis zum Ende des Sozialismus knapp. Mit der deutschen Vereinigung brachen große Teile der lokalen Wirtschaft fast völlig zusammen. Wie auch anderswo in den neuen Bundesländern trafen die ersten massiven Entlassungswellen viele Bürger unerwartet. Diese rasante und flächendeckende Entwicklung machte die Arbeitslosigkeit insgesamt auch zu einer anderen Erfahrung als im Westen der Republik.11 Im ostdeutschen Vergleich steht SEESTADT im Forschungszeitraum jedoch nicht als typischer ›Verlierer‹ da, sondern gilt vielmehr als attraktiv und als infrastrukturell gut erschlossen. Als Ausdruck einer positiven Entwicklung kann zudem das Sinken der Arbeitslosenquote gewertet werden, die seit dem Höhepunkt 1993 mit fast 30 Prozent auf 16,7 Prozent im Jahr 2000 gefallen ist.12 Im gleichen Zeitraum steigt der Anteil der Bevölkerung im Rentenalter von 11,1 Prozent auf 15,8 Prozent13 und die Stadt verliert etwa ein Fünftel ihrer Bevölkerung. Erst seit 2003 nimmt die Bevölkerung bis zum Ende des 11 Zu den Eigenheiten der Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern seit 1990 siehe z.B. Vogel (2000) und Frick/Müller (1996). 12 Das Hauptamt von SEESTADT umfasst neben den Daten von SEESTADT selbst auch fünf zugeordnete Umlandgemeinden. 13 In der DDR galten Männer ab 65 Jahren und Frauen ab 60 Jahren als im Rentenalter stehende Personen; seit 1990 gilt für beide Geschlechter die Altersgrenze ab 65 Jahren.

58 | C ARE/SORGE Forschungszeitraums wieder leicht zu. Trotz dieser im Vergleich mit anderen Gegenden der neuen Bundesländer nicht sehr dramatischen Entwicklung stehen etwa zehn Prozent des Wohnungsbestandes zum Zeitpunkt der Forschung leer. Viele Einwohner erlebten somit, dass ihnen nahestehende und potentiell auch für Care bedeutsame Personen aus der unmittelbaren Umgebung fortzogen. So sagt etwa die Projektleiterin von ELAN e.V. auf einer Schulung freiwilliger Helfer in die Runde: »Sie alle haben doch die Ausdünnung ihres Freundeskreis und Familie erlebt«, woraufhin allgemein zustimmendes Kopfnicken erfolgte (TB 5.8.2003). Der demographische Effekt der Abwanderung wird intensiviert durch die geringe Geburtenrate. Nach dem für die frühen 1990er Jahre typischen drastischen Absturz des Geburtenüberschusses in den neuen Bundesländern überschreitet die Anzahl der Todesfälle seither konstant diejenige der Geburten.14 Insgesamt erholen sich die Geburtenzahlen langsamer als zunächst erwartet und zudem steigt das Alter von Müttern bei Erstgeburt im ersten Jahrzehnt nach der Wende in den neuen Bundesländern deutlich an,15 womit sich z.B. auch das Alter der Großelterngeneration verändert. Auch unter meinen Gesprächspartnerinnen geben viele an, ein Kind »verschoben« oder gar nicht mehr bekommen zu haben und unter den älteren Gesprächspartnern warten viele (bisher) vergeblich auf Enkelkinder. So sagt etwa eine ehrenamtliche Mitarbeiterin bei ELAN e.V.: »Jetzt bin ich schon 53 und immer noch nicht Oma.«16 Beinah parallel zur Geburtenrate fiel nach der Vereinigung zunächst auch die Anzahl der Scheidungen in den Jahren 1990/91 drastisch ab, um danach wiederum deutlich anzusteigen. Auf dem Höhepunkt wurden 1996 fast ebenso viele Ehen geschieden wie neu geschlossen. Beide Entwicklungen lassen sich als Hinweis auf die Erfahrung der Unsicherheit in der neuen rechtlichen und wirtschaftlichen Situation deuten. Eine Deutung die sich in den folgenden ethnogra-

14 Laut dem Statistischen Jahrbuch von SEESTADT fiel die Bilanz von einem Überschuss von +1157 im Jahr 1989 auf -694 im Jahr 1991. Zum sogenannten Gebärstreik im Osten Deutschlands nach der Vereinigung siehe auch Drauschke/Liebscher/ Stolzenburg 1996. 15 1980 lag das Durchschnittsalter der Mutter bei Erstgeburt in der DDR bei 22,7 Jahren (in der BRD bei 25,2 Jahren). Bis zum Jahr 2000 stieg das durchschnittliche Alter bei Erstgeburt in den neuen Bundesländern auf 28 Jahre an (Engstler/Menning 2003: 76). 16 Bürger in den neuen Bundesländern im Alter zwischen 40 und 85 Jahren haben durchschnittlich mehr als doppelt so viele Enkel und Urenkel wie Bürger der alten Bundesländer (Kohli/Künemund/Motel/Szydlik 2000: 17). Zu großelterlichen Sorgepraktiken siehe auch Kapitel II.2.

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phischen Kapiteln ebenso wiederfindet wie temporale Verschiebungen von Care im Lebensverlauf durch ein verändertes Reproduktionsverhalten.17 Betrieb und Amt Für die Forschung wurden zwei ›öffentliche‹ Feldforschungsorte ausgewählt: eine Behörde und ein staatliches Unternehmen.18 Während der BETRIEB den Schwerpunkt der empirischen Forschung ausmachte, kam dem AMT eine kleinere Rolle zu. Die Wahl eines Unternehmens als Feldforschungsort ergab sich aus zwei Überlegungen. Zum einen kann davon ausgegangen werden, dass der Arbeitsplatz in Industriegesellschaften ein wesentlicher Ort für die Entstehung sozialer Beziehungen ist. Zum anderen ist er ein Ort zentraler Erfahrungen von Konzepten wie »Gegenseitigkeit« und »Solidarität« (Mulder van de Graaf/ Rottenburg 1989: 24-25; ähnlich auch in Rottenburg 1994). Diese Überlegung gilt umso mehr für die ehemals sozialistischen Länder und speziell die DDR mit ihren langen Tages-, Wochen- und Lebensarbeitszeiten. Zudem war staatliche soziale Sicherung im Sozialismus in hohem Ausmaß an die Betriebe geknüpft; eine Funktion die sie mit der deutschen Vereinigung verloren. Daher schien hier ein Bereich gegeben zu sein, in dem sich auch die im Lauf des Lebens aufgebauten Erwartungen an bedeutsame Bindungen verändern mussten.19 Der ausgewählte BETRIEB wurde als Prestigeobjekt der DDR zwischen 1957 und 1960 auf einem großen Gelände außerhalb von SEESTADT neu aufgebaut. Viele meiner Gesprächspartner erwähnten während der Forschung die Kampagne des Nationalen Aufbauwerks zum landesweiten Sammeln von Steinen für den Aufbau. Über die folgenden Jahrzehnte wuchs das Unternehmen auf über 6.000 Mitarbeiter an. In der Forschungsperiode spiegelte sich in den Erinnerungen der Arbeiter und Angestellten häufig Stolz auf diese betriebsame Zeit und die geleistete Arbeit. Die deutsche Vereinigung hatte erhebliche Auswirkungen auf die Anzahl, Zusammensetzung und Arbeit der Beschäftigten. Die für SEESTADT bereits beschriebene wirtschaftliche Entwicklung nach der Wende traf zunächst auch den BETRIEB hart Mit einer Neuausrichtung des Kerngeschäfts erholte sich die 17 Die wiedergegebenen Daten sind dem statistischen Jahrbuch von SEESTADT aus dem Jahr 2001 entnommen. 18 Zum Zeitpunkt der Forschung ist der BETRIEB als offizieller Nachfolger des früheren VEB ein Gemeinschaftsunternehmen des Bundeslandes und der Stadt. 19 Zur Redistribution im Sozialismus siehe auch den folgenden Abschnitt, zu Bindungen am Arbeitsplatz Kapitel III.1.

60 | C ARE/SORGE Situation bis Mitte der 1990er Jahre. Nach einer letzten Betriebsteilung im Jahr 1994 sind zum Zeitpunkt der Forschung nur noch 145 Beschäftigte (52 Frauen und 93 Männer) sowie sieben Auszubildende (drei Frauen und vier Männer) im Unternehmen überwiegend für die Verwaltung und Infrastruktur zuständig. Viele der ehemals betrieblichen Einrichtungen wie Kindergärten, Wohn- und Ferienheime, das Ausbildungszentrum, medizinische Einrichtungen sind bereits in den ersten Jahren nach der Wende geschlossen, privatisiert oder ausgegliedert worden. Der größte Anteil an den geleisteten Arbeiten kommt daher heute Bürotätigkeiten zu; in den Servicebereichen und den verschiedenen Außenanlagen gibt es dazu noch diverse manuelle und handwerkliche Aufgaben. In der Forschungsperiode beginnt zudem eine Neuansiedlung von Industrie auf dem Gelände durch aufwendige Landgewinnung.20 Im BETRIEB verbrachte ich je einen Monat in jeder der sechs Abteilungen, wobei in unterschiedlichem Maße eine Beteiligung an den jeweiligen Arbeitsabläufen möglich war. Meist begleitete ich während meines Einsatzes den Alltag eines Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin, manchmal auch einer kleinen Gruppe. Im Gegensatz zu den Erfahrungen die Mulder van de Graaf und Rottenburg (1989: 30) gemacht haben, konnte ich also nicht nur eine »dabeistehende«, sondern auch eine »teilnehmende« Beobachtung durchführen.21 In dieser rotierenden Forschung im BETRIEB stand weniger die Arbeitsorganisation oder eine Betriebskultur im Vordergrund22, als vielmehr der Wunsch nach einem möglichst umfassenden Einblick in Sorgepraktiken im und Bindungen an das Unternehmen. Daher rückte im Verlauf der Forschung zusätzlich die Umstrukturierung der ehemaligen betrieblichen Sorgeeinrichtungen in den Blickpunkt. Somit stellte beispielsweise die Seniorenbetreuung einen weiteren wichtigen 20 Dass trotz des auf dem weitläufigen (ca. 7,5 Mio. m²) und zum Teil ungenutzten Territoriums Landgewinnung für diese Ansiedlung betrieben wird, liegt vor allem an öffentlichen Förderstrukturen. Die Landgewinnung wird als Infrastrukturmaßnahme durch das Land gefördert und bedeutet daher weniger Kosten (trotz nötig werdender Umweltausgleichsmaßnahmen) für das Unternehmen. 21 Zu den bekanntesten Studien auf Basis teilnehmender Beobachtung in industriellen Betrieben zählen die Arbeiten von Michael Burawoy in den USA und Ungarn (1979, 1985). Im postsozialistischen Bereich hat Elizabeth Dunn (2004) eine teilnehmende Feldforschung bei Alima Gerber in Polen durchgeführt. Auch Heike Wieschiolek (1999) beteiligte sich während ihrer Forschung in einem ostdeutschen Betrieb aktiv an Arbeitsprozessen. 22 Zu Organisationsethnologie siehe z.B. Spülbeck 2009, Mulder van de Graaf und Rottenburg 1989, Schein und Seiser 2007, speziell in Ostdeutschland siehe Müller 2002, Rottenburg 1991, 1994, Wieschiolek 1999.

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Ausgangspunkt für die teilnehmende Beobachtung dar. Zusätzlich wurde archivarisches Material im BETRIEB gesichtet. Insbesondere wurden verschiedene Eingaben, 25 Brigadetagebücher sowie die frühere Betriebszeitung gesichtet.23 Die meisten meiner betrieblichen Gesprächspartner erlebten also einen Großteil ihrer Arbeitsbiographien noch zu DDR-Zeiten. Diese Erfahrungen prägen unter anderem die Bindungen im und an den BETRIEB sowie deren Interpretationen. Gehören diese Akteure eher zu den älteren Generationen, die die anschließende Transformationszeit zumindest wirtschaftlich ›erfolgreich‹ bewältigt hatten, eröffnete der zweite Schwerpunkt einen Blick auf jüngere Akteure und mögliche ›Verlierer‹. Die Entscheidung zur Einbeziehung eines Amtes in die Forschung ergab sich aus der Überlegung, dass sich aus den Interaktionen zwischen Sachbearbeiter und Klienten die Veränderungen in den staatlich implementierten Normen von Care erschließen lassen.24 Ziel der gewählten staatlichen Einrichtung ist die Eingliederung in den Arbeitsmarkt Akteure die als besonders benachteiligt gelten und, deren bisheriges Leben sich häufig durch abgebrochene Schul- und Berufsausbildungen, problematische Familienverhältnisse, und Drogengebrauch auszeichnet. Gegründet im Jahr 2000 sollte das AMT Modellcharakter für das vereinigte Deutschland haben. Als innovativ kann insbesondere der Zusammenschluss ansonsten getrennter Ämter gesehen werden, deren Leistungen auf unterschiedlich erworbenen Ansprüchen beruhen. Während das Arbeitsamt bundesweit organisiert und auf Ansprüche spezialisiert ist, die durch Einzahlung erworben worden sind, umfassen die Leistungen des städtischen Sozial- und Jugendamtes eher jene, die sich aus der früheren Armenfürsorge und den erweiterten Bürgerrechten (social citizenship) entwickelt haben. Die Aufhebung dieser historisch entstandenen Trennung im Zuge der landesweiten Reformen nach der deutschen Vereinigung (die sogenannten Hartz-IV-Regelungen) und lokal durch die Einrichtung des AMTes, ist ein Beispiel für Verschiebungen auf der ideologischen Ebene sozialer Sicherung, wie sie in der theoretischen Grundlegung angeführt wurden. Neue Interpretationen von Bedürftigkeit setzen sich durch und führen auch zu neuen Implementierungen auf der institutionellen Ebene.25 Zum Zeitpunkt der Forschung ist das AMT in einem unauffälligen Wohnund Geschäftshaus am Rande der Innenstadt untergebracht. Die Lage trägt zu einer informellen Atmosphäre bei – im Gegensatz zu den größeren Hauptgebäuden des Arbeits- und Sozialamtes in der Stadt. Die Stelle ist zu diesem Zeitpunkt 23 Zur betrieblichen Seniorenbetreuung siehe Kapitel III.2; die archivalischen Materialien fließen insbesondere in die Darstellungen des Kapitels III.1 ein. 24 Zu ähnlichen Studien siehe auch Dubois 2010; DeKonig 1988; Howe 1990. 25 Zur Entwicklung des deutschen Sozialstaates siehe auch Bäcker (2010), Ritter (1998).

62 | C ARE/SORGE regelmäßig mit zwei Personen besetzt: einem Mitarbeiter des Sozialamts, Herrn Schürer, und Frau Bausig, der Angestellten des Sozialamtes. Ab und an kommt eine Mitarbeiterin des Jugendamtes hinzu. In einem ersten semi-strukturierten Interview mit den beiden ständigen Mitarbeitern stellen sie das AMT nicht nur insgesamt als Erfolg, sondern auch als Care dar. Ihre Klienten müssten nun nur noch zu einer Stelle gehen und sie könnten sich zudem individuell um sie kümmern. Die meisten Klienten scheinen denn auch eher unbefangen und sich oftmals nicht der Tatsache bewusst, dass sie sich bei einer Behörde befinden. Letzteres äußert sich beispielsweise in Aussagen wie: »die Tante vom Sozialamt schickt mich«. Die familiär-lockere Atmosphäre verdeckt den Umstand, dass mit dem AMT auch ein besonderes Element der Kontrolle geschaffen wurde. Die Sachbearbeiter können bei Antragstellung sofort in Erfahrung bringen, ob bereits Programme des jeweils anderen Amtes wie vorgesehen genutzt worden sind, ob doppelte Anträge vorliegen usw. Schließlich können sie auch Kürzungen von Zahlungen wie etwa der Sozialhilfe (im ersten Schritt um 25 Prozent und dann bis zur völligen Streichung) vornehmen.26 Der Zusammenschluss zwischen staatlichen Stellen verschiedener Ebenen und damit die verbundene Datenabgleichung ist an anderen Orten, z.B. in den alten Bundesländern oder gegenüber einer weniger sozial benachteiligten Zielgruppe, schwerer durchsetzbar. Im AMT basieren meine Beobachtungen nach dem erwähnten Einstiegsinterview auf der Anwesenheit bei Beratungsterminen mit Klienten und informellen Gesprächen mit den beiden Sachbearbeitern. Insgesamt wurden auf diese Weise im Zeitraum der Forschung 32 ›Fälle‹ gesammelt, die einen ergänzenden Einblick in bestimmte Lebensumstände sowie in staatliche Konstruktionen von Bedürftigkeit erlauben.

26 Ein weiteres für die Verhältnisse in der Sozialarbeit in den neuen Bundesländern typisches Phänomen im AMT ist, dass alle drei Mitarbeiter selbst berufliche Brüche erlebt haben. und erst nach der deutschen Vereinigung in den »Sozialbereich rutschten«, weil sich auf diesem Gebiet neue Beschäftigungsmöglichkeiten entwickelten. So war etwa Herr Schürer bis 1988 Seemann und dann bis zur Wende in der Berufsschule des BETRIEBs tätig. Er verlor seinen Arbeitsplatz während einer der ersten Entlassungswellen, bevor er dann zum Arbeitsamt kam. Die Mitarbeiterin des Jugendamtes hingegen befand sich zur Zeit der deutschen Vereinigung gerade im sog. Babyjahr und konnte dann einige Zeit lang keine bezahlte Arbeit finden, bevor sie über ein ehrenamtliches Engagement eine Stelle im Jugendamt antrat.

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Elisencafe und Elan e.V. Die Auswahl der Beobachtungsschwerpunkte aus dem zivilgesellschaftlichen Bereich resultierte im Wesentlichen aus ihrer Verschiedenheit. In diesem Teil des Feldes bildete das religiös fundierte ELISENCAFE den Schwerpunkt der Forschung, während ELAN e.V. den kleineren Teil ausmachte. Das Umfeld des ELISENCAFEs mit gegenüber dem Sozialismus potentiell kritisch eingestellten Bürgerinnen versprach einen besonderen Blick auf die gesellschaftliche Veränderung und Care. Diese Erwartung hat sich teilweise durchaus bestätigt. Zudem stellt das ELISENCAFE einen (beinah) gänzlich weiblich dominierten Ort dar. Bei aller Verschiedenheit ließen sich dennoch auch interessante Ähnlichkeiten zu den Sorgepraktiken und Interpretationen anderer Akteure ausmachen.27 1999 eröffnet, umfasst das ELISENCAFE einen gemeinnützigen Verein, einige wenige bezahlte Mitarbeiterinnen sowie eine Gruppe ehrenamtlicher Helferinnen. Die Räumlichkeiten werden von der örtlichen Kirche zur Verfügung gestellt und die Gründungsphase wurde durch ein Programm der BoschStiftung finanziell unterstützt (40.000 DM). Ursprünglich startete der Verein mit der Idee einer »Ehrenamtsbörse«. Menschen, die sich für gemeinnützige Arbeit interessierten, sollten an entsprechende Organisationen vermitteln werden. Dieses Projekt wurde von staatlicher Seite mit der Finanzierung zweier ABMStellen gefördert. Obwohl die beiden daraufhin eingestellten Mitarbeiterinnen anfänglich Adressen sammelten und eine kleine Broschüre erstellen, kam dieses Projekt nie in Schwung. Im Verlauf der Forschung musste nach dem Auslaufen der beiden ABM-Stellen im Jahr 2002 die Arbeit vollständig auf ehrenamtliche Kräfte umstellen. Im Kontext des ELISENCAFEs liefert die teilnehmende Beobachtung während der ehrenamtlichen Tätigkeit den Grundstock meiner Daten. Von März bis Ende September 2003 übernahm ich meist einmal wöchentlich eine Arbeitsschicht von 14 bis 17 Uhr und dehnte die Tätigkeit auch auf die flexible Forschungsphase bis Sommer 2005 aus. Bei diesen späteren Aufenthalten konnte ich meistens auch bei einer meiner ›Kolleginnen‹ aus dem Café wohnen und so weitere wertvolle Einblicke in private Lebensumstände gewinnen. Dreimal wurde ich zudem zum jährlichen »Dankeschön«-Ausflug für die Ehrenamtlichen eingeladen – entspannte Anlässe, die Raum für weitere informelle Gespräche boten. Einen guten Gegenpol zum ELISENCAFE schien ELAN e.V. zu bieten. 1996 gegründet und lokal als politisch links eingestuft, ist ELAN e.V. als anerkannter Träger der Freien Jugendhilfe sowie staatlich anerkannter Weiterbildungsträger 27 In dieser Hinsicht ist insbesondere auf die Bedeutung der temporalen Einbettung und emotionaler Anteile von Care hinzuweisen wie sie in Kapitel III.3 dargestellt werden.

64 | C ARE/SORGE weit größer als das ELISENCAFE. Die Internetseite des Vereins hebt insbesondere dessen »soziale Orientierung« hervor. Die Forschung fand innerhalb eines Teilprojektes statt, dessen Zielsetzung ähnlich wie die des AMTes war: Sozial benachteiligte Jugendliche sollten durch Entwicklung und Festigung von »Schlüsselkompetenzen« in der Vorbereitung auf ihre berufliche Entwicklung unterstützt werden. Grundsätzlich ließe sich also sagen, dass hier ähnlich wie beim ELISENCAFE eine zivilgesellschaftliche Einrichtung anbietet, (noch) staatliche Aufgaben sozialer Sicherung zu übernehmen. Und so wurde auch dieses Projekt in dieser Anfangsphase mit Mitteln des Bundes für eine Teilzeitprojektleiterin sowie auswärtige Beratungen gefördert. Ebenso wie beim ELISENCAFE sollten diese Aufgaben zu einem späteren Zeitpunkt dann ehrenamtlich getragen werden. Letztlich kam das Projekt während der Forschungsphase kaum über die anfänglichen Planungen und Schulungen hinaus. Als erschwerendes Moment tauchten ab Mitte der stationären Forschungsphase Gerüchte über finanzielles Missmanagement und Konflikte innerhalb des Vereins auf, in deren Verlauf die angestellte Leiterin das Projekt verließ. Während diese zwar ersetzt wurde, herrschte auch unter denjenigen, die sich während der stationären Phase der Forschung als ehrenamtliche Berater zur Verfügung stellten, eine relativ hohe Fluktuation. Für die Mitarbeit bei ELAN e.V. benötigen die Ehrenamtlichen sehr viel mehr Vorkenntnisse als im Betrieb des Cafés. Daher beruhen meine Beobachtungen hier vor allem in der Teilnahme an Schulungen und Planungsbesprechungen. So konnte ich ›nebenher‹ auch einen Einblick in die Vielfalt sozialer Angebote in SEESTADT für Jugendliche und junge Erwachsene gewinnen. Zu einem Eindruck von den Care-Normen und -Werten der Beteiligten verhalfen die regen Diskussionen wie auch die informellen Gespräche ›am Rande‹ dieser Veranstaltungen. * Aus dem beschriebenen Vorgehen ergibt sich bereits der Zugang zu Care überwiegend durch die teilnehmende Beobachtung. Zusätzlich zu den Aufzeichnungen aus der direkten Teilnahme an den Aktivitäten im BETRIEB, dem AMT und den zivilgesellschaftlichen Vereinen wurden auch weitere Beobachtungen und Interaktionen im Feld aufgezeichnet.28 Ferner wurden in der Tradition holistischer Feldforschung und eines kreuzperspektivischen Vorgehens weitere Erhebungsformen eingesetzt (Elwert 2002; ähnlich bei Honer 1989). Die Auf-

28 Zu diesen Aktivitäten »am Rande« gehören Gespräche mit Nachbarn, beim Sport, im Waschsalon, bei Kino- und Zoobesuchen, bei Stadtteilfesten und Lesungen sowie beim Besuch öffentlicher Treffpunkte wie etwa ein Gründungstreffen der Initiative gegen Sozialabbau, ein Nachbarschaftstreffen und ein Frauentreffpunkt.

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zeichnungen aus Beobachtungen und informellen Gesprächen werden daher ergänzt durch Angaben aus Interviews sowie einer Fragebogenerhebung. Vornehmlich in der Anfangszeit der stationären Forschungsphase führte ich einige Experteninterviews zum Thema Care als teil lokaler staatlicher Rahmen sozialer Sicherung. Manche dieser Interviews entwickelten sich im Verlauf des Gesprächs zu narrativ-biographischen Interviews. Dazu kommt eine Reihe narrativ-biographischer Interviews mit Personen aus den verschiedenen Beobachtungsschwerpunkten. Bei den biographischen Interviews aus dem Umfeld des BETRIEBs ist eine Orientierung am beruflichen Lebensweg bei Männern, aber auch bei Frauen offensichtlich. Paarbeziehungen und familiäre Sorge wurden darin tendenziell weniger thematisiert. So ging etwa der eingangs zitierte Herr Paul erst auf meine Nachfrage im Anschluss an seine Erzählung auf das Thema Care für seinen Sohn ein. Dies liegt zum einen am Zugang über die (ehemalige) Arbeitsstätte, verweist zum anderen aber auch bereits auf die Bedeutung des Arbeitsplatzes innerhalb der erwerbszentrierten Gesellschaft der ehemaligen DDR, wie sie in den folgenden empirischen Kapiteln thematisiert wird.29 Anders als biographische Interviews mit Sorgenden in problematischen Pflegesituationen, wie etwa bei Chamberlayne und King (2000), erlauben aber gerade diese Interviews wichtige Einblicke in die alltagstrukturelle Erfahrung von Care. Gleichzeitig werden durch die Darstellung vergangener Care-Erfahrungen, die zur Konstruktion von Bedeutung in der Gegenwart in Anspruch genommen werden, auch normative Einschätzungen sowie Erwartungen an die Zukunft deutlich. Schließlich führte ich im letzten Monat der stationären Forschung eine strukturierte Erhebung im BETRIEB durch. Der verwendete Fragebogen zielte auf die Erhebung der sozialen Einbettung der Interviewten sowie ihrer normativen Erwartungen an Care.30 Insgesamt führte ich 23 dieser strukturierten Interviews mit acht Frauen und 14 Männern im Alter zwischen 24 und 56 Jahren durch. Zusätzliche Äußerungen und Erklärungen oder Spezifizierungen meiner Gesprächspartner im Verlauf der Interviews wurden ebenfalls aufgezeichnet.31 29 Zur Betonung der Berufsarbeit und Dethematisierung von Familie in biographischen Interviews mit Männern in den neuen Bundesländern siehe auch Scholz 2004. 30 Die Interviewpartner wurden durch eine einfache Zufallsauswahl aus Mitarbeiterlisten des BETRIEBs ermittelt (Zufallsgenerator: Bernard 1994: Appendix A). 31 Im Anhang findet sich eine Auflistung der aufgenommenen Interviews. Die wiedergegebenen Zitate werden entsprechend der Interviewform gekennzeichnet und zwar entweder mit tI für taped interview, TB für Tagebuchaufzeichnung oder durch Angabe der Interviewnummer (I Nr.) im Fall der Fragebögen. Zusätzlich werden das entsprechende Datum und weitere Attribute der sprechenden Person vermerkt, um die

66 | C ARE/SORGE Die Grundgesamtheit der Befragung ist zwar auf das Unternehmen beschränkt; es haben sich aber dennoch zum Teil neue Perspektiven oder ergänzende Erkenntnisse ergeben, die darüber hinausgehen und in die entsprechenden thematischen Kapitel aufgenommen wurden. Das hier geschilderte Vorgehen ermöglicht eine Annäherung an Care, die von unterschiedlichen Handlungsperspektiven und Erfahrungen in verschiedenen Handlungszusammenhängen ausgeht. In der Aufarbeitung der Daten standen somit Sorgepraktiken und ihre jeweiligen Begründungen durch die Interaktionspartner im Vordergrund der Analyse. Während das erhobene Expertenwissen vor allem in den Hintergrund der Darstellung einfließt, verhelfen die biographischen Interviews zu einer Erhebung von Relevanzstrukturen der Interviewten (Schütze 1977) und insbesondere der Temporalität von Care. Viele der im Folgenden beschriebenen Sorgepraktiken und -beziehungen erhalten erst durch diese Einbettung in die bereits gemachten Erfahrungen sowie die darauf aufbauenden Erwartungen an die Zukunft ihre Bedeutung. In diesem Sinne steuern auch die Daten der Netzwerkerhebung normative Erwartungen an Care bei. Das gestreute Vorgehen ermöglichte zudem im Laufe der Forschung Gemeinsamkeiten in Bezug auf Care zu entdecken, die ansonsten bei solch unterschiedlichen Akteuren und Handlungszusammenhängen verdeckt geblieben wären. I.3.1.3 Personen im Feld Im vorangegangenen Abschnitt wurde auf das spezielle othering postsozialistischer Akteure eingegangen. Eine Übernahme solcher Interpretationen von »nachholender Modernisierung« bzw. von widerspenstigen Interviewdaten als ›Spätfolgen‹ der sozialistischen Politik führt zu einer Deutung der Ungleichzeitigkeit gesellschaftlicher Prozesse, ähnlich wie sie Fabian für den postkolonialen Kontext beschreibt. Dieser Tendenz soll in den folgenden Kapiteln entgegen gearbeitet werden. Die ethnographischen Schilderungen und Vignetten zu Beginn der Kapitel werden zwar im Präsens wiedergegeben, um den Entstehungskontext aus Feldnotizen zu verdeutlichen. Die übergeordnete zeitliche Verortung ergibt sich dann aus dem jeweiligen sachlichen Kontext. Die jeweilige

Einordnung des Gesagten zu erleichtern. Transkribierte Tonbandaufzeichnungen wurden leicht redigiert, aber mit lokalen Einfärbungen, Sprechpausen etc. wiedergegeben, da diese häufig auch einen Einblick in die unterschiedlichen sozialen Hintergründe der Sprecher erlauben. Veränderungen wurden nur hinsichtlich der Anonymisierung der Orte und Personen der Forschung vorgenommen.

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historische Kontextualisierung verweist somit auf Verflechtungen und gegenseitige Abhängigkeiten in diesen Prozessen. Die Darstellung der Personen im Feld greift auf zwei Formen der Präsentation zurück. Manche der folgenden ethnographischen Erkundungen basieren wesentlich auf einigen Hauptakteuren, die zu Beginn der jeweiligen Kapitel eingeführt werden. Zusätzlich sollen hier bereits einige Personen vorgestellt werden, die in den unterschiedlichsten Zusammenhängen zu Wort kommen (oder wie im Fall von Herrn Paul schon zu Wort gekommen sind). Diese Form der Darstellung verfolgt das Ziel, auf die unterschiedlichen Kontexte zu verweisen, in denen Individuen durch Care bedeutsame Beziehungen aufbauen oder reproduzieren bzw. zu hegemonialen Vorstellungen von ›richtiger‹ Sorge beitragen. Indem die Individuen nicht nur auf eine bestimmte Sorgekonstellation reduziert werden, bekommen sie ›ein Gesicht‹, womit der Vielschichtigkeit persönlicher Erfahrungen und der Einbindung in Care Rechnung getragen wird. * Nicht alle der nun vorzustellenden Personen sind Hauptinformanten, vielmehr wurden sie ausgewählt, weil ihre Lebensverläufe unterschiedliche Aspekte von Care/Sorge beleuchten. Sie gehören zudem unterschiedlichen Generationen und sozialen Schichten an und leben in unterschiedlichen Familienformen. Manche erleben große familiäre Sorgeverpflichtungen, andere (noch) nicht. Manche sind Kinder aus stabilen Ehen oder führen selber eine solche, während andere in nicht-ehelichen oder wechselnden Partnerschaften mit oder ohne ihre leiblichen Kinder leben. In ihren Lebensläufen spiegeln sich zum Teil demographische Phänomene sowie typische Karriereverläufe bestimmter Phasen der DDRGeschichte wider. Diese Themen und die damit verbundenen Care-Praktiken und -Beziehungen werden in den folgenden Kapiteln detailliert aufgegriffen. Herr Jäger Geboren 1938 wächst Herr Jäger in der Nähe von Berlin bei der kinderlosen Schwester seiner Mutter und deren Mann auf. Laut seiner Aussage hat er keine leiblichen Geschwister, da seine Mutter nach seiner Geburt zwangssterilisiert wurde. Sein Elternhaus bezeichnet er als bürgerlich, seinen Vater als Pflanzenbiologen zudem er eine eher angespannte Beziehung hat. Entgegen dem väterlichen Wunsch eines Theologiestudiums, studiert er Germanistik in Berlin. Dort bekommt er wegen eines (westdeutschen) Buches Probleme mit der Polizei, die in seiner »Strafversetzung« nach SEESTADT münden. Nachdem er dort fünf Jahren als Hilfsarbeiter im BETRIEB tätig ist, steigt er langsam bis zum Pressesprecher auf. Diese Position bekleidet er bis in die Forschungsperiode, während deren er in den Vorruhestand eintritt. Seit 1965 ist er mit einer Lehrerin und ehemaligen Parteisekretärin verheiratet. Ihr gemeinsamer Sohn ist Koch und lebt mit seiner Lebensgefährtin ebenfalls in SEESTADT.

68 | C ARE/SORGE Im Gegensatz zum zehn Jahre älteren Herrn Jäger wächst Herr Paul in proletarischen Verhältnissen auf und bekleidet in seinem Berufsleben keine höhere Stellung. Wir haben von ihm bereits bei seiner Erzählung zum Umzug nach SEESTADT und im Eingangszitat zur Sorge für seinen Sohn gehört.

Herr Paul 1928 in Hannover geboren blickt Herr Paul auf ein bewegtes Leben zurück. Als unehelicher Sohn einer jungen Frau »in Stellung« wächst er bei seinen Großeltern in der Nähe von Stendal auf. Er beginnt eine Lehre als Schmied und wird im Alter von 17 Jahren noch kurz vor Kriegsende zur Wehrmacht eingezogen. Zu seinem 18. Geburtstag kehrt er nach Hause zurück und beendet seine Ausbildung. Danach arbeitet er zunächst auf der Werft in Tangermünde, wo inzwischen auch seine Mutter und deren neuer Ehemann erwerbstätig sind. Mit 19 Jahren heiratet Herr Paul zum ersten Mal. Die Ehe besteht sieben Jahre, und es geht ein gemeinsames Kind aus ihr hervor. Von seinem Stiefvater für die SED geworben, beginnt Herr Paul eine kurze Parteikarriere. Während seine Mutter und ihr Mann noch vor dem Mauerbau nach Aachen umziehen, arbeitet er zunächst als Agitator an verschiedenen Orten. Nach dem Verlust einer Tasche mit Parteidokumenten wird er jedoch aus der Partei ausgeschlossen. Inzwischen hat er in SEESTADT seine zweite Frau kennengelernt. Sie bringt eine Tochter in die Ehe mit, und in den folgenden Jahren bekommen sie vier weitere gemeinsame Kinder. Eines davon ist der eingangs erwähnte Sohn mit Down-Syndrom. Wie bereits oben angeklungen, lebt die Familie zunächst in einer ländlichen Gegend, und Herr Paul arbeitet in einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG). 1962 ziehen sie nach SEESTADT um, wo Herr Paul zunächst im BETRIEB, dann in der Wohnungswirtschaft und schließlich wieder beim BETRIEB angestellt wird. In der Wendezeit ist er an der Organisation der ersten Betriebsratswahlen beteiligt, bevor er 1993 mit 65 Jahren in den Ruhestand geht. Er bleibt aktiv und sucht sich – auch um die Sorge für seinen Sohn sicher zu stellen – Nebenverdienste verschiedenster Art. So beginnt er beispielsweise eine Heilpraktikerausbildung und gründet einen Gesundheitsverein.

Ähnlich wie Herr Paul hat auch Frau Haupt auf ihrem Lebensweg einige familiäre Sorgeverpflichtungen zu bewältigen. In der Forschung tritt sie aber zunächst als ›öffentlich‹ Sorgende in der Seniorenbetreuung des BETRIEBs in Erscheinung.

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Frau Haupt 1939 wird Frau Haupt in einem Dorf nahe SEESTADT geboren, das später dem Bau des BETRIEBes weichen sollte. Ihre Großeltern mütterlicherseits besitzen mehrere Gaststätten von denen ihre Mutter eine bis zur ihrer Heirat weiterführt. Danach übernimmt ihre jüngere Schwester den Betrieb, während sie selbst ein Haus erhalten soll. Laut Frau Haupt wird dieses aber – da der Großvater nicht NSDAP-Mitglied ist und daher keine Baugenehmigung erhält – auf den Namen seines Schwiegersohnes überschrieben. Als dieser sich 1961 scheiden lässt, wirkt sich das zum Nachteil ihrer Mutter aus. Dieser bleibt lediglich ein Wohnrecht in einem der Zimmer des zweistöckigen Hauses. Frau Haupt und ihre Geschwister sind zu diesem Zeitpunkt bereits erwachsen und sie selbst beendet daraufhin den Kontakt zum Vater. Zwei Monate später findet ihre eigene Hochzeit statt und in den folgenden Jahren werden ihre drei Töchter geboren. Zwei sind durch eine Erbkrankheit stark hörgeschädigt und beenden ihre Schullaufbahn auf einer Spezialschule. Nach der Geburt kehrt Frau Haupt nach jeweils acht bis zehn Wochen an ihren Arbeitsplatz im BETRIEB zurück. Dort hatte sie bereits 1960 nach acht Jahren Schulbesuch, einem Jahr Berufsschule und einer Prüfung als Stenotypistin zu arbeiten begonnen. Sie steigt zur Chefsekretärin auf und bleibt bis zu ihrem Renteneintritt 1995 dort beschäftigt. Sie war Mitglied der SED, legt aber Wert auf die Feststellung, sich stets um Parteilehrgänge und -versammlungen »gedrückt« zu haben. Nach ihrem Renteneintritt wird sie 2003 durch die Personalsachbearbeiterin zum Mitglied des neu gegründeten Seniorenbeirats ernannt. Mit dieser ehrenamtlichen Tätigkeit hat sie entscheidenden Anteil an der emotionalen Sorge für ehemalige Betriebsangehörige. Ihr Mann, der bei der Marine gearbeitet hatte, verstirbt im Zeitraum der Forschung.

Die beiden letzten der an dieser Stelle vorzustellenden Personen gehören zu den jüngeren Akteuren dieser Ethnographie. Beide sind Väter kleiner Kinder, die ihren Sorgeverpflichtungen allerdings in sehr unterschiedlicher Weise nachkommen.32

32 Die flexible Forschungsphase ermöglichte hier einen Einblick in die Prozesse der Aushandlung von Sorge wie sie unter anderem in Kapitel II.2 thematisiert werden.

70 | C ARE/SORGE Herr Wolf 1969 geboren wächst Herr Wolf in einer Kleinstadt im Norden der DDR auf. Nach seiner Ausbildung arbeitet er ab 1986 im BETRIEB und kehrt nach dem Wehrdienst an seinen Arbeitsplatz zurück. Infolge einer Hirnhautentzündung während der Armeezeit gilt er fortan als schwerbeschädigt. Früher als Facharbeiter tätig, erlebt er nach der Wende einen beruflichen Aufstieg im BETRIEB. Im Jahr 2000 wird sein Sohn geboren, anderthalb Jahre später verlässt seine Lebensgefährtin mit ihrer Tochter aus erster Ehe die gemeinsame Wohnung. Herr Wolf kämpft um das Sorgerecht für den Sohn und lebt zum Zeitpunkt der Forschung als alleinerziehender Vater in einem der Neubauviertel SEESTADTs. Seine Eltern, die beide in der DDR als Lehrer tätig gewesen waren, sind nach ihrem Eintritt ins Rentenalter ebenfalls nach SEESTADT gezogen. Auch sein Bruder (geschieden, zwei bereits erwachsene Kinder) wohnt in der Innenstadt von SEESTADT.

Herr Grabbin Herr Grabbin wird 1967 nahe SEESTADT geboren und lebt nach der Trennung von seiner letzten Partnerin, mit der er ein gemeinsames Kind hat, in einer neuen nicht-ehelichen Partnerschaft. Er hat noch ein weiteres Kind aus einer früheren Ehe, die aus seiner Sicht durch die Veränderungen nach der Wende zerbrach. Seinen beruflichen Werdegang nach der Wende vom Fahrer in einer LPG zum Servicemitarbeiter im BETRIEB erlebt er als Aufstieg. Diese Stelle hat er nach einer Phase der Arbeitslosigkeit im Jahr 2000 durch die Vermittlung seiner früheren »Schwiegermutter« (die Partnerschaft bestand ohne Trauung) erhalten. Diese begründet mir gegenüber ihre Hilfe explizit mit ihrem Wunsch, dass er seinen finanziellen Sorgeverpflichtungen nachkommen kann.33

Die Auswahl der vorgestellten Personen verweist auf die Bandbreite unterschiedlicher Einbindungen von Care in unterschiedlichen Lebensphasen und spiegelt so in erster Linie die Diversität von Sorge wider. Ihre Einführung an dieser Stelle sowie die detaillierteren Beschreibungen einzelner ihrer Sorgepraktiken und Ansichten zu Care in den empirischen Erkundungen verdeutlichen die Vielschichtigkeit der Bedeutung von Sorge im Leben Einzelner. Dennoch zeigen sich auch einige geteilte Vorstellungen zu Care sowie damit verbundene charakteristische Praktiken in den vorgestellten Biographien. So ist etwa die zunehmende Entkopplung von Ehe und Kindern, wie sie sich besonders bei den jüngeren Gesprächpartnern Herrn Wolf und Herrn Grabbin zeigt, typisch 33 Zum Sorgearrangement für seinen Sohn siehe auch Kapitel II.2.

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für die DDR-Gesellschaft. Gleiches gilt für das steigende Alter bei Erstgeburt in den jüngeren Generationen als Teil der demographischen Entwicklung, wie sie im vorigen Abschnitt schon dargestellt wurde. Zudem deutet sich in den vorgestellten Lebenswegen aber auch der Zusammenhang zwischen institutionellen und privaten Formen von Care an. Berufstätigkeit und gleichzeitige Wahrnehmung von Sorgeverpflichtung, wie sie sich etwa im Leben von Frau Haupt zeigt, war in vielen Gesprächen ein Thema und stellte sich auch für die Verortung der Ethnologin im Feld als bedeutsam heraus, wie der nächste Abschnitt zeigt. * Soziale und historische Unterschiede sowie ihre Interpretationen beeinflussen die Interaktion in der Forschungssituation durch wechselseitige Vorannahmen. Daher ist die Zuordnung des Forschers bzw. der Forscherin durch die Mitglieder der untersuchten Gruppe entscheidend für den Verlauf der Feldforschung (Greverus/Römhild 1999, Okely 1996). Im vorliegenden Fall gab es ambivalente Gleichheits- wie Andersartigkeitszuordnungen, die unter anderem Aufschluss über die zur Zeit der Feldforschung dominante Unterscheidung in Ost- und Westdeutsche gaben.34 So bauten viele Interaktionspartner gleich am Anfang eines Gesprächs Fragen nach meiner Herkunft ein. Bei einer Seniorenweihnachtsfeier wurde ich zudem von Herrn Weber der Tischrunde ehemaliger Kollegen mit den Worten vorgestellt: »Das ist eine aus dem Westen, keine Deutsche, eine von den Besatzern.« (TB 10.12.2004) Auffällig an dieser Bemerkung ist, dass für den Sprecher die Herkunft aus den alten Bundesländern einem Ausschluss aus der ethnischen Gemeinschaft der »Deutschen« gleichzukommen schien.35 Zugleich drückt der Begriff der »Besatzer« auch die empfundene Hierarchie aus, die in mancherlei Hinsicht der Situation ethnologischer Forschung zu Kolonialzeiten ähnelt.36 Es brauchte daher einige Zeit, manchmal 34 Die getrennte Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und der Bundesrepublik Deutschland (BRD) über 40 Jahre lang, legte trotz Festhaltens westdeutscher Politiker an der Konstruktion einer ›Nation‹ auch das Fundament für die spätere diskursive Unterscheidung von Ost- und Westdeutschen, die sich schon bald in öffentlichen Diskursen nach der Vereinigung beider deutscher Staaten zeigte (Dietzsch 2004; siehe auch Kapitel I.3.1). 35 Zu den Weihnachtsfeiern siehe Kapitel III.2, zur ethnischen Selbstbeschreibung auch Kapitel II.1. 36 Neben den politischen Unterschieden haben sich über die 40 Jahre des Lebens in zwei verschiedenen Staaten viele Alltagsroutinen entwickelt, die im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs als Fremdheit oder auch unterschiedliche Kulturen wahrgenommen werden (Johler 2005). Diese sind auch als Ausdruck mangelnder »innerer

72 | C ARE/SORGE auch die Kontaktaufnahme über Gewährsmänner und -frauen, um genügend Vertrauen für längere Gespräche oder Tonbandaufzeichnungen aufzubauen. Dies betraf insbesondere Personen mit ehemals hohen Leitungs- und Parteifunktionen sowie Frauen, die in der Kinderbetreuung beschäftigt waren. Letztere hatten durch die gegen die DDR-Erziehung gerichteten Diskurse der Nachwendezeit besonders viel Misstrauen aufgebaut. So sagte beispielsweise eine ehemalige Hortverantwortliche, nachdem sie im ersten Jahr meiner Forschung noch ein Gespräch mit mir abgelehnt hatte, ein Jahr später zur Begründung ihres damaligen Verhaltens, dass sie sich habe heraushalten wollen wegen des »ganzen Geredes nach der Wende über die Erzieherinnen in den Krippen« (TB 10.12.2004). Gleichzeitig gab es während der Feldforschung aber auch interessante Momente der Inklusion. Mehrere Interaktionspartnerinnen klassifizierten mich in dem Moment als ›ostdeutsch‹, als sie bemerkten, dass ich als Mutter kleiner Kinder erwerbstätig war. In der Forschungssituation bedeutete dies, dass erst meine eigenen, aus Sicht der Interaktionspartner ›richtigen‹ familiären Sorgepraktiken dazu verhalfen, Gesprächsbarrieren aufzulösen. Diese Situationen waren auch Hinweise auf die Bedeutung der Selbstvergewisserung ›richtiger‹ Sorge in der Vergangenheit als Bestätigung einer bedeutungsvollen Biographie, wie dies vor allem in den Kapiteln II.2 und II.3 dargestellt wird. Gleichzeitig verdeutlichen diese Gesprächssequenzen die zentrale Bedeutung familiärer Sorgepraktiken für die diskursive Unterscheidung zwischen ost- und westdeutsch, wie sich anhand der folgenden Einführung in lokale Diskurse ebenfalls zeigt.

Einheit«, einer »dualistischen Gesellschaft« und zweier »Subgesellschaften« diskutiert worden (siehe auch Thomas 1998). Der Historiker Jürgen Kocka (1994) spricht in diesem Zusammenhang von Elementen zweier verschiedener politischer Kulturen und führt weiter aus, dass Kommunikation, Freundschaft und Heirat immer noch getrennt zwischen Ost- und Westdeutschland vonstatten gehen. Amerikanische Wissenschaftler beschreiben die Unterschiede nach der Vereinigung gar in Begriffen verschiedener nationaler und ethnischer Identitäten in Ost- und Westdeutschland (Howard 1995; Staab 1998). Während diese und ähnliche Darstellungen meist auf Daten über das Wahlverhalten, anderen statistischen Erhebungen sowie auf Meinungsumfragen zurückgreifen, drücken sich die wahrgenommenen Unterschiede auch im Alltag in einer pejorativen Abgrenzung voneinander aus. Möglicherweise hat dies dazu beigetragen, dass es trotz der wahrgenommenen Fremdheit tatsächlich nur wenige ethnologische Studien zum jeweils ›anderen‹ Deutschland gibt. Nach Abflauen des kurzzeitigen Interesses in den frühen 1990er Jahren ist seither für Arbeiten aus westdeutscher Perspektive ein beinahe völliges Fehlen zu konstatieren (Johler 2005).

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I.3.2 L OKALE B EDINGUNGEN

UND

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D ISKURSE

In diesem Abschnitt sollen die lokalen Bedingungen der Einbettung von Care in soziale Sicherung sowie zentrale Diskurse zu Sorgepraktiken im lokalen Zusammenhang thematisiert werden. Gemäß dem in der theoretischen Grundlegung vorgestellten geschichteten Konzept sozialer Sicherung (Benda-Beckmann/Benda-Beckmann 1994) werden zunächst Grundzüge der institutionellen Implementierung staatlicher Normen im Sozialismus eingeführt. Im Anschluss daran geht der zweite Abschnitt auf die Veränderungen nach 1989 und deren Wahrnehmung in öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskursen ein. Im Unterschied zu den anderen postsozialistischen Transformationsländern zeichnet sich die Entwicklung in den neuen Bundesländern vor allem dadurch aus, dass nahezu ohne Übergang, öffentliche Diskussionen oder Modifikationen das Modell der Bundesrepublik übernommen wurde. Gleichzeitig zog die Vereinigung nicht nur die Einführung westlicher Institutionen in den neuen Bundesländern nach sich, sie verstärkte zugleich den schon länger vorhandenen Druck zur Reform auch der bundesrepublikanischen Industrie und Wohlfahrtspolitik. Einige Autoren sprechen daher von einer zweifachen Transformation, und manche der neo-liberalen Reformen fanden tatsächlich schneller im Osten als im Westen der Republik statt (Nickel 2000), was sich etwa am Feld-forschungsort AMT zeigt. Doch die postsozialistische Transformation in Form des Beitritts hatte nicht nur Konsequenzen für die wissenschaftliche Aufarbeitung, sondern auch auf die Erfahrungen der Akteure. Daher stehen im dritten und letzten Abschnitt schließlich die Interpretationen lokaler Akteure im Mittelpunkt des Interesses. Kolinsky fasst die Entwicklung folgendermaßen zusammen: »Nothing remained unchanged, unquestioned, or predictable. Unification shattered the certainties of everyday life in East Germany, as well as its norms and its unspoken assumptions.« (1995: 13) Die auf diese rasanten Veränderungen folgenden und ab Mitte der 1990er Jahre deutlicher zutage tretenden Abgrenzungstendenzen in den neuen Bundesländern wurden – wie dies im vorigen Kapitel bereits ähnlich bezüglich anderer Haltungen konstatiert wurde – als anhaltende mentale Deformationen gedeutet (Thomas 1998). Die folgenden ethnographischen Erkundungen zeigen, dass die Akteurinnen ihre Sorgepraktiken aufgrund ihrer Erfahrungen in Abgrenzung zu neu eingeführten staatlichen Normen und deren institutionellen Implementierung interpretieren. Care wird so ein zentrales Thema diskursiver Abgrenzungen und in den neuen Bundesländern auch Teil einer positiven Selbstvergewisserung. Bereits in diesen Interpretationen deuten sich zudem komplexere Zusammenhänge von Sorge und ihrer Einbettung in

74 | C ARE/SORGE vielgestaltige Übergänge zwischen als staatlich/nicht-staatlich oder öffentlich/privat definierten Bereichen und Beziehungen an. Auch diese werden in den folgenden ethnographischen Erkundungen ausführlicher geschildert. I.3.2.1 Care und staatliche soziale Sicherung Frau Schönhut, eine Freundin der eingangs zitierten Frau Schlosser, (70 Jahre, verheiratet, ehemals »Abteilungsleiter Arbeiterversorgung«, also Küchenchefin, und seit 1990 im vorgezogenen Ruhestand, blickt auf ihr Leben in der DDR zurück. Sie zählt eine ganze Reihe betrieblicher Leistungen sozialer Sicherung in der DDR auf und schließt mit dem Kommentar: »Man hat sich um die Menschen sehr gekümmert.« (tI 17.9.2003) Herr Jäger auf die Frage, wie er Mitglied in einer sogenannten Kampfgruppe der Arbeiterklasse37 wurde: »Wie man da rein kam? Ich kann Ihnen sagen, wie man da rein kam, ich war zwei Wochen hier und hatte meinen Chef noch nicht gesehen; da kam der morgens rein und schlug mir mit seiner Pranke – das war so ein Kerl [deutet mit den Armen Größe an] – auf den Rücken und sagte: ›Na, Jäger irgendwelche körperlichen Gebrechen? Nicht? Na dann: Samstagmorgen 6 Uhr beim Verladen.‹ Und da stand ich dann da an den Wochenenden, aber war nicht schlecht: Er hat mir fast gleichzeitig das Papier für die freiwillige Zusatzrente zum Unterschreiben hingehalten. Ich wusste kaum, was ich da unterschreibe, aber es hat sich jetzt ausgezahlt bei der Rente.« (TB, 24.2.2003)

In beiden Aussagen finden sich einige Hinweise auf die Form und Wahrnehmung staatlicher Rahmen sozialer Sicherung im Sozialismus und speziell der DDR, wie sie im Folgenden skizziert werden. Zunächst wird die allgemeine Entwicklung vom Sozialismus zum Postsozialismus einschließlich einiger Besonderheiten der DDR dargestellt, bevor anschließend auf die für die vorliegende Studie relevanten Elemente der Familienpolitik und deren Einfluss auf

37 Die Kampfgruppen der Arbeiterklasse wurden von der SED nach dem Aufstand von 1953 als paramilitärische Organisation ins Leben gerufen. Ab 1954 entstanden die sogenannten Betriebskampfgruppen. Allerdings blieb deren Loyalität der Parteiführung bis zum Ende der DDR zweifelhaft. Sie standen nie unter Waffen, sondern mussten sich diese für Übungen bei der örtlichen Volkspolizei ausleihen, der sie ab 1955 unterstellt waren. Zudem fand bis zu den 1970er Jahren ein Generationenwechsel statt, in dessen Verlauf die ehemals noch überzeugten Veteranen oder anderweitig kriegsfaszinierten Mitglieder durch eine neue Generation abgelöst wurden für die die (von der Partei oftmals beklagte) Geselligkeit mit gesteigertem Alkoholgenuss in den Vordergrund der Treffen rückte (Siebeneicher 2008).

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anscheinend private Sorge eingegangen wird. Ziel dieses Kapitels ist also nicht eine umfassende Einführung in die Wohlfahrtspolitik der DDR oder der postsozialistischen Transformationsphase, sondern die Herausarbeitung charakteristischer Elemente und Interpretationen von Care, die für den weiteren Verlauf der Darstellung von Bedeutung sind.38 Soziale Sicherung im Sozialismus Im oben zitierten Fazit von Frau Schönhut drückt sich die institutionelle Implementierung staatlicher Ideale über den Arbeitsplatz bereits als wesentliches Element sozialer Sicherung aus. Neben der bezahlten Arbeit und den staatlich regulierten Renten als Quellen finanzieller Sicherung stellten sozialistische Betriebe viele weitere Formen sozialer Sicherung durch Verpflegungsmöglichkeiten, Wohnraum, Kinderbetreuung und Ferienanlagen zur Verfügung. Zudem wurden auch Freizeitaktivitäten wie diverse Hobby- und Sportgruppen innerhalb der Betriebe organisiert. Diese Kopplung von sozialen Ansprüchen und gesellschaftlicher Teilhabe an den Arbeitsplatz existiert durchaus auch in anderen Industriegesellschaften, war aber in sozialistischen Ländern besonders ausgeprägt (Gal/Kligman 2000a, 2000b; Haney 2002; Pine 2002; Standing 1996). Die Rolle der Unternehmen folgte zum Teil historischen Vorläufern paternalistischer Unterstützung in industriellen Familienbetrieben und in der Arbeiterbewegung. Diese moralische wie praktische Verknüpfung von Ansprüchen mit Erwerbsarbeit wurde in den sozialistischen Staaten ausgebaut und zentralisiert (Adam 1991; Chamberlayne/King 2000: 58-60; siehe auch Read/Thelen 2007). Weitere Ressourcen wurden aufgrund einer staatlich definierten Bedürftigkeit an weit gefasste Personengruppen wie etwa »die Frauen« oder »die Jugend« verteilt (Haney 1999; Kay 2007). Als weitere spezifisch sozialistische Elemente sozialer Sicherung sind die Subventionierung von Grundnahrungsmitteln, geregelte niedrige Mieten und eine allgemeine Gesundheitsversorgung zu nennen. Einerseits reduzierten diese universellen Rahmenbedingungen sozioökonomische Ungleichheiten drastisch und trugen dadurch zur Legitimierung sozialistischer Staaten bei (Verdery 1996; Jarausch 1999). Andererseits wurden der Mangel an hochwertigen Konsumgütern und die niedrige Qualität der Dienstleistungen innerhalb der sozialistischen Wohlfahrt auch zum Dauerärgernis der sozialistischen Bürger. Ausgeschlossen oder zumindest vernachlässigt durch die Organisation sozialer Sicherung waren auch diejenigen Erwachsenen, 38 Für einen Überblick zur Sozialpolitik der DDR siehe Hockerts (1994) sowie die Beiträge in Hoffmann/Schwartz (2005). Noch zu DDR-Zeiten verfasst: Winkler/ Barthel (1989).

76 | C ARE/SORGE die sich weigerten oder nicht in der Lage waren, Lohnarbeit zu verrichten. So blieben die Gruppen der Schwerstbehinderten und der Hochbetagten Betätigungsfelder kirchlicher Sorge. Dazu zählten aber auch Hausfrauen, die sich entgegen dem sozialistischen Ideal für eine mütterliche Sorge zu Hause entschieden.39 Auch in der DDR lassen sich diese Grundelemente sozialistischer Politik finden, die seit der sogenannten Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Regierungszeit von Erich Honecker noch ausgeweitet wurden.40 Es lassen sich aber auch spezifische Einflüsse der vorsozialistischen Zeit etwa im allgemeinen System der Sozialversicherung ausmachen (Ritter 2005). Obwohl etwa nach dem Mauerbau und damit dem Ende des gemeinsamen Arbeitsmarktes zunächst eine deutlichere Bevorzugung der Arbeiter einsetzte, wurde diese später wieder abgebaut. Stattdessen wurden wieder Sonderversicherungen für Mitglieder staatsnaher Berufe und Vereinigungen sowie technischer Berufe eingeführt (Hoffmann/Schwartz 2005; Ritter 2005). So wurden etwa die von Herrn Jäger erwähnten Kampfgruppen ab den 1970er Jahren mit einer Zusatzrente bedacht (Siebeneicher 2008: 117). Bis zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten entwickelten sich so erhebliche Unterschiede zwischen den ca. 90 Prozent an Beziehern der niedrigen Standardrenten und den etwa zehn Prozent an Beziehern oder Anwartschaften aus 27 Zusatz- und vier Sonderversorgungssystemen (Ritter 2005: 20). Innerhalb des sozialistischen Lagers waren die Renten in der DDR zwar die höchsten und auch diejenigen mit der größten Kaufkraft, blieben aber im Verhältnis zu denjenigen in der Bundesrepublik (dem stetigen Referenzpunkt der DDR-Bürger) bis 1989 dennoch gering (Friedrich-Ebert-Stiftung 1987: 19; Geißler 2002: 271-272). Auch in diesem Feld spielte der Vergleich über die Systemgrenze hinweg in der DDR sicher eine noch größere Rolle als in anderen sozialistischen Staaten. Wenn auch das Grundprinzip der Kopplung von Ansprüchen an Erwerbsarbeit erhalten blieb, so ergaben sich im Laufe der Zeit dennoch einzelne Verlagerungen in der staatlicherseits anerkannten Bedürftigkeit und deren institutionel-

39 Kapitel III.3 geht auf eine solche Gruppe von Frauen und ihre Sorgepraktiken sowie deren Folgen für ihre soziale Sicherung ein. 40 Das Schlagwort der »Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik« wurde durch eine Rede Honeckers auf dem achten Parteikongress 1971 geprägt. Während seiner Regierungszeit wurden die Funktionen sozialer Sicherung staatlicher Unternehmen ausgeweitet (siehe auch Roesler 2003; Hübner 1999). Jarausch (1999) prägte den Begriff des welfare dictatorship, um diesen besonderen Charakter der DDR zu beschreiben.

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len Implementierung.41 Die konkrete Bereitstellung von Ressourcen, also das giving of care im Sinne von Tronto, wurde oft an die entsprechenden Massenorganisationen delegiert, welche gleichzeitig auch andere Bedürfnisse erfüllten. Eine derartige »Bürgerbeteiligung«, die häufig als Ausnutzung empfunden wurde, konnte neben der Instandhaltung von Spielplätzen und Parks auch Formen von Care wie etwa die Renovierung von Wohnungen alter Menschen beinhalten. »Essen auf Rädern«, Seniorenbesuche und Hilfen im Haushalt wurden in der DDR vor allem über ehrenamtliche Helfer in der »Volkssolidarität« organisiert (Chamberlayne/King 2000: 59; zu verschiedenen weiteren Formen freiwilliger Tätigkeiten in der DDR siehe auch Palmowski 2009). Wegen der im vorigen Kapitel schon dargestellten einseitigen Sicht auf Defizite sozialistischer Gesellschaften wurde diesem Bereich vielfach die Authentizität abgesprochen. Viele Care-Praktiken ehrenamtlicher Arbeit, die zumindest in Teilen auch als zivilgesellschaftliches Engagements gelten könnten, sind daher weiterhin ein kaum erforschter Bereich sozialistischer Gesellschaften. Angesichts der ›Unfreiwilligkeit‹ mancher Aktivität – wie sie bereits das Zitat von Herrn Jäger zeigt – ist dies durchaus verständlich. Übersehen wird dabei jedoch, dass es Bereiche genuin freiwilligen Engagements gab, die zum Teil auf lange Traditionen zurückblickten (Lindenberger 2011: 1; siehe auch Lindenberger 2010; Palmowski 2009). Gleichzeitig verweist das Beispiel der sogenannten Kampfgruppen darauf, dass ›freiwillige‹ Vereinigungen auch militärischen Charakter haben können. Dies trifft nicht nur auf die sozialistischen Länder, sondern auch auf westliche Demokratien zu, was die ausschließlich positive Bewertung zivilgesellschaftlicher Organisationen – wie sie vor allem in den Diskursen der 1990er Jahre in den ehemals sozialistischen Ländern des sowjetischen Einflussbereichs in Europa dominant war – fragwürdig erscheinen lässt.42 Angesichts solcher Ähnlichkeiten sowie der gemeinsamen historischen Vorläufer lässt sich zwar ähnlich wie im vorangegangenen Kapitel konstatieren, dass der trennende Graben zwischen Ost und West in den Sozialwissenschaften vielfach überbetont wurde. Dennoch ergaben sich mit den nach 1989 erfolgenden Reformen doch einige entscheidende Veränderungen in den Rahmenbedingungen alltäglicher Sorge als Dimension sozialer Sicherung. 41 Haney (1999, 2002) etwa beschreibt die historische Entwicklung sozialistischer Wohlfahrtsprinzipien am Beispiel Ungarns. Sie differenziert zwischen verschiedenen Phasen, die sich von einem staatlichen giving of care in Form der Integration von Müttern in den Arbeitsmarkt hin zu einer Überprüfung der Qualitäten mütterlicher Sorge im privaten Haushalt entwickelten. 42 Zu der positiven Bewertung von Zivilgesellschaft im postsozialistischen Kontext siehe auch Hann 1996; Lindenberger 2011.

78 | C ARE/SORGE Soziale Sicherung nach dem Sozialismus Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus sowjetischer Prägung in Europa forderten Reformer und Politiker innerhalb und außerhalb der betroffenen Länder im Einklang mit zu diesem Zeitpunkt hegemonialen, neoliberalen Sicht einen Rückzug des Staates aus vielen Bereichen gesellschaftlichen Lebens einschließlich einer Begrenzung staatlicher sozialer Sicherung (siehe z.B. Aslund 1992; Klaus 1992; Kornai 1990; Kornai/Eggleston 2001). Entsprechend der unterschiedlichen Formen der Konzeptualisierung der Dichotomie privat/öffentlich (Weintraub 1997, siehe auch Einleitung zu dieser Studie) konnte der Rückzug des Staates in der Praxis verschiedene Formen annehmen, wie etwa die Einführung von als privat konzipierten Märkten, die Privatisierung staatlicher Unternehmen oder auch die Delegation früher staatlicher Sorge an Familien. Die unkritische Übernahme des Bildes vom Rückzug des Staates führte in der sozialwissenschaftlichen Forschung zu einer Konzentration auf Themen sozialer Exklusion und Unsicherheit in postsozialistischen Gesellschaften. Durch die Eindimensionalität in der Analyse wurde die Diversität von Rekonfigurationen des privaten und öffentlichen Raumes nur ungenügend erfasst (Read/Thelen 2007). Gerade der Blick auf Care als Dimension sozialer Sicherung ist geeignet, die hier skizzierte Engführung zu überwinden, um auf diese Weise zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. So können etwa Handlungen von Akteuren erfasst werden, die vermeintlich private Netzwerke und Beziehungen nutzen, um Formen der Sorge zu erhalten bzw. neu zu schaffen, die früher mit staatlichen Institutionen verbunden waren (Haukanes 2007, siehe auch Kapitel III.2). Auch die staatliche Implementierung von Care-Normen, die Haus und Familie als authentische Domäne für die Bereitstellung von Sorge konstruieren, führt manchmal zu gegenläufigen Praktiken wie etwa das Kapitel II. 2 zu den Praktiken der Großväter zeigt. Mittlerweile hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Reformen nach 1989 selten gradlinig zur Schaffung eines liberalen, residualen Wohlfahrtsstaats führten (Standing 1996). Beeinflusst von spezifischen lokalen Bedingungen waren die verschiedenen Restrukturierungsprozesse das Ergebnis von Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Interessengruppen und zeitigten oft widersprüchliche Ergebnisse (Kalb/Svašek/Tak 1999; Stark/Bruszt 1998). Im Ergebnis wurden in den meisten postsozialistischen Ländern einige Elemente staatlicher sozialer Sicherung weniger radikal reformiert als andere (Haggard/Kaufman 2001: 4; Sotiropoulos 2005: 296).

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Zu den wichtigsten Veränderungen sozialer Sicherung zählt für viele ehemals sozialistische Bürger die veränderte Rolle der Betriebe. Zum einen führte ihre Auflösung oder der erhebliche Abbau von Arbeitsplätzen durch die wirtschaftlichen Reformen zu hohen Arbeitslosenraten. Generell hatten Arbeitnehmer über 50 Jahre, Frauen, Geringqualifizierte sowie diejenigen mit unterbrochenen Erwerbsbiographien größere Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt. Die Anerkennung von Arbeitslosigkeit als Bedürfnislage (caring about) zeigt sich unter anderem daran, dass viele postsozialistische Regierungen spezielle staatliche Unterstützungsprogramme einführten. Auf individueller Ebene (z.B. für einen Arbeitslosen) konnte dies eine direktere und größere Abhängigkeit von staatlichen Bereitstellungen als im Sozialismus zur Folge haben. Staatliche Dezentralisierung und neue Religionsfreiheiten haben darüber hinaus zu einem größeren Einfluss von Kirchen, Wohlfahrtsorganisationen und anderen nichtstaatlichen Akteuren geführt, die Care, zum Teil unterstützt durch den Staat, anbieten (Caldwell 2004; Read 2005, 2007).43 Neben diesen in weiten Teilen auch für das Gebiet der ehemaligen DDR geltenden Bedingungen hatte die rasche Inklusion der neuen Bundesländer in die institutionellen Strukturen der alten Bundesrepublik Konsequenzen für die Interpretation der Veränderungen. Die Behandlung als privilegierter Sonderfall brachte es unter anderem mit sich, dass zumindest anfänglich grenzenloses Vertrauen in die Übertragung der alten bundesdeutschen Institutionen gesetzt wurde und auftretende Probleme lange ignoriert werden konnten (Thomas 1998). zur Folge hatte. Unter den Bedingungen des Beitritts wurden manche Gruppen stärker getroffen bzw. waren mehr als andere gezwungen, ihren Lebensstil anzupassen. DDR-Eliten beispielsweise erlebten größere Schwierigkeiten als Funktionäre in anderen ehemals sozialistischen Ländern (Diewald/Huinink/ Solga/Sørensen 1995). Im Allgemeinen blieb eine strukturelle Ungleichheit zwischen den neuen und alten Bundesländen in den ersten 15 Jahren nach der Vereinigung bestehen, die unter anderem die schon erwähnte massive Abwanderung der jüngeren und besser qualifizierten Arbeitskräfte. Demgegenüber und verglichen mit anderen Altersgruppen gelten die Rentner im Allgemeinen als »Vereinigungsgewinner« (Geißler 2002: 275; Scharf 1995). Der nun gesamtdeutsche Staat übernahm im Zuge der Währungsunion die Rentenansprüche aus der DDR, die in der Folge dynamisiert wurden (Ritter 2005: 20-21, Maydell 2001: 217). Das verbesserte schnell die materielle Situa43 Auch im Zuge der deutschen Vereinigung erhielten die Kirchen eine neue Rolle in der Bereitstellung sozialer Sicherung von staatlicher Seite zugesprochen In Kapitel III.3 wird eine solche neu entstehende Form von staatlich geförderter religiös basierter Sorge in ihrer Verbindung mit den Lebensläufen der Akteurinnen thematisiert werden.

80 | C ARE/SORGE tion insbesondere derjenigen, die nur die niedrige Standardrente der DDR bezogen. Umstritten blieb die Rentenübernahme aus den zum Teil beitragsfreien Zusatzversicherungen, die gedeckelt wurden. Im Vergleich zu ihren Mitbürger in den alten Bundesländern erhalten die Rentner in den neuen Bundesländern aufgrund ihrer längeren und ununterbrochenen Berufstätigkeit im Durchschnitt etwa zehn Prozent höhere staatliche Renten (Ritter 2005: 20).44 Einschränkend muss aber hinzugefügt werden, dass Einkünfte oder Ersparnisse aus der individuellen Altersvorsorge und insbesondere der Erwerb von Wohneigentum durch die Verhältnisse während des Sozialismus deutlich eingeschränkt waren. Daher liegt das durchschnittliche Haushaltseinkommen von Menschen über 65 Jahren in den neuen Bundesländern weiterhin erheblich unter demjenigen der alten Bundesländer, was im Verbund mit den gestiegenen Mieten dazu führt, dass diese vor allem beim Tod des Partners leicht in finanzielle Schwierigkeiten geraten (Ritter 2005: 21; Geißler 2002: 108). Bei gleichzeitig hoch bleibender Arbeitslosenrate und unsicheren Arbeitsverhältnissen sind aber die Älteren trotzdem in vielen Familien die Einzigen mit gesichertem Einkommen.45 Dabei bringt die wirtschaftliche Situation im Verbund mit staatlicher Politik und Sorgeidealen manchmal unerwartete Care-Praktiken hervor, wie sie etwa in Kapitel II.2 dargestellt werden. Eine weitere Besonderheit in den neuen Bundesländern stellt der radikale Bruch mit der früheren Familienpolitik und der damit verbundenen staatlichen Vision von Sorge für Kinder dar. Es handelt sich dabei auch um ein Feld von Care-Praktiken, das die im vorigen Abschnitt dargestellten Klassifizierungen von 44 2004 betrug die durchschnittliche Rente in den neuen Bundesländern 1.037 Euro für Männer und 665 Euro für Frauen. Im Vergleich dazu lag die Durchschnittsrente in den alten Bundesländern bei 982 Euro für Männer und 483 Euro für Frauen (Vereinigung der deutschen Rentenversicherung, gedruckt 12.9.2004 in der Ostsee-Zeitung). 45 Obwohl dieser Prozess sicherlich durch die besondere Transformationslogik postsozialistischer Gesellschaften bestimmt wird, zeichnen sich im gleichen Zeitraum ähnliche Entwicklungen auch in anderen Ländern ab. Nach einer weltweiten Bildungsexpansion nach dem Zweiten Weltkrieg war ist es in vielen Ländern zu einer Welle sozialer Aufstiege gekommen. Diese Entwicklung bricht aber spätestens Mitte der 1980er Jahre ab, als elterliche Investitionen in Bildung nicht mehr zu gesicherter Erwerbstätigkeit der jüngeren Generation führten. Bis in die 1990er Jahre mündete diese Entwicklung dann häufig in einer Abhängigkeit jüngerer Generationen von den Älteren, so dass Claudia Roth (2005) etwa bezüglich des städtischen Burkina Faso von einem umgekehrten Generationenvertrag spricht. In ihrer Dramatik von dieser Situation zwar weit entfernt, entstehen auch in den neuen Bundesländern neue Formen von Care zwischen den Generationen (siehe dazu auch Kapitel II.2).

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Sozialbeziehungen entlang einer politisch-wirtschaftlichen Trennung in privat und öffentlich in Zweifel zieht. Zudem ist dieses Feld der Sorge für die schon angesprochene biographische Selbstvergewisserung von immenser Bedeutung. Daher soll an dieser Stelle die Veränderung staatlicher Familienpolitik in Beziehung zu familiären Care-Praktiken sowie ihre Interpretation durch die Akteure näher beleuchtet werden. Soziale Sicherung, Care und Gender Neben der Bindung sozialer Sicherung an den Arbeitsplatz kann das Bekenntnis zur Emanzipation von Frauen aus bürgerlichen und bäuerlichen Familienstrukturen durch rechtliche Gleichstellung und ihre Integration in den Arbeitsmarkt als weitere Gemeinsamkeit sozialistischer Staaten gelten. Dennoch wurde auch die Verantwortung von Frauen als familiäre Sorgende in staatlichen Diskursen sozialistisch regierter Länder hervorgehoben (Lapidus 1978; Einhorn 1993; Gal 1994; Huseby-Darvas 1996; Haney 1999; Gal/Kligman 2000a, 2000b; Haukanes 2001; Pine 2002; Read 2005, 2007). Zudem blieben die sozialistischen Arbeitsmärkte deutlich gender-segregiert, d.h. Frauen waren überrepräsentiert in niedrigen Positionen sowie häufig in Bereichen mit niedrigem Prestige tätig. Dazu zählen signifikanterweise – wie schon aus der feministischen Kritik aus der theoretischen Grundlegung bekannt – Tätigkeiten in der öffentlichen Sorge wie etwa im Bildungswesen und den Gesundheitsdiensten.46 Daher kann der Einzug von Frauen in den offiziellen Arbeitsmarkt der sozialistischen Länder auch als Teil einer allgemeinen Entwicklung der Professionalisierung weiblicher Sorge vor allem im erzieherischen und medizinischen Bereich interpretiert werden.47 Sieht man also von den jeweils hegemonialen Idealen ab, zeichnet sich eher ein Spektrum der Entwicklung über die Systemgrenzen hinweg ab. Ein Blick auf die ehemalige DDR ist deshalb so interessant, weil sich die beiden deutschen Staaten vor ihrer Vereinigung jeweils am entgegengesetzten Ende dieser Professionalisierungstendenzen befanden. Geprägt von dem Ziel, die Distanz untereinander zu vergrößern, entwickelten die beiden deutschen Staaten von Beginn an divergierende Familienideologien und darauf aufbauende Politikansätze, die schließlich auch innerhalb des jewei46 Für einen Überblick über das Genderregime sozialistischer Staaten allgemein siehe Verdery (1996), für die Industrie Shapiro (1992) und für die DDR Nickel (2000) und Gerhard (1994). 47 Zur Verlagerung von Sorge in den öffentlichen Bereich durch Professionalisierung weiblicher Care-Tätigkeiten im 20. Jahrhundert siehe auch Fine (2007).

82 | C ARE/SORGE ligen politischen Lagers besonders radikal waren. Der augenfälligste Unterschied lag in der Bewertung und Förderung mütterlicher Erwerbstätigkeit und, damit verbunden, der institutionellen bzw. häuslichen Sorge für Kinder. Während die DDR versuchte, die weibliche Erwerbsbeteiligung zu steigern, delegierte der konservative westdeutsche Wohlfahrtsstaat Frauen zu unbezahlter Hausarbeit (Esping-Anderson 2003, siehe auch Borneman 1992). In der Folge kam die Situation in der DDR einem universal breadwinner model am nächsten. Im Unterschied dazu dominierte in der BRD das schon in der theoretischen Grundlegung erwähnte male breadwinner model. Dabei übernimmt der Mann die Sorgeverantwortung durch seine Berufstätigkeit und delegiert die praktische Umsetzung, das giving of care, an seine Frau (Fraser 1997, siehe auch theoretische Grundlegung). * Die hegemonialen Vorstellungen von Care für Kinder wurden als Teil der ideologischen Schicht sozialer Sicherung in beiden deutschen Staaten durch eine Reihe familienpolitischer Maßnahmen unterstützt. Seit der formativen Periode der 1950er Jahre wurde in der alten Bundesrepublik das Modell des männlichen Ernährers gefördert. Über die Jahrzehnte kam es lediglich zu einer Modifikation hin zu einem Modell des männlichen Brotverdieners mit weiblichem Zuverdienst, welches das Grundmodell in der Basis erhält (Pfau-Effinger 1998; Rosenbaum/Timm 2008).48 So sind die steuerlichen Erleichterungen für verheiratete Paare im europäischen Vergleich auch im vereinigten Deutschland nach wie vor erheblich. Insbesondere das sogenannte Ehegatten-Splitting begünstigt Paare mit hohem Einkommensunterschied. Diese Maßnahmen werden von einem nur geringen Ausbau öffentlicher Sorge für Kinder begleitet. Zudem sind verlängerte Erziehungszeiten sowie die damit verbundenen Zahlungen ein weiterer Anreiz für Frauen, nach der Geburt von Kindern länger aus dem Beruf auszusteigen (Bird 2001; Ostner 1993). Diese rechtlichen und institutionellen Implementierungen zu Care entsprechen weithin geteilten Idealen mütterlicher Sorge in der Bevölkerung der alten 48 Zunächst waren Frauen ihrem Ehemann rechtlich unterstellt und das Familienrecht behandelte Ehefrauen und Kinder als »Abhängige«. Insbesondere bedurften Frauen der Einwilligung ihres Ehemannes zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Sozialleistungen und Steuererleichterungen stützten das Modell ebenfalls. Abweichende Familienformen wurden sanktioniert, so dass z.B. Vermieter alleinerziehende Mütter aus »moralischen« Gründen als Mieterinnen ablehnen konnten. Erst in den 1970er und 1980er Jahren kam es zu einer Reihe von Reformen, die die Ehefrauen mit ihren Männern gleichstellten, individuelle Rechte stärkten und Rentenanteile für Erziehungszeiten einführten (Chamberlayne/King 2000: 26).

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Bundesländer. In öffentlichen wie feministischen Debatten wurde (und wird) viel Wert auf die Anerkennung weiblicher Sorge gelegt. Ein Ausdruck dieser Ausrichtung findet sich beispielsweise in den Debatten der 1980er Jahre rund um das Konzept der »neuen Mütterlichkeit« (Chamberlayne 1990b).49 Folgerichtig finden Chamberlayne und King (2000) in ihren qualitativen Interviews mit Sorgenden in den alten Bundesländern nur wenig grundsätzliche Kritik an der Delegation von Care an Frauen im häuslichen Bereich. Unabhängige Wohnformen beispielsweise spielen eine weit geringere Rolle als in den Gesprächen in Großbritannien. Experten wie Sorgende debattieren im Westen Deutschlands eher darüber, wie diese häuslichen Care-Praktiken von staatlicher Seite unterstützt werden könnten. Ähnliche Care-Ideale drücken sich auch in den Meinungsumfragen zur weiblichen Berufstätigkeit aus. Kurz vor der Wende befürworten 58 Prozent der befragten Männer aus der alten Bundesrepublik deutlich eine Hausfrauenehe, gegenüber 31 Prozent der Interviewten, die eine erwerbstätige Partnerin vorziehen würden.50 Nur 26 Prozent beider Geschlechter präferieren demnach eine Arbeitsteilung bei der beide Geschlechter gleichermaßen an der Haus- und Erwerbsarbeit beteiligt sind (Becker 1989: 28). Diese Ideale führen im Verbund mit ihrer Förderung von staatlicher Seite zu dem sogenannten Phasenmodell des weiblichen Lebenslaufs, in dem familiäre Sorge und berufliche Entwicklung zeitlich aufeinander folgen. In Interviews folgen Frauen dem Leitbild der selbstständigen Frau bis dieses mit der Geburt des ersten Kindes vom Leitbild der guten Mutter abgelöst wird (Dornseiff/ Sackmann 2003). Folgerichtig liegt 1989 die weibliche Erwerbstätigkeitsrate in Westdeutschland bei nur 56 Prozent. Überdies geht ein großer Teil der beschäftigten Frauen lediglich einer Teilzeitarbeit nach, was nicht nur eine hemmende Wirkung auf den weiteren Karriereverlauf hat, sondern auch hinsichtlich staatlicher Formen sozialer Sicherung durch niedrige Anrechnungsraten auf Rentenleistungen ›bestraft‹ wird. Der Zusammenhang weiblicher Erwerbstätigkeit und häuslicher Sorge zeigt sich insbesondere daran, dass die Erwerbsbeteiligung von Frauen in Westdeutschland deutlich von Heirat und Geburt von Kindern abhängt. Vor allem nach der Geburt eines Kindes kehrt nur ein geringer

49 Zur historischen Entwicklung der Vorstellung einer guten Mutter in Deutschland siehe Vinken (2002). 50 Der entsprechende europäische Durchschnitt bei der Beantwortung dieser Frage liegt bei 41 Prozent für eine Gleichheit der Arbeitsteilung, respektive 47 Prozent Präferenz der Männer für eine erwerbstätige Partnerin (Becker 1989: 28).

84 | C ARE/SORGE Prozentsatz der Frauen – und die meisten von ihnen auf Teilzeitbasis – auf den Arbeitsmarkt zurück.51 Im Gegensatz zur Situation in der alten Bundesrepublik kam es in der DDR zu einer »faktischen Abkehr vom Hausfrauen-Ideal« (Sackmann 2000). Frauen wurden in der DDR ihren Ehemännern früh rechtlich gleichgestellt und zahlreiche rechtliche Elemente, die auf einer staatlichen Anerkennung der Bedürftigkeit von alleinstehenden Frauen beruhen, wurden abgeschafft oder erheblich vermindert. So waren Scheidungen unkompliziert und kostengünstig; Alimente nach Scheidung und Witwenrenten erheblich reduziert bis bedeutungslos, so dass Frauen deutlich mehr von ihrem eigenen Einkommen als von demjenigen ihrer Ehemänner abhängig waren (Borneman 1992; Dornseiff/Sackmann 2003). Insgesamt und im Gegensatz zur BRD wurde sozialpolitisch die Mutter-KindDyade mehr als die Ehe gefördert (Dornseiff/ Sackmann 2003). Das bereits erwähnte sozialistische Leitbild der erwerbstätigen Mutter führte im Verbund mit seiner institutionellen Implementierung über die Jahrzehnte zu einem enormen Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit. Die weibliche Erwerbsbeteiligung in der DDR lag im Jahr 1988 bei 81 Prozent, unter Einschluss der weiblichen Lehrlinge sogar bei 84,1 Prozent (Schwartz 2005: 49) und war damit eine der höchsten der Welt.52 Tatsächlich lag sie auch höher als in vielen anderen sozialistischen Staaten.53 Die Erwerbsbeteiligung führte auch dazu, dass der weibliche Anteil am Haushaltseinkommen auf dem Gebiet der alten DDR bis in 51 Die gesetzliche Möglichkeit einer Teilzeitbeschäftigung hatte in den alten Bundesländern zur Folge, dass der Anteil der erwerbstätigen Mütter mit Kindern zwischen null und 14 Jahren von 1972 bis 2000 um zehn Prozent anstieg, während sich in derselben Periode der Anteil von in Vollzeit erwerbstätigen Müttern halbierte (Engstler/Menning 2003: 245). Teilzeitarbeit meint in der Bundesrepublik meist eine geringe Beschäftigung; 1984 etwa arbeitete in der alten BRD nur eine kleine Minderheit von drei Prozent der teilzeitbeschäftigten Frauen mehr als 30 Stunden wöchentlich (Becker 1989: 28). 52 Die Zahlen zeigen die weite Verbreitung dieses Lebensmusters, während besonders in der Literatur und im Theater die oftmals schwierigen Verhandlungen zwischen politischem Ideal und subjektiver Erfahrung ausgedrückt werden (Sieg 1995). Der Widerspruch findet Ausdruck in der oft zitierten »Doppelbelastung« durch Erwerbsarbeit und Haushalt von Frauen im Sozialismus bzw. »Dreifachbelastung«, wenn die politische/gesellschaftliche Arbeit hinzu gezählt wird. Kapitel II.3 widmet sich den Lebensläufen von Frauen, die sich bewusst dafür entschieden, entgegen dem staatlichen Ideal mütterlicher Sorge und gleichzeitiger Berufsarbeit zu leben. 53 Vergleichszahlen zu anderen sozialistischen Ländern finden sich etwa bei Einhorn (1993: 266).

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die späten 1990er Jahre bei fast 50 Prozent lag, während er in den alten Bundesländern nur ein Drittel erreichte (Nickel 2000: 109). Die Besonderheit der hohen weiblichen Erwerbstätigkeit in der DDR bestand aber vor allem in der Kombination mit einer hohen Mütterquote, denn im Gegensatz zur BRD variierte die Frauenerwerbstätigkeitsrate nur wenig in Abhängigkeit von Zivilstand und Mutterschaft (Dornseiff/Sackmann 2003; Schwartz 2005: 50). Ein entscheidendes Element zur Förderung der mütterlichen Erwerbsbeteiligung war die Verlagerung von Care, insbesondere der Sorge für Kinder, aus dem häuslichen/privaten Bereich in öffentliche/staatliche Institutionen. Diese politische Ausrichtung blieb zunächst auch nach dem Fall der Geburtenrate in den 1960er Jahren bestehen.54 Erst in den 1970er Jahren verschob sich die Konzentration von öffentlicher Sorge hin zu Maßnahmen, die Care im häuslichen Bereich förderten. Die DDR-Führung folgte darin dem Beispiel anderer sozialistischer Länder, indem sie 1976 das sogenannte Babyjahr einführte. Dieses erlaubte es zunächst unverheirateten und ab 1986 auch verheirateten Müttern, nach der Geburt ein Jahr zu Hause für ihr Kind zu sorgen. Zumindest in den Städten wurden die meisten Kinder nach dem ersten Lebensjahr zwischen sechs Uhr am Morgen und sechs Uhr am Abend in öffentlichen Institutionen betreut. Diese Öffnungszeiten ermöglichten es den Eltern, die in den sogenannten Normalschichten von sieben Uhr morgens bis 17 Uhr arbeiteten, ihre Kinder ohne weitere Hilfe zur Kinderbetreuung zu bringen und abzuholen. Bei Schichtarbeit konnten Kinder in sogenannten Wochenkrippen untergebracht werden, wo sie auch über Nacht blieben. Die DDR erreichte durch diese Maßnahmen außergewöhnlich hohe Betreuungsraten vor allem in der Altersgruppe der Null- bis Dreijährigen und dies sowohl im Vergleich mit der BRD, als auch mit anderen sozialistischen Staaten.55 Ähnlich wie die staatliche Familienpolitik in der alten BRD führten auch die Politik der hohen weiblichen Erwerbsbeteiligung und ihre Förderung durch den Staat in der DDR zu einem typischen weiblichen Lebenslauf. Mütterliche Erwerbstätigkeit wurde zur Norm und die Wohnungspolitik bevorzugte in einer Situation ständiger Wohnraumknappheit junge Eltern. In der Regel bekamen die Frauen mit knapp über 20 Jahren ihr erstes Kind und die hohe Scheidungsrate 54 Zu diesem Zeitpunkt kehrten andere sozialistischen Länder bereits zu einer Familienpolitik zurück, die häusliche Sorge für Kinder durch ihre Mütter förderte, indem sie etwa ausgedehnte Mutterschaftsurlaube einführten (für Ungarn siehe Haney 1999; für die Tschechoslowakei Haskova 2005). 55 1989 besuchten in der DDR 80,2 Prozent aller Kinder der betreffenden Altersgruppe eine Krippe im Vergleich zu beispielsweise 4,4 Prozent in Polen oder 8,6 Prozent in Ungarn (Einhorn 1993: 262).

86 | C ARE/SORGE wirkte sich nicht negativ auf die Bereitschaft zur Elternschaft aus. Im Gegenteil blieben die Geburtenzahlen in der DDR über lange Zeit deutlich höher als in der BRD und Elternschaft wurde gewissermaßen unabhängig von partnerschaftlicher Stabilität (Dornseiff/Sackmann 2003: 314). Im Durchschnitt bekamen Frauen in der DDR ein bis zwei Kinder und blieben trotz Mutterschaft (zumindest in den späteren Jahrgängen) berufstätig.56 Dieser typische Lebenslauf prägte drei Generationen von Müttern und deren Kinder, ihre Erwartungen an die Zukunft sowie ihre Interpretationen der Veränderungen nach der Wende und beeinflusst so die gegenwärtigen Care-Praktiken.57 Während die hohen Raten weiblicher Erwerbsbeteiligung und öffentlicher Kinderbetreuung der DDR auch innerhalb des Lagers der sozialistischen Länder überdurchschnittlich waren, rangierte umgekehrt die alte Bundesrepublik in diesen Fragen innerhalb des westlichen Lagers am unteren Ende der Skala. Andere westliche Demokratien wiesen häufig höhere weibliche Erwerbsraten und höhere Raten öffentlicher Kinderbetreuung auf (Becker 1989). Dieser Unterschied in der Zeit der Existenz zweier deutscher Staaten ist einerseits wichtig, um die nachfolgenden Interpretationen meiner Interaktionspartner verstehen zu können. Andererseits untermauert dieser Blick auf Care die Zweifel an der schon im vorigen Abschnitt thematisierten wissenschaftlichen Betonung der Systemgrenzen. Denn durch diese Umsetzung von Normen der Sorge für Kinder sowie der gesellschaftlichen Teilhabe ergaben sich über die Systemgrenzen hinweg manchmal Ähnlichkeiten, die durch Betonung der politischen und wirtschaftlichen Unterschiedlichkeit leicht übersehen werden können. So war der Unterschied zwischen DDR und BRD in mancher Hinsicht größer als derjenige zwischen der DDR und Frankreich oder dem sozialistischen Ungarn und der Bundesrepublik (Thelen 2006a). Entgegen der im vorigen Kapitel zu den regionalen Debatten dargestellten Interpretation einer »nachholenden Modernisierung«, argumentiert denn auch Merkel (1994: 379), dass die Entwicklung der DDR der europäische Normalfall sei. Dagegen habe die Politik in der BRD als ein Sonderfall »rückständiger« Frauenpolitik zu gelten.58 Für die vorliegende Studie zeigen sich

56 Zu weiblichen Lebensläufen in der DDR siehe auch Merkel (1994) und TippachSchneider (1999). 57 Dies zeigt deutlich der folgende Abschnitt, aber auch die Kapiteln des Teils II. 58 In ähnlicher Weise wird auch die breiter verankerte Säkularisierung in den neuen Bundesländern von manchen Autoren als zukünftige Entwicklung des noch deutlich mehr durch kirchliche Bindungen geprägten Westens der Republik gesehen (Pollack/ Müller 2011: 126; Wohlrab-Sahr 2011: 145, siehe auch Kapitel III. III)

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anhand der Nachwirkungen solcher Unterschiede die temporale Einbettung von Care und die damit verbundenen Identitätskonstruktionen. * Rosenfeld, Trappe und Gornick argumentieren anhand von Meinungsumfragen, dass im ersten Jahrzehnt nach der Vereinigung Unterschiede in Normen und Werten häuslicher Sorge nicht nur erhalten blieben, sondern sich teilweise sogar noch vertieften (2004: 113-114; zu ähnlichen Aussagen kommt Nickel 2000: 109). Im Jahr 2000 urteilen in den neuen Bundesländern befragte Männer und Frauen weiterhin deutlich positiver über mütterliche Erwerbsarbeit als Frauen in den alten Bundesländern. Männer in den alten Bundesländern unterstützen mütterliche Erwerbstätigkeit normativ am wenigsten (Dornseiff/Sackmann 2003: 326).59 Es gibt zudem Hinweise, dass diese Unterschiede in den Werthaltungen auch die familiären Sorgepraktiken anhaltend prägen. Gottschall und Henninger (2004) finden beispielsweise nur in den neuen Bundesländern strukturell andere familiäre Arbeitsteilungen als das male bread winner model. Auch in Zeitbudgetstudien finden sich Anzeichen für eine etwas ausgeglicherene Arbeits-teilung in Haushalten der neuen Bundesländer (Rosenfeld/Trappe/Gornick 2004: 119; hier diesbezüglich auch zitiert Künzler/Walter/Reichart/Pfister 2001). Obwohl also eine Anpassung an die Sorgenormen und -Praktiken aus der alten Bundesrepublik nicht so schnell erfolgte, wie man das anfänglich angenommen hatte, ergeben sich nach der Vereinigung einschneidende Veränderungen für die Arbeitsmarktsituation von Frauen. Im Laufe der 1990er Jahre intensiviert sich die Geschlechtersegregation auf dem Arbeitsmarkt und nähert sich dem westdeutschen Muster an. Dies zeigt sich am steigenden Anteil erwerbstätiger Männer in Berufen, welche im Sozialismus weiblich dominiert waren (wie etwa als Sozialarbeiter, Bankangestellte und Köche) sowie der gleichzeitigen Schließung des Zugangs zu männlich dominierten Berufen für Frauen (Rosenfeld/Trappe/Gornick 2004; siehe auch Engelbrech 1999; Nickel 2000).60 Die weibliche Erwerbsbeteiligung sinkt in diesem Zeitraum auf 72 Prozent, ist damit 59 Im Jahr 2000 glauben zwischen 94 und 97 Prozent der befragten Frauen in den neuen Bundesländern nicht, dass das Verhältnis zwischen Mutter und Kind durch die Berufstätigkeit der Mutter beeinträchtigt wird. Dagegen denken nur 85 Prozent aller befragten Frauen und 81 Prozent aller Mütter in den alten Bundesländern genauso. Deutlich mehr westdeutsche (56 Prozent) als ostdeutsche Frauen (35 Prozent) meinen zudem, dass die mütterliche Berufstätigkeit dem Kind schadet (Dornseiff/Sackmann 2003: 326-327). 60 Zum Vergleich der Müttererwerbstätigkeit in alten und neuen Bundesländern siehe auch Kreyenfeld/Geisler 2006; für einen Vergleich mit anderen postsozialistischen Ländern Einhorn (1993); Emigh/Fodor/Szelényi (1999); Haskova (2005).

88 | C ARE/SORGE aber immer noch um zehn Prozent höher als diejenige in den alten Bundesländern. Auch in der mütterlichen Erwerbsquote zeigen sich nach wie vor substantielle Unterschiede. Im Jahr 2000 sind immer noch 30 Prozent aller Mütter mit mindestens einem Kind unter vier Jahren in den neuen Bundesländern erwerbstätig, während dies in den alten Bundesländern nur 15 Prozent der entsprechenden Mütter sind (Bundesministerium 2003).61 In den folgenden Kapiteln wird deutlich, wie zentral diese Auffassungen über ›richtige‹ Sorge und Erfahrungen von Care für die Wahrnehmung der Veränderungen sind und diese gleichzeitig strukturieren. Sie werden von den Akteuren in unterschiedlichen Zusammenhängen nicht nur verwendet, um spezifische Care-Praktiken zu erklären, sondern auch, um Bedürfnisse und Beziehungen neu zu auszuhandeln. Der nächste Abschnitt wendet sich daher den lokalen Diskursen zu und zeigt, dass ein wichtiges positives Element der Selbstzuschreibung sich auf die Care-Praktiken innerhalb der Familie bezieht. Dadurch werden gleichzeitig die Erfahrungen der Entwertung der im Sozialismus geleisteten Sorge zentral für die Strukturierung der Nach-Wende-Erfahrungen. Diese Selbstbeschreibungen sind in die neuen Diskurse der Differenz zwischen alten und neuen Bundesländern eingebettet. I.3.2.2 Care, Gender, Identität: lokale Diskurse Auf der »Jahresendfeier« 2003 erzählt eine Naturwissenschaftlerin, die zur Zeit der Forschung bei ELAN e.V. beratend tätig ist, die folgende Geschichte: Während des Sozialismus hatte das Agrarforschungsinstitut, für das sie arbeitete, eine besonders schnell kochende Kartoffel gezüchtet. Den gescheiterten Versuch, diese in die damalige BRD zu exportieren, kommentiert sie erklärend: »Die westdeutschen Hausfrauen konnten damit nicht umgehen: Die setzen die Kartoffeln auf und gehen dann erstmal telefonieren und eine halbe Stunde später waren unsere guten Kartoffeln schon Matsch.« Alle Anwesenden am Tisch lachen oder nicken zustimmend. (TB 12.12.2003)

Im Abschnitt zum Vorgehen in der Datenerhebung wurde bereits auf Momente der diskursiven Inklusion der Ethnologin während der Forschung hingewiesen. Diese deuten darauf hin, dass viele meiner Interaktionspartner in SEESTADT nicht erwarteten, dass eine ›westdeutsche‹ Mutter erwerbstätig ist. Die Anekdote zeichnet nun ein ironisches Bild des imaginierten Lebens von Frauen in der alten

61 Gleichzeitig waren knapp die Hälfte (49,3 Prozent) aller Mütter kleiner Kinder in den alten Bundesländern ohne Einkommen im Gegensatz zu 35,1 Prozent in den neuen Ländern (Engstler/Menning 2003: 245).

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BRD, die als Hausfrauen genug Zeit gehabt sollen, um stundenlang mit einer Freundin zu telefonieren. Impliziert wird dabei, dass die erwerbstätigen Frauen aus der DDR mehr Nutzen aus einer derart schnell kochenden Kartoffel hätten ziehen können. Am Tisch wird dieses Bild nicht nur verstanden, sondern von den überwiegend weiblichen Anwesenden auch geteilt. In beiden Forschungsphasen war dies nur eine von vielen Begebenheiten, in denen das Thema Geschlechterunterschiede zwischen alten und neuen Bundesländern mehr oder weniger explizit zur Sprache kam. In solchen Situationen und Gesprächen war die Bewertung der entsprechenden Konstellationen in der DDR durchweg positiv und wurde oft, wie in der obigen Anekdote, zur Bestätigung ›ostdeutscher‹ Identität genutzt. Diese positive Bezugnahme auf das sozialistische Leitbild der berufstätigen Mutter ist durchaus nicht in allen postsozialistischen Kontexten gegeben. Während meiner Forschungen in Ungarn und Rumänien war die Bezugnahme auf diese staatlich geförderte Norm nicht so eindeutig positiv wie in den neuen Bundesländern. Vielmehr wurden der Eintritt von Frauen in Männerberufe (z.B. als Traktoristin) oder auch die Einführung institutioneller Sorge für Kinder oft als staatliche Maßnahmen dargestellt, gegen die man sich entweder (erfolgreich) gewehrt habe oder sie wurden als Beweis für die Lächerlichkeit des Sozialismus angeführt. Ein weiterer Unterschied zwischen diesen Forschungserfahrungen und denjenigen in den neuen Bundesländern ist die Häufigkeit, mit der mütterliche Berufstätigkeit als Gesprächsstoff aufgegriffen wurde. Während es in Ungarn und Rumänien hier und da am Rande auftauchte (und auch dort war ich schon als Mutter und mit Kind im Feld), kam das Thema in SEESTADT immer wieder und in den unterschiedlichsten Situationen auf. Die folgenden Abschnitte thematisieren daher die mit dem Ideal mütterlicher Berufstätigkeit in Zusammenhang stehenden Sorgepraktiken im häuslichen Bereich sowie die Verbindungen zwischen diesen und den staatlichen Rahmen sozialer Sicherung. Weibliche Berufstätigkeit und familiäre Sorge Zu der bereits angesprochenen Wahrnehmung meiner Gesprächspartner, dass westdeutsche Frauen nicht berufstätig seien, kommen im Zuge der Vereinigung weitere Aspekte hinzu. Diese beinhalten den Eindruck eines gesteigerten Einflusses von körperlicher Attraktivität für Frauen im Berufsleben sowie ein (westdeutsches) Misstrauen gegenüber weiblicher Führungsqualitäten und gegenüber Frauen in männlich dominierten Berufen (Thelen 2006c). All diese Aspekte werden von beiden Geschlechtern meist in Verbindung zu mütterlicher Sorge diskutiert.

90 | C ARE/SORGE Speziell waren viele meiner Gesprächspartner der Überzeugung, dass Arbeitgeber aus den alten Bundesländern nur ungern Mütter einstellen.62 In einer nachmittäglichen Kaffeerunde im BETRIEB meinte etwa eine Büroangestellte (im Alter von Ende 50), dass sie sich in der heutigen Zeit nicht noch einmal für drei Kinder entscheiden würde. Sie und ihre Kollegin stimmten darin überein, dass eine mehrfache Mutter »keine Berufschancen« mehr habe. Die Kollegin fügte kommentierend hinzu, sie sei froh, dass ihre Tochter bei der Polizei sei: »Das ist ja sicher.« Auf die Nachfrage, ob sie denn glaube, dass ihre Tochter sonst als Mutter arbeitslos sein würde, antwortete sie: »Ja natürlich oder man wird nach den vorgeschriebenen Fristen entlassen, das hört man ja oft genug.« (TB 20.5.2003) Häufig werden diese Einschätzungen in Beziehung zu den Erfahrungen der Umstrukturierung nach der Wende gesetzt. So glaubten zwei weitere Angestellte aus der Finanzabteilung, dass sie schlicht »Glück gehabt« hätten, im Zuge der ersten Entlassungswellen ihren Arbeitsplatz nicht verloren zu haben. Eine der beiden, die mit ihren Eltern zusammenwohnt, fügte erklärend hinzu: »Denn ich hatte zwei kleine Kinder und wenn die krank waren, konnte sich meine Mutter kümmern.« (TB 29.4.2003, 45 Jahre, verheiratet) Von männlichen Gesprächspartnern wurden Frauen meist dann positiv hervorgehoben, wenn sie trotz ihrer häuslichen Sorge ›ihren Mann im Beruf standen‹. So lobte etwa Herr Jäger Frau Haupt, über die er sich ansonsten eher ambivalent bis negativ äußerte, weil sie trotz ihrer zwei behinderten Töchter Vollzeit berufstätig war. Auch in der Beschreibung der Veränderungen nach der Wende durch einen Hausmeister des BETRIEBs (51 Jahre, verheiratet) ist die Erwerbstätigkeit von Frauen prominentes Thema: Seine Stellungnahme entwickelt sich aus einer längeren Erzählung, die er mit der Feststellung beginnt, dass er »heilfroh« über die Wende gewesen sei, denn: »Ich hatte immer Probleme mit den Kommunisten wegen meiner politischen Äußerungen.« Im Anschluss kommentiert er die seiner Ansicht nach schwindende Bedeutung der Bürger in politischen Entscheidungsprozessen seit 1989. An dieser Stelle macht er eine Pause, bevor er fortfährt: »Und wissen Sie was mich noch stört? Das Verhältnis von Mann und Frau in dieser Gesellschaft. Früher in der DDR war das normal, die Frau hat ganz normal mitgearbeitet. Heute hat man für alles Quoten. Als ich im Betriebsrat war, wenn eine Frau auf der Liste ist und die kriegt nur eine Stimme, ist sie trotzdem drin. Und: Sie kennen doch Frau Albrecht, die hat ganz normal bei uns mitgearbeitet und sie hat zwei Kinder, die waren

62 Für Beispiele ähnlicher Wahrnehmungen aus einem Ostberliner Kontext siehe Thelen/ Baerwolf 2008.

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noch klein damals. Da wollte uns mal so ein Wessi übernehmen, der konnte das gar nicht verstehen, dass sie bei uns ganz normal mitgearbeitet hat.« (TB 20.8.2003)

Das Störende am »Verhältnis von Mann und Frau« im vereinigten Deutschland ist in seiner Schilderung die fehlende Existenz und Akzeptanz mütterlicher Erwerbstätigkeit, wie sie aus seiner Sicht in der DDR vorhanden waren. Als Beweis für die Veränderung in der Haltung zu familiären Sorgeverpflichtungen führt er dann eine frühere Kollegin in seiner männlich dominierten Abteilung an, die trotz ihrer Kinder erwerbstätig war sowie das Erstaunen des potentiellen neuen westdeutschen Besitzers. In seiner Äußerung verwendet er den pejorativen Begriff »Wessi« für diesen, und es ist offensichtlich, dass er dessen Einstellung nicht teilt. Von einer solchen Einschätzung ist es nicht mehr weit bis zu dem Verdacht, dass Frauen keine große Zukunft im BETRIEB gehabt hätten, wäre es zu diesem Besitzerwechsel gekommen. Und so kommt auch eine Sachbearbeiterin zu der Einschätzung, dass ihr Mann, ein Schlosser, sicher immer einen neuen Arbeitsplatz finden würde, sie selbst aber nicht (Nr.14, 41 Jahre, 22.9.2003). Tatsächlich gibt es im Forschungszeitraum nur wenige Angestellte mit einer Herkunft aus den alten Bundesländern im BETRIEB. Bei den Wenigen handelt es sich überwiegend um männliche Führungskräfte, wie etwa den geschäftsführenden Direktor und einen Abteilungsleiter. Diese Einbettung der Herkunft in die Unternehmenshierarchie hat einen Einfluss darauf, wie Unterschiede wahrgenommen und erklärt werden. Charakteristischerweise erzählt mir der Geschäftsführer, dass seine Frau gerade ihre Arbeitszeit verkürze, um sich mehr um den Sohn zu kümmern. Gleichzeitig stellt er die These auf, dass die Frauen in den neuen Bundesländern gezwungenermaßen erwerbstätig wären, weil ihre Männer und Söhne arbeitslos seien. Der ebenfalls anwesende Herr Jäger hält dagegen, dass seine Frau immer sage, sie habe doch nicht geheiratet »damit sie ein Mann versorgt« (TB 17.2.2003). In diesem Gespräch prallen zwei unterschiedliche Auffassungen zu mütterlicher Berufstätigkeit und häuslicher Sorge für Kinder aufeinander, die in vielen Situationen mit der Herkunft erklärt werden. Dementsprechend wird wie in der Anekdote der schnellkochenden Kartoffel dem Bild der westdeutschen ›faulen‹ Hausfrau dasjenige der ›hart arbeitenden‹ Frauen der DDR gegenübergestellt. Ein weiteres Beispiel für eine solche diskursive Verarbeitung stellen Darstellungen von Gesprächen über Rentenunterschiede mit Verwandten aus den alten Bundesländern dar.63 Demnach zeigten 63 Zu den Unterschieden in den Durchschnittsrenten siehe auch das vorangegangene Kapitel I.3.2.1, zu Konflikten zwischen Verwandten aus der ehemaligen DDR und der alten Bundesrepublik siehe auch Kapitel II.1.

92 | C ARE/SORGE weibliche Verwandte Neid auf die vergleichsweise hohe Rente der Seniorinnen aus SEESTADT. Meine Gesprächspartnerinnen kommentieren solche Reaktionen mit Sätzen wie: »Aber wir haben auch unser ganzes Leben gearbeitet.« oder: »Meine Frau und implizieren damit, dass die westdeutschen weiblichen Verwandten nicht erwerbstätig waren und sich daher auch nicht über niedrigere Renten beschweren müssten. Gleichzeitig verweisen sie mit Stolz auf ihre eigene Lebensleistung bzw. allgemein auf diejenige der Frauen in der DDR. In diesen Erzählungen wird oft angefügt, dass sich die Verwandten aus den alten Bundesländern darüber wundern, wie die Frauen es geschafft hätten, Erwerbstätigkeit mit der Sorge um die Familie zu vereinbaren. Während der Forschung erwähnten Männer solche Begebenheiten ebenso oft wie Frauen, auch wenn sie nicht direkt darauf angesprochen waren: weibliche Erwerbstätigkeit bei gleichzeitiger Mutterschaft ist oft eine der wenigen Dinge auf die nach 1989 mit Stolz erzählt werden.64 Diese Vorstellungen prägen auch im städtischen AMT den Umgang mit den Klientinnen. Viele unter ihnen sind junge Mütter und zählen zu den wenigen Akteurinnen, die einen längeren Erziehungsurlaub in Anspruch nehmen. Diese staatliche Förderung häuslicher Sorge wird aber von der zuständigen Sozialarbeiterin durchaus bedauert. So kommentiert sie nach dem Gespräch mit zwei jungen Frauen, von denen eine Mutter eines sieben Monate altes Kindes ist: »Solange die in Erziehungsurlaub sind, kann ich nicht an die ran.« (TB 30.9.2003). Sie selber würde die junge Frau lieber erwerbstätig sehen. Die oben erwähnte gegenseitige Spiegelung in der ost- und westdeutschen Politik trug sicher zu der Art und Weise bei, wie die Transformation und insbesondere die veränderte Integration auf dem Arbeitsmarkt im Forschungszeitraum im Licht der früheren Erfahrungen bewertet wurden. Mit Ausnahme einiger religiöser Akteure deren Ansichten zu familiärer Sorge in Kapitel III.3 dargestellt werden, lehnten meine Interaktionspartner das bundesdeutsche Modell der sorgenden Hausfrau (mit Zuverdienst) ab.65 Die Wahrnehmung der Differenz hat also nach der Vereinigung nicht abgenommen, sondern sich eher noch intensiviert. Interessanterweise wird die Abgrenzung von ›westdeutschen Hausfrauen‹ oft verstärkt durch den Hinweis, dass diese auch ihre familiären Sorgeobligationen nur mangelhaft erfüllten. Beispielsweise erzählt eine Verwaltungsangestellte im BETRIEB: 64 Dass Männer sich in ihrer Selbstbeschreibung auf ihre Frauen beziehen (müssen), zeigt eine gewisse Ambivalenz ostdeutscher Männlichkeitskonstruktionen (Scholz 2004, siehe auch Brandes 2008). 65 Einzig die beiden weiblichen Auszubildenden im BETRIEB zeigen Anpassungstendenzen an das neue Modelle von mütterlicher Sorge (Thelen 2006c).

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»Früher habe ich gedacht, die Frauen im Westen kochen mittags, weil die ja nicht arbeiten gehen«, und, »dass die Männer über Mittag zum Essen nach Hause gehen« würden. Doch als ihr Bruder kurz nach der Wende an den Niederrhein zieht, erfährt sie: »Die sitzen alle zu Hause und machen gar nix – die Männer gehen sogar einkaufen.« (TB 30.8.2004).

Aus Sicht der Sprecherin erfüllen damit die ›westdeutschen Hausfrauen‹, obwohl sie nicht erwerbstätig sind und »zu Hause sitzen«, ihre häuslichen Sorgeverpflichtungen nicht. Kochen gilt dabei als selbstverständlicher Teil weiblicher Sorge in der ehelichen Beziehung.66 Eine weitere Gelegenheit, bei der das Thema aufkommt, sind Gespräche rund um das Kantinenessen (Thelen 2006b). So wird beispielsweise meine Beobachtung über Vorgesetzte aus den alten Bundesländern, die die Kantine nicht frequentieren, damit erklärt, dass deren Ehefrauen nicht erwerbstätig seien. Die Argumentation lautet auch hier, dass westdeutsche Männer es gewohnt seien, für eine gekochte Mahlzeit am Mittag oder Abend nach Hause zu gehen. Eine weibliche Abteilungsleiterin beendet ihren Kommentar zum Essverhalten beispielsweise mit der rhetorischen Frage: »Vielleicht kocht ihnen ja ihre Frau abends was?« (TB 20.8.2003) Diese Aussagen zeigen, dass Bereitstellung und Zubereitung von Essen ähnlich wie in anderen Kontexten (Carsten 1997, siehe auch Kapitel I.2) als wichtiger Teil häuslicher Sorge angesehen wird und damit auch in europäischen Kontexten eine wichtige Rolle in der Reproduktion bedeutsamer Bindungen einnimmt (siehe auch Thelen 2010a). Gleichzeitig wird bei aller Konzentration auf die ›richtige‹ Sorge im häuslichen Bereich durchaus auch für den Erhalt des Ideals – also der Kombination von Erwerbstätigkeit und mütterlicher Sorge – eingetreten. Dass dafür zum Teil Praktiken öffentlicher Sorge aus den alten Bundesländern herangezogen werden, zeigt der nächste Abschnitt. Reproduktion institutioneller Sorgepraktiken und -Normen Möglicherweise hat die vergleichsweise schnelle Umstellung der Organisationsformen öffentlicher Sorge für Kinder zur Intensität der Erfahrung des Wandels in SEESTADT hat beigetragen und beeinflusst die Praktiken, die zum Erhalt der 66 In Zeitbudgetstudien gaben verheiratete erwerbstätige Frauen in der DDR an, 1,17 Stunden täglich mit der Zubereitung von Mahlzeiten zu verbringen, während Ehemänner 0,18 Stunden als täglichen Zeitaufwand für diese Aufgabe nannten. Für Einkäufe und Behördengänge fielen täglich 28 Minuten bei Ehefrauen und 15 Minuten bei Ehemännern an. Beide Gruppen, also Männer und Frauen, gaben an, mit der Aufteilung zufrieden zu sein, und nur zwei Prozent beider Geschlechter teilten mit, dass sie diese unbefriedigend fänden (Winkler 1990: 269-271).

94 | C ARE/SORGE lokalen Institutionen eingesetzt werden. Während zum Zeitpunkt der Forschung in anderen neuen Bundesländern öffentliche Institutionen noch dominieren, sollten in SEESTADT gerade die letzten zwei verbliebenen städtischen Einrichtungen in private Trägerschaft übergeben werden. Die Erfahrung einer schnellen und radikalen Umsetzung des normativen Anspruchs auf institutionelle Sorge spiegelt sich auch in den Interviews. So berichtet etwa Frau Wagner, Erzieherin und Mitglied des Sozialausschusses im Stadtrat, von der Umstellung »gleich so ziemlich nach der Wende 1994/95« Folgendes: »Zu DDR Zeiten hatte jedes Kind Anspruch auf nen Kindergartenplatz. Und ehm nach der Wende war ja der Anspruch: Nur die Eltern, die Arbeit haben, durften ihre Kinder in eine Kindereinrichtung bringen […]. Das wurde auch so durchgesetzt.« [Nachfrage TT, ob das lokal auch tatsächlich so durchgesetzt wurde] »Ja, ja, ganz hart. Mit ehm wirklich, dass die Eltern ehm Nachweise bringen mussten an das Jugendamt ob sie Arbeit haben oder nicht, ob sie noch tätig sind, wie viel Stunden sogar. Dann wurde der Halbtags- oder Ganztagsplatz ausgerechnet.« (tI, 11.3.2003)

In dieser als krisenhaft erlebten Situation, in der überwiegend die neu gegründeten Landesverbände der westdeutschen Wohlfahrtsverbände vor allem die großen Einrichtungen, d.h. Kombinationen aus Krippe und Kindergarten, mit mehreren hundert Kindern übernehmen und die Schließung ihrer Einrichtung bevorsteht, gründet Frau Wagner zusammen mit den Eltern einen Verein: »Und dann ham ehm wir uns belesen. Und dieser Elternverein hat die größte rechtliche Priorität. Das steht überall: Ein Elternverein ist zu unterstützen.« (tI, 11. 3. 2003)

Diese Übernahme einer Organisationsform von Sorge aus den alten Bundesländern sichert den Fortbestand der Kinderbetreuung, die inhaltlich aber gleichwohl am DDR-Modell orientiert bleibt. Frau Wagner bezeichnet ihr Vorgehen denn auch als bloße »Geschäftsstrategie« und betont, dass es keine Elternbeteiligung im laufenden Betrieb der Einrichtung gebe und die Eltern auf »Fachlichkeit« Wert legten: Die Leitung der Einrichtung obliege also ausgebildeten Erzieherinnen, die auch die pädagogische Linie bestimmten. Sehr viel offener und flexibler als gegenüber der elterlichen Beteiligung am Erziehungsstil zeigt sich Frau Wagner im Interview gegenüber individuellen Bedürfnissen von Eltern hinsichtlich längerer Betreuungszeiten wegen mütterlicher Berufstätigkeit. In ähnlicher Weise wie Frau Wagner wird auch Herr Paul aktiv, als nach der Wende die Schließung der städtischen Tageseinrichtung für seinen Sohn bevorsteht:

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»So, jetzt nach der Wende sollte das [die Tagesstätte] abgeschafft werden, weil angeblich kein Geld da war, nich? Die Stadt beeilte sich da noch was reinzuschießen und da sind wir auf die Barrikaden gegangen. Da mit den ganzen Leuten, äh Eltern da und den Gewerkschaften usw. und haben da Krach geschlagen und Eingaben gemacht usw. Ja, aber viele wissen, dass es in der alten Bundesrepublik so was wohl auch gibt. In Bayern und überall gibt es solche Tagestätten auch, ne? Und dann mussten sie das einsehen und haben das dann doch weitergeführt, ne?« (tI, 29.9.2003)

In beiden Fällen haben sich die Interviewten Regeln und Praktiken aus den alten Bundesländern angeeignet, um lokale Organisationsformen institutioneller Sorge aufrechtzuerhalten. Dabei wenden beide Akteure auch Mittel der Bürgergesellschaft an und zeigen eine deutliche Außenorientierung in ihrer Herangehensweise an Care. Die Orientierung auf ›öffentliche‹ Sorge und die Transformation früherer Care-Praktiken innerhalb heutiger Sorgebeziehungen wird auch die noch folgenden ethnographischen Erkundungen begleiten. Gleichzeitig tragen auch die Erfahrungen der Entwertung weiblicher Sorge in der DDR, zu der beschriebenen positiven Identifikation mit dem sozialistischen Leitbild bei. Wie schon dargestellt treffen im deutschen Vereinigungsprozess nicht nur unterschiedliche Formen der Arbeitsmarktintegration von Frauen, sondern auch unterschiedliche Ideologien und Konzepte hinsichtlich der Sorge um Kinder aufeinander. Dies zeigt sich besonders deutlich in der unterschiedlichen Bewertung außerhäuslicher Kinderbetreuung. Während diese in der DDR als positiv für die kindliche Entwicklung und Gesundheit dargestellt wurde, dominierten in der Bundesrepublik kritische Sichtweisen auf die institutionelle Sorge für Kinder. Die Betonung des öffentlichen Diskurses lag hier eher auf der Unentbehrlichkeit mütterlicher Sorge vor allem während der ersten Lebensjahre (Dornseiff/Sackmann 2003: 317). Folgerichtig hat das öffentliche Erziehungswesen der DDR in den frühen Jahren nach der Wende einen besonders attraktiven Diskussionsgegenstand gebildet, der vor allem für Negativ-Schlagzeilen sorgte. Ein kurz nach der Vereinigung publizierter Bestseller macht die öffentliche Kinderbetreuung der DDR nicht nur für psychologische Schäden, sondern auch eine ganze Reihe gesellschaftlicher Probleme verantwortlich (Maaz 1991). Fast dieselbe Debatte beginnt mit den Äußerungen des Kriminologen Christian Pfeiffer Ende der 1990er Jahre noch einmal. Dieser argumentiert, dass durch die DDR-Erziehung Kinder durch Unterdrückung von Kreativität und Individualität zu Subjekten reduziert wurden, die am ehesten in Gruppen funktionieren würden. Diese neuerliche öffentliche Debatte kreist zudem um die Spekulation, dass die neo-faschistische Gewalt in den neuen Bundesländern dadurch zu erklären sei. Obwohl diese Diskussionen

96 | C ARE/SORGE im Forschungszeitraum aus den Medien fast gänzlich verschwunden sind, führen meine Interaktionspartner sie während der Feldforschung doch noch oft mit einer gewissen Entrüstung an. Letztlich werden diese Diskussionen von ihnen als Entwertung ihrer Sorge erfahren, denn nur ›schlechte Mütter‹ hätten ihre Kinder diesen ›schlimmen‹ Institutionen überlassen. Meine Gesprächspartnerinnen betonen daher immer wieder, dass die öffentliche Sorge für Kinder in der DDR ›wirklich‹ gut war. Eine Angestellte aus der Finanzabteilung des BETRIEBs macht beispielsweise die folgende typische Aussage: »Da wusste man immer, die sind gut aufgehoben. Da passiert nichts. Und was die alles mit den Kindern unternommen haben: basteln, Ausflüge, spazieren gehen. Das hätte man ja alleine gar nicht gekonnt.« (TB 13.5.2003)

Die einzige häufig geäußerte Kritik lautet, dass die Arbeitszeiten zu lang waren und man daher zu wenig Zeit hatte. So kommentiert ihre Kollegin: »Aber auf der anderen Seite haben wir auch nicht viel gehabt von unseren Kindern.« (TB 13.5.2003) Auch sie spricht sich aber nicht grundsätzlich gegen die Qualität der institutionellen Sorge aus. Auffallend ist zudem, dass als gebende Seite dieser Sorge der BETRIEB angesehen wird. Die bereits zitierte Angestellte sagte beispielsweise: »Unsere Kinder waren immer versorgt, dafür hat der BETRIEB gesorgt.« (TB 12.5.2003) Als Adressat für Dankbarkeit wegen der empfangenen Sorge wird daher eher der BETRIEB als der Staat gesehen. Dies kann als Folge der im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Organisation sozialer Sicherung über die staatlichen Betriebe gesehen werden. Diese Verortung ist aber zudem bedeutsam für die Identifikation und die Reproduktion von Gemeinschaft durch Care nach der deutschen Vereinigung, wie unter anderem im Kapitel II.2) deutlich werden wird. Zum positiven Rückbezug auf die sozialistische Sorge für Kinder trägt auch die internationale Kritik am bundesdeutschen Bildungssystem bei. Vor allem die Resultate internationaler Vergleichsstudien wie PISA eröffneten eine neue Diskussion über das (west-)deutsche Bildungssystem. Da nun auch die OECD (West-)Deutschland wegen seiner fehlenden öffentlichen Sorge für Kinder kritisierte, brachten entsprechende Reformen in den 1990er Jahren aus Sicht ehemaliger DDR-Bürger manche Aspekte der sozialistischen Formen institutioneller Sorge – wie Bildungspläne in Kindergärten, Ganztagsschulen und einen generellen Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung sowie der Berufsausbildung mit Abitur – wieder zurück. Die meisten dieser Aspekte waren oder sind in den alten Bundesländern neu und werden als solche von Politikern beworben. Sie gelten

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als Neuerungen aus skandinavischen Ländern, die in den genannten Bildungsstudien bessere Resultate erzielten. Für viele meiner Gesprächspartner repräsentieren diese Neuerungen aber Teile des alten DDR-Bildungssystems, dass über den Umweg des Exports in die skandinavischen Länder nun zurückkehrt. Einige äußern sich daher ähnlich wie Frau Köhler: »Schweden und Finnland die haben dieses Schulsystem damals gut gefunden und übernommen. Und heute sind sie die besten und wir können von ihnen lernen. Warum hat man das alles so kaputt gemacht? Das enttäuscht uns an und für sich.« (tI, 24.2.2005)

Inhaltlich wurden die neuerlichen Reformen meist dennoch befürwortet, denn: »Heute ist die Kita ja nur noch Aufbewahrung, den Kindern wird nichts mehr beigebracht«, wie etwa die ehemalige Krippenerzieherin und heutige Angestellte im BETRIEB Frau Krause befindet (TB 18.9.2003). Dennoch ist sie auch enttäuscht, dass »man das Rad jetze wieder neu erfindet« und darauf verzichte, auf Erfahrungen aus der sozialistischen Vergangenheit zurückzugreifen oder sich zumindest darauf zu beziehen. Ähnlich wie sie kommentierten andere Gesprächspartner die dahingehenden Reformdebatten ebenfalls als konstante Negierung ihrer Erfahrung mit öffentlicher Sorge und daher als ein Versagen der Politiker. Auch diese Erfahrungen tragen zum Prozess der Identifikation mit der Organisation der Sorge nach dem DDR-Muster bei. I.3.2.3 Schlussbemerkung: staatliche Politik, lokale Praktiken und Interpretation von Care Wie in der theoretischen Grundlegung dargestellt, ist Care stets mit staatlichen Rahmen sozialer Sicherung verbunden. Daher wurde Care in diesem Kapitel im Sinne einer geschichteten Analyse sowohl anhand der institutionellen Implementierungen staatlicher Idealvorstellungen als auch der diese betreffenden lokalen Interpretationen eingeführt. Drei Elemente sind für die anschließenden Kapitel besonders aufschlussreich: die Zentralität des Motivs mütterlicher Erwerbstätigkeit für die Identitätskonstruktion, die Verquickung staatlicher Politik und Care sowie die Erfahrung einer tiefgreifenden und verunsichernden Veränderung in der Rolle der Betriebe. Vor diesem Hintergrund kann die eindimensionale Interpretation eines Rückzugs des Staates durch die folgenden ethnographischen Beispiele vielförmiger Übergänge zwischen privater und öffentlicher Sorge weiter in Frage gestellt werden. Im Zusammenhang mit sich verändernden Genderkonstruktionen drehen sich zahlreiche politische Debatten der letzten Jahrzehnte um die Frage, wie mit der

98 | C ARE/SORGE ungleichen Verteilung von Care zwischen den Geschlechtern umgegangen werden sollte. Die auf diese Weise neu ausgehandelten Antworten beeinflussen staatliche Vorgaben, die wiederum mit individuellen Care-Praktiken verknüpft sind. Gerade im Blick auf diese Zusammenhänge ist eine Forschung im postsozialistischen Deutschland besonders lohnenswert, denn nirgendwo sonst war der Unterschied hinsichtlich staatlich vertretener Care-Ideologien über den sogenannten eisernen Vorhang so groß wie zwischen der alten Bundesrepublik und der DDR. Dies hat zur Folge, dass die Veränderungen auf diesem Gebiet in den neuen Bundesländern als besonders einschneidend wahrgenommen werden. Bis zur Vereinigung haben sich in den beiden deutschen Staaten in bewusster spiegelbildlicher Abgrenzung voneinander unterschiedliche Genderregime vor allem im Hinblick auf erwerbstätige Mütter und öffentliche Sorge herausgebildet. Während beide deutschen Staaten die Sorge für Kinder als Bedürfnis anerkannten (caring about), unterschieden sie sich dennoch in den angenommenen Ideallösungen. Beide Länder befanden sich mit dieser Politik am Rand des jeweiligen Spektrums ihres jeweiligen politischen Lagers. In den Begriffen des vorgestellten Modells sozialer Sicherung (Franz und Keebet von Benda-Beckmann 1994), lässt sich sagen, dass die ideologische Schicht eine häusliche Sorge durch die Mutter in der ehemaligen BRD bevorzugte. In der DDR hingegen wurde mütterliche Berufstätigkeit mit Unterstützung durch Care in öffentlichen Institutionen gefördert. In der Konsequenz war die weibliche Erwerbsbeteiligung in der BRD vergleichsweise niedrig und in der DDR vergleichsweise hoch. In Westdeutschland wurde dies begleitet durch einen (trotz der zweiten Welle des Feminismus) abwertenden Diskurs gegenüber der öffentlichen Sorge für Kinder. In der Logik der Abgrenzung gab es demgegenüber einen positiven Diskurs in der DDR. Die auf diesen Idealen aufbauenden rechtlichen Regulierungen und institutionellen Lösungen des taking care of unterschieden sich entsprechend. Diese Herangehensweisen führten in der Folge auch zu Unterschieden in Praktiken ›privater‹ Sorge. Deren temporaler Verortung im Leben der Akteure beeinflusst Interpretationen des Wandels wie auch darauf aufbauende Care-Praktiken nach der Wende. Der deutsche Vereinigungsprozess zeitigte daher einen entscheidenden Wechsel in den beiden ersten Schritten des Care-Prozesses, wie ihn Tronto versteht. In den neuen Bundesländern blieb das sozialistische Ideal der erwerbstätigen Mutter und die daran anknüpfenden Sorgepraktiken zumindest lange Zeit nach der Vereinigung dominant. Dieses Festhalten an lokalen Vorstellungen von Care ist auch beeinflusst durch die sehr spezifische Erfahrung der deutschen Vereinigung mit der teilweise ungewollten oder zumindest ungefragten Übernahme westdeutscher Politik und Institutionen. Im Verbund mit der empfunde-

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nen Abwertung biographischer Sorgeerfahrungen führt dies auch zu einer gesteigerten Bedeutung der diskursiven Abgrenzung von den alten Bundesländern auf Grundlage der bereits aus der Zeit der Existenz zweier deutscher Staaten bekannter Differenzen. In dieser Situation wird das sozialistische Modell der erwerbstätigen Mutter eines der wenigen positiven Merkmale ›ostdeutscher‹ Selbstzuschreibung. Es zeigt sich daher, dass die sozialistische Ideologie, die im wissenschaftlichen Diskurs oft als nur oberflächlich akzeptiert dargestellt wird, unter bestimmten Umständen durchaus einen anhaltenden Einfluss auch auf ›private‹ Normen und Praktiken von Sorge haben kann. Ähnlich hat auch die Organisation staatlicher sozialer Sicherung über die Betriebe einen prägenden Einfluss auf bedeutsame Bindungen hinterlassen. Die folgenden empirischen Kapitel zeigen anhand dieser und ähnlicher Sorgepraktiken, dass es sich bei den hier beschriebenen Verbindungen staatlicher Institutionalisierungsformen von Sorge mit familiären Praktiken um entscheidende Erfahrungen im Lebenslauf handelt. Diese prägen nicht nur Care-Praktiken und ihre Begründung durch Akteure in den neuen Bundesländern, sondern auch Formen der Vergemeinschaftung weiterhin nachhaltig. Allerdings müssen angesichts der tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen die Sorgepraktiken auch an die neuen Verhältnisse angepasst werden. Mit diesen Neuverhandlungen der Interpretationen, Praktiken und Beziehungsqualitäten von Care beschäftigen sich die nun folgenden Kapitel.

II. Praktiken ›privater‹ Sorge: Care, Politik, Wirtschaft

Einleitend wurde dargestellt, dass Care sowohl in politischen Debatten als auch in wissenschaftlichen Diskursen häufig ausschließlich im als privat geltenden Bereich verortet wird. Weiter wird davon ausgegangen, dass diese Sorgepraktiken lediglich in kernfamiliären Strukturen zu finden seien, nachdem die Bedeutung früherer – außerhalb Europas noch existierender – erweiterter Verwandtschaftsbeziehungen abgenommen habe. In den folgenden zwei Kapiteln werden beide Grundannahmen in Zweifel gezogen. Zum einen werden gezielt Sorgepraktiken in bisher kaum thematisierten erweiterten Verwandtschaftsbeziehungen einer europäischen Gesellschaft in den Blick genommen. Zum anderen wird geschildert, inwiefern diese vermeintlich privaten Bindungen und die an sie geknüpften Care-Praktiken durch staatlichen Einfluss aus dem öffentlichen Bereich mit gestaltet werden und sie umgekehrt auf diesen zurückwirken. Während die Verbindungen zwischen staatlicher Politik und Verwandtschaft meist im Kontext rechtlicher Fragen um Heirat, Adoption/Sorgerecht und Vererbung untersucht werden, zeigt dieser Teil der Studie komplexere Verknüpfungen verschiedener Politikbereiche mit der Konstruktion bedeutsamer Verwandtschaftsbindungen durch Sorgepraktiken auf. Während das erste Kapitel behandelt, wie über die Kernfamilie hinaus Vorstellungen und Erleben von Verwandtschaft politisch geprägt sein können, werden im zweiten Kapitel Sorgepraktiken dargestellt, die sich geradezu entgegen staatlicher Politik ausbilden. Gleichzeitig veranschaulichen beide Kapitel die anhaltende Relevanz der früheren Erfahrung institutioneller Sorge und Genderpolitik in der DDR, wie sie im Fokus des vorigen Kapitels stand. Zunächst verweist das Beispiel der Sorge über die ehemalige deutsch-deutsche Grenze auf den noch zu wenig beachteten politischen Einfluss auf gelebte verwandtschaftliche Bindung. Während Verwandtschaft als ›traditionale‹ Form der sozialen Organisation und in der Ethnologie manchmal als Ersatz für politische Strukturen gilt, wurde sie über die deutsch-deutsche Grenze durch politische Förderung von Care sozusagen neu geschaffen oder zumindest revitalisiert und ausgeweitet. Verwandtschaftliche Sorge wurde in diesem Prozess von bundesdeutscher Seite als Ausdruck der Einheit der Nation gefördert und auf eine erweiterte Familie ausgedehnt. Nach der Vereinigung lösten sich viele dieser

P RAKTIKEN › PRIVATER ‹ S ORGE

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Bindungen durch die Care immanente Ambivalenz, wieder auf. Neben einer veränderten politischen Situation trugen zu diesen Prozessen des dekinning auch neue rechtliche und ökonomische Rahmenbedingungen bei, die frühere familiäre Care-Praktiken im Rahmen sozialer Sicherung ihrer bislang sinnvollen Einbettung enthoben. Auch das darauffolgende Kapitel problematisiert die Verbindung zwischen vermeintlich privaten Sorgepraktiken und dem öffentlichen Raum. Anhand der bisher in der Literatur noch wenig behandelten großelterlichen und insbesondere großväterlichen Sorge lässt sich ebenfalls die Neuaushandlung von Care im Kontext neuer wirtschaftlicher und politischer Umstände nachvollziehen. Allerdings vollziehen sich die in diesem Kapitel vorgestellten verwandtschaftlichen Care-Praktiken entgegen der Möglichkeiten familiärer Sorge, die durch die neue bundesdeutsche Familienpolitik zur Verfügung gestellt werden, da diese den Erfahrungen und Erwartungen der betroffenen Generationen von Akteuren widersprechen. Auch an diesem Beispiel zeigt sich, dass staatliche Politik private Praktiken der Sorge beeinflusst, wenn auch selten in der beabsichtigten Art und Weise.

II.1 Care über die deutsch-deutsche Grenze

Die 80-jährige Großmutter von Herrn Grabbin lebt mit ihrer jüngsten Tochter (der Mutter von Herrn Grabbin) und ihrer Enkelin sowie deren Familie in einem Einfamilienhaus in der Nähe von SEESTADT. Von ihren insgesamt drei Kindern lebte auch ihr Sohn bis zu seinem Tod vor einigen Jahren im gleichen Ort. Ihre älteste Tochter allerdings wohnt bereits seit 1956 in Frankfurt a.M. Deren Bindung zu ihrer Mutter und den Geschwistern wurde vor der Wende durch regelmäßige Besuche und Pakete aufrechterhalten. Sie habe sogar »immer ein Gartenhäuschen, über Genex bauen wollen«.1 Auch von den Paketen hätten sie »immer profitiert«, sagt ihre Schwester, aber dann sei die Wende gekommen und: »Da hat sie sich gezeigt.« Nachdem sie nun in ihren Augen der Schwester ihr wahres Wesen gezeigt hatte, bricht diese früher bedeutsame Bindung völlig ab. (zusammengestellt nach mehreren Tagebuchaufzeichnungen sowie I Nr. 10 vom 18.9. 2003, siehe auch die Vorstellung von Herrn Grabbin in Abschnitt I.3.1.3) Im Gegensatz zur Familie Grabbin hat Frau Krause als Ehefrau eines Marineoffiziers während des Sozialismus die Verbindungen zu ihren Verwandten in der BRD nicht gepflegt. Nach der Vereinigung und dem damit verbundenen Wegfall eventueller beruflicher Hemmnisse für einen Kontakt sieht sie aber keinen Grund, diese zu aktivieren: »Wir haben auch Westverwandtschaft drüben, aber ick muss Ihnen janz ehrlich sagen, ich hab mich bei unserer Verwandtschaft och nicht gemeldet. Und die haben auch kein Interesse an uns und melden sich och nicht: Was soll’s?« (tI, 10.12.2003)

1

Bei Genex handelte es sich um ein DDR-Unternehmen, durch welches Bürger der Bundesrepublik Waren bestellen und in die DDR versenden konnten. Neben Lebensmitteln und verschiedenen Konsumgütern konnten auch ganze Fertigteilhäuser bestellt werden (Schneider 2001).

106 | C ARE/S ORGE Auch ein nach der Wende aufgenommener Kontakt mündete nicht immer in einer verwandtschaftlichen Bindung. So kommentierte etwa ein männlicher Angestellter (42 Jahre, verheiratet, zwei Kinder) im strukturierten Interview die Erfahrung seines ersten Besuchs nach der Wende bei seiner Tante im Westen der Republik mit den knappen Worten: »Aber die war typisch wessi und das hat gereicht.« (I Nr. 12, 19.9.2003)

Diese drei Schilderungen geben typische Situationen für alte und neue NichtVerbundenheit zwischen Verwandten aus den früher getrennten Staaten wieder. Während in den beiden letzteren Fällen vor der Vereinigung kein Kontakt zwischen den Verwandten im jeweils anderen Deutschland existierte, gab es in vielen anderen Familien mehr oder weniger intensiv gelebte verwandtschaftliche Bindungen (wie etwa in der Familie Grabbin). Die Nicht-Aufnahme verwandtschaftlicher Beziehungen sowie im Gegenteil die Auflösung von früher engen Bindungen scheint ein charakteristisches Moment nach der deutschen Vereinigung zu sein. So gaben in den strukturierten Interviews 16 von 23 Befragten an, westdeutsche Verwandte zu haben. Nur im oben zitierten Fall existierten vor der Wende keine Kontakte. In drei weiteren Fällen endete die Beziehung schon vor der Vereinigung wegen Tod oder Scheidung. In den übrigen 13 Fällen überwogen in den Antworten auf die Frage nach Veränderungen in den Beziehungen nach der Wende die Erzählungen über eine Auflösung verwandtschaftlicher Bindungen oder zumindest solche über einer Verschlechterung der Beziehungen. In keinem einzigen Fall haben sich bereits bestehende Bindungen nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten intensiviert. Im positivsten Fall wurde keine Veränderung der Beziehung vermerkt. Wieso lösen sich bedeutsame Bindungen auf, die während der Existenz der zwei deutschen Staaten bestanden haben? Warum entstehen keine neuen Bindungen? Die Antwort auf diese Fragen ist, so wird im Folgenden argumentiert, in Care, d.h. in der Konstruktion von Bedürftigkeit zwischen einer gebenden und einer nehmenden Seite sowie den damit verbundenen Ambivalenzen von Sorgepraktiken, zu suchen. Die Auflösung verwandtschaftlicher Bindungen über die ehemalige Grenze nach der politischen Vereinigung ist bisher in der Literatur eher am Rande als Teil neuer Differenzkonstruktionen zwischen Ost und West gestreift worden (so z.B. in Müller 2002: 158-162; Berdahl 1999: 165-166). Übersehen werden dabei jedoch die weitergehenden Implikationen ihrer vorherigen Existenz wie auch diejenigen ihrer Auflösung. Care als Dimension sozialer Sicherung ist ein zentrales Element beider Prozesse (des kinning wie dekinning), und so zeigt sich gerade an diesem Beispiel die Bedeutung von Care sowohl für die (Re-)Produktion bedeutsamer Bindung als auch für deren Auflösung. Gleichzeitig gestattet

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das Beispiel Einblicke in die Bedeutung politischer Interessen für private Sorgepraktiken (wie auch umgekehrt). Im Folgenden beginne ich (anhand der vorhandenen Literatur) mit einer Beschreibung der historischen Bedingungen von Sorge über die deutsch-deutsche Grenze hinweg. Darauf aufbauend werden aus der Perspektive meiner Gesprächspartner aus SEESTADT die Gründe für die Auflösung oder zumindest Lockerung verwandtschaftlicher Bindungen nach der Wende dargestellt. Von den in Teil II vorgestellten Hauptprotagonisten prägen dieses Kapitel insbesondere die Erfahrungen der bereits oben erwähnten Familie von Herrn Grabbin sowie jene von Herrn Paul und Herrn Jäger. Hinzu kommen die Erzählungen von Frau Eggert, Mutter von vier Kindern und ausgebildete landwirtschaftliche Facharbeiterin, die nach dem Umzug nach SEESTADT anfing, in der Kinderbetreuung zu arbeiten sowie die des 79-jährigen Herrn Weber, der (in Rumänien geboren) nach dem Zweiten Weltkrieg nach SEESTADT kam und als Arbeiter bis zu seinem Renteneintritt im BETRIEB tätig war. Er lebt mit seiner Frau und einer Enkelin in einem etwas außerhalb von SEESTADT gelegenen Einfamilienhaus. Mit beiden habe ich neben informellen Gesprächen auch biographische Interviews geführt.

II.1.1 C ARE

UND V ERWANDTSCHAFT ÜBER DIE DEUTSCH DEUTSCHE G RENZE

Herr Paul beschreibt seine Bemühungen um den Kontakt zu seiner Mutter, die nach dem frühen Tod ihres Mannes allein in Aachen lebte, bevor sie im Alter von 91 Jahren verstarb, folgendermaßen: »Aber das [sie zu besuchen] gelang erst so Ende der 80er Jahre. Dann konnte ich, einmal konnte ich fahren, da hatte ich ja die Lungengeschichte. [Herr Paul war über längere Zeit in Behandlung wegen einer Tbc-Erkrankung]. Da war ich ein dreiviertel Jahr ausgesteuert, ne? Und war invalide geschrieben. Da konnte ich einmal im Herbst und einmal im Frühjahr nach drüben fahren und [lacht] sie besuchen, ne? So, und danach nicht mehr. Und dann so zwei Jahre vor der Wende, dann wurde meine Mutter dann 80. Da wollte ich unbedingt hin mit meiner Frau och. Und meine Frau kriegte die Genehmigung und ich nicht. So. Sollten ja nich zwei fahren. Und dann habe ich Krach geschlagen oben in der Bezirksverwaltung, der Volkspolizei. Wo da auch die Stasi [war], natürlich saß da ein Oberst. Das hat sich dann vier Wochen hingezogen; ich musste immer wieder hin, ne? Hat dann immer wieder mit mir gesprochen. Und ich hatte inzwischen [eine] Eingabe an den Ministerpräsidenten, an Willi Stoph, geschrieben und auch wieder zurück gekriegt. Und

108 | C ARE/S ORGE zum Schluss war mir dann der Kragen geplatzt und habe dann gesagt: ›Wenn ihr mich nicht zum 80. Geburtstag meiner Mutter fahren lasst, dann lasse ich Tote aufstehen.‹ – ›Bleiben Sie mal ruhig, bleiben Sie mal sachlich.‹ Und: ›Kommen Sie mal morgen wieder.‹ Als ich dann am nächsten Tag dahin kam, empfing mich der Oberst persönlich: ›Und‹, sagte er, ›Paul, ist alles in Ordnung. Sie können fahren. In Zukunft gibt es keine Schwierigkeiten mehr. Wenn Sie fahren müssen zu ihrer Mutter, kommen Sie her, kriegen Sie sofort [eine] Genehmigung.« (tI, 29.9.2003)

In diesem Zitat spiegeln sich einige der Bemühungen, die oft erforderlich waren, um verwandtschaftliche Bindungen über die deutsch-deutsche Grenze aufrechtzuerhalten. Im Kontext der DDR wurden solche Besuche häufig, wie Birgit Müller es ausdrückt, zu einem der »Konfrontationspunkte mit dem Regime« (2002: 158). Zugleich blieben die Verhältnisse nicht statisch, sondern veränderten sich im Laufe des Bestehens beider deutscher Staaten. Die Brisanz wie auch die Veränderungen im Laufe der Zeit sind verbunden mit der politischen Interpretation der Grenze und der entsprechenden Bedeutung, die verwandtschaftlicher Sorge zugeschrieben wurde (siehe auch Thelen 2007).2 II.1.1.1 Care und Nation Die politischen Interpretationen und Bedeutungszuschreibungen waren durch die Situation der beiden deutschen Staaten als einer Grenzregion zwischen westlichem Kapitalismus und sowjetischem Sozialismus nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmt. Während der frühen Nachkriegsjahre existierte die Grenze zunächst nur als Demarkationslinie zwischen den Besatzungszonen und war noch offen für Handel und andere Kontakte.3 Obwohl die politische Situation für einige

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Seit den 1980er Jahren beschäftigt sich eine stetig wachsende Literatur mit Grenzen und Grenzregionen. Eine zentrale Erkenntnis dieser Forschung lautet, dass Grenzregionen, obwohl sie territoriale Einheiten und Identitäten begrenzen sollen, Orte intensiven Austauschs und Identitätsbildung sind (siehe z.B. Meinhof 2002; Roesler/ Wendl 1999; Wilson/Donnan 1998). Das vorliegende Kapitel behandelt allerdings nicht den Austausch in einer Grenzregion, sondern den Einfluss der politischen Interpretation der Grenze auf Verwandtschaftskonstruktionen und mit ihnen verbundene Sorgepraktiken.

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Nach dem Krieg gab es zunächst vier Besatzungszonen. Das Territorium der späteren DDR entsprach grob der sowjetischen Besatzungszone und das Territorium der späteren BRD mehr oder weniger der französischen, englischen und amerikanischen Zone: für eine detaillierte Beschreibung der historischen Entwicklung der Grenzziehungen

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Jahre vage blieb, wurde eine Vereinigung der Besatzungszonen zu einem Staat durch die wachsenden Spannungen zwischen Ost und West immer unwahrscheinlicher. 1952 wurde schließlich das Überqueren der Grenze verboten und in den folgenden Jahren unternahmen beide Seiten diverse Aktionen (oft im Kontrast zu ihren jeweiligen öffentlichen Verlautbarungen), die die Grenze undurchlässiger machten (Doering-Manteuffel 1993; Wieschiolek 1999: 211-212). Als 1961 schließlich die Berliner Mauer gebaut wurde, wurde sie zum Symbol einer unrechtmäßigen Trennung zweier zusammengehörender Teile. Der gegenseitige Kontakt und Austausch zwischen Bürgern der BRD und der DDR gestaltete sich in den folgenden Jahren weitaus schwieriger als in den Nachkriegsjahren. Insbesondere Reisen von Ost nach West blieben lange Zeit beinahe unmöglich. Ab 1964 erhielten lediglich Rentner und andere als ökonomisch inaktiv geltende Bürger der DDR – wie etwa Herr Paul während seiner langen Krankheit – die Erlaubnis, in die BRD zu reisen. In den frühen 1970er Jahren vereinfachte sich das Reisen nach Westdeutschland durch steigenden internationalen Druck wieder, vor allem bei sogenannten dringenden Familienangelegenheiten.4 Als solche dringenden Familienangelegenheiten galten vor allem rituelle Anlässe wie Feiern zu Geburtstagen, Hochzeiten (auch Ehejubiläen wie etwa goldene Hochzeiten) sowie die schwere Erkrankung oder der Tod naher Verwandter (Großeltern, Eltern, Kinder und Geschwister einschließlich Halbgeschwister). Diese Vorgaben beschränkten Verwandtschaft also grundsätzlich auf relativ nahe durch Abstammung definierte Beziehungen. Trotzdem argumentierten DDR-Bürger, die einen Besuch in der BRD beantragten, zunehmend mit weiter entfernten sowie angeheirateten Verwandten. Eine interne Analyse der Polizei in Magdeburg hielt beispielsweise fest, dass »betreffend der Reisegründe immer häufiger Besuche bei weiter entfernten Verwandten (Onkel, Tanten, Kusinen, Schwiegereltern, Schwager und Schwägerinnen, Nichten und Neffen)« angegeben wurden.5 Häufiger wurden Reiseanträge nicht mehr ausschließlich für Individuen gestellt, sondern – wie auch Herr Paul erzählt – für Paare, die Verwandte im westlichen Ausland gemeinsam besuchen wollten. Allerdings wurden die Kategorien erst in den späten 1980er Jahren offiziell ausgeweitet, so dass siehe z.B. Wagner (1993), zur Erfahrung der Grenzziehung aus Sicht verschiedener Akteure siehe Schubert (1994). 4

Insbesondere durch Inkrafttreten des sogenannten Vier-Mächte-Abkommens 1972 kam es zu Erleichterungen in den Transit-, Reise- und Besuchsregelungen (Bollin/ Fischer-Bollin 1999: 549).

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Landeshauptarchiv Magdeburg (LHA), Rep. M24, BDVP Magdeburg 1975-1990, Abteilung PM, Nr. 17105; abgedruckt in Gladen (2001: 23).

110 | C ARE/S ORGE diese dann auch affinale Verwandte, wie Schwager und Schwägerinnen, umfassten. Insgesamt werden die Reisebeschränkungen über die deutsch-deutsche Grenze häufig als inhumane Zerstörung verwandtschaftlicher Bindungen durch die Obrigkeit der DDR interpretiert. So stellt beispielsweise Edda Ahrberg, die Landesbeauftragte für die Unterlagen der Staatssicherheit der ehemaligen DDR in Sachsen, fest, dass die staatlichen Angestellten, die die Reiseanträge in der DDR bearbeiteten, für das Auseinanderdriften von Familien verantwortlich gewesen seien (zitiert in Gladen 2001: 2). Diese Sichtweise verwechselt jedoch die staatlichen Ziele mit der tatsächlichen Praxis. Verwandtschaftliche Beziehungen haben nicht wegen der Mauer aufgehört zu existieren. Eher im Gegenteil: Sie bestanden nicht nur weiter, sondern wurden teilweise sogar ausgeweitet oder neu konstituiert und besaßen als solche eine wichtige politische und wirtschaftliche Bedeutung. Im Kontext des Kalten Krieges blieben die politischen Diskurse und Praktiken auf beiden Seiten der deutsch-deutschen Grenze wechselseitig aufeinander bezogen (Borneman 1992). So nahm nach den 1950er Jahren die Einheitsrhetorik in der DDR ab, während sie in der BRD verstärkt wurde. Galt in den ersten Jahren nach offizieller Gründung der beiden deutschen Staaten die Forderung einer deutschen Vereinigung in der alten Bundesrepublik noch als kommunistische Propaganda, verschob sich das politische Interesse im Westen hin zu einer Stärkung der (nationalen) Gemeinschaft nach dem Bau der Berliner Mauer. Die Grenze wurde daher in der öffentlichen Diskussion weniger als Folge des Nationalsozialismus thematisiert, sondern als Folge einer ›unnatürlichen‹ Teilung durch das sozialistische System. In dieser Situation erhielt die Förderung und Ausdehnung verwandtschaftlicher Sorge über die deutsch-deutsche Grenze ihre besondere Bedeutung als bester Beweis der Einheit und ›natürlicher‹ Ausdruck der Nation (siehe auch Thelen 2007).6 6

Das Konzept deutscher Identität als einer ethnischen hat zum Teil historische Wurzeln in der Entwicklung aus fragmentierten Kleinstaaten. Aufgrund der im europäischen Vergleich späten ersten staatlichen Einheit von 1871 blieb die Idee einer deutschen Nation lange von einem Staatsterritorium getrennt. Zusätzlich hatte der Kolonialismus in Deutschland weniger Einfluss als in anderen Ländern Europas. Als das erste vereinigte Staatsgebilde zustande kam, bestand daher keine Notwendigkeit, Menschen anderer Weltregionen einzugliedern. Die erste Vereinigung basierte auf ethnisch-nationalen Ideen einer gemeinsamen Abstammung und Sprache sowie einem gemeinsamen kulturellem Erbe zu einer Zeit, als beispielsweise Frankreich und Großbritannien bereits Konzepte einer bürgerschaftlichen Identität entwickelt hatten (Brubaker 1994; siehe auch Howard 1995: 123; Staab 1998: 127-128).

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Während die DDR sich zunehmend um eine sozialistische Identität bemühte (Palmowski 2009) und die Kontakte über die Grenze einzuschränken versuchte, expandierte die in der BRD gebrauchte Verwandtschaftssemantik auf das Territorium beider Staaten. Während eine rein materielle Unterstützung der DDRBevölkerung auch durch bereits bekannte Formen des Care-Pakets möglich gewesen wäre, wurde in dieser Situation aktiv auf Verwandtschaftstermini zurückgegriffen und diese ausgeweitet. Dies tritt z.B. deutlich in der Formulierung von »unseren (armen) Brüdern und Schwestern in der Ostzone« zutage. Allerdings entwickelte sich diese ›natürliche‹ verwandtschaftliche Sorge nicht völlig von selbst. Es waren einige politische Anstrengungen notwendig, um die bundesdeutsche Bevölkerung davon zu überzeugen, die Bindungen zu den Verwandten in der DDR durch Sorgepraktiken aufrecht zu erhalten. Dies zeigt sich unter anderem in den wiederholten Kampagnen verschiedener staatlicher und nicht-staatlicher Akteure, mit denen die Bürger der BRD dazu aufgefordert wurden, Briefe und Pakete in die DDR zu schicken. Auf der Grundlage des Konzepts von Care als Dimension sozialer Sicherung lässt sich also sagen, dass erst die normative Anerkennung einer Bedürftigkeit politisch durchgesetzt werden musste, bevor diese in Sorgepraktiken zum Tragen kommen konnte. Somit musste trotz der im deutschen Sprachgebrauch suggerierten Beziehungssymmetrie der verwendeten Geschwisterterminologie zunächst die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Unterschiede auf politischem Wege unterstützt werden, um diese Anerkennung der Bedürftigkeit zu erreichen. Die Postsendungen wurden daher nach dem Vorbild der amerikanischen Care-Pakete nach dem Zweiten Weltkrieg als Hilfeleistungen an eine bedürftige DDR-Bevölkerung konzipiert (siehe auch Roloff 2009). Auf einer Briefmarke der damals noch staatlichen Post hieß es etwa: »Dein Päckchen nach drüben. Sie warten darauf.« Ein Plakat fragte: »Hast Du schon das Deine getan?« (beide abgedruckt in Härtel/Kabus 2001a: 129, 130; weitere Abdrucke bei Roloff 2009 und Ilger 2008). Solche und ähnliche Aufrufe appellierten an das Pflichtgefühl auf der gebenden Seite. Dabei übertrieben sie die materielle Bedürftigkeit und empfahlen lange Zeit die Sendung von Grundnahrungsmitteln und gebrauchten Kleidern in die DDR, um »den Mythos einer akuten Not im Osten aufrechterhalten zu können« (Gries 1991: 463, zitiert nach Kaminsky 2001: 270). Auch Wohlfahrtsorganisationen, Radiosender und Zeitungen riefen regelmäßig vor Weihnachten und Ostern zu Brief- und Paketsendungen in die DDR auf.7

7

Insbesondere kirchliche, aber auch private Vereine verschickten auch sogenannte Fremdpakete an Adressen, die sie noch aus der Zeit vor dem Verbot solcher Aktivitäten auf dem Territorium der DDR besaßen oder die sie neu (beispielsweise auf Kir-

112 | C ARE/S ORGE Ähnlich wie Spenden für gemeinnützige Zwecke konnten die Bundesbürger solche Paketsendungen zudem pauschal von ihrer Einkommenssteuer absetzen (siehe auch Roloff 2009). Daneben gewährte das Ministerium für gesamt-deutsche Fragen (seit 1969 Ministerium für innerdeutsche Beziehungen) weitere finanzielle und ideologische Unterstützung. Der Paketversand wurde ebenfalls im Rahmen der sogenannten Osthilfe finanziell gefördert. Zusätzlich zu den Paketkampagnen, die bis in die 1970er Jahre ein Tätigkeitsschwerpunkt blieben, wurden auch Themen für Schulaufsätze und den Zeichenunterricht erarbeitet (Kabus 2001: 126-128). Themen wie »Was nutzt Dein Paket in die Zone?« und »Die Menschen in der Zone brauchen uns« sollten schon den Kindern die CareVerpflichtung der Bürger der BRD gegenüber denjenigen der DDR verdeutlichen. Während die Literatur zu der Verbindung von Care und Staat häufig individuelle Verhandlungen mit den jeweiligen staatlichen Akteuren zur Anerkennung von Bedürftigkeit (Lipsky 1980; Howe 1990; Dubois 2010) oder Bemühungen von Interessengruppen um eine Anerkennung von Bedürftigkeit durch höhere staatliche Institutionen behandelt (Cancian/Oliker 2000), waren staatliche Instanzen der BRD während der Existenz zweier deutscher Staaten vielmehr darum bemüht, bei ihren eigenen Bürgern eine Sorgeverpflichtung für ihre Verwandten in der DDR zu etablieren. Dies war durchaus erfolgreich, denn jährlich wurden laut André und Nagengast (2002, zitiert nach Roloff 2009: 12) ca. 25 Millionen Pakete und Päckchen aus der Bundesrepublik in die DDR gesendet. Härtel und Kabus (2001b) sprechen von 45 Millionen Paketen mit einem Wert von 1,2 Milliarden Mark in den 1960er Jahren und einem Rückgang auf 25 Millionen Pakete in den 1980er Jahren, als es auch keine über Organisationen vermittelten »Fremdpakete« mehr gab.8 Auch in den von Dietzsch analysierten privaten Briefwechseln über die chentagen) bekamen. Zum Westpaket als Form institutioneller Wohltätigkeit siehe Ilger (2008). 8

Mit dem Aufkommen der Entspannungspolitik in den 1970er Jahren schienen diese Kampagnen immer weniger angemessen, wurden jedoch bis zum Ende der DDR nicht gänzlich eingestellt (Kabus 2001: 128). Die Bürger der BRD begannen vermehrt, sich eher über den Stolz auf die wirtschaftlichen Erfolge des Landes sowie auf dessen Verfassung, denn als ethnische Gemeinschaft zu definieren (Staab 1998: 15-16). Die Aufrechterhaltung der Vorstellung einer ethnischen Gemeinschaft aller Deutschen verlor daher an Bedeutung. Die Zeit tat ein Übriges, so dass die Grenzübertritte sowie die Brief- und Paketsendungen von West nach Ost mit den Jahren abnahmen. Laut Studien des Allensbacher Instituts für Demoskopie gaben 1953 noch zehn Prozent der Befragten an, »häufig« in die DDR zu schreiben und 30 Prozent gaben an, ein Weihnachtspaket zu versenden. 1970 war nur noch bei sieben Prozent der Befragten von

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deutsch-deutsche Grenze wurde die Vorstellung einer materiellen Bedürftigkeit der DDR-Bevölkerung reproduziert, so dass sich die Verwandten aus der Bundesrepublik zuweilen wunderten, wenn sie erfuhren, dass ihre Verwandten in der DDR Sport trieben, um abzunehmen, sich eine Gans als Festessen leisteten oder »ein Ostzonenkind eigentlich recht gut genährt« vorfanden (2004: 134-135). Das Ziel solcher Maßnahmen ging über die materielle Unterstützung einer notleidenden Bevölkerung weit hinaus. So heißt es etwa in einer internen Notiz des Ministeriums von 1964: »Leitgedanke dieser Förderung ist neben der materiellen Hilfe ein politisches Ziel: Das Paket als Ausdruck der Verbundenheit soll die menschlichen Kontakte und die Mitverantwortung der Bewohner der Bundesrepublik zur Erhaltung des Zusammengehörigkeitsgefühls stärken.« (zitiert nach Kabus 2001: 127)

Neben der wirtschaftlichen Hilfe sollte sich also in den Care-Praktiken auch emotionale Verbundenheit ausdrücken. Diese politischen Ziele fanden durchaus ihren Widerhall in den privaten Praktiken und Bedeutungszuschreibungen. So stellt Dietzsch (2004: 11) für die von ihr untersuchten Briefwechsel über die deutsch-deutsche Grenze fest: »Dabei lässt sich als Grundmotiv für alle vorwegnehmen, dass sie eine Beziehung über die Grenze hinweg aufrechterhalten wollten. Eine sich ständig wiederholende Betonung emotionaler Verbundenheit und von Gemeinsamkeit stellte dabei ein zentrales Mittel dar, mit dem sich die Vorstellung einer Gemeinschaft aller Deutschen in den Briefen reproduzierte.«

Sie zitiert etwa einen Briefschreiber mit den Worten: »Es muss alles getan werden, um keine Schranken zwischen den deutschen Menschen aufzurichten, sondern das Gefühl immer wieder zu stärken, dass wir trotz der nun schon über zehn Jahre bestehenden Trennung zusammengehören.« (Dietzsch 2004: 65)

Der Autor dieser Zeilen verstand den Brief- und Paketverkehr mit seinen beiden Schwestern, seiner Nichte und deren Kindern als seinen persönlichen Beitrag dazu. Er sorgte für seine Verwandten nicht nur mit regelmäßigen Lebensmittelpaketen, sondern auch mit Ratschlägen in verschiedenen Lebenslagen wie »häufig« die Rede. Bis 1981 jedoch gaben immerhin 38 Prozent der Interviewten an, Kontakte in die DDR oder nach Ost-Berlin zu haben (Noelle-Neumann 1955: 24; 1974: 4; Noelle-Neumann/Piel 1983: 208, zitiert nach Dietzsch 2004: 9).

114 | C ARE/S ORGE Krankheit, Berufswahl und (von ihm negativ bewerteter) mütterlicher Berufstätigkeit (Dietzsch 2004: 68-69). Die Vorstellungen von Gemeinsamkeit und einer ethnischen (National-)Gemeinschaft wurden in Praktiken privater Sorge aufrechterhalten und verliehen Care daher zentrale Bedeutung auch in politischen Diskursen. Der Charakter der Paketkampagnen blieb den staatlichen Autoritäten der DDR nicht verborgen; sie lehnten die Konstruktion einer Bedürftigkeit ihrer Bürger ab (Kabus 2001: 129). Dennoch vertraute die DDR-Führung im Laufe der Zeit darauf, dass die Pakete aus der BRD manche Engpässe auffangen würden (Lindner 2000: 36-37). Ähnlich verschob sich auch die Haltung in Bezug auf Reisen zwischen der BRD und der DDR von einer anfänglich sehr restriktiven Praxis hin zu mehr Offenheit und einer unwilligen Akzeptanz in den späten 1980er Jahren, wie es sich bereits in dem Zitat von Herrn Paul spiegelt. Besucher aus der BRD mussten dabei oft intensive Grenzkontrollen über sich ergehen lassen, und 1964 wurde zusätzlich der Mindestumtausch eingeführt.9 Die Summe dieser, inoffiziell auch Zwangsumtausch genannten, verpflichtenden Deviseneinfuhr wurde mehrmals geändert und vor allem 1980 deutlich erhöht, was wiederum Proteste auf der anderen Seite der Grenze auslöste. Allerdings zeigte die Anhebung auch eine Verschiebung in der Politik der DDR-Führung an, die nun die Reproduktion verwandtschaftlicher Bindungen durch Care wirtschaftlich einkalkulierte und nutzte, um in den Besitz ›harter‹ Währung zu kommen (Kaminsky 2001: 172; siehe auch Roesler 2003). Hier wird deutlich, wie Care (Besuche, Pakete) innerhalb von Bindungen, die als privat gelten, auch für Nationalstaaten zu einem Wirtschaftsfaktor werden kann. Insofern kann der deutschdeutsche Austausch als ähnliches Phänomen der Sorge betrachtet werden wie Care in anderen transnationalen Familienbindungen, wie sie durch neuere Migrationsbewegungen entstanden sind (siehe etwa Parreñas 2003; Escrivá 2004; Vertovec 2004). Die Einbettung dieser Care-Praktiken in ein wirtschaftliches Ungleichgewicht hatte dabei ähnlich ambivalente Folgen für die Interpretationen dieser Sorge, die durch den politischen Diskurs noch verstärkt wurden. II.1.1.1 Care als ambivalente Gabe Die Empfänger wie Geber der Sorge durch Postsendungen und Besuche wurden in steigendem Maße aus erweiterten Verwandtschaftskreisen gestellt. Ein Ausdruck dessen ist der oben bereits erwähnte Versuch von Bürgern der DDR, auch Besuche affinaler Verwandter als dringende Familienangelegenheiten zu definie9

Bürger der BRD mussten bei Besuchen bei ihren Verwandten in der DDR eine bestimmte Summe ihrer Währung in ostdeutsche Mark umtauschen (und dort ausgeben).

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ren. Gleichzeitig erreichte auch Care in Form von Briefen und Paketen mit der Zeit weiter gefasste Familienkreise, wie sich bereits an dem oben zitierten Briefschreiber aus der Arbeit von Dietzsch und dessen Kommunikation (zusammen mit seiner Ehefrau und von ihr nach seinem Tod weitergeführt) mit seinen Schwestern und deren Ehemännern und Kindern andeutet. Zu Beginn wurden vor allem Pakete und Briefe zwischen einem engeren Kreis von Verwandten ausgetauscht, die sich aus der Periode vor der strikten Grenzziehung gut kannten und daher eine schon etablierte Beziehung unter erschwerten Umständen weiter pflegten. Bestanden insbesondere die Briefwechsel über einen längeren Zeitraum, konnten sie auch Funktionen der biographischen Selbstbestätigung annehmen, wie Dietzsch (2004) anhand des Briefwechsels zweier befreundeter Pfarrer zeigt. Diese konnten in ihren Briefen Themen von Krankheit und Alter verhandeln, die in ihrem Berufsleben keinen Platz hatten. Ähnlich vergewisserte sich eine aus dem ehemals deutschen Teil Polens stammende Frau in ihren Briefen der eigenen Integration in die bundesdeutsche Gesellschaft. In diesem Rahmen konnten die Briefe also auch Formen emotionaler Sorge enthalten. Gleichzeitig wurden die Briefe aber häufig nicht mehr nur von einer Person, sondern von ganzen Familien gelesen. Laut vorgelesen wurden die Neuigkeiten aus dem Verwandtenkreis im jeweils anderen Deutschland auch z.B. vom Schwager, vom Enkel oder von entfernten Kusinen vernommen. In ähnlicher Weise wurden auch die Inhalte der Pakete zwar oft noch durch die ältere Generation verteilt, erreichten auf diesem Weg aber auch andere Familienangehörige, hier besonders die Jüngeren, nach dem Krieg Geborenen. Insgesamt verstärkten sie so die Einbeziehung erweiterter Verwandtschaftsbeziehungen in den Kreis bedeutsamer Bindungen. Angesichts einer grundsätzlichen Dominanz von Kernfamilien wie sie im wissenschaftlichen wie populären Diskursen für europäische Industriestaaten angenommen wird ist die Existenz und Verbundenheit dieser erweiterten Familien über die deutsch-deutsche Grenze, die durch Sorgepraktiken aufrechterhalten wurden, ein bemerkenswerter Kontrapunkt. Allerdings begründete die soziale Anerkennung der Bedürftigkeit der DDRBürger auch eine Ambivalenz in diesen Bindungen. Care in Form der Pakete war konzipiert als freie Gabe, fungierte aber gleichzeitig als Symbol der Verpflichtung in einer hierarchischen Situation (siehe auch Dietzsch 2001: 106). Für diese Sorgepraktiken musste die nach Mauss (1990 [1950], siehe auch Abschnitt I.2.1.2) erste Obligation des Gebens durch die wiederholten Kampagnen und ihre offene moralische Sprache zunächst betont, wenn nicht sogar geschaffen wer-

116 | C ARE/S ORGE den.10 Zusätzlich war das Senden der Gaben hochgradig ritualisiert, weil sie nach DDR-Zollbestimmungen als Geschenke zu deklarieren waren und hauptsächlich zu wichtigen Familienfeierlichkeiten wie Weihnachten, Geburtstagen usw. verschickt wurden.11 Offensichtlich waren diese Geschenke eingebettet in einen moralisch-politischen Diskurs und keine »free gifts«. Die Rhetorik der oben zitierten Kampagnen macht deutlich, dass das Verschicken eines Paketes für Bürger der BRD eine vergleichsweise simple Art und Weise darstellte, ›Gutes‹ zu tun, die mit Dankbarkeit gewürdigt werden würde. So wurde gleichzeitig der überlegene Status der Geber reproduziert. Diese Hierarchie konnte aufrechterhalten werden, weil die Empfängerseite die Verpflichtung zur Reziprozität aufgrund des ökonomischen Gefälles zwischen der DDR und der BRD materiell nicht erfüllen konnte. Die Verwandten in der DDR besaßen (meist) keine wünschenswerten Güter, um die empfangenen Gaben gleichwertig zurückzahlen zu können. In ihren Anstrengungen zur Reziprozität schickten sie durchaus Pakete, die ebenfalls Konsumgüter und oft auch Handarbeiten enthielten. Aber selbst wenn diese hinsichtlich der Beschaffung oder Herstellung große Mühen erforderlich gemacht hatten, war für die Empfänger- wie Geberseite klar, dass sie nicht denselben materiellen und emotionalen Wert besaßen (Dietzsch 2004: 136-137). Sie wurden auf der Empfängerseite in der BRD nicht sehnlichst erwartet und schon gar nicht benötigt. Am Beispiel von Süßigkeiten illustriert folgendes Zitat die Kluft deutlich: »Ansonsten wäre es doch absolut lächerlich gewesen, volkseigene Süßigkeiten in den Westen zu senden. Oder es war ein Racheakt.« (Härtel/Kabus 2001b: 10)

Dagegen erinnern sich viele Bürger der ehemaligen DDR noch lange an den Geruch eines sogenannten Westpakets, das in dieser Zeit die bessere Welt des Kapitalismus symbolisierte (siehe z.B. die verschiedenen Beschreibungen in Härtel/Kabus 2001a). Obwohl es also keine individuelle Gabe war und auch

10 Einer meiner Kollegen aus den alten Bundesländern erinnerte sich beispielsweise, dass in seiner Kindheit seine Familie immer verzweifelt nach jemandem gesucht hatte, dem sie ein Paket hätten schicken können und sie sich schuldig gefühlt hätten, niemanden gehabt zu haben. In solchen Fällen vermittelten manchmal auch Organisationen, vor allem im Umfeld der Kirche, deutsch-deutsche Beziehungen, wobei Personen in der DDR zuweilen sehr erstaunt waren oder sich gar gekränkt fühlten, wenn sie ein Paket von Unbekannten erhielten (siehe auch Fußnote 8 zu den sogenannten Fremdpaketen sowie Kabus 2000: 121; Ilger 2008: 116). 11 Zu weiteren Zollbestimmungen für Westpakete siehe Roloff (2009).

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nicht das »hau«12 des Senders inkorporierte, transportierte der Austausch doch den Geist der Gesellschaft aus der es kam, den Kapitalismus. In den Verwandtschaftsbindungen führte der ungleiche Austausch zu einer klaren Rollenverteilung, wie Birgit Müller anhand ihrer Interviews in Ostberlin beschreibt: »Von den Ostdeutschen wurde erwartet, dass sie sich über ihre materielle Situation beklagten und dankbar waren für Geschenke aus dem Westen, während die Westdeutschen ihre Erfolge und materiellen Errungenschaften rühmten.« (Müller 2002: 158)

Dieser Erwartung der Stützung des Motivs der ökonomischen Ungleichheit und damit ihrer Bedürftigkeit kamen die Bürger der DDR in den von Dietzsch analysierten Briefwechseln überwiegend durch überschwängliche Dankbarkeitsbezeugungen nach (2004: 134). Die in der theoretischen Grundlegung angeführte Literatur aus der Disability-Forschung betont die solchen Sorgebeziehungen inhärenten negativen Gefühle. Galvin (2004: 139) etwa schreibt: »[N]ot being able to reciprocate and feeling like a burden tend to generate feelings of guilt and shame.« Auch Care von Bürgern der BRD für ihre Verwandten in der DDR produzierte Stress und Schuldgefühle sowie Gefühle der Unterlegenheit (Borneman 1992: 145; Dietzsch 2001: 204-213; Merkel 1999: 289). Der ambivalente Charakter der Westpakete war durch die besondere politische und ökonomische Situation der beiden deutschen Staaten verursacht. Während die Verwandten in der BRD davon ausgingen, sozial anerkannte Bedürfnisse zu befriedigen, wurde dies durch die Deklaration als individuelles »Geschenk« gleichzeitig verschleiert. Die Pakete unterlagen rigiden Zollkontrollen und bestanden mehr oder weniger normiert aus alltäglichen Konsumgütern. Bezeichnenderweise spielten Lebensmittel eine große Rolle bei dieser Form verwandtschaftlicher Sorge. So wurden beispielsweise Mehl, Zucker, Tütensuppen und Schokolade verschickt. Der alltägliche und regelhafte Charakter der Sendungen stellte gleichzeitig deren Bedeutung als »Geschenk« in Frage. Oft wurden daher bestimmte Markenprodukte (wie etwa Jacobs Krönung oder Kinderschokolade) oder luxuriösere Waren wie Ananas in Konservendosen bevorzugt und dann in Geschenkpapier verpackt (Dietzsch 2004). Dies sollte der Gabe dann doch noch den »außergewöhnlichen« Charakter geben, den sie benötigt, um der sozialen Konstruktion des Geschenks im deutschen Sprachgebrauch gerecht zu werden. Allerdings blieb der individuelle Charakter durch die Stan12 Mauss bezieht sich auf den Maori-Begriff hau als »the thing contains the person that the donor retains a lien on what he has given away […] and it is because of this participation of the person in the object that the gift creates an enduring bond between persons« (zitiert nach Parry 1986: : 475).

118 | C ARE/S ORGE dardisierung des Inhalts trotzdem fragwürdig. Letzteres ist einer der Punkte, der sich deutlich in der heutigen Interpretation der Sorgepraktiken durch die Empfänger in der ehemaligen DDR spiegelt. Diese Ambivalenz von Care über die deutsch-deutsche Grenze trug zur Auflösung der erweiterten Verwandtschaftsnetzwerke nach der Wende bei, wie sich in den folgenden Interpretation aus Sicht meiner Gesprächspartner zeigt.

II.1.2 AUFLÖSUNG BEDEUTSAMER B INDUNG NACH DER W ENDE »Wo bleiben die Westpakete?« lautet der Titel des 2009 erschienenen Buches von Ernst Röhl. Diese, bei ihm ironisch gemeinte Frage deutet auf das Ende der oben beschriebenen Care-Praktiken zwischen Verwandten aus der ehemaligen DDR und BRD hin. Obwohl nach der deutschen Vereinigung ein ökonomisches Ungleichgewicht zwischen den neuen und alten Bundesländern erhalten blieb, gibt es keine Paketkampagnen staatlicher Stellen mehr, die dazu aufrufen würden, die Verwandten zu unterstützen. Mit den politischen Veränderungen verlor auch die Betonung der Nation als ethnischer Gemeinschaft an Bedeutung und deren Bestärkung durch verwandtschaftliche Sorge wurde zunehmend überflüssig.13 Doch was geschieht mit verwandtschaftlicher Bindung nachdem die politische Unterstützung nachlässt? Dieser Frage soll hier anhand der Interpretationen meiner Gesprächspartner in SEESTADT nachgegangen werden. Während die Rhetorik politischer Paketkampagnen ebenso wie diejenige der deutsch-deutschen Briefe auf die Konstruktion von Gleichheit und Gemeinschaft abzielte, zeichnet sich in den NachWende-Diskursen eine Betonung der Differenz ab. Interessanterweise ist Care – wie zuvor in den Gleichheitskonstruktionen – ein wichtiges Element auch der Differenzkonstruktionen. II.1.2.1 Care und die ›Last der Dankbarkeit‹ Care in Form der oben beschriebenen Pakete standardisierten Inhalts, gesendet von Bürgern der BRD an ihre ›armen‹ Verwandten im Osten, war immer ambi-

13 Dies drückt sich unter anderem in öffentlichen Diskussionen aus, die schließlich auch zu Reformen im Staatsbürgerrecht führten. 1999 wurde das aus dem Jahr 1913 stammende Abstammungsrecht aufgehoben und einer liberaleren Einbürgerungspolitik der Weg geebnet (Conrad/Kocka 2001: 9, 16).

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valent gewesen. Retrospektiv verlieren diese Sorgepraktiken nicht nur an Wert, sondern werden zu einem wichtigen Symbol der Differenz und tragen so zur Auflösung von Bindung bei. Ein erster Aspekt der diskursiven Abgrenzung durch Neubewertung der ehemaligen Sorgepraktiken ergibt sich aus dem erleichterten Zugang zu den einst hoch geschätzten Konsumgütern nach der Vereinigung. Während sie früher in der DDR selten oder gar nicht erhältlich waren, lassen sie sich nun überall käuflich erwerben. Mit der Ausweitung der Konsummöglichkeiten hat sich auch das Wissen um Preise und Qualität rasch erhöht. Dies verändert rückblickend den Wert der früher erhaltenen Gaben. Viele meiner Interviewpartner erklärten, erst nach der Wende begriffen zu haben, dass die Geschenke, die sie von ihren Verwandten aus der BRD erhalten hatten, für diese »billig« gewesen waren: »ALDI-Kaffee und T-Shirts aus Massenproduktion«, wie eine Informantin es ausdrückt (I Nr. 7, 18.9.2003). Berdahl (1999: 170) betont, dass die Aneignung angemessener Konsumpraktiken eine Form der Initiation in die westdeutsche Gesellschaft darstellte. In diesem Sinne ist die Tatsache, dass Aldi eine preiswerte Supermarktkette ist, schnell Teil des allgemeinen Wissensbestandes geworden. Neben dem mutmaßlich geringen Wert der Gaben wurde auch die oben erwähnte staatliche Unterstützung der Sorge zwischen Verwandten zur Neubewertung von Care herangezogen. So kommentiert etwa Frau Eggert, von deren acht Geschwistern eine Schwester seit 1945 in Westdeutschland lebt, die oben erwähnte Steuererleichterung, die Bürgern der BRD für die Paketversendung in die DDR gewährt wurde: »Aber das war ja so, die haben das ja von der Steuer abgesetzt das Postpaket.« (TB, 24.2.2005) Durch die staatliche Unterstützung der Sorge wird aus Sicht der damaligen Empfänger der individuelle Beitrag der Geberseite weiter herabgesetzt und gar als nicht mehr authentisch empfunden. Die Durchmischung anscheinend privater Sorge mit öffentlicher Unterstützung wird in diesem Zusammenhang als fragwürdig eingeschätzt. Diese Einschätzung einer geringen persönlichen Anteilnahme auf Seiten der Verwandten aus der damaligen Bundesrepublik wird zusätzlich gefördert durch die Annahme, die Pakete seien vorgefertigt gewesen. So fügt Frau Eggert hinzu: »Und da gab es Läden, die haben das zusammen gestellt und gleich verpackt.« Ähnlich äußert sich ebenfalls der bereits vorgestellte Herr Jäger (siehe Abschnitt I.3.1.3). Die Bestellung vorgefertigter Pakete impliziert, dass die Gaben nicht nur billig waren, sondern auch ihre Versendung weder mit großen individuellen Mühen verbunden war noch emotionaler Zuneigung auf der bundesdeutschen Seite bedurfte. Der Verdacht, die Gaben seien nicht nur durch Ladenangestellte zusammengestellt, sondern im Anschluss auch zur Post gebracht worden, dient

120 | C ARE/S ORGE in diesem Sinne als negative Steigerung. Durch die Negierung ›echter‹ Gefühle und Mühen kann Care zwischen Verwandten insgesamt abgewertet werden. Die neu gewonnenen Erkenntnisse über den (geringen) materiellen Wert der Gaben sowie der auf sie verwendeten Mühen veränderten aus Sicht der Empfänger nicht nur die Bedeutung der Produkte, sondern auch die der Bindungen in die diese Form von Care eingebettet war. Zum einen rief die Erkenntnis, dass die einstmals heiß ersehnten Produkte billige Massenware waren, ein Gefühl der Scham über die nun als Dummheit empfundene Sehnsucht hervor. Dies gilt auch dann, wenn die Akteure heute selber in diesen Geschäften dieselben Güter kaufen. Dass die Verwandten aus der BRD zumindest retrospektiv für diese Pakete nicht sonderlich viel aufzubringen hatten, macht sie weniger wertvoll und entwertete sie manchmal gar völlig. Gleichzeitig trägt die Erkenntnis, dass es sich bei den Paketinhalten nicht um große Opfer der Verwandten gehandelt hatte, zu den ohnehin ambivalenten Gefühlen der Schuld und der gleichzeitigen Kränkung bei, die Sorgebeziehungen immanent sind.14 Neben dem materiellen und emotionalen Gehalt der Sorge bedarf daher auch die frühere Konstruktion der Bedürftigkeit einer Neuaushandlung. Möglicherweise schon vor der Vereinigung spürbar, aber in dem Versuch Konflikte zu vermeiden nicht offen ausgedrückt, wurde diese in den Gesprächen während der Feldforschung über den Inhalt der Sorge thematisiert. In dem geringen materiellen Wert von Care zeigte sich aus Sicht meiner Gesprächspartner die Überbewertung des Mangels an Gütern in der DDR.15 So kommentiert Frau Eggert, die Sendungen ihrer Schwester: »Wir haben an und für sich nicht auf Westpakete gewartet. Sie hat uns dann Sachen geschickt, die ihre Tochter nicht mehr tragen konnte. Das war ja auch nicht verkehrt.« (tI, 24.2.2005)

Während ihre Aussage nur den Wert der erhaltenen Gaben (und damit die zugrundeliegende Annahme von Bedürftigkeit) relativiert, indem sie andeutet, die gebrauchte Kleidung sei ›nicht nötig‹ gewesen, ist Herr Jäger aufrichtig entrüstet, als er sich erinnert, 1988 ein Paket mit gebrauchten Schuhen erhalten zu haben. Sein Ärger wird von der Vorstellung ausgelöst, man könne gemeint haben, dass er auf gebrauchte Schuhe angewiesen sei. Und er fügt daraufhin eine weitere Erinnerung aus den späten 1980er Jahren hinzu. Als er und seine Frau zu

14 Für eine generelle Annäherung an das Thema Schuld und soziale Gerechtigkeit im deutschen Transformationsprozess siehe Borneman (1997). 15 Zur sozialistischen Mangelwirtschaft aus westlicher Sicht siehe Kapitel I.3.1.

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Besuch bei ihren Verwandten waren, bekamen sie gebrauchte Kleidung angeboten. Er kommentiert: »Die [gebrauchte Kleider] gehen sonst nach Afrika. Später hat meine Frau ihre Kusine in eine Ecke mitgenommen und gesagt: ›Schau mich mal von oben bis unten an – sehe ich aus wie in Afrika?‹« (TB, 22.2.2005)

In der Darstellung von Herrn Jäger wird offensichtlich, dass er die angebotene Sorgeleistung als nicht angemessen empfunden hat. Zwischen den Verwandten auf Geber- und Nehmerseite findet in dieser Schilderung eine Verhandlung über die Bedürftigkeit statt. Während es in individuellen wie kollektiven Aushandlungsprozessen häufig um die Anerkennung von Bedürftigkeit geht, wird diese hier von den Empfängern zurückgewiesen. Herr Jäger lehnt es offensichtlich ab, Hilfeleistungen ›wie ein Afrikaner‹ zu erhalten. Die ambivalente Konstruktion des sozialistischen Anderen als ›mental‹ gleich, aber ökonomisch anders, die die Anerkennung der Bedürftigkeit von Bürgern der DDR ermöglichte, wird von ihm negiert. An ihre Stelle rücken eine Betonung der Gleichheit und gleichzeitig eine andere Konstruktion der Alterität. »Afrikaner« sind in seiner Wahrnehmung im Vergleich zu ihm, einem modernen Bürger der DDR, wirklich notleidend. In ähnlicher Weise drehen sich auch andere Gespräche um die Konstruktion von Alterität mittels der sogenannten Westpakete. So sind einige Kommentare aus einer Webdiskussion zum Thema ebenfalls sehr ambivalent. »Helmut« schreibt beispielsweise: »Aufgrund meiner häufigen Reisen in die Zone [Meiningen in Thüringen] zu meiner geliebten Oma Löser habe ich auch hautnah mitbekommen, wie denn die Westpakete bzw. deren Inhalt so angekommen ist. Meine Oma war eine bescheidene und genügsame Frau. Sie hat sich immer auch über die einfachen Dinge gefreut. Jedoch als unsere Verwandten aus Bayern [!] die Westpakete u.a. auch mit Zucker, Mehl, Reis und Tütensuppen gefüllt haben, wurde auch diese alte Frau [84 Jahre] sauer. So schlecht ging es ihr nun wieder auch nicht.« (14. Juli 2000, 17.13 Uhr, http://www.zonentalk.de, publiziert in Mühlberg/Schmidt 2001: 66).16

16 »Zonentalk« wurde Ende 1999 von Studenten der TU-Chemnitz und der Humboldt Universität in Berlin als Plattform für individuelle Alltagsgeschichten mit verschiedenen thematischen Bezügen eingerichtet. Nach einer Kritik in der Chemnitzer Morgenpost vom 30.5.2000 musste ein privater Anbieter gesucht werden; inzwischen ist der Betrieb eingestellt. Die meisten der hier verwendeten Zitate sind der Zusammenstellung von Felix Mühlberg und Annegret Schmidt (2001) entnommen.

122 | C ARE/S ORGE Zwei weitere Diskussionsteilnehmer erwähnen als Inhalt der Westpakete ähnlich kritisch wie Frau Eggert: »Abgetragene Sachen, die unsere Bekanntschaft eh in die Kleiderspende gegeben hätten, kamen zum Vorschein.« (»honey«, 28. Juli. 2000, 13.26 Uhr, http://www.zonentalk.de, publiziert in Mühlberg/Schmidt 2001: 67) und: »[H]upsa – übergroße Stoffhosen, Mäntel und anderes Material, das keiner so richtig brauchen konnte.« (1. Juni. 2000, 00:19 Uhr, http://www. zonentalk.de, publiziert in Mühlberg/Schmidt 2001: 67) Diese Bewertung wird dann häufig auf die ›westdeutsche‹ Persönlichkeit bezogen, indem die Verwandten als arrogant beschrieben werden, da sie Geschenke machten, die überflüssig waren. Hier wird Care, früher als Zeichen der Gemeinsamkeit konstruiert, nun zum Symbol der Differenz. Diese aus ihrer Sicht unangemessene Sorge interpretieren meine Gesprächspartner auch als Unkenntnis über das Leben in der DDR. So fuhr etwa Herr Jäger im Anschluss an seine Anekdote über den Erhalt gebrauchter Kleidung fort, indem er seine damalige (teure) Wohnungseinrichtung beschrieb. An dieser Stelle verweist er zudem auf die seines Erachtens nach gute Qualität von DDRProdukten. Letzteres ist ebenfalls ein wiederkehrendes Thema solcher Gespräche. Nicht nur die empfangenen Westgüter werden neu bewertet, auch die Konsumgüter der DDR wurden vergleichend in die neuen Differenzdiskurse mit einbezogen. Diese Vergleiche beziehen häufig auch die weiteren Lebensumstände der Verwandten aus dem westlichen Ausland mit ein. So berichtet etwa der ehemalige Arbeiter Herr Weber, dass seine Schwester in Österreich »bettelarm« verstorben sei und Verwandte aus der alten BRD bei einem Besuch nach der Wende vor allem wegen ihres Einfamilienhauses erstaunt kommentiert hätten: »Euch geht es ja hier besser als uns.« (TB 8.6.2005) Mit demselben Ausdruck von Stolz erzählt auch Frau Eggert über ihren ersten Besuch bei ihrer Schwester in Köln: »Da sind uns dann die Augen aufgegangen.« Und: »Die kochen auch nur mit Wasser.« (TB 24.2.2005) Sie kommentiert weiter, dass die Schwester ihre Wohnung nicht besitzt, sondern »nur« – wie sie selbst – gemietet hat. Hinsichtlich der Wohnungseinrichtung merkt sie an, dass sich ihre eigenen Möbel trotz ihrer vier Kinder und der damit verbundenen Kosten mit denen ihrer Schwester »durchaus messen lassen konnten«. In diesen Äußerungen zeigen sich Vergleiche und Anpassungen ihrer früheren Wahrnehmung des Wohlstands in der Bundesrepublik sowie der Lebensbedingungen in der DDR. Diese erste Reise in die alten Bundesländer nimmt Frau Eggert daher als einen Moment des »Augenöffnens« wahr, und bezichtigt damit implizit ihre Verwandten, früher bewusst ein übertriebenes Bild vom westlichen Wohlstand gezeichnet zu haben. Auf meine direkte Nachfrage, ob ihre Schwester ihr denn eine andere Vorstellung vermittelt

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habe, antwortet sie: »Ja, die haben immer wunders wie getan.« (TB 24.2.2005) Diese Interpretation ähnelt auch dem Beitrag einer Teilnehmerin der schon oben zitierten Internetdiskussion, in dem sie beschreibt, wie sie als Kind nach dem Erhalt eines Westpakets Dankesbriefe schreiben musste »und beim nächsten Besuch haben sie sich dann gebrüstet, was sie alles für die ›Lieben‹ im Osten tun.«. Nach der Wende merkte sie rasch, dass die Waren »aus dem ALDI stammten und unsere ›Lieben‹ gar nicht ihr letztes Hemd für uns geopfert haben, wie man uns immer weis machen wollte. Soviel zu meiner Westverwandtschaft.« (»Karin«, 16. September 2000, 20.03, http://www.zonentalk.de) In ihrer Neubewertung der früheren Sorge in Form der Westpakete und mit ihren Hinweisen auf die Qualität der DDR Produkte weisen Verwandte aus der früheren DDR die ihnen als Empfänger von Care zugewiesene unterlegene Statusposition zurück und negieren eine mutmaßlich von ihnen erwartete Verpflichtung zur Dankbarkeit. Interessanterweise kommt es aber nicht nur zu einer Neuinterpretation der Care-Praktiken der Verwandten aus der früheren BRD, sondern auch die eigene Sorge wird im Licht der neuen Abgrenzung interpretiert, wie der folgende Abschnitt zeigt. II.1.2.2 Care und Gemeinschaft Die ›den‹ Westdeutschen retrospektiv zugeschriebene Arroganz und Ignoranz wird in den Gesprächen häufig kontrastiert mit den eigenen Sorgepraktiken jener Zeit. In diesem Zusammenhang werden beispielsweise die Care-Praktiken während der Besuche von Verwandten aus der BRD zum Thema. So fügt Frau Eggert als Erklärung für die aus ihrer Sicht seit der Wende »abgeflachte« Beziehung zu ihrer Schwester eine Beschreibung ihrer eigenen Gastfreundschaft an: »Wenn sie kam: Mein Haus stand immer für jedermann offen. Wenn sie kam, und hier war, dann hatte ich die ganzen Familien hier. Das hat mich auch viel Geld gekostet! Und ich hab‘ nie gesagt, ihr dürft nicht kommen.« (tI, 24.2.2005)

Nachdem sie ihre Gastfreundschaft nicht nur auf die Schwester, sondern auch deren Mann, Kinder sowie deren Familien ausgeweitet hatte, erwartete sie nach der Grenzöffnung, weil »wir sie immer in die DDR eingeladen hatten«, nun als reziproke Gegenleistung auch empfangen zu werden. Stattdessen, so schildert sie, habe sie kurz nach der Wende einen Brief von ihrer Schwester erhalten, in dem diese ihr den Rat gegeben habe, »sich erstmal in der näheren Umgebung [der näher an SEESTADT gelegenen alten Bundesländer] oder Berlin umzusehen«. Sie bemerkt zur Haltung ihrer Schwester: »Da hat sie Angst bekommen, dass

124 | C ARE/S ORGE jetzt die ganze Verwandtschaft kommt.« (TB 24.2.2005) Ähnlich bemerkte eine weitere Informantin, dass ihre Verwandten aus der alten BRD sie früher oft besucht hätten und dann immer sehnsuchtsvoll gesagt hätten: »Ach, wenn Ihr uns doch mal besuchen könntet.« Nach der deutschen Vereinigung wiederholten sie diese Einladung nie (Nr. 7, 18.9.2003). Während es in der Familie Eggert zumindest immer noch einen Kontakt gibt, ist im letzteren Fall die Beziehung vollständig aufgelöst.17 In diesen Fällen löst sich die Bindung, weil die Reziprozitätserwartungen an die Verwandten aus den alten Bundesländern nicht erfüllt werden. Die wahrgenommenen Unterschiede zwischen Verwandten aus alten und neuen Bundesländern werden oft auch anhand von politischen Streitfragen illustriert. Wie Ina Dietzsch (2001, 2007) beschreibt, wurden in den deutsch-deutschen Bindungen vor der Wende nach Möglichkeit politische Auseinandersetzungen vermieden. Dies führte zu Illusionen über die jeweiligen politischen Ansichten, die dann eine weitere Quelle für Enttäuschungen nach der Wende wurden.18 Dazu passen auch die Aussagen meiner Gesprächspartner, in den Haltung und Umgang mit der nationalsozialistischen und sozialistischen Vergangenheit, aber auch immer wieder Genderunterschiede in Verbindung mit Care wiederkehrende Themen sind Bei all diesen Themen wird eine Verschiebung von der früher angenommenen Gemeinsamkeit zur neu wahrgenommenen Differenz deutlich. Care ist nicht mehr Ausdruck (essentieller) Bindung, sondern wird herangezogen, um grundsätzliche Unterschiede zu verdeutlichen. Wie schon im Fall der Konsumprodukte wird in den Gesprächen dargestellt, dass die Unterschiede zwischen den Verwandten erst nach der Wende aufgefallen seien. In ihrer Erzählung über den schon erwähnten ersten Besuch bei der Schwester in Köln merkt Frau Eggert an, ihre Schwester sei erstaunt gewesen, dass sie keine Angst und auch keine Schwierigkeiten bei ihrer Anreise nach Köln hatten. Auf Nachfrage erklärt sie weiter: »Na, die hat gedacht, da ist noch was an der Grenze, BND oder so. Wir haben ja, wenn sie hier waren, nie mit unserer Meinung hinter dem Berg gehalten.« 17 Ähnliche Aussagen wurden auch gegenüber einer Praktikantin innerhalb des von mir geleiteten KASS-Projektes in Ostberlin (siehe auch www.eth.mpg.de/kass) gemacht (Streif 2010). Borneman (1992) berichtet, dass schon mit den Reiseerleichterungen in den späten 1980er Jahren manche Bürger der BRD Angst vor den Besuchen ihrer Verwandten aus der DDR gehabt hätten. Bei Müller (2002: 158-162) finden ebenfalls ähnliche Aussagen Erwähnung. 18 Zu ähnlichen Enttäuschungen unter kirchlichen Opponenten des sozialistischen Staates siehe Kapitel III.3.

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In dieser Erklärung deutet Frau Eggert an, während der Besuche ihrer Schwester offen positiv vom Sozialismus gesprochen zu haben. Daher habe ihre Schwester damals gedacht, dass diese Überzeugungen ihr nach der Wende Schwierigkeiten bereiten würden. Unsicher, ob ich sie richtig verstanden habe, frage ich nach, ob ihre Schwester ihr damals nicht widersprochen habe, »wenn Sie etwas Positives über die DDR gesagt haben?« Darauf lautet ihre Antwort: »Nein, nie.« Die offensichtliche Enttäuschung von Frau Eggert scheint zum Teil von dem Eindruck herzurühren, dass ihre Schwester in diesen Situationen als unehrlich gewesen sei, weil deren erste (indirekte) Bemerkung zu politischen Fragen erst nach der Wende äußert. Da diese Andeutungen für mich immer noch nicht ganz eindeutig sind, frage ich weiter, und sie gibt dann an, dass politische Differenzen erst nach der Wende offensichtlich geworden seien (TB 24.2.2005). Neben der allgemeinen Haltung zur sozialistischen Vergangenheit kommt es nach der Wende zwischen Verwandten aus den alten und neuen Bundesländern auch zu Auseinandersetzungen über den Umgang mit dem Nationalsozialismus. Ein Rentner (verheiratet, drei Kinder, Technologe) berichtete etwa von einer Auseinandersetzung bei einem gemeinsamen Besuch mit den Verwandten auf einem Bauernmarkt. Er sei über eine dort ausgestellte Milchkanne, die ausgesehen habe wie in seiner Kindheit, ins Schwärmen geraten und habe gesagt, dass es ihm reichen würde, »wenn es wieder Bäcker, Metzger usw. zum Einkaufen gebe«. Erschrocken über seine eigene Rede, fügte er hinzu, dass er »natürlich nicht den Krieg oder Faschismus« zurückhaben wolle. Daraufhin habe seine Kusine ihn angeschrien, er solle doch endlich aufhören und nach vorne blicken. Er meint er, ihre Überreaktion sei ihr sicherlich peinlich gewesen und zum Teil auf ihren persönlichen Charakter zurückzuführen, aber seiner Meinung nach sei dies eben auch ein »Ausdruck des unterschiedlichen Umgangs mit der Vergangenheit«. Schon zuvor hatte er erwähnt, dieses »Nach-Vorne-Schauen« sei »typisch westdeutsch« und es gebe »zwei Kulturen der Beschäftigung mit der faschistischen Vergangenheit«, die aus seiner Sicht ein Problem für das »mentale Zusammenwachsen« darstellten (TB 2.6.2004). Die frühere Gemeinsamkeit löst sich in diesen Darstellungen in neue Differenzen auf, die auf Grundlage bereits bestehender Deutungsschemata eingeordnet werden. Neben derartigen Interpretationen politischer Differenz ist es bemerkenswert häufig das Thema von Sorgeverpflichtungen und -praktiken entlang hegemonialer Geschlechterbilder. das als Folie für die Erklärung von Konflikten zwischen Verwandten herangezogen wird. Diese Darstellungen beziehen sich vor allem auf unterschiedliche Formen von Care innerhalb der Familie. So erzählt Frau Eggert etwa über einen Besuch ihrer Schwester:

126 | C ARE/S ORGE »Ich war ja immer großzügig und habe eingeladen: ›Und bring Deine Enkel mit.‹ Da ist sie das letzte Mal gekommen mit ihrem Enkel, der war aber schon groß, 14 war der und wie sie den trotzdem gehätschelt hat: ›Ne, der Tobi will das und das nicht.‹ Und dann als Allerletztes, da haben wir sie zum Bahnhof gefahren und ich sag zu dem Jungen: ›Na, nu nimmst Du aber mal den Koffer für Deine Oma.« Und der sagt: ›Wo denkst du hin? Meine Hand ist krank.‹ Und da sagt sie: ›Lass mal den Jungen.‹ Und ich: ›Du willst doch jetzt nicht den Koffer tragen?‹ Also, da hört es wirklich bei mir auf.« (tI, 24.2.2005)

In der Darstellung von Frau Eggert führt die unangemessene Sorge ihrer Schwester für ihren nun schon »großen« Enkel dazu, dass dieser wiederum seine Sorgeverpflichtung gegenüber seiner Großmutter nicht nachkommt. Ihr anschließender Hinweis, dass ihre eigenen Söhne immer im Haushalt helfen mussten, lässt ihre Überzeugung erkennen, dass die ›unangebrachten‹ Erziehungsmethoden der Schwester mit ›falschen‹ Rollenbildern in Zusammenhang stehen. Solche Unterschiede in hegemonialen Geschlechterbildern werden von meinen Gesprächspartnern nicht nur im Zusammenhang mit der Sorge für Kinder thematisiert, sondern auch im Hinblick auf die geschlechtliche Arbeitsteilung im Haushalt ausgemacht. So erzählt Herr Weber, dass er während eines Besuches von Verwandten aus den alten Bundesländern einmal vorgeschlagen habe, selbst zu kochen. Daraufhin seien die Verwandten »entsetzt gewesen, dass er als Mann das macht« (TB 8.6.2005). Die Versorgung der Familienmitglieder mit Essen wird in seiner Darstellung von den Verwandten als rein weibliche Care-Aufgabe angesehen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Care-Praktiken auf beiden Seiten der Grenze rückblickend neu bewertet werden. Während vormals über die Sorgepraktiken Gleichheit zwischen Verwandten und damit die nationale Gemeinschaft betont wurde, trägt die Neubewertung von Care nun zur Wahrnehmung von Differenz bei. In den Schilderungen über Differenzen und Konflikte werden Verwandte aus den alten Bundesländern (wie Westdeutsche generell) häufig als unhöflich, arrogant oder sogar unehrlich portraitiert. So spiegeln die neuen Grenzen zwischen Verwandten auch eine neue Identifikation als ›ostdeutsch‹ in Abgrenzung von ›westdeutsch‹ wieder, sind aber auch Teil einer Restrukturierung von Verwandtschaft sowie bedeutsamer Bindungen und Care allgemein. Diese inhärenten Ambivalenzen bei den Neuverhandlungen von Care können durch neue Konflikte, die sich im Umfeld der umfassenden Reformen ergeben, intensiviert werden. Care, das zeigt der nächste Abschnitt, spielt in diesem Sinne nicht nur eine Rolle im Zusammenhang neuer Differenzdiskurse, sondern auch in der Einbettung in komplexere Strategien sozialer Sicherung, wie insbesondere anhand von Erbstreitigkeiten deutlich wird.

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II.1.2.3 Care und Erbe In vielen Gesprächen über die Gründe der Auflösung verwandtschaftlicher Bindung nach der Wende spielen Konflikte über vererbtes Eigentum in Form kleiner landwirtschaftlicher Nutzflächen sowie von Einfamilienhäusern eine große Rolle. In meinem Sample strukturierter Interviews führten beispielsweise drei Interviewpartner einen Erbstreit als Erklärung für den Zerfall verwandtschaftlicher Beziehungen über die frühere Grenze an. Ähnliche Konflikte wurden mir auch zwischen Familienmitgliedern aus der früheren DDR berichtet, doch hat die Auseinandersetzung zwischen Verwandten aus alten und neuen Bundesländern zusätzliche Eigenheiten. Diese verweisen wieder auf eine Interpretation der Konflikte in den dominanten Mustern der oben bereits geschilderten diskursiven Abgrenzung. Gleichzeitig enthalten diese Konflikte aber auch eine Dimension, an der sich zeigt, dass Erbschaften einen wesentlichen Bedeutungswandel erfahren haben. Gerade daran lässt sich eine spezifische Verknüpfung zu intergenerationeller Sorge und den früheren verwandtschaftlichen Sorgebeziehungen über die Grenze sowie der Verlust der früher sinnvollen Einbettung von CarePraktiken in den größeren Rahmen sozialer Sicherung ablesen. Am eingangs angeführten Beispiel der Familie Grabbin, deren Bindungen zunächst über Sorgepraktiken über die deutsch-deutsche Grenze reproduziert, dann aber nach der Wende aufgelöst wurden, lassen sich diese Prozesse gut demonstrieren. Das Wohnhaus der Großmutter von Herrn Grabbin, in dem sie zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester sowie deren Mann und Kindern lebt, gehörte vor dem Zweiten Weltkrieg zu dem landwirtschaftlichen Gut, auf dem Frau Grabbin arbeitete. Durch die Bodenreform nach dem Krieg bekamen sie und ihr Mann als Neubauern acht Hektar Land, das sie in den 1950er Jahren in die dort entstandene LPG einbrachten.19 Im Februar 1989 verstirbt der Ehemann von Frau Grabbin, ohne ein Testament zu hinterlassen. Die Familie geht davon aus, dass seine Witwe »nach DDR-Schema« zunächst einmal alles (Land und Haus) erbt und erst später dann ihre Kinder. Mit dem 3.10.1990 19 Durch die Bodenreform wurden im Durchschnitt fünf Hektar an die sogenannten Neubauern verteilt. Diese Höfe waren meistens nicht tragfähig, was (neben anderen Gründen) dazu führte, dass die SED 1952 die Bildung landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften (LPG) beschloss. Die Kollektivierung galt 1960 als abgeschlossen (zur Landwirtschaft in der DDR siehe Bauerkämper 2002; Schöne 2005 sowie die Beiträge in Schmidt 2009). Der Boden blieb Eigentum (mit eingeschränkten Verfügungsrechten) der Mitglieder und konnte daher nach der durch die Wiedervereinigung erfolgenden Auflösung der LPGs wieder verteilt werden.

128 | C ARE/S ORGE tritt jedoch bundesdeutsches Erbrecht in Kraft und es kommt zum Konflikt zwischen Frau Grabbin, ihren vor Ort lebenden Familienmitgliedern und der in Frankfurt a.M. wohnhaften Tochter an dessen Ende die früheren Bindungen aufgelöst sind.20 Über den Ausgangspunkt des Konflikts gibt es zwei Versionen: Laut dem Enkel, Herrn Grabbin, bat die Familie im Jahr 1991 die in Frankfurt wohnhafte Verwandte bei einem Besuch um eine Verzichtserklärung auf das Wohnrecht im Elternhaus. Nach seiner Darstellung verließ diese daraufhin verärgert das fragliche Haus, weil sie annahm, sie solle auf ihr Erbe verzichten, und schaltete einen Anwalt ein. Laut seiner Mutter begann der Konflikt mit einem anberaumten Notartermin wegen des Erbscheines. Nach dem Tod des Vaters und den sich anbahnenden politischen Veränderungen hätten sie sich die Frage gestellt, wie es nun weitergehen solle, und seien zum Rat der Stadt gegangen. Dort habe man ihnen den Rat gegeben, sich einen Erbschein bei einem Notar ausstellen zu lassen. Die Frankfurter Schwester aber reagierte wütend: »Sie hörte praktisch nur das Wort Notar.« Sie habe daraufhin ein Telegramm geschickt, in dem sie den bereits angekündigten Besuch absagte. Auf Wunsch ihrer Mutter suchte sie die Schwester noch einmal auf, aber: »es war kein Reden mit ihr«. Aus diesem Vorfall entwickelte sich ein elf Jahre währender Rechtsstreit in dessen Verlauf der Bruder der beiden Schwestern verstirbt. Auch über den Ausgang des Rechtsstreits gibt es unterschiedliche Versionen. Laut Herrn Grabbin bekam seine in Frankfurt lebende Tante ihren Erbteil ausbezahlt. Seine Mutter dagegen meint,, dass ihre Schwester am Ende nichts bekommen habe, nachdem die gemeinsame Mutter offenbart habe, dass sie einen anderen Vater hatte (bewiesen durch eine Geburtsurkunde aus Greifswald) und sie auch nie durch ihren späteren Mann adoptiert worden war, obwohl sie den gleichen Namen wie die Geschwister trug. (zusammengestellt nach mehreren Tagebuchaufzeichnungen sowie I Nr. 10 vom 18.9.2003)

Für die Erörterungen ist an dieser Stelle wichtig, dass die verwandtschaftliche Bindung zu Mutter und Schwester völlig abbricht. Da Frau Grabbin einen weiteren Rechtsstreit zwischen ihren Töchtern nach ihrem Tod befürchtet, transferiert 20 Die formale Rechtslage weicht von der hier gegebenen Darstellung ab. So erbten neben Ehegatten auch Kinder des Erblassers in der DDR, und für Immobilien galten bei Erbfall vor dem 2.10.1990 Sonderregelungen (Bundesministerium für Justiz 2002). Die Komplexität des hier beschriebenen Falles liegt darin, dass man sich offensichtlich ›zu spät‹ um einen Erbschein bemühte, weil viele Erbfälle in der DDR weniger formell gehandhabt wurden. Allerdings geht es mir weniger um die formale Rechtslage als vielmehr deren Wahrnehmung durch meine Gesprächspartner sowie die ihrer Ansicht nach durch Care erworbenen Ansprüche.

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sie zum Zeitpunkt der Forschung ihre gesamten Einnahmen (die hauptsächlich aus ihrer Rente bestehen) zu den mit ihr zusammenlebenden Verwandten. Sie möchte sicher sein, »dass nie mehr Geld auf ihrem Konto ist als es zur Bezahlung ihrer Beerdigung nötig ist«, wie ihre Tochter sagt. Das umstrittene Haus wurde inzwischen der ebenfalls im Haushalt lebenden Enkelin überschrieben. Während sich die rechtliche Lösung des Konflikts in dieser Darstellung aus der nicht gegebenen Deszendenz ergibt, ist dies für die Handelnden unerheblich. Statt Verweisen auf mangelnde Gemeinsamkeit wegen nicht-existierender Blutsverwandtschaft, wird auf Sorge als Grundlage bedeutsamer Bindung und Rechte verwiesen und der Verfall in bekannten Ost-West-Differenzkonstruktionen interpretiert. Wichtiger als die formal-juristische Begründung war es der Tochter, dass sie ihre Ansprüche durch ihr Zusammenwohnen und ihre Sorge für die Eltern erworben hat. Sie kommentiert ihre Haltung mit den Worten: »Meine Eltern brauchten ja nun auch Betreuung […] ich habe schon viel in die Pflege investiert.« Dagegen ist ihre Schwester »rüber« und hat nicht in gleicher Weise die Sorge für die Eltern übernommen. Diesen Unterschied zur Schwester hebt sie hervor, indem sie sagt: »Wir waren diejenigen, die alles gemacht haben hier, mit meinen Eltern.« Ihre Sorge um die Eltern wiederum begründet sie mit verzögerter Reziprozität: »Ich hab ja auch von ihnen profitiert und jetzt ist es eben umgekehrt.« Inzwischen selbst Rentnerin bezieht sie Pflegegeld und plant: »Ich pflege sie bis zum Ende.« In ihrer Wahrnehmung werden diese durch Care erworbenen Rechte auf das Haus von der in Frankfurt lebenden Schwester nicht anerkannt. In diesem Beispiel ist Care für die Eltern im Alter in ein Recht auf eine materielle Transferleistung (Haus, Geld) informell übersetzt worden. Dieses Recht ist in die Care-Beziehung eingebettet, wird aber durch die Schwester der Sorgenden nicht anerkannt, so dass letztlich die Beziehung an unterschiedlichen Vorstellungen intergenerationeller Sorgeverpflichtungen zerbricht. Mit den politischen Änderungen ergibt sich zudem eine neue Rechtslage, durch die sich meine Gesprächspartner zunächst überfordert fühlen. So fragte etwa die Mutter von Herrn Grabbin: »Was haben wir schon mit Anwälten zu tun gehabt in der DDR?« Und fügte an: »Die wollten uns das Fell über die Ohren ziehen.« (TB, 1.3.2006) Tatsächlich ist, wie John Borneman (1992: 324-325) bemerkt, das westdeutsche Recht sehr viel komplizierter als das frühere ostdeutsche Recht. Das Erbschaftsrecht etwa beinhaltete in der DDR 66 Paragraphen, während es in der BRD 464 Paragraphen umfasst. Solche Veränderungen führten dazu, dass Eigentumsansprüche, wie Daphne Berdahl es für ihre Forschung im Dorf Kella beschreibt, »often severed family relations far more drastically than the Wall ever had« (1999: 165).

130 | C ARE/S ORGE Neben der Rechtslage veränderte sich aber auch der materielle Wert familiären Transfers durch Erbe. Ohne die Vereinigung hätte die in Frankfurt a.M. lebende Schwester wahrscheinlich wenig Interesse an einem Wohnhaus in der DDR gezeigt. Auch für Bürger der DDR waren landwirtschaftliche Flächen und Häuser, vor allem solche mit mehr als einer Wohnung, keine erstrebenswerten Erbschaften. Mit Eigentum dieser Art konnten durch Verpachtung und Vermietung nur geringe Einnahmen erzielt werden, die im Fall von Mieten oft nicht einmal die Instandhaltungskosten deckten. Obwohl die sozialistische Politik mit diesen Vorgaben (Kollektivierung und Einfrieren von Mietkosten) andere Ziele verfolgte, hatte sie auch (unintendierte) Folgen für gelebte Verwandtschaft. Erbschaft – an anderen Orten und zu anderen Zeiten ein wichtiger Teil des intergenerationellen Transfers (und damit der sozialen Sicherung) zwischen Eltern und Kindern – verlor unter diesen Bedingungen an Bedeutung. Oft waren Erben geradezu froh, Mietshäuser ›los zu werden‹. Diese Umstände minderten nicht nur deren Potential als materielle Ressource, sondern auch ihr familiäres Konfliktpotential beispielsweise unter Geschwistern. Mit der deutschen Vereinigung, als privates Grund- und Wohneigentum erneut an Bedeutung gewann, veränderte sich diese Situation dramatisch. Im Zusammenhang mit der Wertsteigerung von Grund- und Wohnungseigentum kam es aber auch zu weiteren Veränderungen vorher sinnvoller Strategien sozialer Sicherung. Denn obwohl Wohneigentum in der DDR keine finanzielle Ressource darstellte, war Wohnraum selbst eine knappe Ressource. Daher lebte häufig ein (erwachsenes) Kind weiterhin im Haus der Eltern und sorgte – wie im Beispiel die jüngste Tochter des Ehepaars Grabbin – im Bedarfsfall auch für sie. Mit der deutschen Vereinigung verloren diese Sorgebeziehungen ihre vorher sinnvolle Einbettung in die soziale Sicherung und mussten (in oft schmerzvollen Prozessen) neu ausgehandelt werden. Während die in der DDR verbliebene Tochter ihre in der ehemaligen BRD lebende Schwester der mangelnden Anerkennung ihrer Sorge für die gemeinsamen Eltern bezichtigt, lässt sich vermuten, dass auf deren Seite des Konfliktes auch eine Enttäuschung über die mangelnde Dankbarkeit des ostdeutschen Teils der Familie für ihre Sorge zur Zeit der Existenz zweier deutscher Staaten mitschwang und in ihrem Handeln zum Ausdruck kommt. Im Fall eines ähnlichen Erbstreits zwischen einer Frau, die 1952 zu ihren Eltern in die frühere DDR zog und ihren in den alten Bundesländern wohnhaften Geschwistern, erinnerten diese sie laut Berdahl (1999: 165) an ihre »Schulden« durch die über die Jahre erhaltenen Westpakete. Sie selbst wird mit den Worten zitiert:

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»I went from freedom into bondage in order to take care of my mother and father so they wouldn’t die alone. And now they [my western siblings] won’t recognize that anymore.« (Berdahl 1999: 166)

Auch in diesem Fall kam die frühere Beziehung völlig zum Erliegen. Die implizite Erwartung von Dankbarkeit und damit die Ambivalenz von Sorgebeziehungen, wie sie vor allem in der Disability-Literatur zu Care und der ethnologischen Literatur zur Gabe thematisiert wird, spiegelt sich auch deutlich in anderen Erzählungen über die Auflösung deutsch-deutscher Bindungen wider. Die Konflikte über Erbschaften werden dann übersetzt in die neuen Differenzdiskurse, wie sich dies etwa in dem Ausspruch der Mutter von Herrn Grabbin über ihre Schwester zeigt: »Sie war ja Wessi, so nach dem Motto: Ich weiß ja mehr als ihr.« (TB 1.3.2006) Ähnlich wie in den neuen politischen Konflikten zwischen Verwandten zeigen sich in diesen Schilderungen Konstruktionen der Differenz.

II.1.3 S CHLUSSBEMERKUNG : C ARE IN R EPRODUKTION UND AUFLÖSUNG VON B INDUNG In ihrem Buch »The Heath of the Hearth« zeigt Janet Carsten (1997), die Bedeutung von Care-Praktiken für die Konstituierung von Verwandtschaft in Malaysia auf. In einer konzentrischen Ausweitung vom Haushalt über das compound und das Dorf bis hin zur Nation tragen diese Praktiken schließlich zur Gemeinschaftsbildung bei. Dies zeigt nach Carsten die politische Bedeutung der Herstellung von Verwandtschaft durch Care. Die deutsche Konstruktion der Nation als ethnischer Gemeinschaft ist ähnlich, denn die nationale Gemeinschaft versteht sich letztlich als erweiterte Familie. Diese Vorstellung zeigt sich in der Zeit der Existenz zweier deutscher Staaten deutlich, und durch sie kommt verwandtschaftlichen Care-Bindungen eine zentrale Rolle in der Aushandlung von Gleichheit und Differenz zu. Während der Zeit der Existenz zweier deutscher Staaten diente die verwandtschaftliche Sorge in erweiterten Familien der bundesdeutschen Politik als Beleg einer gesamtdeutschen Identität. Diese ethnische Vorstellung der deutschen Nation kam auch in den privaten Briefwechseln zwischen Bürgern der BRD und der DDR zum Ausdruck. Da Care zentral war für die Konstruktion und Reproduktion bedeutsamer Verwandtschaftsbindungen über die frühere deutsch-deutsche Grenze, blieben Sorgepraktiken auch wesentlich für die neuen Differenzkonstruktionen. Statt Gleichheit symbolisiert Care nun Differenz und trägt so zur Uminterpretation und Auflösung dieser Bindungen bei.

132 | C ARE/S ORGE In der Einleitung zu dieser Arbeit wurde darauf hingewiesen, dass Verwandtschaft häufig als traditionelle Form der Vergemeinschaftung und damit als Kerngebiet der Ethnologie gilt. Damit einher geht eine Interpretation, nach der in Europa eine in die Vergangenheit imaginierte Großfamilie infolge der Modernisierung durch die Kleinfamilie ersetzt wird (Mitterauer 1992: 149-150). Dieses geradlinige Entwicklungsschema und die Dichotomie zwischen modern und traditionell werden schon lange als zu schlicht kritisiert. Zum einen haben sozialhistorische Studien die Existenz einer Großfamilie vor der sogenannten Modernisierung immer wieder in Frage gestellt (Laslett 1965; Hareven 1991; Finch 1989; Ostner 1994; Rosenbaum/Timm 2008). Zum anderen wurde gezeigt, dass auch in westlichen Gesellschaften durch ethnische und soziale Minderheiten stets mehrere Familientypen koexistieren (König 1970; Stack 2003). Das Phänomen der deutsch-deutschen Verwandtschaftspraxis steht allerdings auch zu diesen Befunden quer. Entgegen der Vorstellung, dass Care in Europa nur innerhalb der Kernfamilie besteht, verbanden die Sorgepraktiken über die deutschdeutsche Grenze weiter entfernte Verwandte. Diese Care-Praktiken waren zudem weder durch ethnische noch soziale Unterschiede begründet, vielmehr praktizierten die Akteure zwei parallele Verwandtschaftskonstruktionen. Einerseits konzentrierten sich Care-Praktiken innerhalb beider Länder auf kernfamiliäre Bindungen, während es andererseits über die Grenze hinweg zu parallelen Sorgepraktiken innerhalb der erweiterten Familie kam. Im Gegensatz zu Praktiken populärer Genealogien, wie etwa Timm (2010) sie beschreibt, war der Einschluss in die verwandtschaftliche Sorge in erweiterten Familien nur zum Teil eine Bewegung ›von unten‹, sondern wesentlich beeinflusst durch politische Interpretationen und Aktionen ›von oben‹. Durch diese wurden nicht nur vermeintlich private Sorgepraktiken, sondern auch die Wahrnehmung gestaltet, welche Familienbindungen im Sinn der an sie geknüpften Sorgeerwartungen bedeutsam sind. Während die Regierung der BRD versuchte, diesen Prozess zu fördern, wollte die Regierung der DDR ihn einschränken oder zumindest kontrollieren. Die grenzüberschreitende Sorge war somit in die gegenseitigen Spiegelungsprozesse der ambivalenten Konstruktion von Gleichheit und Andersheit der beiden deutschen Staaten eingebunden. Zusätzlich hatte die verwandtschaftliche Sorge über die Grenze hinweg sowohl auf individueller als auch auf staatlicher Ebene ökonomische Auswirkungen. Während die empfangenen Gaben auf individueller Ebene als Teil sozialer Sicherung angesehen werden können, wurden sie zunehmend auch volkswirtschaftlich relevant. Die verwandtschaftliche Sorge bestätigte zudem auch die ökonomischen Unterschiede zwischen den beiden deutschen Staaten, die gleichzeitig das Ihrige

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zum ambivalenten Charakter der Beziehungen beitrugen. Care als Gabe und damit die Pflicht zur Dankbarkeit führten zu Gefühlen von Neid und Schuld in diesen Sorgebeziehungen. Die Verpflichtung zur Reziprozität verdeutlichte die wirtschaftlichen Unterschiede und die ständig wachsende Asymmetrie zwischen Verwandten auf beiden Seiten der Grenze. Obwohl ein ökonomisches Ungleichgewicht durchaus bestehen blieb, ließ mit der Vereinigung die politische Notwendigkeit der Gemeinschaftsbildung durch Care angesichts alter/neuer Differenzen nach und so wurde auch die Konstruktion von Verwandtschaft reduziert. In diesem Sinne können die verwandtschaftlichen Sorgepraktiken über die deutsch-deutsche Grenze auch als Ausdruck eines empfundenen Ausnahmezustands durch die erzwungene Trennung interpretiert werden, nach dessen Ende sie wieder ›ruhen‹, bis eine erneute Konstruktion des Ausnahmezustands einen Rückgriff auf verwandtschaftliche Sorge nötig oder politisch opportun macht. Im Zuge dieser Entwicklung wurde die Sorge der Verwandten aus der früheren BRD diskursiv abgewertet und gleichzeitig die eigene Sorgeleistung aufgewertet. In ihrer Neubewertung der früheren Sorge in Form der Westpakete weisen Verwandte aus der früheren DDR die ihnen als Empfänger von Care zugewiesene unterlegene Statusposition zurück. Durch die Betonung der Qualität der DDR-Produkte sowie der Erinnerung an ihre eigene Gastfreundschaft und Sorge gegenüber ihren Verwandten aus der BRD negierten sie eine mutmaßlich von diesen geforderte Dankbarkeit. Die Konstruktion der Gleichheit in diesen Sorgebeziehungen wurde aufgegeben und die erweiterten Familien lösten sich in einzelne Kernfamilien auf. Wie zusätzlich anhand des geschilderten Erbfalls deutlich wurde, haben viele der Care-Praktiken, die den früheren politischen Verhältnissen angepasst und in familiäre Strategien sozialer Sicherung eingebettet waren durch die deutsche Vereinigung ihre sinnvolle Einbettung verloren. Diese Entwicklungen machten eine häufig konfliktreiche Neuaushandlung gegenseitiger Sorgeverpflichtungen nötig, lassen sich aber gleichzeitig bereits als Hinweise auf die Bedeutung der Aufrechterhaltung biographischer Kontinuität durch Care deuten, wie sie vor allem in Teil III beschrieben wird. In der Literatur sind die Care-Praktiken zwischen Verwandten über die ehemalige deutsch-deutsche Grenze bisher kaum – und wenn, dann überwiegend deskriptiv – aufgegriffen worden. Die über den lokalen Bedeutungswandel hinausweisenden Implikationen dieser Prozesse für die Theoriebildung sind dagegen noch weitgehend unbeachtet geblieben. Das Beispiel von Care in erweiterten Familien über die deutsch-deutsche Grenze hat unter anderem gezeigt, wie empfänglich Verwandtschaft als Form sozialer Organisation für politische Ambitionen und Einflüsse ist. Care entsteht nicht ›natürlich‹ in diesen Beziehungen, sondern Bedürfnisse müssen sozial konstruiert und durchgesetzt werden. Wird

134 | C ARE/S ORGE diese Verantwortung von den Akteuren anerkannt und in eine Sorgepraxis übersetzt – wie im Fall von Care bundesdeutscher Bürger für ihre Verwandten in der DDR –, können Bindungen reproduziert und manchmal auch neu konstruiert werden. Als inadäquat empfundene Sorge oder Reziprozitätserwartungen aufgrund von Bedürfniskonstruktionen, die als übertrieben wahrgenommenen werden, können aber auch zur Auflösung von Bindungen führen. Die Abwertung verwandtschaftlicher Bindungen über die ehemalige deutschdeutsche Grenze und der in sie eingebetteten Sorge war innerhalb der bereits bekannten diskursiven Ost-West-Abgrenzungen möglich. Das nächste Kapitel fokussiert zwar ebenfalls auf eine weitere, zumindest in sogenannten westlichen Ländern bisher wenig beachtete, verwandtschaftliche Sorgebeziehung, doch kann für deren Begründung lokal nicht auf bereits bekannte biographische Erzählmuster zurückgegriffen werden. Während sich auch bei diesem Beispiel die komplexe Einbettung von Care in verschiedene politische und wirtschaftliche Prozesse sowie Erfahrungen der Vergangenheit zeigt, entwickeln die Akteure ihre konkreten Sorgepraktiken nicht wegen, sondern trotz neuer staatlicher Politik.

II.2 Sorgende Großeltern

Das Ehepaar Korn sorgt intensiv für die einjährige Enkelin, die Tochter ihrer Tochter. Diese wohnt mit ihrem Mann in einem Nachbarplattenbau und ist als ausgebildete Bürokauffrau bei einer Zeitarbeitsfirma beschäftigt. Zur Zeit der Forschung arbeitet sie bei einem Catering-Service in Schichten, die um 17, 19 oder spätestens 22 Uhr enden. Aufgrund dieser Arbeitszeiten ist es ihr nicht möglich, ihre Tochter bis 16 Uhr bei der Tagesmutter abzuholen. Auch für ihren Mann ist dies unmöglich, da er als Anstreicher auf Wochenbasis zur Arbeit pendelt. Stattdessen holt der Großvater das Mädchen ab und kümmert sich bis zum Abend um sie. Er selbst ist zu dieser Zeit in einer staatlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahme tätig. Frau Korn, die Großmutter, ist erwerbstätig und kommt gewöhnlich nach ihrem Feierabend nach Hause, wo sie das gemeinsame Abendessen zubereitet. Wenn ihre Tochter die Spätschicht hat, bleibt die Enkelin auch über Nacht. Ihre Mutter kommt dann am Morgen zum Frühstück in die Wohnung der Eltern und bringt das Mädchen wieder zur Tagesmutter.

Dieses Arrangement großelterlicher Sorge lernte ich im Frühjahr 2003 während der einmonatigen teilnehmenden Beobachtung in der Finanzabteilung des BETRIEBs und bei den über diesen Zeitabschnitt hinausgehenden gemeinsamen Fahrten mit Frau Berg und ihren Kolleginnen von und zur Arbeitsstätte kennen. Kleinere Änderungen in dem beschriebenen Arrangement ergaben sich etwa, als die Mutter im Oktober 2003 zu einem Call-Center wechselte und dann regelmäßig schon gegen 18 Uhr nach Hause kam. Die Großeltern übernahmen die Enkelin aber weiterhin bis dahin sowie an den nicht arbeitsfreien Samstagen der Mutter. Diese Aufteilung der Sorge blieb bis zum Ende der Forschung 2005 bestehen. Großeltern und ihr Beitrag zu Care innerhalb verwandtschaftlicher Beziehungen sind in der ethnologischen und soziologischen Forschung in Europa

136 | C ARE/S ORGE durch die Konzentration auf die Kernfamilie lange kaum berücksichtigt worden.1 Daher soll an dieser Stelle zunächst kurz in die soziale Konstruktion von Großelternschaft sowie ihre demographische und politische Einbettung eingeführt werden, bevor weitere Beispiele großelterlicher Sorge in SEESTADT vorgestellt und analysiert werden.2

II.2.1 C ARE

DURCH

G ROSSELTERN

Großelterlicher Sorge in Europa ist – entgegen der Imagination einer historischen Großfamilie in der sich Generationen liebevoll umeinander sorgten –- erst durch rezente demographische, politische und diskursive Prozesse bedeutender geworden. Im Kontrast zu vielen populären aber auch wissenschaftlichen Diskursen waren intergenerationelle Beziehungen über drei Generationen in der Vergangenheit eher selten und nur von kurzer Dauer (Lauterbach 1995). Der Prozess des gesellschaftlichen Alterns bringt nun eine zweifache Neuerung mit sich: Mehr Enkel können erwarten, auch als Erwachsene noch lebende Großeltern zu haben und umgekehrt sehen die meisten Großeltern ihre Enkel erwachsen werden (Höpflinger 1999; Lauterbach 1995). Gleichzeitig haben Großeltern durch den simultanen Geburtenrückgang eine geringere Zahl von Enkeln, die um ihre Aufmerksamkeit und Sorge konkurrieren (Hoff/TeschRömer 2007: 71).3 Diese Entwicklung wird auch als Vertikalisierung von Ver-

1

So waren etwa 1998 in einer Umfrage zum Altern in Europa weder Großeltern noch Großmütter im Index vorhanden (Hagestad 2000, siehe auch Attias-Donfut/Segalen 2007:1). Im Verlauf des letzten Jahrzehnts begann sich dies zwar zu verändern, allerdings liegen immer noch vergleichsweise wenige sozialwissenschaftliche Studien vor (siehe beispielsweise Hagestad 2007; Höpflinger 1999; Keck/Saraceno 2008; Uhlenberg/Kirby 1998). Segalen (2010: 255-259) gibt einen Überblick über die Daten aus den Einzelstudien innerhalb des vergleichenden Projektes zu sozialer Sicherung und Verwandtschaft (KASS); zum Vergleich großmütterlicher Sorge in Zagreb und Berlin siehe Thelen/Leutloff-Grandits (2010); zur Beziehung Großeltern – Enkelkinder in Afrika siehe die Beiträge in Geissler/Alber/Whyte (2004).

2

Die Beispiele der Familien Korn, Berg und Wolf wurden bereits in Thelen 2005a beschrieben; für die vorliegende Studie wurden Darstellung und Interpretation ausgeweitet.

3

Zur wachsenden Bedeutung intergenerationeller Bindungen siehe auch Uhlenberg/ Kirby 1998; Bengtson 2001; für Deutschland Szydlik 2000.

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wandtschaftsnetzwerken beschrieben: Menschen wachsen auf und werden älter mit mehr vertikalen als horizontalen Familienbeziehungen. Demographische Veränderungen dieser Art stehen notwendigerweise auch in Wechselwirkung mit Care-Normen und -Praktiken. So stellen Großeltern heute beinah ein Fünftel der europäischen Bevölkerung und diese investieren mehr Zeit in Care für ihre Enkelkinder als zuvor in die elterliche Sorge (Segalen 2010: 256). Aber um so viel Zeit aufwenden zu können, bedurfte es auch staatlicher Organisation sozialer Sicherung, die alte Menschen weitgehend von den Aufgaben der Einkommensgenerierung befreite. Die Einführung von Renten ab dem 19. Jahrhundert sowie ihre Ausdehnung im Laufe des 20. Jahrhunderts schufen Kohorten von Senioren, die aufgrund ihres weitgehend befriedigenden eigenen Einkommens im Alter über die Zeit verfügen, für ihre Enkelkinder zu sorgen (Segalen 2003: 352; siehe auch Leira/ Tobio/Trifileti 2003 sowie Hagestad 2007). Parallel entwickelte sich ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Teil des neuen bürgerlichen Familienbildes auch eine veränderte Vorstellung von Inhalt und Bedeutung der Großelternschaft (Chojka 2003; Attias-Donfut/Segalen 2007). Keck und Saraceno sprechen in diesem Zusammenhang von der »invention of grandparenthood« (2008: 133). Insbesondere das Bild der Großmutter erfährt einen Bedeutungswandel hin zu einem liebevoll sorgenden Familienmitglied mit Zeit zum Zuhören, Spielen und (auch in diesem Zusammenhang wieder signifikant) Bekochen der Enkelkinder. Eine ähnlich ausgeprägte Vorstellung von Großvaterschaft hat sich dagegen nicht herausgebildet, so dass großväterliche Sorge ein (noch) weniger erforschtes Gebiet möglicherweise bedeutsamer Bindungen ist. Im Verlauf der Forschung stieß ich dennoch in verschiedenen informellen Gesprächssituationen auf den erheblichen Beitrag von Großvätern zur Sorge für die Enkelkinder. Dieser kann sich in sehr unterschiedliche Praktiken ausdrücken. Der im letzten Kapitel bereits zu seinen Ansichten bezüglich der Verwandten aus dem westlichen Ausland zitierte Herr Weber hat etwa eine seiner Enkeltöchter in den eigenen Haushalt aufgenommen. Häufiger sind weniger umfassende Sorgepraktiken in Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit der Mütter und Freizeitaktivitäten der Kinder. So erzählte beispielsweise ein ehemaliger Abteilungsleiter, dass er jeden Dienstag gemeinsam mit seiner Frau für die beiden Enkel sorge. Den einen Enkelsohn holen sie vom Kindergarten und dann den zweiten von der Schule ab und bringen diesen gemeinsam mit einem Freund zum Schlittschuhlaufen. Danach betreuen sie den kleineren der beiden Brüder weiter bis zum späten Feierabend der Mutter. (TB 8.6.2005) In ähnlicher Weise holte auch Herr Funke seine Enkelkinder nach seinem Renteneintritt regelmäßig vom Kinder-

138 | C ARE/S ORGE garten ab und brachte sie einmal die Woche zum Reiten, wenn seine Schwiegertochter länger arbeitete (TB 8.6.2005).4 Auch diese Großväter leisteten einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Sorge für ihre Enkelkinder, allerdings in anderer Form als die oben geschilderte intensive Sorge um ein Kleinkind, wie sie der Großvater in der Familie Korn leistete. Im Verlauf der Feldforschung lernte ich jedoch noch zwei weitere Familien kennen, in denen der Großvater ähnlich intensiv in Care involviert war. Nach der stationären Feldforschungsphase konnte ich in der folgenden flexiblen Phase mehrmals für längere narrativ-biographische und informelle Interviews zu diesen Personen zurückkehren und so die Entwicklung ihrer familiären Care Konstellationen weiter verfolgen. Eine der beiden ist die Familie der ehemaligen Lebensgefährtin von Herrn Grabbin, dessen Familie und ihr Sorge-Arrangement für die Großmutter im letzten Kapitel behandelt wurde (siehe auch seine Vorstellung Kapitel I.3.1.3). Seit der Trennung ist seine ehemalige Partnerin alleinerziehend und bewältigt die Sorge für den Sohn vorwiegend gemeinsam mit ihren Eltern. Ihre Mutter Frau Berg ist eine Kollegin und Büronachbarin der oben vorgestellten Frau Korn und in den Gesprächen, die ich während und nach meiner Zeit in ihrer Abteilung mit ihr führte, lernte ich auch ihr Sorge-Arrangement kennen. Ähnlich wie in der Familie Korn, ist Frau Berg, die Großmutter, noch erwerbstätig, während sich ihr Ehemann in der sogenannten passiven Altersteilzeit5 befindet. Ihr Enkel wird 2001 geboren und besucht früh eine Krippe. Da die Mutter des Kindes an einer Tankstelle in Schichten arbeitet, braucht das Kind aber darüber hinaus weitere Betreuung durch andere Personen. Auch Herr Grabbin übernimmt als Vater Teile der Sorge für seinen Sohn, aber eher selten, zumal er ebenfalls im Schichtsystem arbeitet.6 Daher ist es hauptsächlich der Großvater, der während der Arbeitszeiten der Mutter für seinen Enkel

4

Beide Männer lernte ich noch in ihrem aktiven Erwerbsleben im BETRIEB kennen und traf sie später in der Seniorenbetreuung bzw. Herrn Funke auch im ELISENCAFE, wo sich seine Frau engagierte, wieder (siehe auch die Kapitel III.2 und III.3).

5

Altersteilzeit ist eine Form der Teilzeitbeschäftigung auf Grundlage des Altersteilzeitgesetzes für Beschäftigte nach Vollendung des 55. Lebensjahres. Sie kann in kontinuierlicher Form oder, wie im geschilderten Beispiel, als Blockmodell gewährt werden. Bei letzterer Verfahrensweise arbeiten die Arbeitnehmer während der ersten Phase ungekürzt, erhalten aber nur ein reduziertes Entgelt, welches dann auch in der zweiten Phase bezogen wird, während der nicht mehr gearbeitet wird.

6

Eine Stelle, die er seiner ehemaligen ›Schwiegermutter‹ Frau Berg verdankt (siehe auch die Kurzvorstellung seiner Person in Kapitel I.3.1.3).

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sorgt. Seine Frau bezeichnet diese Sorge als »erste Bürgerpflicht«, für die ihr Mann auch sein Hobby, den Kleingarten, vernachlässigt. Die Frühschicht der Mutter beginnt entweder um vier Uhr morgens und dauert bis 12:30 Uhr, oder sie beginnt um sechs Uhr, um dann um 14:30 Uhr zu enden. Bei Arbeitsbeginn um vier Uhr morgens kommt der Großvater schon am Abend vorher und übernachtet beim Enkel. Am nächsten Morgen bringt er dann den Jungen in die Krippe. Wenn die Schicht der Mutter morgens um sechs Uhr anfängt, verlässt er seine Wohnung um fünf Uhr, um pünktlich bei ihr zu sein. Hat sie die Spätschicht von 14:30 bis 22 Uhr, holt der Großvater den Enkel gegen 15:30 Uhr aus der Krippe. Er geht mit ihm in die eigene Wohnung, wo später die Großmutter das Abendessen zubereitet und den Jungen ins Bett bringt. Nach ihrer Schicht kehrt die Mutter in ihre eigene Wohnung zurück, kommt aber morgens zu ihren Eltern und bringt ihren Sohn wieder in die Krippe. Arbeitet sie in der Nachtschicht von 22 Uhr abends bis neun Uhr morgens, bleibt der Großvater ebenfalls über Nacht beim Enkel in ihrer Wohnung und bringt morgens den Jungen in die Krippe. Die Mutter hat nur ein arbeitsfreies Wochenende pro Monat; daher verbringt das Kind auch die meisten Wochenenden bei den Großeltern. Ebenso müssen die Ferien gemeinsam koordiniert werden, denn wenn die Großeltern abwesend sind, hat die Mutter keine alternative Kinderbetreuung.

Ähnlich wie die Töchter der Ehepaare Berg und Korn, kann auch Herr Wolf seine Erwerbstätigkeit im Schichtdienst nur durch den umfangreichen Beitrag großelterlicher Sorge aufrechterhalten. Nachdem ich die Finanzabteilung verlassen hatte, verbrachte ich einen Monat in der Abteilung Allgemeine Dienste, wo ich – ähnlich wie Herrn Grabbin – auch Herrn Wolf eine seiner Schichten begleitete (siehe auch Vorstellung in Abschnitt I.3.1.3). Außerdem führte ich ein Fragebogeninterview mit ihm, in dessen Verlauf er auch über seine familiäre Sorge berichtete (I Nr. 17, 22.9.2003). Zu einem späteren Zeitpunkt führte ich daher noch ein biographisches Interview mit ihm und ein weiteres mit seinen Eltern und suchte sie auch in der flexiblen Phase der Forschung erneut auf. Herr Wolf ist zum Zeitpunkt der Forschung seit fast zwei Jahren alleinerziehender Vater. Seine Eltern sind beide Frührentner und intensiv an der Sorge um ihr Enkelkind beteiligt. Im Forschungszeitraum sieht die Mutter des Kindes ihren jetzt dreijährigen Sohn nur unregelmäßig etwa einmal im Monat für einige Stunden. Auch vor der Trennung des Paares haben sich die Großeltern bereits an der Sorge für den Enkel beteiligt, doch seitdem tun sie dies wegen der Schichtarbeit von Herrn Wolf jun. beinahe täglich.

140 | C ARE/S ORGE Herr Wolf jun. arbeitet als Dispatcher im BETRIEB und zwar entweder von sechs Uhr morgens bis 14 Uhr, von 14 bis 21:30 Uhr oder während der Nachtschicht von 21:30 Uhr bis sechs bzw. sieben Uhr am Morgen. Zusätzlich arbeitet er an zwei Wochenenden im Monat. Dann dauern die Schichten zwölf Stunden von sieben bis 19 Uhr oder von 19 bis sieben Uhr. Bis zum Alter von drei Jahren wurde der Junge ausschließlich durch seinen Vater und die Großeltern betreut. Seit Sommer 2003 besucht er halbtags von 8:30 bis 11:30 Uhr einen Kindergarten. Ab Sommer 2004 bleibt er gewöhnlich bis 15 Uhr dort. Die Großeltern bringen und holen den Enkelsohn immer, wenn der Vater arbeiten muss, und betreuen ihn in dessen Wohnung. Wegen des labilen Gesundheitszustands seiner Frau übernimmt diese Sorge meistens der Großvater. Am Nachmittag geht er mit dem Enkelsohn dann auf den Spielplatz, macht Fahrradtouren mit ihm oder fährt an den nahe gelegenen Strand. Die Großmutter übernimmt das Kochen, auch für den Vater des Enkelkindes, in dessen Wohnung. Wenn sie krank ist, bereitet allerdings der Großvater dem Jungen das Essen zu und bringt ihn zu Bett. Im Fall der Nachtschichten schläft er – manchmal gemeinsam mit seiner Frau – in der Wohnung des Sohnes. Die Ferien werden gemeinsam geplant und oft auch gemeinsam verbracht.

Wie so viele Formen intergenerationeller Unterstützung scheinen die beschriebenen Sorgepraktiken auf den ersten Blick nicht ungewöhnlich zu sein. Eltern helfen ihren erwachsenen Kindern oft bei der Sorge für die Enkel und ermöglichen dadurch die Erwerbstätigkeit der jüngeren Generation (Finch 1989). So sind auch meine Gesprächspartner erstaunt über mein Interesse an ihren CarePraktiken. Im Gegensatz zur auffällig politisch geförderten Sorge für Verwandte über die deutsch-deutsche Grenze, wie sie im vorangegangenen Kapitel beschrieben wurde, mag diese Art von Care geradezu ›natürlich‹ erscheinen. Doch ist verwandtschaftliche Sorge, selbst diejenige zwischen Eltern und Kindern, wie Janet Finch es in Bezug auf Großbritannien ausdrückt »by no means the most natural thing in the world. There are no unambiguous rules about how this should be done, and there is considerable room for manoeuvre on both sides.« (1989: 55)

Daher lassen sich auch die hier vorgestellten extensiven Sorgepraktiken von Großeltern nur durch ihre komplexe Einbettung in historische Entwicklungen und in die individuellen Erfahrungen institutioneller und familiärer Sorge sowie den daraus erwachsenden Erwartungen an die Zukunft verstehen. Bereits bei vordergründiger Betrachtung fallen mehrere Aspekte der beschriebenen Care-Praktiken auf. Da ist zunächst der immense Zeit- und Organisationsaufwand der großelterlichen Sorge. Zudem überrascht der ausgeprägt

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hohe Anteil speziell der Großväter. Zumal deren Anteil in der Literatur zum Thema der Sorge für Enkelkinder (falls er überhaupt erwähnt wird) eher als marginal beschrieben wird (Finch 1989; Höpflinger 1999). Die hier beschriebenen Sorge-Arrangements erfordern aber einen beträchtlichen Anteil der täglichen Zeit der Großväter sowie eine große Mobilität und einen hohen Aufwand an Koordination zwischen den Generationen. Schließlich sticht die Begründung der Care-Praktiken heraus. So antwortet etwa Frau Berg auf die Frage nach den Gründen ihrer Sorge für das Enkelkind trotz aller Unbequemlichkeiten, die diese mit sich bringt: »Wenn wir es nicht tun, tut es auch niemand sonst, und das wäre das Ende der Arbeit und nur noch Sozialhilfe, um es mal ganz deutlich zu sagen.« (TB 17.2.2004) Zwei Aspekte ihrer Aussage weisen auf das moralische Bekenntnis zur Erwerbsarbeit hin – zum einen die beinah apokalyptische Formulierung über »das Ende der Arbeit« und zum anderen die Erwähnung von Sozialhilfe als einziger Alternative, die offenbar keine akzeptable Lösung darstellt. Anhand eines Beispiels aus Leipzig analysieren Chamberlayne und King (2000: 80) ebenfalls Scham, »zum ständigen Sozialfall« werden zu können als Motiv für einen ähnlich intensiven großelterlichen Beitrags zur Sorge für einen Enkel mit Down-Syndrom. Auch ihnen geht es vornehmlich um die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigkeit von dessen Mutter. Ein Rückzug auf Care im häuslichen Rahmen mit Hilfe staatlicher Ressourcen stellt offenbar kein Alternativmodell für die Akteure dieser Generationen dar. In den Gesprächen begründeten die Großeltern ihre Sorge stets mit der Berufstätigkeit ihrer Kinder, auch derjenigen ihrer Töchter. Allerdings wäre dies aufgrund des Rechts auf einen dreijährigen Erziehungsurlaub nicht oder zumindest erst zu einem späteren Zeitpunkt notwendig. Daher stellt sich an dieser Stelle die Frage, auf welche sozial anerkannten Bedürfnisse sich diese CarePraktiken richten und wie es zu diesem Widerspruch bzw. der Nicht-Nutzung der im Rahmen staatlicher sozialer Sicherung zur Verfügung gestellten Möglichkeiten familiärer Sorge kommt. Aufgrund der in der konzeptionellen Grundlegung dargelegten temporalen Verortung von Sorge zwischen den Erfahrungen der Vergangenheit und den Erwartungen an die Zukunft scheint es angebracht, zunächst diese Einbettungen der beschriebenen Praktiken näher zu beleuchten. Im Folgenden sollen daher die komplexe Einbettung von Care als Dimension sozialer Sicherung in ökonomische Umstände und demographische Entwicklungen sowie die Normen, die diese Praktiken beeinflussen, dargestellt werden, bevor einige Aspekte der Aushandlung dieser Sorge zwischen den beteiligten Familienmitgliedern thematisiert werden.

142 | C ARE/S ORGE

II.2.2 T EMPORALE E INBETTUNG GROSSELTERLICHER S ORGE Die temporale Einbettung der beschriebenen Sorgepraktiken soll hier zunächst anhand der Biographien der Großelterngeneration und im Licht der sich verändernden politischen und wirtschaftlichen Umstände beleuchtet werden. Die Erfahrungen der an den beschriebenen Sorgepraktiken beteiligten Akteure sind geprägt durch eine Kindheit in Kriegs- und Nachkriegszeiten sowie ein Erwachsenenleben in der DDR und in der Nachwendezeit im vereinten Deutschland. Es zeigt sich, dass die beschriebenen Care-Praktiken und die Aufteilung der Sorge nach Alter und Geschlecht zwar teilweise in der sozialistischen Vergangenheit wurzeln, aber ebenfalls durch die neuen Umstände beeinflusst werden.

II.2.2.1 Care-Erfahrungen der Großeltern Die großelterliche Generation in den oben aufgeführten Fällen wurde zwischen 1934 und 1948 geboren. Herr und Frau Wolf sind das älteste Paar und 1934 bzw. 1938 geboren. Ihre Kindheitserfahrungen sind durch die harten Zeiten während und nach dem Krieg beeinflusst, in denen viele der Frauen erstmals außerhalb des Hauses arbeiteten und vielen die alleinige Sorge für ihre Familien oblag. Dies war auch der Fall bei der Mutter von Frau Wolf, die für ihre Eltern, ihre eigenen Kinder und ihren Mann sorgte. Letzterer war aus dem Krieg blind zurückgekehrt und fand keine bezahlte Arbeit mehr. In dieser Familie waren die Großeltern zu alt, um einen nennenswerten Beitrag zur Sorge für die Enkelkinder zu leisten. Ähnlich gestaltete sich die Situation in den Familien der beiden etwas jüngeren Paare, die in den 1940er Jahren geboren wurden und in den 1950er und 1960er Jahren aufwuchsen. Auch sie verneinen eine substantielle Mitwirkung ihrer Großeltern in der familiären Sorge während ihrer eigenen Kindheit. Frau Berg etwa kommentiert: »Wir sind da nur ab und an zu Besuch gegangen.« (TB 27.9.2004) Im Fall von Frau Korn starb die Großmutter kurz nach der Geburt der Mutter in den 1920er Jahren und der Vater kümmerte sich nicht selbst um das Kind. Eine Tante übernahm die Rolle einer sorgenden Großmutter, aber der Großvater war schlicht abwesend. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass in den vorgestellten Familien keine selbst erfahrene großelterliche Sorge als Vorbild für eigenes Handeln dient. Ferner teilen alle drei Paare der Großelterngeneration die Erfahrung, dass die Alltagsbewältigung sich langsam einfacher gestaltete und Erwerbsarbeit grundsätzlich positiv bewertet wurde. Teil dieser Erfahrung war die hohe Wertschät-

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zung weiblicher Erwerbsarbeit und deren hoher Anteil an der Gesamterwerbsarbeit (siehe auch Kapitel I.3.2). Dies bedeutet, dass die Großeltern in den vorliegenden Fällen, mit der Idee aufgewachsen sind, dass Frauen auch als Mütter erwerbstätig sein sollten. Typischerweise haben dementsprechend die betreffenden Großmütter eine Berufsausbildung und waren die meiste Zeit ihres Erwachsenenlebens erwerbstätig. Die kurzen Pausen in ihrer Erwerbstätigkeit erfolgten in den 1960er und 1970er Jahren nach der Geburt ihrer Kinder. Vielleicht ist es daher kein Zufall, dass Frau Wolf die einzige Ausnahme darstellt. Als älteste der hier diskutierten Großmütter weist ihre Biographie der deutlich weniger Prägungen durch die DDR-Gesellschaft auf. So arbeitete sie aus unterschiedlichen Gründen nicht ihr ganzes Berufsleben in Vollzeit außer Haus und ihr Sohn (der alleinerziehende Vater) ist der Einzige, der im Alter von unter drei Jahren noch keine Einrichtung öffentlicher Sorge besucht hat. Anders als Frau Wolf sagt Frau Berg ausdrücklich, sie habe auch als Mutter erwerbstätig sein wollen. Als sie nach der Geburt ihres zweiten Kindes zunächst Schwierigkeiten hatte, einen Betreuungsplatz für ihre Tochter zu finden, entschied sie sich, ihre Position als Leiterin eines Geschäfts aufzugeben und in einer niedrigeren Position im BETRIEB, wo auch schon ihr Mann arbeitete, zu beginnen, weil sie dort einen Betreuungsplatz in einer unternehmenseigenen Einrichtung erhalten konnte. Sie kommentiert weiter, dass sie auch noch ein halbes Jahr hätte warten können, sie es aber vorzog, wieder arbeiten zu gehen. Aus ihrer Sicht zumindest war es also keine unbedingte Notwendigkeit, als Mutter erwerbstätig zu sein, sondern ihr eigener Wunsch. In ihrem Beispiel zeigt sich, dass das staatliche Ideal mütterlicher Sorge bei gleichzeitiger Erwerbstätigkeit zumindest von einigen in der Bevölkerung geteilt wurde. Ebenfalls typisch für die DDR-Gesellschaft ist der Zeitpunkt, an dem sich die Großelterngeneration für Kinder entscheidet. Dieser hat unter anderem einen Einfluss auf das Alter, in dem sie selbst Großeltern werden. So bekommt z.B. Frau Berg, die selbst 1945 geboren wurde, ihre beiden Töchter in den Jahren 1966 und 1967, also im Alter von 21 und 22 Jahren. Ihre ältere Tochter wiederum wird 1988 im Alter von 22 Jahren zum ersten Mal Mutter. Frau Berg wird somit mit 43 Jahren zum ersten Mal Großmutter. Ähnliche zeitliche Übergänge zeigen sich in den unterschiedlichen Müttergenerationen der Familie Kern. Als 1974 ihr Sohn geboren wird, ist Frau Kern 22 Jahre alt. Ihre Tochter kommt vier Jahre später zur Welt und wird wiederum im Alter von 24 Jahren Mutter. Frau Korn wird also mit 51 Jahre Großmutter. Diese Fertilitätsentscheidungen reprä-

144 | C ARE/S ORGE sentieren typische Muster, die dementsprechend auch die Erwartung dieser Generationen prägten zu einem relativ frühen Zeitpunkt Großmutter zu werden.7 Mit der Erwartung einer frühen Großmutterschaft war jedoch nicht das Bild größerer Sorgeverpflichtungen verbunden. Vergegenwärtigt man sich, dass die meisten Frauen und Männer bis zur Rente in der DDR in Vollzeit arbeiteten, waren die Eltern der heutigen Großeltern nicht in der Position, einen maßgeblichen Beitrag zur Sorge für ihre Enkel zu leisten. Die demographische Situation in Verbindung mit der hohen Beteiligung am Erwerbsleben und dem Angebot an institutioneller Sorge trugen dazu bei, dass Großeltern im Allgemeinen keine primären Carer für ihre Enkelkinder waren.8 In Übereinstimmung mit dieser generellen Tendenz spielte großelterliche Sorge in den hier behandelten Familien zu einem früheren Zeitpunkt des Familienzyklus keine wesentliche Rolle. Obwohl sie durchaus Unterstützung in anderer Form bekamen – typischerweise durch den in der DDR immer knappen Wohnraum – haben doch ihre Eltern nicht so viel Zeit mit den Kindern verbracht wie sie es heute mit ihren eigenen Enkelkindern tun. So lebte etwa das Ehepaar Berg nach der Eheschließung eine Weile bei den Eltern von Herrn Berg. Aber, wie Frau Berg erklärt, sie bekamen von ihnen keine Hilfe bei der Sorge für ihre Kinder und sie fragten auch nicht danach: »Wir hätten sie auch nicht gefragt. Es war eine andere Zeit, jeder hat sich selbst geholfen.« (TB 27.9.2004) Interessant an ihrer Aussage ist, dass die von staatlicher Seite zur Verfügung gestellten institutionellen Formen von Care durch Krippen, Kindergärten und Horte nicht als Hilfe gesehen werden. Vielmehr lautet ihre Selbsteinschätzung, dass sie damals als junge Eltern die Sorge für die Kinder allein bewältigt haben. Demgegenüber bedeuten ihre gegenwärtigen Sorgepraktiken als Großeltern eine deutlich engere gegenseitige Abhängigkeit zwischen den Generationen. In der Familie Korn waren die Eltern von Herrn Korn bereits gestorben, bevor die Enkel geboren wurden. Die Eltern seiner Frau lebten wiederum in einem weit entfernten Dorf und arbeiteten beide in der örtlichen LPG. Sie konnten daher kaum eine Hilfe zur alltäglichen Sorge für Kinder bieten. Auch dies war eine durchaus typische Situation für junge Paare in den neuen Industriezentren 7

Siehe zu den konkreten demographischen Angaben insbesondere des durchschnittlichen Alters bei Erstgeburt auch Abschnitt III.1.2 sowie das dort angeführte Zitat der ehrenamtlichen Mitarbeiterin von ELAN e.V., die mit 53 Jahren enttäuscht ist, noch kein Enkelkind zu haben.

8

Dies ist in ländlichen Gebieten möglicherweise anders gewesen, wie Studien aus anderen sozialistischen Ländern zeigen (Pine 2001: 58-59; Rotkirch 2000; Brunnbauer 2007), doch mag der geringe Einfluss der Großeltern auch ein DDR-Spezifikum gewesen sein (siehe etwa Borneman 1992: 142-143).

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der DDR. Mit einigen Ausnahmen war der Osten Deutschlands und speziell der Nordosten nicht so industrialisiert wie der Westen Deutschlands. Die neuen Industriekombinate, die durch die sozialistische Regierung aufgebaut wurden, stellten eine Menge junger Leute aus den ländlichen Regionen ein. Deren Eltern lebten weiterhin auf dem Land und sorgten dort zwar oft während der Sommerferien oder in akuten Krisenzeiten für ihre Enkelkinder, jedoch nicht während der normalen Arbeitszeiten. Als beispielsweise Frau Korn nach der Geburt ihres zweiten Kindes im Krankenhaus war, kam ihre Mutter, um sich um das Baby zu kümmern, kehrte aber danach rasch ins Heimatdorf zurück.9 Mehr als durch intergenerationelle Sorge sind die Erfahrungen der Groß-elterngeneration durch Care in staatlichen Institutionen geformt. Infolgedessen teilt die Elterngeneration die Erfahrung in diesen Einrichtungen und beide Generationen bewerten diese Form der Sorge überwiegend positiv.10 Obwohl die Arbeitsteilung innerhalb der privaten Haushalte in der DDR, wie in Kapitel I.3.2 dargelegt, durchaus genderstrukturiert blieb, führte die beschriebene Unabhängigkeit der jüngeren Eltern von ihren eigenen Eltern manchmal auch zu Verschiebungen in der geschlechtlichen Arbeitsteilung häuslicher Sorge. Obwohl meist die jungen Frauen nach der Geburt des ersten Kindes aufhörten, in Schichten zu arbeiten, traf dies durchaus nicht auf alle zu. Meistens entschlossen sich die Eltern dann dazu, möglichst in unterschiedlichen Schichten zu arbeiten, so dass immer einer von beiden (Mutter oder Vater) zu Hause bei dem Kind sein konnte. Väter übernahmen in diesen Fällen zumindest Teile der sonst häufig mütterlichen Sorge für kleine Kinder. Care für Kinder in Form des Bringens zu 9

Obwohl in allen drei Fällen die Kinder in stabile Ehen hineingeboren wurden, war die Situation von alleinerziehenden Eltern gewöhnlich ebenfalls nicht maßgeblich durch großelterliche Sorge geprägt. Alleinerziehende Eltern, insbesondere Mütter, wurden vom sozialistischen Staat weniger in finanziell als vielmehr durch eine bevorzugte Vergabe von Plätzen in Institutionen öffentlicher Sorge unterstützt. Oft lebten unverheiratete Mütter zudem in Wohnheimen, in denen sie sich eine Wohnung mit einer anderen alleinerziehenden Mutter teilten. Diese Wohnsituationen wurden zwar häufig als unbefriedigend erlebt, doch berichten Gesprächspartnerinnen auch über die im Kreis dieser Mütter erfolgende gegenseitige Hilfe. Dies bedeutet, dass im Hinblick auf die Sorge für Kinder auch bei alleinerziehenden Müttern, zumindest in den neuen industriellen Zentren der DDR, Altersgruppensolidarität wichtiger war als inter-generationelle Unterstützung in der Familie. Tatsächlich haben manche Frauen das Fehlen solcher Angebote und Netzwerke in Gesprächen während der Feldforschung dafür verantwortlich gemacht, dass ihre eigenen Kinder sich noch nicht für Kinder entschieden haben.

10 Siehe zu diesen Auffassungen auch Kapitel I.3.2.

146 | C ARE/S ORGE und des Abholens von Institutionen öffentlicher Sorge ist für die Männer in den neuen Bundesländern daher keine völlig neue Praxis. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Entwicklungen in der DDR keine direkte Inspiration für die beschriebene großelterliche Sorge in der Forschungsperiode sind. Keiner der Großeltern erlebte selbst als Kind großelterlicher Sorge in der Form, in der sie sie heute selbst leisten. Auch als junge Eltern lebten ihre eigenen Eltern zu weit entfernt und waren noch in die eigene Erwerbstätigkeit eingebunden. Die Care-Erfahrungen der Vergangenheit bieten also kein direktes Vorbild: Gleichwohl sind die heutigen Sorgepraktiken indirekt durch die Normen und Werte aus der DDR beeinflusst. Für die Generation der Großeltern in den Beispielen ist es selbstverständlich, dass Eltern auch als Alleinerziehende erwerbstätig sind. Dies ist ein entscheidender Antrieb für ihr Engagement in der Sorge um ihre Enkel. Zusätzlich schätzen sie die Erfahrungen mit der öffentlichen Sorge im Sozialismus überwiegend positiv ein, so dass die Großeltern sich heute um ihre Enkel kümmern, nicht um deren Besuch einer solchen Institution zu vermeiden, sondern um ihn zu ergänzen. Zu diesen Erfahrungen mit elterlichen und öffentlichen Sorgepraktiken sowie einer Anerkennung des Bedürfnisses nach bezahlter Arbeit alleinerziehender Eltern kommen weitere, rezentere Entwicklungen, die wie der nächste Abschnitt darstellt, die gegenwärtigen Care-Praktiken beeinflussen. II.2.2.2 Nach-Wende-Erfahrungen und großelterliche Sorge Die deutsche Vereinigung hat für die hier beschriebenen Familien neue Risiken, aber auch neue Formen staatlicher sozialer Sicherung gebracht. Wie im vorangegangenen Teil bereits erwähnt, sah sich die arbeitszentrierte Gesellschaft der früheren DDR, wo die überwältigende Mehrheit der Bürger, Männer wie Frauen, erwerbstätig war, sozusagen über Nacht mit Arbeitslosigkeit konfrontiert. Dennoch traf die Arbeitslosigkeit auf längere Sicht Regionen, Alters- und Berufsgruppen sowie Geschlechter auf unterschiedliche Art und Weise. Diese Muster sowie die politischen Maßnahmen, die angewendet wurden, um sie zu kanalisieren, haben die beschriebenen Sorgepraktiken der Großväter ermöglicht. Ein Merkmal postsozialistischer Transformation, das auch SEESTADT traf war der erhebliche Abbau (bis hin zur Desintegration der Schwerindustrie). In diesen Bereichen der Wirtschaft waren Männer eher als Frauen von Arbeitslosigkeit betroffen. Gleichzeitig entwickelten sich einige der als Frauendomänen geltenden Tätigkeitsfelder wie Verwaltung, Dienstleistungen und Versicherungen zu Wachstumsbranchen. Das brachte einen kurzzeitigen Vorteil in manchen Regio-

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nen sowie in manchen Unternehmensteilen des untersuchten BETRIEBs einen kurzzeitigen Vorteil für Frauen. Neben den unterschiedlichen Konsequenzen für die Geschlechter wirkte sich die Arbeitslosigkeit auch hinsichtlich der betroffenen Altersgruppen verschieden aus. Akzentuiert wurden diese Unterschiede durch neue Formen staatlicher sozialer Sicherung, die zusammen mit den ökonomischen Reformen eingeführt wurden. Die in der alten BRD entwickelten Maßnahmen zum Abbau überflüssiger Arbeitskräfte, umfassten auch die nun vielfach zum Tragen kommenden gesetzlichen Regelungen zur Frühverrentung von Arbeitnehmern im Alter zwischen 55 und 65 Jahren. In der Folge entstand eine nicht unbedeutende Gruppe älterer Menschen, die vorgehabt hatte, bis mindestens zum 65. Lebensjahre erwerbstätig zu bleiben, und die im Forschungszeitraum nun viel Zeit zur Verfügung hatte. Die vorgestellten Familien spiegeln diese Entwicklungen wider. So arbeiteten zwei der Großmütter (Frau Korn und Frau Berg) in der Verwaltung des BETRIEBs. Herr Korn dagegen verlor seine Stelle in der Fischindustrie im Oktober 1990. Seitdem hatte er nur noch Arbeitsstellen auf niedrigerer Hierarchiestufe verglichen mit DDR-Zeiten finden können und war dann in verschiedenen staatlich finanzierten Arbeitsprogrammen tätig, bis er 2004 in die Erwerbsunfähigkeitsrente ging. Zu diesem Zeitpunkt war er 58 Jahre alt. Im Gegensatz dazu arbeitete seine Frau weiterhin als Verwaltungsangestellte im BETRIEB. Bei der Familie Berg verhält es sich ähnlich. Während Frau Berg auf ihrem Verwaltungsposten verblieb, war ihr Mann im Alter von 63 Jahren in den Rentenstand getreten. So ist Herr Wolf sen. der einzige Großvater aus den hier behandelten Fällen, der schon vor der Vereinigung aufgrund von Krankheit Rente bezog. Während die Frühverrentung in vielen Fällen zunächst unerwünscht war, hat sie insgesamt doch einen relativ sicheren Weg in die neue Gesellschaft für die ältere Generation bedeutet. Im Gegensatz dazu ist die jüngere Generation doppelt getroffen, weil sie zusätzlich zur ›normalen‹ Arbeitslosigkeit auch unter den Folgen der Transformation in der westdeutschen Ökonomie leidet. Die in der alten Bundesrepublik schon während der 1980er Jahre begonnene Restrukturierung des Wohlfahrtsstaates in Richtung mehr Deregulierung und Flexibilität hat sich in den Jahren nach der Vereinigung verstärkt.11 Die Effekte dieser Entwicklung sind vor allem für die jüngere Generation spürbar, die sich in prekären Situationen wiederfindet, in denen sie trotz Ausbildung und Mobilität zu keiner stabilen Anstellung mehr kommt. So konnte etwa 11 Zur eingangs schon erwähnten sogenannten doppelten Transformation in Deutschland sowie ihren Implikationen für die Geschlechtersegregation auf dem Arbeitsmarkt siehe Nickel (2000).

148 | C ARE/S ORGE die Tochter des Ehepaars Korn nach Beendigung ihrer Ausbildung zur Bürokauffrau 1997 keine Anstellung in ihrem Beruf finden. Zum Forschungszeitpunkt arbeitet sie bereits seit einigen Jahren für eine Zeitarbeitsfirma. Im CallCenter verdient sie zu diesem Zeitpunkt mit 500 Euro für eine 40 Stunden Woche viel weniger als mit einem normalen Arbeitsvertrag, weil sie keine Provisionen für ihren Umsatz bekommt. Ähnlich ergeht es auch ihrem Ehemann, der trotz hoher Mobilität ständig in instabilen Verhältnissen arbeitet. Nachdem er monatelang wochenweise zur Arbeit pendelt, ist er im Winter 2003 arbeitslos. Im Frühling 2004 bekam er einen neuen Job in den Niederlanden und war wieder fast die ganze Woche unterwegs. Nach dem Ende dieser Tätigkeit, arbeitet er bei einer Firma aus den alten Bundesländern. Für diese ist er zunächst in SEESTADT, aber wenig später wieder in den alten Bundesländern tätig. In diesem Job erhält er bis zum Ende der Forschung keinen Lohn, so dass auch diese Beschäftigung für die Zukunft unsicher ist. Ähnlich verhält es sich mit der ehemaligen Partnerin von Herrn Grabbin, die eine ausgebildete technische Zeichnerin ist, aber im Oktober 1990 entlassen wurde und seitdem an der Tankstelle arbeitet. Zum Zeitpunkt der Forschung hat sie die Hoffnung auf eine Stelle in ihrem erlernten Beruf aufgegeben. Herr Wolf jun., der alleinerziehende Vater, ist der Einzige in einer relativ stabilen Anstellung. Allerdings hat auch sein Bruder extreme Höhen und Tiefen im Arbeitsleben durchlebt, so dass er diese Erfahrung zumindest vor Augen hat. Diese generelle Tendenz einer unsicheren ökonomischen Situation, die keine langfristigen Arbeitsverhältnisse generiert, wird von den schon diskutierten neuen Normen sowie deren institutionellen Implementierung begleitet, die die Sorge für Kinder im häuslichen Bereich vornehmlich durch die Mutter favorisieren (siehe Kapitel I.3.2) Für die drei Fälle der vorliegenden Studie bedeutet dies, dass sich den jungen Eltern die Gelegenheit eröffnet hätte, drei Jahre zu Hause für ihre Kinder sorgen. Aber keiner von ihnen nahm diese Möglichkeit wahr; stattdessen kehrten sie zur ihrer Erwerbsarbeit zurück und dies mit erheblicher Unterstützung durch großelterliche Sorge. Im Fall des alleinerziehenden Vaters ist das Zögern seiner früheren Partnerin, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, aus seiner Sicht einer der Gründe für die Trennung – eine Haltung die seine Eltern unterstützen. In den Familien Korn und Berg nehmen beide Töchter jeweils ein Jahr nach der Geburt ihrer Kinder die Berufstätigkeit wieder auf. Demnach folgt die als angemessen geltende Periode, während derer ohne Erwerbstätigkeit der Sorge für Kinder zu Hause nachgegangen wird, weiterhin dem sozialistischen Modell. Allerdings dachten zumindest in den Familien Wolf und Berg die alleinerziehenden Eltern zunächst daran, längere Zeit selbst zuhause für ihre Kinder zu

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sorgen. In beiden Fällen sagen die Großmütter in Gesprächen explizit, dass sie ihren Kindern geraten hätten, früher wieder an den Arbeitsplatz zurückzukehren. So gibt Frau Berg an, nach einem Besitzerwechsel bei der Tankstelle ihrer Tochter geraten zu haben, ihre Erwerbstätigkeit schnell wieder aufzunehmen. Obwohl gerade sie offen zugibt, unter dem zeitlichen Aufwand der Sorge für den Enkel zu leiden, fürchtete sie, ihre Tochter könne sonst die Arbeit verlieren, da »der neue Besitzer sie nicht kennt und sie als allein erziehende Mutter entlassen könnte« (TB 17.2.2004). Auch Herr Korn jun., der alleinerziehende Vater, nimmt auf Rat seiner Mutter und entgegen seiner anfänglichen Pläne nach der Trennung keinen Erziehungsurlaub in Anspruch. Als er ihr gegenüber argumentierte, der Arbeitgeber müsse ihn nach dem Erziehungsurlaub wieder einstellen, sagte sie: »Ja und dann werden sie dich nach drei Monaten feuern.« (TB 30.8.2004). Die von der Mutter angeführten Argumente gleichen auffällig den in Kapitel I.3.2 genannten Einschätzungen der Angestellten BETRIEBs zu den Arbeitschancen von Müttern nach der Vereinigung. Diese breite Verbreitung mag zu der Überzeugungskraft beigetragen haben, denn die Generation der jungen Eltern nimmt den Ratschlag der Mütter an. Dies zeigt, dass die Erwartungen an die Zukunft – in diesem Fall Angst vor Arbeitslosigkeit – einen entscheidenden Einfluss auf die beschriebenen Sorgepraktiken haben. Die Zeitspanne nach der Geburt eines Kindes und der Rat der älteren Generation sind Hinweise auf den anhaltenden Einfluss der Erfahrungen institutioneller Sorge und Normen aus der sozialistischen Vergangenheit. Wie sich auch schon in der oben zitierten Antwort von Frau Berg zeigte, will gerade die Großelterngeneration, für die Erwerbsarbeit wichtig war (und ist), dass auch ihre Kinder erwerbstätig sind. Diese generelle Orientierung scheint in Folge eines konstanten öffentlichen Diskurses über die negative ökonomische Entwicklung sowie anstehende Kürzungen staatlicher sozialer Sicherung nach der Wende sogar noch an Bedeutung gewonnen zu haben. Allerdings deuten sich in der Generation der ›jungen Eltern‹ auch Änderungen in den handlungsleitenden Normen an. So erachten sie ein Aussetzen der Erwerbsarbeit für elterliche Sorge immerhin als möglich und zeigen somit auch ein größeres Vertrauen in die Mechanismen staatlicher sozialer Sicherung.12 Zusätzlich zur Wertschätzung von Erwerbsarbeit im Allgemeinen und der erwerbstätigen Mutter im Besonderen, wird öffentliche Sorge für Kinder positiv bewertet. Sogar der alleinerziehende Vater, der am wenigsten geneigt ist, sein 12 Während sich diese neuen Ideale elterlicher Sorge in den beschriebenen Fällen noch nicht durchsetzen, scheint dies bei der Generation der Auszubildenden und „NochNicht-Eltern“ durchaus möglich (siehe dazu Thelen 2006c sowie Thelen/Baerwolf 2008).

150 | C ARE/S ORGE Kind einer solchen Institution zu überlassen, entschuldigt sich für diese Position, denn er wisse: »Ein Kind sollte unter anderen Kindern sein.« Als Ausdruck dieser Bewertung haben sich die Betreuungsraten in den neuen Bundesländern nicht so schnell, wie anfänglich erwartet, geändert und sind im Vergleich zu den alten Ländern hoch geblieben. Die Eltern in den Beispielen haben denn auch keine grundsätzlichen Schwierigkeiten, eine Tagesbetreuung zu finden. Nichtsdestotrotz sind die Öffnungszeiten im Vergleich zu den DDR-Zeiten reduziert und ergänzende privat finanzierte Kinderbetreuung wäre zu teuer für einen Haushalt mit durchschnittlichem Einkommen. Mit Verweis auf ihre Erfahrung ist es aus Sicht dieser großelterlichen Generation Aufgabe des Staates, für geringe Kosten ein zeitlich ausgedehntes Angebot an Sorge für Kinder zu organisieren. Wie bereits angemerkt, beklagte sich Frau Berg nicht über den früher geringen Einsatz ihrer Eltern in der Sorge für ihre Kinder, sondern sah dies als staatliche Aufgabe. Folglich werden die kostenintensiveren und bürokratischen Prozeduren seit der Vereinigung negativ bewertet. Frau Korn erzählt beispielsweise, wie ihre Tochter und ihr Ehemann nach dessen Arbeitslosigkeit ihren Vollzeit-Anspruch auf öffentliche Sorge verloren und ihr Schwiegersohn für den Großteil des Tages selbst für sein Kind sorgen musste. Als er dann die erwähnte Arbeit in den Niederlanden bekam, mussten die Eltern erneut einen Platz beantragen, was normalerweise mindestens einen Monat dauert. Frau Korn hält solche Prozeduren für »kinderfeindlich«. Nichtsdestotrotz haben diese Familien wegen solcher Erschwernisse den Wunsch nach einer Vollzeit-Erwerbstätigkeit beider Elternteile nicht aufzugeben. Sie haben eher ihre Sorgepraktiken angepasst, um die Möglichkeit der Erwerbsarbeit für die junge Generation aufrechtzuerhalten. Neben der ökonomischen Entwicklung mit der begleitenden Frühverrentung bildet die demographische Entwicklung einen weiteren ungeplanten Faktor, der die Entstehung der großväterlichen Sorge begünstigte. In den ersten Jahren nach der Vereinigung sank die Geburtenrate in den neuen Bundesländern dramatisch und begann danach erst langsam wieder zu steigen (siehe auch Kapitel I.3.2). Das in den folgenden Jahren höhere Alter bei Erstgeburt findet sich ebenfalls bei den Familien Berg und Wolf. Beide Alleinerziehende waren bereits in ihrem vierten Lebensjahrzehnt, als sie Eltern wurden. Entsprechend waren die Großeltern nicht mehr Anfang 40, sondern zwischen 50 und 60 Jahre alt, als ihre Enkelkinder geboren wurden. Bei ihnen war es wahrscheinlicher, dass sie von der Frühverrentung betroffen würden und somit mehr Zeit als vorherige Generationen hätten, sich an der Sorge zu beteiligen. Dies bedeutet aber auch, dass diese eher unerwarteten Entwicklungen nach der Wende nicht Teil ihrer Zukunftserwartungen, und zwar weder der Eltern- noch der Großelterngeneration, waren.

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Es stellt sich daher die Frage, wie die neuen Anforderungen die Aushandlung von Care rund um hegemoniale Alters- und Geschlechterideale beeinflussen.

II.2.3 AMBIVALENZEN

DER

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Die Interviews zeigen, dass die beschriebene intensive Form der großelterlichen Sorge nicht als Folge eines ausdrücklichen Wunsches der beteiligten Akteure entstanden ist. Das System öffentlicher Sorge für Kinder in der DDR begünstigte eine gewisse Unabhängigkeit der Eltern von den Großeltern in Fragen der Erziehung. Im Gegensatz dazu beinhalten die hier beschriebenen intergenerationellen Care-Praktiken eine größere Nähe zwischen den Generationen, die auch zu Konflikten führen kann. So sagt Herr Wolf: »Also muss man ehrlich zugeben, dieser enge Kontakt mit den Eltern: Es ist nun mal auch ein Generationenunterschied. Es knistert ganz schön oft.« (tI, 14.9.2003) Für dieses »Knistern« in den intergenerationellen Beziehungen durch Care werden in den Gesprächen verschiedene Begründungen und Beispiele gegeben. So führt die größere Beteiligung der Großeltern an der Sorge für ihre Enkel beispielsweise zu Uneinigkeit über die Form und den Inhalt dieser Care-Praktiken. Frau Berg etwa zitiert ihre Tochter diesbezüglich mit den Worten: »Mutti meckert nur.« Dagegen verneint Herr Wolf zwar Erziehungsstreitigkeiten mit seinen Eltern, wohl aber drückt er Probleme hinsichtlich der Wahrung von Grenzen in der Sorge aus: »Aber es geht los hier im Haushalt. Also, ich sach‘ ma: Ich rück‘ den Blumenpott dahin, weil ichs‘ da haben will und wenn ich dann wieder komme, ist er schon wieder da gerückt. Und, die ersten 10 Mal registriert man ‘s nicht, und bei den nächsten 10 Mal arbeitets‘ schon denn und bei den nächsten 10 Mal also da knallts‘ denn.« (tI, 14. 9. 2003)

In seinem Fall umfasst die großelterliche Sorge in seiner Wohnung zwar auch die Bereitstellung von gekochtem Essen für ihn und das Kind, aber eine weitere Ausdehnung auf seine Haushaltsführung lehnt er ab. Im weiteren Gespräch fügt er hinzu, dass sich seine Mutter auch schon mal für den Inhalt seiner Telefonate und insbesondere für mögliche neue Partnerschaften interessiere. Daher befindet er: »Es ist schon angenehm, wenn man mal allein ist.« Aus seiner Sicht sollte die Sorge seiner Eltern nur das Kochen für ihn und die weitere Beschäftigung mit seinem Sohn umfassen, nicht aber weitergehende Reproduktionstätigkeiten in seinem Haushalt bzw. das »Kümmern« auch um sein Liebesleben. Hier wird deutlich, dass auch bei ›gesunden‹ Menschen, ähnlich wie in der Disability-

152 | C ARE/S ORGE Literatur beschrieben, ein ›Zuviel‹ an Care als unangenehme Einengung der persönlichen Autonomie verstanden wird. Ein ähnliches Problem, jedoch unter umgekehrtem Vorzeichen, existiert auch zwischen den Generationen der Familie Berg. Frau Berg empfindet die Anwesenheit ihrer Tochter mit Enkelkind im Haushalt der Großeltern als Versuch der Tochter, ihnen noch mehr Care-Verantwortung zu übertragen. Sie grenzt sich ab, indem sie von ihrer Tochter fordert, dass diese ihre wenige Freizeit nicht auch noch mit dem Kind bei den Eltern verbringe: »Ich seh‘ ein, dass sie es nicht einfach hat, aber ich sehe nicht ein, dass sie es so einfach wie möglich haben soll.« (TB 13.12.2004) In dieser Familie bangt also eher die ältere Generation um ihre Unabhängigkeit. Während es eine grundsätzliche Akzeptanz des Bedürfnisses gibt – also das caring about im Sinne Trontos (1993) unstrittig ist – werden die Verantwortungszuschreibung und das care giving zwischen den Generationen verhandelt. Ein weiteres Konfliktfeld in dieser Hinsicht stellt die Tatsache dar, dass die Sorgepraktiken eines hohen Grads an gemeinsamer Planung bedürfen. Hier spielen die früheren Zukunftserwartungen eine entscheidende Rolle. Von Seiten der älteren Generation hatte man sich die Lebensphase im späten Berufsleben oder Rentenalter ohne Care-Obligationen und stattdessen mit mehr Freizeitaktivitäten vorgestellt.13 Frau Berg äußert dies am nachdrücklichsten in Hinblick auf die Organisation der Wochenenden: »Für andere beginnt das Wochenende am Freitag 13.00, für uns heißt es dann Kindererziehung.« Oder: »Ich habe früher auch mal gerne ausgeschlafen oder später oder erst abends gekocht.«(TB 3.3.2004)

Stattdessen hat das Ehepaar Berg zum Zeitpunkt der Forschung auch an den Wochenenden einen festen Rhythmus, der an die Essens- und Schlafenszeiten des Enkels angepasst ist. Sie stehen um acht Uhr auf und um zwölf Uhr gibt es Mittagessen, danach ist es Zeit für den Mittagsschlaf des Enkels. Frau Berg erklärt auch, dass sie gerne mal mit ihrem Mann spontan kleinere Reisen machen würde, doch das ginge nicht, weil sie sich immer mit ihrer Tochter abstimmen müssten. In einem anderen Gespräch äußert sie ihre Überforderung, als sie erzählt, dass es ihnen »am Wochenende mal wieder zu viel geworden« sei (TB 10.12.2003). Ähnlich äußert sich auch das Ehepaar Wolf. Nachdem sie sich einige Jahre um eine Tante gekümmert hatten, dachten sie, dass endlich, »wo kein Alter mehr 13 Dies lässt sich auch in der Literatur zu den Lebenserwartungen dieser Generation finden (siehe dazu Engstler/Menning: 256).

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übrig war«, sie ihr Leben hätten etwas freier gestalten können. Aber nun müssten sie ihre Pläne für weitere Aktivitäten verschieben oder sie doch zumindest mit der Freizeit und dem Urlaub des Sohnes koordinieren (TB 30.8.2004). Trotz eines gegenseitigen Wunsches nach Abgrenzung sind sie im Jahr vor dem Interview gemeinsam in den Urlaub gefahren. Aber auch von Seiten des Sohnes werden Kompromisse eingegangen, um die großelterliche Sorge aufrechtzuerhalten. So würde er gerne mit dem Sohn in einen »besseren« Stadtteil näher am Stadtzentrum ziehen. Nach mehrmaligen Diskussionen mit seinen Eltern hat er sich schließlich dagegen entschieden, weil dies seine Eltern zwingen würde, für die Sorge weit zu fahren, und sie ihm zu verstehen gaben, dass sie dazu nicht bereit seien. Auch die geschlechtliche Arbeitsteilung in den beschriebenen Care-Praktiken führt zu ambivalenten Erfahrungen. Obwohl die Arbeitsteilung zwischen Großmüttern und Großvätern genderstrukturiert blieb, sind in allen drei Beispielen die Großväter für mindestens die Hälfte der Sorge für die Enkelkinder (wenn nicht mehr) zuständig. Auf jeden Fall verbringen die Großväter entschieden mehr Zeit mit den Kindern. Sie bringen sie zu den jeweiligen öffentlichen Einrichtungen und holen sie von dort ab; sie gehen mit ihnen auf den Spielplatz und schließlich übernachten sie auch mit ihnen in der elterlichen Wohnung. Insgesamt verbringt Herr Berg im Forschungszeitraum, laut Aussage seiner Frau, im Schnitt fünf Stunden täglich mit dem Enkel. Auch wenn es meistens die Großmütter sind, die kochen und die Kinder ins Bett bringen, machen dies auch die Großväter, wenn es nötig ist. Trotzdem stammen alle bisher angeführten Zitate aus den Gesprächen mit den Großmüttern. Warum ist das so? Als ich Herrn Wolf jun. fragte, ob es möglich sei, ein Gespräch mit seinen Eltern zu führen, teilte er mir einige Zeit später mit, dass sich seine Mutter gern mit mir unterhalten wolle. Am Tag des geplanten Interviews war sie aber krank, doch kam es der Familie nicht in den Sinn, dass ich auch mit dem Großvater hätte sprechen können. Dies ist umso erstaunlicher, da gerade er einen besonders großen Teil der Sorge übernimmt. Später konnte ich beide Großeltern mehrmals gemeinsam treffen, aber immer war es eher die Großmutter die (für beide) sprach. Kam aber der kleine Enkelsohn hinzu, wandte er sich stets an den Großvater, der sich dann auch um ihn kümmerte. In den beiden anderen Fällen weigerten sich die Großväter gänzlich, mit mir zu sprechen. Nach dem Grund für diese Weigerung gefragt, beziehen sich beide, Frau Berg und Frau Korn, auf den individuellen Charakter ihrer Ehemänner als »verschlossene« Menschen. Zusätzlich geben sie an, dass diese ihre Sorge als »natürlich« ansehen würden; sie sei daher »nichts, um darüber zu reden«. Aber, fügt Frau Berg hinzu, sie hätte auch nicht darüber gesprochen, wenn sie mich

154 | C ARE/S ORGE nicht schon vorher kennengelernt und das Gefühl gehabt hätte, dass »ich verstehen würde« (TB 17.2.2004). In ihrer Bemerkung drückt sich möglicherweise das schon in Abschnitt III.1 angesprochene grundsätzliche Misstrauen gegenüber Westdeutschen aus, eventuell verstärkt durch das Thema der mütterlichen Kinderbetreuung. Allerdings lässt sich die Weigerung auch auf den Umstand zurückführen, dass es noch kein sozial anerkanntes Erzählschema für diese Form großväterlicher Sorge gibt. Während sich in den letzten Jahrzehnten ein neues Bild des sorgenden Vaters etabliert hat, das sich bislang kaum in den Care-Praktiken niedergeschlagen hat (Dermott 2008; Reed 2005), handelt es sich hier um den umgekehrten Fall einer veränderten Praxis ohne gängiges Interpretationsschema.14 Gleichzeitig erzählt Frau Berg auch, dass ihr Mann auch schon bei den eigenen Kindern »engagiert« war, d.h. ihm die Sorge um Kinder aus seiner Zeit in der DDR, in der auch sie als Mutter berufstätig war, vertraut ist. Diese Bemerkungen sind in zweierlei Hinsicht aufschlussreich: Erstens könnte das Phänomen der sorgenden Großväter in gängigen Erhebungen übersehen werden, da es außerhalb der bisherigen Klassifikationen bedeutsamer Bindungen fällt, wie sie auch in der Umfrageforschung angewendet werden. Das Verhalten kann aber zweitens auch auf konfliktive Werteorientierungen hindeuten. Es lässt sich anhand meiner Daten zwar kaum belegen, dass die beschriebene intensive Form großväterlicher Sorge im Konflikt steht mit der hegemonialen Konstruktion ihrer Männlichkeit, aber zumindest lässt sich behaupten, dass ihre Care-Praktiken nichts sind, worauf die Großväter so stolz wären, dass sie es gerne einer Fremden erzählen würden. Scholz (2004) hat in ihrer Arbeit zu ostdeutschen Männlichkeiten darauf hingewiesen, dass sich in der DDR noch keine neuen hegemonialen biographischen Erzählmuster für Männlichkeit etabliert hatten. Ähnlich existiert auch noch keine etablierte soziale Konstruktion des sorgenden Großvaters, so dass sich die Sorgepraktiken ohne ein solches kulturelles Muster für die Männer nur schwer verbalisieren lassen. Herr Wolf jun. wiederum glaubt, aufgrund seines Geschlechts besonders ›gute‹ Sorge leisten zu müssen, weil er davon ausging, dass ihm sonst sein Sohn weggenommen und der Mutter zugesprochen würde. So schließe er neue Bekanntschaften lieber durch das Internet, weil in seinen Augen ein abendliches Ausgehen ein schlechtes Licht auf ihn werfen könnte. Nach seinen ersten Erfahrungen mit den Behörden nach der Trennung von seiner Partnerin, wo man ihm gesagt habe: »Sie hatten fünf Jahre Vergnügen und jetzt kommen Ihre Pflichten« (tI, 31.3.2004), lebte er weiterhin in der Angst, das Sorgerecht könnte ihm ge-

14 Zum Wandel von Idealen zur Elternschaft siehe auch Haukanes/Thelen 2010.

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richtlich wieder entzogen werden.15 In seiner empörten Darstellung dieses Erlebnisses verweist er interessanterweise vor allem auf seine Rolle als Geldverdiener in der damaligen Paarbeziehung als Beweis dafür, dass er nicht ›verantwortungslos‹ gelebt habe. Im Anschluss an diese Erfahrung sah er keinen anderen Weg, als seiner ehemaligen Lebensgefährtin außergerichtlich und unter Androhung des Einsatzes aller ihm zur Verfügung stehenden finanziellen und legalen Mittel »ein Abkommen vorzuschlagen«: »Wir können uns einigen, ich möchte das Sorgerecht haben oder ich kämpfe, […] überleg Dir das.« (tI, 31.3.2004) Daraufhin soll sie sie nach einer Woche Bedenkzeit offiziell auf das Sorgerecht verzichtet haben. Bei Gericht habe man »Kulleraugen« vor Erstaunen gemacht, aber: »Als Vater ham‘ sie keine Chance normalerweise. Sie werden von den Ämtern angesehen als Verbrecher.« (tI, 31.3.2004) Das Motiv für sein heftiges Eintreten für das juristische Sorgerecht ist nach seiner Darstellung die ›falsche‹ Sorge der Mutter für das Kind. Diese bestand nach seiner Ansicht vor allem in mangelnder Zuwendung und Entwicklungsförderung. So erwähnt er beispielsweise »nur vor dem Fernseher abstellen« auch bei schönem Wetter und falsche Ernährung, wie »mit Süßigkeiten vollstopfen«. Kulminiert sei dies in der Phase der Trennung, als der gemeinsame Sohn nicht in ihrer neuen Wohnung habe einschlafen wollen und weinte, bis sie ihn anrief, damit er den Jungen abhole. In seiner Erzählung stellt sich also Herr Wolf nicht als Vertreter eines neuen männlich-väterlichen Sorgenden dar, sondern betont die Erfüllung seiner Sorgeobligationen als männlicher Ernährer, während seine ehemalige Lebensgefährtin nicht den Idealen einer ›normal‹ sorgenden Mutter entsprochen habe. Obwohl in diesem Kapitel eher außergewöhnliche Care-Praktiken beschrieben wurden, stehen also auch diese nicht außerhalb hegemonialer Konstruktionen von Gender und Alter. Sie zeigen aber, dass die flexible und komplexe Anpassung an sich wandelnde ökonomische und politische Umstände durchaus zu unvermuteten Praktiken führen kann. So können Großväter-Enkelkinder-Beziehungen enger werden, als die Normen und die darauf aufbauende sozialwissenschaftliche Klassifikationen es erscheinen lassen.

15 Ob sich dies auf das Jugendamt oder das Gericht bezieht, bleibt in seinem Bericht unklar.

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II.2.4 S CHLUSSBEMERKUNG : S TAAT , L EBENSLAUF UND C ARE IN DER F AMILIE In diesem Kapitel wurden einige Aspekte der komplexen Beziehung von Care zu staatlicher Politik und den ihr zugrundeliegenden Normen aufgezeigt. Die beschriebenen Praktiken intergenerationeller Sorge für Kinder erscheinen auf den ersten Blick eher ›normal‹ und altbekannt. Bei näherer Betrachtung erweisen sie sich jedoch als ein neues Phänomen, verglichen mit der sozialistischen Vergangenheit, und als ein anderes Phänomen, wenn man es mit den importierten Idealen mütterlicher Sorge aus den alten Bundesländern vergleicht. Anders als die anderen postsozialistischen Länder hatten die neuen Bundesländer keine Zeit, einen eigenen Weg in den Kapitalismus zu finden, sondern haben das bundesdeutsche System mit dem Beitritt übernommen. Zusätzlich zu neuen ökonomischen Unsicherheiten sah sich die Bevölkerung der ehemaligen DDR dadurch, wie bereits in Kapitel I.3.2 dargestellt, auch mit einem neuen Ideal mütterlicher Sorge konfrontiert. In den vorgestellten Fallbeispielen haben die Eltern die neuen Angebote der Förderung elterlicher Sorge im häuslichen Bereich durch Freistellung von der Erwerbsarbeit nicht ausgenutzt. Stattdessen haben sie zeitaufwendige und aufreibende Lösungen der geteilten Sorge für die Kinder zwischen den Generationen entwickelt. Diese Sorgepraktiken entspringen nicht ihren Erfahrungen in der Vergangenheit, im Gegenteil: Großelterliche Betreuung war eine Ausnahme in der DDR und auch im Leben der in diesem Kapitel vorgestellten Akteure. Die Beispiele intensiver großelterlicher Sorge zeigen also neue Antworten auf veränderte Umstände, die aber dennoch deutlich von der sozialistischen Wertschätzung der Erwerbsarbeit und dem Vorbild der erwerbstätigen Mutter beeinflusst sind. Ein ›Sich-Verlassen‹ auf den Wohlfahrtsstaat – wie es in der sozialwissenschaftlichen Literatur zu postsozialistischen Gesellschaften gerne behauptet wird (siehe auch Abschnitt I.3.1) – wird von den Akteuren nicht als ernsthafte Alternative angesehen, auch (oder gerade) nicht für alleinerziehende Mütter. Die anerkannte Zeitspanne für den Berufsausstieg nach der Geburt eines Kindes beträgt eine Jahr – die Zeitspanne des sozialistischen Modells. Zusätzlich zu dieser Anlehnung an Normen und institutionelle Regelungen aus der sozialistischen Zeit ist die beschriebene intergenerationelle Sorge durch die spezielle Erfahrung der Arbeitslosigkeit nach der Wende geprägt. Diese Erfahrungen stärken auf der einen Seite den Wunsch nach Erwerbsarbeit und auf der anderen Seite ermöglichen sie diesen Fluss an Ressourcen, weil die ältere Generation – und hier insbesondere die Männer – in der Frühverrentung über genug Zeit für Care verfügt. Zusammengefasst sind die beschriebenen individu-

S ORGENDE G ROSSELTERN

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ellen Reaktionen auf die Veränderungen also charakterisiert durch die Mobilisierung und Reorganisation von familiären Ressourcen als einem Weg, durch Anpassung an neue Anforderungen gleichzeitig alte Normen aufrechtzuerhalten. Eine Aussage über die Verbreitung der Praktiken sorgender Großväter lässt sich aufgrund der Datenlage nicht treffen. Neben vereinzelten Hinweisen in der Literatur auf eine gestiegene Bedeutung großelterlicher Sorge in den neuen Bundesländern (Engelbrech/Jungkunst 1998: 4), kann als Hinweis gelten, dass ich in der Feldforschung mehrfach auf ähnliche Sorgepraktiken gestoßen bin, ohne explizit danach gesucht zu haben. Einmal entdeckt, hörte ich öfter von ähnlichen Fällen der Sorge von Großvätern um ihre Enkel. Aber es ist schwierig, insbesondere männliche Gesprächspartner zu finden, die darüber detailliert Auskunft geben möchten. Der Prozentsatz wird zudem von der Region und deren allgemeinen ökonomischen Entwicklung abhängig sein. Wenn es die Frauen wären, die ihre Erwerbsarbeit verloren hätten, oder wenn beide Großeltern in Rente wären, würde – zumindest gemäß lokaler Norm – die Großmutter für die Enkelkinder sorgen. Daher fügen sich die Sorgepraktiken der Großväter (noch) nicht in eine hegemoniale soziale Konstruktion der Bindung zwischen Großvater und Enkeln ein. Für Sorgepraktiken, die weiblich konnotiert sind, gibt es keine männlichen Erzählmuster. Care schafft oder intensiviert zumindest hier eine bedeutsame Bindung, die möglicherweise zu einer Transformation auch des Bildes von Großvaterschaft beitragen könnte. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass diese familiäre Sorgepraktiken zwar mit staatlichen Formen sozialer Sicherung (insbesondere der Frühverrentung) und sozialen Konstruktionen ›angemessener‹ Sorgeverpflichtungen von Staat und Eltern eng verwoben sind, jedoch anders als erwartet. Staatlicherseits wird die Sorge für kleine Kinder als Bedürfnislage anerkannt und durch gesetzliche Maßnahmen eine Realisierung dieser Sorge innerhalb der Mutter-Kind-Beziehung unterstützt. Dagegen erkennen die Familien neben dem Bedürfnis des Kindes nach Care auch das Bedürfnis der Kindeseltern nach einem eigenen Einkommen aus Erwerbsarbeit an. Von der Erwerbsarbeit befreit und finanziell durch andere staatliche Maßnahmen gesichert, leisten die Großeltern einen erheblichen Beitrag zur Sorge für ihre Enkel. Durch diese anhaltenden Sorgepraktiken entwickeln sich aber auch Ansprüche auf Beeinflussung der Sorge durch die Großeltern, d.h. intergenerationelle Konflikte. Diese ambivalente Situation wird aufrechterhalten, weil beide Generationen (noch) das Ideal der erwerbstätigen Mutter teilen und diesem trotz etwaiger Unbequemlichkeiten den Vorzug geben.

III. Praktiken öffentlicher Sorge: Care, Arbeit, Identität

Während der vorangegangene Teil ausgehend von Sorgepraktiken in Beziehungen die als privat gelten, die Wechselwirkung zu Politik und Wirtschaft in den Blick nahm, wird diese Perspektive in den folgenden Kapiteln umgedreht: Ausgehend von Sorge in öffentlichen Räumen werden die Übergänge zwischen den Bereichen thematisiert. Manche dieser Sorgepraktiken nehmen durch Prozesse der ›Privatisierung‹ eine emotionale Bedeutung an. Standen also in den letzten Kapiteln die politische und ökonomische Bedeutung verwandtschaftlicher Sorge sowie ihr Bezug zu staatlichen Rahmen sozialer Sicherung im Mittelpunkt, rücken im Folgenden die scheinbar privaten Aspekte der emotionalen Sorge und biographischen Bestätigungen in öffentlichen Prozessen von Care ins Zentrum der Analyse. In diesen Betrachtungen stellt sich noch deutlicher als in Teil II heraus, dass die dichotome Aufteilung in private und öffentliche Beziehungen die Analyse bedeutsamer Bindung erschwert. Besonders am Beispiel der Sorgepraktiken unter Arbeitskollegen wird deutlich, dass bislang widerspenstige empirische Ergebnisse in ein unpassendes Klassifikationsschema einsortiert wurden. Erst ein ›Ernstnehmen‹ der Alterität erlaubt es in diesem Fall, die Bedeutung der gesellschaftlichen Veränderung zu erfassen, wie durch die Verlagerung von Care aus den Arbeitsbeziehungen in familiäre Bindungen deutlich wird. Anhand der anschließenden Darstellung der Transformation ehemals betrieblicher Sorge für Senioren wird deutlich, in welchem Maß die Erwartungen an solche Care-Praktiken innerhalb bedeutsamer Bindungen durch die früheren Erfahrungen geprägt sind. Im Kontext der umfassenden politischen, ökonomischen, juristischen und sozialen Veränderungen erfährt der emotionale Gehalt auch dieser vermeintlich öffentlichen Bindungen eine Aufwertung. Mit den Frauen des ELISENCAFEs rücken im letzten Kapitel dieses Teils bislang kaum beachtete Praktiken mütterlicher Sorge in der DDR in den Vordergrund der Betrachtung. Die Interpretation und zentrale Bedeutung dieser familiären Care-Praktiken für das oppositionelle Selbstverständnis der Akteurinnen zeigt noch einmal die politische Bedeutung von Care. Darüber hinaus wird deutlich werden, dass auch diese Akteurinnen, die im bewussten Kontrast zu den dominanten sozialistischen Idealen gelebt haben, nach der Wende einige An-

P RAKTIKEN ÖFFENTLICHER S ORGE

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strengungen unternehmen (müssen), um ihre Care-Ideale zu bestätigen. Obwohl diese Akteurinnen die umfassenden Veränderungen überwiegend begrüßten, wurden auch ihre bedeutsamen Bindungen in diesem Kontext unsicher. Mit der Ausweitung ihrer früheren Sorgepraktiken aus dem häuslichen Bereich in das ELISENCAFE schaffen sie einen (halb-)öffentlichen Raum, in dem ihre biographische Identität bestätigt wird. Alle drei Kapitel fokussieren somit auf die Analyse der Wirkung bestimmter Erwartungsgefüge und Strukturen bedeutsamer Bindungen auf die Erfahrung der Veränderung, die auf individueller Ebene viele der früher selbstverständlichen Erwartungen, Lebensentscheidungen, Strategien und Rituale in Frage stellt. In der Darstellung der verschiedenen Übergänge zwischen Räumen und Beziehungen, die als privat bzw. öffentlich definiert werden, wird überdies aufgezeigt, dass der Blick auf Care neue Einsichten und damit Einordnungen ermöglicht.

III.1 Care am Arbeitsplatz

»Wenn aus dem Kollektiv jemand krank war, hat das Kollektiv einen Krankenbesuch gemacht. Das ist mir nicht bekannt, dass das heute jemand macht.« (I Nr. 4, 11.9.2003, 46 Jahre, ledig, keine Kinder)

So antwortet ein Angestellter des BETRIEBs im strukturierten Interview auf die Frage nach den Veränderungen seiner persönlichen Beziehungen nach der Wende. An erster Stelle nennt er die Veränderungen in den Beziehungen unter Kollegen, die in seiner Darstellung gegenseitige Sorge (wie etwa durch einen Krankenbesuch) umfassten. Die so entstandenen Bindungen zu den Kollegen vermisst er nach dem politischen Umbruch. Auch ein weiterer Interviewpartner nennt auf dieselbe Frage als erstes die Veränderung in den Beziehungen zwischen Kollegen und fügt hinzu: »Das war früher ja auch anders, man hat sich gegenseitig geholfen.« (I Nr. 22, 29.9.2003, 49 Jahre, verheiratet, zwei Kinder)

Eine weibliche Angestellte antwortet auf die offene Schlussfrage des Interviews, was für sie persönlich die größte Veränderung nach der Wende gewesen sei: »das Umdenken, das Lernen« und erläutert dies mit folgenden Worten: »Früher musste man ja an alle denken, heute nur noch an mich. […] Heute darf mich nicht mehr interessieren, wie das für meinen Kollegen ist.« (I Nr. 7, 18.9.2003, 41 Jahre, verheiratet, zwei Kinder)

In der Umgestaltung ihrer Beziehungen zu den Kollegen, bei denen es sie nicht mehr »interessieren darf«, wie diese sich fühlen, sieht sie also die größte persönliche Aufgabe nach der Wende.

164 | C ARE/S ORGE Dieses Kapitel fußt auf Überlegungen im Anschluss an viele solche Beschreibungen eines Verlusts von Care in Arbeitsbeziehungen nach dem Niedergang des Sozialismus. So äußern sich im Forschungszeitraum Akteure mit verschiedenem Bildungshintergrund und unterschiedlichsten Lebenswegen in auffallend ähnlicher Weise über die wahrgenommenen Veränderungen in Beziehungen unter Kollegen. Ähnliche Bemerkungen machen sowohl Akteure, die mit dem früheren System konform gingen, wie auch solche mit einem kritischen Standpunkt oder potentiell von der sozialistischen Norm abweichendem Lebensstil – hierzu zählen etwa eine frühere Lehrerin, die heute Leiterin einer städtischen Behörde ist, genauso wie eine kirchlich aktive Hausfrau und ein homosexueller Mann mit persönlichen Beziehungen zur kritischen Subkultur der DDR. Das Ausbleiben von Care zwischen Kollegen empfinden diese Gesprächspartner offensichtlich als Verlust an Bindung. Diese Übereinstimmung im Verbund mit der Häufigkeit solcher Äußerungen stellt einen Hinweis darauf dar, dass die Erfahrung eines Verlustes nicht nur geteilt wird, sondern auch zentral ist. Obwohl es einige Studien zu sozialistischen Arbeitsbeziehungen gibt (z.B. Roesler 1994; sowie die Beiträge in Roth 2006), wurde das theoretische Potential dieser Kernerfahrung der Veränderung bisher noch nicht erschöpfend behandelt – einerseits, weil solche Äußerungen aufgrund der bestehenden Beziehungsklassifikationen schlicht als ›falsche‹ Nostalgie für die Vergangenheit abgetan wurden, andererseits, weil daher nicht die Frage gestellt wurde, was an die Stelle der Sorge zwischen Kollegen tritt. Deshalb wird im Folgenden zunächst auf die in den Sozialwissenschaften gängige Klassifikation von Arbeitsbeziehungen eingegangen, nach der bislang die widerspenstigen empirischen Daten sortiert werden. Im Anschluss daran werden die Care-Praktiken zwischen Kollegen während des Sozialismus anhand der vorhandenen Fachliteratur sowie von Archivmaterial und den Erinnerungen meiner Gesprächspartner im Sinne des in dieser Studie vorgeschlagenen praxeologischen Vorgehens rekonstruiert. In Abweichung gängiger Darstellungen entlang etablierter Klassifikationen geht es also in diesem Abschnitt in erster Linie darum, zunächst nach den sozialen Bedingungen zu fragen, die das Erleben von Care strukturieren. Im Sinne der in der theoretischen Grundlegung dargelegten geschichteten Analyse wird auch hier die Einbettung von Sorgepraktiken in übergeordnete Strukturen sozialer Sicherung erfasst. Darauf aufbauend widmet sich der letzte Abschnitt dieses Kapitels der Wahrnehmung der Veränderung dieser Care-Praktiken nach der deutschen Vereinigung. Durch die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen wurde die Sorgeverantwortung wirtschaftlicher Akteure neu definiert und es entstanden neue Bedürfnisse. Beide Entwicklungen führen

C ARE AM A RBEITSPLATZ

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zu Veränderungen in den Care-Beziehungen zwischen Kollegen gleicher und verschiedener Hierarchieebenen. Dabei werden neue Bedürfnisse in die Arbeitsbeziehungen eingelagert und andere, insbesondere emotionale, ausgelagert. Diese Neuaushandlungen von Care führen zu einer veränderten Konstruktion von Arbeitsbeziehungen und werden als solche teilweise als verunsichernd und ambivalent erlebt.

III.1.1 C ARE

UND

ARBEIT

Im Gegensatz zur ›modernen‹ Freundschaft und zu ›traditionellen‹ Familienbeziehungen werden Beziehungen unter Kollegen in der sozialwissenschaftlichen Literatur meist nur wenig oder doch recht einseitig wahrgenommen. Sie gelten gemeinhin als nicht frei wählbare sowie als öffentliche Beziehungen und können daher – im Gegensatz zur frei wählbaren und als privat angesehenen Freundschaft (Eisenstadt/Roninger 1984) – nicht auf gegenseitigem Vertrauen und wechselseitiger Zuneigung beruhen. Daher werden die bezüglich der vermeintlich privaten Beziehungen von Verwandtschaft und Freundschaft herangezogenen Indikatoren für starke Bindungen – wie etwa die miteinander verbrachte Zeit und Multifunktionalität1 – nicht auf die Analyse von Arbeitsbeziehungen angewendet. Hier verstellt letztlich die Beziehungs-klassifikation auf Grundlage der Dichotomie zwischen ›privat‹ und ›öffentlich‹ den Blick auf mögliche Gemeinsamkeiten in den Praktiken. Care im Sinne eines sensitising concept kann in diesem Feld also neue Einblicke eröffnen. Diese ›richtige‹ Klassifizierung sozialer Beziehungen entlang der Dichotomie zwischen ›privat‹ und ›öffentlich‹ ist auch auf die Analyse sozialistischer Gesellschaften übertragen worden. Im Unterschied zu den angenommenen multiplexen Inhalten verwandtschaftlicher Bindungen werden Beziehungen unter Kollegen demnach als uniplex, wenig emotional und spezifiziert, also als schwache Bindungen beschrieben. So stellt etwa Granovetter fest: »For work related ties, respondents almost invariably said that they never saw the person in a nonwork context.« (1973: 1372) Daher werden auch in Forschungsarbeiten zu persönlichen Netzwerken die Beziehungen zwischen Kollegen im westlichen Kontext stiefmütterlich behandelt. Obwohl gerade in der Netzwerkforschung, wie

1

Der multifunktionale Charakter persönlicher Beziehungen, die zueinander als Verwandte und gleichzeitig als Nachbarn oder Verkäufer-Käufer in Beziehung stehen, wird in der Forschung zu persönlichen Netzwerken als multiplexity bezeichnet. Gellner nennt denselben Sachverhalt multistrandedness (1988: 44).

166 | C ARE/S ORGE etwa bei Granovetter, unter Verweis auf den vielfältigen generalisierten Austausch innerhalb verwandtschaftlicher Bindungen das einseitige Verständnis von Verwandtschaft als rein emotionaler Beziehung kritisiert wurde (Bertram 2000), blieb eine Kritik in die umgekehrte Richtung, also die Einbeziehung von Emotionen in vermeintlich instrumentelle Beziehungen (wie etwa diejenige unter Kollegen), aus. Die Analyse sozialistischer Arbeitsbeziehungen wird angesichts dieses konzeptionellen Instrumentariums problematisch. In Abschnitt I.3.1.2 wurde bereits auf die einseitige Interpretation sozialer Beziehungen im Sozialismus als Kompensation der als unzulänglich geltenden Organisation der Wirtschaft hingewiesen.2 Auch Arbeitsbeziehungen werden in diesem Sinne als instrumentelle Verbindungen interpretiert. So betont etwa Rottenburg (1991, 1992) den instrumentellen Charakter der Beziehungen zwischen Arbeitskollegen als entweder gegen Erwartungen ›von oben‹ gerichtet oder als Austauschbeziehungen. Auf Grundlage dieser Einschätzungen zeigen sich Sozialwissenschaftler erstaunt bis enttäuscht über die Interpretationen der Arbeitsbeziehungen durch die Akteure nach dem Sozialismus. Z.B. bezeichnen Interviewpartner aus den neuen Bundesländern ihre Kollegen selten als »nützlich« bzw. dies tun eher Personen in höheren Stellungen (Diewald 1995: 246247).3 So spricht Rottenburg mit Erstaunen von der Beobachtung, »of the fact that the social relations in the socialist collectives were described by the actors in the same categories as the ones provided by the propaganda« (1994: 79). Auch Diewald, Huinink, Solga und Sørensen (1995) stellen bei Interviews in den neuen Bundesländern eine in allen Berufs- und Einkommensschichten gleichermaßen geäußerte Erfahrung des Verlusts von »Wärme« in den Beziehungen am Arbeitsplatz fest. Die lokale Erklärung vom Gegensatz zwischen dem »warmen« sozialistischen Kollektiv und dem »kalten« Umgang im Westen taugt nach Einschätzung der Autoren nicht als Erklärung, denn: »›Wärme‹ im Sinn einer besonderen emotionalen Qualität von Beziehungen – als Vermittlung von Zuneigung, Wertschätzung oder als fraglose Hilfe bei persönlichen Problemen in Form von Ratschlägen oder motivationaler Unterstützung – ist nach allen einschlägigen Untersuchungen die Domäne persönlicher Beziehungen, die als Bestandteil einer eigensinnigen Privatsphäre ausgewählt und gestaltet wird.« (Diewald/Huinink/Solga/Sørensen 1995: 340)

2

Auf die DDR bezogen siehe z.B. Rottenburg (1991) oder Pollack (1999).

3

Zusätzlich bezeichnen in dieser Studie eher Männer als Frauen Kollegen als »nützlich«.

C ARE AM A RBEITSPLATZ

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Die »einschlägigen Untersuchungen« aus westlichen Ländern, auf die sich die Autoren beziehen, reduzieren also Emotionalität oder Intimität auf private Beziehungen. Da Arbeitsbeziehungen nach westlichem Selbstverständnis der öffentlichen Sphäre angehören, wird ihnen ihre Eigenheit sowie das Potential für gegenseitige Zuneigung oder zum Austausch von Hilfe am Arbeitsplatz abgesprochen. Wenn, wie in der hier zitierten Studie geschehen, die Interviewten aber immer wieder behaupten, dass ihre Arbeitsbeziehungen genau diese Qualitäten aufgewiesen haben, dann lässt sich dies unter der Voraussetzung einer ›richtigen‹ Trennung von privat und öffentlich nur mit dem ›falschen Bewusstsein‹ der Befragten erklären. Hier werden also widerspenstige empirische Ergebnisse in bestehende Beziehungsklassifikationen eingeordnet, anstatt an dieser Stelle die Klassifikation selbst zu hinterfragen. Im obigen Zitat wird neben der Übertragung einer naturalisierten Unterscheidung zwischen öffentlich und privat, auch eine Unterteilung in authentische versus inauthentische Gefühle vorgenommen. Diese Einschätzung unterliegt auch gängigen Beschreibungen sozialer Beziehungen in (post)sozialistischen Ländern, aber auch der feministischen Literatur zu Care, wie in den Abschnitten I.2.1 und I.3.1 dargestellt wurde. Demnach sind im privaten Bereich, in familiären und freundschaftlichen Bindungen, Gefühle der Zuneigung und Verbundenheit authentisch. Sobald solche Gefühle jedoch Beziehungen zugeschrieben werden, die als »öffentlich« gelten, werden sie als inauthentisch beschrieben. Folglich kann ›wahre‹ Freundschaft nur interessenlos sein; wenn die postsozialistischen Interviewpartner aber gegenseitige und emotionale Sorge in Arbeitsbeziehungen beschreiben, werden andere, ›wirkliche‹ Motive vermutet.4 Dies führt schließlich zu einer Pathologisierung solcher Praktiken und Gefühle. Engler (1992) beispielsweise nennt die ›unzulässige‹ Vermischung der öffentlichen und privaten Sphären in der DDR eine »zivilisatorische Lücke«. Die Akteure, unfähig die Grenzen zwischen dem ›privaten‹ und ›öffentlichen‹ Bereich zu erkennen, verwandeln sich in seiner Darstellung in »psychisch dauerüberlastete Spurenleser«. Ähnlich spricht Rottenburg (1994: 75, 79) bezüglich betrieblicher Beziehungen von einem »Syndrom« und »emotionaler Dissonanz«, die vor allem leitende Angestellte beträfe. Unter Berufung auf die Studie von Arlie Hochschild zu amerikanischen Stewardessen argumentiert er weiter, dass dies auf lange Sicht die Wahrnehmung der Grenze zwischen Rolle und Identität

4

Es ist meines Erachtens erstaunlich, dass gerade Wissenschaftler, in deren eigenen (Berufs-)Biographien Freundschaft und Arbeit nach meiner Beobachtung zumeist untrennbar miteinander verquickt sind, auf dieser Unterscheidung bestehen.

168 | C ARE/S ORGE der Akteure verwischen könnte.5 Durch dieses Beharren auf einer ›naturgegebenen‹ und daher ›richtigen‹ Trennung zwischen den Kategorien privat und öffentlich werden sozialistische Beziehungen bis hin zur Pathologisierung psychologisiert. So wird die Chance verpasst, unterschiedliche Konfigurationen dieser analytischen Kategorie in der gesellschaftlichen Praxis zu erfassen, um auf dieser Grundlage zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Mit meiner Kritik plädiere ich also nicht dafür, lokale Einschätzungen als schlicht ›wahr‹ zu übernehmen, sondern sie als Hinweis auf ein Phänomen der Alterität ernst zu nehmen, dessen Beschreibung zu neuen Erkenntnissen führen könnte. Ausgehend von den Praktiken lässt sich erschließen, welche Care-Erwartungen an Personen im Arbeitsumfeld gerichtet wurden, ohne dass auf eine Dichotomie von privat und öffentlich zurückgegriffen werden muss, die im Untersuchungskontext nicht anwendbar erscheint.

III.1.2 C ARE

AM

ARBEITSPLATZ IM S OZIALISMUS

In den folgenden Abschnitten werden verschiedene Formen von Care am Arbeitsplatz und ihre Interpretation dargestellt. Daher stehen an dieser Stelle Daten aus der teilnehmenden Beobachtung und den Interviews im BETRIEB im Vordergrund. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, noch einmal daran zu erinnern, dass die meisten der Angestellten im Forschungszeitraum ihr Arbeitsleben zu DDR-Zeiten begonnen haben und nur wenige Führungskräfte aus den alten Bundesländern dort beschäftigt sind (siehe auch Abschnitt I.3.2). Ohne die Instrumentalität solcher Beziehungen völlig negieren zu wollen, wird hier argumentiert, dass für die Entstehung bedeutsamer Bindungen die nicht-instrumentelle Seite der emotionalen Sorge in Arbeitsbeziehungen zumindest (mit-)entscheidend war. Förderliche Bedingungen für das Entstehen von Sorge am Arbeitsplatz waren die Multifunktionalität in Verbindung mit dem hohen Umfang gemeinsam verbrachter Zeit. Damit unterscheiden sich sozialistische Arbeitsbeziehungen nicht substantiell von Beziehungen in kapitalistischen Unternehmen, vor allem nicht von jenen in traditionellen Industriebetrieben mit hohem gewerkschaftlichem Einfluss. Potentiell waren sie aber akzentuierter. Bindung und Sinnstiftung durch Arbeit gehören zum offiziellen Programm des

5

Während Hochschilds Pionierarbeit zur Gefühlsarbeit allgemein geschätzt wird, ist ihre Annahme der Existenz authentischer Gefühle vor allem in der feministischen Literatur kritisiert worden (Bolton/Boyd 2003; Wouters 1989, siehe auch theoretische Grundlegung).

C ARE AM A RBEITSPLATZ

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Sozialismus und so war diese Multifunktionalität der Beziehungen nicht nur ein Ergebnis der wirtschaftlichen Zwänge, sondern auch Teil der offiziellen Politik. Teilweise als Folge dieses Programms wurde – wie in Kapitel I.3.2 bereits dargestellt – staatliche soziale Sicherung im Sozialismus zu großen Teilen über die Betriebe organisiert. Neben der Sicherung des Einkommens durch den Arbeitsplatz erfüllten diese daher auch andere, weiterreichende Funktionen für ihre Belegschaft. So verfügte auch der BETRIEB über eine AWG6, in deren Plattenbauten häufig Führungskader in unmittelbarer Nachbarschaft zu ihren Mitarbeitern wohnten. Neben Kantinen unterhielt das Unternehmen mehrere Kinderkrippen und -gärten, sowie Ferienheime. Zudem existierten diverse Hobbygruppen und eine sogenannte Ladenstraße auf dem Werksgelände. Diese bot Dienstleistungen und Einkaufsmöglichkeiten für den alltäglichen Gebrauch, wozu etwa ein Metzger und ein Frisör gehörten. Viele alltägliche Verrichtungen und im Westen als privat geltende Angelegenheiten wurden daher nicht am Wohnort oder in der Nachbarschaft, sondern am und durch den Arbeitsplatz erledigt. Insgesamt ermöglichte diese Form der Organisation zumindest in großen Unternehmen wie dem BETRIEB multifunktionale Beziehungen, bei denen Arbeitskollegen und Vorgesetzte gleichzeitig auch Nachbarn im unternehmenseigenen Wohnblock, Mitglieder derselben Sportgruppe oder Begleiter zum gemeinsamen Einkaufen während der Pause sein konnten. Diese Bedingungen förderten die Entstehung einer ›anderen‹ Form von Arbeitsbeziehung, als sie in der sozialwissenschaftlichen Literatur überwiegend beschrieben wird: derjenigen zwischen ›sorgenden Kollegen‹, wie ich es hier nennen möchte. Eher als die in Kapitel I.3.1 analysierte Übertragung wirtschaftstheoretischer Analysen könnte eine Beschreibung dieser ›Andersheit‹ und ihrer Veränderung aus lokaler Sicht, zu neuen Erkenntnissen führen. Die folgende Darstellung beginnt mit der Einbettung in rechtliche Normen und wirtschaftliche Rahmenbedingungen und stellt den Zusammenhang zwischen ›öffentlichen‹ Beziehungen und ›privater‹ Sorge anhand von Archivmaterial sowie von Erinnerungen der früheren Angestellten dar.

6

Seit 1953 dienten Zusammenschlüsse von Beschäftigten in sogenannten Arbeiterwohnungsgenossenschaften zur Errichtung, Erhaltung und Verwaltung von Wohnungen. Sie wurden unter anderem durch zinslose Kredite staatlich gefördert. Die Mitglieder erbrachten Arbeitsleistungen und erwarben Genossenschaftsanteile. 1988 gab es in der DDR etwa eine Million AWG-Wohnungen.

170 | C ARE/S ORGE III.1.2.1 ›Sorgende Vorgesetzte‹ »Aber er is‘ dann zum Beispiel och gekommen und hat auch gesagt von wegen, er hat da ‘nen Mann gehabt, der hatte irjendwelche private Sorgen, der hat sich bei ihm ausgeheult. Ich fand das dann unterm Strich och wieder auch gut, wenn die Jungs zu ihm gegangen sind und so viel Vertrauen zu ihm hatten und zu ihm gegangen sind und mit ihm über ganz private Dinge jesprochem ham.« (tI 10. 12. 2003, Betonung in der Sprache)

So beschreibt Frau Krause die Beziehung ihres Mannes, der bei der Marine in einer Leitungsposition tätig war, zu seinen Untergebenen.7 Sie betont, dass er als Vorgesetzter auch als ein Gesprächspartner für »private« Angelegenheiten angesehen wurde. Im Anschluss illustriert sie die Erfüllung von Sorgeerwartungen über den unmittelbaren Arbeitszusammenhang hinaus anhand des Verhaltens ihres Mannes, nachdem einer seiner Untergebenen in Folge eines Verkehrsunfalls im Krankenhaus lag. Dieser war auf einer Dienstfahrt bei einer Baustelle auf die falsche Spur gekommen und mit einem Bus zusammengestoßen. Ihr Mann hatte nicht nur die Eltern verständigt, sondern diese auch gemeinsam mit der Verlobten des jungen Mannes um fünf Uhr morgens am Bahnhof abgeholt, und mit nach Hause genommen. Dort angekommen, machte ihnen Frau Krause Frühstück und danach brachte ihr Mann die Familie zum Krankenhaus. An dem Beispiel zeigt sich, dass nicht nur emotionaler Beistand geleistet wurde, sondern in die jeweiligen praktischen Care-Leistungen auch weitere Familienmitglieder eingeschlossen wurden. Solche Bindungen, in denen Untergebene sich mit ihren persönlichen Problemen an ihre Vorgesetzten wandten, wurden einerseits durch das oben erwähnte Wohnen in unmittelbarer Nachbarschaft, aber auch durch geteilte Urlaubs- und Freizeitaktivitäten und die dadurch entstandene Multifunktionalität von Beziehungen zwischen Akteuren verschiedener hierarchischer Ebenen eines sozialistischen Unternehmens wie dem BETRIEB gefördert. Zusätzlich übte auch das Arbeitsrecht durch die Festschreibung von Sorgeverpflichtungen einen Einfluss auf die Entstehung von Sorgebeziehungen zwischen unterschiedlichen Hierarchieebenen aus. So hatte etwa der Direktor eines Unternehmens die Pflicht, für seine Arbeiter und Angestellten zu sorgen.8 Im 7

Frau Krause ist ehemalige Krippenerzieherin und Angestellte im BETRIEB (siehe auch ihre Äußerungen in den Abschnitten I.3.2.2 und II.1).

8

Für die Verpflichtungen des Direktors eines sozialistischen Unternehmens siehe § 18 Arbeitsgesetzbuch der DDR (Bundesvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes 1983). Die § 223-239 legten unter anderem die Pflicht der Unternehmen fest, ihre Mitarbeiter mit sportlichen und kulturellen Einrichtungen sowie mit Mahlzeiten, Kinderbetreuungs- und Ferieneinrichtungen zu versorgen.

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BETRIEB hatte der Direktor zu diesem Zweck spezielle Sprechstunden, in denen sich Mitarbeiter an ihn persönlich wenden konnten. Ein weiterer Weg, um Unterstützung durch den Direktor zu erlangen, war das Einreichen einer persönlichen Beschwerde, einer Eingabe. Im Archiv des BETRIEBs finden sich Materialien, aus denen hervorgeht, dass Mitarbeiter den Direktor in den unterschiedlichsten Problemlagen, etwa wegen ihrer Wohnsituation, aber auch in Fragen der Aus- und Weiterbildung, direkt um Hilfe ersuchten. Herr Jäger beschreibt die Funktion des Betriebsdirektors einmal im Gespräch folgendermaßen: »Das konnten die Leute aus dem Westen nie verstehen, was ein Betriebsdirektor hier war. Der war nicht nur für den BETRIEB zuständig, der war auch eine Art Bürgermeister.« (TB, 4.12.2002)

Häufig wurden individuelle Lösungen für sehr spezifische Probleme gefunden. So wurde etwa eine junge Mutter täglich mit einer Limousine des Unternehmens nach Hause gefahren. Sie wohnte als einzige Mitarbeiterin in diesem Viertel, während die anderen Mütter kleiner Kinder die werkseigenen Busse für die Heimfahrt nutzen konnten. Die schon zitierte Frau Schönhut wiederum schildert, dass der betriebliche Frauenausschuss einmal einer Mutter von vier Kindern einen Ferienplatz zuteilen wollte, diese aber bedauernd ablehnte, da sie nicht wusste, wie sie mit dem Gepäck und vier Kindern dorthin gelangen könne. Daraufhin wurde sie mit einem betriebseigenen Fahrzeug zum Ferienort gebracht und auch wieder dort abgeholt (tI, 17.9.2003). 9 Frau Schönhut selbst ließ sich für die Pflege ihrer an Krebs erkrankten Mutter in Sachsen für ein halbes Jahr freistellen. Als sie nach dieser »furchtbaren Erfahrung«, wie sie diese belastende Care-Situation im familiären Bereich beschrieb, in den BETRIEB zurückkehrte, war sie »ein ganz anderer Mensch« geworden. In dieser für sie schwierigen Situation suchte sie unter anderem Rat bei ihren Arbeitskollegen und Vorgesetzten. Als Ergebnis diverser solcher Gespräche übernahm sie dann eine weniger belastende Position in einer anderen Abteilung und gewann dadurch ihre persönliche Stabilität zurück. Auch Frau Haupt wandte sich an den BETRIEB, als ihre Mutter, die dort in den letzten zwölf Jahren als Putzfrau beschäftigt war, in Folge eines Schlaganfalls pflegebedürftig wurde. Nachdem die Klinik die Mutter (ohne sie vorher zu informieren), zu ihr nach Hause »auf die Treppe gesetzt hatte«, gelang es Frau Haupt, eine Übergangsphase von vier Wochen in der Bettenstation des BETRIEBs 9

Die Rentnerin Frau Schönhut ist eine Freundin der im der Einleitung zitierten Frau Schlosser und in Abschnitt I.3.2.1 wurde bereits ihr Rückblick auf staatliche soziale Sicherung in der DDR zitiert.

172 | C ARE/S ORGE sicher zu stellen. In den darauffolgenden Monaten bis zu ihrer Einweisung in ein Pflegeheim lebte ihre Mutter zwar wieder in ihrer eigenen Wohnung, bekam aber jeden Tag das Mittagessen aus dem BETRIEB gebracht. Als der Fahrer merkte, dass die Mutter alleine nicht aß, blieb er sogar während des Essens bei ihr (tI, 21.5.2005).10 Da es weit verbreitet war, Vorgesetzte über persönliche Probleme zu informieren, fühlten sich manche Führungskräfte von der Fülle an individuellen Problemlagen – also den an sie herangetragenen Care-Bedürfnissen – überfordert. So sagt beispielsweise ein ehemaliger Abteilungsleiter während des strukturierten Interviews, dass seine frühere Leitungstätigkeit ihn »sehr belastet« habe, weil man ihm »alle Probleme erzählt hat« (Nr. 3, 8.9.2003, 54 Jahre, verheiratet, vier Kinder). Solche engen Bindungen zwischen Hierarchieebenen wurden häufig auch in Verwandtschaftsidiomen ausgedrückt. Frau Haupt bezeichnet beispielsweise die Beziehung zu ihrem Chef, dem Betriebsdirektor, als ein »mehr väterliches Verhältnis«. Sie fügt hinzu: »Und es gab ja doch mal Probleme in der Familie, mit wem willste das besprechen?« Auf die Nachfrage, ob sie solche Angelegenheiten dann mit ihrem Chef besprochen habe, antwortet sie: »Ja das habe ich auch mit Herrn Scheffer besprochen.« Und auf weitere Nachfrage, ob es nicht schwierig sei, persönliche Dinge mit dem Chef zu besprechen, erklärt sie: »Er hat sich um uns sehr gekümmert, muss ich sagen, sehr […]. Er hat sich wirklich um seine Leute, um seine engeren Mitarbeiter gekümmert, familiär auch gekümmert.« (tI, 21.2.2005) Sie selbst dehnte ihre Loyalität auch auf die Ehefrauen ihrer wechselnden Vorgesetzten aus: »Die kam gleich hinter dem Chef, die Frau. Und wenn die sachte: ›Ich will 500g Leberwurst.‹ Na denn kriechte sie 500g Leberwurst.« (tI, 21.2.2005). Diese wiederum holte auch schon mal ihre Kinder aus der Tagesbetreuung, wenn es im BETRIEB Überstunden für Frau Haupt zu machen gab. Angesichts ähnlicher Praktiken gegenseitiger Sorge Inanspruchnahme verwandtschaftlicher Termini in einer Zigarettenfabrik in Tansania ist Fischer (2010) der Ansicht, dass hier tatsächlich Verwandtschaft konstruiert wird. Eine solche Annahme in afrikanischen Ländern mag europäischen Lesern aufgrund der Konstruktion des außereuropäischen »Anderen« möglicherweise eher plausibel, als in einem europäischen Kontext erscheinen. Allerdings wird zwar so die Entstehung von Verwandtschaft ›denaturalisiert›, trotzdem bleibt Care weiterhin ›natürlicherweise› in verwandtschaftlichen Beziehungen lokalisiert (siehe auch Abschnitt I.2.1). Ich möchte an dieser Stelle nicht für eine schlichte Übernahme 10 Der Lebensweg und die privaten Sorgeverpflichtungen von Frau Haupt wurden bereits in Abschnitt I.3.1.3 eingeführt. Sie spielt eine wichtige Rolle der im folgenden Kapitel dargestellten betrieblichen Sorge für Senioren.

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lokaler Benennungen argumentieren, sondern für eine Ausweitung der Perspektive, die die Möglichkeit einschließt, Care auch in anderen Beziehungen zu finden. Sicherlich wird Verwandtschaft durch Sorgepraktiken geschaffen – wie die neuere Verwandtschaftsethnologie vielfach zeigen konnte – aber auch andere Beziehungen können so ihre Bedeutung erhalten. Daher handelt es sich hier um Arbeitsbeziehungen, in die gegenseitige Sorge entsprechend den Erwartungen der lokalen Akteure eingebettet ist. Diese Konstruktion scheint in beiden geographisch weit entfernten Kontexten durch die Arbeitsorganisation in Brigaden gefördert worden zu sein und schließt nicht aus, dass sich die Beziehungen zu Verwandtschaft entwickeln. Daher plädiere ich hier zunächst für die Kategorien der ›sorgenden Vorgesetzten‹ und der ›sorgenden Kollegen‹. Neben rechtlichen und wirtschaftlichen Faktoren förderte auch der ›Zeitfaktor‹ die Entstehung von Care zwischen verschiedenen hierarchischen Ebenen. Viele der späteren Führungskräfte begannen ihre Karriere auf den unteren Ebenen des BETRIEBs und stiegen dann über Jahre hinweg langsam auf. Durch die lange Verweildauer im Unternehmen kannten sie Teile der Belegschaft seit langem und waren umgekehrt auch diesen bereits lange bekannt. Ein häufig geäußerter Kommentar bezüglich früherer Führungskader während der Feldforschung lautet daher: »Wir haben ihn zum Studium geschickt.« Das Zitat drückt einerseits die lange Bekanntschaft und andererseits auch eine beinah elterliche Verpflichtung gegenüber den späteren Vorgesetzten aus. Mit dem Vorgesagten soll nicht bestritten werden, dass Beziehungen am Arbeitsplatz neben emotionaler Sorge auch als Quelle materieller Ressourcen sozialer Sicherung dienen konnten. Auch solche Aneignungen konnten in die Beziehungen zu den Vorgesetzten eingebettet sein. Ein Arbeiter beispielsweise erzählt, dass er die Fliesen für sein Haus mit der Erlaubnis des Direktors bekam, indem er zu einer Firma fuhr, die zuvor Gabelstapler vom BETRIEB geliefert bekommen hatte. Dort angekommen, erwähnte er diese Lieferung und bekam so viele Fliesen, wie er mit seinem Privatauto transportieren konnte. Solche Anekdoten gehören zum gängigen Repertoire der Erzählungen zur sozialistischen Vergangenheit. Das Ausmaß solcher Hilfeleistungen ist naturgemäß schwierig zu erfassen und an dieser Stelle auch nicht das Thema. Wichtig erscheint jedoch der Umstand, dass viele Bedürfnisse, welche in kapitalistischen Ländern als privat verstanden werden, im Sozialismus am und durch den als öffentlich geltenden Bereich des Arbeitsplatzes bearbeitet wurden. Die Care-Beziehung zwischen den ›sorgenden Vorgesetzten‹ und den Untergebenen war dabei kaum durch Hierarchien belastet. Sicherlich haben einige Karrierewege Neid ausgelöst, allerdings waren vor allem die materiellen Vorteile einer Führungsposition eher gering. Obwohl es manche Ressourcen gab, zu

174 | C ARE/S ORGE denen Führungskader besseren Zugang hatten, gab es auch wichtige Ressourcen, welche eher aus unteren Positionen der Hierarchie erreichbar waren. So konnten bezeichnenderweise Personen in Führungspositionen oft nicht in den Westen reisen bzw. hatten ihre möglicherweise existierenden Verwandtschaftsbeziehungen in die Bundesrepublik zu negieren und damit beispielsweise auf Westpakete zu verzichten.11 Die Tatsache, dass untere Angestellte beispielsweise oftmals besseren Zugang zu westlicher Währung und zu westlichen Produkten hatten, relativierte auch das Prestige, welches man in einer höheren Funktion erlangen konnte. Zudem trugen weitere Aspekte der Arbeitsorganisation dazu bei, die Position der höheren Hierarchieebenen als nur bedingt erstrebenswert erscheinen zu lassen. Rottenburg (1991: 318) bezeichnet dies als Abtrennung der Verantwortung von der Ausführung, so dass, wie er einen seiner Interviewpartner zitiert, die Verantwortung »nie an der Stelle gelegen [habe], wo sie hingehört«. Beim Auftreten von Defiziten wären daher stets die »falschen« Personen verantwortlich gemacht worden. Gegen solche etwaigen Anwürfe von höherer Ebene versuchten Führungskader sich der Solidarität von unten zu versichern und sich damit zu schützen (Rottenburg 1991). Zusätzlich verwischte auch die Verwendung des »Du« unter Parteimitgliedern hierarchische Grenzen.12 Während verschiedene instrumentelle Care-Erwartungen rechtlich gestützt waren und die Arbeitsorganisation günstige Bedingungen für emotionale Sorge schuf, war mit politisch interpretierbaren persönlichen Bedürfnislagen ein Grenzbereich gegeben, in dem individuelle Sorge verhandelt wurde. Selbst wenn die DDR-Bürger im Einzelnen nicht genau wussten, wie weitreichend das System der politischen Kontrolle war, wussten sie doch, was man in der Öffentlichkeit sagen konnte und was man besser verschwieg. Im Gegensatz zu anderem Verhalten konnte politisches Fehlverhalten leicht zum Verlust der sozialen Existenzgrundlage führen. In schweren Fällen konnte es Inhaftierung bedeuten, in weniger extremen Fällen doch zumindest den (vorübergehenden) Verlust einer Stellung, wie es sich als Motiv in der Biographie von Herrn Jäger zeigt (siehe 11 Zur Bedeutung der Westpakete und allgemein von verwandtschaftlichen Bindungen über die deutsch-deutsche Grenze hinweg siehe Kapitel II.1. 12 Eine Andeutung, dass die Beziehungen zwischen hierarchischen Ebenen sich eher offen gestalteten, stellt der Verhaltenskodex – wie ihn Engler zitiert – dar (1999: 242). Die Autoren dieses Kodex wollten offensichtlich das unhöfliche Verhalten niederer Ränge gegenüber höheren Angestellten beenden, was Engler als Beleg für die Häufigkeit solcher Vorfälle wertet. Im Gegensatz zur Qualität der sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz ist der hohe Grad an passiver Macht der Arbeiter und Angestellten während des Sozialismus nahezu unstrittig (Kohli 1994: 49).

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seine Kurzbiographie in Abschnitt I.3.1.3). Daher beinhaltete gegenseitige Sorge am Arbeitsplatz immer dann ein Risiko, wenn ein potentielles politisches Problem berührt wurde. Dennoch scheint es auch in solchen Fällen eine Erwartung an den ›sorgenden‹ Vorgesetzten gegeben zu haben. So berichtet etwa Herr Paul, über seine Beziehung zu einem der früheren BETRIEBsdirektoren (dessen Vorgänger er trotz der eigenen niedrigen Stellung als »Kumpel« bezeichnete): »Norbert war ein feiner Kerl. Ich konnte, bin oft zu ihm mal persönlich gegangen, wenn ich Problem hatte, er hat mir immer jeholfen, ne?! Ja, da ich nu keen Jenosse war, und hatte öfter mal mit der Partei Ärger usw. Aber er stand immer hinter mir.« (tI, 29.9.2003)

Herr Paul stellt dar, dass er sich bei Problemen »mit der Partei« an seinen Direktor wenden konnte. In diesem Fall scheint seine Care-Erwartung gut platziert gewesen zu sein, denn der Direktor half ihm trotz des potentiellen Risikos. Man könnte hier eine Freundschaft oder eine Patron-Klienten-Beziehung vermuten, die es erklären würde, warum der Direktor das in ihn gesetzte Vertrauen nicht enttäuschte und sich tatsächlich um ihn sorgte. Im Interview charakterisiert Herr Paul diese Bindung aber weder als Freundschaft noch als Patronagebeziehung, denn er erwähnt keinerlei Gefälligkeiten in umgekehrter Richtung. Ein direkter Vorteil für den Direktor lässt sich hier also nicht erschließen. Dies bestätigt die These von Eisenstadt und Roninger (1984: 158), die Klientilismus in sozialistischen Staaten zwar als systemisches Merkmal bezeichnen, das jedoch auch unbeständig und paradoxerweise eher innerhalb von Machtcliquen als zwischen hierarchischen Ebenen vorzufinden gewesen sei. Während die Sorge zwischen Untergebenen und Vorgesetzten trotzdem ambivalente Züge aufwies, hat die sozialistische Arbeitsorganisation die Entwicklung von Care-Beziehungen zwischen Kollegen einer (unteren) Hierarchiestufe deutlich erleichtert. III.1.2.2 ›Sorgende Kollegen‹ Arbeitsbeziehungen zwischen Kollegen der gleichen hierarchischen Ebene waren ebenfalls durch die schon erwähnten langen Arbeitszeiten und geteilten Erfahrungen geprägt. Zusätzlich steigerte die sozialistische Arbeitsorganisation in Brigaden sowohl die Multifunktionalität von Kollegen als auch deren miteinander verbrachte Zeit. Sozialistische Brigaden wurden offiziell durch die jährliche Unterzeichnung eines Vertrages gebildet. In diesem verpflichteten sich die Mitglieder einer Abteilung oder Arbeitsgruppe zur Teilnahme am Wettbewerb um den Titel einer

176 | C ARE/S ORGE sozialistischen Brigade und die damit verbundene kleine finanzielle Belohnung. Für den Titel (und die Belohnung) sollte nicht nur der Plan erfüllt werden, sondern auch die Bildung und der »kulturelle Standard« der Gruppe gefördert werden.13 Dadurch waren die Brigaden nicht nur mit der Arbeitsorganisation unter ihren Mitgliedern befasst, sondern auch mit einer ganzen Bandbreite anderer Aktivitäten. Diese Aktivitäten waren offiziell erwünscht, formal anerkannt und wurden im sogenannten Brigadetagebuch festgehalten. In 25 solcher Brigadetagebüchern, die im Archiv des BETRIEBs verblieben sind und mir zur Verfügung standen, fanden sich neben Urkunden des jährlichen Sportwettkampfes Glückwunschkarten zu Hochzeiten und Geburten von Kindern der Kollegen. Viele gemeinsame Aktivitäten, wie Grillabende und Ausstellungsoder Theaterbesuche, wurden nicht nur photographisch illustriert, sondern auch sorgfältig mit Handzeichnungen verziert oder in Gedichten beschrieben. Solche Gemeinschaftsaktivitäten schlossen häufig die Ehepartner ein, so dass die jeweilige familiäre Situation der Kollegen bekannt war. Diese Kenntnis wurde manchmal noch gesteigert, wenn die Brigade auch in das Leben der Kinder einbezogen wurde. So unterrichtete in manchen Fällen die Schule die Brigade, wenn Kinder von Mitgliedern besonders gut abgeschnitten hatten. In anderen Fällen konnte die Brigade Nachhilfe in Mathematik oder anderen zumeist technischen Fächern organisieren, wenn das Kind eines Mitglieds in diesen Fächern Schwierigkeiten hatte. Auch die Einbeziehung ehemaliger Kollegen erhöhte die Integrationsfunktion der Brigaden (siehe auch folgendes Kapitel). Sicherlich hat nicht jeder (gern) in gleichem Ausmaß an solchen Aktivitäten teilgenommen, aber für die meisten wurden diese informellen Treffen zum Mittelpunkt des Brigadelebens (Roesler 1994; Engler 1999). Dazu gehörten auch Sorgepraktiken, wie etwa Hilfe beim Umzug oder bei Renovierungsaktionen eines ehemaligen Kollegen. Diese wurden genauso im Tagebuch notiert, wie die aus eher politisch opportunen Anlässen gemeinsam verbrachte Zeit, die »freiwillige« Arbeit an Wochenenden14, die Demonstration 13 Die ersten Brigaden wurden in der DDR in den späten 1940er Jahren gegründet, doch stieg die Mitgliederzahl erst in der Regierungszeit Honecker beträchtlich an. 1988 zählten die letzten offiziellen Statistiken 5,5 Millionen Mitglieder in 310.000 Brigaden, was 63 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung entsprach. Mit der Zeit wurde der Titel der sozialistischen Brigade mehr und mehr inflationär vergeben. Zum Ende der DDR erreichten ihn 85 Prozent aller Brigaden und bekamen die damit einhergehende geringe finanzielle Bonuszahlung (Roesler 1994: 145). 14 Solche »freiwillige« Arbeit, nach dem russischen Vorbild auch subbotnik genannt, wurde durch das Nationale Aufbauwerk organisiert und meistens an Samstagen durchgeführt (siehe auch Kapitel I.3.2.1).

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zum »Tag der Arbeit« oder die Herstellung einer Wandzeitung zum Thema der deutsch-sowjetischen Freundschaft. Wie auch immer diese Aktivitäten rückblickend bewertet werden (und das unterschied sich durchaus erheblich bei meinen Gesprächspartnern) – sie schufen multifunktionale Beziehungen zwischen Kollegen. Diese Aktivitäten kamen zu den ohnehin schon langen Arbeitszeiten hinzu. Wochen-, Jahres- und lebenslängliche Arbeitszeiten waren im Durchschnitt in der DDR höher als in anderen (sozialistischen und nicht-sozialistischen) europäischen Ländern (Winkler 1990: 202-203). Die lange und zu unterschiedlichsten Gelegenheiten miteinander verbrachte Zeit kann als eine Vorbedingung für das Entstehen von Care am Arbeitsplatz gelten. Viele persönliche Angelegenheiten diskutierte man mit Kollegen und diese wurden oft um Rat gefragt.15 Dieses »Reden über jeden Scheiß«, wie ein Bekannter es einmal ausdrückte, oder die Entwicklung der Brigaden zu »Zentren der Kommunikation«, wie Roesler (1994: 162)16 es fasst, könnte ein Grund dafür sein, dass sie nicht wie so viele andere Formen des sozialistischen Wettbewerbs verschwanden. Problematischer als emotionale und praktische Sorge erscheint auch im Fall der Arbeitsbeziehungen auf der gleichen hierarchischen Ebene die Erwartung an Care in politisch sensiblen Fragen. So wurde beispielsweise die Erwartung der Mutter von Herrn Wolf an ihre Kollegen enttäuscht. Sie wollte damals ihre im Sterben liegende Schwester in der Bundesrepublik für einen Tag besuchen, erhielt aber keine Reiseerlaubnis. Sie versuchte es wieder und wieder, bis sie sich schließlich weigerte, ihren Beruf als Lehrerin weiter auszuüben. Sich an diese Ereignisse erinnernd, erzählt sie, dass sie für ihre Kollegen aus ihrer Sicht immer »alles gemacht hatte« und diese ihr nun nicht halfen (TB 30.3.2004).17 Zwar gehen aus diesen Ausführungen ihre konkreten Erwartungen nicht hervor, aber sie deuten dennoch auf die Bedeutsamkeit von Arbeitsbeziehungen hin. Zum einen ist es interessant, dass Frau Wolf Hilfe in einem politisch sensiblen 15 In Netzwerkinterviews gaben 52 Prozent der Befragten rückblickend an, dass sie mit ihren Kollegen über Probleme am Arbeitsplatz gesprochen hätten und 22 Prozent sagten aus, sie hätten Kollegen bei schwierigen persönlichen Problemen um Rat gebeten. Für Soziologen, die von einer geringen Bedeutung von Arbeitsbeziehungen ausgehen, sind solche Resultate erstaunlich (Diewald 1995: 237-238). 16 Laut soziologischer Forschung unterschied sich die hohe kommunikative Bedeutung des Arbeitsplatzes nicht sonderlich zwischen den unterschiedlichen beruflichen Positionen bzw. Einkommensgruppen (Diewald 1995: 245). 17 Der Lebensweg von Herrn Wolf wurde in Abschnitt I.3.1.3 vorgestellt, das die Sorgepraktiken seiner Eltern für ihren Enkelsohn im vorangegangenen Kapitel II.2. Zu Besuchen bei Verwandten in der BRD siehe auch Kapitel II.1.

178 | C ARE/S ORGE Bereich nicht von Freunden oder Verwandten erwartete, sondern von Kollegen. Ihre ausgesprochen deutliche Enttäuschung richtete sich dementsprechend nicht zuvorderst gegen die politischen Autoritäten, die ihren Antrag ablehnten, sondern gegen die Kollegen, die ihre Care-Erwartung enttäuschten. Davon emotional tief getroffen, bricht sie diese Bindungen ab. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Care und der Aufbau bedeutsamer Bindungen in einem Unternehmen der DDR nicht nur durch die Einschränkungen des ökonomischen Systems (Mangel an Gütern und Dienstleistungen) erleichtert wurde, sondern auch durch die offiziellen Anforderungen (Verantwortlichkeit der Unternehmensleitung für persönliche Probleme der Mitarbeiter, Unterstützung sozialer Aktivitäten in Brigaden). Obwohl die Implementierung der Care-Erwartungen in Arbeitsbeziehungen durch die Unterzeichung des jährlichen Kollektivvertrages teilweise ritualisiert wurde, implizierte dies nicht zwangsläufig Verwandtschaftsbeziehungen. Zudem wurden diese Beziehungen nicht als Freundschaften bezeichnet oder dargestellt. Auch zwischen hierarchisch unterschiedlichen Ebenen richtete sich Care in Arbeitsbeziehungen trotz des Fehlens von Freiwilligkeit und Symmetrie in ihrer Wahl auf die Befriedigung praktischer wie emotionaler Bedürfnisse. Care in Arbeitsbeziehungen wurde offiziell durch das System bestärkt. Gegenseitige Hilfe war als ein positiv evaluiertes Merkmal des »neuen sozialistischen Menschen« anerkannt und wurde nicht als etwas »am System vorbei« verstanden, wie es manche Sozialismus-Analysen nahelegen. Im Gegensatz zur oben behandelten einschlägigen Literatur (Abschnitt I.3.1) entwickelten sich diese Beziehungen also nicht trotz oder im Gegensatz zum, sondern in Übereinstimmung mit dem offiziellen System. Dementsprechend sind es nicht die nichtvertraglichen Beziehungen, die die Vertragsbeziehungen in der Kompensation für wirtschaftliche Mängel ergänzten, wie etwa Rottenburg (1991) argumentiert. Vielmehr sind es gerade die Vertragsbeziehungen (Brigaden), die (unintendiert) Care zwischen Individuen auf der Mikroebene ermöglichten. Wie jedoch veränderten sich diese Sorgebeziehungen mit der politischen und ökonomischen Transformation?

III.1.3. V ERLUST BEDEUTSAMER B INDUNGEN ARBEITSPLATZ

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Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten stellte sich nach 1989 das Problem, die entstandenen Bindungen und Sorgepraktiken umzudeuten oder auch aufzulösen. Unter den charakteristischen demographischen und ökonomi-

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schen Entwicklungen der doppelten Transformation beeinflussten einige auch die Veränderung von Bindungen am Arbeitsplatz. Vor allem die Erfahrungen einer beschleunigt eintretenden Arbeitslosigkeit sowie Veränderungen in den betrieblichen Funktionen erweisen sich als ausschlaggebend für die notwendige Neuverhandlung. So weist etwa Rottenburg (1992: 267) darauf hin, dass durch die Umstellung ehemaliger VEB auf kapitalistische Logiken die »meisten fundamentalen Orientierungen« der Beschäftigten in den neuen Bundesländern »ihre Funktion und den Boden verloren«.18 Diese umfassenden Veränderungen spiegeln sich auch in den Gesprächen während der Feldforschung in SEESTADT wider. So sagt etwa eine Angestellte im strukturierten Interview auf die Frage nach der Veränderung persönlicher Beziehungen, dass sich der Kreis ihrer persönlichen Beziehungen nach dem Sozialismus verkleinert habe. Für diese Entwicklung führt sie zwei Gründe an: zum einen berufsbedingte Wegzüge und zum anderen den Verlust ehemaliger Kollegen, die arbeitslos geworden waren (I Nr. 7, 18.9.2003, 41 Jahre, verheiratet). Diese Äußerung zeigt bereits, dass nicht nur diejenigen, die ihre Arbeit verloren, Verlusterfahrungen machten, sondern auch diejenigen, die ihren Arbeitsplatz behielten, aber die Entlassung von Kollegen erlebten. Dieser Verlust wiegt umso schwerer, da in diese Arbeitsbeziehungen vielfältige Formen von Care eingebunden gewesen waren. Entlang der neuen ökonomischen Unsicherheiten musste die Anerkennung neuer Bedürfnisse sowie Verantwortungszuschreibungen für Care (nach Tronto das caring about und das taking care of) verhandelt werden. Mit den Veränderungen im politischen und ökonomischen System wandelte sich auch der Charakter von Unternehmen. Im Gegensatz zu dem »Bürgermeister« im BETRIEB, wie Herr Jäger oben die Aufgaben eines VEB-Direktors in der DDR beschrieben hat, lautet die Hauptaufgabe eines Geschäftsführers nach der Wende, den ökonomischen Erfolg des von ihm geleiteten Unternehmens sicherzustellen. Dagegen werden betriebliche Care-Leistungen und die Abdeckung nun als privat definierter Bedürfnisse der Mitarbeiter eher nachrangig. Wohnraumsorgen oder Sorgeverpflichtungen gegenüber Kindern oder kranken Angehörigen, wie sie oben geschildert wurden, fallen nun nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich eines Geschäftsführers und sollten außerhalb des Arbeitsplatzes gelöst werden (Rottenburg 1994). Diese Veränderungen in der ideologischen und rechtlichen Schicht sozialer Sicherung zogen zunächst einen Verlust der vorher sinnvollen Einbettung an Care-Erwartungen in Beziehungen am Arbeitsplatz nach sich. In den folgenden Abschnitten stehen zunächst die Veränderungen von Care zwischen Akteuren unterschiedlicher Hierarchieebenen im Blick18 Zu den lokalen Bedingungen der Transformation in SEESTADT siehe Teil III dieser Studie.

180 | C ARE/S ORGE punkt, bevor die sich wandelnden Bindungen zwischen Kollegen einer Ebene analysiert werden. Die zu Beginn des Kapitels konstatierte Verlusterfahrung wird durch die allgemeine Unvertrautheit mit den neuen Bedingungen sowie durch die Verschiebung der Risiken strukturiert. Während der vorangegangene Abschnitt vor allem auf Sekundärliteratur und Archivmaterialien beruhte, werden im nächsten Abschnitt überwiegend Daten aus der teilnehmenden Beobachtung und den Interviews als Materialgrundlage herangezogen. Wenn meine Gesprächspartner aus SEESTADT ihre Interpretation der Gegenwart formulieren, ist ihr Referenzpunkt oft die Zeit vor der Vereinigung. Ihre Beschreibungen dieser Vergangenheit mögen historisch manchmal ›nicht korrekt‹ sein, sie zeigen aber, wie die neuen Unsicherheiten erfahren werden. III.1.3.1 Neuverhandlung von Care zwischen hierarchischen Ebenen Erste Hinweise auf eine Veränderung in der Verantwortungszuschreibung ergeben sich aus den Antworten in den strukturierten Interviews. Auf die Frage, mit wem sie über Probleme am Arbeitsplatz sprechen würden, geben nur vier der 23 Befragten an, mit dem jeweils nächst höheren Vorgesetzten zu sprechen. Drei der Interviewten würden mit dem Betriebsrat sprechen, davon einer explizit nicht über persönliche Themen. Ein Befragter sagt ausdrücklich, er würde »heute nicht mehr« mit einem Vorgesetzten über Probleme sprechen. Hinsichtlich des Wandels der Beziehungen zwischen verschiedenen hierarchischen Ebenen lassen sich zwei Fragen formulieren. Erstens. Wie haben sich die Beziehungen zwischen ehemaligen Leitungskadern und ihren früheren Untergebenen verändert? Und zweitens: Wie wird die Beziehung zwischen neuen Vorgesetzten und ihren Angestellten verstanden? Hinsichtlich der Beziehungen zwischen ehemaligen Vorgesetzten und ihren damaligen Mitarbeitern zeigen die Daten nur wenige Veränderungen in den Care-Erwartungen. Ehemalige Beschäftigte kontaktieren weiterhin ehemalige Vorgesetzte, um über persönliche Probleme zu sprechen. So berichtet beispielsweise ein bereits pensionierter Direktor des BETRIEBs, ihn habe an einem Wochenende ein ehemaliger Arbeiter in seinem Kleingarten aufgesucht. Schon diese Situation verweist auf eine gewisse Vertrautheit des ehemals Untergebenen mit den Gewohnheiten seines ehemaligen Chefs, dessen Alltagsleben sich trotz seines verhältnismäßig guten Einkommens nicht sehr verändert hat.19 Obwohl er 19 Da er nach der Wende noch einige Zeit zunächst im Amt und erwerbstätig blieb, waren seine materiellen Verhältnisse relativ gut.

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sowohl eine staatliche wie auch eine Betriebsrente erhielt, zog er nach der Wende weder aus seiner Wohnung im sozialistischen Plattenbau aus noch gab er seinen Hobbygartenanbau auf.20 Der Arbeiter wollte mit ihm über seine persönlichen Probleme mit der »neuen Zeit« sprechen. Laut dem früheren Direktor haben die Probleme dieses Rentners nichts mit seiner ökonomischen Situation zu tun, sondern es bereitet ihm Probleme, dass »sich alle Leute verändert haben« (TB 9.9.2003). Obwohl der frühere Arbeiter ihn in einer eher persönlichen Angelegenheit angesprochen hatte, deutet der Direktor keine weitere Freundschaft zwischen ihnen an. Neben der ausdrücklichen Unsicherheit angesichts der veränderten sozialen Beziehungen zeigt diese Schilderung auch, dass der frühere Chef immer noch als Person wahrgenommen wurde, mit der man über persönliche Angelegenheiten spricht. In diesem Fall sind die beiden Beteiligten nicht mehr erwerbstätig, und so hat sich ihre Bindung kaum geändert. Anders gestaltet sich die Beziehung zwischen immer noch erwerbstätigen ehemaligen Vorgesetzten und ihren ehemals Untergebenen. Ein früherer leitender Angestellter erzählt im Verlauf eines strukturierten Interviews etwa, dass »seine« damaligen Arbeiter ihn häufig nach Informationen über das, »was abgeht im Hochhaus« fragten (I Nr. 3, 8.9.2003, 54 Jahre). Während er nach der Wende auf einen Verwaltungsposten im Hauptgebäude wechselte, arbeiten sie weiterhin auf den Außenanlagen, nutzen aber die etablierte Bindung zum Erhalt von Informationen. An diesem Beispiel lässt sich eine erste Verschiebung der Bedürfnisse nach der Wende ablesen und der Art und Weise, wie sie sich im Inhalt der Beziehung zwischen den hierarchischen Ebenen ausdrückt. Die Arbeiter sprechen den ehemaligen Chef zwar immer noch an, aber mit anderen Fragen als früher. »Neuigkeiten im Hochhaus« könnten eine neue Entlassungswelle bedeuten über die sie nach Möglichkeit früh informiert sein wollen. Während es in seinem Fall fraglich ist, ob er tatsächlich über geeignete Informationen verfüge, setzen manche Akteure ihre Bindungen zu ehemaligen Vorgesetzten durchaus erfolgreich für die Bewältigung neuer Problemlagen ein. So schaffte es etwa Frau Haupt über ihren letzten »Sozialistenchef«, wie sie sagt, der zu dieser Zeit noch im Westen der Republik erwerbstätig war, eine Stelle für ihre seit acht Monaten arbeitslose Tochter zu besorgen. Sie kommentiert: »Das 20 Dies scheint ein eher typisches Muster unter den früheren Führungsfiguren des Unternehmens zu sein. Räumliche Segregation als Teil der neuen sozialen Differenzierung ist eher ein Thema unter den Angehörigen der jüngeren Generation. Von diesen empfinden einige auch einen sozialen Druck umzuziehen, wie etwa die persönliche Assistentin von Herrn Jäger: Sie wohnte in einem der sozialistischen Plattenbauten und kommentiert: »Ich mochte es da, aber als alle sagten: wie kannst Du da noch leben? Da sind wir umgezogen.« (TB 13.3.2003)

182 | C ARE/S ORGE war ganz beschissen, aber wenn man ne Weile drüber nachdenkt, dann findet man Beziehungen.« (tI 21.5.2005) Die Beispiele zeigen, dass sich nicht alle früheren Sorgebeziehungen und verpflichtungen aufgelöst haben. Vielmehr ist der oder die frühere Vorgesetzte immer noch eine Ansprechperson bei persönlichen Problemlagen, eine Person, an die eine auf früheren Erfahrungen begründete Care-Erwartung gerichtet wird. Auf der anderen Seite zeigen beide Erzählungen einen Verlust an Vertrautheit mit der neuen Situation, etwa wenn nicht mehr ganz sicher erscheint, wer eigentlich über die nötigen Ressourcen verfügt. Hinzu kommt vor allem in den Beziehungen zu neuen Vorgesetzten eine normative Ambivalenz bzw. die Notwendigkeit, die soziale Anerkennung von Bedürftigkeit und Care-Verpflichtungen neu auszuhandeln. Im Gegensatz zu Bindungen mit früheren Führungskadern enthalten die Beziehungen zu neuen Vorgesetzten aus Sicht der Mitarbeiter das ständige Risiko der Entlassung. Diese Wahrnehmung mag übertrieben erscheinen, wird aber vor dem Hintergrund der Erfahrung der Entlassungswellen in den frühen 1990er Jahren verständlich. Auch die Angestellten erinnern sich an diese Vorgänge als Tragödie und die Risikowahrnehmung wird durch die wiederholten Aussagen seitens der Geschäftsführung zur Überbeschäftigung im BETRIEB noch verstärkt. In dieser Situation wurde Arbeitslosigkeit zu einer neuen anerkannten Bedürfnislage, für deren Bewältigung nicht nur die Betroffenen selbst zuständig waren. Die Reaktion auf die veränderte Bedürfnislage wird von meinen Gesprächspartnern als neue Aushandlung von Sorge beschrieben. Nachdem in einem kapitalistischen Unternehmen Geschäftsführer und andere leitende Angestellte nicht mehr für die Sorge der nun als ›privat‹ definierten Bedürfnislagen ihrer Angestellten verantwortlich sind, wenden sich diese mit Problemen bezüglich ihrer Wohnsituation, ihrer Arbeitswege oder eventueller Sorge für kranke Angehörige nicht mehr an ihre Vorgesetzten. Nichtsdestoweniger – und das spiegelt eine der neuen Bedürfnislagen – werden im Fall von Arbeit suchenden Verwandten Geschäftsführer oder Abteilungsleiter durchaus angesprochen wie beispielsweise die folgende Vignette demonstriert. Als ich im Sommer 2003 das Personalbüro betrete, nimmt die Personalsachbearbeiterin Frau Schmidt-Hauser gerade ein paar Papiere von ihrem Tisch. Aufblickend kommentiert sie: »Sehen Sie, hier ist schon wieder eine Bewerbung für eine Ausbildung von der Tochter einer Mitarbeiterin. Ich kann sie nicht nehmen, weil unser Chef keine Familienmitglieder mehr will.«

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Im September, als die Berufsausbildungen beginnen, bin ich daher überrascht, die fragliche junge Frau als neue Auszubildende anzutreffen. Daraufhin wird mir erklärt, ihre Mutter habe ein persönliches Gespräch mit dem Geschäftsführer geführt und es sei nicht das erste Mal, dass ein solches »geholfen« habe.

In diesem Fall haben sich zwar die offizielle Unternehmenspolitik und die Bedürfnisse geändert, doch bleibt die persönliche Beziehung zu Vorgesetzten eine wichtige Ressource für Problemlösungen. Bei dieser instrumentellen Form der Sorge, die sich darauf richtet, das Bedürfnis nach einer bezahlten Arbeit zu befriedigen, ist der Einsatz solcher ›öffentlicher‹ Beziehungen manchmal auch mit ›privaten‹ Care-Erwartungen verbunden. So wurde Herr Grabbin ebenfalls auf Drängen auf Drängen der Großmutter mütterlicherseits seines Kindes, Frau Berg, eingestellt. Obwohl sie ihm nicht immer nur wohlgesinnt ist, wollte sie so sicherstellen, dass er zumindest einen finanziellen Beitrag zur Sorge für seinen Sohn in der Lage zu leisten ist: »Nur deshalb hab‘ ich ihm den Job besorgt.« (TB 12.12.2003)21 Nachdem sie von ihm kaum noch ein direktes giving of care im Sinne von Tronto (1993) erwartete, ermöglicht sie zumindest eine ›Übernahme von Verantwortung‹ als männlicher Brotverdiener. In diesem Sinne kann die Hilfe für ihn auch als Care für ihre Tochter (und ihr Enkelkind) verstanden werden, für die sie ihre Bindungen am Arbeitsplatz nutzt. Neben der Übertragung ›alter‹ Care-Praktiken auf neue Bedürfnisse deutet sich in diesen Praktiken eine neue Verantwortung für familiäre Sorge an. Diese Einbettung eines neuen Care-Bedürfnisses in gewissermaßen alte Beziehungsmuster wird jedoch sehr ambivalent bewertet. So scheinen meine Gesprächspartner in den strukturierten Interviews angesichts der Frage, wie sie zu ihrer Stelle gekommen seien, durchgängig beinahe beleidigt zu sein und antworten, dass sie sich auf normalem Wege beworben hätten. Die in der Frage (unabsichtlich) implizierte Instrumentalität persönlicher Beziehungen wird also negiert und moralisch abgelehnt. Während persönliche Beziehungen in kapitalistischen Ländern durchaus als wichtige Informationsquelle für freie Stellen bekannt sind (Granovetter 1973), erscheinen sie in der Interpretation meiner Gesprächspartner als moralisch zweifelhaft oder gar korrupt. Sie sehen (einschließlich der Mutter der betreffenden Auszubildenden, mit der ich bei späterer Gelegenheit ebenfalls sprechen konnte) eine instrumentelle Nutzung von Beziehungen im Gegensatz zur sozialwissenschaftlichen Analyse postsozialistischer Verhältnisse wie sie in Abschnitt I.3.1 dargestellt wurde, als neues Phänomen, als etwas, das man im Sozialismus nicht getan hätte. 21 Siehe dazu auch die Darstellung der Sorge für das Kind im vorigen Kapitel sowie die Einführung zu seiner Person in Abschnitt I.3.1.3.

184 | C ARE/S ORGE Trotz dieser moralischen Ablehnung haben die meisten der insgesamt wenigen Neueinstellungen nach der Wende eine enge verwandtschaftliche Beziehung zu einem Unternehmensangestellten. Die gilt speziell im niedrig qualifizierten Bereich, für den bei der Übernahme eines Unternehmensteils von einem anderen Betrieb im Jahr 2003 eine Gruppe neuer Mitarbeiter eingestellt wurde – mit Ausnahme einiger erfahrener Arbeiter aus dem Unternehmen, das bis dahin diese Dienste angeboten hatte. In diesem männlich dominierten Arbeitsbereich handelt es sich bei den Neueinstellungen um Söhne, Schwiegersöhne oder Ehemänner weiblicher Angestellter. Entsprechend kommentiert Herr Wolf jun. dies mit den Worten: »Wenn Sie mal in unserer Firma nachgucken, die sind ja alle verschwägert, verwandt jetzt mittlerweile schon.« (tI, 31.3.2004) Während das Bedürfnis nach einem Arbeitsplatz sozial anerkannt ist, ist es diese Form der Sorge, also das Beschaffen eines Arbeitsplatzes über eine bedeutsame Beziehung, (noch) nicht.22 Als z.B. eine weibliche Abteilungsleiterin und langjährige Betriebsratsvorsitzende es schafft, ihre langzeitarbeitslose Tochter in der erneut vom Unternehmen selbst geführten Kantinenküche unterzubringen, kommentiert sie in resigniertem Tonfall: »Das ist ja heute so.« (TB 9.12.2005) Einerseits ist sie froh, dass ihre Tochter nun doch noch einer Erwerbstätigkeit nachgehen konnte (nachdem sie dies einige Monate vorher noch für ausgeschlossen gehalten und sie als Teil der »verlorenen Generation« bezeichnet hatte), andererseits aber zeigt sie ein Unbehagen angesichts der Umstände zu dieser Lösung. Wie im erwähnten Fall der Auszubildenden, geschehen diese Einstellungen nicht nur im Gegensatz zur offiziellen Unternehmenspolitik, sondern auch zu den Vorstellungen ›richtiger‹ Formen der Sorge. Mitarbeiter, die es nicht geschafft haben, einem Familienmitglied dergestalt zu helfen, interpretieren ihren Misserfolg dementsprechend als Folge ihrer schwachen Beziehungen zu den verantwortlichen Personen. Argumente, die nicht mit Beziehungen zu tun haben, wie etwa die individuelle Leistung spielen in diesen Wahrnehmungen keine Rolle. Im Gegensatz zu den gängigen sozialwissenschaftlichen Interpretationen postsozialistischer »Vetternwirtschaft« (siehe Abschnitt I.3.1) werden diese instrumentellen Vorteile verwandtschaftlicher Bindungen jedoch als Neuerung nach den Reformen erlebt. Zudem deutet sich an, dass zwar ›öffentliche‹ Beziehungen weiterhin wichtig bleiben, aber zur Befriedigung des Bedürfnisses nach Erwerbstätigkeit die Bedeutung des Vorhandenseins verwandtschaftlicher Bindungen steigt. Eine weitere Bedeutungssteigerung erfahren familiäre Bindungen durch die Auflösung bedeutsamer Bin-

22 Siehe auch Kapitel II.2 zur großelterlichen Sorgepraxis als Form Berufstätigkeit zu ermöglichen.

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dungen auf derselben hierarchischen Ebene, wie im nächsten Abschnitt deutlich wird. III.1.3.2 Verschiebung von Care und Auflösung von Bindung Auch auf die Veränderungen in den Bindungen zwischen Kollegen auf der gleichen hierarchischen Ebene liefern die Daten der strukturierten Interviews erste Hinweise. Im retrospektiven Teil der Netzwerkfragen nennen in den 23 Interviews die Befragten in 16 Fällen Arbeitskollegen als Personen mit denen sie in der DDR-Zeit ab und zu ausgegangen seien. Zweimal werden Kollegen als Personen angeführt, die man um Hilfe bei kleineren Arbeiten im oder am Haus gebeten und je einmal als Personen, mit denen man Eheprobleme besprochen hätte bzw. mit denen ein regelmäßiger Kontakt bestand. Im Teil zur derzeitigen Situation werden Arbeitskollegen dagegen weit weniger erwähnt. Nur ein Befragter gibt an, gelegentlich mit Kollegen auszugehen und ebenso nannte lediglich eine interviewte Kollegin als Antwort auf die Frage, mit wem man sonst noch einmal im Monat Kontakt habe. Einmal werden Kollegen als Kategorie auf die Frage: »Wer ist sonst noch wichtig?« aufgeführt und nur eine Person teilt mit, in den zurückliegenden sechs Monaten wichtige Probleme mit Arbeitskollegen besprochen zu haben. Auch Herr Wolf jun. beschreibt im strukturierten Interview als einschneidende Veränderung nach der Wende, »dass es keine Freundschaft mehr gibt, also ich sach ma‘, dass man hier mit den Kollegen [nichts mehr] unternimmt.« (Nr. 17, 22.9.2003 zu seiner Person siehe auch Abschnitt I.3.1.3 und Kapitel II.2) Mit wem aber werden heutzutage wichtige Probleme besprochen, von wem emotionaler Beistand oder praktische Sorge erwartet? In der Interpretation der Angestellten ist es vor allem die Angst vor Arbeitslosigkeit, die zu veränderten Beziehungen zwischen Kollegen führt. Wie oben dargelegt, war der Inhalt persönlicher Bindungen am Arbeitsplatz im Sozialismus überaus vielschichtig. Dieses Merkmal von Arbeitsbeziehungen veränderte sich mit der Wende dramatisch. Das neue Risiko der Arbeitslosigkeit beeinflusst nicht nur die Beziehung zwischen verschiedenen hierarchischen Ebenen, sondern hat auch Effekte auf die Beziehungen auf derselben Ebene. Die Arbeitsbrigaden, die eine wichtige Funktion als Zentren persönlicher Kommunikation hatten und eine der wenigen stabilen organisatorischen Merkmal der DDR waren, lösten sich erstaunlich schnell und leise nach der Wende auf. Roesler (1994: 163) argumentiert, dass dies in dem Glauben geschah, dass die Aufgabe der Brigaden der Preis wäre, der für den erwarteten höheren westdeutschen Lebensstandard zu bezahlen sei.

186 | C ARE/S ORGE Meine Gesprächspartner erzählen, dass sie in der Vergangenheit mehr mit ihren Kollegen gesprochen hätten, darauf vertrauend, dass diese die persönlichen Informationen nicht gegen sie verwenden würden. In dieser Hinsicht beschreibt eine frühere Lehrerin, die zum Zeitpunkt der Forschung einem Amt der Stadt vorsteht, die Veränderungen in der Beziehung am Arbeitsplatz als nun weniger geprägt durch persönlichen Austausch. Sie beginnt mit der Feststellung, dass sie die organisierten Feierlichkeiten der DDR zwar grundsätzlich nicht mochte, sie aber als Gesprächsgelegenheit geschätzt habe: »Eben auch mal mit jemanden reden zu können, und, und zu wissen, o.k. das ist mein Kollege und der will mir nichts Böses. Das hat sich, das hat sich geändert, das muss ich sagen, sehr deutlich geändert. Man kann das heute auch noch, aber man überlegt sich mehr, wem sag ich was und dahinter ist der Gedanke, wenn ich dem zu viel sage, dann ähm, könnte das meinem Image schaden zum Beispiel.«

Auf Nachfrage fügt sie hinzu: »Man hat seinen Kollegen durchaus noch genauso gerne, aber er is‘ ja, er ist Konkurrent geworden.« (tI, 17.3.2003, Betonungen in der Sprache hervorgehoben)

In ihrer Wahrnehmung war ein Kollege im Sozialismus also jemand, der ihr nicht schaden wollte, während dies einem heutigen Kollegen zuzutrauen sei. Diese Äußerung zeigt einerseits, dass sich die Erwartung über die Motivation des Gegenübers verschoben hat. Andererseits wird deutlich, dass der Kommunikationsinhalt unsicher geworden ist. Auch in der DDR konnte man nicht sagen, was man wollte, aber die Grenzen waren bekannt: Mit der Wende haben sich die Grenzen des Sagbaren verändert und sind nun nicht mehr vertraut. Auf jeden Fall aber wird die Angst vor der Entlassung für die Verschlechterung der Beziehungen unter Kollegen einer Ebene verantwortlich gemacht. So bemerkt Herr Wolf jun. das Verhalten seiner Kollegen sei durch »Hass und Eifersucht« geleitet. Auch bei Gewerkschaften und Betriebsräten sieht er Furcht als handlungsleitend an: »Also, ich halt von Gewerkschaften nichts, und hier im Osten von Betriebsräten auch nichts. Muss ich ganz ehrlich sagen, weil hier im Osten ist eindeutig das Problem, die ham alle Angst. Und diese Angst, weil wir DDR-Leute das nicht kennen mit Arbeitsplatz und so. Und diese Angst resultiert, dass sie alle kuschen, kratzen und jeder versucht da seine Position [zu halten]. Sie ham ja Angst im Betriebsrat, sie ham Angst, dass wenn sie mal

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gegen den Arbeitsgeber was sagen, dass das retour kommt, wenn nachher später mal nicht gewählt werden und das ist das Problem ganz einfach.« (tI, 31.3.2004)

Ähnlich schildern Frau Schönhut und ihre Freundin Frau Schlosser im Gespräch zunächst, dass Arbeitsbeziehungen im Sozialismus durch Vertrauen und Austausch geprägt gewesen seien, wohingegen nach der Wende die Angst vor Arbeitslosigkeit die Bindungen verändert habe. Im Anschluss stellen sie klar, dass ihre politischen Standpunkte weder heute noch in der Vergangenheit dieselben waren oder sind. Frau Schönhut, die ältere der beiden und bereits Rentnerin, bezeichnet sich selbst als »Rote«, während Frau Schlosser dem Sozialismus kritischer gegenüber steht. Trotzdem sind beide der Überzeugung, dass sie sich während des Sozialismus unter Kolleginnen alles sagen konnten, ohne dass es gegen sie verwendet worden wäre, wie dies in der eingangs zitierten Passage bereits zum Ausdruck gekommen ist: »Damals hatte man den Zusammenhalt und man konnte das untereinander, sage ich mal, man konnte so seinen ganzen Frust untereinander austauschen. Man konnte wirklich so sein Herz ausschütten und da ist trotzdem nichts passiert. Jetzt steht aber jeder mit seinem Elend alleine da und wer nicht gerade in der Familie den Halt hat, also auf Arbeit kann man das jetzt nicht mehr.« (tI 17.9.2003)

Im weiteren Verlauf des Interviews zählt Frau Schlosser dann Themen auf, über die sie mit ihren jetzigen Kollegen nicht mehr sprechen könne: Krankheit von Familienmitgliedern, Eheprobleme oder Wohnortwechsel. Bezüglich des Wohnortwechsels führt sie eine Kollegin an, die umgezogen sei, ohne dass eine der Kolleginnen davon gewusst habe. Sie erklärt weiter, dass ein Umzug (wie alle anderen Themen) bedeuten könnte, dass man vielleicht »den Kopf mit anderen Dingen als der Arbeit voll habe«, was wiederum dazu führen könne, dass man die Nächste sei, die entlassen würde. Wenn Kollegen als Quelle emotionaler Sorge entfallen, stellt sich die Frage, mit wem in der Forschungsperiode Probleme besprochen werden. Das angeführte Zitat von Frau Schlosser enthält bereits den Hinweis auf »Unterstützung in der Familie«. Die angedeutete Verlagerung wird noch deutlicher von einem männlichen Angestellten geäußert: »Früher habe ich mehr Zeit mit meinem Kollegen verbracht als mit meiner Frau; da haben wir über alles Mögliche gesprochen.« Heute geht das seiner Ansicht nach nicht mehr, weil »man sich nicht mehr so traut wie früher, sich zu beschweren.« Und so spricht er nicht

188 | C ARE/S ORGE mehr mit seinen Kollegen, sondern bespricht Arbeitsprobleme mit seiner Frau (TB 15.8.2003).

Seine Äußerung deutet auf die wachsende Bedeutung der Kernfamilie für Problemlösungen aller Art hin. Wie im Falle von Arbeitslosigkeit wenden sich die Akteure auch im Fall emotionaler Sorge nicht an Freunde, sondern an ihre Familienmitglieder. Das Bedürfnis nach sozialer Geselligkeit hingegen verlagert sich zunehmend von Arbeitsbeziehungen weg auf Freunde und Bekannte. Diese Entwicklung findet sich im bereits eingangs zitierten Interview mit einem männlichen Angestellten des BETRIEBs wieder. Auf die retrospektive Frage, mit wem er ab und zu ausgegangen sei, nennt er das Kollektiv, während er – nach der heutigen Situation gefragt – auf die gleiche Frage seinen Freundeskreis erwähnt (I Nr. 4, 11.9.2003, 46 Jahre, ledig, keine Kinder, siehe auch Eingangszitat zu diesem Kapitel). Für manche meiner Gesprächspartner sollen Arbeitsbeziehungen generell keine privaten Gespräche und Aktivitäten mehr beinhalten. Eine Angestellte (41, verheiratet, ein Kind) äußert sich in dieser Hinsicht sehr bestimmt: »Wenn man zusammen arbeitet, sollte man keine privaten Kontakte pflegen.« Aber ebenso sagt sie: »Die Arbeit, der ganze Kollegenkreis, naja, der Abstand ist, glaube ich, größer geworden. Man hat ja damals auch mal ‘ne Kollegin eingeladen. Das würde ich heute nie machen.« (Nr. 14, 22.9.2003)

Dies deutet wiederum auf einen Wandel in der Konstruktion von Bindungen und ihren Inhalten hin. Beziehungen am Arbeitsplatz werden von Sorgeverpflichtungen gelöst und strikter von anderen Beziehungen getrennt. Trotzdem gibt es auch einige Angestellte, die bemüht sind, die früheren Beziehungen durch Treffen (z.B. zum Kegeln ein oder zweimal pro Jahr) aufrecht zu erhalten. In diesen Fällen handelt es sich zumeist um Arbeitskollegen, die kurz vor oder nach der Wende noch in einer Brigade zusammengearbeitet haben. Interessanterweise fallen in heute bestehenden Abteilungen derartige Bemühungen geringer aus. Die meisten meiner Gesprächspartner meinen, dass heutige Arbeitsbeziehungen zu instabil für solche Aktivitäten seien. Wie die meisten Unternehmen in den neuen Bundesländern hat auch der BETRIEB seit der Wende verschiedene Umstrukturierungswellen erlebt. Jedes Mal änderten sich dann auch die Zusammensetzungen der verschiedenen Abteilungen und Arbeitsgruppen. Daher arbeiten die wenigsten mehr als ein Jahr in einer Abteilung zusam-

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men und ich habe auch solche Mitarbeiter kennengelernt, die mehrmals innerhalb von drei Jahren die Abteilung wechselten. Obwohl es auch in der DDR diverse Umstrukturierungen gab, hat sich doch der Zeithorizont für das gemeinsame Arbeiten oder die Formierung einer Gruppe seit der Wende entscheidend verkürzt. Viele werten dies als bewusste Strategie durch die Unternehmensführung: »Die wollen ja so einen Zusammenhalt gar nicht mehr.« Oder wie eine Sekretärin es formuliert, als wir gemeinsam Fotos ihrer früheren Brigade anschauen: »So ein Zusammenhalt ist von oben nicht erwünscht.« (TB 9.4.2003) Ein ähnliches Beispiel für das Aufrechterhalten alter Arbeitsbeziehungen ist das gemeinsam begangene 35. bzw. 40. Betriebsjubiläum zweier weiblicher Angestellter. Weil solche Ereignisse nicht mehr offiziell im Unternehmen begangen werden, planen sie eine private Feierlichkeit. Hier bestehen also Reminiszenzen an die Vergangenheit, wobei sich aber Form und Inhalt gewandelt haben. Der schon erwähnte Verdacht, dass solche Aktivitäten »von oben nicht mehr gewünscht sind«, wird zusätzlich genährt durch eine Betriebsvereinbarung, die Feierlichkeiten (wie Geburtstagsfeiern und ähnliches) am Arbeitsplatz ohne Erlaubnis des Direktors verbietet. Manche Angestellten nehmen einen freien Tag an ihrem Geburtstag, weil »da passiert auf der Arbeit sowieso nichts«; andere halten zwar immer noch Kaffee und Kuchen für eventuelle Besucher aus dem Kreis der Kollegen in ihrem Büro bereit, sind sich aber über die Angemessenheit dieser Praktiken nicht mehr sicher. Manche dieser Äußerungen mögen übertrieben erscheinen, und in der teilnehmenden Beobachtung wurde auch offensichtlich, dass Arbeitskollegen durchaus noch über persönliche Probleme miteinander sprechen. Sie verbringen auch manchmal ihre Freizeit miteinander. Trotzdem ist der Zirkel an Kollegen, der Kommunikation und Aktivitäten dieser Art beinhaltete, kleiner und spezialisierter geworden. Freizeitaktivitäten umfassen nach meiner Beobachtung selten mehr als ein oder zwei Kollegen, wobei sich diese meist schon sehr lange kennen. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die meisten meiner Gesprächspartner einen Rückgang sozialer Kontakte und eine Verengung ihrer Sphäre des Gefühls von Sicherheit ausdrücken. Mit dieser Verunsicherung geht eine Verlagerung von Care aus Arbeitsbeziehungen in familiäre Beziehungen einher.

III.1.4. S CHLUSSBEMERKUNG : VON C ARE IN ARBEITSBEZIEHUNGEN ZU C ARE IN DER F AMILIE Dieses Kapitel begann mit der Beobachtung, dass viele meiner Gesprächspartner in SEESTADT über eine Verlusterfahrung in den Beziehungen zu ihren Arbeits-

190 | C ARE/S ORGE kollegen berichten. Anstatt diese Wahrnehmung als Ausdruck eines ›noch falschen Bewusstseins‹ der Akteure zu interpretieren, weil sie nicht in die üblichen Klassifikationen sozialer Beziehungen passen, sollte ausgehend von den Sorgepraktiken eine mögliche Alterität von bedeutsamen Bindungen analysiert werden. Die bisherige Interpretation (post)sozialistischer Bindungen ist aufgrund der ambivalenten Konstruktion des sozialistischen ›Anderen‹ problematisch. Einerseits wurde Gleichheit der Akteure unterstellt und daher die Erkenntnisse über den Charakter von Arbeitsbeziehungen in westlichen Ländern für übertragbar gehalten. Andererseits erscheinen aufgrund der Vorstellung der Andersartigkeit sozialistischer Wirtschaft soziale Beziehungen im Sozialismus als defizitär. Sie werden als rein instrumentell und daher als durch »inauthentische« Gefühle geprägt beschrieben. Der wirtschaftliche Fokus führte im Verbund mit etablierten Klassifikationen sozialer Beziehungen dazu, die Erinnerung an sozialistische Arbeitsbeziehungen einseitig als Opposition gegen ein ungeliebtes Regime oder (wenn von den Akteuren ›zu‹ positiv erinnert) als Nostalgie darzustellen. Irritierende Aussagen von Interviewpartnern können auf dieser Grundlage nur als ›falsches‹ Bewusstsein gedeutet werden, das im Laufe der Zeit einer ›richtigen‹ Einschätzung weichen würde (siehe auch Abschnitt I.3.1 sowie Thelen 2005b, 2011). Dagegen argumentiere ich in diesem Kapitel, dass mit einer Perspektive auf Sorge sozialistische Arbeitsbeziehungen sich neu interpretieren lassen, und dass dies neue Einblicke in die Konstitution bedeutsamer Bindungen erlaubt. Zum einen waren solche Care-Beziehungen nicht ›falsch‹, sondern zunächst einmal ›anders‹. Ihre Entstehung wurde erleichtert durch strukturelle Bedingungen wie etwa die langen Zeitspannen gemeinsam verbrachter Zeit, aber auch die in Kapitel I.3.2.1 beschriebene Ausdehnung früherer paternalistischer Wohlfahrt in Familienunternehmen und in ihrer Folge die Multiplexität der Beziehungen am Arbeitsplatz., Sie waren daher ihrem Wesen nach sozialen Beziehungen in klassischen Industrieunternehmen, insbesondere solchen mit starker Gewerkschaftsvertretung, im Westen nicht unähnlich, unterschieden sich wohl aber in der Ausdehnung und damit der strukturierenden Bedeutung dieser Bedingungen für die alltagsweltliche Erfahrung. In diesem Sinne wiesen sozialistische Arbeitsbeziehungen Merkmale auf, die in den Sozialwissenschaften vermeintlich privaten Bindungen wie Freundschaft und Verwandtschaft zugeordnet werden. Ausgehend von Care-Praktiken zeigt sich nun, dass während der gesellschaftlichen Transformation sich nicht nur die sozial anerkannten Bedürfnisse, sondern auch die Sorgeerwartungen an verschiedene soziale Beziehungen verschieben. Damit einhergeht eine Veränderung der mit ihnen zusammenhängen-

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den Erwartungen an die ›richtige‹ Einbettung dieser Beziehungen in als privat und öffentlich definierte Handlungsräume. Gleichzeitig zeigt die Verlagerung von Care unter den neuen Bedingungen, also vom sorgenden Kollegen in den Bereich der Familie, erneut die Temporalität und Einbettung von Care in breitere Rahmenbedingungen sozialer Sicherung. Im vorliegenden Fall wandelten sich die Risiken und damit auch die Care-Erwartungen an Arbeitsbeziehungen. Die politischen und wirtschaftlichen Reformen nach 1989 führten daher zu Unsicherheiten bei der Zuschreibung von Sorgeverantwortung, die von den Akteuren häufig als Verlust von Bindung am Arbeitsplatz erlebt wurden. Die ehemals über lange Zeiträume stabilen Bindungen wurden instabil, da viele der früheren Kollegen entlassen wurden und sich danach die Zusammensetzung der Abteilungen ständig veränderte. Zudem wurde Arbeitslosigkeit als zentrales Risiko wahrgenommen. Die vorhandenen theoretischen Begrifflichkeiten erschweren jedoch eine Erfassung der besonderen emotionalen Qualität dieser Veränderung. Als Dimension sozialer Sicherung muss Care anhand der Bedürfnislagen neu ausgehandelt werden. Dabei wird vor allem emotionale Sorge von den Kollegen weg und in familiäre Bindungen verlagert. Im Kontrast dazu behandelt das nächste Kapitel die Ausweitung ›privater‹ Sorge in den öffentlichen Raum.

III.2. Von der Veteranen- zur Seniorenbetreuung

An einem nasskalten Nachmittag im Dezember 2003 versammeln sich kleine Gruppen älterer Herren vor einem etwas heruntergekommenen Mehrzweckgebäude in einem der Neubaugebiete von SEESTADT. Sie warten auf den Beginn der Weihnachtsfeier für ehemalige Betriebsangehörige aus dem BETRIEB. Als sich die Türen des Gebäudes um 14 Uhr öffnen, strömen sie in das Gebäude, passieren die Garderobe im Eingangsbereich und steigen die Treppen hinauf zum ersten Stock. Am Eingang des Festsaals wird jeder einzeln von einem Festkomitee begrüßt, viele von ihnen mit Spitznamen und großem Hallo. Jeder bekommt beim Eintreten ein kleines Geschenk, wobei Umarmungen und Scherze ausgetauscht werden. Nun kommen auch die ersten älteren Frauen, und kurz darauf ist der Raum mit etwa 300 Personen gefüllt. Die meisten lassen sich an den gedeckten Kaffeetischen mit jeweils zwölf Plätzen nieder und sind kurz darauf bereits in angeregte Gespräche vertieft. Manche der älteren Herren bestellen das erste Bier. Etwas verspätet rauscht der geschäftsführende Direktor des BETRIEBs herein und hält eine kurze Rede. In deren Verlauf bezichtigt er die lokale Presse der Fehlinformation über das Unternehmen und nennt einige positive Geschäftsdaten. Er schließt die Ansprache mit einem ›Frohe Weihnachten!‹ Nun wird Kaffee serviert und der Kuchen gegessen. Es folgt ein kleines Kulturprogramm. Schließlich übernimmt ein professioneller DJ die Musik und animiert zum Tanz. Nach einem kurzen Zögern betritt zunächst ein Seniorenpaar die Tanzfläche; dem weitere folgen. Es wird getanzt, bis gegen 17:30 Uhr ein warmes Abendessen serviert wird. Die Veranstaltung schließt gegen 18 Uhr, als die Senioren zumeist in kleinen Gruppen das Gebäude wieder verlassen (TB, 12.12.2003).

194 | C ARE/S ORGE Etwa ein halbes Jahr später versammeln sich gegen 9:30 Uhr am Morgen wiederum Rentner paarweise oder in kleinen Gruppen, diesmal aber an der ehemaligen Bushaltestelle des BETRIEBs auf dem Gelände des Unternehmens.1 Es ist ein sonniger Junimorgen und der Ausflug für ehemalige Betriebsangehörige mit rundem Geburtstag im Jahr steht an. Auch diejenigen, die alleine ankommen, finden schnell ein oder zwei ehemalige Kollegen auf dem Platz oder beim Einsteigen in die bereitstehenden Busse. Meist werden sie mit diesen den gesamten Tag verbringen. Der Ausflug beginnt mit einer Betriebsrundfahrt, wobei die verschiedenen Veränderungen auf dem Gelände durch einen Mitarbeiter am Mikrophon kommentiert werden. Die meisten Rentner unterbrechen ihre Gespräche und hören interessiert zu. Aus dem Fenster blickend erinnern sich manche der alten Arbeiter mit Stolz an die harte Arbeit, die sie, noch »unter dem Sack« gehend, geleistet haben. Angesichts der Leere und des wenigen Handelsguts, das sie heute sehen, mischt sich Wehmut in diese Erinnerungen an die frühere Betriebsamkeit. Nach der Rundfahrt wird zum diesjährigen touristischen Ausflugsziel aufgebrochen. Während der Fahrt können Getränke beim Fahrer gekauft werden und es kommt bereits vereinzelt Feierlaune auf. Am Zielort angekommen, wird im Restaurant ein warmes Mittagessen serviert, gefolgt von einer Schifffahrt, die wiederum bei Kaffee und Kuchen endet. Am späten Nachmittag geht es auf die Rückreise mit dem Bus nach SEESTADT, wo der Ausflug gegen 19 Uhr am Hauptbahnhof endet (TB, 2.6.2004).

Rituale dieser Art waren bereits ein fester Bestandteil betrieblicher Sorge für Senioren in großen staatlichen Unternehmen der DDR (Thelen 2007). Damals als Teil der Veteranenbetreuung, ahmte die sogenannte Jahresendfeier auch schon Elemente des familiären Weihnachtsfests in seiner Funktion der Bestätigung familiären Zusammenhalts nach. Die folgenden Abschnitte widmen sich der Frage, ob und wie diese Form von Care eine solche symbolische Inklusion und emotionale Bestätigung für die Akteure im Sozialismus leisten konnte und welche Veränderungen sich in der neuen Situation der Nachwendezeit ergaben. Als Teil der umfassenderen betrieblichen Sorge für ehemalige Betriebsangehörige waren die Rituale eine Weiterführung der bereits behandelten dominanten Rolle des Arbeitsplatzes als Teil sozialer Sicherung der DDR-Bürger (siehe auch voriges Kapitel und Abschnitt I.3.1). Durch die mannigfaltigen Veränderungen der staatlichen Rahmen sozialer Sicherung nach der Wende hat sich auch diese 1

Die frühere Transportabteilung des BETRIEBs wurde nach der Wende an einen privaten Betrieb verkauft und die Bushaltestelle wurde zum Zeitpunkt der Forschung nicht mehr für den regelmäßigen Verkehr genutzt.

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Form von Care in rechtlicher wie organisatorischer Hinsicht fundamental gewandelt. Dabei entstanden neue Formen der Sorge für Senioren im BETRIEB, aber auch in der Gewerkschaft und der ehemals werkseigenen Wohnungsgenossenschaft. Die folgenden Abschnitte stellen diese Transformationen der betrieblichen Sorge und ihre sich wandelnden Bedeutungen für die Akteure vor. In diesen Prozessen wurde Care nicht nur an die neu eingeführten Regelungen aus den alten Bundesländern angepasst. Vielmehr blieben auch Care-Normen und Praktiken aus sozialistischer Zeit erhalten bzw. bildeten sich neue, hybride Formen der Sorge heraus. Wie in Kapitel I.3.2 dargestellt, hatte die postsozialistische Transformation in den neuen Bundesländern nicht nur spezifische Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und auf die demographische Entwicklung, sondern auch eine Übernahme staatlicher Formen sozialer Sicherung zur Folge. Diese Entwicklungen hatten für die älteren Bürger ambivalente Konsequenzen. Einerseits erscheint auf den ersten Blick die materielle Verbesserung ihrer Situation durch die neuen Konsummöglichkeiten bei gleichzeitiger Übernahme ihrer Rentenansprüche durch die westdeutsche Rentenversicherung am wichtigsten. Andererseits bedeuteten diese Veränderungen auch, dass viele Senioren miterleben, wie unsicher der Lebensweg ihrer Kinder und Enkelkinder verläuft und wie aufgrund dessen neue Care-Verpflichtungen an sie herangetragen werden (siehe auch Kapitel II.2). Dazu erfahren sie durch die binnendeutsche Ost-West-Migration häufig eine Verkleinerung ihres persönlichen Beziehungsnetzes in unmittelbarer Nähe bzw. wird ihnen eine erhöhte Mobilität abverlangt, um diese Bindungen aufrechtzuerhalten. Zudem wurden durch die ebenfalls schon erwähnten kritischen Diskurse zur DDR sowie durch den wirtschaftlichen Niedergang ihre Biographien und frühere Arbeitsleistung in Frage gestellt. Im Verbund mit den auf den Erfahrungen der Vergangenheit beruhenden Zukunftserwartungen und Identitätskonstruktionen beeinflussen diese Entwicklungen auch die in diesem Kapitel dargestellten Formen der Sorge. Im Folgenden wird zunächst die sozialistische Form betrieblicher Sorge für Senioren im BETRIEB beschrieben. Darauf aufbauend werden deren unterschiedliche Inkorporationen in die neuen Rahmenbedingungen des vereinigten Deutschlands nachvollzogen. Die in diesem Kapitel präsentierten Daten setzen sich neben Archivmaterial in erster Linie aus der teilnehmenden Beobachtung der Weihnachtsfeier und den Ausflügen für die ehemaligen Mitarbeiter des BETRIEBs in drei aufeinander folgenden Jahren zusammen. Zusätzlich wurden mit verschiedenen Akteuren halbstrukturierte Interviews geführt, die zum Teil aufgenommenen werden konnten (siehe Anhang). Dieses Material umfasst sowohl Interviews mit ›normalen‹ Rentnern als auch mit den heutigen und früheren

196 | C ARE/S ORGE Verantwortlichen für die betriebliche Sorge für Senioren. Als Hauptakteure des Kapitels kommen ausführlich zu Wort: Herr Müller (früherer Direktor des Direktorats »Soziale und Kulturelle Betreuung« im BETRIEB), Herr Braun (früherer stellvertretender Betriebsgewerkschaftsleiter des BETRIEBs) und Frau SchmidtHauser (heutige Personalsachbearbeiterin im BETRIEB). Ebenfalls zitiert werden der Geschäftsführer Herr Hoffmann sowie der Geschäftsführer der heutigen Wohnungsgenossenschaft Herr Scholz und schließlich Herr Spicher, der im Sozialismus ein Gewerkschaftsamt auf unterer Ebene bekleidete.

III.2.1 C ARE

FÜR S ENIOREN IM SOZIALISTISCHEN B ETRIEB

Wie bereits erwähnt, waren die Renten in der DDR verhältnismäßig niedrig (siehe Kapitel I.3.2). In Anerkennung ihrer generellen Bedürfnislage wurden daher im Laufe der Zeit die betrieblich gebundenen Formen sozialer Sicherung auf ehemalige Mitarbeiter ausgeweitet. Diese Ausdehnung auf die Rentner – die als (Arbeits-)Veteranen bezeichnet wurden – verbesserte sowohl ihre materiellen Bedingungen als auch ihre soziale Einbindung (Demmler/Schmidt 1980).2 Entlang der in theoretischen Grundlegung eingeführten vier Dimensionen von Care bei Tronto (1993) lässt sich feststellen: Die generelle Bedürftigkeit der Rentner wurde von der DDR-Obrigkeit anerkannt (caring about) und die Verantwortlichkeit an die staatlichen Betriebe delegiert (taking care of). Im Sinne der vorgestellten Arbeitsdefinition wurde Care im Betrieb daher zu einem Teil der staatlichen Vorgaben sozialer Sicherung. Die sozialistische Veteranenbetreuung umfasste dabei nicht nur die eingangs beschriebenen Rituale. Vielmehr entwickelten sich im Laufe der Zeit diverse Formen der Sorge auf drei organisatorischen Ebenen: derjenigen des BETRIEBs selbst (von den Akteuren in SEESTADT oft »Staat« genannt), derjenigen der Gewerkschaft innerhalb des Unternehmens sowie derjenigen der einzelnen Brigaden bzw. Kollektive. Manche dieser Formen von Care waren als Ansprüche der Rentner im Arbeitsgesetzbuch der DDR festgelegt. So wurden dort etwa das Recht zur Teilhabe an den betrieblichen Gesundheitseinrichtungen, das Recht auf Mahlzeiten in den betriebseigenen Kantinen, aber auch das Recht auf Berücksichtigung bei der Vergabe von Urlaubsplätzen aufgelistet. Zusätzlich hatten

2

Die frühere Unterscheidung zwischen Veteranen im Sinne sozialistischer Veteranen (altbewährte Parteimitglieder oder Antifaschisten) und ›normalen‹ Rentnern bzw. Arbeitsveteranen verlor im Laufe der Zeit an Bedeutung (Kondratowitz 1988: 514).

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die Rentner das Recht zur Teilhabe an den verschiedenen kulturellen Aktivitäten der Betriebe, wie etwa in Form subventionierter Eintrittskarten für kulturelle Veranstaltungen (Theater o.ä.) sowie das Recht die sportlichen Einrichtungen zu frequentieren und an den Hobbygruppen teilzunehmen.3 Größere Unternehmen, wie der BETRIEB, richteten sogenannte Veteranenclubs als Treffpunkte und Orte für Feierlichkeiten ein (Scharf 1995). Im Hinblick auf die Gewerkschaft hatten Veteranen in großen Unternehmen auch das Recht, eine eigene Gruppe zu bilden und Vertreter zu wählen, die an den Gewerkschaftssitzungen teilnehmen konnten (Kondratowitz 1988: 514).4 Zusätzliche Care-Leistungen wurden in Abhängigkeit von den jeweiligen Betriebsressourcen jährlich verhandelt und in den sogenannten Betriebskollektivvertrag aufgenommen. Im BETRIEB umfassten die zusätzlichen Care-Leistungen etwa die Verteilung der Betriebszeitung und von Brennholz. Für Letzteres wurden im BETRIEB anfallende Holzpaletten verarbeitet und den bedürftigen Senioren nach Hause geliefert. Laut Herrn Braun, dem ehemaligen Betriebsgewerkschaftsleiter, nahmen diese das im Laufe der Zeit als feststehenden Anspruch wahr: »Die haben sich da richtig drauf eingerichtet, nicht, die kriegten zwar ihre Kohlen, aber auch Brennholz, Anmachholz, also das war… ne… gute Sache. […]. Wir haben erfasst, als Gewerkschaft, und die anderen haben das bearbeitet. Haben das Zeug dahin gefahren: ›Ja hier bitte.‹ ›Danke schön.‹«

Und er fügt hinzu: 3

Siehe dazu insbesondere §236 Arbeitsgesetzbuch der DDR (Bundesvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes 1983; siehe auch Friedrich-Ebert-Stiftung 1987: 31).

4

Die vorsozialistischen Gewerkschaften, die ebenso wie in der späteren BRD auf Berufsgruppen basierten, waren nach der Gründung der DDR 1949 zum FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund) vereinigt worden. Während des Sozialismus bildeten die Gewerkschaften in den Unternehmen parallele Strukturen und waren vor allem für die Verteilung der vielfältigen betrieblichen Leistungen sozialer Sicherung zuständig (siehe auch Kapitel I.3.2). Sie ähnelten darin beispielsweise den Arbeiterräten in den Philipswerken in Eindhoven zu Beginn des letzten Jahrhunderts (Kalb 1997: 209-210, bezüglich der historischen Vorläufer sozialer Sicherung im Sozialismus siehe auch Kapitel I.3.2). Die Position und Funktion der Gewerkschaften innerhalb des sozialistischen Systems zwischen Staatskonformität und (Teil-)Widerstand ist in der Fachliteratur umstritten (siehe z.B. Hürtgen 2005; Hübner/Kleßmann/Tenfelde 2005).

198 | C ARE/S ORGE »Die haben sich riesig gefreut, und wehe, einen haben wir vergessen. Der hat vielleicht gemeckert.« (tI, 17.6.2004)

Die Verteilung dieser Ressourcen wie auch der anderen Leistungen sozialer Sicherung (Urlaubsplätze, Theaterkarten etc.) wurde in enger Kooperation zwischen der Gewerkschaft bzw. deren Veteranenkomitee und dem Direktorat für Soziale und Kulturelle Betreuung organisiert. So war auch der Anspruch auf diese Formen der Sorge formell an die Gewerkschaftsmitgliedschaft gebunden, besaß aber spätestens seit den 1970er Jahren, als 90 Prozent der Arbeitnehmer Mitglied der Gewerkschaft waren, fast universelle Reichweite (Teipen 1994). Neben den Formen materieller Sorge wurden durch die Gewerkschaft auch Rituale wie die Maifeier, die Jahresendfeier und Geburtstagsfahrten für die Senioren organisiert. Laut Herrn Braun und Herrn Müller, dem früheren Direktor des Direktorats »Soziale und Kulturelle Betreuung« im BETRIEB, ähnelte der Ablauf der damaligen Jahresendfeier deutlich demjenigen der heutigen Weihnachtsfeier, wie dieser eingangs beschrieben wurde: Kaffee und Kuchen, kurzes kulturelles Programm gefolgt von Tanz und Abendessen. Ihren Angaben nach nahmen in sozialistischen Zeiten aber mit rund 900 Menschen wesentlich mehr Personen an diesen Veranstaltungen teil. Neben den ca. 600 Rentnern waren auch deren etwa 300 Ehepartner in diese Form der Sorge eingeschlossen. Im Laufe des Bestehens der DDR entwickelten sich vor allem die Feiern zu einem integralen Bestandteil der Zukunftserwartung der Beschäftigten. Eine Rentnerin erzählt beispielsweise, dass sie früher immer aus dem Fenster geblickt hätten, wenn die Senioren zu ihrem Ausflug aufbrachen: »Wir haben immer gesagt, da fahren wir auch mal mit.« (TB, 2.6.2004) Im Zentrum dieser Veranstaltungen standen in der Erinnerung der Beteiligten das soziale ›Miteinander‹ und die persönliche Sorge. So schildert etwa Herr Braun seine eigene Beteiligung als Gewerkschaftsfunktionär so: »Das war immer sehr schön wenn dann so die Veteranen dann, wenn wir dann alle zusammen gesessen haben, ne? ›Na, Walter wie geht’s dir‹, ne? Und mit dem einen oder anderen mal geredet und: ›Na, was haste denn, Probleme‹, und so, das war [schön]. In der Regel sind wir dann von Tisch zu Tisch gegangen, ne? Wenn wir es geschafft haben.« (tI, 17.6.2004)

Schon damals gehörte die Rede aus der Betriebsleitung zum Programm. Herr Braun und Herr Müller kommentieren diesen Veranstaltungspunkt als positiv und als Reaktion auf das Anerkennungsbedürfnis der Senioren. So sagt Herr Braun: »Das war immer schön, wenn der Direktor da war, da haben sie [die

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Veteranen] sich immer gefreut.« (tI, 17.6.2004) Und Herr Müller lagt dar: »Die wollten einen vom BETRIEB sehen, ernst genommen werden.« (TB, 30.3.2004) Trotz der Rede des Direktors seien diese Veranstaltungen aber aus seiner Sicht im Wesentlichen unpolitisch gewesen. Im Mittelpunkt habe das gemeinsame Essen und Tanzen gestanden, so seine Einschätzung. Abgesehen von diesen offiziellen Anlässen fand ein großer Teil der Sorge für Senioren außerhalb des BETRIEBsgeländes statt. Herr Braun erklärt: »Sie müssen sich ja vorstellen Veteranenbetreuung heißt ja in erster Linie, Arbeit mit Menschen, nich? Äh… hingehen, ne, aufsuchen: ›Na, Paul wie geht es dir heute‹? Ne, manchmal auch mit Blümchen.« (tI, 17.6.2004)

So besuchten Gewerkschafter, vor allem das erwähnte Veteranenkomitee, die älteren Mitglieder an runden Geburtstagen mit Blumen zu Hause. Darüber hinaus bot das persönliche Einsammeln der Mitgliedsbeiträge von Tür zu Tür – wobei es sich um die zu vernachlässigende Summe von 50 Pfennigen handelte – eine erwünschte Möglichkeit zur Begegnung und zum Austausch mit früheren Kollegen (Künemund 1994). Um diese Formen der institutionellen Implementierung von Sorgeverantwortung entwickelten sich zusätzliche informelle CareBeziehungen. Herr Braun drückt es so aus: »Ne, wie das so ist, also diese persönlichen Kontakte wurden dann, äh, untereinander auch gepflegt, ne?!« (tI, 17.6.2004)

Und Herr Müller beschreibt die Sorgebeziehungen in der sogenannten Abteilungsgewerkschaftsleitung (AGL) der Veteranen so: »Die hatten ein dichtes Netz an Informationen; die sahen sich beim Einkaufen und so weiter. Wenn da einer drei Tage nicht auftauchte, da wurde schon mal gesagt: ›Da muss mal einer nachschauen!‹ – Das war halt der persönliche Zusammenhalt, Geld hatten sie keins, da suchten sie die persönlichen Kontakte.« (TB, 30.3.2004)

Neben diesen über die Gewerkschaft vermittelten Bindungen zwischen den Rentnern bildeten diejenigen zu noch aktiven Arbeitskollegen den wichtigsten Bezugspunkt informeller Sorge. Herr Braun erklärt: »So, wenn einer, quasi soviel Jahre im Kollektiv war und der hat denn Geburtstag, dann ist einer mal hin marschiert, ne? Oder, sie wurden auch eingeladen, ne?« (tI, 17.6.2004)

200 | C ARE/S ORGE Aus seiner Sicht genossen Rentner diese Einladungen: »Und dann kamen die Veteranen und dann waren sie froh, waren wieder raus, ne? Und dann haben sie mitgefeiert, wie sie es gerade konnten.« (tI, 17.6.2004)

Ehemalige Kollegen in Rente wurden aber nicht nur zu den kulturellen Brigadeaktivitäten eingeladen, sondern erhielten auch praktische Hilfe von ihren früheren Arbeitskollegen. So finden sich in den 25 Brigadetagebüchern aus dem Archiv des BETRIEBs neben Bemerkungen über die Teilnahme früherer Kollegen bei gemeinsamen Grillfesten oder Ausflügen der Brigaden auch Einträge zu Hilfeleistungen bei Wohnungsrenovierungen oder Umzügen von früheren Kollegen. Diese Pflege der Beziehungen zu den ehemaligen Kollegen durch Sorgepraktiken von Seiten der noch aktiven Mitarbeiter war von staatlicher Seite durchaus gern gesehen und wurde daher etwa beim Wettbewerb um den Titel des sozialistischen Kollektivs berücksichtigt.5 Diese Care-Praktiken und die durch sie aufrechterhaltenen Bindungen stellten eine Ebene der sozialen Integration dar. Eine solche Einbeziehung von Rentner in ihr früheres Arbeitsumfeld erleichterte möglicherweise auch ihren biographischen Übergang in die erwerbstätigkeitsfreie Zeit. Zudem gewann diese Bindung der Rentner an ihren früheren Arbeitsplatz im Laufe des Sozialismus für die individuelle Zukunftserwartung an Bedeutung. Eine Grenze zwischen staatlich und nicht-staatlich oder öffentlich und privat lässt sich hier nur schwer ziehen. Obwohl die Sorge für ehemalige Betriebsangehörige teilweise rechtlich festgelegt war, wurden viele der konkreten Care-Praktiken lokal im jeweiligen Unternehmen verhandelt. Ähnlich wurden die für die Sorge nötigen finanziellen Ressourcen zwar durch das staatliche Unternehmen zur Verfügung gestellt, dann aber durch Gewerkschaftsfunktionäre verteilt. Selbst wenn man anführen möchte, dass Gewerkschaften im Sozialismus als staatliche Organisationen anzusehen sind, wurde die Grenzziehung zwischen staatlich und nicht-staatlich im Hinblick auf Care durch ehemalige Kollegen weiter verwischt. Diese Sorgebeziehungen waren zwar im BETRIEB und damit staatlicherseits erwünscht und wurden gefördert; sie waren aber nicht vorgeschrieben und wurden daher individuell gestaltet. Neben einer Verwischung der Grenzen auf der gebenden Seite von Care lässt sich auch die Sorge auf der Empfängerseite nicht leicht klassifizieren. Die persönliche Bedeutung dieser Sorgebeziehungen variierte gewiss von Person zu Person in Abhängigkeit vom früheren Arbeitsklima sowie von der Einbindung in 5

Zum Wettbewerb um den Titel des sozialistischen Kollektivs siehe auch das vorangegangene Kapitel III.1.

V ON DER V ETERANEN - ZUR S ENIORENBETREUUNG

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alternative Care-Bindungen. Der Anteil materieller Sorge (hier vor allem in Form von subventioniertem Essen und Heizmaterial) war sicherlich eine willkommene Ergänzung zu den niedrigen Renten. Allerdings waren auch die nichtmateriellen Formen der instrumentellen Hilfen durch ehemalige Kollegen oder der emotionalen Bestätigung durch Gratulationen und Einladungen nicht ohne Bedeutung für die Senioren. Ebenso besaßen die jährlichen Rituale weniger eine materielle Funktion. Eher vermittelten sie den Rentnern ein Gefühl der Zugehörigkeit und der Anerkennung durch den BETRIEB. Zudem boten sie einen Raum zum Austausch und zur Aufrechterhaltung (bedeutsamer) Bindungen mit den ehemaligen Arbeitskollegen.

III.2.2 C ARE

FÜR

S ENIOREN

NACH DER

W ENDE

Nach der Wende wurde die sozialistische Veteranenbetreuung durch verschiedene Akteure in die neuen rechtlichen, ökonomischen und organisatorischen Rahmenbedingungen übertragen. Im Folgenden sollen verschiedene Formen dieser Inkorporationen im Umfeld des BETRIEBs nachvollzogen werden. Begonnen wird mit der Fortführung der Praktiken innerhalb der Gewerkschaft, die früher hauptverantwortlicher Träger betrieblicher Sorge war. Während in diesem Beispiel die gebende Seite von Care dieselbe bleibt, stellt die Wohnungsgenossenschaft eine neue institutionelle Einbettung der Sorge dar, die aber gleichwohl auf den früheren Sorgepraktiken im BETRIEB aufbaut. Schließlich soll ausführlicher auf die weiterhin übernommene Sorge für Senioren im BETRIEB selbst und deren Bedeutungsverschiebung für die Empfänger eingegangen werden. III.2.2.1 Care in der Gewerkschaft: exklusiv und politisiert Der mit dem Beitritt zur Bundesrepublik einhergehende Institutionentransfer umfasste auch die Organisation des Arbeitsmarktes und Übernahme des Arbeitsrechts einschließlich der Formen und Aufgaben gewerkschaftlicher Organisation. Dies bedeutete einen Wandel sowohl im Aufbau der Gewerkschaften als auch in ihren Zielen. Wie anhand der betrieblichen Veteranenbetreuung deutlich wurde, befassten sich Gewerkschaften in der DDR zum großen Teil mit der Organisation und Verteilung staatlicher Ressourcen sozialer Sicherung. Meistens geschah dies in Übereinstimmung mit den ökonomischen Prioritäten der Parteileitung im Unternehmen. Dagegen hatten die Gewerkschaften nur einen begrenzten Einfluss auf die Verteilung der Einkommen, was in der Bundesrepublik hingegen als Hauptaufgabe von Gewerkschaften angesehen wurde (Koch 1999).

202 | C ARE/S ORGE Im Gegensatz zu der sozialistischen Einheitsgewerkschaft (FDGB) basieren die bundesdeutschen Gewerkschaften auf Branchen und sind somit exklusiver als der Gewerkschaftsbund der DDR organisiert.6 Der Transfer der Mitgliedschaft aus dem FDGB in die neu eingeführten Einzelgewerkschaften war daher nicht nur kompliziert, sondern die unterschiedlichen Organisationsprinzipien führten auch dazu, dass die Arbeitnehmer eines Betriebs teilweise auf verschiedene Gewerkschaften verteilt wurden. Erschwerend kam hinzu, dass – wie im BETRIEB – die sozialistischen Industriekombinate ganz unterschiedliche Branchen unter einem Dach vereinigen konnten. So wurden hier aufgrund der wirtschaftlichen Ausrichtung zunächst alle in eine Gewerkschaft eingeteilt, dann aber später wieder neu verteilt. Herr Braun schildert im Anschluss an die Verwirrung, zu welcher Krankenkasse er nach der Wende zugeordnet werden sollte, Ähnliches auch für die Einordnung in eine Gewerkschaft: »Na ja, und mit den, mit den Gewerkschaften war es doch aber ähnlich, weil die Gewerkschaften, es gibt ja auch jetzt ne Transport und Verkehr gibt’s ja eine Gewerkschaft, es gibt ja eine Bau, und die IG Metall ist natürlich immer noch eine große […]. Ich hatte das ja schon öfter gehört, dass die Leute hier vom BETRIEB alle dieses Angebot, oder ich weiß nicht ob es ein Angebot war, in die ÖTV einzutreten, aber letztlich… na gut jetzt ist natürlich wieder alles zusammengeschlossen, unter Dienstleistungen, aber…«

Letztendlich machten dann im Gegensatz zu ihm nur wenige der älteren Gewerkschaftsmitglieder von der Möglichkeit des Mitgliedschaftstransfers Gebrauch. Obwohl es verschiedene Versuche gab, die frühere Veteranenbetreuung in die neuen Gewerkschaften zu integrieren, haben unter anderem diese Rahmenbedingungen den Gehalt und die Inklusionsmechanismen der Sorge entscheidend verändert. Anders als die Veteranenbetreuung in der DDR, die ein integraler Bestandteil der Gewerkschaftsarbeit war, ist die Sorge für Senioren in den alten Bundesländern erst in jüngerer Zeit auf die Agenda der Gewerkschaften gerückt. Daher stellte die Übernahme der Care-Praktiken aus der ehemaligen Veteranenbetreuung für die Gewerkschaften eine Herausforderung dar, die aber vor allem wegen der weitverbreiteten positiven Beurteilung der alten Sorge durch die Mitglieder aus den neuen Bundesländern notwendig schien (Künemund 1994). Herr Spicher, den ich zunächst als Sorgeempfänger in der betrieblichen Sorge kennenlernte, war in der Forschungsperiode verantwortlich für die Sorge für ältere Mitglieder bei einer großen Gewerkschaft in SEESTADT. Er bemerkte die Veränderung zunächst am Mangel an Mitteln, die ihm für die Organisation von 6

Zur Gewerkschaftsorganisation siehe auch Fußnote 4 dieses Kapitel.

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derartigen Feierlichkeiten zur Verfügung standen (TB 21.11.2004). Aus diesem Grund gab auch Herr Braun, der zunächst Mitglied in der neuen Gewerkschaft wurde und anfänglich seine Gewerkschaftsarbeit fortsetzen wollte, diese nach kurzer Zeit auf. Er erinnert sich daran folgendermaßen:

»Dann sind wir zur Versammlung gegangen, war da ÖTV damals ja noch. Haben uns dann da zusammengesetzt, und dann haben wir beraten, was können wir so machen. Dann habe ich zuerst alles zugesagt. Danach merkte ich mit einmal, ne ja… dat dat ist nichts mehr für mich. Weil, erstmal: Die materiellen Voraussetzungen waren nicht gut, nich? Wir haben die Briefe, eigenhändig persönlich in ne Häuser gesteckt, in die Briefkästen… das schmeckte mir nicht mehr.« (tI, 17.6.2004)

Schon die Notwendigkeit bei der Gewerkschaftspost Geld für Briefmarken zu sparen stand in scharfem Kontrast zu den Erfahrungen aus seinem früheren beruflichen Leben, als seine Arbeit bei der Gewerkschaft eine voll bezahlte Erwerbstätigkeit darstellte. Herr Braun beendete daraufhin seine aktive Mitarbeit in der Gewerkschaft. Abgesehen von solchen finanziellen Problemen betonen sowohl Herr Braun wie auch Herr Spicher die Tendenz der neuen Gewerkschaftsfunktionäre, die gewerkschaftliche Sorge für Senioren zu politisieren. Gerade aber der unpolitische Charakter der Veranstaltungen habe in der DDR zu ihrer Beliebtheit beigetragen (TB 9.12.2004). Zu dieser wahrgenommenen Politisierung bei gleichzeitigem Mitgliederschwund kommt auch, dass automatisierte Bankeinzüge die frühere Praxis der persönlich eingesammelten Mitgliedsbeiträge ersetzt haben. Dies trägt zu einem weiteren Verlust an Geselligkeit und damit zu der Begrenztheit dieser Inkorporierung sozialistischer Sorgepraktiken in die neuen Umstände bei. Zusammengefasst lässt sich also festhalten, dass die gebende Seite der Sorge in diesem Fall gleich blieb, die Empfängerseite jedoch exklusiver geworden ist. Nur eine Handvoll der früheren Mitarbeiter aus dem BETRIEB sind heute Gewerkschaftsmitglieder und besuchen die Veranstaltungen der gewerkschaftlichen Seniorenbetreuung. Gleichzeitig verschob sich der Inklusionscharakter der CareBeziehungen, indem er eindeutiger als im Sozialismus auf politischen Identitätskonstruktionen basiert. Die Mehrheit der Mitarbeiter im Ruhestand besucht daher, wie nun auch Herr Braun, die Veranstaltungen der Sorge für Senioren, die nach wie vor vom staatlichen BETRIEB organisiert werden. Diese ähneln den früheren Feiern sehr und werden so zu den ›wahren Erben‹ der sozialistischen Sorge. Doch bevor ich dazu komme, soll ein Blick auf die Care-Praktiken einer

204 | C ARE/S ORGE weiteren Nachfolge-Institution, der ehemaligen Wohnungsgenossenschaft des BETRIEBs, geworfen werden. III.2.2.2 Care in der Wohnungsgenossenschaft: Erfolg durch Vertrautheit Wie die Gewerkschaftsarbeit haben sich auch die Bedingungen für das Wohnen in den neuen Bundesländern fundamental geändert. Ein Teil der Veränderung betrifft den Übergang von einer staatlich kontrollierten sozialistischen Wohnungswirtschaft zum bundesdeutschen Marktsystem. Letzteres ist zwar ebenfalls staatlich reguliert, doch seit den 1980er Jahren auch unter deutlichen Liberalisierungsdruck geraten, was sich unter anderem am Wegfall des rechtlichen Status nicht-profitorientierten Wohnens zeigt (Flockton 1999). Nach der Wende gab es daher zunächst eine Tendenz zur Privatisierung der Wohnungsgenossenschaften in den neuen Bundesländern. So wurde etwa 1993 für Wohnungsgenossenschaften ein Schuldenerlass von 45 Prozent im Fall der Trennung von dem Mutterunternehmen sowie der Privatisierung des Bestandes eingeführt (Altschuldenhilfegesetz). So trennte sich denn auch der BETRIEB von seiner 1954 als AWG gegründeten Wohnungsgenossenschaft. Obwohl die neue Genossenschaft nach wie vor den gleichen Namen trägt7 und auch die Mieterschaft nach Auskunft von Herrn Scholz zu großen Teilen aus ehemaligen und derzeitigen BETRIEBsmitarbeitern besteht, stellt sie doch einen unabhängigen Akteur dar.8 Als solcher startete die Genossenschaft im Juni 1997 ein sogenanntes Servicewohnen für Senioren.9 Dieses stellt in den Sorgepraktiken eine Mischung aus Elementen der alten und neuen Bundesländer dar. Als Vorbild diente ein sehr viel kleineres Projekt einer Wohnungsgenossenschaft in den alten Bundesländern, dessen Geschäftsführer Herr Scholz auf einer Tagung kennengelernt hatte. Einige der konkreten Care-Praktiken entwickelten sich aber aus den Erfahrungen mit den Sorgepraktiken in der DDR. Im Folgenden wird zunächst die Form von Care vorgestellt, bevor dann auf deren Interpretationen durch die Akteure eingegangen wird. Nach einer Umfrage zum Bedarf an neuen Wohnformen unter älteren Mietern der Genossenschaft wurde zunächst ein Plattenbau mit 252 Wohnungen für das Projekt reserviert. Die seitdem bestehende Warteliste an potentiellen Mietern 7

Da der Name nicht eine bestimmte Person oder eindeutig einen Betrieb bezeichnet,

8

Zu den AWGs in der DDR siehe auch III.1 sowie die dortige Fußnote 6.

9

Die Bezeichnung des Servicewohnens wurde gewählt, da es sich um einen nicht-

war diese Weiterführung zulässig.

geschützten Begriff handelt, der daher keine rechtlichen Auflagen nach sich zieht.

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deutet auf den wirtschaftlichen Erfolg dieses Projektes hin. Daher wurden in den Jahren 1999 und 2003 je ein weiteres Gebäude in anderen, weniger beliebten Stadtteilen ebenfalls für das sogenannte Servicewohnen reserviert. Jüngere Mieter werden zwar nicht aktiv gekündigt, aber wenn sie ausziehen, werden ihre Wohnungen ausschließlich an Senioren vermietet. Infolge besteht die Mieterschaft in den zwischen 1997 bis 1999 in das Servicewohnen übernommenen Gebäuden zur Zeit der Forschung zu je etwa 70 Prozent aus Senioren. Als spezielle Care-Angebote stehen in jedem der Gebäude ein sogenannter Seniorenklub, ein Pflegedienst sowie ein Betreuungsdienst zur Verfügung. Letzterer bietet Hilfe beim Ausfüllen von Formularen, beim Briefeschreiben, im Haushalt sowie die Installierung und Bereitstellung eines Notrufes an. Neue Mieter schließen einen Betreuungsvertrag zu einem geringen Einstiegsbetrag (zu diesem Zeitpunkt 15,34 Euro) ab. In diesem Pauschalbetrag sind kleinere Leistungen inbegriffen, wie der Geschäftsführer Herr Severin erklärt: »Ich sags‘ mal so, es gibt Leute, eh die nehmen auch mehr in Anspruch als andere, ne? Die einen verreisen noch, wenn sie noch fit sind. Da machen wir den Briefkasten leer und kümmern uns und so weiter bis hin zu Blumen. Oder andere eben die kommen und sagen, Herr Severin, ich hab hier gerade wieder ein Schreiben von der Sparkasse oder vom Renten: Können Sie’s mir mal vorlesen? Können Sie’s mir mal erklären? All diese Dinge machen wir, ohne Rechtsberatung, ne? Oder helfen und setzen mal ‘n Schreiben auf und so oder kopieren was. All diese Dinge sind in den 15,34 drin.« (tI, 1.4.2004)

Darüber hinausgehende Versorgungsleistungen müssen jeweils einzeln bezahlt werden. Die Genossenschaft unterstützt die beiden Privatfirmen durch die Vermietung günstiger Räume im Erdgeschoss der Gebäude. Beide wurden zunächst von der Nichte einer älteren Mieterin, die den ersten Fragebogen zur Bedarfserhebung erhalten hatte, betrieben. Diese hatte sich, nachdem sie bei ihrer Tante das Anschreiben der Genossenschaft gelesen hatte, bei Herrn Scholz gemeldet und Interesse an einer Beteiligung am Projekt bekundet, wie er schildert: »Diese Frau hat dann mit dem Sohn und noch fünf oder zehn Leuten den Verein gegründet. Da brauchten wir uns gar nich‘ viel kümmern.«

Mit diesem Club begann 1997 das Projekt: »Jetzt muss ich erst mal sagen, die erste Sache fing an mit unserm eh Seniorenclub BETRIEB e.V., nich? Das ist ein eingetragener Verein, ne, also den sponsern wir, sonst

206 | C ARE/S ORGE könnte er gar nicht leben, aber er wird getragen durch ehrenamtliche Leute und auch durch SAM- und ABM-Leute.«10 (tI, 30.3.2004)

Nach der Gründung amtierte als Vereinsvorsitzender zunächst der Sohn der Betreiberin des Betreuungs- und Pflegedienstes, der – nachdem seine Mutter in Rente ging –die Geschäfte inzwischen alleine führt. Zu diesem Zeitpunkt arbeiteten fünf staatlich geförderte Kräfte (vier SAM-Stellen und eine ABMStelle) für den Verein. Die Vereinsmitglieder zahlen zwar einen geringfügigen Monatsbeitrag, aber hauptsächlich wird der Verein durch die Genossenschaft finanziert. Diese vermietet zum Zeitpunkt der Forschung zwei Wohnungen an den Verein, hatte einen Kleinbus für Ausflüge gekauft und übernimmt die finanziellen Defizite des Vereins am Ende des Jahres als Spende. Der Klub unterhält in jedem der drei Häuser eine Begegnungsstätte, wo die Mieter auf Wunsch ihr Mittagessen einnehmen oder sich dort zu verschiedenen Veranstaltungen treffen können. Der Verein organisiert zudem ein wöchentliches Kaffeetrinken als Möglichkeit zum gemütlichen Beisammensein, außerdem Vorträge zu Rechts- und Gesundheitsfragen sowie Ausflüge und Feiern aus Anlässen wie Weihnachten, Ostern oder dem Internationalen Frauentag. Diese Aktivitäten korrespondieren mit den Gewohnheiten aus dem Sozialismus. Da der Verein den Status der Gemeinnützigkeit hat, darf die Mitgliedschaft nicht auf Genossenschaftsmitglieder beschränkt sein, aber so schätzt Herr Scholz: »80 Prozent sind unsere Leute, nich?« (tI, 30.3.2004) Durch die Verwendung des Possessivpronomens deutet sich im Zitat bereits eine Fortführung der Identifikation des Projektes mit der früheren BETRIEBsgenossenschaft an. So nimmt Herr Scholz auch an, dass etwa zwischen zwei Dritteln und der Hälfte aller Bewohner des Hauses schon vor dem Umzug in das Wohnprojekt Mitglieder der Genossenschaft (und damit im BETRIEB beschäftigt gewesen) waren. Eine Angestellte des BETRIEBs, deren Mutter in diesem Gebäudekomplex lebt, verwendet im Gespräch dementsprechend auch immer die alte Bezeichnung »Veteranenklub« für den neuen Seniorenverein. Der 54-jährige Finanzökonom Herr Scholz aus dem Vorstand der Wohnungsgenossenschaft hat bereits in der DDR sein berufliches Leben überwiegend in der damaligen Wohnungswirtschaft verbracht. Er begründet das Projekt überwiegend in ökonomischen Begriffen: Er habe, so erklärt er, die Idee angesichts des Wohnungsleerstandes seit Mitte der 1990er Jahre entwickelt:

10 Bei beiden handelt es sich um staatlich bezuschusste Tätigkeiten auf dem sogenannten zweiten Arbeitsmarkt für Personen, die entweder arbeitslos oder von Arbeitslosigkeit bedroht sind.

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»Wissen Sie, es geht ja um Kunden, nich? Es is ja: wenn wir nicht den Leerstand hätten, der Leerstand hat ja hier eingesetzt ab 96, wenn es keinen Leerstand gäbe in SEESTADT, wäre die soziale Betreuung wahrscheinlich der Senioren nicht so im Vordergrund.«

Und: »Die Senioren sind unsere Zukunft, eh das stimmt zwar nicht fürs Leben, aber für die Wohnungswirtschaft. Also, deshalb haben wir uns seit 1997 darauf konzentriert, Senioren eh anzulocken mit Wohnraum.« (tI, 30.3.2004)

Wie viele Wohnungsgenossenschaften kämpfte auch diese ehemalige AWG des BETRIEBs angesichts des Wohnungsleerstandes infolge der Abwanderung jüngerer und solventer Haushalte um das Überleben.11 Trotz dieser Begründung anhand der demographischen und wirtschaftlichen Entwicklung beschreibt Herr Scholz das mitgliederbezogene Klubleben als entscheidenden Faktor für den Erfolg: »Die Geselligkeit bei uns ist groß, weil man sich kennt, in einem Klub ist.« Er vergleicht dies mit anderen sozialen Einrichtungen die auf »mit Laufkundschaft« aufbauen und stellt fest, dass in ihrem Projekt »ein größerer Zusammenhalt ist« (tI, 30.3.2004). Noch deutlicher als er begründen andere Projektbeteiligte ihre Praktiken in moralischen Begriffen als Sorge. So etwa Herr Severin (62 Jahre), der als Geschäftsführer des Betreuungsdienstes im ersten Projektgebäude arbeitete und dort unter anderem für die Vermietung an geeignete Senioren zuständig war: »Deswegen wurde der Club dazu gegründet, von dem der Hauptsponsor ja die Wohnungsgenossenschaft ist, um eine Reihe von Dingen noch für die Älteren, vor allen Dingen im Kampf gegen die Einsamkeit, weiter voranzutreiben und auch das ein bisschen sozial abzufedern.« (tI, 1.4.2004)

Im weiteren Verlauf des Interviews stellt er eine Verbindung zwischen der Wahrnehmung der Wende und der (Wieder-)Einführung von Sorgepraktiken aus dem Sozialismus fest. Beginnend mit dem im Forschungszeitraum typischen Kommentar, dass nach der Wende die »sozialen Beziehungen kälter« geworden seien, erklärt er, dass sie versuchten, »die alten Sachen wieder aufzunehmen«, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Er erwähnt daraufhin explizit sowohl seine eigenen Anstrengungen in diesem Sinne wie auch die seines Vorgesetzten, des Besitzers des Betreuungs- und Pflegedienstes. So besuchten sie gemeinsam, ähnlich wie es früher das Veteranenkomitee getan hatte, die Senioren mit 11 Zur demographischen Entwicklung in SEESTADT siehe auch Abschnitt I.3.2.

208 | C ARE/S ORGE Glückwunschkarten und Blumen an runden Geburtstagen: »Die sind dann oft ganz erstaunt.« Er fährt dann fort, die subtilere Organisation alltäglicher Sorge als bewussten Versuch zu beschreiben, vertraute Routinen wieder einzuführen: »Früher konnten sie ja ihre Wäsche in den Häusern zwischen 16 und 18 Uhr beim Hauswart abgeben und wir organisieren das jetzt auch wieder so.« (TB, 1.4.2004) Das bedeutet, dass außer dem Namen als Symbol auch die Organisation des Vereins und die verschiedenen Care-Praktiken auf den Erfahrungen der Vergangenheit aufbauen. Basierend auf Mustern der Sorge in sozialistischen Betrieben und Gewerkschaften steigert dies ein Gefühl der Vertrautheit der Senioren in ihren neuen Lebensumständen und somit der Fähigkeit »to keep a particular narrative going«, wie Giddens es ausdrückt (1991: 54). Gemäß neo-liberaler Lesart postsozialistischer Transformation, könnte das Projekt der Wohnungsgenossenschaft als eine neue Dienstleistung eines privaten Akteurs interpretiert werden, der aufgrund ökonomischer Notwendigkeit und zwecks Verbesserung der Gewinnchancen in neue Formen der Sorge für Senioren investiert. Aufgrund des Wohnungsleerstands in den neuen Bundesländern, der sich nach der Wende und durch die erwähnten innerdeutschen Migrationsbewegungen ergab sowie den Kosten für deren Instandhaltung, hat die Genossenschaft Anstrengungen unternommen, eine wachsende Zahl von Senioren als Kunden zu gewinnen. Alternativ oder zumindest ergänzend könnte das Projekt auch als eine Steigerung der Qualität von Care durch den privaten Markt angesehen werden. Allerdings sind es gerade die konkreten Praktiken der Sorge, übernommen aus den staatlichen Modellen der sozialistischen Vergangenheit, und speziell der betrieblichen Veteranenbetreuung, die zum Erfolg beitragen. Die temporale Einbettung von Care in die Erfahrungen im Verlauf des Lebens steigert die Vertrautheit mit den angebotenen Sorgepraktiken und trägt so zum ökonomischen Gewinn bei. III.2.2.2 Care im BETRIEB: von materieller zu emotionaler Bedeutung Die Einführung der Marktwirtschaft und des bundesdeutschen Arbeitsrechts befreite Unternehmen von den Care-Verpflichtungen des DDR-Rechts gegenüber ihren ehemaligen Arbeitnehmern. Mit der schon in Kapitel I.2. erwähnten Übernahme der Rentenansprüche wurden zudem viele der früheren materiellen Sorgeleistungen wie etwa die Lieferung von Brennholz überflüssig und verschwanden gänzlich. Auch Care-Leistungen wie Gesundheitsdienste und Feriengestaltung wurden fortan nicht mehr durch die Betriebe erbracht. Ebenso endete die ehemals betriebsinterne Unterstützung der Bindung zwischen Mitarbeitern

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und ihren ehemaligen Kollegen.12 Eine ehemalige Angestellte aus der Buchhaltung des BETRIEBs – nun in Altersteilzeit – erzählt diesbezüglich, dass sie ihren 60. Geburtstag mit den Kolleginnen feiern wollte, aber der (westdeutsche) Abteilungsleiter ihr einen Raum für diesen Anlass verweigert habe. Sie kommentiert: »Da wird immer so getan, wenn man da mal ne Stunde zusammen sitzt.« Sie war so enttäuscht, dass sie das Gebäude seither »nie mehr betreten hat« (TB 9.12.2005). Obwohl also diese Formen der Sorge für Senioren endeten, haben die Jahresendfeier (umbenannt in Weihnachtsfeier) und die Geburtstagsfahrten weiterhin Bestand. Beide Rituale sind zum Zeitpunkt der Forschung Bestandteil der internen Vereinbarung zwischen Geschäftsführung und dem neu eingeführten Betriebsrat. Hier hat also eine Übernahme in der Bereitstellung von Care von der Gewerkschaft zum staatlichen Unternehmen stattgefunden. Im Forschungszeitraum ist Frau Schmidt-Hauser als Personalsachbearbeiterin zuständig für die betriebliche Sorge, die nun unter dem Begriff Seniorenbetreuung firmiert. So umfasst 2003 die betriebliche Sorge 465 Rentner. Fast 90 Prozent von ihnen haben im BETRIEB mehr als zehn Jahre gearbeitet und fast ein Viertel von ihnen hatte mehr als 30 Jahre Arbeitserfahrung im BETRIEB.13 2003 ernennt Frau Schmidt-Hauser zur Erleichterung ihrer Bemühungen einen sogenannten Seniorenbeirat bestehend aus inzwischen ehemaligen Mitarbeitern, wie etwa Frau Haupt. Der Beirat hilft ihr fortan in der Organisation und ist auch Teil des in der Eingangsvignette beschriebenen Empfangskomitees bei der Weihnachtsfeier. Durch diesen Einbezug früherer Mitarbeiter in die Organisation der betrieblichen Sorge gleichen diese Anlässe noch mehr den früher durch das Veteranenkomitee veranstalteten Festlichkeiten. Da die Veränderungen im Ablauf der Rituale geringfügig sind, ist die Verschiebung in der Bereitstellung von Care von der Gewerkschaft zum BETRIEB für die Rentner nicht unbedingt nachvollziehbar. Auf der Weihnachtsfeier 2004 z.B. beschwert sich eine 90-Jährige an meinem Tisch darüber, dass ihr niemand zum Geburtstag gratuliert habe, obwohl sie sogar im BETRIEB angerufen habe. In 12 Trotzdem frequentieren verschiedene ehemalige Betriebsangehörige immer noch den ehemaligen Betriebsarzt. Dieser führte zum Zeitpunkt der Forschung am selben Ort eine private Praxis. Es finden auch weiterhin Besuche ehemaliger Angestellter in ihren früheren Abteilungen statt. Ich konnte während meiner Feldforschungszeit mehrere solcher Besuche beobachten. Meistens sind sie höchst willkommen, einerseits aus sentimentalen Gründen, andererseits aber auch, weil aus diesem Anlass oft Ratschläge für die Lösung aktueller Probleme eingeholt werden konnten. 13 Die Angaben sind Resultate eigener Berechnungen auf Grundlage der mir überlassenen Daten aus dem BETRIEB.

210 | C ARE/S ORGE diesem speziellen Fall werden die Glückwünsche spontan auf der Bühne nachgeholt und eine Flasche Champagner überreicht (TB 11.12.2004). Der Zwischenfall zeigt aber, dass sie eine Sorgepraxis vermisst, die früher durch die Gewerkschaft erbracht wurde. Wie sie sehen auch andere Rentner in der betrieblichen Sorge eine Fortsetzung der sozialistischen Veteranenbetreuung. Dies ist ein Hinweis, dass die Sorgebeziehung durch die Empfänger als unverändert erlebt wird, obwohl die Verantwortung (das taking care of im Sinne von Tronto) auf einen anderen Akteur übergegangen ist. Im Gegensatz zu den Care-Empfängern unternimmt die gebende Seite durchaus Anstrengungen, diese Sorgepraktiken in die neuen ökonomischen und politischen Begriffe zu übersetzen. Frau Schmidt-Hauser, die in den Begriffen von Tronto mit dem konkreten giving of care befasst ist, betont etwa, dass es sich bei dieser Sorge um ein freiwilliges Zugeständnis und keine rechtliche Verpflichtung von Seiten der Betriebsleitung handelt. So antwortet sie laut eigener Aussagen auf Beschwerden über kleinere Kürzungen in der Bereitstellung von Care (beispielsweise die Umstellung auf kalte Canapés statt eines warmen Abendessens) mancher Senioren: »Wenn die Leute dann sagen: Das war doch schon immer so, dann sage ich: Dann werden wir das jetzt mal ganz schnell kündigen.« (TB, 17.6.2004)

In ihrem Kommentar wird deutlich, dass sie die Sorge für Senioren als freiwillige Gabe des BETRIEBs versteht. Es besteht kein Anrecht auf Care durch den ehemaligen Arbeitgeber, vielmehr sollten die Rentner dankbar sein. Interessanterweise wird hier also ein früherer rechtlicher Anspruch in der Marktwirtschaft in eine Gabe uminterpretiert. Bemerkenswert ist weiterhin, dass diese Interpretation fast genau der Beschreibung Verderys (1996) für den paternalistischen Staat des Sozialismus entspricht, nach der dieser die Bedürfnisse der Bürger definierte und deren Dankbarkeit für seine Gaben einforderte. Wie es schon im Kapitel zu den Westpaketen und anhand der in der theoretischen Grundlegung deutlich wurde, fördert eine solche offen hierarchische Konstruktion und Betonung der Abhängigkeit ambivalente bis negative Erfahrungen in Care-Beziehungen aus Seiten der Empfänger. Frau Schmidt-Hauser ist nicht die Einzige, die mehr Dankbarkeit einfordert. Auch der Geschäftsführer, Herr Hoffmann, klagt zu verschiedenen Anlässen über mangelnde Dankbarkeit seiner Belegschaft. So beschwert er sich auf einer Betriebsversammlung über das Aufhängen kritischer Zeitungsartikel und fügt hinzu, dass niemand gezwungen sei, im BETRIEB zu arbeiten. Und weiter: »Es scheint einigen Leuten nicht ganz klar zu sein, auf welcher Insel der

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Glückseligen sie hier leben.« (TB, 10.12.2003) Obwohl Care ähnlich wie früher Bestandteil von formalen internen Vereinbarungen ist, wird sie zunehmend als freie Gabe der Geschäftsführung interpretiert. Als solche ist die Neuverhandlung der Sorgepraktiken aus der betrieblichen Seniorenbetreuung Teil eines größeren Prozesses, indem die früheren Bindungen kapitalistisch umgedeutet werden und die immer drohende »Freisetzung« zur Norm gemacht wird. Teil der Umdeutungsprozesse ist neben der Beziehungsstruktur auch die Übersetzung der Zielsetzung der Sorgepraktiken in die neuen wirtschaftlichen Umstände. So führt Herr Hoffmann als Erklärung für die Fortführung der betrieblichen Sorge an, dass die Seniorenbetreuung eine vergleichsweise preiswerte Form der Werbung für sein Unternehmen sei: »Das ist eine Klimasache: Wenn ich das abbreche, bringe ich nur die Leute gegen uns auf und es kostet nicht die Welt.«

Und: »Man kann dort Informationen weitergeben und weiß, dass sie transportiert werden.« (TB, 30.3.2004)

Abgesehen von dem Hinweis, dass diese Form der Werbung nicht besonders teuer ist, enthalten seine Ausführungen auch eine Interpretation der Übernahme der Sorge als Anpassung an lokale Identifikationsmuster und Care-Normen. So interpretiert er die Feiern als Reaktion auf die bestehende Identifikation der Rentner mit ihrer ehemaligen Arbeitsstelle. Betrachtet man seine Interpretation aus der Perspektive seiner Position in einem staatlichen Unternehmen, die vom Stadtrat besetzt wird und daher abhängig von der öffentlichen Meinung und dem Ausgang der nächsten Wahlen ist, erscheint seine Argumentation durchaus folgerichtig. In Übereinstimmung mit dieser Interpretation nutzt er seine Weihnachtsreden im Forschungszeitraum stets zur positiven Darstellung des BETRIEBs und seiner Wirtschaftsbilanz. Die Annahme von Herrn Schmidt bezüglich der emotionalen Bindung an den früheren Arbeitsplatz durch die Rentner erscheint im Licht der Forschung ebenfalls stimmig. Während der drei aufeinander folgenden Jahre wurden in beiden Ereignissen jeweils kleinere Kürzungen vorgenommen. So müssen (alkoholische) Getränke im Jahr 2004, wie oben beschrieben, auf der Busfahrt gekauft werden, während sie im Jahr davor noch umsonst verteilt wurden. Auch der luxuriöse Bus des ersten Jahres ist in den darauffolgenden Jahren einem einfacheren Modell gewichen. Schließlich fielen 2005 zur Weihnachtsfeier die

212 | C ARE/S ORGE überreichten Geschenke kleiner aus und kalte Canapés ersetzen das warme Abendessen. Zudem legt statt dem professionellen DJ nun ein Mitarbeiter des BETRIEBs die Musik auf. Trotz mancher Kommentare zu diesen Kürzungen werden sie generell von den Senioren nicht übel genommen. Angesichts der vergleichsweise guten materiellen Situation der meisten von ihnen, sind die verbleibenden Elemente der Sorge weniger von materiellem denn von emotionalem Wert. Wenn die Rentner an den Veranstaltungen teilnehmen, dann nicht wegen eines warmes Essens oder eines warmen Raums für den Tag. Sie suchen vielmehr die Gemeinschaft mit den ehemaligen Kollegen, mit denen sie Erinnerungen an das Leben in einem Staat austauschen können, den es nicht mehr gibt. Dazu tragen, wie der nächste Abschnitt zeigt, verschiedene Elemente im Ablauf der Veranstaltungen bei, durch die Gemeinschaft und biographische Kontinuität (re-)produziert werden. (Wieder-)Herstellung von Gemeinschaft durch Care Die Versorgung mit Nahrung wird vor allem in der Verwandtschaftsethnologie als wichtiger Bestandteil der Herstellung von Bindung thematisiert. Neben der physischen Sorge gilt Kommensalität als Symbol von Gruppenidentität. Als solches waren und sind die rituellen Anlässen der betrieblichen Sorge für Senioren durch die gemeinsame Einnahme des Essens strukturiert. Das Teilen von Nahrung symbolisiert Inklusion: Diejenigen, die partizipieren, gehören zur Gemeinschaft des BETRIEBs im Unterschied zu anderen, die nicht (mehr) teilnehmen. Es ist diese Symbolkraft, die den Einschluss oder Ausschluss aus dieser Form der Sorge zu einem emotionalen Erlebnis werden lässt. Die oben schon angeführte Konstruktion der Seniorenbetreuung als Gabe trägt trotz der Ambivalenz ebenfalls zum Gemeinschaftsgefühl bei. Sowohl Frau Schmidt-Hauser als auch Herr Schmidt betonen in Interaktionen rund um diese Ereignisse immer wieder die harten wirtschaftlichen Umstände. Dadurch können die Rentner den Eindruck gewinnen, dass das dennoch für sie ausgegebene Geld ein Zeichen ihrer Wertschätzung durch das Unternehmen ist. Die Hinweise in der Rede des Geschäftsführers auf die schlechte Presse und die ›richtigen‹ Wirtschaftsdaten bei gleichzeitiger Betonung der Krise macht zudem deutlich, dass jeder der Anwesenden zum Wohl des BETRIEBes durch die Verbreitung der ›richtigen‹ Neuigkeiten beitragen könne und so immer noch am Schicksal des BETRIEBs beteiligt sei, so dass dieser auch weiterhin für die Feierlichkeiten aufkommen könne. Wie in der sozialistischen Vergangenheit werden die Beteiligung und die Rede des Geschäftsführers von den Senioren erwartet. Herr Braun beispielsweise

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kommentiert: »Ich find’s auch gut, dass der Hoffmann selber da ist.« (tI, 17.6.2004) Er war entsprechend (wie viele andere) sehr enttäuscht, als Herr Hoffmann im Jahr 2002 nicht an der Feier teilgenommen hatte. Sein Fernbleiben wird auch in den folgenden Jahren immer wieder kritisch diskutiert, obwohl sein Vortragsstil nicht sonderlich beliebt ist. Im Gegenteil enttäuschen seine Auftritte häufig sein Publikum vor allem ehemalige Führungskader, wie Herrn Braun, der den eingangs beschriebenen Auftritt von Herrn Hoffmann auf der Weihnachtsfeier im Jahr 2003 mit den Worten kommentiert: »Ich meine, äh, nach der letzten [Weihnachtsfeier], da war es ja so: Da hat er bloß gemeckert, nich? – Die Presse, dass sie da nicht richtig schreiben, um was es eigentlich geht. Aber da ist der Jäger wohl am sauersten drüber. Der, der hat ja auch uns informiert, ne, und äh, mir wär’s lieber gewesen, er hätte[ein] bisschen mehr gesagt, so wie es früher war: ›Leute, Leute das und das‹, nich? mit noch ein bisschen Zahlen, mit: ›Das kommt in Zukunft noch auf uns noch zu.‹ Aber ansonsten wird das sehr gut organisiert.« (tI, 17.6.2004)

Er erwartet stattdessen, ähnlich wie andere Teilnehmer, Reden im modernistischen Stil des Sozialismus mit mehr Zahlen und weniger dessen, was in diesem Kontext als Politik angesehen wird. Die Symbole der Zugehörigkeit (Kommensalität, Rede des Geschäftsführers) werden begleitet von emotionalen Elementen, die die Rituale im öffentlichen Raum ›privatisieren‹. Dazu gehört beispielsweise die eingangs beschriebene Begrüßung mit Umarmungen und persönlicher Ansprache. Frau SchmidtHauser, deren Berufsleben als 16-Jährige als Auszubildende im BETRIEB begann und die später auch schon in der sozialistischen Personalabteilung tätig war, kennt eine große Zahl der ehemaligen Belegschaft persönlich. Ebenso sind von den Helfern an der Tür (zwei weibliche Angestellte und die drei Mitglieder des von ihr ernannten Seniorenbeirats) aufgrund ihrer Arbeitsbiographien viele der Rentner persönlich bekannt. So kommt fast niemand unbemerkt durch die Eingangstür und viele werden mit ihren Spitznamen angesprochen, und hören eine herzliche Bemerkung zu einer geteilten Erinnerung aus dem früheren Arbeitsleben. Die individuellen Begrüßungen und ähnliche Handlungen, wie etwa das Zeigen ihres Geburtsorts und Familienhauses durch Frau Schmidt-Hauser während des Ausflugs im Jahr 2005, geben den Veranstaltungen trotz großer Teilnehmerzahl ein persönliches Flair. Zu all diesen Gelegenheiten ist Frau Schmidt-Hauser, ähnlich wie die von Hochschild (2003 [1983]) beschriebenen Stewardessen, fröhlich und freundlich zu jedem. Diese Sicherung eines Zugehörigkeits- und Gemeinschaftsgefühl ist

214 | C ARE/S ORGE nur möglich durch die Anerkennung des Bedürfnisses nach persönlicher Wertschätzung durch den früheren Arbeitsplatz. Haukanes (2007) beschreibt eine ähnliche emotionale Arbeit in einer ehemaligen LPG-Kantine durch deren Leiterin. Deren Praktiken der persönlichen Sorge für ihre Kunden nicht unähnlich, ist es die intime Atmosphäre die Frau Schmidt-Hauser und ihre Helfer schaffen, welche diese Veranstaltungen zu einer positiven Erfahrung für die Care-Empfänger macht. Im Vordergrund steht also nicht eine Devaluierung durch den Empfang von Care, wie er vielfach in der in der theoretischen Grundlegung angeführten Disability-Literatur beschrieben wird, sondern eine individuelle Bestätigung der eigenen Biographie sowie der Bindung zum BETRIEB (wiewohl in einem hierarchischen Verhältnis). In manchen Fällen geht diese persönliche Sorge über die Veranstaltung selbst hinaus. So erzählt Herr Braun beispielsweise, dass er in der Zeit, als er nicht an den Weihnachtsfeiern teilnahm, Briefe mit Nachfragen nach den Gründen für sein Fernbleiben von Frau Schmidt-Hauser erhielt: »Wir werden also schriftlich aufgefordert, äh, an der Weihnachtsfeier teilzunehmen. Und, jetzt sag ich auch mal die Kehrseite, das hab ich auch erfahren. Da hab ich mich ein paar mal nicht gemeldet, dann kriegte ich einen Brief: ›Hör zu was, was ist denn los? Hast du keine Lust mehr, oder so?‹ Ja, dann habe ich fix hier dazu erstmal einen Brief geschrieben, nich? Dann habe ich mich dreimal entschuldigt, hatte auch mal ein bisschen vernachlässigt die ganze Sache, und dann hab ich mich da entschuldigt und dann war ich wieder drin.« (tI, 17.6.2003)

Das Zitat zeigt, dass Herr Braun es sehr schätzte, dass seine Abwesenheit wahrgenommen wurde. Auf die persönliche Nachfrage antwortete er sofort und nahm ab dem darauffolgenden Jahr wieder an der Sorge für Senioren teil. Fortan war wieder Teil der Gemeinschaft – »drin«, wie er sagt. Ähnlich wurde auch Herr Müller zunächst wiederholt angeschrieben, bevor er 2005 zum ersten Mal zu einer Weihnachtsfeier kommt.14 Die meisten der Rentner zeigen sich durchaus zufrieden mit diesen neuen Formen der betrieblichen Sorge für Senioren. Häufig wird betont, dass man froh sei, dass es die Veranstaltung noch gebe und »man sich einmal im Jahr trifft«. Zu dieser positiven Bewertung trägt das Wissen bei, dass nur noch wenige Fir-

14 In ihr Fernbleiben in den ersten Jahren spielte eventuell die unausgesprochene Erwägung hinein, dass beide sich als frühere Funktionäre in den ersten Jahren nicht sicher sein konnten, wie ihre Anwesenheit aufgenommen werden würde.

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men (wovon die meisten staatlich sind) solcherart Care weiterhin anbieten.15 Eine Rentnerin drückt es so aus: »Das machen nur noch wenige, da kann man stolz sein.« (TB 2.4.2004) und Herr Müller kommentiert die Feierlichkeiten und Ausflüge mit den Worten: »Ist ja alle Achtung wert, dass sie es noch machen.« (TB 30.3.2004) Neben der allgemeinen Zufriedenheit mit der betrieblichen Sorge drücken sie also die Bedeutung der Zugehörigkeit zu einer ›guten‹ Gemeinschaft aus. So unterhalten sich etwa drei Senioren (eine Frauen und zwei Männer) beim Verlassen der Weihnachtsfeier auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle darüber, wie sehr sie die Feier genossen hätten. Sie kontrastieren in der Unterhaltung diesen Abend mit ihren sonstigen Erfahrungen des Verlusts von Geselligkeit und Zusammenhalt, weil es »so eine Geselligkeit gar nicht mehr gibt« und »ja gar keinen Zusammenhalt mehr«. Die Rentnerin geht noch weiter und verortet die Verantwortung für den fehlenden Zusammenhalt in einer nicht näher benannten Obrigkeit: »Das wird aber auch gemacht, das ist doch alles gar nicht mehr gewollt.« (TB 10.12.2004)16 Die Senioren drückten hier, in ähnlicher Weise wie Herr Severin von der Wohnungsgenossenschaft, einen Verlust an persönlicher Nähe nach der Wende aus. Die implizite Gegenüberstellung dieser Verhältnisse mit der gerade verlassenen Veranstaltung zeugt zusätzlich aber von der Interpretation, dass der BETRIEB einer der wenigen Orte sei, wo eben genau diese Art der Geselligkeit »noch gewollt« bzw. fortgeführt werde. So wie sie sind viele der Rentner dankbar und sprechen mit Anerkennung über das Unternehmen und dessen Geschäftsführer, die von meinen Gesprächspartnern häufig als »sehr sozial« bezeichnet werden. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die ehemalige Veteranenbetreuung ihre materielle Dimension verloren hat, hingegen die säkularen Rituale an emotionaler Bedeutung für die Teilnehmenden eher noch gewonnen haben. Die Reden, die Rundfahrten und Feiern bestärken sie in ihrem Zugehörigkeitsgefühl zur größeren Gemeinschaft des BETRIEBs. Im Bewusstsein der Bedeutung der persönlichen Beziehungen beginnt Frau Schmidt-Hauser angesichts ihres eigenen, in ein paar Jahren anstehenden Renteneintritts, bereits mit der Einarbeitung ihrer Nachfolgerin in diese Aufgabe. Die positive Annahme dieser Sorgepraktiken bedeutet nicht, dass es gar keine Widersprüche, Hierarchien oder Konflikte gäbe. Im Gegenteil: Die Rituale 15 Ich habe während der Feldforschung zumindest gehört, dass das städtische Theater, die Verkehrsbetriebe sowie ein privatisiertes Staatsunternehmen die Veteranenbetreuung in der einen oder anderen Form ebenfalls fortführten. 16 Zu ähnlichen Annahmen über die Absichten der neuen Firmenleitung siehe auch das vorangegangene Kapitel.

216 | C ARE/S ORGE reproduzieren auch alte und neue Hierarchien. Schon die Sitzordnung bei den Weihnachtsfeiern etwa spiegelt verschiedene Hierarchieebenen. So sitzt Herr Hoffmann als Geschäftsführer beispielsweise nahe des Eingangs an einem Tisch mit gegenwärtigen oder pensionierten leitenden Angestellten, wie etwa Frau Haupt und Herr Jäger (im ersten Jahr nach seiner Pensionierung 2005). Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums sitzen hingegen frühere leitende Kader, wie etwa auch Herr Braun und Herr Müller, zusammen. An anderen Tischen wiederum gesellen sich ehemalige Arbeiter, oft in Gruppen vormaliger Brigaden zusammen und machen gelegentlich Scherze über die früheren Funktionäre. So kommentieren der zu dieser Zeit für die gewerkschaftliche Seniorenbetreuung zuständige Herr Spicher und sein Tischnachbar auf der Weihnachtsfeier 2003 das Hereinkommen von Herrn Müller »mit hocherhobenen Kopf«, mit dem Ausspruch: »Der kann es einfach nicht lassen.« Und: »Jaja, die Funktionäre erkennt man.« (TB 10.12.2004) Abgesehen von diesen Mustern ist auch die Ernennung des Seniorenbeirats ein beredtes Beispiel für die Reaktivierung alter Hierarchien in den Ritualen rund um die betriebliche Sorge. Frau Schmidt-Hauser wählt als Mitglieder die ehemalige Sekretärin des Betriebsdirektors (Frau Haupt), eine frühere Vorsitzende des Zentralen Frauenausschuss sowie einen Führungskader aus dem »Direktorat für Soziale und Kulturelle Betreuung«. Dies bedeutet, dass ehemalige Führungskräfte wieder eine gut sichtbare Rolle bei diesen Veranstaltungen betrieblicher Sorge für Senioren spielen. Die Rituale schaffen so – nicht unähnlich dem im nächsten Kapitel geschilderten ELISENCAFE – einen Raum, in dem alte Gewissheiten über Differenzen und Hierarchien wiederbelebt werden können und gleichzeitig einen Raum der Kontinuität mitten in der Veränderung. Die biographische Kontinuität, die diese Sorgepraktiken durch die Reproduktion der Bindung zum BETRIEB erzeugen, beschränkt sich aber nicht auf die Rentner, sondern erstreckt sich auch auf die heutigen Mitarbeiter. Viele der Letzteren sind sich der Existenz der Seniorenbetreuung bewusst und sehen, ähnlich wie die oben zitierte Küchenarbeiterin im Sozialismus, von ihren Arbeitsplätzen aus zu, wie die Senioren zu ihren Ausflügen aufbrechen. Im Laufe der drei Jahre meiner teilnehmenden Beobachtung kann ich zudem mehrmals beobachten, wie Mitarbeiter, die ich noch in ihrer aktiven Zeit im BETRIEB kennengelernt habe, zum ersten Mal zum Ausflug kamen oder an der Weihnachtsfeier teilnehmen. In dieser Weise ist betriebliche Sorge für die Senioren Teil der Zukunftserwartung der gegenwärtigen Mitarbeiter und stärkt auch deren Zugehörigkeitsgefühl. Lächelnd blickt etwa die Betriebsratsvorsitzende über die Menge der älteren Weihnachtsgäste und kommentiert: »Manche hier freuen sich das ganze Jahr darauf.« (TB 9.12.2003) Sie nimmt nicht nur selbst an der Feier

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teil, sondern ist auch stolz, dass der BETRIEB weiterhin diese Veranstaltungen finanziert. Ähnlich drückt sich auch eine der Helferinnen von Frau SchmidtHauser aus dem Begrüßungskomitee aus: »Manchmal, wenn ich sage, ›Wir haben heute unsere Veteranenparty‹, dann wird gesagt: ›Wirklich? Gibt es das noch?‹ Da kann man sich nicht beschweren, das ist schon toll. Viele sagen auch: ›Das hätten wir auch gern.‹« (TB, 9.12.2005)

Durch das Gefühl einer »guten« Gemeinschaft anzugehören, die stabiler als andere geblieben ist, unterstützen die Veranstaltungen der betrieblichen Sorge auch den Prozess der Identifikation und die Herstellung biographischer Kontinuität der (noch) Erwerbstätigen. Nichtsdestoweniger gibt es auch Veränderungen, von denen manche konfliktiv aufgenommen wurden. So werden etwa ehemalige Betriebsangehörige, die nach 1990 vor ihrer Rente entlassen wurden, nicht eingeladen. Diese sind manchmal schwer enttäuscht, wenn sie frühere Kollegen zufällig treffen und im Gespräch entdecken, dass sie keine Einladung der Seniorenbetreuung erhalten haben. Da sich beide in gleicher Weise mit dem früheren Arbeitsplatz identifizieren, beschweren sie sich dann im BETRIEB. Die Erklärung, dass man aus dem aktiven Arbeitsleben im BETRIEB in den Ruhestand eintreten muss, um in die betriebliche Sorge einbezogen zu werden, wirkt in diesen Fällen wenig überzeugend. Die Empörung über die empfundene Ungerechtigkeit des Ausschlusses weist einmal mehr auf die emotionale Bedeutung der Anerkennung der lebenslangen Arbeit und damit dieser Form von Care hin. Andere Formen der Exklusion aus der heutigen Seniorenbetreuung sind weniger umstritten. Beispielsweise werden die Geburtstagsfahrten während der Jahre 2003-2005 nur noch einmal im Jahr und nur für diejenigen organisiert, die einen runden Geburtstag zu feiern haben. Auch diejenigen, die sich in der passiven Phase der Altersteilzeit befinden, dürfen (da noch nicht offiziell in Rente) seit 2004 nicht teilnehmen. Auch die Ehepartner der Senioren, die nicht selbst im BETRIEB gearbeitet haben, werden nicht mehr eingeladen. Dieser Umstand liefert beispielsweise für Herrn Müller die Erklärung für seine Nicht-Teilnahme in den ersten Jahren: »Wenn wir und im Sozialismus erlauben konnten die Ehepartner einzuladen, warum soll das jetzt nicht mehr möglich sein?« (TB, 30.3.2004) Allerdings erwähnt diesen Punkt niemand außer ihm. Den eingeladenen Rentnern ist im Allgemeinen die formale Anerkennung und Wertschätzung durch den BETRIEB wichtig, die konkrete Bereitstellung oder deren Ausweitung auf ihre Familienmitglieder sind daher eher nebensächlich und selten einer Beschwerde wert.

218 | C ARE/S ORGE

III.2.4 S CHLUSSBEMERKUNG : C ARE

FÜR S ENIOREN ZWISCHEN STAATLICH UND NICHT - STAATLICH : MATERIELL UND EMOTIONAL

In diesem Kapitel wurden verschiedene Formen der Übernahme der sozialistischen Veteranenbetreuung in neue bzw. reformierte Institutionen und Sorgebeziehungen nach der Wende beschrieben. Die Veränderungen dieser Care-Praktiken lassen sich nicht einfach als ein Rückzug des Staates und damit einer Verschiebung von öffentlich zu privat, staatlich zu nicht-staatlich oder formal zu informell fassen. Stattdessen überlappen sich vor wie nach der Wende verschiedene Quellen und Formen der Bereitstellung von Care; und manchmal übernehmen staatliche Instanzen auch neue Sorgeverantwortung nach dem Sozialismus. Die beschriebenen Prozesse der Neuverhandlung und Umdeutung veranschaulichen dabei die Komplexität der sich wandelnden Sorgebeziehungen nach dem Sozialismus. Obwohl in spezifische legale und ökonomische Reformen eingebettet, sind die transformierten oder neuen Formen der Sorge nur erfolgreich, wenn sie eine direkte Verbindung mit den früheren Formen von Care im Sozialismus aufweisen, die sich mit den individuellen Erfahrungen und Zukunftserwartungen decken und gleichzeitig dazu beitragen können, ein Gemeinschaftsgefühl zu reproduzieren. In beiden Fällen hat staatlich geleistete Sorge – weit entfernt davon kalt und unpersönlich zu sein – sowohl vor wie nach der deutschen Vereinigung, eine emotionale Komponente. So entziehen sich alte wie neue Formen der betrieblichen Sorge nicht nur einer Einordnung in die Dichotomie staatlich versus nichtstaatlich, sondern auch ihrer Klassifikation als ›formell‹ oder ›informell‹, ›traditionell‹ oder ›modern‹, ›kalt‹ oder ›warm‹. Sozialistische Veteranenbetreuung war als Teil staatlicher sozialer Sicherung eine komplexe Mischung aus materieller, instrumenteller und emotionaler Sorge. Verantwortlich für das giving of care im Sinne Trontos waren vor allem gewerkschaftliche Komitees. Das (westliche) Standardbild des (sozialistischen) Staats als kalt und bürokratisch trifft auf die Veteranenbetreuung nicht zu, denn diese enthielt ein hohes Maß an Geselligkeit, informelle face-to-face-Interaktion und holistischer Sorge. Nach der deutschen Vereinigung wurde die Veteranenbetreuung durch verschiedene Akteure in unterschiedlichen Organisationen in die neuen Verhältnisse inkorporiert. Als früher gebende Seite hat die Gewerkschaft an Bedeutung verloren, denn sie ist nach dem Sozialismus nicht nur exklusiver, sondern auch politisierter geworden. Stattdessen übernahm der immer noch staatliche BETRIEB diese Rolle für die ehemaligen und jetzigen Angestellten. Dies könnte als Übernahme von Sorgeverantwortung entweder von einem zivilgesellschaftlichen Akteur

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oder, möchte man die sozialistische Gewerkschaft als staatlichen Akteur verstehen, zumindest als Verschiebung der Sorge von einem staatlichen Akteur zu einem anderen interpretiert werden. Diese Verschiebung wird aber von den Empfängern, den Rentnern, nicht wahrgenommen. Ihnen erscheint die neue betriebliche Sorge vielmehr als direkte Nachfolgerin der früheren sozialistischen Veteranenbetreuung. Allerdings wurde auch im BETRIEB die Bereitstellung von Care exklusiver; und für die verbleibenden Empfänger verschiebt sich die Bedeutung der Sorge: Materielle und instrumentelle Formen verschwinden und übrig bleibt eine Sorgepraxis mit vornehmlich emotionaler Bedeutung. Es lässt sich also eine ähnliche Bedeutungsverschiebung wie für Familienbeziehungen ausmachen, denn auch diese haben Teile ihrer Bedeutung als existentielle Grundlage verloren, während sie gleichzeitig deutlich emotionalisiert wurden. In beiden Fällen bedeutet die Verschiebung nicht, dass die Bindungen unwichtiger für den gesellschaftlichen Zusammenhalt würden. Im Zusammenhang mit der Bedeutungsverschiebung der bereitgestellten Ressourcen steht eine Verschiebung der sozialen Konstruktion und Anerkennung der Bedürftigkeit von Rentnern. Da ihre Renteneinnahmen als ausreichend angesehen werden, werden sie nicht mehr grundsätzlich als bedürftig eingestuft und der Verlust der materiellen Zuwendungen aus dem früheren BETRIEB hat keinen deutlich sichtbaren Effekt auf ihre Lebensqualität. Die emotionale Bedeutung ist verbunden mit der speziellen Form der Transformation nach der Wende, die die früheren Perspektiven, Routinen und die Arbeitsethik im Sozialismus in Frage stellte. Wie auch andere ehemalige DDR-Bürger, müssen die Senioren mit den neuen Unsicherheiten und einer Abwertung ihrer Biographien umgehen. Die betriebliche Sorge wurde daher von den Akteuren vor dem Hintergrund der Praktiken aus der Vergangenheit und den von ihnen als »kälter« empfundenen neuen Sozialbeziehungen interpretiert. Die Möglichkeit ehemalige Kollegen zu treffen und die Bindungen der Vergangenheit wiederzubeleben, macht das Schlüsselelement dieser Sorge aus. Obwohl multiple Beziehungen zum früheren Arbeitsplatz verschwanden, reproduzieren die Veranstaltungen der betrieblichen Sorge (wieder) Ordnung, Kontinuität und das Gefühl einer ›guten‹ Gemeinschaft anzugehören. Analog zu anderen Betriebsritualen (Rosen 1985, 1988; Wittel 1997; Rottenburg 1992) diente Care für Senioren von Seiten der jeweiligen BETRIEBsleitung auch dazu, Betriebsideologie und Hierarchien zu kommunizieren. Innerhalb des Rituals erschufen die Rentner, die nicht länger dem BETRIEB angehörten, aber auch die alten Hierarchien (wieder) und tragen so zur Reproduktion der Gemeinschaft bei. Die sozialistische Sorge ist somit nicht verschwunden, vielmehr wur-

220 | C ARE/S ORGE den ihr in diesem Prozess neue Bedeutungen zugeschrieben und bei gleichzeitigem Verlust der materiellen Bedeutung wurde ihr emotionaler Anteil bestärkt. In ähnlicher Weise beruht auch der wirtschaftliche Erfolg des Seniorenprojektes der Genossenschaft deutlich auf vertrauten Sorgepraktiken der sozialistischen Zeit. Die Genossenschaft operiert auf einem Markt, in dem Senioren aufgrund der Migrationsmuster und demographischen Entwicklung langsam zu Schlüsselkonsumenten werden. Das Servicewohnen kann unter diesen Umständen zwar teilweise als Transfer der Verantwortlichkeit vom Staat auf den Markt interpretiert werden. Trotzdem beruht der Erfolg nicht auf neuen Routinen, sondern gerade auf dem Nachahmen der früheren staatlich angebotenen Care-Praktiken. In allen drei Inkorporationen, der Gewerkschaft, der Wohnungsgenossenschaft und dem BETRIEB, sind die Sorgepraktiken nach dem sozialistischen Vorbild geformt. In diesem Zusammenhang stellen die neuen Formen der Sorge für Senioren alltägliche Praktiken dar, die den Rentner wie Mitarbeitern ein Gefühl der biographischen Kontinuität und Zugehörigkeit vermitteln können. Die Inkorporation alltäglicher sozialistischer Praktiken in die neuen Verhältnisse kann biographische Kontinuität bestätigen und so bedeutsame Beziehungen zum BETRIEB bzw. alten Kollegen (re-)produzieren, aber auch neue Sorgebeziehungen wie etwa im Wohnprojekt ermöglichen. Interessanterweise gleichen manche der in diesem Kapitel beschriebenen Bedeutungsverschiebungen denjenigen, wie sie im folgenden Kapitel für das personell und strukturell ganz anders zusammengesetzte ELISENCAFE beschrieben werden. Ähnlich der ›Privatisierung‹ einer staatlichen Form der Sorge durch Übernahme privatwirtschaftlicher Träger, aber auch durch den Organisationsstil der Verantwortlichen, stellt das folgende Kapitel eine Ausweitung familiärer Sorgepraktiken in den öffentlichen Bereich vor. Während die Empfänger der betrieblichen Sorge jedoch eine emotionale Bestätigung ihrer Lebensleistung und Zugehörigkeit durch die beschriebenen Praktiken erhalten, weil die NachWende-Entwicklung ihre ›Normal-Biographie‹ der DDR in Zweifel zieht, handelt es sich im folgenden Kapitel um Akteurinnen mit Dissidentenbiographien. Ihre Care-Entscheidungen im Lebenslauf machten sie zu Außenseiterinnen in der DDR-Gesellschaft und daher bestätigen die Praktiken auch weniger die Identität der empfangenden Seite als vielmehr die der Gebenden.

III.3 Care als Widerstand: das ELISENCAFE

Es ist ruhig an diesem Freitagnachmittag im ehemaligen Küsterhaus neben der evangelischen Buchhandlung. In den zwei kleinen, miteinander durch einen Durchgang verbundenen Räumen befindet sich neben der gleichnamigen Kirche das ELISENCAFE. Eine ältere Dame bedient die wenigen Gäste und in der Küche ist Frau Meier damit beschäftigt, einen frischen Kuchen aus dem Ofen zu ziehen. Zwei Gäste stehen am Eingang zur Küche und diskutieren über die Wahl eines Kuchenstücks. Es gibt keine sichtbaren christlichen Symbole in den Räumen des Cafés wie etwa Kruzifixe oder Bilder offensichtlich religiösen Inhalts. Außerdem liegen ›weltliche‹ Zeitungen und Magazine aus. Im Hintergrund spielt leise klassische Musik und im angrenzenden Büroraum arbeitet Frau Schneider an Abrechnungen. Eine Frau kommt mit frischen Blumen herein, die sofort auf den Tischen neben den bereits brennenden Kerzen verteilt werden. Bis das Café am frühen Abend schließt, werden nur wenige weitere Gäste dazu kommen.

Das ELISENCAFE befindet sich im Zentrum von SEESTADT und hat gewöhnlich von Montag bis Samstag von elf bis 18 Uhr geöffnet. Während die Nachmittage meiner teilnehmenden Beobachtung meist eher dem oben beschriebenen Verlauf glichen, waren die abendlichen Anlässe in den kleinen Räumlichkeiten durch mehr Betriebsamkeit charakterisiert. An einem Montagabend im März 2004 ist im ELISENCAFE eine Lesung angekündigt. Schnell sind die kleinen Räumlichkeiten überfüllt; es müssen weitere Stühle herbeigeschafft werden. Die Gäste, überwiegend ältere Frauen, kennen sich zumeist untereinander und sind bald in rege Gespräche vertieft. Ein Pfarrer, der nach der Wende auch Vorsitzender des ersten demokratisch gewählten Stadtrats in SEESTADT war, liest eine humorvolle Geschichte von Elke Heidenreich vor. Danach gibt es noch ein wenig Diskussion zum Thema, vor allem aber weitere lebhafte Gespräche, die vorwiegend um die turbulenten Ereignisse der Jahre 1989/90 kreisen (TB, 29.3.2004).

222 | C ARE/S ORGE Als ein gemeinnützig anerkannter Verein kann das ELISENCAFE, um mit Dahrendorf (1979) zu sprechen, als Beispiel ›privater‹ Sorge in der Bürgergesellschaft gelten. Doch wem gilt hier die Sorge und welche Ligaturen werden durch sie geschaffen oder reproduziert? Mit diesen Fragen beschäftigt sich dieses Kapitel unter besonderer Berücksichtigung der Wechselbeziehungen zwischen entscheidenden Erfahrungen im Lebenslauf, religiösen Normen und verschiedenen CarePraktiken. Zunächst wird der Frage nachgegangen, auf welche Bedürfnisse sich die beschriebenen Praktiken richten.1 Wie in den vorangegangenen Kapiteln kann auch in diesem Fall Sorge und ihre inhärenten Ambivalenzen nur vor dem Hintergrund der Einbettung individueller Biographien in die sich wandelnde staatliche Politik verstanden werden. Dabei zeigen sich trotz aller Unterschiede zwischen den Akteurinnen des ELISENCAFE und den bisher zu Wort gekommenen Senioren in der Analyse auch Ähnlichkeiten. Dies gilt insbesondere für die emotionale Bedeutung von Care als Bestätigung biographischer Kontinuität in Zeiten rapiden Wandels durch Verlagerung privater Sorge in den öffentlichen Raum. Als Hauptprotagonistinnen werden in diesem Kapitel besonders die beiden Gründerinnen des Cafés, Frau Baum und ihre Freundin Frau Scholz, sowie als weitere Mitarbeiterinnen Frau Meier und Frau Schneider und das Vereinsmitglied Frau Becker vorgestellt.

III.3.1 C ARE

IM GEMEINNÜTZIGEN

V EREIN

Der Alltag im ELISENCAFE ähnelt in den zwei Jahren, in denen ich die Entwicklung teilnehmend begleite, meist der Beschreibung des ruhigen Nachmittags der obigen ethnographischen Vignette. In dieser Zeit können mehr und mehr Gäste gewonnen werden, von denen die meisten das Café durch eine Freundin oder Bekannte kennenlernen. Manchmal kommen auch Touristen, die bei einer Führung in der benachbarten Kirche auf seine Existenz aufmerksam gemacht wurden. Zusätzlich nutzen im Forschungszeitraum auch manche Gruppen den Ort als Treffpunkt, so z.B. eine evangelische Frauengruppe oder eine Gruppe zur Unterstützung der Kinder von Tschernobyl. Wegen des Status der Gemeinnützigkeit, so erklärt man mir, muss die Bezahlung trotz der festgelegten Preise als Spende gelten. Insgesamt aber zeichnen sich keine weiteren Care-Praktiken ab, die über die Versorgung der Gäste hinausgehen. Die ehrenamtlichen Helferinnen nähern sich den Kunden nur in ihrer Eigenschaft als Bedienung, d.h. um Kuchen

1

Zu den verschiedenen Ebenen sozialer Sicherung zwischen religiösen Normen und individuellen Lebenswegen im ELISENCAFE siehe auch Thelen (2009).

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und Getränke zu niedrigen Preisen anzubieten. Sie versuchen nicht, Gespräche oder Rat in Krisensituationen anzubieten oder irgendwelche materiellen Hilfen zu verteilen. Analog zur säkularen Ausstattung der Räumlichkeiten bieten sie auch keine spirituelle Hilfe und machen keine Missionierungsversuche. Dies wirft die Frage nach der in diesem Kontext geteilten Konstruktion von Bedürftigkeit und Sorge auf. Erste Anhaltspunkte bietet die gedichtartige Selbstbeschreibung eines Faltblatts, das im Café ausliegt: Frauen sitzen am Küchentisch Gesprächsthemen? Daran ist kein Mangel: Arbeit, Familie, Zeiteinteilung, Geld, Freundinnen, Kirche – Kurz gesagt: Gott und die Welt. Plötzlich ist die Idee geboren. Wir wollen solchen Gesprächen mehr Raum geben. Begegnungen initiieren. Ein Betätigungsfeld schaffen für Frauen die Zeit und Lust haben sich in einer Begegnungsstätte zu engagieren. Die Idee eines Cafés mit nicht-kommerziellem Charakter Ist geboren und springt auf andere über.

In dem hier dargestellten Gründungsszenario entspringt die Idee einem Gespräch von Frauen in der Küche, also einem Ort an dem Familiemahlzeiten zubereitet und eingenommen werden. Die Idee entpuppt sich im Weiteren als Café, also ein öffentlicher Raum, wo Essen für Gäste zubereitet und serviert wird. Das Produzieren und Servieren von hausgemachtem Kuchen für Gäste in einer gemütlichen Atmosphäre ähnelt den familiären Sorgepraktiken zu Hause. Aus dieser Perspektive kann das Café als ein Raum gesehen werden, in dem ihre Sorge als Hausfrauen und Mütter in die Öffentlichkeit ausgeweitet wird. Das Faltblatt spricht auch ausdrücklich über den Transfer des privaten Austauschs: »Wir wollen solchen Gesprächen mehr Raum geben.« Während das Faltblatt in der letzten Zeile eine gewisse und wahrscheinlich gewünschte Dynamik der Idee dieses Austauschs nahelegt, überzeugt in einer mündlichen Erzählung der Gründung zunächst Frau Baum 1997 ihre Freundin Frau Scholz. Beide Frauen kennen sich seit über 40 Jahren und verfügen über ein breites Netzwerk in kirchlichen Kreisen. Zum Zeitpunkt der Idee steht Frau Baum kurz vor dem Renteneintritt und Frau Scholz als Mitfünfzigerin ist arbeitslos. So wie sie sind alle der beteiligten Frauen (mit einer Ausnahme) über 50 Jahre alt und haben meist Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt. Vor diesem Hintergrund erscheint auch die in der Selbstbeschreibung genannte Motivation

224 | C ARE/S ORGE der Schaffung eines Betätigungsfeldes für Frauen einsichtig. Zu anderer Gelegenheit sagt Frau Baum, dass das Café »den Frauen wieder einen Sinn im Leben gibt« (TB 19.8.2003). Im Grunde gilt die Sorge also nicht etwaigen Gästen, sondern den am Verein Beteiligten. Warum aber brauchen diese Frauen eine solche Sinngebung? Von den etwa 30 ehrenamtlichen Helferinnen, die mehr oder weniger regelmäßig meist paarweise eine von zwei Schichten übernehmen, sind nur einige wenige in klassischen biographischen Krisen- und Übergangssituationen (wie etwa schwere gesundheitliche Probleme, Tod des Ehepartners oder Renteneintritt) zu dem Verein gestoßen. Als ich daher die Gründerin des Cafés Frau Baum frage, mit welcher Begründung sie den Status der Gemeinnützigkeit beantragt habe, antwortet sie: »Wir helfen auch. Z.B. arbeitet Frau Hübscher hier und sie hätte sonst nur eine kleine Rente.« (TB 19.8.2003) Die Bedeutung des Hinweises auf das Einkommen einer einzelnen Frau statt auf eine Form von public good erschließt sich erst im Hinblick auf die damit verbundene Anerkennung eines Care-Bedürfnisses. In einem anderen Gespräch kommentiert Frau Baum die Anstellung von Frau Meier folgendermaßen: »Ich wusste, dass sie es nicht leicht hatte und sie brauchte das [die Anstellung] auch.« (TB 22.6.2005) Diese Aussage deutet an, dass Frau Meier (unverdiente) Unbill erlebt hat, weswegen sie einer Unterstützung bedürftig ist. Tatsächlich unterstützt das ELISENCAFE, nachdem im Jahre 2002 die staatlichen ABM-Maßnahmen ausgelaufen sind, noch insgesamt fünf Frauen durch kleine Einkommen in Form sogenannter Minijobs.2 Frau Scholz und Frau Schneider erledigen verwaltungstechnische, buchhalterische und organisatorische Aufgaben; Frau Meier und Frau Bach backen täglich frischen Kuchen und Frau Alexandrova (eine Migrantin mit russlanddeutschem Hintergrund) putzt die Räumlichkeiten. Warum gelten also die Einkommen dieser Frauen im Umfeld des ELISENCAFEs als gemeinnützige Leistung? Um diese Konstruktion von Bedürftigkeit und die darauf gerichteten Sorgepraktiken zu untersuchen, werden im Folgenden zwei der Frauen etwas detaillierter vorgestellt. Frau Meier wächst im Süden der DDR in einer evangelischen Familie auf. Nach Abschluss der Schule absolviert sie zunächst eine Ausbildung im Waggonbau. Danach gelingt es ihr, mit Hilfe der Kontakte in ihrer Kirchengemeinde, nach SEESTADT zu 2

Minijob bezeichnet eine geringfügige Beschäftigung von unter 15 Stunden in der Woche mit einer geringen absoluten Höhe des Arbeitsentgelts (zwischen 1999 und 2003 lag der Höchstsatz bei 325 Euro). Für solche Beschäftigungsverhältnisse gelten im Sozialversicherungsrecht und bei der Lohnsteuer teilweise andere Regeln als für nicht geringfügige Beschäftigungsverhältnisse.

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ziehen. Dort heiratet sie einige Jahre später einen Agraringenieur, den Sohn eines pietistisch inspirierten Pastors aus derselben Vereinigung innerhalb der evangelischen Kirche. Das Paar gehört seitdem zu den aktiven Laienmitgliedern der Gemeinde. Nach der Geburt ihrer drei Söhne gibt Frau Meier ihre Berufstätigkeit auf. Als die Jungen zwischen zehn und 15 Jahre alt sind, bietet die lokale LPG ihr eine Stelle als Milchkontrolleurin an. Sie weigert sich jedoch, ganztags zu arbeiten und lässt sich nur zu einer Teilzeitbeschäftigung überreden. Diese erlaubt es ihr, früh am Morgen bevor ihre Kinder aufwachen, zu arbeiten und die Schreibarbeiten später zu Hause zu erledigen. Nach der Vereinigung verlieren zunächst beide, Frau Meier und ihr Mann, aufgrund der ökonomischen Restrukturierung ihre Arbeitsplätze. Während aber Herr Meier recht schnell eine neue Anstellung in einer christlichen Organisation findet, hat Frau Meier weit größere Schwierigkeiten, sich erneut auf dem Arbeitsmarkt zu etablieren. Nur einmal verfügt sie über ein Anstellungsverhältnis in einem kirchlichen Seniorenprojekt, das aber aufgrund von Finanzierungsschwierigkeiten nach drei Jahren endet. Ansonsten wechseln sich Phasen der Arbeitslosigkeit mit Phasen der Beschäftigung in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ab, die ebenfalls jeweils durch ihre kirchlichen Bindungen vermittelt sind. Schließlich bietet ihr Frau Baum einen sogenannten Minijob im ELISENCAFE an. Frau Meier lebt heute mit ihrem Mann und einem ihrer inzwischen erwachsenen Söhne in einem Einfamilienhaus in der Nähe von SEESTADT.

Wie Frau Meier lebt Frau Scholz, die Mitbegründerin des ELISENCAFE, ein Leben in enger Verbindung zur evangelischen Kirche. Zur Zeit der Feldforschung wird sie für die Verwaltungsaufgaben geringfügig bezahlt. Geboren 1940, kommt Frau Scholz nach dem Krieg nach SEESTADT, wo sie die Schule besucht und danach eine Ausbildung als Buchhändlerin absolviert. Sie heiratet früh und ist, solange ihr Mann noch Theologie studiert, erwerbstätig. Das Paar bekommt im Laufe der Zeit vier Kinder und als der Mann eine Anstellung als Pfarrer erhält, gibt Frau Scholz ihre Erwerbstätigkeit auf. In den späteren Jahren übernimmt sie jeweils vermittelt durch Kirchenkontakte gelegentlich kleinere Teilzeit-Arbeiten im sozialen Bereich. Als evangelische Pfarrfrau führt sie in den folgenden Jahren ein »offenes Haus«, d.h., dass viele der Gemeindeaktivitäten ihres Mannes in ihrer Wohnung stattfinden. Während der 1980er Jahren und den Unruhen um 1989 engagiert sich ihr Mann zunehmend politisch und hat nach der Wende diverse politische Ämter inne. Ihre Ehe zerbricht in dieser Zeit und das Paar trennt sich (jedoch ohne Scheidung).

226 | C ARE/S ORGE Nach der Vereinigung hat Frau Scholz Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt. Für einige Zeit arbeitet sie als Sprechstundenhilfe in einer Zahnarztpraxis. Es folgt eine erneute Phase der Arbeitslosigkeit, welche mit der Aufnahme ihrer Beschäftigung im ELISENCAFE auf einer der beiden durch ABM eingerichteten Stellen endet. Seit dem Auslaufen dieser Maßnahme im Jahr 2002 wird sie geringfügig im ELISENCAFE beschäftigt. Finanziell unterstützt durch ihren Mann, lebt sie seit dem Auszug ihrer jüngsten Tochter allein und zieht im Laufe des ersten Forschungsjahres (2003) in eine kleinere Wohnung.

Trotz einiger Unterschiede weisen diese beiden Lebenswege auch bemerkenswerte Ähnlichkeiten auf. So teilen beide Frauen die Erfahrung enger familiärer Beziehungen innerhalb der evangelischen Kirche und eines aktiven religiösen Lebens in der DDR. Der Mann von Frau Scholz ist Pfarrer, bei Frau Meier ist es der Schwiegervater. Darüber hinaus haben beide Frauen mehrere Kinder (drei bzw. vier) und weichen damit vom DDR-Durchschnitt ab, der bei ein bis zwei Kindern lag. Entgegen des üblichen und staatlich geförderten DDR-Musters erwerbstätiger Mutterschaft, entschieden sie sich zudem bewusst für eine häusliche Sorge für ihre Kinder. Seit der Wende und der damit verbundenen ökonomischen Umstrukturierung haben beide Frauen Phasen der Arbeitslosigkeit durchlaufen und sind nicht in der Lage, sich langfristig auf dem regulären Arbeitsmarkt zu etablieren. Beide finden sie bezahlte Arbeit nur im Rahmen staatlicher Förderprogramme vermittelt durch kirchliche Organisationen, die letzte jeweils im ELISENCAFE. Obwohl Frau Scholz und Frau Meier keinesfalls als wohlhabend zu bezeichnen sind, ist ihre derzeitige Lebenssituation auch nicht durch Armut gekennzeichnet. In beiden Fällen verfügen die jeweiligen Ehemänner über gute Einkommen, die ihre materiellen Bedürfnisse zum großen Teil befriedigen. Im Falle von Frau Scholz kommt ihr Mann seiner finanziellen Sorge sogar trotz Trennung nach. Dennoch haben sie ihre Jobs im ELISENCAFE aufgrund der Anerkennung ihrer speziellen Bedürftigkeit innerhalb ihrer kirchlichen Bindungen bekommen. Diese Konstruktion von Bedürftigkeit wird erst im Zusammenhang mit der sozialistischen Vergangenheit verständlich, in der sie Entscheidungen getroffen haben, die durch kirchliche Care-Normen unterstützt werden. III.3.1.1 Häusliche Sorge im Sozialismus Vor dem Hintergrund der bisherigen Kapitel erscheinen die Biographien der zwei Frauen und vor allem ihre Entscheidungen bezüglich familiärer Sorge als durchaus ungewöhnlich für die ehemalige DDR. Im Kontext ihrer persönlichen

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Bindungen stellen jedoch Frau Meier und Frau Scholz keine Ausnahme dar. In kirchlichen Kreisen waren viele mit der staatlichen Haltung zu Familie und Geschlechterbeziehungen nicht einverstanden und trafen bewusst ähnliche Entscheidungen. Dies zeigt sich beispielsweise 2004 anhand eines Gesprächs zwischen drei Frauen während des jährlichen »Dankeschön«-Ausflugs des ELISENCAFEs. Unterwegs zum diesjährigen Ausflugsziel unterhalten sich auf der Autofahrt Frau Schneider (zuständig für die Buchhaltung im ELISENCAFE) und zwei weitere Vereinsmitglieder über ihre Kinder und ihre Erwerbsarbeit. Frau Schneider selbst hat drei Kinder, eine der beiden anderen Frauen ebenfalls, und die dritte Beteiligte hat zwei Kinder. Keine der drei Frauen führte in der DDR ein typisches Leben als erwerbstätige Mutter. Zwei von ihnen hatten in Teilzeit gearbeitet und die dritte zu Hause als Übersetzerin. Im Verlauf der Unterhaltung erinnert sich Frau Schneider an ihre zahlreichen Versuche in der DDR, ihre Arbeitszeit zu reduzieren, bis es ihr endlich erlaubt wurde.

Die Entscheidung für Teilzeitarbeit bzw. Vollzeitmutterschaft musste bewusst und häufig sogar im Widerstand gegen lokale Autoritäten, speziell der Vorgesetzten am Arbeitsplatz, getroffen werden. Wie Frau Meier, die das Arbeitsangebot der LPG als Druck zur Erwerbstätigkeit empfand, musste auch Frau Schneider für ihren Entschluss zur Teilzeitarbeit kämpfen. Dass die Frauen diese Mühen auf sich nehmen liegt an der Bedeutung die in diesem Kontext ›richtiger‹ familiärer Sorge zugeschrieben wird. Frau Fischer, eine ehemalige Kreiskatechetin, die während des Sozialismus sehr viel kirchliche Familienarbeit organisierte, erklärt, dass die Entscheidung der Mütter, ihre Erwerbstätigkeit aufzugeben, auf folgender Anschauung basierte: »Wir sind eine Familie und bestimmte Jahre gehören den Kindern.« (tI, 23.2.2005) Ihre eigenen zwei Töchter wurden in den Jahren 1970 und 1972 geboren, als es noch keine Freistellung durch das sogenannte Babyjahr gab. Trotzdem war sie nach der Geburt nicht berufstätig: »Ich hatte zu tun, meine zwei Kinder zu versorgen.« Diejenigen der Frauen, die wie Frau Fischer schon kirchliche Ausbildungen absolviert hatten und danach unter dem Dach der Kirche arbeiteten, hatten es leichter, ihre CareIdeale der familiären Sorge für Kinder umzusetzen. Frau Fischer erklärt rückblickend diesen Vorteil folgendermaßen: »Innerhalb des kirchlichen Raumes gab’s noch etliche Freiheiten. Da konnte man auch mal sagen: So ich bleib jetzt mal zu Hause und mein Mann verdient und so. Aber wer von den Frauen so im Betrieb gearbeitet hat, so im staatlichen Bereich, die hatten es ganz schwer, sich ein Jahr frei zu nehmen.« (tI, 23.2.2005)

228 | C ARE/S ORGE Dass die zu erwartenden Einkommenseinbußen eher gering waren, mag die Entscheidung erleichtert haben.3 Zusätzlich erhielten sie oft materielle und ideelle Unterstützung für ihre Sorgepraktiken von Verwandten und Gemeinden aus der Bundesrepublik.4 Während die Entscheidung ihre Arbeitszeit zu reduzieren oder sich gleich gänzlich auf mütterlich-hausfrauliche Sorge zu konzentrieren eher marginale Konsequenzen bezüglich ihrer materiellen Sicherung hatte, war sie entscheidend für ihre soziale Integration und damit gleichzeitig auch für andere Formen von Care als Dimension sozialer Sicherung. Wie in den vorangegangenen Kapiteln bereits ausführlich dargestellt, fand ein großer Teil auch des weiblichen Lebens in der DDR aufgrund der beschriebenen hohen Erwerbsbeteiligung am Arbeitsplatz statt. Frauen, die sich für die mütterliche Sorge zu Hause entschlossen, waren folglich von den über die sozialistischen Betriebe kanalisierten Formen sozialer Sicherung wie Kinderbetreuung, Freizeit- und Urlaubsangebote ausgeschlossen. Darüber hinaus stellten die Arbeitsplätze – wie schon gesehen – nicht nur Einkommensquellen, sondern auch Schlüsselelemente der Kommunikation und Sorgebeziehungen dar (Gensior 1992, Roesler 1994). Die hier vorgestellten Mütter mussten ihr Leben mit ihren Kindern weitgehend ohne diese Unterstützung organisieren. Frau Becker, ein weiteres Mitglied des Trägervereins des ELISENCAFEs, erinnert sich, dass sie ihre Sorge für die Kinder mit einer Freundin, die ebenfalls für ihre zwei Kinder zu Hause sorgte, gemeinsam organisierte: »Wir haben viele Sachen mit den Kindern zusammen gemacht.« (TB 19.3.2003) Sie waren dabei umgeben von Nachbarinnen, die ihre häuslichen Sorgeobligationen mit Erwerbstätigkeit kombinierten. Durch diese erfuhren sie manchmal auch direkte Ablehnung wie Frau Becker am Beispiel eines Gesprächs im Treppenhaus zweier junger Nachbarinnen verdeutlicht. Sie habe sie sagen hören, sie [Frau Becker] sei »zu faul zum Arbeiten« (TB 19.3.2003). Die Äußerung weist darauf hin, dass die Entscheidung, für die Kinder als Hausfrau zu sorgen, in einer Gesellschaft, in der fast jeder und jede ganztags erwerbstätig war, spezifische Formen der Exklusion von anderen möglichen bedeutsamen Bindungen in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz zur Folge hatte.

3

Einkommensunterschiede in der DDR waren generell gering und die Frauen hätten

4

Zu Westpaketen siehe auch Kapitel II.1.

jederzeit wieder eine Arbeitsstelle finden können (siehe auch Kapitel I.3.2).

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III.3.1.2 Häusliche Sorge nach der Wende Im Gegensatz zu vielen meiner Gesprächspartner, die sich im Verlauf der Forschung kritisch über die Folgen der Wende äußern, heißen die Frauen des ELISENCAFE, da sie sich als Opponentinnen zum sozialistischen Staat verstehen, die deutsche Vereinigung grundsätzlich willkommen. Aber auch für sie ist die Entwicklung begleitet vom neuen Risiko der Arbeitslosigkeit. Zudem teilen sie, wie an den vorgestellten Biographien von Frau Scholz und Frau Meier deutlich wurde, einige der unter den neuen Umständen nachteilig ins Gewicht fallende Charakteristika: Sie sind bereits um die 50 Jahre alt und verfügen aufgrund ihrer Entscheidungen hinsichtlich der mütterlichen Sorge in der DDR nur über wenig Arbeitserfahrung und damit über unterbrochene Erwerbsbiographien. In der DDR wäre eine Wiederanstellung nach längerer Pause kein Problem gewesen, aber im neuen Wirtschaftssystem stehen diese Frauen den gleichen Problemen wie Frauen in den alten Bundesländern gegenüber, denn ihre Chancen auf eine Anstellung auf dem regulären Arbeitsmarkt sind gering. So finden etwa Frau Scholz und Frau Meier keine neuen Stellen auf dem ersten Arbeitsmarkt, sondern lediglich durch verschiedene staatliche Programme. Die speziellen Rahmenbedingungen der deutschen Vereinigung führten zwar dazu, dass Rentner in den neuen Bundesländern allgemein als ökonomische Gewinner gelten; dies trifft aber auf die hier vorgestellten Frauen nicht zu. Sie profitieren nicht von langen Zeiten der Erwerbstätigkeit wie ihre Mitbürgerinnen aus der DDR, sondern haben ein ähnliches Problem wie ihre Mitbürgerinnen aus den alten Bundesländern, die wegen ihrer unterbrochenen Erwerbsbiographien erhebliche Einbußen bei den Rentenansprüchen in Kauf nehmen müssen. Während in der DDR die Unterschiede im Rentenniveau (noch) relativ gering waren, können sie daher heute im Vergleich zu ihren Mitbürgerinnen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR nicht im gleichen Maße von der Rentenangleichung profitieren. Zudem verfügen sie auch nicht über dieselben Ressourcen aus anderen Quellen (wie etwa Wohneigentum), über die Hausfrauen in den alten Bundesländern oftmals verfügen können. Die Einführung der Familienpolitik aus der alten BRD, die familiäre Sorge durch einen männlichen Hauptverdiener unterstützt, kommt für diese Frauen zu spät, denn ihre Kinder sind nun schon erwachsen. Die einzige Neuerung, die sich (in Zukunft) zu ihren Gunsten auswirken könnte, ist die verbesserte staatliche Absicherung von Witwen. 5

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Die Rahmenbedingungen der deutschen Vereinigung sowie insbesondere die Familienpolitik wurden in Kapitel I.3.2 skizziert. Die dort erwähnten relativ spät eingeführten Zusatzrenten hatten sich bis zum Ende der DDR noch nicht wesentlich auf

230 | C ARE/S ORGE Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Frauen des ELISENCAFEs sowohl im Sozialismus als auch heute gegenüber ihren Mitbürgerinnen im Hinblick auf staatliche Ressourcen sozialer Sicherung benachteiligt sind. Dass sie dennoch auch Unterstützung ihrer Sorgenormen und -praktiken erfuhren, zeigt der nächste Abschnitt. III.3.1.3 Unterstützung häuslicher Sorge durch kirchliche Bindungen Die evangelischen Mütter bekamen moralische und praktische Unterstützung vor allem durch die Kirche. Generell unterstützten die Kirchen die Konzentration auf Familie und Mutterschaft moralisch, da sie den Einflüssen des sozialistischen Staates auf die Familien ablehnend gegenüberstanden. Neben der ideellen Unterstützung häuslicher Sorge fanden die Mütter auch praktische Hilfe in kirchlichen Familienprogrammen. Kirchenangestellte organisierten Familientreffen, aber auch Spielgruppen für Vorschulkinder. In SEESTADT fand eine davon z.B. donnerstags vormittags statt, also zu einem Zeitpunkt, an dem die anderen Mütter gewöhnlich ihrer Erwerbsarbeit nachgingen. Frau Fuchs, die für diese Aktivitäten in den 1980er Jahren zuständig war, stellt dementsprechend fest: »Das waren Kinder, die nicht in den Kindergarten gingen.« (tI 23.2.2005) So wurden innerhalb der Kirche neue institutionelle Rahmenbedingungen der Gemeinschaftsbildung geschaffen, die ihren Ausgangspunkt beim Modell familiärer Sorge besaßen. Da diese Mütter auch nur einen begrenzten Zugang zu den staatsbetrieblich organisierten Ferienangeboten hatten, bot die Kirche auf diesem Gebiet ebenfalls entsprechende Alternativen an. In den 1980er Jahren war Frau Baum, die spätere Gründerin des ELISENCAFEs, für die kirchliche Familienarbeit in SEESTADT zuständig. Sie organisierte jeden Sommer drei Familienlager in benachbarten Länder (Polen und die damalige Tschechoslowakei), jedes mit mehr als 100 Teilnehmern. Verschiedene Mitglieder des heutigen Elisenvereins und der Gruppe der Ehrenamtlichen sind mindestens einmal mitgefahren. Frau Scholz beispielsweise fuhr mit allen ihren vier Kindern und später nahm ihr ältester Sohn bereits mit eigener Familie teil. Frau Fischer beschreibt dieses Netzwerk als »Fangemeinde«, die Frau Baum »für ihre Familiencamps« gehabt habe (tI 23.2.2005). Während dieser Reisen und der zahlreichen damit verbundenen gemeinsamen Aktivitäten lernten viele der Teilnehmer sich gut kennen. In manchen Fällen hat

Unterschiede im Rentenniveau ausgewirkt. Zur Situation der Rentner siehe auch das vorangegangene Kapitel III.2.

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die kirchliche Anerkennung des Bedürfnisses (caring about) nach Ferienfahrten sowie deren institutionelle Umsetzung (taking care of) zu dauerhaften Bindungen geführt, so dass einige der damaligen Teilnehmer immer noch gemeinsam in die Ferien fahren. Trotz gewisser Ähnlichkeiten in der Organisation (Gruppenfahrten mit vielen Teilnehmern) stehen diese kirchlichen Formen des taking care of ebenso wie die institutionelle Implementierungen staatlicher Normen nicht nur in Zusammenhang mit spezifischen ›privaten‹ Care-Idealen, sondern auch mit bestimmten politischen Interpretationen und können daher nicht ohne diese Einbettung verstanden werden. Frau Baum erklärt, sie habe die Ferienlager bewusst als Alternative konzipiert, als Möglichkeit für »die Familien mal etwas gemeinsam zu tun« (TB 3.3.2004). Sie charakterisiert ihre Arbeit als eine in Opposition zu den offiziellen sozialistischen Programmen, die aus ihrer Perspektive darauf ausgerichtet waren, Familien auf unterschiedliche Freizeitaktivitäten zu verteilen. Dieser Form stellt sie ihre eigenen Lager gegenüber und charakterisierte sie enthusiastisch: »Das war Freiheit, wenn da mal die Familien zusammen wegfuhren. Das kannten die ja gar nicht.« (TB 15.6.2004) Auf die direkte Frage, ob sie meine, dass ihre Arbeit die Entscheidung einiger Frauen zu Hause zu bleiben und sich um ihre Kinder zu kümmern, unterstützt habe, antwortet sie: »Ja natürlich, die haben sich ja sonst wie gefühlt.« (TB 19.8.2003) Diese umgangssprachliche Formulierung drückt durch unter Auslassung eines bezeichnenden Adjektivs allein durch die Betonung aus, dass sich die Frauen durch ihre Lebensweise innerhalb der DDR-Gesellschaft andersartig oder geradezu bizarr fühlten. Der Exklusion, die sich aus der bewussten Wahl anderer privater Sorgepraktiken ergab, wollte Frau Baum durch ihre Aktivitäten entgegenwirken. In der praktischen Umsetzung – dem care giving – verwendete Frau Baum Ansätze aus der westdeutschen Sozialarbeit und Pädagogik. Mit diesen kam sie durch Verbindungen mit der evangelischen Kirche in der BRD in Kontakt. Sie erklärt, dass es wichtig gewesen sei, solche Erziehungskonzepte unter Eltern in der DDR zu verbreiten, denn diese hatten »doch keine Idee davon« (TB 19.8.2003). In ihren Sommerlagern sowie auf Gruppentreffen und Familienberatungen erläuterte sie diese Methoden oder wendete sie beispielsweise bei Konflikten direkt an. In diesem Zusammenhang vermittelte der Ost-West-Kontakt also neben materieller Unterstützung auch die Möglichkeit des Transfers nichtmaterieller Care-Ideale. Da die BRD in Bezug auf mütterliche Erwerbsarbeit der DDR entgegensetzte Ziele verfolgte (siehe auch Kapitel I.3.2), können auch diese Kontakte die Überzeugungen hinsichtlich der Bedeutung mütterlicher Sorge verstärkt haben.

232 | C ARE/S ORGE Während also die Entscheidung gegen die Erwerbstätigkeit diese Frauen in mancher Hinsicht zu Außenseiterinnen machte, wurden sie innerhalb ihres kirchlichen Netzwerks in ihrer Entscheidung unterstützt. Nach der Wende wirkt sich ihre mangelnde Berufserfahrung jedoch nachteilig aus und so werden innerhalb der Kirche neue Formen der Unterstützung entwickelt, ähnlich wie schon zuvor und ähnlich wie Herr Paul und Frau Wagner greifen sie dabei auf die neue Organisationsform des zivilgesellschaftlichen Vereins zurück. Statt eine bestimmte Formen öffentlicher Sorge aufrechtzuerhalten, steht im Zentrum dieser Aktivität die Bestätigung der gelebten Care-Normen und –Praktiken der Vergangenheit. Durch ihre Tätigkeit im ELISENCAFE beziehen ein paar Frauen geringe Einkünfte, vor allem aber erhalten sie so eine Anerkennung für ihre Entscheidung für die häusliche Sorge und gegen die Erwerbsarbeit während des Sozialismus. Wie im Falle der betrieblichen Seniorenbetreuung bestätigt diese emotionale Qualität der Anerkennung ihre biographische Kontinuität, eine Komponente, die auch für andere Akteure nicht unwichtig ist, wie der nächste Abschnitt zeigt.

III.3.2 C ARE , I DENTITÄT UND R EPRODUKTION BEDEUTSAMER B INDUNG Für die Hauptprotagonistinnen dieses Kapitels schafft die Verlagerung weiblicher Sorge in die Öffentlichkeit Raum für Gespräche – wie die Selbstbeschreibung im Faltblatt darlegt. Vor dem Hintergrund des Sozialismus kann der dort dargestellte »kitchen talk« mit einer zweiten Bedeutung belegt werden. Während des Sozialismus haben sich Dissidenten häufig in privaten Wohnungen getroffen und der Küchentisch wurde zum Platz und Synonym für politische Debatten (Ries 1997). Gerade den evangelischen Pfarrfrauen in der DDR wie Frau Scholz kam in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zu. Wolle (1998) beschreibt solche Vorgänge auch als Schaffung von Teilöffentlichkeiten der Opposition. In dieser Perspektive können die Aktivitäten nicht nur als eine Ausweitung weiblicher Sorge in die Öffentlichkeit, sondern auch als eine Ausdehnung der vergangenen Oppositionsidentität in die postsozialistische Gegenwart interpretiert werden. Für eine Annäherung aus dieser Perspektive müssen die Biographien noch einmal unter dem Blickwinkel ihrer Verbindungen zu politischen Ereignissen betrachtet werden. Erst vor diesem Hintergrund der genderstrukturierten Biographien im politischen Kontext kann auch die emotionale Qualität von Care rund um das ELISENCAFE analysiert werden.

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Religiöse Lebenswege zwischen Kirche und Staat Die im Osten Deutschlands traditionell dominante evangelische Kirche hat während des Sozialismus einigen staatlichen Druck und Widerstände überstehen müssen. In den 1950er Jahren gab es zwei Wellen der intensivierten Repression, in der vor allem die evangelische Jugend zur Zielscheibe wurde. In jener Zeit waren die heute im Café involvierten Akteurinnen Jugendliche oder junge Erwachsene. Obwohl spätere Perioden des Sozialismus ruhiger waren und Kirchenmitgliedschaft als solche nicht mehr gefährlich oder ein größeres Problem im Berufsleben war, erfuhren aktive Gläubige und vor allem Pastorenfamilien trotzdem oft Diskriminierung, z.B. durch die Verweigerung angestrebter Ausbildungsgänge oder Studienfächer.6 Auch dies hatte wiederum viele der Frauen um das heutige ELISENCAFE betroffen, denn sie stammten überwiegend aus Pfarrersfamilien, bzw. waren mit Pfarrern verheiratet (so auch die beiden Gründerinnen des Cafés, Frau Baum und Frau Scholz). Zusätzlich erlitt die evangelische Kirche in der sozialistischen Periode einen erheblichen Mitgliederschwund. Während 1945 noch 80,5 Prozent der Gesamtbevölkerung Mitglied der evangelischen Kirche waren, war dieser Anteil 1989 auf ca. 25 Prozent gesunken und noch weniger Bürger (16,5 Prozent) bezeichneten sich selbst als protestantisch (Pollack 1994b: 271; Cordell 1995: 128).7 Unter diesen Umständen gehörten die Frauen um das ELISENCAFE als aktive Kirchgängerinnen innerhalb der DDR zumindest während ihres Erwachsenenlebens zu einer Minderheit. Diese Entwicklung setzte sich bis zum Forschungszeitraum fort, denn die Mehrheit der Bürger in den neuen Bundesländern be6

Zu den Beziehungen zwischen Staat und Kirche in der DDR siehe z.B. Fulbrook (1990), Gerlach (1999), Graf (1994), Pollack (1994a) und Wohlrab-Sahr (2011).

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Die Situation in SEESTADT war ähnlich. 1946 waren 83 Prozent der Bevölkerung Kirchenmitglieder; bevor sich der Anteil bis 1964 auf 43 Prozent und bis 1982 auf nur 28,7 Prozent verringerte. Die Autoren einer vom Staat in Auftrag gegebenen »Kirchenstudie« hielten noch diese Zahl für zu hoch und zählten nur solche, die Kirchensteuer zahlten, als »richtige« Mitglieder, so dass sie auf nur 11,1 Prozent im Jahr 1984 kamen. Außerdem wurden 1982 nur 5,6 Prozent aller Kinder getauft, was auf ein weiteres Sinken der Kirchenmitgliedschaft in der Zukunft verwiesen hätte (Schäfer 1996: 18-19). Diese Entwicklung führte nicht zu einer aktiveren Beteiligung der verbleibenden Mitglieder am Gemeindeleben wie manche Theologen gehofft hatten (Henkys 1988). Obwohl Kirchenmitgliedschaft in der DDR eine aktive Entscheidung beinhaltete, war die auf individueller Frömmigkeit basierende Beteiligung an kirchlichen Ritualen und Aktivitäten nicht höher als in der BRD, wo die Mitgliedschaft beinah automatisch erfolgte (Pollack 1994b: 280-288).

234 | C ARE/S ORGE zeichnet sich weiterhin als keiner Religion zugehörig. Mitunter wird die explizite Religionslosigkeit – ähnlich der Betonung mütterlicher Erwerbstätigkeit wie in Kapitel I.3.2 dargestellt wurde – Teil der Selbstbeschreibung in bewusster Abgrenzung von Westdeutschland.8 Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass die beiden Gründerinnen Frau Baum und Frau Scholz die schiere Existenz des ELISENCAFEs sowie die dort organisierten Veranstaltungen bereits als Erfolg ansehen. Tatsächlich weist schon die Sichtbarkeit des Cafés in einer innerstädtischen, touristischen Gegend auf die Verschiebung der Position der christlichen Kirchen hin. Deren Aktivitäten im öffentlichen Raum sind seit der Vereinigung willkommen. Die gemischte Finanzierung des Cafés, die sich zum Teil aus staatlichen Quellen speist, deutet auf eine weitere Verschiebung im Verhältnis zwischen Staat und Kirche hin, nämlich auf ein weiteres im Zuge der Vereinigung geändertes Prinzip der Bereitstellung staatlicher Ressourcen sozialer Sicherung (siehe auch Kapitel I.3.2). Während diese in der sozialistischen Ära vornehmlich durch staatliche Akteure und insbesondere Betriebe verteilt wurden und nur eine kleine Anzahl kirchlich-basierter Wohlfahrtsorganisationen in der DDR bestehen blieb, änderte sich dies, als das bundesdeutsche wohlfahrtsstaatliche Institutionengefüge in den neuen Bundesländern eingeführt wurde. Wie in anderen westlichen Ländern setzt auch die westdeutsche Gesetzgebung die karitative Natur der Kirchen als selbstverständlich voraus. Kirchenaktivitäten werden als Beitrag zum Gemeinwohl verstanden und sind daher z.B. steuerfrei (Dal Pont 2005; siehe für Deutschland speziell Wallenhorst/Halaczinsky 2000: 99). Darüber hinaus hatte sich in der BRD eine besonders enge Verbindung zwischen Staat und Kirchen in der Wohlfahrtsverteilung entwickelt, bei der die Kirchen als Partner staatlicher Wohlfahrt gelten. Auch dies wurde nach der Wende auf die neuen Bundesländer übertragen (Thériault 2004; Sachße 1994). Diese neuen Bedingungen haben die Rolle von Religion, aber auch die der Kirchen als Institution sowohl im öffentlichen Leben wie auch als Teil sozialer Sicherung entscheidend verändert. Trotz Mitgliederverlusts übte die evangelische Kirche auch in SEESTADT einen wichtigen Einfluss auf die Opposition der DDR aus. Wie in anderen Städten der DDR wurden 1989 Mahngottesdienste mit anschließenden Demonstrationen für das politische Geschehen prägend. Nichtsdestoweniger und trotz der Tatsache, dass die evangelische Kirche in den späten 1980er Jahren sowie in den 8

Bezeichnenderweise haben sich in den 23 strukturierten Interviews nur drei der Befragten als evangelisch bezeichnet. Die restlichen 20 interviewten Personen gaben entweder keine Religionszugehörigkeit an oder bezeichneten sich explizit als atheistisch (3) bzw. als Heide (2).

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frühen 1990er Jahre sehr aktiv am politischen Umbruch beteiligt war, ist die Zahl der Kirchenmitgliedschaften nach der Wende nicht substantiell gestiegen. Häufig sind in den Gemeinden nicht mehr als zehn Prozent der jeweiligen Gesamtbevölkerung Kirchenmitglieder.9 Und obwohl jüngere Studien auf eine größere generelle Offenheit insbesondere der Jugend in den neuen Bundesländern gegenüber religiösen Themen verweisen, war die evangelische Kirche bislang wenig erfolgreich darin, diese Situation des gesellschaftlichen Umbruchs zu nutzen (Jagodzinski 2000). Die Gründe für diese Entwicklung werden immer noch diskutiert (Pollack/Müller 2011; Wohlrab-Sahr 2011). Manche Autoren, wie etwa Tiefensee (1997), führen sie auf die sozialistische Unterdrückung der Religion zurück und bezeichnen sie daher auch – ähnlich wie die Sorge zwischen Arbeitskollegen in der Sozialwissenschaft bzw. die bezahlte Sorge durch die Feministinnen – als »nicht authentisch« (!), (vgl. 2003: 386, auch zitiert bei Wohlrab-Sahr 2011: 145). Allerdings waren andere sozialistischen Staaten in ihrer Politik den religiösen Gemeinschaften gegenüber weit restriktiver als die DDR und nichtsdestotrotz erlebten sie nach dem Umbruch eine deutlichere religiöse Revitalisierung als die neuen Bundesländer. Andere Argumente machen historische Wurzeln vom Mittelalter über die Reformation bis hin zur späten Modernisierung Deutschlands für diese Situation verantwortlich (Tiefensee 2002: 197-216; siehe auch Nowak 1995). Während alle diese Interpretationen ohne Zweifel bestimmte Elemente der Entwicklung erklären können, kann eine ethnographische Studie mit Fokus auf Care weitere Bausteine zum Gesamtbild beitragen. Im Einklang mit dem makrosoziologischen Trend, ist das evangelische Netzwerk um das ELISENCAFE nach der Wende nicht deutlich angewachsen. Eine Analyse der Lebenswege unter besonderer Berücksichtigung von Sorgenormen und -erfahrungen der Akteurinnen zeigt, warum es auch auf ihrer Seite keine großen Anstrengungen gab, ihre Bindungen zu erweitern.

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Laut Kirchenstatistiken sind im Bundesland 18,9 Prozent der Bevölkerung Kirchenmitglieder, und zehn Prozent in SEESTADT. Zahlen aus anderen östlichen Bundesländern des vereinigten Deutschlands gleichen sich diesbezüglich, wobei Thüringen mit 26,5 Prozent die höchste Rate aufweist (www.ekd/statistik/kirchenmitglieder). Die Gemeinde, in deren Einzugsgebiet sich das ELISENCAFE befindet, hat 2.700 Mitglieder. Das Café selbst ist aber formal nicht an eine Gemeinde gebunden.

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III.3.3 B ESTÄTIGUNG BEDEUTSAMER B INDUNGEN DEM S OZIALISMUS

NACH

Wie Frau Scholz und Frau Meier, haben die Mitglieder des Elisenvereins und die ehrenamtlichen Helferinnen im Café eine oft lebenslange Verbindung zur evangelischen Kirche. Die meisten von ihnen wurden in evangelische Familien geboren, und viele haben enge familiäre Bindungen zu Pastoren der evangelischen Kirche. Einige erhielten eine Ausbildung in kirchlichen Bildungsstätten und haben danach ihr gesamtes Berufsleben in kirchlichen Organisationen gearbeitet. Aus diesen Lebenswegen ergibt sich, dass die meisten der Frauen, die als Vereinsmitglieder oder (ehrenamtliche) Mitarbeiterinnen am Café beteiligt sind, sich schon vor dessen Gründung zu verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens begegnet sind. Viele teilen weitreichende Erfahrungen eines Lebens in der DDR in mehr oder weniger offenem Widerspruch zum sozialistischen Staat. Frau Weiss beispielsweise erinnert sich, wie sie in Westdeutschland gedruckte Bücher mit der Familie Scholz austauschte. Viele der Frauen haben wegen solcher Aktivitäten, bzw. ihres Lebens in enger Verbindung zur Kirche Diskriminierung oder auch Bespitzelung erfahren. Diese Praktiken und geteilten Erinnerungen haben zum Teil enge Bindungen geschaffen. Unter diesen Umständen stellen die Unruhen 1989 einen Wendepunkt dar, an dem endlich alle politischen Hoffnungen sich zu verwirklichen schienen. Nicht wenige unter den Frauen wagten den Schritt zu öffentlichem Engagement. Die Biographie der Gründerin Frau Baum wirft ein Licht auf die Bedeutung des Lebenslaufs dieser Frauen und ihres politischen Engagements. Frau Baum ist die Tochter eines evangelischen Pastors. Sie selbst hat nie geheiratet und hat auch keine eigenen Kinder. Ihre Ausbildung in Gemeindearbeit erhält sie an einer kirchlichen Schule und sie arbeitet danach immer für kirchliche Einrichtungen. In den späteren Jahren ihrer Berufstätigkeit ist sie zuständig für die Familienarbeit im gesamten Kreis, was die erwähnte Organisation der Familienfreizeiten einschließt. Während der Umbruchsereignisse 1989 ist sie sehr aktiv, z.B. bei der Besetzung des Stasi-Gebäudes. Sie koordiniert, organisiert, gibt westdeutschen Zeitungen Interviews und initiiert zusammen mit fünf weiteren Personen die Gründung des »Neuen Forum« in SEESTADT. Nach der Wende wird sie in den ersten Stadtrat gewählt und später auch mit dem Bundesverdienstkreuz für ihr politisches Engagement ausgezeichnet.

Als Alleinstehende ist Frau Baum in den Kreisen des ELISENCAFEs eine Ausnahme, weshalb sie (ohne dieselben häuslichen Sorgeverpflichtungen wie die anderen Frauen) möglicherweise auch in besonderer Weise politisch aktiv wer-

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den konnte. Trotzdem spielten Politik und speziell die Jahre 1989/1990 auch in den Biographien der anderen Akteurinnen rund um das heutige ELISENCAFE eine herausragende Rolle. Wie Frau Baum haben sie während der revolutionären Tage an Demonstrationen und öffentlichen Diskussionen teilgenommen. Manche waren aktiver und druckten bzw. verteilten Flugblätter oder beteiligten sich ebenfalls an der Gründung des Neuen Forums und der Besetzung des Stasi-Gebäudes. Diese Überzeugungen und Ereignisse finden einen Nachhall in den erwähnten öffentlichen Veranstaltungen des ELISENCAFEs. Die zu Beginn des Kapitels in Form einer ethnographischen Vignette beschriebene Lesung war eine Veranstaltung in einer monatlichen Reihe. Alle Sprecher im Jahr 2003 sind ehemalige Pastoren bzw. andere während der Umbruchsereignisse um 1989 politisch aktive Personen. Zu solchen Anlässen sind die kleinen Räumlichkeiten jeweils völlig überlaufen, die meisten Gäste weiblich, über 50 Jahre und offensichtlich untereinander bekannt. Ebenfalls anwesend sind auch Mitglieder des gemeinnützigen Trägervereins, die sonst am Tagesgeschehen im Café nicht beteiligt sind. Wie beschrieben, drehen sich die Veranstaltungen in thematischer Hinsicht nicht zwangsläufig um die Wende, wohl aber die Diskussionen und Gespräche danach. Ähnlich ist es auch bei Besuchen früherer Aktivisten zu den normalen Öffnungszeiten. An einen Nachmittag kommt ein früherer Sozialminister des Landes gemeinsam mit seiner Frau und einigen Freunden ins Café. Freudig begrüßt, tauscht er bald Erinnerungen mit Frau Baum und Frau Schneider aus. Das Gespräch dreht sich um ihre gemeinsame politische Vergangenheit rund um 1989 sowie insbesondere um die Gründung des Neuen Forums (TB 1.7.2003).

Ähnliche Gesprächsthemen dominieren auch bei den geschlossenen Veranstaltungen des Cafés oder privaten Feierlichkeiten in dessen Räumlichkeiten. Die jährlichen »Dankeschön«-Ausflüge für die Ehrenamtlichen bieten viel Zeit zum Austausch und so werden neben den Erfolgen manchmal auch an bedrohliche Erfahrungen erinnert. Frau Scholz z.B. erzählt von Männern in schwarzen Mänteln (mutmaßliche Stasi-Bedienstete), die ständig gut sichtbar vor ihrem Wohnhaus gestanden hatten, einer von ihnen hätte ihr sogar einmal zu verstehen gegeben habe, eine Pistole im Mantel bei sich zu tragen. Sie habe in dieser Situation große Angst gehabt, weil sie zu diesem Zeitpunkt mit ihren Kindern alleine in der Wohnung war. Weitere Erinnerungsanlässe bieten Feiern von Vereinsmitgliedern in den Räumlichkeiten.

238 | C ARE/S ORGE Frau Weiss, die in einer kleinen kirchlichen Wohnung lebt, lädt aus Anlass ihres 75. Geburtstags ca. 30 Gäste ins ELISENCAFE ein. Hier werden sie von Freiwilligen (und der Ethnologin) bedient und verbringen den Abend mit angeregten Gesprächen über die Ereignisse rund um die Wende. So wird etwa diskutiert, wer wann zu welcher Demonstration gegangen ist und wer welche Rede wo gehalten hat. Weitere Themen sind die Einsicht in Stasiakten sowie die im Forschungszeitraum populären sogenannten OstalgieShows im Fernsehen.10

Die konstante Iteration der Wendereignisse verweist auf deren zentrale Bedeutung für die Akteurinnen und deren persönliche Bindungen. Angesichts ihres großen Einsatzes und auch ihrer Prominenz während des Sozialismus und in den turbulenten Zeiten um die Vereinigung herum, scheint das Leben der Frauen zum Zeitpunkt der Forschung sehr viel ruhiger geworden zu sein.11 Mit dem Schwächerwerden der politischen Rolle der evangelischen Kirche im vereinigten Deutschland scheiterten auch einige ihrer politischen Projekte. So versank etwa das Neue Forum in nahezu völlige Bedeutungslosigkeit. Die Treffen im ELISENCAFE bieten den Akteurinnen die Möglichkeit, sich an diese Ereignisse trotzdem gemeinsam zu erinnern und sich so der Sinnhaftigkeit ihrer Biographien zu versichern. Nach den Erfahrungen der Exklusion und manchmal auch der Angst im Sozialismus ist nach dem politischen Umbruch der Wunsch, sich mit denjenigen ›von der anderen Seite‹ zu umgeben, begrenzt. Während eines abendlichen Spaziergangs durch ihr Dorf zeigt Frau Meier plötzlich auf ein Haus: »Das war einer von denen. Er war Polizist und all das. Nach der Wende kam seine Frau in unseren Singkreis und hat gesagt, dass sie das alles ja machen mussten [während des Sozialismus] mit den Pionieren und so. Da hab ich gesagt: ›Das stimmt nicht, man musste das nicht alles machen. Man musste nur die Konsequenzen tragen.‹ Das war’s, sie ist dann nicht wieder gekommen.« (TB, 9.12.2004)

Offensichtlich repräsentierte der Polizist für Frau Meier den ungeliebten sozialistischen Staat und sie stellt das Fernbleiben seiner Frau aus ihrem religiös motivierten Kreis mit einiger Befriedigung fest. Aber die deutsche Vereinigung hat auch Zweifel an früheren Vertrauensbeziehungen aufkommen lassen. Manche der Akteurinnen haben ihre Stasiakten 10 Die sogenannten Ostalgie-Shows zeigten DDR-Symbole und -Konsumgüter; sie wurden als falsche Nostalgie für die sozialistische Vergangenheit kritisiert. 11 Leistner (2011) stellt für einen Teil der Friedensaktivisten in der DDR eine identitäre Verbindung von Religion und Politik fest.

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gelesen und wissen jetzt, wer über sie berichtet hat. Andere haben sich bewusst dagegen entschieden. In jedem Fall sind aber durch die Diskussionen und Enthüllungen frühere Bindungen in Zweifel gezogen worden. Andere Beziehungen wurden durch neue politische Konflikte unsicher. So waren sich in einem Gespräch während einer der »Dankeschön«-Ausflüge drei Frauen einig, dass persönliche Beziehungen nach der Vereinigung prekärer und weniger stabil geworden seien. Eine von ihnen erklärt: »Man hat sich ja seine Freunde gesucht und im Kirchenrat, da wussten alle, dass der Staat Scheiße war und dann kam die Wende und auf einmal ging ein Teil in die CDU und ein Teil in die SPD. Und die einen haben gesagt: ›Wie könnt Ihr das machen, ihr wart doch immer dagegen?‹ Und die anderen: ›Wie könnt ihr das machen? Wir dachten immer, wir gehen alle in die SPD.‹«

Vergleichbar den Verwandtschaftsbeziehungen über die deutsch-deutsche Grenze gehörte die Annahme politischer Einigkeit in sozialistischen Zeiten zur Konstruktion der Bindung zwischen Kirchmitgliedern. Zumindest werden die Unterschiede von den Akteurinnen erst nach den politischen Reformen bewusst wahrgenommen und führen dann häufig zu einer Auflösung. Auch Frau Fischer betont Parteienkonflikte und das Nachlassen des Gemeinschaftsgefühls innerhalb der Gemeinden als neues Phänomen: »Und jetzt eben, ja, jetzt ist alles da und jetzt [zögert] jetzt, ja wird nicht mehr, ist es unwichtig. Jetzt ist höchstens wichtig, welcher Partei man angehört. […]. Aber es hat früher eben einen starken Zusammenhalt gegeben, das stimmt schon, [und] den es jetzt nicht mehr so gibt oder nur noch in den Kernen der Gemeinden.« (tI, 23.2.2005)

Auch diese Opponentinnen des sozialistischen Staates sprechen ähnlich wie andere ehemalige DDR Bürger von einer Verengung und Neuverhandlung der Inhalte bedeutsamer Bindungen. Während des Sozialismus als selbstverständlich gegeben, erscheinen die Bindungen und die an sie geknüpften moralischen Werte nach der Wende prekär. Die geteilten Annahmen hinsichtlich des sozialistischen Staates müssen daher bekräftigt werden, so dass ein Bruch zu dem, was in der Vergangenheit gedacht und getan wurde, vermieden werden kann. Die Ausdehnung der privaten Sorge schafft einen (halb)öffentlichen Raum, in dem die Aktivisten der Vergangenheit sich ihrer biographischen Kontinuität durch die gegenseitige Wiedererzählung ihrer Lebensgeschichten vergewissern können.

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III.3.4 S CHLUSSBEMERKUNG : C ARE , W IDERSTAND , I DENTITÄT In diesem Kapitel wurde anhand der Lebenswege evangelischer Frauen einerseits die Bedeutung von Care im Lebensverlauf dargelegt. Andererseits zeigte die Ausweitung dieser als privat gedachten Praktiken in den öffentlichen Raum deren Bedeutung für die Aufrechterhaltung von Identitätskonstruktionen und biographischer Kontinuität. Die individuellen Lebenswege um den zivilgesellschaftlichen Verein ELISENCAFE zeigen aktive Gläubige, die spezifische Erfahrungen mit dem Sozialismus und der Zeit danach teilen. Geboren in den 1930er und 1940er Jahren, haben die hier vorgestellten Frauen den größten Teil ihres Erwachsenenlebens in der DDR verbracht. Angesichts ihrer engen Verbindung mit der evangelischen Kirche sind ihre Biographien in vielerlei Hinsicht geprägt durch die schwierigen Beziehungen zwischen Kirche und Staat während des Sozialismus. Viele der Frauen hatten ein Leben in mehr oder weniger offenem Widerstand zur offiziellen Ideologie hinsichtlich mütterlicher Sorge und Erwerbstätigkeit gelebt. Im Gegensatz zum dominanten Modell (siehe auch die Kapitel I.3.2 und II.2) hatten sie sich als Mütter entschieden, nur Teilzeit oder gar nicht erwerbstätig zu sein und stattdessen zu Hause für ihre Kinder und Ehemänner zu sorgen. Diese Entscheidung führte unter anderem zu gewissen Nachteilen im Hinblick auf ihre Inklusion in staatliche Formen sozialer Sicherung und Exklusion vom dominanten Lebensmuster innerhalb der DDR. Als eine Folge ihrer engen Bindungen innerhalb der Kirche erfuhren sie während ihres Lebens nicht nur staatliche Marginalisierung und Diskriminierung, sondern auch den gesellschaftlichen Umbruch. Ihre lebenslangen Anstrengungen schlugen in öffentliches politisches Handeln um. Die folgende politische Wende brachte einerseits eine Entspannung im Verhältnis zwischen Staat und Kirche und somit eine Erleichterung für diese Akteurinnen. Andererseits wurde nicht nur ihre berufliche Situation wegen ihrer früheren häuslichen Sorgepraktiken unsicher; auch ihre Bindungen innerhalb der Kirche wurden komplizierter. Nach der Wende ließ das Interesse an ihren politischen Projekten nach und politische Differenzen zwischen Kirchenmitgliedern sowie die Öffnung der Stasiakten machten persönliche Beziehungen prekär. Dies hätte dazu führen können, die Bedeutung ihre früheren Aktivitäten und Praktiken in Frage zu stellen. Wie schon die vorangegangenen Kapitel verdeutlichten, können fundamentale Veränderungen und Brüche wie die postsozialistische Transformation in Ostdeutschland frühere Denk- und Verhaltensmuster inklusive der individuellen Lebensskripte prekär werden lassen. Eine Krise oder ein rasanter Wandel, der

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nicht in Alltagsroutinen oder etwaigen Strategien sozialer Sicherung antizipiert ist, kann eine Herausforderung für die Fähigkeit zur Konstruktion bedeutungsvoller Biographien darstellen (Skultans 1998). Individuen in einer solchen Situation werden große Anstrengungen unternehmen, um eine biographische Stabilität oder ontologische Sicherheit – hier verstanden im Sinne von Giddens (1991: 54) als die Fähigkeit »to keep a particular narrative going« – wiederzugewinnen. Der Zusammenbruch des Sozialismus in der früheren DDR und die darauf folgende Vereinigung waren in diesem Sinne unerwartet, selbst für diejenigen, die sich eine solche Entwicklung gewünscht hatten. Früher selbstverständlich genommene Care-Normen und -Erwartungen an bedeutsame Bindungen wurden nun in Frage gestellt. Daher stellen die über das Café organisierten Minijobs nur für einige wenige von ihnen eine materielle Sicherung dar. Mehr noch jedoch verkörpert das Café dadurch eine Anerkennung ihrer Entscheidung für häusliche Sorge sowie eine Ausweitung dieser in den öffentlichen Raum. Gleichzeitig wirkt diese zivilgesellschaftliche Vereinigung als eine Verlängerung des früheren »kitchen talk« der Dissidenten in die Gegenwart und damit auch für andere Akteure als biographische Bestätigung. Die Anstrengungen, bedeutungsvolle Biographien wieder zu bestärken, haben nicht nur einen Einfluss auf individuelle soziale Sicherung, sondern sie formen auch bestimmte Folgeerscheinungen der Transformation. Innerhalb des ELISENCAFEs ist die Aufrechterhaltung bedeutungsvoller Biographien eng verbunden mit der Erinnerung an die sozialistische Vergangenheit und die folgenden Umbrüche aus der Perspektive von Oppositionellen. Eine Vergrößerung des religiösen Netzwerkes durch die Aufnahme früherer Gegner hätte ihre Überzeugungen und früheren Sorgepraktiken in Zweifel ziehen können. Die Alternative lautet, bestehende Bindungen zu festigen und so biographische Kontinuität zu schaffen. In diesem Sinn versichern die kulturellen Aktivitäten des Cafés die Identität der Frauen als frühere DDR-Dissidentinnen. Das ELISENCAFE ist dabei nur ein Beispiel für das »keeping that particular narrative going« – um noch einmal Giddens (1991) zu zitieren. Nimmt man ähnliche Tendenzen auch anderswo an, dann kann die Suche nach biographischer Stabilität als ein Faktor interpretiert werden, der dazu beigetragen hat, dass die evangelische Kirche in den neuen Bundesländern trotz der neuen staatlichen Anerkennung und der Wiedereinsetzung ihrer staatlich gestützten Funktion sozialer Sicherung nicht in der Lage war, ihre Mitgliederzahl entscheidend zu vergrößern. Für die Argumentation der vorliegenden Studie noch wichtiger ist jedoch, dass erst durch die Verlagerung privater Sorgepraktiken in die Öffentlichkeit ein Raum geschaffen werden kann, indem es möglich ist, Gemeinschaft zu reproduzieren.

IV. Schlussbetrachtung

IV.1 Zusammenfassung und Ausblick

»Geschichte ist ein Weg zu immer neuen Ufern – aber das missverstehe man nicht: nicht nur das immer Neue, also die Alternativen und Optionen, ist daran wichtig, sondern auch die Ufer, also die Bezüge und Bindungen.« »Wohl aber ist richtig, daß eine liberale Position, die auf Erweiterung menschlicher Lebenschancen zielt, die Bildung von Ligaturen ebenso (und vielleicht unter bestimmten Umständen: stärker) im Sinn haben muß wie die Öffnung von Optionen.« (Dahrendorf 1979: 27, 67, Hervorhebungen im Original)

Viele Zeitdiagnosen zu Care umgibt ein Hauch von Krise. Eine Auflösung bedeutsamer Bindungen und ein Mangel an emotionaler ›traditioneller‹ Sorge in der Familie scheint gegenwärtig die Gesellschaften Europas zu prägen. In den vorangegangenen Kapiteln stand daher mit Bedacht der umgekehrte Prozess, die Herstellung und Aufrechterhaltung bedeutsamer Bindungen durch Care, im Mittelpunkt der Betrachtung. Diese Vorgehensweise diente aber keineswegs als Ausgangspunkt zur Entwicklung eines »homo caritas«, der in selbstloser Liebe zum Nächsten aufgeht, als Gegenmodell zum »homo oeconomicus«. Im Gegenteil kann Sorge, so zeigten insbesondere die Kapitel zu Care über die frühere deutsch-deutsche Grenze, in Arbeitsbeziehungen und in Formen der betrieblichen Seniorenbetreuung, durchaus ökonomischen Interessen dienlich sein und dennoch positiv erlebt werden und dadurch Gemeinschaft produzieren. Gleichzeitig kann, wie es etwa die deutsch-deutschen Verwandtschaftsbeziehungen auch zeigten, Sorge als unangenehm und unangemessen empfunden werden und so zur Auflösung von Bindungen beitragen. Ebenso vermag Care im zivilgesellschaftlichen Rahmen, der Dahrendorf wohl als fruchtbar für die Bildung neuer Bindungen vorschwebte, sich auf sehr partikulare Bedürfnisse richten, wie es am Beispiel des ELISENCAFEs deutlich wurde. Anhand dieser unterschiedlichen und ambivalenten Ergebnisse wird deutlich, dass die Erschließung des theoretischen

246 | C ARE/S ORGE und politischen Potentials von Care eine Perspektivenverschiebung voraussetzt. Statt auf einer Dualität zwischen autonomen Gebenden und abhängigen Empfängern selbstloser Liebe zu beharren, erlaubt ein prozessuales Verständnis Einblicke in die Herstellung, Reproduktion und Auflösung bedeutsamer Bindung. Eine solche Verschiebung des Blicks hat zunächst verschiedene Übersetzungsprobleme zu überwinden. Diese liegen zum einen in dem alltagskulturellen Verständnis im deutschsprachigen Raum begründet, das Care als Sorge in hochgradig problematischen und oft krisenhaft erlebten familiären Situationen verortet. Zum anderen liegen die Probleme der Übersetzung in den dominanten fachlichen Klassifikationen bedeutsamer Bindungen begründet. Diese ordnen Beziehungen z.B. als Verwandtschaft, Freundschaft oder Patronage entlang eines dichotomen Verständnisses von privat und öffentlich ein. Verwandtschaft und Freundschaft werden als private Beziehungen demnach authentische, emotionale Sorge zugeschrieben, deren ökonomische Bedeutung mehr oder weniger negiert wird. Dagegen werden den Beziehungen, die als öffentlich gelten, wie etwa im Bereich von Erwerbstätigkeit oder Markt emotionale Sorgeinhalte abgesprochen bzw. werden diese häufig für inauthentisch und daher geradezu schädlich für die Akteure gehalten. Wissenschaftliche Klassifikationen wie diese schaffen Vergleichbarkeit, indem sie (partielle) Gleichheit und auf dieser Grundlage Verschiedenheit feststellen. Dieses Vorgehen stellt durch die Bestimmung des Vergleichskriteriums eine Wahl dar, die in der Regel die definierende Seite privilegiert, d.h. Hierarchien herstellt (Heintz 2010). In jedem Fall aber behindert jede etablierte Klassifizierung die Neusortierung des empirischen Materials und damit andere Einsichten. Im vorliegenden Fall erschwert dies den Blick auf Sorge in Beziehungen, die als öffentlich gelten und damit zugleich auch die Möglichkeit, die Herstellung von Bindung durch Care generell zu untersuchen. Zudem ist mit dieser Perspektive eine ambivalente Hierarchisierung verbunden. Im Einklang mit der einleitend skizzierten europäischen Selbstbeschreibung gehen sozialwissenschaftliche Analysen davon aus, dass ›traditionelle‹ Bindungen in der europäischen Moderne an Bedeutung verlieren, so dass es zu einem Care-Defizit kommt. Dagegen steht die Konstruktion eines ›Anderen‹, der entweder in historischer Vergangenheit oder außerhalb Europas liebende Sorge innerhalb verwandtschaftlicher Bindung erfährt. Diese Sicht erschwert die Übertragung von Einsichten zur Herstellung von Bindung und Gemeinschaft aus Studien in außereuropäischen Kontexten auf die Praktiken im gegenwärtigen Europa. Daher wurde die zentrale Frage nach der Herstellung bindender Sozialbeziehungen oder Ligaturen, wie Dahrendorf (1979) sie nennt, bisher gesondert ent-

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weder im öffentlichen Bereich der Wirtschaft und Politik oder dem privaten der Verwandtschaft behandelt. In Folge blieb etwa innerhalb der Ethnologie einerseits die Diskussion um die öffentlichen Auswirkungen häuslicher Sorge mit dem schwindenden Einfluss marxistisch inspirierter Ethnologie fast ohne Auswirkungen auf die breitere Fachdebatte. Diese ›privaten‹ Care-Praktiken blieben weiterhin positiv und weiblich konnotiert und damit von ähnlichen, aber negativ belegten Praktiken vorwiegend männlicher Akteure des öffentlichen Raums, wie sie die politische Ethnologie analysiert, getrennt. Zwar setzte sich in der neueren Verwandtschaftsethnologie ein prozessuales Verständnis der Herstellung von Bindung durch Care-Praktiken durch. Dies allerdings blieb zumeist auf die Herstellung von Eltern-Kind-Bindungen und mithin auf den ›privaten‹ Raum beschränkt. Obwohl in allen diesen Bereichen teilweise ähnliche Sorgepraktiken untersucht wurden, konnten die Erkenntnisse aufgrund der bisherigen Klassifikationen nicht in einem Zusammenhang betrachtet werden. Zur Überwindung dieser Beschränkungen habe ich eine Perspektivenverschiebung vorgeschlagen, die anstatt eines Problems oder einer Beziehungsart Care zum Ausgangspunkt der Analyse nimmt. Im Sinne eines sensibilisierenden Konzepts nach Blumer (1954) können so Gemeinsamkeiten, die zu unterschiedlichen bedeutsamen Bindungen führen, aufgedeckt werden. Dazu wurde ein prozessuales Verständnis vorgeschlagen, indem Care/Sorge als Dimension sozialer Sicherung eine gebende und eine nehmende Seite in Praktiken verbindet, die auf die Befriedigung sozial anerkannter Bedürfnisse gerichtet sind. Die Einbettung von Care in größere Strukturen sozialer Sicherung erlaubt es dabei, die komplexen Verbindungen zwischen vermeintlich privaten Praktiken und öffentlichen Rahmenbedingungen zu erfassen. In den verschiedenen ethnographischen Erkundungen wurde dementsprechend der Wirkung von Care auf verschiedene Formen der Herstellung bedeutsamer Bindung, die als öffentlich oder privat gelten, sowie in ihren Übergängen nachgespürt. Im Verbund mit einem Schwerpunkt auf der Beobachtung ermöglichte das praxeologische Vorgehen einer multilokalen Reihe von Einzeluntersuchungen, das Entdecken von Care auch in unerwarteten Bindungen. Zusätzlich konnten Dynamik und temporale Einbettung dieser Praktiken durch die zwei Phasen der Feldforschung über einen längeren Zeitraum in den Blick genommen werden. Obwohl eine Konzentration auf brisante individuelle Care-Situationen bewusst vermieden wurde, sind gesellschaftliche Umbruchsituationen, bzw. gesellschaftliche Situationen, die als Krise angesehen werden für eine solche Perspektivenverschiebung besonders fruchtbar. In diesen Zeiten werden etablierte Dispositive (Foucault 1978) erschüttert und infolge dessen transformiert. In diesem Sinne eignete sich das Gebiet der ehemaligen DDR für eine solche For-

248 | C ARE/S ORGE schung in besonderem Maße, denn hier traf nicht nur ein fundamentaler Institutionentransfer auf eine wahrgenommene Care-Krise durch gesellschaftliche Alterung, sondern die neu eingeführten westdeutschen Institutionen staatlicher Wohlfahrt erschienen ebenfalls in der Krise. In dieser Situation einer mehrfachen Transformation wurden individuelle Care-Erwartungen und -Beziehungen im Licht neuer Bedürfsnislagen und Angeboten der Zugehörigkeit interpretiert, verhandelt und angepasst. Die historische Situation der beiden deutschen Staaten im Kalten Krieg förderte die bewusste Aushandlung von Sorge insofern, als dass sie zu entscheidenden Unterschieden hinsichtlich der ideologischen Schicht sozialer Sicherung sowie ihrer institutionellen Implementierung geführt hatte. Als Voraussetzung für die Perspektivenverschiebung im Blick auf bedeutsame Bindungen war es daher notwendig, auf diese besondere Situation, aber auch die damit zusammenhängenden etablierten sozialwissenschaftlichen Klassifizierungen einzugehen. In diesem Sinne wurden im dritten Teil der Studie zunächst gängige Interpretationen sozialer Bindungen im (Post) Sozialismus dargestellt. Vor dem Hintergrund der als ›richtig‹ angenommenen Beziehungsinhalte entlang der Trennung zwischen ›privat‹ und ›öffentlich‹ gelten bedeutsame Bindungen in (post) sozialistischen Gesellschaften als defizitär bzw. rein instrumentell orientiert. Durch den Blick auf Care sollten daher in den folgenden Kapiteln andere Perspektiven eröffnet und somit ein neues Verständnis bisher widerspenstiger empirischer Daten erlaubt werden. Die lokalen Interpretationen stehen dabei in engem Zusammenhang mit den Erfahrungen mit staatlicher sozialer Sicherung sowie damit einhergehenden dominanten Diskursen der Selbstbeschreibung, wie sie ebenfalls in diesem Teil eingeführt wurden. Erst vor deren Hintergrund lassen sich die in den folgenden Kapiteln dargestellten Sorgepraktiken und ihre Interpretationen durch die Akteure nachvollziehen. Diese Vorgehensweise ermöglichte in den Teilen II und III die unscharfen Grenzen und Verbindungen zwischen den als privat und öffentlich geltenden Bereichen in verschiedenen Beobachtungsschwerpunkten und Konstellationen anhand spezifischer Care-Praktiken zu exemplifizieren. So sind auf den ersten Blick ›rein‹ private Care-Bindungen durch staatliche Politik beeinflusst, während scheinbar öffentliche Sorgebeziehungen deutlich ›privaten‹ Charakter annehmen. In diesem Sinne zielte Teil II auf den Einfluss politischer Maßnahmen auf ›private‹ Care-Praktiken und deren Deutung sowie wirtschaftliche Folgen ab. Dagegen stand im Mittelpunkt von Teil III die Ausweitung privater Sorge in als öffentlich geltende Räume und Beziehungen und deren Bedeutung für Indentitätskonstruktionen.

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Insofern erwiesen sich etwa die Sorgebeziehungen zwischen Verwandten auf beiden Seiten der deutsch-deutschen Grenze als deutlich geprägt durch politische Interventionen. Die Konstruktion einer Nation in zwei Staaten sollte durch Care zwischen Verwandten über die Systemgrenze hinweg bestätigt werden. An diesem Beispiel zeigte sich, ähnlich wie Carsten (1997) dies in Malaysia nachgewiesen hat, die große politische Bedeutung vermeintlich privater Care-Praktiken. Aus der politischen Situation entstanden so Praktiken, die verschiedenen Logiken von Verwandtschaft folgen. Die Akteure pflegten in ihrem jeweiligen Wohnland vor allem kernfamiliäre Bindungen, aber hielten parallel dazu über die Grenze erweiterte Bindungen aufrecht. Im Gegensatz zur oben genannten dominanten europäischen Selbstbeschreibung schlossen die Paketsendungen oft weit entfernte Verwandte ein. Diese Prozesse der Ausweitung bedeutsamer Bindung auf erweiterte Verwandtschaftsbindungen führten dazu, dass ähnlich der transnationalen Sorge unter Migranten auch die Westpakete zu einem Wirtschaftsfaktor in beiden deutschen Staaten wurden. Da Care aber auf der Anerkennung eines Bedürfnisses beruht, musste zu deren Durchsetzung auf der bundesdeutschen Seite die ökonomische Differenz zwischen beiden deutschen Staaten hervorgehoben werden. Während also in vielen anderen Fällen Individuen oder Interessengruppen mühsam versuchen, eine Anerkennung bestimmter Bedürftigkeiten bei staatlichen Stellen zu erreichen, verlief im Fall der sozialen Anerkennung der Bedürftigkeit der DDRBürger durch die Bürger der BRD der Prozess in die umgekehrte Richtung. Die in der Konstruktion von Gleichheit (in einer ethnisch definierten Nation) und Differenz (Care auf Basis ökonomischer Ungleichheit) mitschwingende Ambivalenz enthielt gleichzeitig schon die Ausgangsbedingungen des dekinning nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Die Lockerung bis Auflösung von Bindung wurde durch die Akteure bezeichnenderweise überwiegend anhand unterschiedlicher Sorgepraktiken erklärt. Auch in diesen Auflösungsprozessen spielt das in der vorgeschlagenen Arbeitsdefinition enthaltene Element der sozialen Konstruktion von Bedürfnissen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Denn obwohl ein ökonomisches Ungleichgewicht zwischen alten und neuen Bundesländern bestehen blieb, reichte dies nicht aus, um weitere Sorgeleistungen von West nach Ost innerhalb von vormals bedeutsamen Verwandtschaftsbindungen zu evozieren. Zudem entfiel die politische Unterstützung von Care zwischen Verwandten als Versicherung der Nation im nun gesamtdeutschen Staat. In dieser Situation kam es zu Neuaushandlungen der ehemals anerkannten Bedürftigkeit. Die frühere Betonung wirtschaftlicher Ungleichheit, die in der ethnischen Gemeinschaft durch Care kompensiert werden sollte, wandelte sich nun in eine diskursive Abgren-

250 | C ARE/S ORGE zung auf Grundlage der bereits etablierten Muster der Ost-West-Konstruktion, die oft in einer Auflösung der Bindungen endete. Ein solcher Blick auf die Rolle von Care in den bisher kaum beachteten Prozessen der Auflösung von Bindung kann die Verwandtschaftsethnologie, die bisher auf die Herstellung von Bindung fokussiert, um ein wichtiges Element bereichern. Mit der großelterlichen Sorge rückte eine weitere sonst wenig beachtete verwandtschaftliche Bindung in den Mittelpunkt. Die ungewöhnlich intensive Sorge der Großväter für ihre Enkelkinder zeigte, dass Care nicht als Konsequenz institutioneller Vorschriften oder statischer Annahmen über Bedürfnis und Verpflichtung entsteht, sondern eingebettet in vergangene Erfahrungen und Erwartungen an die Zukunft täglich neu geschaffen und neuen politischen Verhältnissen angepasst werden muss. Im Gegensatz zur Sorge von Bürgern der BRD für ihre ›armen Brüder und Schwestern in der Ostzone‹ befanden sich die intergenerationellen Sorgepraktiken geradezu im Gegensatz zum Leitbild der neuen staatlichen Vorgaben sozialer Sicherung. Während diese eine häusliche Sorge für Kinder durch ihre Eltern unterstützen, sorgten in den Beispielen die Großeltern unter erheblichem Einsatz für ihre Enkel, um eine Erwerbstätigkeit ihrer Kinder und damit deren finanzielle Sorge für die Enkelkinder zu ermöglichen. Bedingt durch die Arbeitsmarktentwicklung sowie des weit verbreiteten Einsatzes von Instrumenten der vorzeitigen Pensionierung waren es in den angeführten Beispielen vorwiegend die Großväter, welche die praktische Sorge übernahmen. In diesem Beispiel wurde das Bedürfnis – Sorge für Kinder – von beiden Seiten (Staat und Familien) anerkannt, aber die jeweils als ideal gesehenen Care-Beziehungen und -Praktiken unterschieden sich. So entstanden im Verbund mit weiteren institutionellen Implementierungen sozialer Sicherung, die sich auf andere Bedürfnisse richten (Alterssicherung, Regulierung der Arbeitslosigkeit) neue Sorgepraktiken. An solch ›unerwarteten‹ Praktiken, wie die der großväterlichen Sorge, zeigt sich zudem der Vorteil des angewandten kreuzperspektivischen Vorgehens aus einer praxeologischen Perspektive. Während die Akteure in den neuen Aushandlungen von Care in verwandtschaftlichen Bindungen über die ehemals deutsch-deutsche Grenze auf bereits bekannte diskursive Muster zurückgreifen konnten, war dies den Großvätern nicht in gleichem Maße möglich. Care ist, wie dies in der theoretischen Grundlegung dargestellt wurde, zumeist deutlich von hegemonialen Geschlechterbildern geprägt. Wenn, wie im Fall der sorgenden Großväter, die Sorgepraktiken diesen Bildern widersprechen, werden sie weder von wissenschaftlicher Seite (etwa in Umfrageforschungen) thematisiert, noch von den Beteiligten (etwa in biographischen Interviews) verbalisiert. So konnten die hier dargestellten Sorgepraktiken nur durch die informellen Gespräche wäh-

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rend der stationären Phase teilnehmender Beobachtung entdeckt werden. Die zweite Phase der Forschung erlaubte es dann, diese Care-Praktiken über einen längeren Zeitraum zu begleiten und so Einblicke in deren Stabilität, aber auch in die zum Teil konfliktiven familiären Verhandlungen in den Familien zu erhalten. Sorge zwischen Generationen und weiter entfernten Verwandten, hat in der bisherigen Forschungsliteratur zu wenig Beachtung gefunden, weil die europäische Selbstbeschreibung Care nur in der ›modernen‹ Kernfamilie verortet. Dagegen wurde Care am Arbeitsplatz bisher aufgrund der bestehenden Beziehungsklassifikationen entlang der Dichotomie ›privat‹ und ›öffentlich‹ übersehen oder gar für ›falsch‹ gehalten. Widerspenstige empirische Forschungsergebnisse aus ehemals sozialistischen Ländern und insbesondere der ehemaligen DDR wurden in diesem Sinne häufig als ›falsches Bewusstsein‹ der Akteure bewertet. Ausgehend von den Praktiken, wie sie sich anhand von Archivmaterial und retrospektiven Aussagen rekonstruieren lassen, lässt sich aber feststellen, dass Sorge durchaus auch in Arbeitsbeziehungen eingebettet sein kann. Diese Formen von Care entstanden nicht, wie vielfach interpretiert, in Opposition zu staatlichen Vorgaben, sondern im Gegenteil durchaus in Übereinstimmung mit den damaligen rechtlichen Normen und ihrer institutionellen Implementierung. Analog zu den früheren Bindungen über die deutsch-deutsche Grenze unterlagen auch diese Bindungen am Arbeitsplatz Prozessen der Auflösung nach der Wende. Wie im Fall der Sorge für Kinder wiederum veränderte sich nicht nur die ideologische Schicht staatlich geförderter Care-Normen, sondern auch deren institutionelle und rechtliche Implementierung. So wird seit der Übernahme des bundesdeutschen Arbeitsrechts weit weniger Sorgeverantwortung bei den Unternehmen angesiedelt. Gleichzeitig führten die wirtschaftlichen Reformen zu Arbeitslosigkeit und damit zu einem Bedürfnis nach Beschaffung oder Erhalt einer Erwerbstätigkeit. Die Anerkennung dieses Bedürfnisses hat in Arbeitsbeziehungen – wie bei den großväterlichen Praktiken – neue Formen der Sorge zur Folge. Allerdings stellt diese neue instrumentelle Funktion (im Gegensatz zu früheren emotionalen Sorge unter Kollegen) eine Verunsicherung dar. Die Bedürfnislage der Arbeitslosigkeit wird zwar anerkannt, aber praktische Unterstützung zur Erlangung eines Arbeitsplatzes durch Einsatz verwandtschaftlicher Bindungen wird ambivalent als ›notwendiges Übel‹ bewertet. Deutlicher als die Auflösung verwandtschaftlicher Bindungen über die deutsch-deutsche Grenze, wird diese Entwicklung daher als unfreiwillig erfahren. Vor allem die Verlagerung emotionaler Sorge nach der Wende von Arbeits- in Familienbindungen wird als Verlust erlebt. In ähnlicher Weise lässt sich auch anhand der Transformation der ehemals betrieblichen Sorge für Senioren die Bedeutung der Bindung zum Arbeitsplatz

252 | C ARE/S ORGE nachzeichnen. Die sogenannte Veteranenbetreuung besaß im Sozialismus sowohl materielle wie instrumentelle und emotionale Anteile. Die Sorgeverantwortung der Betriebe war im Arbeitsrecht festgelegt, wurde aber lokal überwiegend durch die Gewerkschaft ausgeführt. Zudem wurden von den Akteuren die Einbindung in die ehemaligen Arbeitskollektive sowie die Bindungen unter den Rentnern hervorgehoben. Auch in diesem Handlungsfeld änderte sich die rechtliche und institutionelle Einbettung von Care in die staatlichen Rahmenbedingungen sozialer Sicherung. So ist der BETRIEB nach der Wende nicht mehr zu einer betrieblichen Sorge für ehemalige Arbeitnehmer verpflichtet. Ebenso wurden die Aufgaben der Gewerkschaften neu definiert und die Ausgliederung der Wohnungsgenossenschaft aus dem Unternehmen staatlicherseits unterstützt. Trotzdem bleiben Teile der früheren Care-Praktiken in allen drei Institutionen erhalten oder werden auf Grundlage des sozialistischen Vorbildes neu geschaffen. In diesen Prozessen werden vermeintlich private Gefühle und personalisierte Formen der Sorge dynamisch mit öffentlichen Vorgaben sozialer Sicherung verbunden. Im Gegensatz zum Verlust emotionaler Sorge in noch bestehenden Arbeitsbeziehungen steigt hier jedoch die Bedeutung emotionaler Anteile der Praktiken. Care im institutionellen Gefüge des staatlichen BETRIEBs beruht auf Vorstellungen von Privatheit und Intimität, die für gewöhnlich mit Familie und Verwandtschaft assoziiert werden. Dabei sind es durchaus materielle Interessen im BETRIEB und der Wohnungsgenossenschaft, die zur Schaffung oder Weiterführung dieser Formen emotionaler Sorge führen und so biographische Stabilität in Zeiten beschleunigten Wandels unterstützten. In ähnlicher Weise ermöglichte die Ausweitung häuslicher Sorge im gemeinnützigen ELISENCAFE den Akteurinnen eine Bestätigung ihrer Identitätskonstruktion. Im Gegensatz zu den meisten anderen im Laufe dieser Studie vorgestellten Akteuren haben diese Frauen in der DDR ein Leben in offener Opposition zum sozialistischen Staat geführt. Zentrales Element ihrer Dissidentinnen-Identität bildeten familiäre Care-Praktiken, die sie in Widerspruch zur staatlichen Förderung erwerbstätiger Mutterschaft rückten. Ihre Sorgepraktiken schlossen sie sowohl im Sozialismus als auch danach vom Zugang zu einigen staatlichen Formen sozialer Sicherung aus. In ihren kirchlichen Bindungen hingegen erfuhren und erfahren sie sowohl ideelle wie materielle und praktische Unterstützung ihrer Sorgepraktiken. Dennoch wurden durch die vielfältige Transformation auch kirchliche Bindungen nach der Wende zunehmend prekär. Mit der Ausweitung ihrer Care-Praktiken im ELISENCAFE schufen die Akteurinnen nicht nur eine partielle finanzielle Sicherung für einige wenige dieser Frauen, sondern gleichzeitig einen öffentlichen

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Raum der Reproduktion dieser Bindungen sowie ihrer Identität als DDR-Dissidentinnen. Insgesamt verdeutlichen alle diese ethnographischen Erkundungen zu Care durch unterschiedliche Akteure und verschiedenste Lebenswege, dass Sorgeerwartungen und -bedürfnisse in Erfahrungen der Vergangenheit und in Erwartungen an die Zukunft eingebettet sind. Im Ergebnis wird Care in die sich verändernden sozio-ökonomischen Realitäten übersetzt und eignet sich in diesen Prozessen zusätzliche Bedeutungen an. Die Herstellung und Reproduktion von Gemeinschaft ist dabei vielfach durch Praktiken der Nahrungsbereitstellung und Kommensalität geprägt. In der Verwandtschaftsethnologie wurde wiederholt auf die immense Bedeutung solcher alltäglicher Sorgepraktiken für die Herstellung bedeutsamer Bindungen hingewiesen. Allerdings wurden diese Erkenntnisse abgesehen von Studien zur Herstellung von Elternschaft mit Hilfe von Reproduktionsmedizin kaum auf den europäischen Kontext übertragen. In den vorangegangenen Kapiteln wurde gezeigt, dass Elemente der Sorge durch Essen und dessen gemeinsame Einnahme auch in Europa von entscheidender Bedeutung sind. So bestanden die Westpakete signifikanter Weise zu großen Teilen aus Nahrungsmitteln, die erst durch die Verwendung von Geschenkpapier und Auswahl von Markenprodukten aus dem Alltäglichen gehoben und zur Gabe werden sollten. Auch die Rituale der Seniorenbetreuung enthielten als typische Elemente die gemeinsame Essensaufnahme durch die auch hier Gemeinschaft und Bindung zum (ehemaligen) Arbeitsplatz reproduziert wurden. Schließlich bestand die Ausweitung der privaten Sorge in den öffentlichen Raum der Akteurinnen des Vereins ELISENCAFE in der Herstellung und Bereitstellung von Essen und auch ihre jährlichen Ausflüge waren durch die gemeinsame Nahrungsaufnahme strukturiert. Alltägliche Sorgepraktiken (wie etwa Nahrungsbeschaffung und -zubereitung oder emotionaler Beistand) ermöglichen über die Aufrechterhaltung bedeutsamer Bindungen hinaus auch die Produktion und Reproduktion von Gemeinschaft. Eine solche erweiterte Sichtweise löst die Sorgeverantwortung aus dem familiär-verwandtschaftlichen Rahmen und eröffnet einen Blick auf die politischen und wirtschaftlichen Dimensionen von Care. So lassen sich mit Care als sensibilisierendem Konzept nicht nur Zusammenhänge zwischen Individuen und Institutionen, oder zwischen Räumen, die als privat oder öffentlich definierten werden, aufzeigen. Es ermöglicht auch die Untersuchung von Konstruktion, Reproduktion und Auflösung bedeutsamer Bindungen. Diese Annäherung an Care anhand alltäglicher Sorgepraktiken steht im Gegensatz zum üblichen Ansatz, der von speziellen Problemlagen ausgeht. Dieser Zugang wurde bewusst gewählt. So standen in den empirischen Kapiteln

254 | C ARE/S ORGE nicht etwa die besonderen Sorgeverpflichtungen von Frau Haupt gegenüber ihren hörbehinderten Kindern oder von Herrn Paul gegenüber seinem Sohn mit Down-Syndrom im Mittelpunkt der Betrachtungen. Dennoch kann Care auch in solchen Situationen besser erfasst werden, wenn die geteilten Muster ›normaler‹ gesellschaftlicher Teilhabe und Sorge analysiert werden. So blieb Frau Haupt, ähnlich wie die Eltern der durch die Großväter versorgten Kinder, trotz der besonderen Bedürfnisse ihrer Töchter berufstätig. Dies ermöglichte ihr später, ihnen über ihre beruflichen Beziehungen zur Integration in den Arbeitsmarkt des vereinten Deutschlands zu verhelfen. Herr Paul wiederum tat sich mit anderen Eltern zusammen, als nach der Wende die Betreuungseinrichtung seines Sohnes geschlossen werden sollte. Ihr Protest führte schließlich zum Fortbestand dieser ›öffentlichen‹ Form der Sorge. In beiden Fällen kombinierten die Akteure erhöhte familiäre Sorge mit Berufstätigkeit bzw. setzten sich dafür ein, diese zu erhalten. Auch diese individuellen Praktiken lassen sich erst durch die temporale Einbettung in frühere Erfahrungen der Sorge für Kinder und in Verbindung mit den sich wandelnden staatlichen Implementierungen von Care-Normen verstehen, wie sie in den einzelnen Kapitel dargestellt wurden. Solche Konstruktionen von Sorge gehen unter anderem in Formen der Wohlfahrtspolitik über. Die Diskurse in den alten Bundesländern unterstütz(t)en diesbezüglich vor allem häusliche Sorge für Kinder. Gleichzeitig sind diese populären Diskurse von dominanten wissenschaftlichen Klassifikationen durchdrungen, während sie umgekehrt auf diese einwirken. Eine erweiterte Perspektive von Care als Dimension sozialer Sicherung, wie sie hier vorgeschlagen wurde, erlaubt den Blick auf den übergreifenden Beitrag von Sorge zur Herstellung und Reproduktion bedeutsamer Bindung. Letztlich ließe sich so auch in der Politikentwicklung möglicherweise eine breitere Perspektive entwickeln, die die Einbeziehung hybrider Quellen von Care auch in individuellen Krisensituationen erleichtern könnte. Für die fachinterne Diskussion birgt eine Konzentration auf Care das Potential zur theoretischen Weiterentwicklung. Wenn Ethnologie die »Wissenschaft vom Fremden« ist, sich aber gleichzeitig das Fremde nicht mehr geographisch verorten lässt, ließe sich mit Care ein Bereich konstruieren, in dem grundsätzliche Fremdheit möglich ist. In diesem Sinne wird Sorge häufig eingeschränkt auf die ›inneren Fremden‹ angewendet, d.h. auf diejenigen, die nicht dem Ideal des autonomen Individuums entsprechen: die Kranken, Behinderten, Alten und Kinder. Aber schon die feministischen Studien der 1970er Jahre haben gezeigt, dass es Interdependenz – und dies eher als Unabhängigkeit – ist, die das Leben aller Menschen kennzeichnet. Daher wurde hier ein anderer Weg vorgeschlagen, indem das Fremde weder außerhalb Europas noch innerhalb ›exotischer‹ Räume

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einer europäischen Gesellschaft gesucht wurde. Vielmehr wurde am Beispiel von Care dafür plädiert, dass die ethnologische Perspektive in der Offenheit liegt, Alterität auch dort zu entdecken, wo sie nicht vermutet wird. Es ist der verfremdende Blick, mit dem Gewissheiten der eigenen Gesellschaft und der eigenen sozialen Position hinterfragt werden können. Dabei geht es nicht um ein ›Exotisieren‹, sondern vielmehr darum, im Abstand von eigenen Überzeugungen und Klassifikationen eine neue Perspektive zu entwickeln. Daher sollte der Blick auf die Prozesse der Entstehung, Reproduktion und Auflösung bedeutsamer Bindung gerichtet werden. Care als sensibilisierendes Konzept ermöglicht diese multiple Perspektivverschiebung und damit neue Einsichten in gegenseitige Abhängigkeiten.

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A NHANG

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IV.2.2 ANHANG Fragebogen Der im BETRIEB eingesetzte Fragenbogen gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil bezieht sich auf soziologische Grunddaten sowie auf Elemente der Arbeitsbiographie. Im zweiten Teil wird durch einen leicht abgewandelten standardisierten Fragenkatalog das persönliche Kernnetzwerk erhoben, das Einblick in geteilte Normen und Erwartungen an Care ermöglicht. Die gleichen Fragen wurden anschließend noch einmal in retrospektiver Perspektive gestellt, um die Wahrnehmung der Veränderung zu erheben. Der dritte Teil des Fragebogens schließlich thematisiert weitere mögliche Care-Beziehungen und ihre Einbettung in soziale Sicherung. Die letzte, offene Frage zielt wiederum auf die von den Befragten wahrgenommene »größte Veränderung nach der Wende«. 1. Teil: Allgemeine Angaben/Arbeitsbiographie Geschlecht Geburtsort Familienstand Religionszugehörigkeit Kinder Ausbildung Vor der Wende Nach der Wende Ausgeübter Beruf Vor der Wende Nach der Wende Würden Sie sagen, dass Sie nach der Wende einen beruflichen Auf- oder Abstieg erlebt haben? Wie haben Sie (damals) Ihren Ausbildungsplatz gefunden? Seit wann arbeiten Sie im BETRIEB? Wie/warum sind Sie (damals) BETRIEB gekommen? Wie haben Sie Ihren Arbeitsplatz gefunden/behalten? 2. Teil: Erhebung Persönliches Netzwerk Die in diesem Teil gestellten Fragen erheben das persönliche Kernnetzwerk von Individuen. Zu diesem Zweck werden zwölf überwiegend hypothetisch formulierte Fragen zu verschiedenen Problemsituationen, in denen instrumentelle, praktische und emotionale Formen von Care benötigt werden, gestellt und die jeweilige/n Bezugsperson/en erfragt (zur Erhebung persönlicher Netzwerke mittels Fragebögen siehe auch Holzer 2006, Schweizer 1996, Schnegg/Lang

290 | C ARE/S ORGE 2006). Die Fragen 1, 2 und 3 behandeln instrumentelle Hilfen, Frage 4 intensive emotionale Unterstützung, die Fragen 5 und 8 Ratgeberfunktionen in wichtigen Lebensentscheidungen sowie die Frage 7 ökonomische Unterstützung. Die Fragen 10, 11 und 12 schließlich zielen auf das erweiterte soziale Umfeld. Lediglich die Frage, wer einen im Falle einer Grippe oder einer vergleichbaren Krankheit betreut, ist in dieser Kategorisierung nicht enthalten. Da ich meine Interviews im Arbeitsumfeld der Befragten durchführte, habe ich eine Frage zur emotionalen Unterstützung bei Niedergeschlagenheit durch eine Frage zur Besprechung von Arbeitsproblemen ersetzt. Wie sich herausstellte, war diese Frage uneindeutig, da meine Gesprächspartner in ihren Antworten Differen-zierungen nach arbeitstechnischen und eher persönlichen Problemen am Arbeitsplatz vornahmen. A) Persönliches Netzwerk 1.

Stellen Sie sich vor, Sie bräuchten Zucker oder etwas in dieser Art und die Läden sind geschlossen oder Sie bräuchten ein Werkzeug. Wen könnten Sie fragen, um sich so etwas auszuleihen? 2. Stellen Sie sich vor, Sie bräuchten Hilfe bei kleineren Arbeiten im oder am Haus, z.B. eine Leiter halten oder ein Möbelstück verrücken. Wen würden Sie um diese Art von Hilfe bitten? 3. Stellen Sie sich vor, Sie hätten Probleme mit dem Ausfüllen von Formularen, z.B. bei der Steuererklärung. Wen würden Sie um diese Art von Hilfe bitten? 4. Die meisten Menschen besprechen von Zeit zu Zeit wichtige Probleme mit anderen. Wenn Sie auf die letzten sechs Monate zurück blicken: Mit wem haben Sie für Sie wichtige Dinge besprochen? 5. Stellen Sie sich vor, Sie bräuchten Rat bei einer großen Veränderung in Ihrem Leben, z.B. bei einem Arbeitsplatzwechsel oder einem Umzug in eine andere Gegend. Wen würden Sie um Rat fragen, wenn eine solche Entscheidung anstünde? 6. Stellen Sie sich vor, Sie hätten Grippe und müssten ein paar Tage im Bett verbringen. Wen würden Sie darum bitten, Sie zu versorgen oder Einkäufe für Sie zu erledigen? 7. Stellen Sie sich vor, Sie bräuchten eine größere Summe Geld. Wen könnten Sie fragen? 8. Nehmen wir an, Sie hätten Probleme mit Ihrem/r Partner/in, die sie nicht mit ihm oder ihr besprechen können. Mit wem würden Sie über solche Probleme sprechen?

A NHANG

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9. Stellen Sie sich vor, Sie haben Probleme am Arbeitsplatz. Mit wem würden Sie darüber reden? 10. Mit wem gehen Sie ab und zu aus, zum Beispiel einkaufen, spazieren, in ein Restaurant oder ins Kino? 11. Mit wem haben Sie außerdem mindestens einmal im Monat Kontakt, zum Beispiel bei Besuchen auf einen kleinen Schwatz, auf eine Tasse Kaffee oder etwas anderes zu trinken oder für ein Kartenspiel? 12. Gibt es sonst noch jemanden, der wichtig ist für Sie, aber noch nicht genannt wurde? Verwandte oder Arbeitskollegen, die für Sie wichtig sind? B) Veränderungen nach der Wende

Und nun nehmen wir einmal an, es hätte die Wende nicht gegeben und Sie versuchen sich vorzustellen, wie Sie dann mit solchen Problemen umgegangen wären. 1.

Wen hätten Sie um Hilfe gebeten, wenn Ihnen Zucker gefehlt hätte?

2.

Wen hätten Sie um Hilfe bei kleineren Arbeiten im und am Haus gebeten?

3.

Wen hätten Sie um Hilfe bei Problemen mit dem Ausfüllen von Formularen gebeten?

4.

Mit wem hätten Sie sich bei einer großen Veränderung in Ihrem Leben beraten?

5.

Wen hätten Sie um Hilfe bei einer Krankheit gebeten?

6.

Wen hätten Sie um Geld bitten können?

7.

Mit wem hätten Sie Eheprobleme besprochen?

8.

Mit wem hätten Sie über Probleme am Arbeitsplatz gesprochen?

9.

Mit wem sind Sie ab und zu ausgegangen?

10. Mit wem hatten Sie außerdem regelmäßig Kontakt?

Abschlussfrage: Was für Veränderungen sehen Sie in Ihren persönlichen Beziehungen?

292 | C ARE/S ORGE 3. Teil: Fragen zur Mobilität/Soziale Beziehungen/Erfahrung der Wende Sind Sie seit der Wende umgezogen? Wohnen Sie zur Miete oder im Eigenheim? Wie haben Sie Ihr(e) derzeitige(s) Wohnung/Haus gefunden? Hat sich Ihre Nachbarschaft seit der Wende verändert? Wie? Waren Sie zu DDR-Zeiten gesellschaftlich oder sportlich aktiv? Wenn ja, wo? Sind Sie heute als Vereinsmitglied oder ehrenamtlich aktiv? Wenn ja, wo? Verfügen Sie über einen Garten? Haben Sie einen früheren Garten abgegeben? Hat sich die Nutzung Ihres Gartens verändert? Wohnen Sie dort im Sommer? Hat sich dort Ihre Gemeinschaft/Nachbarschaft verändert? Haben Sie es erlebt, dass Familienangehörige oder Freunde nach der Wende aus

SEESTADT weggezogen sind? Wenn ja, würden Sie sagen ein großer Teil? Haben Sie noch regelmäßigen Kontakt? Hatten Sie »Westverwandtschaft«? Wenn ja: Haben sich diese Familienbeziehungen nach der Wende verändert? Was ist für Sie persönlich die größte Veränderung nach der Wende gewesen?

A NHANG

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Übersicht über aufgenommene Interviews Interviews im Umfeld Betrieb Name (geändert)

Datum

Beruf/Funktion

Frau Schmidt-Hauser

12.2.2003

Angestellte, seit Mitte der 1980er Jahre in der Personalabteilung

Frau Schönhut (mit Freundin Frau Schlosser)

17. 9. 2003

Rentnerin, ehemals Küchenleitung

Frau Haupt

21.2.2005

Rentnerin, ehemals Chefsekretärin, Mitglied des Seniorenbeirats

Andrea und Sabine

10. 4. 2003

Auszubildende

Herr Dr. Danitz

11. 4. 2003

Ehemaliger Führungskader, nach der Wende entlassen

Herr Wolf jun.

14.9.2003

Angestellter

Frau Krause

10.12.2003

Angestellte

Herr Rudolf

12.12.2003

Obdachloser, ehemaliger

Herr Paul

29.4.2004

Rentner, ehemaliger Arbeiter

Herr Wolfram

12. 3. 2003

Früherer Angestellter

Ehepaar Wolf

31. 3. 2004

Rentner, Eltern von Herrn Wolf jun.

Herr Braun

16. 6. 2004

Rentner, Stellvertretender BGL-Vorsitzender

Frau Köhler

24.2.2005

Rentnerin, 1961-89 Frauenausschuss /Kommission

Frau Bassow

24. 2. 2005

Renterin, früher Krippenwesen

Herr Meier

22. 5. 2005

Rentner, ehemals im Außenhandel

Herr Weber

22. 6. 2005

Rentner, ehemaliger Arbeiter

(Freundin zur Zeit arbeitslos)

294 | C ARE/S ORGE Interviews Elan e.V. und Elisencafe Name (geändert)

Datum

Beruf/Funktion

Frau Fabian

10.4.2003

Gründerin ELAN e.V.

Frau Pagenkamp und Herr Lahse

4.3.2004

Ehrenamtliche Mitarbeiter bei ELAN e.V.

Frau Fuchs

22.2.2005

Rentnerin, ehemals Kirchenmitarbeiterin

Frau Schreiber

23.2.2005

Ehrenamtliche Mitarbeiterin im ELISENCAFE

Frau Fischer

23.2.2005

Rentnerin, ehemalige Kreiskatechetin

Name (geändert)

Datum

Beruf/Funktion

Frau Wagner

11.3.2003

Erzieherin und Mitglied des Sozial-

Experteninterviews

ausschusses im Stadtrat Frau Leese

11.3.2003

Gleichstellunsbeauftragte

Herr Sauer

11.3.2003

Mitglied Sozialauschuß

Frau Sager

11.3.2003

Büro für Behindertenfragen

Frau Bohse

17.3.2003

Leiterin Sozialamt, ehemalige Lehrerin

Herr Scholz

30.3.2004

Vorstand der ehemals zum BETRIEB gehörenden Wohnungsgenossenschaft

Herr Severin

1.4.2004

Service Wohnen der Wohnungsgenossenschaft

Kultur und soziale Praxis Naime Cakir Islamfeindlichkeit Anatomie eines Feindbildes in Deutschland August 2014, 274 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2661-2

Gesine Drews-Sylla, Renata Makarska (Hg.) Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989 November 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2364-2

Heidrun Friese Grenzen der Gastfreundschaft Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa und die europäische Frage Juli 2014, 250 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2447-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2014-07-29 13-53-54 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03c6373051067030|(S.

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3) ANZ2562.p 373051067038

Kultur und soziale Praxis Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hg.) Jugendbewegungen Städtischer Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt Juli 2014, 400 Seiten, Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-2130-3

Marion Schulze Hardcore & Gender Soziologische Einblicke in eine globale Subkultur Februar 2015, ca. 400 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2732-9

Nadja Thoma, Magdalena Knappik (Hg.) Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaften Machtkritische Perspektiven auf ein prekarisiertes Verhältnis Februar 2015, ca. 300 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2707-7

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3) ANZ2562.p 373051067038

Kultur und soziale Praxis Jens Adam, Asta Vonderau (Hg.) Formationen des Politischen Anthropologie politischer Felder Mai 2014, 392 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2263-8

Jonas Bens, Susanne Kleinfeld, Karoline Noack (Hg.) Fußball. Macht. Politik. Interdisziplinäre Perspektiven auf Fußball und Gesellschaft Februar 2014, 192 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2558-5

Anne Menzel Was vom Krieg übrig bleibt Unfriedliche Beziehungen in Sierra Leone Januar 2015, ca. 430 Seiten, kart., ca. 42,99 €, ISBN 978-3-8376-2779-4

Kristin Pfeifer »Wir sind keine Araber!« Amazighische Identitätskonstruktion in Marokko Februar 2015, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 36,99 €, ISBN 978-3-8376-2781-7

Anamaria Depner Dinge in Bewegung – zum Rollenwandel materieller Objekte Eine ethnographische Studie über den Umzug ins Altenheim

Wiebke Scharathow Risiken des Widerstandes Jugendliche und ihre Rassismuserfahrungen

Januar 2015, ca. 250 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2765-7

Juli 2014, 478 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2795-4

Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« (Hg.) Kämpfe um Migrationspolitik Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung

Wolfgang Stark, David Vossebrecher, Christopher Dell, Holger Schmidhuber (Hg.) Improvisation und Organisation Muster zur Innovation sozialer Systeme

Januar 2014, 304 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2402-1

Jacqueline Grigo Religiöse Kleidung Vestimentäre Praxis zwischen Identität und Differenz Januar 2015, ca. 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2839-5

Christa Markom Rassismus aus der Mitte Die soziale Konstruktion der »Anderen« in Österreich Januar 2014, 228 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2634-6

Dezember 2014, ca. 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2611-7

Henrike Terhart Körper und Migration Eine Studie zu Körperinszenierungen junger Frauen in Text und Bild Januar 2014, 460 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2618-6

Yeliz Yildirim-Krannig Kultur zwischen Nationalstaatlichkeit und Migration Plädoyer für einen Paradigmenwechsel Mai 2014, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2726-8

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