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German Pages [244] Year 2015
EUROPÄISCHE GRUNDBEGRIFFE IM WANDEL Verlangen nach Vollkommenheit Band 2
SORGE herausgegeben von Gert Melville Gregor Vogt-Spira Mirko Breitenstein
2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
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INHALT Vorwort zur Reihe: 7 Europäische Grundbegriffe. Leitmotive des Strebens nach Vollkommenheit Vorwort zum Band: 9 Sorge Konzepte, Praktiken und Wandel eines europäischen Grundbegriffs I Antike Martin Jehne 15 Einleitung Gregor Vogt-Spira 20 Geben – Empfangen – Wiedergeben. Dynamiken der Sorgebeziehung in Rom Elke Stein-Hölkeskamp 39 Die Sorge um sich und die anderen: Plinius der Jüngere als amicus und patronus II. Mittelalter Bernd Schneidmüller 59 Einleitung Johannes Fried 64 Skizzenhafte Überlegungen zur Sorge im Kontext von Vollkommenheit Gert Melville 79 »Liebe und tue, was du willst!« – Eine Herausforderung für den mittelalterlichen Menschen
III. R enaissance Barbara Stollberg-Rilinger 99 Einleitung Enno Rudolph 101 Sorge als Form und Inhalt der Politik. Machiavellis bene commune als normative Vorgabe des Il Principe Cornel Zwierlein 109 Se-curare, sine cura, se-curitas, assecuratio: Innovationen der Sicherheitsproduktion in der Renaissance I n h alt | 5
IV. 18. Jahrhundert Edoardo Tortarolo 139 Einleitung Brunhilde Wehinger 145 Von der Gottesliebe zur Brüderlichkeit. Zur Debatte um charité, (Für-)Sorge, Nächstenliebe im 18. Jahrhundert Rudolf Schlögl 162 »Sorge« im Zeitalter der Aufklärung. Von der Ordnung zum Arrangement der Selbststeuerung V. Moderne Gerd Schwerhoff 183 Einleitung Hans Vorländer 185 Von der Sorge zur organisierten Solidarität. Die Entwicklung zum modernen Sozial- und Wohlfahrtsstaat Georg Kohler 195 Masern, Maserati, Madonna … Die Sorge im modernen Gesundheitswesen Alois Hahn 207 Sorge und Selbstsorge. Ein Beitrag der empirischen Soziologie zu einem nicht nur philosophischen Problem. VI. Indien Mirko Breitenstein 227 Einleitung Karin Preisendanz 229 Sorge(n) im Rahmen des Strebens nach Vollkommenheit. Überlegungen zum Phänomen anhand ausgewählter indischer Vorstellungen und Modelle 249 Register 253 Zu den Autoren
6 | Inhalt
Vorwort zur Reihe:
EUROPÄISCHE GRUNDBEGRIFFE Leitmotive des Strebens nach Vollkommenheit Die europäische Kultur – freilich nicht nur diese – zeichnet sich seit der Antike und nachfolgend dem mittelalterlichen Christentum, dem Humanismus und der Aufklärung bis zur modernen Fortschrittsideologie durch ein kontinuierliches Verlangen nach Vollkommenheit aus. Diesem Verlangen liegt die Vorstellung zugrunde, dass es prinzipiell optimale Ausformungen des individuellen und sozialen Lebens gäbe und dass man danach zu streben habe, diese zu verwirklichen. Angesichts einer unüberbrückbaren Diskrepanz von Sein und Sollen stellt es den Versuch dar, Unerreichbares zu erreichen. Ein Verlangen nach Vollkommenheit produziert folglich ein kontinuierliches Wechselspiel von Versuch und Scheitern. Dadurch aber wird ein höchst dynamisierendes Potential frei, welches zu fortwährenden Wiederholungen, Rezeptionen, Renaissancen, Anpassungen und Korrekturen von Vollkommenheitsstreben führt. Das dynamische Potential dieses Strebens erzeugt eine Gleichzeitigkeit auch alternativer und divergierender Strategien zu ihrer Verwirklichung. Dieser Prozeß bricht auch in der Gegenwart nicht ab, vielmehr resultiert die fortgesetzte Suche nach etwas noch Vollkommenerem aus der Einsicht, dass das bisherige Ziel und der eingeschlagene Weg nicht ausreichen oder in die »falsche« Richtung führen. Bei der Analyse dieser Entwicklungen wird deutlich: Die Inhalte dessen, was für vollkommen gehalten wird, wurden immer wieder neu gesellschaftlich ausgehandelt, durch Eliten vorgegeben, in Diskursen zur Disposition gestellt bzw. in Epistemen verankert, naturrechtlich bestimmt oder als normativer Ausfluss einer metaphysisch-numinosen Instanz behauptet. Nur so war Wiederholung, Rezeption, Anpassung und Korrektur des Strebens nach Vollkommenheit möglich. In einer Beobachtung des Verlangens nach Vollkommenheit wird die Geschichtlichkeit des menschlichen Denkens erkennbar. Die Reihe »Europäische Grundbegriffe im Wandel: Verlangen nach Vollkommenheit« möchte anhand exemplarisch gewählter Untersuchungsfelder dieses Verlangen in diachron vergleichender Perspektive in den Blick nehmen. Neben der im Zentrum des vorliegenden Bandes stehenden Sorge handelt es sich hierbei um Gerechtigkeit, Freiheit, Erkenntnis, Schönheit und – gleichsam als vollkommene Erfüllung menschlichen Strebens – Glückseligkeit. E u ropäi sc h e G ru n dbe g ri f fe | 7
Die Reihe hat zum Ziel, diese Begriffe innerhalb solcher Epochen oder Zäsuren in den Blick zu nehmen, die für ihre konzeptionelle Prägung und pragmatische Ausgestaltung besonders entscheidend waren. Auch hier können stets nur Schlaglichter geworfen werden – Schlaglichter jedoch, welche die Dynamik der stattgefundenen Entwicklungen zu beleuchten vermögen. Leitidee ist, jeweils im Umgriff von der Antike bis zur Gegenwart unter exemplarisch vergleichendem Einschluss von nicht-europäischen Kulturen, die historischen Ausformungen sowohl auf der konzeptionellen als auch der pragmatischen Ebene zu analysieren.
8 | Europ äische G r und b e gr if fe
Vorwort zum Band:
SORGE Konzepte, Praktiken und Wandel eines europäischen Grundbegriffs Keine menschliche Gemeinschaft kommt ohne gegenseitige Sorge aus. Sie ist entscheidend für jedes gedeihliche Miteinander, ob in der Familie, der Gruppe, der Bürgerschaft, dem Staat, der Kirche. Sorge bezeichnet dabei eine innere Haltung, die in ihren vielfältigen Formen darauf gerichtet ist, Gemeinschaft zu stiften. Aber das Spektrum möglicher Sorgebeziehungen ist noch weiter: Der Einzelne trägt Sorge für die Gemeinschaft, für ein Gegenüber oder für sich selbst; die Gemeinschaft wiederum für den Einzelnen. Dabei scheint des Sorgens nie genug zu sein: Ein Verlangen nach Vollkommenheit wird zum Ideal. Jedes engagierte Sorgen wird wesentlich von einem Geben an das soziale Umfeld und prinzipiell – wenn auch nicht zwangsläufig – von einer entsprechenden Gegengabe getragen. Somit können gemeinschaftliche, erwartungsgeleitete Beziehungsstrukturen der ideellen und materiellen Unterstützung aufgebaut und stabilisiert werden. Ein fürsorgendes Geben kann zur Erreichung eines bestimmten gemeinschaftlichen Zieles (z.B. in Zweckbünden wie Zünften, Parteien etc.) ebenso erfolgen wie zur Verfestigung eines Gemeinschaftssinns , sei es in Freundschaften, Liebesbeziehung, religiöser Gemeinde etc. »Geben« geschieht dabei nicht nur unter Gleichrangigen, sondern kann oftmals auch stark hierarchisch geordnet sein wie etwa im römischen Klientel- bzw. im mittelalterlichen Lehnswesen oder beim Patriarchalismus der industriellen Gründerzeit. Dennoch kennt dieses sorgende »Geben« keine inhaltlichen Grenzen – es erstreckt sich von kleinen Liebesdiensten, Verbundenheitsbekundungen, Geschenken bis zu völliger Hingabe, Aufopferung und Tod. Zugleich kann es sich ganz auf eine Richtung beschränken – oder wenigstens so empfunden werden. Denn es funktioniert auch ohne Gegenseitigkeit (also z.B. ohne Gewinn, Lohn, Lob, Anerkennung), wird indes durch Erwartung von Gegenseitigkeit besonders gefördert, wobei die »Gegengabe« auch bloß in der Befreiung von Furcht, schlechtem Gewissen etc. bestehen kann. Zum Ausdruck kommt hier jene innere Haltung der Sorge, die unter Ausblendung eines ritualisierten Gebens und Nehmens ein ganz spezifisches Moment des Sorgens zum Ausdruck bringt: jene Idee der Selbstlosigkeit nämlich, die charakteristisch auch für die europäische Tradition ist. Ihre Fundierung findet die Sorge für den Nächsten oder die Gemeinschaft entweder in einer moralischen, religiösen, gesetzestreuen, gegebenenfalls auch emoSorg e | 9
tional motivierten Selbstverpflichtung oder in der (durchaus auch unfreiwilligen) Befolgung einer vorgegebenen Norm. Die im Christentum bestehende Verpflichtung zur Nächstenliebe ist hier als grundlegender Wandel zu erkennen; ihre institutionellen Ausprägungen sind mit Caritas und Diakonie noch heutigentags präsent. Nicht nur im religiösen, sondern auch im säkularen Bereich gilt: Soziale Bindung gegenseitiger Sorge kann sich in jedem Einzelfall freiwillig oder unfreiwillig verwirklichen – wobei »freiwillig/unfreiwillig« wiederum eine große Bandbreite aufweist, die etwa zwischen erzwungener Bereitschaft (z. B. Steuerpflicht) sowie automatischer, d.h. sozialisierter Bereitschaft (z.B. Dienst an der Gemeinschaft) und reflektierter, d.h. bewusst vollzogener Bereitschaft (z. B. Kantscher Imperativ einerseits oder Liebe, einschließlich der Feindesliebe) oszilliert. Dem Begriff der »Sorge« und mehr noch ihren spezifischen Konkretisierungen kommt daher eine wesentliche Bedeutung bei der Analyse gesellschaftlicher Ordnungen zu. Utopien von Gesellschaft sind immer auch auf ein kommunitäres Ideal bezogen, wie bespielsweise das Vorbild der Urkirche oder der Traum vom Kommunismus zeigen. Derartige Vollkommenheitsvorstellungen beziehen sich ebenso wie die zahllosen Versuche ihrer Umsetzung auf das allgemein verständliche Postulat der gegenseitigen Sorge, das gerade durch diese so vielfältigen Bezugnahmen ein beeindruckendes und keineswegs hinreichend untersuchtes semantisches Feld beschreibt. Harmonie, Friede, Eintracht, Brüderlichkeit, Solidarität, Fürsorge und Nächstenliebe sind nur einige der stets aufs Neue beschworenen Ideale gesellschaftlicher Ordnung, die als spezifische Ausprägungen eines allgemeinen Begriffs und als Formen gegenseitiger Sorge erkannt werden können. Gemeinsam ist ihnen das Bestreben, menschliche Gesellschaft in höchstmöglicher Vollendung zu realisieren. Im Aufgriff der historischen Spannweite der europäischen Kultur von der Antike bis zur Gegenwart werden hier also historische Ausformungen jeweils sowohl der konzeptionellen (philosophischen, theologischen, ideologischen) als auch der pragmatischen Ebene (Akteure, Objektivationen, Handlungsmuster etc.) vorgestellt. Die diachron orientierte vergleichende Vorgehensweise hat zum Ziel, solche Epochen oder Zäsuren in den Blick zu nehmen, welche für die konzeptionelle Prägung und pragmatische Ausgestaltung des Begriffs der »Sorge« in der europäischen Geschichte besonders entscheidend waren. Für einen exemplarischen Vergleich mit den Sorge-Traditionen Europas werden Vorstellungen und Modelle der altindischen Kultur herangezogenen. In der Umsetzung dieses Programms erwies sich eine Reihe von systematischen Fragen für die Autoren als leitend: Welche Formen des Sorgens werden benannt? Von wem? In welchen Zusammenhängen? Welche normative Geltung haben Sorgegebote? 10 | S orge
Wann wird zu Sorge um den Nächsten aufgerufen und an sie appelliert? Beim
Scheitern der Norm, ihrer Nichtbeachtung oder Übertretung?
Wem dient Sorge? Dem Einzelnen, einer Gruppe, der Gesellschaft, einer Ord-
nungsidee? Wer definiert und garantiert Konzepte des Sorgens? Der Herrscher, jeder Einzelne, eine Gruppe, eine soziale Schicht, die Gesellschaft, die Verfassung und ihre Institutionen, eine metaphysisch-numinose Gewalt? Wo und in welcher Form manifestiert sich das Gebot des Sorgens um den Nächsten? Im Inneren des Einzelnen, in der Gemeinschaft, in der Transzendenz, durch Verfahren, durch Rituale etc.? Wie konkurrieren Formen der Sorge: Transfer, Rezeption von Konzepten, Interferenzen von Begründungsmodi etc.? Wo endet die Kompetenz des Sorgens? Vor einer Norm? Vor den Ansprüchen des Eigennutzes? Gibt es Epochen oder kulturelle Formationen, die von stärker oder schwächer ausgeprägten Forderungen nach Sorge um den Nächsten bestimmt sind? Sind diese total umfassend oder nur partikular? Es ist den Herausgebern eine große Freude, all jenen zu danken, die zu diesem Band beigetragen haben: Neben den Autoren sind hier die Fritz Thyssen Stiftung ob ihrer großzügigen finanziellen Förderung der vorausgehenden Tagung, das Deutsch-Italienische Zentrum für Europäische Exzellenz Villa Vigoni in Erinnerung der gewährten liebenswürdigen Gastfreundschaft und der Böhlau-Verlag eingedenk der sorgfältigen Betreuung und Förderung des Bandes zu nennen. Eine dankeswerte Unterstützung erfuhr das Projekt zudem von seiten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Die Herausgeber
Sorg e | 11
Martin Jehne
EINLEITUNG: ANTIKE Wie unmittelbar ins Auge springt, hat es »Sorge« als Haltung und Praxis im Zustand der Vollkommenheit nicht mehr zu geben. Vielmehr wird diese sowohl in der eher selbstbezüglichen Variante – als Sorge um (sich) – als auch in der eher fremdbezüglichen Variante – als Sorge für (jemanden oder etwas) – erst erzeugt durch die Unvollkommenheit der bestehenden Verhältnisse. Nun mag es eine naheliegende Vermutung sein, dass Vollkommenheit nicht erreicht werden kann, aber das schließt es nicht aus, nach Annäherung zu streben. Heißt das dann aber, dass Sorge mit zunehmender Vervollkommnung immer mehr verschwindet? Eine Verminderung der Sorgen kann man auf wenigstens zwei Wegen betreiben. Man kann sich bemühen, die Anlässe für Sorge aus der Welt zu schaffen, wobei der Horizont unterschiedlich groß sein kann: für sich selbst, für die Familie, für das Dorf, das eigene Gemeinwesen, den Kontinent, die ganze Welt … Oder man kann sich anstrengen, sich eine gelassene Haltung gegenüber Verschlechterungen der Lage und Kontingenzeinbrüchen zuzulegen, so dass man sich darum nicht sorgen muss. Während man in der Gegenwart eher – aber nicht ausschließlich – den ersten Weg beschreitet, bewegten sich die Eliten des römischen Reiches, wie Gregor Vogt-Spira in seinem Beitrag prägnant verdeutlicht, in beachtlichem Ausmaß in die alternative Richtung. Als Strategie zur Reduzierung der Sorgen wurden asketische Übungen mit Verzicht auf eigene Bedürfnisbefriedigungen abgehalten, um für den Fall, dass die unkalkulierbaren Wechselfälle des Lebens, das Rad der Fortuna, eine erhebliche Verschlechterung der eigenen Lebensumstände hervorbrächten, gewappnet zu sein, da man den Umgang mit Ressourcenknappheit schon geübt und problemlos überstanden hatte. Die nagende Sorge, die von Verlustängsten gespeist wird, erübrigte sich damit – oder so scheint es Seneca zumindest erhofft zu haben.1 Natürlich sind beide Arten der Bemühung um Sorgenverminderung potentiell fruchtlos. Die Erhöhung der Lebensqualität und der Sicherung gegen Gefährdung verstärkt die Verlustängste und steigert die menschliche Sorge – die experimentelle Vorwegnahme einer Verschlechterung der Lebensumstände ist ein Spiel, bei dem man sich der begrenzten Dauer und der Abbruchsmöglichkeit stets bewusst ist, so dass die durch den tatsächlich alternativlosen Mangel am Notwendigen hervorgerufene Verzweiflung nicht simuliert und bewältigt werden kann. Es ist also nicht damit zu rechnen, dass die Sorge als Befürchtung des Unerwünschten durch die Vorsorge reduziert werden könnte. A nt i ke | 15
In der Bedeutung als subjektives Gefühl wohnt der lateinischen cura wie der deutschen »Sorge« die Bedrückung inne, von der man sich gerne befreien würde. Doch findet man den sorgenfreien Schlaf vielleicht erst mit dem Tod.2 Ebenfalls analog zum deutschen Terminus kann cura sowohl auf das eigene Wohl ausgerichtet sein wie auch auf das von anderen oder sogar auf die ganze Gemeinschaft.3 Eine Besonderheit, die mit dem christlich geprägten Verständnis von Sorge als Fürsorge für andere nicht ohne weiteres vereinbar ist, ist aber das strikte Reziprozitätsverhältnis, das römische Sorgebeziehungen kennzeichnet. Wie Elke Stein-Hölkeskamp anhand des Briefcorpus von Plinius dem Jüngeren belegt, war der aktive Politiker Plinius, der in eine Fülle von personalen Beziehungen eingebettet war und beachtliche Zeit darauf verwandte, diese Beziehungen zu pflegen und auszubauen, immer wieder genötigt, sich als Folge von bestehenden Verpflichtungen fürsorglich zu betätigen; darüber hinaus war er selbst ständig bemüht, Unterstützung in den verschiedensten Formen als Gegenleistung in Anspruch zu nehmen bzw. einzufordern.4 Doch auch die ausführlichen Reflexionen von Cicero in seinem Werk De officiis (Vom pflichtgemäßen Handeln) über Fürsorge für andere und den Staat sind gänzlich durchdrungen von der Reziprozitätsvorstellung, wie Gregor Vogt-Spira zu Recht hervorhebt.5 Die Sorge um andere ist also in Rom stets selbstverständlich mit der Sorge um sich selbst verbunden. Die Differenz der römisch-heidnischen zu christlich geprägter tätiger Fürsorge liegt aber, genauer betrachtet, nicht eigentlich im Eigennutz, welcher der Reziprozität mit ihrem Anspruch auf Gegenleistung innewohnt, sondern in dessen Sagbarkeit. Man kann ja jeder menschlichen Handlung unterstellen, dass sie auch dem Handelnden nützt – weil der Wohltäter im Jenseits für seine Sorge für andere belohnt werden wird, weil er sein Prestige bei den Zeitgenossen erhöht, oder einfach weil er sich wegen seiner guten Tat besser fühlt. Demnach sind ausschließlich uneigennützige Aktionen kaum zu beweisen.6 Aber auf dieser Ebene muss man sich gar nicht bewegen, denn so viel ist klar: Während Cicero und Plinius problemlos aussprechen können, dass Sorge für andere mit der legitimen Erwartung auf Gegenleistungen verbunden ist, ist das in einem System prononciert uneigennütziger Fürsorge nicht möglich. Die Reziprozitätsbeziehung ist als Motivation in der römisch-heidnischen Antike sagbar, ohne die guten Werke mit einem schalen Beigeschmack zu versehen. In der römischen Kaiserzeit werden curae institutionalisiert und sind wesentlicher Teil der in Administration gegossenen staatlichen Fürsorge. Schon während der Republik konnten Leistungen gewählter Vertreter des Gemeinwesens mit dem Terminus cura belegt werden, wobei der Gegenstand der cura zwar die Aufgabe war, die Bezugsgruppe, die davon profitierte, aber die gesamte Bürgerschaft darstellte. So bezeichnet beispielsweise Cicero in seinem gegenüber den bestehenden Verhältnissen moderat fortentwickelten Gesetzeskanon die Aedilen als die 16 | Martin Jehne
curatores der Stadt, der Getreideversorgung und der feierlichen Spiele.7 Darüber hinaus konnten Sonderaufgaben an Privatleute gegeben werden, die man als cura benennen konnte – wie etwa die berühmte cura annonae des Pompeius 57 v. Chr.8 Diese Formen wurden unter Augustus und auch weiter in der frühen Kaiserzeit ausgebaut, so dass es nun eine Reihe von curatores gab, die spezifische Pflichten wahrnahmen und sämtlich vom Kaiser eingesetzt waren. So entstand die cura viarum, also die Aufsicht über den Straßenbau, die cura aquarum, die Sorge für die Wasserleitungen, die cura aedium sacrarum locorumque publicarum, die Sorge für die Heiligtümer und die öffentlichen Plätze, und die cura alvei Tiberis et riparum et cloacarum urbis, die Sorge für das Flussbett des Tibers und die Ufer und die Kloaken des Stadt.9 Die Sorge um wesentliche Belange der Stadt Rom wurde damit als staatliche Aufgabe zum Wohle der Bewohner vom Kaiser wahrgenommen und zur praktischen Durchführung verschiedenen senatorischen Beauftragten übertragen. Seit dem späteren 1. Jahrhundert wurden vom Kaiser curatores rei publicae für Städte des Reiches bestellt, die dort vor allem die Finanzen ordnen sollten. Hier tritt die Fürsorge für ein Gemeinwesen in Terminologie wie Aufgabe deutlich hervor.10 Mit der Position des Kaisers wurde die selbstverständliche Reziprozitätsstruktur des römischen Patronagesystems, die auch die Sorgebeziehungen beherrscht hatte, gerade an der Spitze des Reiches konterkariert.11 Das kleinere Problem war das Faktum, dass angesichts der überragenden Ressourcen des Kaisers niemand mehr in der Lage war, dem Kaiser adäquat zurückzugeben. Schlimmer war dagegen, dass dem Kaiser als Herrscher aller Reichsbewohner mit den partikularen Dimensionen der Reziprozität, wie Elke Stein-Hölkeskamp sie beim jüngeren Plinius verdeutlicht hat,12 nicht mehr zu helfen war, denn er konnte sich nicht wie ein Senator darauf beschränken, sich um seine Freunde zu kümmern und sich situativ, etwa im Wahlkampf, um zusätzliche Unterstützung zu bemühen, sondern er musste permanent für alle sorgen. Umgekehrt erwartete der Kaiser von seinen Untertanen dort, wo es um die Belange seiner Herrschaft ging, keine ab- und aufrechenbaren Gegengaben, sondern Loyalität. Durchaus angemessen war es, dass dem Kaiser die cura rei publicae, hier die Sorge für das römische Gemeinwesen insgesamt, zugesprochen wurde – nicht als offizielle Kompetenz, wohl aber als sinnfällige Beschreibung seiner Aufgaben.13 Diese universalistische Ideologie, wonach der Kaiser für die Reichsbewohner sorgt wie ein Vater für seine Familie, hatte schon Züge einer allgemeinen Fürsorgeverpflichtung. Bezeichnend ist auch, dass sich diese Fürsorge vor allem bei Katastrophen praktisch äußerte: Selbst ein Kaiser wie Tiberius, der seine schlechte Presse bei der römischen plebs unter anderem seiner notorischen Sparsamkeit verdankte, gab großzügig zur Linderung der Folgen von Naturkatastrophen oder Finanzkrisen und demonstrierte so seine Sorge und Mühewaltung um das Wohl der Untertanen.14 A nt i ke | 17
Mögen in der Rolle des Kaisers immerhin Anhaltspunkte erkennbar sein für eine Sorge für andere jenseits der offen geäußerten Reziprozitätserwartung, so ist doch nicht zu verkennen, dass für alle übrigen Bewohner des Reiches die persönlichen Beziehungen als ein Geflecht von Leistungen und Gegenleistungen zentral blieben und ein Verhalten beförderten, in dem die Fürsorge für die Schwachen eher am Rande stand. Die Sorge für Bedürftige um ihrer Bedürftigkeit willen war im System von Gabe und Gegengabe marginalisiert, da die Schwachen nicht viel zu geben hatten, sie war aber auch als selbstbezügliche Sorge nicht attraktiv, da damit keine gesellschaftliche Prestigesteigerung verknüpft war. In Bezug auf diesen Typus von Sorgen für andere bedurfte es tatsächlich der christlichen Neukonzeption.
A n m e r kunge n 1 Vgl. G. Vogt-Spira, in diesem Band S. 32. 2 Vgl. das Grabepigramm in Inscriptiones Latinae selectae 8121, das in Zeile 6 endet mit: »dormias sine qura« (»Du mögest schlafen ohne Sorge«). Zur Schlaflosigkeit als Folge von cura vgl. z. B. Lucan 2,239 (dessen Held Cato sich aber nur um das Schicksal der Menschen und um Rom sorgt, nicht um sich selbst). 3 Das Bedeutungs- und Anwendungsspektrum hat M. Hauser, Der römische Begriff Cura, Winterthur 1954 anhand zahlreicher Belege geordnet. A. Palma, Le curae pubbliche. Studi sulle strutture amministrative romane, Napoli 1980, S. 15–164 bietet eine eher nach Autoren chronologisch geordnete Aufstellung und Analyse (von den Anfängen bis Cassiodor). 4 Vgl. E. Stein-Hölkeskamp, in diesem Band. 5 Vgl. G. Vogt-Spira, in diesem Band S. 28–31. 6 Vgl. zu diesem Problem in Bezug auf den Gemeinsinn die knappen Überlegungen bei M. Jehne/C. Lundgreen, »Einleitung: Gemeinsinn und Gemeinwohl in der römischen Antike«, in: dies. (Hgg.), Gemeinsinn und Gemeinwohl in der römischen Antike, Stuttgart 2013, S. 9–19, hier S. 13f. 7 Cicero, De legibus 3, 7. 8 Es ist aber fraglich, ob cura annonae (so Livius, Periocha 104) eine offizielle Benennung der Position war oder eine Aufgabenbeschreibung (vgl. Cicero, Ad Atticum 4, 1, 6, wo von procuratio die Rede ist). 9 Für diese curae vgl. die Untersuchungen von Palma, Le ›curae‹ (o. Anm. 3), S. 172–251. 10 Vgl. dazu z. B. G. P. Burton, »The Curator Rei Publicae: Towards a Reappraisal«, Chiron 9 (1979), S. 465–487. 11 Vgl. für die folgenden Überlegungen demnächst M. Jehne, »From patronus to pater. The changing role of patronage in the period of transition from Pompey to Augustus«, in: F. Pina Polo/M. Jehne (Hgg.), Foreign Clientelae in the Roman Empire: a Reconsideration (im Druck). 18 | Martin Jehne
12 E. Stein-Hölkeskamp, in diesem Band. 13 Vgl. zu cura und tutela (Schutz) rei publicae, die als emphatische Beschreibungen kaiserlicher Aufgaben eng in Verbindung stehen, schon A. von Premerstein, Vom Werden und Wesen des Prinzipats, München 1937, S. 117–133, der aber daraus fälschlicherweise eine offizielle Aufgabe und Einrichtung macht. Vgl. auch J. Béranger, Recherches sur l’aspect idéologique du principat, Basel 1953, S. 186–217, 257–261; Hauser, Cura (o. Anm. 3), S. 36–43. 14 Zur kaiserlichen Katastrophenhilfe vgl. etwa S. Conti, «Provvedimenti imperiali per comunità colpite da terremoti nel I–II sec. d. C.«, Klio 90 (2008), S. 374–386; M. Meier, «Roman Emperors and ›Natural Disasters‹ in the First Century A. D.«, in: A. Janku/G. J. Schenk/F. Mauelshagen (Hgg.), Historical Disasters in Context. Science, Religion, and Politics, New York/London 2012, S. 15–30; zu Tiberius’ Verhalten in der Kreditkrise von 33 vgl. u. a. R. Wolters, »Die Kreditkrise des Jahres 33 n. Chr.«, Litterae numismaticae Vindobonenses 3 (1987), S. 23–58.
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Gregor Vogt-Spira
GEBEN – EMPFANGEN – WIEDERGEBEN Dynamiken der Sorgebeziehung in Rom
I »Sorge« ist eine soziale Praxis, bei der Vorstellungen über die Ordnung der Gesellschaft und über das psychische Innenleben des Individuums eng ineinandergreifen. Das verleiht dem Begriffsfeld eine hohe Komplexität. Da diese beiden Faktoren einigem historischen Wandel unterliegen, haben die jeweiligen Konzepte von »Sorge« zudem einen hohen Indikationswert für einzelne Epochen und Kulturen. Die römische Kultur der Antike kennt eine Fülle von Sorgebeziehungen und misst ihnen grundlegende Bedeutung bei; sie fasst sie bisweilen nachgerade als »Teil der Gerechtigkeit«. Bemerkenswert erscheint, dass sich die Vielschichtigkeit des deutschen Begriffs »Sorge« auch im Lateinischen findet. So begegnen in dem am nächsten stehenden Äquivalent cura die beiden charakteristischen Bedeutungsrichtungen des deutschen »Sorge« wieder: einmal als Seelenzustand, der sich auf das eigene Selbst bezieht, zum zweiten als nach außen gerichtete sorgende Anteilnahme und Verbundenheit, die dem anderen gilt.1 Das Phänomen der Sorge als Gemütszustand gehört zu den vielverhandelten Gegenständen römischer Philosophie und Literatur. Cura kann dabei sogar zu einer Gestalt verdichtet werden. Horaz spricht von der »schwarzen Sorge«, die hinter dem Reiter aufsitzt, der man also nicht davonreiten könne; Vergil zählt die Curae unter den trüben Mächten auf, die am Eingang der Unterwelt hausen.2 Die personifizierte Sorge kennt in Rom sogar einen eigenen Mythos: Cura überquert einmal einen Fluss, erblickt kreidehaltigen Lehm und formt daraus den Menschen – eine eigentümliche Schöpfungsgeschichte. Der Erzählung kommt es insbesondere auf die Namensgebung an, die zu einer Streitszene ausgestaltet wird: Denn als Cura dem Geschöpf auch noch ihren eigenen Namen verleihen will, interveniert Iuppiter, der auf Curas Bitte hin dem Gebilde Odem gegeben hatte, und beansprucht das Namensrecht für sich. Später erhebt auch Tellus, die personifizierte Erde, Anspruch auf die Benennung, weil sie den Leib geliefert habe. Der Streit wird durch den als Schiedsrichter beigezogenen Saturn gelöst: Da Iuppiter den Odem gegeben habe, solle er den Leib erhalten. Da ihn Cura indes geformt 20 | Gregor Vogt- S p ira
habe, solle zu seinen Lebzeiten sie ihn besitzen. Und da sie sich nicht auf einen Namen einigen könnten, solle das Gebilde, da es aus humus gemacht sei, homo heißen. »Sorge« erscheint hier also nachgerade zur conditio humana erhoben, der Mensch als ein »sorgendes Wesen« gekennzeichnet: Ist dabei auch vornehmlich der Aspekt der Besorgnis gemeint, so schwingt doch zugleich der umfassendere Sinn von cura mit.3 In der zweiten Bedeutungsrichtung einer nach außen gewandten sorgenden Anteilnahme und Verbundenheit kommen die Sozialbeziehungen in den Blick. Das Spektrum von cura umfasst dabei eine weite Spanne: Sie kann von hingebungsvoller Liebe, die sie in die Nähe des christlichen Grundwerts caritas rückt, über Fürsorgepflichten, die aus Verwandtschafts- oder Freundschaftsbeziehungen rühren, bis zur Formulierung eines Sorgeanspruchs reichen. Nicht von ungefähr fällt im römischen Recht cura unter die »Begriffe einer unbedingten […] und durch das Recht in ihrem Kern nicht eingeschränkten Macht einer Person über andere Personen oder über Sachen«; personenrechtlich bezeichnet sie anfänglich die »Pflegegewalt über Wahnsinnige und Verschwender«.4 Neben cura gibt es allerdings eine ganze Reihe weiterer Termini, die ein Sorgeverhältnis bezeichnen: als personenrechtliche Machtbegriffe etwa manus, die Schutzgewalt des Ehemanns, oder tutela, die verwandtschaftliche Schutzgewalt. Unter den »Sorge«-Verpflichtungen zu nennen ist ferner das für die römische Welt so charakteristische Verhältnis zwischen Patron und Klienten. Die Ausübung von »Sorge« wiederum wird oftmals unter dem Begriff »Wohltätigkeit« gefasst, die sich in der hellenistisch-römischen Welt zu einer bedeutenden Institution des öffentlichen Lebens entwickelt hat. So haben Sorgebeziehungen in Rom eine vielfältige soziale Praxis ausgebildet, indes stehen sie nicht unter einem einheitlichen Leitbegriff. Diese semantische Pluralität ist – weit über Rom hinaus – generell ein charakteristisches Merkmal des mit »Sorge« umschriebenen Bereichs und nicht zuletzt ein Indikator für seine Komplexität. Wenn wir nun im Folgenden nach der Konzeption des Bereichs »Sorge« in der römischen Welt fragen, seien einige Eingrenzungen vorangeschickt. Wir wollen uns hier auf solche Sorgebeziehungen beschränken, die den Einzelnen angehen und bei denen er selbst entweder Akteur oder Zielpunkt des Handelns ist. Von daher lassen sich drei »Sorge«-Beziehungen unterscheiden, die in unserem Kontext von besonderem Interesse sind: Die Sorge des Gemeinwesens um den Einzelnen.
Komplementär dazu die Sorge des Einzelnen um den anderen, sei es als Indivi-
duum oder in Form einer Gemeinschaft bis hin zum Staat.
Insofern Sorgebeziehungen auch selbstreferentiell sein können, schließlich die
Sorge des Einzelnen um sich selbst, die »Selbstsorge«.
Ge b e n – E m pfan g e n – W i e de rg e be n | 21
Nicht betrachtet werden soll hier die Sorge, die sich auf Dinge richtet und mit der sich ein weites zusätzliches Feld eröffnen würde.5
II Die Erwartung, dass es zu den Aufgaben eines Gemeinwesens gehöre, für den Einzelnen zu sorgen, ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Sie ist vielmehr Ergebnis der für die Neuzeit charakteristischen Entwicklung, in der Sorge zunehmend institutionalisiert und zu einer Gemeinschaftsaufgabe geworden ist. Die vorerst letzte Stufe stellt das europäische Wohlfahrtsmodell dar, in dem der Staat tendenziell »zum Generalbevollmächtigten und zur ultimativen Verantwortungsquelle für die Sorge um das Wohl seiner Bürger« wird.6 Gleichwohl gibt es auch in Rom eine Reihe sozialpolitischer Maßnahmen, in denen sich eine »Sorge« des Staates um den Einzelnen zu manifestieren scheint. Ein signifikantes Beispiel ist die Versorgung der stadtrömischen Bevölkerung mit Getreide, die cura annonae, denn die Gewährleistung von Nahrungsversorgung zählt zu den zentralen Sorgeaufgaben. Diese cura annonae war von C. Gracchus im Jahre 123/122 v. Chr. im Zuge seines Sozialprogramms eingeführt worden und hatte zunächst die Form einer Preissubvention; vom Jahr 58 v. Chr. an erfolgte die Ausgabe dann gänzlich umsonst. In sozialpolitischer Hinsicht entscheidend ist die Frage nach dem Kreis der Berechtigungsempfänger: Nach welchem Maßstab wird jemand zugelassen oder von der öffentlichen Verteilung ausgeschlossen? Zu vermerken ist zunächst, dass die Verteilung nur Rom betrifft; Landbewohner – auch die des umliegenden Landes – sowie die anderen Städte müssen die Versorgung selbst bewerkstelligen. Bürger Roms zu sein ist dann aber bereits hinreichende Bedingung: Es gibt keine Bedürftigkeitsgrenze, die Vermögenslage stellt also kein Kriterium dar. Deshalb kann sich auch ein Konsular in die Schlange stellen, um sich den ihm zustehenden Anteil abzuholen. Das ist beispielsweise für L. Calpurnius Piso Frugi überliefert, der zuerst gegen das bei der Senatsaristokratie äußerst unbeliebte neue Gesetz opponiert, nach dessen Einführung jedoch sein Recht demonstrativ in Anspruch nimmt.7 Tatsächlich erfolgen staatliche Maßnahmen, die auf den ersten Blick als Sorge für den Einzelnen interpretiert werden könnten, in Wahrheit aus anderen Motiven. Getreideverteilung ist nicht von der Idee der Armenspeisung gelenkt – obgleich, als sie kostenlos wird, auch die sehr wenig Bemittelten in ihren Genuss kommen –, vielmehr geht es vor allem darum, die Gunst des Volkes zu gewinnen. Ähnliches gilt für die anderen sozialen Maßnahmen, von denen eine der wichtigsten die Landverteilungen sind: Auch diese sind nicht von dem primären Wunsch motiviert, notleidenden Bevölkerungsteilen eine Subsistenzgrundlage zu verschaffen, vielmehr sind 22 | Gregor Vogt- S p ira
sie von politischen Zielen gesteuert wie etwa, Rom vor potentiellen Unruheherden zu schützen oder brachliegendes Land zu kultivieren.8 Dass bei der Getreideversorgung die Zuteilung des materiellen Guts nach dem Gleichheitsgrundsatz erfolgt, steht in bemerkenswertem Gegensatz zur Zuteilung immaterieller Güter, für die das Kriterium der Dignität gilt, das in der römischen Gesellschaft eine Schlüsselrolle spielt. Das weist bereits auf eine gewisse Nachrangigkeit der materiellen Seite in der symbolischen Ordnung hin. Besonders deutlich wird das bei den erheblichen Schwierigkeiten, auf die die Versuche gestoßen sind, »Armut« in Rom näher zu bestimmen, sowohl im realen Sinne wie in mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht: Denn »die Armen« als soziale Gruppe gibt es nicht.9 Wohl ist Armut durchaus Realität, aber es ist kein Armutsdiskurs ausgebildet worden; im Zentrum des – oftmals moralischen – Interesses steht viel eher der Reichtum. Wenn Armut somit kein klassifikatorisches Merkmal ist, hat das sozialpolitische Folgen: Denn ihre Beseitigung kann dann auch kein übergeordnetes Leitziel einer staatlichen »Sorge«-Politik sein. Generell ist der antike Staat weit davon entfernt, alltägliche Lebensrisiken zu übernehmen. Das rührt wesentlich daher, dass das einer solchen Risikoübernahme zugrunde liegende Sorgekonzept für ihn nicht gilt. Denn Sorge ist dabei vornehmlich auf die materiellen Bedingungen ausgerichtet – die Diskussion um den modernen Wohlfahrtsstaat und seine Wachstumsgrenzen gibt dies zur Genüge zu erkennen. Für das antike Rom dagegen stellt die ökonomische Lage kein primäres Kriterium dar – deshalb ist die Kategorie »Armut« auch so nachrangig, dass ihre historische Identifikation auf Schwierigkeiten stößt. Das heißt nicht, dass die materielle Situation gar keine Rolle gespielt hätte; doch rechtlicher, politischer und sozialer Status sind bei weitem wichtiger. So lässt sich insgesamt festhalten: Den Gedanken einer öffentlichen Fürsorge für seine einzelnen Bürger kennt Rom nicht; die res publica unterhält zum Einzelnen keine Sorgebeziehung. »Sorge« geht von Individuen aus, die »Sorge« übernehmen; für das Verhältnis einer Institution zu Individuen hingegen hat das Konzept keine Gültigkeit. Die primäre Aufgabe des Staates besteht in der Sicherung von Unversehrtheit und von Eigentumsschutz seiner Bürger, nicht in der Sicherung des Lebensunterhalts, der privater Initiative obliegt.10 Gegenüber diesem Modell des republikanischen Staats sind in der Kaiserzeit allerdings Verschiebungen zu beobachten. Denn komplementär entsteht eine breite private Wohltäterschaft, die unter anderem soziale Fürsorgeaufgaben übernimmt. Als größter Wohltäter inszeniert sich der Kaiser, der etwa die Getreideverteilung aus seiner »Privatschatulle« übernimmt – später wird sie gar noch auf andere Nahrungsmittel ausgedehnt. Die Versorgung hat damit nicht mehr den Charakter einer staatlichen Leistung, sondern wird zum Zeichen kaiserlicher »Großzügigkeit«, der sich gleichsam wie ein Patron gegenüber seinen Klienten verhält: Panem Ge b e n – E m pfan g e n – W i e de rg e be n | 23
et circenses ist zum Schlagwort avanciert für die Strategie, sich solcherart die Gunst des Volkes zu sichern. Indes verschwimmen dabei die Grenzen zwischen staatlichem und kaiserlichem Handeln. Damit überkreuzen sich zwei gegenläufige Linien, denn auch das »private« kaiserliche Handeln muss institutionell verwaltet werden. Tatsächlich ist zu beobachten, dass der Staat in der Kaiserzeit immer mehr Aufgaben übernimmt, die als Beitrag zum Gemeinwohl dargestellt werden: Das gilt nicht nur für Infrastrukturmaßnahmen wie die »Sorge« für Straßen, Wasserleitungen oder Kloaken, sondern auch für den Sozialbereich im engeren Sinne. Im Übrigen beginnt dabei unter der Hand Armut als soziale Kategorie zu entstehen.11
III Ganz anders als um die Fürsorge von Seiten des Gemeinwesens steht es um die Sorgeverpflichtungen des Einzelnen. Die römische Gesellschaft ist von einem dichten Netz individueller Sorgebeziehungen durchzogen. Das gilt für alle ihre verschiedenen Stufen: von der Familie über Freundschafts- und Klientelverbindungen bis zur Bürgerschaft der Heimatstadt oder der res publica insgesamt und schließlich den Göttern. Bemerkenswerterweise wird die Sorgebeziehung gegenüber den Eltern und gegenüber den Göttern mit ein und demselben Wort bezeichnet: dem zum Kernbestand römischer Grundbegriffe gehörigen pietas. Die darin bezeichnete Grundhaltung der liebenden Zuwendung, die den Charakter von Ehrfurcht, Milde oder einfach Freundlichkeit tragen kann, wird als Verpflichtung begriffen, die wiederum als Gegengabe für empfangene Wohltaten aufzufassen ist. Darin wird eine grundlegende Struktur von Sorgebeziehungen deutlich. Sie sind Teil eines komplexen Tauschsystems, in dem eine empfangene »Sorge« erwidert werden muss: Sorge folgt also dem Grundsatz der Reziprozität. Denn für antike Gesellschaften gilt im Großen und Ganzen das Schema des Gabentauschs, das auf dem Dreischritt von Geben, Empfangen und Wiedergeben beruht: ein Kreislauf, der seinen allegorischen Ausdruck in der sich an den Händen fassenden Gruppe der drei Grazien gefunden hat.12 Im Zuge der Individualisierung der Ethik lässt sich allerdings eine Tendenz beobachten, »Sorge« von solchem Verpflichtungscharakter zu lösen und zu einer freien persönlichen Entscheidung zu machen: eine Entwicklung, die sich im Christentum verstärkt fortsetzen wird. Aus dem reichen Geflecht von Sorgebeziehungen wollen wir uns im Folgenden auf einen Aspekt konzentrieren: die Sorge des Einzelnen um die Bürgerschaft und die Mitbürger. In den modernen Gesellschaften ist dafür der Begriff des gemeinwohlorientierten Handelns geläufig; in Griechenland und Rom steht es hingegen 24 | Gregor Vogt- S p ira
unter dem Leitbegriff der »Wohltat«, der euergesia oder des beneficium. Vom griechischen Hellenismus an und in Rom seit dem zweiten Jahrhundert v. Chr. stellt dieses Verhalten eine prägende Struktur des öffentlichen Lebens dar, zu dessen Bezeichnung sich das Kunstwort »Euergetismus« eingebürgert hat; ein »Euerget« (»Wohltäter«) ist »jemand, der der Allgemeinheit aus eigener Tasche hilft« und als »Mäzen des öffentlichen Lebens« auftritt.13 Tatsächlich ist das Leben der Städte von einer Kultur der Zuwendungen, Schenkungen und Stiftungen geprägt, durch die etwa öffentliche Vergnügungen wie Gelage oder Spiele ausgerichtet oder Anlagen und Gebäude für die Allgemeinheit finanziert werden – eine Fülle von Inschriften dokumentiert die große Zahl von Baumaßnahmen, die von Privatpersonen getragen werden. In dieser Stiftungskultur geht öffentliche Erwartung an die Wohlhabenden, der sich zu entziehen kaum möglich ist und die in manchen Fällen wie bei der Wahl in ein öffentliches Amt sogar als reguläre Verpflichtung verstanden wird, eine untrennbare Verbindung mit dem Gestus der Freiwilligkeit ein, der sich in der Bezeichnung als »Großzügigkeit« (liberalitas) niederschlägt. In unserem Zusammenhang kommt es vor allem darauf an, welche Konzeption von »Sorge« hinter dieser Kultur von »Wohltaten« und »Wohltätertum« steht. Aufschlussreich ist hierfür ein Werk, das sich mit der Theorie sozialen Handelns befasst: Ciceros philosophische Schrift De officiis (Vom pflichtgemäßen Handeln), die ausführliche Passagen über die beneficentia enthält.14 Cicero hat hier auf Grundlage eines griechischen philosophischen Entwurfs ein Handbuch geschaffen, wie der angehende Politiker in Rom Karriere machen könne. Gerade die Abschnitte zum Wohltätertum, die Cicero wesentlich mit Blick auf die soziale Praxis in Rom konzipiert hat, beschreiben über weite Strecken hin nachgerade das Funktionieren der römischen Gesellschaft.15 Von daher erlaubt die Schrift einen Einblick in Strukturen des Sorgekonzepts in Rom am Ausgang der Republik. Die besondere Bedeutung von »Sorge« wird schon aus dem systematischen Ort erkennbar, der beneficentia zugewiesen ist: Wohltätigkeit wird in den Rahmen von Gerechtigkeit integriert. Das ist eine Erweiterung, die über die übliche philosophische Behandlung der Tugenden hinausgeht und die Cicero eigenständig vorgenommen hat.16 Sie geht nicht ohne einige argumentative Unebenheiten ab – insbesondere fehlt ein gemeinsamer, den Gesamtbereich von Gerechtigkeit und Sorge umfassender Terminus –; doch gerade daran wird der Rang deutlich, den Cicero dem Bereich des wohltätigen, »sorgenden« Handelns zumessen möchte. Die Verklammerung wird geschickt in komplementärem Sinne vorgenommen. Bei der Einführung von iustitia wird auffälligerweise nur ihre auf Abwehr gerichtete Funktion hervorgehoben: Ihre erste Aufgabe sei es, dass keiner dem anderen schade; alium non laedere wird später in der großen Rechtssammlung des Kaisers Justinian eine der drei zentralen Normen sein, mit denen Gerechtigkeit bestimmt Ge b e n – E m pfan g e n – W i e de rg e be n | 25
wird.17 Damit kann beneficentia als Komplement zu jener Schutzleistung vorgestellt werden, Sorge-Handeln also als eine positive Verwirklichungsform von Gerechtigkeit erscheinen. In der Tat ist Cicero sichtlich daran gelegen, Gerechtigkeit und wohltätige Sorge, die noch in »Güte« und »Großzügigkeit« (benignitas und liberalitas) ausdifferenziert wird, miteinander zu verknüpfen. So figuriert Gerechtigkeit als notwendige Bedingung: Es sei nicht großzügig, was nicht auch gerecht sei.18 Ferner wird Wohltätigkeit an ein weiteres Merkmal der Gerechtigkeit gebunden, insofern sie jedem nur nach Maßgabe seines Verdienstes zuteilen dürfe; jedem das Seine zu gewähren ist die dritte und wichtigste der Justinian’schen Gerechtigkeitsmaximen. Besonders deutlich schließlich wird die Verknüpfung bei der Funktionsbestimmung, den sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten.19 Dies gilt zunächst für die Gerechtigkeit, um daraus dann abzuleiten, dass sie die wichtigste unter den Tugenden nach der Einsicht sei. Wenn diese selbe Zweckbestimmung nochmals für das sorgende Wohltätertum wiederholt wird, zeigt sie sich jedoch unter der Hand erweitert: Gesellschaft und Zusammengehörigkeit der Menschen könnten am besten bewahrt werden, wenn auf jemanden umso mehr Güte verwandt werde, je enger er einem verbunden sei. Hier wird also soziale Kohäsion mit dem Prinzip der Wechselseitigkeit verknüpft, wie es eben die beneficentia kennzeichnet: eine raffinierte Strategie, die Felder von Gerechtigkeit und Sorge zu überlagern. Ciceros Absicht, »wohltätige Sorge« zu einer Grundtugend zu erheben, gipfelt schließlich in der Behauptung einer anthropologischen Verankerung: Sie sei wie kaum etwas anderes der Natur des Menschen angemessen. De officiis bietet nun – und dies ist der Beitrag, der in konzeptioneller Hinsicht von besonderem Interesse ist – einen ganzen Pflichten- und Kriterienkatalog, wie man mit Wohltaten umgehen soll, und zwar sowohl in Hinblick auf die Geber- wie auf die Nehmerseite; darin finden sich im Übrigen bemerkenswerte Überlegungen, die auch unter den Bedingungen eines Sozialstaats nicht obsolet werden. Die nähere Behandlung der beneficentia wird einleitend daraus begründet, dass Wohltätigkeit und Großzügigkeit viele Rücksichten erforderten:20 Bei diesen »Rücksichten«, deren Darstellung überaus erfahrungsgesättigt ausfällt, ist die politische Praxis Roms klar zu erkennen. Drei Hauptkriterien werden genannt: Die Wohltaten dürfen keinen Schaden anrichten.
Sie müssen den Möglichkeiten des Gebenden angepasst sein.
Sie sind in Zusammenhang mit Bedingungen auf der Empfängerseite zu setzen.
Die Behandlung der einzelnen Punkte ist dabei sehr ungleichmäßig – wie schon ihre Auswahl. Sie lässt sich jedoch durch einen weiteren ausgedehnten Abschnitt über soziales Handeln in derselben Schrift ergänzen, so dass sich insgesamt ein plastisches Bild ergibt. 26 | Gregor Vogt- S p ira
Hinter der ersten Rücksicht, Wohltaten dürften keinen Schaden anrichten,21 steht zum einen das Programm, den Bereich der beneficentia von vornherein möglichst deutlich mit jenem der Gerechtigkeit zu verknüpfen; denn der Grundsatz alium non laedere gehört, wie erwähnt, zum Kern von iustitia. In praktischer Hinsicht zielt der Punkt vor allem auf den verbreiteten Usus, Wohltätigkeit zu Lasten Dritter zu üben, um sich Freunde zu machen oder die eigenen Freunde zu bedenken; wenn dafür explizit Sulla und Caesar genannt werden, ist die Brücke zur politischen Wirklichkeit Roms geschlagen. Bemerkenswert ist die Begründung für die Ablehnung: Das Vorhaben wird als Raub und Missbrauch fremden Guts für eigenen Profit klassifiziert. Es wird also von eigentumsrechtlicher Perspektive her beurteilt – der Sicherung von Eigentum und Besitz weist Cicero, wie noch zu zeigen sein wird, eine zentrale Stellung zu. Nicht die Klientelpolitik als solche bildet also den Stein des Anstoßes, sondern die als Verstoß gegen Gerechtigkeit betrachtete Eigentumsverletzung. Deshalb wird ausdrücklich festgehalten, man solle eine Großzügigkeit walten lassen, die den Freunden nütze, ohne jemandem zu schaden. Damit klingt ein Kriterium an, das implizit im Hintergrund steht: der Nutzen. Cicero ist es darum zu tun aufzuweisen, dass sich ethische Normen und Nutzen keineswegs wechselseitig ausschließen. Daher wird wohltätige Sorge auch unter dem Aspekt des Nutzens beurteilt: für den Gebenden, den Nehmenden und die Allgemeinheit. Der zweite Punkt handelt von Richtlinien für die Geberseite.22 An dieser Stelle wird nur ein einziger Aspekt angesprochen: Güte dürfe die Möglichkeiten des Gebenden nicht übersteigen – ein Motiv, das mehrfach wiederkehrt und dem Cicero besondere Relevanz beimisst. Als Begründung wird eine güterrechtliche Erwägung vorgetragen: Güte über die eigenen Möglichkeiten hinaus sei Raub, da die Güter den nächsten Angehörigen vorenthalten würden, denen sie erbrechtlich zustünden. Wie schon im Rahmen des ersten Punkts wird Umverteilung also auch hier als Raub aus dem Handlungstypus der wohltätigen Sorge ausgeschlossen: das eine Mal als Raub an Fremden, das andere Mal als solcher an der eigenen Familie. Tatsächlich erkennt Cicero dem Schutz des Eigentums einen so zentralen Stellenwert zu, dass er darauf nachgerade die Gründung staatlicher Ordnungen zurückführt: »Denn zu diesem Zweck, das Privateigentum zu wahren, sind Staaten und Bürgerschaften eingerichtet worden.« Die Neuzeit sieht in Cicero den ersten Staatstheoretiker, der den Eigentumsschutz entschieden in den Mittelpunkt stellt – wozu auch gehört, dass der Bürger vor Vermögensschmälerung durch Staatseingriff zu schützen ist.23 Jenes Ziel der Vermögenswahrung gilt dabei entsprechend ebenso für das Handeln des Einzelnen. Insgesamt ist jedoch festzuhalten, dass die materielle Seite unter den Primat der Erhaltung und Stabilität gestellt ist, während sie als Mittel des sozialen Austauschs entschieden nachrangig behandelt wird. Das wird explizit bei Ge b e n – E m pfan g e n – W i e de rg e be n | 27
der Unterteilung der Wohltätigkeit in die beiden Typen »mittels Hilfeleistung« und »mittels Geld« festgehalten: Jene letzte sei leichter, die erste indes rühmlicher und eines angesehenen Mannes würdiger, was zuletzt zu dem unmissverständlich wertenden Gegensatz zugespitzt wird, die eine stamme aus der Geldkiste, die andere rühre von der Tugend. Tatsächlich zielt Ciceros Darstellung auf eine Hierarchie von Wohltätigkeit mit materiellen und immateriellen Mitteln mit dem Idealwert, jene erste nur als Notbehelf und in Ausnahmefällen zuzulassen. Einen Indikator liefert schon die Terminologie: Auf der einen Seite steht eine Fülle von Begriffen, die psychische Qualitäten bezeichnen – Wohltätigkeit, Güte, Gutherzigkeit und weitere Bildungen mit dem semantischen Kern »gut« –; für die materielle Seite begegnet dagegen nur ein einziger Ausdruck – Schenkung (largitio) –, was zudem deutlich seltener gebraucht wird. Das ist weniger Indikator für die tatsächliche Praxis als für die Konzeption von wohltätiger Sorge, die dahintersteht. Aufschlussreich ist daher, wie Cicero seine Prioritätensetzung begründet. Ein Angelpunkt der Argumentation ist Ressourcenerschöpfung. Einmal wird das in das rhetorisch wirkungsvolle Paradoxon gekleidet: Gebefreudigkeit aus Privatvermögen erschöpfe ihre eigene Quelle; so werde Wohltätigkeit durch Wohltätigkeit beseitigt. Oder kommunikativ gewendet: Gegen je mehr Leute man sich wohltätig gezeigt habe, gegen umso weniger könne man dies künftig tun. An anderer Stelle wird vor Augen gestellt, Wohltätigkeit führe, um die Ressourcen wieder aufzufüllen, sogar zu Raub und mutiere dadurch zum Gegenteil von Ehrenhaftigkeit und Tugend. In direkten Gegensatz dazu wird die kommunikative Breitenwirkung immaterieller Mittel gestellt: Wer durch unermüdliche Tatkraft wohltätig sei, werde umso mehr Hilfe gewinnen, je mehr Leuten er genutzt habe; das wiederum schaffe Gewohnheit und Übung, die dann wieder weitere Kreise ziehe.24 Das Argument verankert wohltätige Sorge also in einer Form der Reziprozität, die nicht statisch gedacht ist, sondern dem Gedanken einer Dynamisierung folgt: Während der Einsatz materieller Mittel den Kreislauf zum Erliegen brächte, erwüchsen aus dem Einsatz von in der Persönlichkeit liegenden Mitteln stetig wachsende Ressourcen. Im Zusammenhang des Dreischritts »Geben – Empfangen – Wiedergeben« hat Cicero dabei ein Enthymem gefunden, das die Position, personalitätsbezogener stehe über materiellem Austausch, prägnant auf den Begriff bringt – den unmittelbaren Kontext bildet die Gegenleistung eines »guten Mannes«, die in Dank bestehe: »Wer Geld habe, habe es nicht zurückerstattet; wer es zurückerstattet habe, habe es nicht. Dank hingegen habe, wer Dank abgestattet habe, und wer Dank habe, habe ihn abgestattet.«25 Dahinter steht die Grundposition der antiken Ökonomik, die dem Geld keinen Eigenwert zuerkennt und es nicht als Mittel einer kommunikativen Dynamik betrachtet.26 28 | Gregor Vogt- S p ira
In der Praxis des Wohltätertums spielt der Einsatz finanzieller Mittel gleichwohl eine erhebliche Rolle und wird in den philosophischen Ethiken dabei auch durchaus unterschiedlich bewertet. Selbst Cicero ist in seinem Urteil nicht ganz einhellig und gesteht zu, dass Schenkungen in Einzelfällen notwendig sein können; gemeinwohlorientierte Bautätigkeit zum Nutzen des Staates etwa findet durchaus seine Zustimmung. Den Hintergrund für diese pragmatische Position bildet vor allem ein Amt auf der Anfangsstufe der römischen Ämterlaufbahn: das des Ädils, dessen glanzvolle Führung schon in den guten alten Zeiten von den besten Männern gefordert worden sei.27 Tatsächlich ist hier die Notwendigkeit materiellen Aufwands aus dem eigenen Vermögen – etwa für die Ausrichtung von Spielen – ein ungeschriebenes Gesetz, wofür Cicero denn auch zahlreiche Beispiele aus der römischen Geschichte beibringt. Die Begründung führt auf die zugrunde liegende Tauschbeziehung: Glanzvolle Amtsführung werde vom Volk als Recht gefordert; wer sich dem entziehe, gerate in den Verdacht, geizig zu sein, was ihm in seiner weiteren Karriere schade – Cicero nennt das Beispiel eines Kandidaten, der, nachdem er sich als Ädil knausrig gezeigt habe, bei der Bewerbung um das Konsulat durchgefallen sei. Daraus wird allerdings die strategische Konsequenz gezogen, der Mitteleinsatz solle gezielt unter dem Gesichtspunkt der Effizienz erfolgen, um mit möglichst geringem Aufwand einen maximalen Nutzen zu erzielen. So habe etwa M. Seius in seiner Zeit als Ädil durch Getreidesubvention, die ihn wenig gekostet habe, den größtmöglichen Effekt erzielt, indem er sich von alteingesessener Unbeliebtheit befreit habe. Gleichwohl hält Cicero ausdrücklich fest, dass es sich um Einzelfälle handele, die Praxis der Schenkungen im Regelfall verwerflich sei und man ihr nicht triebgesteuert, sondern allenfalls aus politischer Klugheit zu folgen habe.28 Im Zuge des Projekts in De officiis, Nutzen und Tugend miteinander zu versöhnen, lässt sich dabei allerdings eine bemerkenswerte Gratwanderung beobachten: Denn den konzeptionellen Rahmen bildet zum einen klar die politische Praxis Roms mit ihrem gesellschaftlichen Mechanismus, durch Wohltaten Prestige, sozialen Status und Macht zu gewinnen, wie er die gesamte beneficentia antreibt. Das Kriterium des Nutzens bildet, wie im Vorstehenden deutlich geworden ist, einen impliziten Leitfaden und wird nie in Abrede gestellt – im Gegenteil: Mangelnder Nutzen dient öfter als willkommenes Gegenargument. Doch komplementär ist ein Bestreben festzustellen, Wohltätertum als innere Haltung in der Persönlichkeit selbst zu verankern – was erst erlaubt, es zur Tugend zu erheben. Solche Verinnerlichung wird deutlich etwa an der begrifflichen Opposition zwischen ostentativer wohltätiger Sorge, die als simulatio gebrandmarkt, und echter liberalitas, die in der voluntas verankert wird;29 mit dem Kriterium des Willens wird hier eine Kategorie beigezogen, die im römischen Recht von hoher Bedeutung ist und im Übrigen auch eine zentrale Rolle in der Konzeption der Gerechtigkeit spielt. Ge b e n – E m pfan g e n – W i e de rg e be n | 29
Solche Fokussierung auf die innere Haltung des Gebenden erweitert ganz offensichtlich den Mechanismus der Reziprozität, indem sie Personalität als zweite Dimension einführt. Das Fehlen »innerer« Großzügigkeit, wenn also sorgende Zuwendung ausschließlich eine Funktion für anderweitige Zwecke hat, kann deshalb als eitle Unaufrichtigkeit erscheinen. Hier kommt deutlich die eingangs erwähnte Doppelstruktur von »Sorge« zur Wirkung, indem Vorstellungen über die Ordnung der Gesellschaft und über das psychische Innenleben des Individuums eng ineinandergreifen – was historisch gesehen ein dynamisches Zukunftspotential birgt. Mit der dritten Rücksicht, der Sorge unterworfen ist, rücken schließlich die Bedingungen auf der Empfängerseite ins Zentrum. Ihnen wird weitaus am meisten Raum zugestanden;30 die Auswahl des Empfängers und die richtige Bemessung des Gebens bedürfen aus Ciceros Sicht der höchsten Sorgfalt – was im Gegenzug einen besonders guten Einblick in das Funktionieren der römischen Sorgemechanismen bietet. Dabei wird zugleich nochmals deutlich, dass Wohltätigkeit wesentlich als ein individueller Kommunikationsakt betrachtet wird. Zwar ist systematisch durchaus unterschieden zwischen »Wohltätigkeit gegenüber Einzelnen« und »Wohltätigkeit gegenüber der res publica insgesamt«; tatsächlich aber ist hauptsächlich der Einzelne im Blick. Das Kommunikationsverhältnis ist deshalb so delikat, weil es einen unbedingt verpflichtenden Charakter hat. Für einen vir bonus ist es ausgeschlossen, keine Gegenleistung zu erbringen.31 Die soziale Praxis fordert dabei ein ausponderiertes Verhältnis von Leistung und Gegenleistung, wofür sogar einmal das Bild einer numerischen Kalkulation von Verpflichtungen gebraucht wird (ratiocinatio officiorum): Man müsse in Addition und Subtraktion gegebene und erhaltene Wohltaten miteinander verrechnen und erhalte dann die geschuldete Restsumme. Cicero vermerkt einmal, dass bisweilen Leute, die sich für wohlbemittelt, angesehen und glücklich hielten, deshalb die Verpflichtungsverhältnisse von Wohltaten zu vermeiden suchten und sogar der Meinung seien, sie hätten, wenn sie eine Wohltat angenommen hätten, und sei sie auch noch so groß, damit selber eine Wohltat gewährt.32 Das weist wieder darauf, in welchem Maße das Tauschverhältnis primär als ein sozialer Kommunikationsakt betrachtet wird. Von daher ist es durchaus folgerichtig, wenn die Bedingungen auf der Empfängerseite zunächst unter dem Stichwort dignitas als zentraler Kategorie in der sozialen Ordnung Roms zusammengefasst werden: Der Adressat müsse Wohltaten verdienen und ihrer würdig sein. Bei der beneficentia liegt allerdings der bemerkenswerte Fall vor, dass die geforderten Qualitäten des Empfängers dann nochmals näher ausgeführt werden: Es sei, so heißt es, »auf den Charakter desjenigen zu sehen, dem eine Wohltat erwiesen wird, seine Gesinnung gegen uns, seine soziale Bindungsfähigkeit und schließlich die erbrachten Gegenleistungen für bereits ge30 | Gregor Vogt- S p ira
währte Vorteile«.33 Die ersten drei Konditionen beziehen sich auf die innere Haltung des Empfängers in klarer Korrespondenz zur Geberseite. Anders als dort wird sie allerdings hier noch unter dem Gesichtspunkt aufsteigender Sozialbeziehungen gestuft: zunächst die charakterliche Disposition des Empfängers selbst, dann seine Beziehung zum Gebenden, schließlich allgemein seine Soziabilität. Als wichtigstes Kriterium wird die Gesinnung gegen den Gebenden herausgestellt: Demjenigen, von dem man am meisten geschätzt werde, solle man auch das meiste zukommen lassen.34 Cicero hebt allerdings hervor, dass es sich dabei um eine stabile innere Disposition handeln solle: Jene Schätzung dürfe keine spontane Aufwallung, sondern müsse von langfristiger Beständigkeit sein – die Klarstellung zielt auf Abgrenzung von kurzfristiger politischer Zweckrationalität. Konzeptionell bleibt damit festzuhalten, dass als Hauptkriterium für »sorgende Zuwendung« eine Wechselseitigkeit auf Seiten des animus gefordert wird: eine Reziprozität der inneren Haltung und der voluntas. Damit wird eine zweite Dimension in die Tauschbeziehung eingeführt. Vor diesem Hintergrund mag es nicht verwunderlich erscheinen, dass ein Gesichtspunkt fehlt, der aus moderner Sicht zuallererst zu erwarten stünde: Überlegungen, die mit der realen materiellen Lage des Wohltatenempfängers zu tun haben. Zwar fehlt das Kriterium »Bedürftigkeit« nicht vollständig, doch wird ihm kein Eigenwert beigemessen. So wird es einmal explizit als nachrangig behandelt:35 Wenn man im Kreislauf des »Anlegens« und »Abgeltens« von Wohltaten eine Auswahl treffen müsse, so solle im Falle, dass alle übrigen Gesichtspunkte gleichwertig erfüllt seien, als Zusatzkriterium herangezogen werden, ob jemand der Hilfe bedürfe. Wenn das scharf von der geläufigen Praxis abgesetzt wird, nach der derjenige am meisten erhalte, von dem man sich am meisten erhoffe, auch wenn er der Zuwendung gar nicht bedürfe, besteht zwar eine leichte Spannung zum Prinzip des Gabentauschs; doch wird sie in Kauf genommen, da sich Cicero hier gegen die verbreiteten materiellen Interessen richtet, wogegen er einen Primat der immateriellen über materielle Reziprozität zu begründen versucht hatte. An solchen Passagen wird klar, dass das Unterfangen einer zweidimensionalen Reziprozität, bei der Äußeres und Inneres in Äquivalenz stehen sollen, durchaus Überschüsse produziert. Insgesamt fügt sich die Behandlung des materiell und sozial »Schwachen« (tenuis) durchaus in das Schema einer wohltätigen Sorge, die vor allem als kommunikativer Austausch konzipiert ist. Besonders deutlich wird das, wenn einmal erwogen wird, ob es besser sei, einem Begüterten oder einem Armen Unterstützung – in diesem Fall eine Hilfeleistung vor Gericht – zukommen zu lassen.36 Den Vorzug hat die Sorge für den Schwachen: Bei der Verteidigung eines Begüterten seien nur dieser und gegebenenfalls noch seine Kinder dankbar. Beim Einsatz für einen Unbemittelten, bei dem allerdings noch die Zusatzbedingung gestellt wird, Ge b e n – E m pfan g e n – W i e de rg e be n | 31
dass er rechtschaffen und bescheiden sein müsse, ergebe sich hingegen ein Multiplikatoreffekt, da alle anständigen kleinen Leute, deren es im Volk viele gebe, daraus ersähen, dass man ihnen Schutz gewähre. Ausdrücklich heißt es an anderer Stelle deshalb, der Lohn einer guten Tat ergebe sich nicht nur von ihrem Empfänger her, sondern auch von allen anderen, weil die Herzensgüte gerade der Besten als ein gemeinsamer Zufluchtsort aller betrachtet werde.37 Daher mag es gelegentlich also überaus nützlich erscheinen, sich Bedürftiger anzunehmen. Gleichwohl wird das nochmals unter den Vorbehalt der Notwendigkeit gestellt: Man solle darauf sehen, ob der Betreffende die Sache nicht auch ohne Hilfeleistung erreichen könne, und im Zweifelsfall solle die Unterstützung eher als Hilfe zur Selbsthilfe erfolgen.38 Im Hintergrund steht also auch hier wiederum der Gedanke eines zielgerichteten und möglichst effektiven Einsatzes von Ressourcen, der uns schon vielfach begegnet ist. Hält man sich die Konzeption der beneficentia am Ende der römischen Republik insgesamt vor Augen, sind vor allem zwei Dinge festzuhalten: Zum einen fällt eine entschiedene Tendenz auf, Wohltätigkeit im Innern des Einzelnen zu verankern, worauf einzuwirken letztes Ziel ist. Zum anderen ist die »Sorgebeziehung« nicht zweckfrei; insbesondere ist der andere nicht Zweck als solcher, im Zentrum stehen vielmehr die Interessen des Gebenden. Diese indes werden wiederum als unabdingbarer Bestandteil des sozialen Funktionierens begriffen. Daher kann »Sorge« zu Beginn unter den leitenden Gesichtspunkt der »Zusammengehörigkeit der Menschen untereinander und gleichsam ihrer Lebensgemeinschaft« gestellt werden:39 Sie ist ein Typus kommunikativer Handlung, der den sozialen Austausch in Fluss hält. Daraus erklärt sich nochmals, dass Gruppen, die Randfiguren der Gesellschaft darstellen wie etwa die Armen, in der Regel nicht in den Zuwendungsaustausch einbezogen werden.40
IV In einem seiner Briefe an Lucilius handelt Seneca von der gängigen Übung, sich einige Tage im Monat mit einem Minimum an Nahrung zu begnügen – Wasser, Gerstengraupen und einem Bissen Gerstenbrot –, ferner mit rauher und harter Kleidung und einem Feldbett.41 Diese Übung wird als bis an den Mangel heranreichende Armutssimulation bezeichnet, die man drei bis vier Tage aushalten solle, bisweilen auch länger, und die kein Spiel sei, sondern eine echte Erfahrung. Indes solle man das keineswegs als Großtat betrachten: Denn man tue damit nichts anderes als viele tausend Sklaven und viele tausend Arme. Doch wird sodann der entscheidende Unterschied genannt: Man mache es nicht gezwungenermaßen, sondern freiwillig. 32 | Gregor Vogt- S p ira
Es geht also um eine seelische Haltung, die hiermit eingeübt werden solle. Die freiwillige Armutserfahrung erfolgt nicht aus Sorge um den anderen, es geht nicht um ein mitfühlendes Sich-Hineinversetzen oder ein Partizipieren an der Lage des Armen, um diese gegebenenfalls zu verbessern; die Armutsprobe wird vielmehr aus Sorge um sich selbst unternommen. Sie soll Seelenstärke trainieren, damit man an der Erfahrung des gelegentlichen Verzichtes lerne, dass man von den Dingen nicht abhängig sei. Man unterhält ein Austauschverhältnis mit Armut – ein commercium, wie der Ausdruck lautet –, macht sich mit ihr vertraut, um sich zu vergewissern, dass man, was man gelegentlich eingeübt habe, auch auf Dauer aushalten könne. Um der Nachdrücklichkeit willen wird dasselbe noch in ein zweites Bild gefasst: Man verhalte sich wie ein Soldat, der seine Übungen auch in Friedenszeiten mache, um für den Ernstfall gerüstet zu sein. Der Ernstfall besteht dabei im Wirken Fortunas, die als höchste Macht gilt und die jederzeit die Lage verändern, materielle Güter wegnehmen und den Einzelnen in die tatsächliche Armut stürzen könne. Die Strategie, die dagegen verfolgt wird, ist so klar wie einfach und im Übrigen kennzeichnend für die gesamte hellenistisch-römische Philosophie: Das Gegenmittel bildet eine Minimalisierung der Relevanz dessen, worüber Fortuna Macht zugeschrieben wird, mithin der äußeren Welt.42 Das Resultat des Armutsexperiments wird daher folgendermaßen bestimmt: Man werde aufjubeln, wenn man vermittels zweier Pfennige satt geworden sei, und daran erkennen, dass es für die Freiheit von Sorgen (securitas) der Fortuna nicht bedürfe, da, auch wenn sie ungünstig sein sollte, das Notwendige gegeben sei. Das wird noch soweit zugespitzt, dass aus der Beschränkung darauf, was Fortuna nicht entreißen könne, sogar eine besondere Lust entspringe. Warum aber ein so außerordentliches Insistieren auf die Schaffung eines Bereichs, der Fortuna nicht zugänglich ist? Dies gilt als Bedingung der Möglichkeit eines angstfreien Lebens. Das Armutsexperiment solle die Selbsterkenntnis auslösen, das also sei es gewesen, was man so sehr gefürchtet habe – wie grundlos! Das eigentliche Ziel des Tests besteht somit in der Befreiung von Angst und Sorge. An anderer Stelle heißt es direkt, durch eine solche innere Gewissheit schaffe man sich Sorgenfreiheit, ohne die nichts angenehm sei.43 Die gesamte Argumentation ist weder auf die Beseitigung von Armut noch auf die von Reichtum ausgerichtet: Mittel zu besitzen wird nicht in Zweifel gezogen. Wohl aber müsse man sie angstfrei besitzen, und dazu gebe es nur einen Weg: die Gewissheit, dass man auch ohne sie glücklich leben könne. In diesem kurzen Brief, in dem die unendlich variierten Leitthemen der hellenistisch-römischen Philosophie anklingen, kehrt damit auch unser Thema »Sorge« wieder, und zwar in jener doppelten Bedeutung, die wie im Deutschen auch den lateinischen Begriff cura kennzeichnet. Unter dem Ziel, die verbreitete Haltung »Besorgnis« zu überwinden, wird als Mittel gewählt, sie gegenstandslos Ge b e n – E m pfan g e n – W i e de rg e be n | 33
zu machen, und zwar durch Entwertung dessen, worauf sie sich überhaupt richten kann, mithin das Äußere. Dies wiederum bedingt, dass nicht das Äußere, sondern die innere Haltung gegenüber dem Äußeren Gegenstand der »Sorge« ist: also die Seele im antiken Verständnis der mehrfach gestuften psyche. Daraus leitet sich der zentrale Stellenwert der »Sorge um sich selbst« ab: der dritten Sorgerelation, die wir eingangs unterschieden hatten. Bei solcher Sorgebeziehung des Einzelnen mit sich selbst handelt es sich nun nicht um philosophische Theorien eines kleinen Zirkels; Selbstsorge stellt vielmehr einen Leitdiskurs der hellenistisch-römischen Welt dar, bei dem es zwar eine gewisse Bandbreite von Begründungsmustern gibt, der aber einen klaren und konstanten Kern hat und sich daher auch in einer weithin verbreiteten Praxis niederschlägt. Man kann deshalb von einer »Kultur seiner selbst« sprechen. Sie ist in den Arbeiten von Pierre Hadot differenziert beschrieben und dann insbesondere durch den dritten Band von Michel Foucaults Sexualität und Wahrheit, der eben unter dem Titel Le souci de soi steht, in eine breitere intellektuelle Debatte eingeführt worden.44 Bemerkenswert ist die Differenzwahrnehmung, die Foucault mit großer Entschiedenheit artikuliert – ein fast ethnologisches Staunen über den »Nachdruck, mit dem gefordert wird, man möge auf sich selbst aufpassen, […] die Art und Weise, das Ausmaß, die Dauer, die Exaktheit der geforderten Wachsamkeit, […] die Unruhe gegenüber allen Wirren des Körpers und der Seele, […] das Gebot, sich selbst zu respektieren«.45 In der Tat schlägt sich jene »Sorge um sich selbst«, die eine Fülle von Formulierungen kennt – »sich selbst gewinnen«, »sich bilden«, »sich machen«, »sich bei sich selbst aufhalten«, »sein eigen werden« und andere mehr –, in einer breiten Praxis der Arbeit an sich selbst nieder, in Selbstprüfungstechniken und Übungen auch in institutionalisierter Form. In der Hauptsache sind dabei drei Diskurstypen festzustellen: Zum einen ein medizinisch-therapeutischer Diskurs, bei dem der Ausgangspunkt Krankheit ist, was jeden prinzipiell bedürftig macht. Zum zweiten ein ethischer Diskurs, der auf eine seelische Besserung zielt, also von einem »Verlangen nach Vollkommenheit« bestimmt wird und dessen virtuellen Zielpunkt das Idealbild des Weisen bildet. Schließlich ein juridischer Diskurs, der durch das Stichwort »Selbstbesitz« gekennzeichnet ist und dessen Leitidee darin besteht, »sich selbst zu eigen zu werden«. Hier kehrt der eingangs erwähnte Herrschafts- und Machtaspekt wieder, der Sorge gleichfalls inhärent ist und der die Auseinandersetzung mit ihr daher auch in die für den Hellenismus charakteristische übergreifende Fragestellung nach Autarkie einordnet. Aus der Ausrichtung von »Sorge« als »Überwindung von Bedürftigkeit«, wie sie hier festzustellen ist, wird zugleich nochmals von einer anderen Seite her klar, inwiefern im römischen Sorgekonzept, von dem Selbstsorge einen Teilbereich darstellt,46 ein »Sorgegebot für den anderen« aus systematischen Gründen keinen 34 | Gregor Vogt- S p ira
Platz hat. Denn scheint im Ziel der »Überwindung von Bedürftigkeit« auch eine Gemeinsamkeit mit mittelalterlichen oder neuzeitlichen Auffassungen von Sorge zu bestehen, so kommt es dabei doch auf die genaue Bestimmung von »Bedürftigkeit« an. Wenn sie sich nicht auf die materielle oder physische Lage, sondern den seelischen Zustand bezieht, erwächst daraus als erste Aufgabe, sich auf das Selbst zu konzentrieren. Wenn die Lösung lautet, dies durch Unabhängigkeit, das heißt ein Wegabstrahieren von Bedürfnissen zu erreichen, wird Bedürftigkeit durch Bedürfnislosigkeit aufgehoben und es entsteht kein Impuls zu einer grundsätzlichen Änderung und Verbesserung der materiellen Lage, ebenso wie es auch für den Bereich der Zuwendungen und Wohltaten festzustellen war. Sorge wird nicht unter dem Primat des Materiellen und Physischen, sondern zuvörderst als kommunikative Beziehung – sei es mit anderen oder mit sich selbst – gesehen. Gleichwohl eröffnet die darin enthaltene Subjektivierung ein neues Spannungsfeld. Denn mit der Zuordnung zu Gerechtigkeit gewinnt der Gabentausch zum einen den Rang einer Basis menschlichen Zusammenlebens, zugleich aber wird er dabei ethisiert, indem er um die Komponente der inneren Haltung zum Geben und Empfangen erweitert, Reziprozität also in die Psyche des Einzelnen hinein ausgedehnt wird. Solche Individualisierung aber zieht eine Gewichtsverschiebung nach sich und löst langfristig eine Dynamik aus, in der die Konzeption von Sorge über das bloße Funktionieren eines Gemeinwesens hinausführt.
A n m e r kun ge n 1 Zu genaueren Differenzierungen dieses vielschichtigen Begriffs vgl. M. Hauser, Der römische Begriff Cura, Winterthur 1954. 2 Horaz, Carmen 3, 1, 40; Vergil, Aeneis 6, 274. 3 Hygin, Fabulae 220. Der Mythos hat immer wieder philosophische Aufmerksamkeit auf sich gezogen; Hans Blumenberg wollte ihn zuletzt als »präontologisch« in der frühen Gnosis verankern (H. Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt a. M. 1988, S. 197). Die Erzählung unterscheidet sich jedoch erheblich von griechischen Schöpfungsmythen und ist inzwischen als römisch erkannt worden: dazu näher W. Hansen, Ariadne’s Thread: A Guide to International Tales Found in Classical Literature, Cornell 2002, S. 478–481 und K. F. B. Fletcher, »Hyginus’ Fabulae: Toward A Roman Mythography«, in: St. Trzaskoma/R. Scott Smith (Hgg.), Writing Myth: Mythography in the Ancient World, Leuven 2013, S. 133–164. 4 F. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Erster Abschnitt: Einleitung, Quellenkunde, Frühzeit und Republik, München 1988, S. 376. 5 Das betrifft nicht nur die »Sorge«, die aus Befürchtungen erwächst, sondern auch das ganze Feld der »Sorg-falt« und »Sorg-samkeit«; im Lateinischen ist dieser Aspekt ein wichtiger Teil der Semantik von cura: vgl. Hauser (o. Anm. 1), S. 7–20. Ge b e n – E m pfan g e n – W i e de rg e be n | 35
6 A. Hahn, Sorge und Selbstsorge. Einige Ergebnisse der empirischen Soziologie als Beitrag zu einem nicht nur philosophischen Problem, in diesem Band, S. 210. 7 Zu diesem Fall M. Jehne, »Gerechtigkeitskonkurrenzen in der politischen Praxis der römischen Republik«, in: G. Melville/G. Vogt-Spira/M. Breitenstein (Hgg.), Gerechtigkeit. Europäische Grundbegriffe im Wandel, Bd. 1, Köln/Weimar/Wien 2014, S. 58–73, hier S. 65–67. 8 Vgl. den Überblick zur römischen »Sozialpolitik« bei M. Prell, Sozioökonomische Untersuchungen zur Armut im antiken Rom, Stuttgart 1997, S. 269–292, wo der grundlegende Unterschied zu sozialpolitischen Ideen der Moderne klar herausgearbeitet wird. 9 S. die kritische Revision in M. Atkins/R. Osborne (Hgg.), Poverty in the Roman World, Cambridge 2006. Der Band verfolgt das Programm, die Rekonstruktion sozialer Realität und antiker Mentalität zu verbinden und bietet neben einem einleitenden Forschungsüberblick von R. Osborne zahlreiche weiterführende Einzelbeiträge. Dass Armut keine soziale Kategorie darstellt, hatte zutreffend bereits H. Bruhns, »Armut und Gesellschaft in Rom«, in: H. Mommsen/W. Schulze (Hgg.), Vom Elend der Handarbeit. Probleme historischer Unterschichtenforschung, Stuttgart 1981, S. 27–49, hier 48f. festgehalten. 10 Cicero, De officiis 1, 20 und besonders 2, 73f.; s. auch u. Anm. 23. 11 Vgl. zu dem Themenbereich auch den Trierer Sonderforschungsbereich 600 »Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart« (http://www.sfb600.uni-trier.de). 12 Kanonisch gewordene Interpretation bei Seneca, De beneficiis 1, 1, 3–5; zur Rezeption E. Wind, Heidnische Mysterien in der Renaissance, Frankfurt a. M. 1987, S. 38–49 und B. Rommel, Rabelais zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Gargantua. Literatur als Lebensführung, Tübingen 1997, S. 96f. und 137–139. 13 P. Veyne, Brot und Spiele. Gesellschaftliche Macht und politische Herrschaft in der Antike, Frankfurt a. M. 1988, S. 24 (zuerst Paris 1976), der diese »umfassende soziale Tatsache« erstmals als einheitliches Phänomen erkannt und in ihren übergreifenden Strukturen herausgearbeitet hat. Einen Überblick zur Frage der Gemeinwohlorientierung in der römischen Antike bieten M. Jehne/C. Lundgren, »Einleitung: Gemeinsinn und Gemeinwohl in der römischen Antike«, in: dies. (Hgg.), Gemeinsinn und Gemeinwohl in der römischen Antike, Stuttgart 2013, S. 9–19; s. auch St. Frass, »Der Euergetismus als Kunst, es allen recht zu machen. Konflikte um die Gemeinsinnigkeit wohltätiger Leistungen«, ebd., S. 99–118 mit einer guten Begriffsbestimmung von Euergetismus (S. 99). 14 Cicero, De officiis 1, 42–60 und 2, 52–86. Daneben tritt als zweites Zeugnis Seneca, De beneficiis in sieben Büchern, worin sich bereits die gewandelten Verhältnisse der Kaiserzeit niederschlagen. M. Lantano, »Il dono e il debito. Verso un’antropologia del beneficio nella cultura romana«, in: A. Haltenhoff/A. Heil/F.-H. Mutschler (Hgg.), Römische Werte als Gegenstand der Altertumswissenschaft, Berlin/New York 2005, S. 125–142, hier S. 126 bezeichnet die beiden Schriften zu recht als »die umfassendste und durchdachteste Auseinandersetzung mit dieser zentralen Kategorie in der ganzen lateinischen Kultur«. 36 | Gregor Vogt- S p ira
15 Die tiefgehende Transformation der griechischen Vorlage zu einem römischen »Karrierehandbuch« hat E. Lefèvre, Panaitios’ und Ciceros Pflichtenlehre. Vom philosophischen Traktat zum politischen Lehrbuch, Stuttgart 2001 aufgezeigt, der passagenweise geradezu eine »anthropologische Herleitung der römischen Gesellschaft der späten Republik« erkennt (S. 36). 16 Dazu Lefèvre (o. Anm. 15), S. 39f. 17 Cicero, De officiis 1, 20. Die drei Gerechtigkeitsmaximen in Corpus Iuris Civilis. Digesta 1, 1, 10, pr.–1; dazu G. Vogt-Spira, »›Ehrenhaft leben – niemanden verletzen – jedem das Seine gewähren‹. Der Gerechtigkeitsdiskurs in Rom zwischen Tradition, Ethik und Recht«, in: Melville u. a. (o. Anm. 7), S. 40–57. 18 Cicero, De officiis 1, 43; das Nachfolgende ebd. 1, 42. 19 Ebd. 1, 20 und 50. 20 Ebd. 1, 42. 21 Ebd. 1, 42f. 22 Ebd. 1, 44. 23 Ebd. 2, 73f.; dazu auch Lefèvre (o. Anm. 15), S. 123 mit Literaturnachweisen. 24 Das Folgende Cicero, De officiis 2, 52–54. 25 Ebd. 2, 69. Dazu A. R. Dyck, A Commentary on Cicero, De officiis, Ann Arbor 1996, S. 457f. 26 Zur antiken Geldtheorie Ch. Binswanger, »König Midas: Wird alles zu Gold? Geld und Wachstum«, in: A. Karmann/J. Klose (Hgg.), Geld regiert die Welt? Wirtschaftliche Reflexionen, Marburg 2006, S. 251–266. 27 Cicero, De officiis 2, 57–59. 28 Ebd. 2, 60. 29 Ebd. 1, 44. 30 Ebd. 1, 45–60. 31 Ebd. 2, 69; das Nachfolgende ebd. 1, 59. 32 Ebd. 2, 69. 33 Ebd. 1, 45. 34 Ebd. 1, 47. 35 Ebd. 1, 49. 36 Ebd. 2, 70f. 37 Ebd. 2, 63. 38 Ebd. 39 Ebd. 1, 20. 40 Zum tiefgreifenden Wandel durch das Christentum G. Melville, »›Liebe und tue, was du willst!‹ Eine Herausforderung für den mittelalterlichen Menschen«, in diesem Band bes. S. 85–87. 41 Seneca, Ad Lucilium epistulae morales 18. 42 Die Grundlinie zeigt prägnant M. Hossenfelder, Die Philosophie der Antike 3 (Geschichte der Philosophie, Bd. 3), München 1985, bes. S. 23–39. 43 Seneca, Ad Lucilium epistulae morales 20, 12. Ge b e n – E m pfan g e n – W i e de rg e be n | 37
44 P. Hadot, Exercises spirituels et philosophie antique, Paris 1981; M. Foucault, Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3, Frankfurt a. M. 1989. 45 Foucault (o. Anm. 44), S. 57. Dies ist ganz unabhängig davon, was letzthin die Funktion dieser historischen Archäologie im Foucault’schen Œuvre selbst ist, der mit der näheren Beschäftigung den Plan des ganzen Werks änderte. Dazu C. Horn, »Ästhetik der Existenz und Selbstsorge«, in: M. S. Kleiner (Hg.), Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken, Frankfurt/New York 2001, S. 137–152. 46 In Foucaults Analyse kommt durch die subjektbezogene Fokussierung auf den Selbstbezug dieser größere Rahmen nicht in den Blick.
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Elke Stein-Hölkeskamp
DIE SORGE UM SICH UND DIE ANDEREN: PLINIUS DER JÜNGERE ALS AMICUS UND PATRONUS In einem der Briefe seiner noch zu Lebzeiten publizierten Sammlung gibt Gaius Plinius Secundus dem Adressaten Cornelius Ursus auf höchst aufschlussreiche Weise Einblick in sein derzeitiges Lebensgefühl. So schreibt er mit unüberhörbarem Bedauern: Schon lange habe ich kein Buch, keinen Griffel in die Hand genommen; schon lange weiß ich nicht mehr, was Muße, was Ruhe, was endlich dieser zwar träge, aber doch angenehme Zustand, nichts zu tun, nichts zu sein, ist. So viele Aufgaben für meine Freunde lassen es weder zu, mich in die Einsamkeit zurückzuziehen, noch mich wissenschaftlich zu beschäftigen. Keine geistige Beschäftigung ist nämlich so wichtig, daß man die Pflichten der Freundschaft dafür vernachlässigen darf.1
Plinius artikuliert hier die latente Spannung zwischen der Sorge um sich selbst, also dem Wunsch nach einem Leben frei von Alltagstrubel und äußeren Umtrieben, und der Sorge um die anderen, also der Verpflichtung, mit aller Kraft den Freunden zu dienen und dabei sich selbst und seine Wünsche und Bedürfnisse zurückzunehmen. Dabei lässt er keinerlei Zweifel daran, wie er diese Spannung letztlich aufzulösen gedenkt: In diesem wie in den zahlreichen anderen Briefen zum Thema konstruiert er sich selbst als engagierten und pflichtbewussten pater familias, Ehemann, Freund und Patron, den in allen Lebenslagen die Sorge um die anderen umtreibt. Im Folgenden sollen nun eine Reihe von Beispielen für diese Sorge des Plinius um die anderen vorgestellt werden. Am Anfang soll der pater familias Plinius stehen, das Familienoberhaupt, unter dessen Hausgewalt sich seine Angehörigen, seine Sklaven und Freigelassenen befinden. In einem Brief an Paternus aus Comum gibt Plinius seiner Betroffenheit darüber Ausdruck, dass einige seiner Leute schwer erkrankt und zwei von ihnen in noch jugendlichem Alter verstorben seien. In seinem Schmerz, so betont er, biete ihm allein der Gedanke Trost, dass er seine Sklaven stets mit einer für seine Epoche ungewöhnlichen Fürsorge und Großzügigkeit behandelt habe. Einige von ihnen, so betont er, habe er bereits in jungen Jahren freigelassen und glaube deshalb, »sie nicht zu früh verloren zu haben, weil er sie schon als Freie verloren habe«. Anderen D ie S o rg e u m si c h u n d di e an de re n | 39
habe er erlaubt, »eine Art Testament zu machen, und es wie ein rechtskräftiges betrachtet«. Er habe sie – freilich »nur im Bereich des Hauses«, wie er vorsorglich einschränkt – »Weisungen erteilen«, »schenken«, »verteilen« und »vererben« lassen und habe ihre so getroffenen Anordnungen stets respektiert.2 Plinius lässt dabei keinen Zweifel daran, dass er sich sehr wohl bewusst ist, dass er sich durch seine fürsorgliche Großzügigkeit, die er selbstgewiss (oder sollte man sagen: selbstgefällig) als Menschenfreundlichkeit (humanitas) bezeichnet, von der Mehrzahl seiner Standesgenossen unterscheidet. Und um die Außergewöhnlichkeit seines Verhaltens noch deutlicher hervorzuheben, kritisiert er mit scharfen Worten jene Zeitgenossen, die derartige Unglücksfälle lediglich »als materiellen Verlust« ansähen und sich dann auch noch für »große und weise Menschen« hielten. Sein Urteil fällt dementsprechend hart aus: »Vielleicht sind sie groß und weise«, so wettert er, »Menschen sind sie jedenfalls nicht.«3 Die Tatsache, dass Plinius seine Sorge um seine Sklaven in einem Brief an einen Standesgenossen so ausführlich thematisiert, lässt erkennen, dass die Sorge um die anderen in der Gesellschaft der Kaiserzeit stets auch ein Teil des öffentlichen self-fashioning der Ritter und Senatoren war. Um die Sorge für seine Leute im Krankheitsfall geht es auch in einem Brief an einen gewissen Valerius Paulinus4, den Plinius in diesen Fragen offensichtlich als einen Gleichgesinnten betrachtet, da auch er seine Leute stets »gütig« behandele. Der Fürsorge des Plinius bedarf in diesem Fall sein Freigelassener Zosimus, ein »rechtschaffener«, »pflichtbewußter« und »gebildeter« Mann und darüber hinaus ein begabter Schauspieler, dessen Talente Plinius zu loben nicht müde wird. Er trage »Reden, Geschichtswerke und Gedichte«, so schwärmt Plinius, »deutlich, verständnisvoll, geschickt und geschmackvoll vor« und leiste ihm deshalb »viele angenehme Dienste«. Es sind jedoch keineswegs nur utilitaristische Erwägungen, die Angst vor dem Ausfall von Leistungen in einem für Plinius wichtigen Lebensbereich, die seine Sorge um Zosimus motivieren, sondern er betont darüber hinaus auch emphatisch seine emotionale Nähe zu dem Freigelassenen, »die schon lange bestehende Zuneigung«, die nun mit Verlustängsten einhergeht. Denn Zosimus, so berichtet Plinius dem Paulinus, ist bereits zum zweiten Mal an einem Blutsturz erkrankt. Beim ersten Mal habe er ihm einen Kuraufenthalt in Ägypten ermöglicht. Dieses Mal soll er zur Erholung auf das Landgut des Paulinus bei Forum Iulii reisen – eine Region, die für ihr gesundes Klima und ihre gute Milch bekannt ist. Paulinus, so bittet Plinius höflich, möge seine Leute instruieren, den Kranken freundlich aufzunehmen und zu versorgen. Für das nötige Reisegeld werde er selbst sorgen.5 Ziehen wir eine erste Bilanz: Plinius steht zu seinen Sklaven und seinen Freigelassenen in einer interpersonalen Nahbeziehung, die durch steile Hierarchie und Asymmetrie gekennzeichnet ist.6 Als der sozial Hochstehende gewährt Plinius den 40 | E lke S tein-Hö l ke s k a mp
Niedrigstehenden Zuwendung und Wohltaten. Seine Sorge um die anderen manifestiert sich konkret in materieller Unterstützung und der Gewährung von Privilegien. Darüber hinaus setzt Plinius seine Beziehungen zu Gleichstehenden wie Paulinus gezielt ein und lässt Mitglieder seines Haushaltes damit von den komplexen Netzwerken der Freundschaft profitieren, die ihn mit seinen Standesgenossen verbinden. Dass Plinius die Nahbeziehung zu Sklaven und Freigelassenen in der Sprache der Freundschaft semantisiert, sollte nicht voreilig als »Verschleierung« im Sinne einer wertrationalen Überhöhung von zweckrationalen Verhaltensweisen gedeutet werden. Es gilt vielmehr, diese Art der Selbstinszenierung und Selbstdeutung als kulturhistorische Besonderheit zu diagnostizieren, die darauf verweist, welche Bedeutung interpersonale Beziehungen in dieser Epoche für die Konstituierung von sozialer Identität und Status haben.7 Verlassen wir nun die Mikroebene des Hauses und der Familie und wenden uns den Fällen zu, in denen die Sorge des Plinius um die anderen ihre Wirkung in einem größeren Umfeld entfaltete. Beginnen wir mit der Fürsorge, die Plinius der Familie des Iunius Mauricus zukommen lässt, einem bekannten Juristen und Senator, der ebenso wie Plinius aus Norditalien stammt. Mauricus sorgt sich um seine Nichte, die Tochter seines Bruders Arulenus Rusticus, der im Jahre 93 als prominenter Vertreter der so genannten stoischen Opposition gegen Domitian hingerichtet worden war. Er sucht einen passenden Ehemann für die Waise und bittet Plinius um Hilfe, die dieser ihm selbstverständlich gern gewährt. Denn Plinius sieht sich gegenüber Arulenus Rusticus schon seit langem in der Pflicht. Er betont, »wie sehr er diesen höchst bedeutenden Mann zu Lebzeiten bewundert und geschätzt habe«, und verweist auf die Fürsorge und Förderung, die dieser ihm als jungem Mann habe zukommen lassen. Er erinnert sich mit Dankbarkeit daran, »mit welchen Ratschlägen« Arulenus ihn gefördert habe und wie sein Ansehen durch dessen lobende Worte derart gestiegen sei, dass er in der Folge allgemein »der Anerkennung wert schien«. Seine Dankbarkeit will Plinius nun dadurch erweisen, dass er die ehrenvolle Aufgabe übernimmt, »einen jungen Mann auszuwählen, der es wert wäre, dem Arulenus Enkel zu schenken«.8 Dass lang andauernde familiäre und freundschaftliche Beziehungen nach dem Selbstverständnis des Plinius stets eine Verpflichtung zur Fürsorge generieren, zeigt sich auch im Falle des Romatius Firmus. Firmus wird von Plinius emphatisch als »Landsmann, Mitschüler und Gefährte seit frühester Jugend« angesprochen, dessen Vater bereits ein »vertrauter Freund« der Plinii gewesen sei. Und dieses generationenübergreifende Nahverhältnis, so fährt Plinius fort, sehe er als »bedeutenden und triftigen Grund« dafür an, dass er »das Ansehen des Firmus fördern und vergrößern« müsse. Diese Förderung manifestierte sich konkret in der Schenkung der erheblichen Summe von 300000 Sesterzen, die es Firmus ermögD ie S o rg e u m si c h u n d di e an de re n | 41
lichen sollte, in den Ritterstand einzutreten – eine markante Statusverbesserung für den Ratsherrn in Comum, der zuvor nur über ein mäßiges Vermögen verfügt haben dürfte. In den letzten Zeilen des Briefes macht Plinius Firmus dann ebenso freundlich wie unmissverständlich klar, dass er gewisse Gegenleistungen für seine Gabe erwartet. Da die Nahbeziehung zwischen den alten Freunden aus Comum eine asymmetrische ist, kann Firmus sich natürlich nicht mit einer vergleichbaren Gegengabe revanchieren. Deshalb soll er die Fürsorge des Plinius mit andauernder Dankbarkeit und Respekt vergelten – symbolische Gesten der Anerkennung und Wertschätzung, die das Ansehen des großzügigen Gebers erhöhen und damit wertvolle Einlagen in dessen soziales Kapital darstellen.9 Um die finanzielle Unterstützung eines amicus geht es auch im Fall des Atilius Crescens – ebenfalls ein Jugendfreund und Landsmann des Plinius. Plinius sorgt sich um den Freund, weil dieser Probleme hat, ein Darlehen und die angefallenen Zinsen zurückzuerhalten. Da Atilius kein hohes Einkommen habe, so argumentiert er, würde ihn der Verlust schwer treffen. Ja, es bestehe die Gefahr, dass der ansonsten so heitere, liebenswürdige und geistreiche Mann mit »Zorn und Bitterkeit« auf den Vorfall reagiere. Da Plinius in der Sache offenbar nicht persönlich intervenieren kann, bittet er seinerseits Priscus, einen angesehenen Consular und späteren Statthalter, »im Namen der Freundschaft« um Hilfe. Fürsorge für den anderen manifestiert sich hier wiederum in der Aktivierung eines Netzwerkes, in dem ein Problem von Freund zu Freund gewissermaßen weitergereicht wird, bis sich eine Person findet, die über die entsprechende Lösungskompetenz verfügt. Doch bevor Plinius den Priscus in die Einzelheiten des Falles einweiht, geht er zunächst auf den besonderen Charakter seiner Freundschaft zu Atilius ein. »Unsere Heimatstädte«, so beginnt er, »liegen nur eine Tagesreise voneinander entfernt. Wir begannen uns schon in jungen Jahren gegenseitig zu schätzen, denn dann ist die Zuneigung am größten.« Mit den Jahren und »mit zunehmender Urteilsfähigkeit« sei diese Freundschaft dann noch stärker geworden und das sei auch allgemein bekannt. Denn Plinius und Atilius haben an ihrer Nahbeziehung offenbar ständig gearbeitet, indem sie jedermann wissen ließen, wie sehr ihnen die Fürsorge für den jeweils anderen am Herzen lag. Atilius, so berichtet Plinius, »habe weit und breit die Freundschaft des Plinius gerühmt«. Und er selbst habe stets deutlich gezeigt, wie wichtig ihm die »Bescheidenheit, Ruhe und Sicherheit« des anderen sei. Die Formulierungen des Plinius zeigen deutlich, welche Bedeutung der öffentlichen Demonstration, ja der Sichtbarkeit und Hörbarkeit der Sorge um die anderen in der kaiserzeitlichen Gesellschaft zukam. Und in diesem Sinne sind wohl auch die »Drohungen« am Ende des Briefes zu verstehen, mit denen Plinius dem Priscus ankündigt, er werde ein Scheitern seiner Bemühungen um Hilfe für Atilius sehr persönlich nehmen. Er werde sie als »seinen Verlust, als seine Schande« betrachten und entsprechend zornig reagieren.10 Ein öffentlich sichtbarer Misserfolg 42 | E lke S tein-Hö l ke s k a mp
in der Sache würde die Fähigkeit des Plinius, seine Sorge um die anderen effektiv in konkrete Unterstützung umzusetzen, in Frage stellen. Er würde eine Minderung seines sozialen Kapitals und damit einen Verlust von Ansehen und Status nach sich ziehen. Ziehen wir an dieser Stelle ein weiteres Resümee: Jenseits der Mikroebene des Hauses gründeten zahlreiche Nahbeziehungen des Plinius auf der Landsmannschaft bzw. dem campanilismo, wie die Italiener es formulieren. Dabei fiel die Herkunft aus derselben Stadt, derselben Region in der Regel mit der lang andauernden Freundschaft zwischen Familien zusammen. Zumal dieser Aspekt der generationenübergreifenden Verbundenheit generierte eine besonders intensive Verpflichtung zur Reziprozität. Fürsorge und Förderung, die in der Großväterbzw. Vätergeneration gewährt worden waren, mussten von Kindern und Kindeskindern mit entsprechenden Gegenleistungen vergolten werden. Dabei bedurfte dies in der Regel nicht der gesonderten Aushandlung: Alle Beteiligten konnten vielmehr zuversichtlich darauf vertrauen, dass der jeweils andere die vorgegebenen sozialen Rollen erfüllen und seinen Verpflichtungen nachkommen würde. Auch bei den Nahbeziehungen, die auf Landsmannschaft und generationenübergreifender Freundschaft zwischen Familien beruhten, konnte sich die Sorge um den anderen in ganz unterschiedlichen Wohltaten manifestieren. Zumal in asymmetrischen Beziehungen dürften sich Gabe und Gegengabe in der Regel strukturell voneinander unterschieden haben: Substantielle materielle Zuwendungen konnten durch öffentlich sichtbare symbolische Gesten der Wertschätzung vergolten werden, die vor allem eine Einlage in das soziale Kapital des Adressaten bedeuteten. Die Tatsache, dass Leistungen und Gegenleistungen aufgrund des Fehlens eines einheitlichen Wertmessers nicht konkret gegeneinander aufgerechnet werden konnten, verlieh den Beziehungen dabei an sich schon Dauer, da ein Leistungsvorschuss niemals eindeutig und endgültig ausgeglichen werden konnte und den Empfänger daher langfristig an den Geber band.11 Während Plinius in den oben interpretierten Briefen stets das Selbstbild des Nachbarn und Landsmanns vermittelt, der es in der großen weiten Welt zu etwas gebracht und dabei niemals seine Wurzeln in illa nostra Italia vergessen hat, werden wir uns im Folgenden mit dem Akteur auf der politischen Bühne in Rom, dem Gerichtsredner, Senator, Consular, Provinzstatthalter und Freund des Kaisers beschäftigen. Denn auch auf dieser Ebene spielten interpersonale Nahbeziehungen und die aus ihnen resultierenden Fürsorgepflichten eine entscheidende Rolle.12 Wir beginnen mit dem Fall der Corellia Hispulla, bei dem sich auf bemerkenswerte Weise die aus generationenübergreifenden Nahbeziehungen resultierenden Verpflichtungen mit konkreten politischen Erwägungen vermischen. Plinius hat Corellia im Jahre 105 in einem Prozess gegen Gaius Caecilius Strabo vertreten. Er D ie S o rg e u m si c h u n d di e an de re n | 43
übernimmt die Aufgabe, weil er dem Vater der Beklagten, Corellius Rufus, einem angesehenen Consular und Provinzstatthalter, zu Lebzeiten und über dessen Tod hinaus in Dankbarkeit verbunden ist. Der als »charakterfest und gewissenhaft« charakterisierte Corellius, so Plinius, habe ihn in seiner Jugend außerordentlich gefördert. Der weitaus Ältere habe ihm »die Ehre« erwiesen, ihn bereits als ganz jungen Mann wie einen Gleichaltrigen zu behandeln – eine durchaus bemerkenswerte Verhaltensweise, da in der römischen Gesellschaft das hierarchische Gefälle zwischen den Generationen seit jeher äußerst steil war. Doch darüber hinaus, so wiederum Plinius, habe sich die Fürsorge des Corellius für ihn auch in ganz konkreter Unterstützung geäußert. Er sei bei der Bewerbung um Ämter »sein Befürworter und Zeuge« und beim Amtsantritt sein »Begleiter und Gefährte« gewesen. Bei der Amtsführung schließlich habe er stets als sein »Berater und Lenker« fungiert. »Wie sehr«, so schließt Plinius seine Hymne der Dankbarkeit und des Lobes ab, »hat er meinen guten Ruf zu Hause und in der Öffentlichkeit, wie sehr auch beim Kaiser gefördert.« Welche Bedeutung bei dieser Art von Förderung dem Aspekt der Öffentlichkeit zukam, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Plinius explizit betont, dass sich Corellius auch noch als alter und schwacher Mann bei den amtlichen Verpflichtungen des Plinius stets für alle sichtbar und unübersehbar an dessen Seite gezeigt habe, »so als wäre er noch jung und kräftig«.13 Die Fürsorge, die Corellius dem Plinius hat angedeihen lassen, verpflichtet diesen zweifellos zu Gegenleistungen an seinen Kindern und Kindeskindern. Corellia nicht zu vertreten, so Plinius, wäre »eine Schande« für ihn. Er würde durch eine solche Verweigerung den Eindruck erwecken, das Vertrauen, das Corellius, dieser »weitsichtige Mann«, in ihn gesetzt hatte, nicht zu erfüllen – eine Fehlleistung, die womöglich erhebliche Auswirkungen auf das öffentliche Ansehen des Plinius und auf seinen Status hätte haben können. Deshalb wird Plinius Corellia natürlich unterstützen. Allerdings ist die Vergeltung der Dankespflicht an ihren Vater in diesem Fall mit »einigen Unannehmlichkeiten« für Plinius verbunden, wie dieser etwas gewunden formuliert. Denn Gaius Caecilius Strabo, der Prozessgegner Corellias, ist zur Zeit des Prozesses designierter Consul und damit ein angesehener und einflussreicher Mann. Das Amt, für das Caecilius bestimmt ist, hat Plinius bereits selbst innegehabt. Er weiß deshalb, wie hoch es eingeschätzt wird und was es wert ist. Es kommt hinzu, dass Caecilius ebenfalls sein Freund ist, wenn auch kein »enger«, wie er sich beeilt herauszustellen. Plinius, so lässt sich aus all dem schließen, befürchtet offensichtlich Nachteile für sich, wenn er öffentlich für die Interessen Corellias eintritt. Und so gibt er am Ende des Briefes seiner Hoffnung Ausdruck, dass die Sache für ihn vielleicht doch noch gut ausgehen könne, wenn er in seiner Rede nur seine Bedenken und seine Zwiespältigkeit ausführlich zur Sprache bringe und sie »zu seiner Entschuldigung oder sogar zu seiner Empfehlung« anführe.14 Wir haben hier also einen jener Fälle vorliegen, bei denen die Sorge um sich selbst mit 44 | E lke S tein-Hö l ke s k a mp
der Sorge um die anderen kollidiert. Plinius sieht sich mit der Frage konfrontiert, ob ihm die Erfüllung seiner Fürsorgepflicht wichtiger ist als seine aktuellen Beziehungen zu einflussreichen Männern in hohen Ämtern und die Vorteile, die sich für ihn aus solchen Beziehungen ergeben können. Dabei sollte man diese Interessenkollision nicht als Konflikt zwischen der privaten und der öffentlichen persona des Plinius deuten. Die kaiserzeitlichen Senatoren verfügten immer (noch) über weitgehend ungeschiedene Überlegenheitsmerkmale. Die Ausdifferenzierung ihres Status in viele verschiedene soziale Rollen war (noch) nicht weit fortgeschritten. Privatsphäre und öffentliche Sphäre waren noch nicht erkennbar getrennt. Die Erfüllung der Fürsorgeverpflichtungen aus interpersonalen Nahbeziehungen galt daher noch in allen Lebensbereichen als grundsätzlich legitim.15 Und so sehen wir den arrivierten Consular und Provinzstatthalter Plinius dementsprechend auf der hauptstädtischen und imperialen Bühne immer wieder in ganz unterschiedlichen Kontexten in der Rolle des Fürsprechers für hoffnungsvolle junge Männer auftreten, die ihm in Freundschaft verbunden sind und deren Karriere er befördern will. Einschlägig ist hier der Fall des Cremutius Ruso, denn er gestattet einen ersten Einblick in die konkreten Praktiken, mit denen einflussreiche Männer wie Plinius ihre anteilnehmende Fürsorge für den vielversprechenden Nachwuchs effektiv umsetzten. Wie viele andere seiner Standesgenossen war Plinius zeit seines Lebens erfolgreich als Anwalt in Prozessen tätig. Zur Konstruktion seines Selbstbildes gehört es daher zwingend, dass er in seinen Briefen immer wieder auf Anfragen verweist, mit denen man ihn als Ankläger oder Verteidiger zu gewinnen suchte. Dabei war es für ihn selbstverständliche Pflicht, die »Prozesse von Freunden« zu übernehmen, wie er emphatisch betont. Gelegentlich reizten ihn aber auch die »berühmten und glänzenden Fälle« – zugegebenermaßen aus Ehrgeiz, so konzediert er, weil es schließlich nur gerecht sei, bisweilen die Sache des eigenen »Ruhmes und der Ehre« in die Hand zu nehmen.16 Dabei entsprach es den üblichen Gepflogenheiten, dass Anwälte wie Plinius kein Honorar forderten und erhielten – eine Praxis, die andere Gegenleistungen natürlich nicht ausschloss. Die Begünstigten revanchierten sich nämlich mit einem breiten Spektrum an Zuwendungen, das von Empfehlungen beim Kaiser bis zu kleinen oder größeren Erbschaften reichte. Das allgegenwärtige Prinzip der Reziprozität galt also grundsätzlich auch bei dieser Art von freundschaftlicher Fürsorge und wurde niemals ausgesetzt.17 Vor diesem Hintergrund erscheint es dann höchst ungewöhnlich, dass Plinius seine Bereitschaft, im Prozess eines gewissen Triarius als Verteidiger aufzutreten, von der vorgängigen Zusage einer bestimmten Gegenleistung abhängig macht: Er macht es nämlich zur Bedingung, dass Cremutius Ruso mit ihm zusammen als Anwalt auftrete. Es sei seine »Gewohnheit«, so begründet er seine Forderung, »tüchtige junge Männer dem Forum vorzustellen und sie beD ie S o rg e u m si c h u n d di e an de re n | 45
kannt zu machen«. Deshalb lege er allergrößten Wert darauf, dass Ruso, den er teils wegen seiner »Herkunft«, teils wegen seiner »außergewöhnlichen Zuneigung« sehr schätze, in denselben Gerichtsverhandlungen und auf der Seite derselben Partei gesehen werde wie er selbst. Dem Triarius versichert Plinius, dass er es niemals bereuen werde, dem Ruso diese Chance gegeben zu haben. »Ich verbürge mich dafür«, so schreibt er, »daß er Deiner Besorgnis, meiner Erwartung und der Bedeutung des Prozesses genügen wird.« Und um seinem Anliegen noch mehr Nachdruck zu verleihen, betont Plinius dann auch noch die mittelfristig nachhaltige Wirkung solcher Art von Nachwuchsförderung. Ruso, so prophezeit er, habe die besten »geistigen Anlagen«. Deshalb werde er schon bald seinerseits andere ebenso ins öffentliche Leben einführen, wie Triarius und Plinius es in seinem Fall übernommen hätten. Denn keiner besitze von vornherein eine »so glänzende Begabung«, dass er emporsteigen könne, »wenn er nicht Stoff, Gelegenheit und auch einen Gönner und Förderer finde«.18 Das Beispiel des Cremutius Ruso macht also nicht nur eine der konkreten Praktiken der fürsorglichen Förderung des Nachwuchses deutlich, sondern es zeigt zugleich, dass diese Art der öffentlichkeitswirksamen Aktivierung interpersonaler Nahbeziehungen in der Epoche des Plinius ganz selbstverständlich Teil des politischen Prozesses war und darüber hinaus als mittel- und langfristig konstitutiv für die soziale und politische Ordnung angesehen wurde. Die große Bedeutung des Einsatzes persönlicher Nahbeziehungen im politischen Leben der Kaiserzeit zeigte sich natürlich auch bei der Vergabe der öffentlichen Ämter. Welche Bedeutung Plinius seiner Rolle als Förderer erfolgversprechender Talente in jeder Hinsicht zumaß, manifestiert sich nicht zuletzt in seinen zahlreichen Empfehlungsschreiben an andere Senatoren und an den Kaiser. Vielseitige Einblicke in diese Empfehlungspraxis bietet etwa der Fall des Iulius Naso. Plinius wendet sich in dieser Angelegenheit an Minicius Fundanus, einen prominenten und einflussreichen Senator seiner Generation, der sich sowohl durch seinen Rang als Schriftsteller und Gelehrter als auch durch seine Ämterlaufbahn Ruhm und Ehre erworben hatte. Immerhin bekleidete er 107 das Consulat und amtierte später als Statthalter in der Provinz Asia.19 Plinius tut der Bedeutung des Mannes dann auch gleich zu Anfang des Briefes genüge, indem er ihn inständig bittet, nach Rom zu kommen. Dort soll er Anteil an »seinen Wünschen, Mühen und Sorgen« nehmen – ein sehr persönlicher, durchaus emotional formulierter Appell, mit dem Plinius den Fundanus bewegen will, mit ihm gemeinsam die Kandidatur des Iulius Naso um Ehrenämter zu unterstützen. Und wenn Plinius dem Fundanus die schwierige Situation des Naso in der Folge erörtert, bleibt er dem eingeschlagenen Duktus konsequent treu. Denn Plinius berichtet zunächst einmal von sich selbst und seiner eigenen Stimmungslage. »Ich bin besorgt«, so schreibt er, »Hoffnung 46 | E lke S tein-Hö l ke s k a mp
treibt mich um«, aber »Furcht erfüllt mich«. Ja, es komme ihm so vor, als sei er selbst wieder »Bewerber um die Ämter, die er bereits durchlaufen habe«.20 Erst wenn Plinius seinen eigenen Gefühlen und damit gewissermaßen der Sorge um sich selbst Ausdruck gegeben hat, kommt er näher auf den jungen Mann zu sprechen, dem seine Sorge um die anderen in diesem Fall gilt. Iulius Naso, so betont er, konkurriere bei seiner Bewerbung mit vielen tüchtigen Männern, die zu übertreffen ebenso ruhmvoll wie schwierig sei – eine an sich durchaus normale Situation, die allerdings dadurch erschwert werde, dass Naso eben jene beiden Männer frühzeitig verloren habe, die gewissermaßen seine natürlichen Berater und Förderer gewesen wären: seinen Vater und seinen Bruder. Zumal der Vater, so beeilt sich Plinius festzustellen, sei »ein so berühmter und würdevoller Mann« gewesen, dass allein sein »Andenken« seinem Sohn eigentlich Vorteile hätte bringen müssen. Doch eben dieser Aspekt der generationenübergreifenden Nachhaltigkeit funktioniere in diesem Fall nicht, denn es seien nun »viele im Senat«, die den Vater des Naso zu Lebzeiten nicht mehr gekannt hätten bzw. solche, die sich durch den Ruhm eines Verstorbenen nicht in der Pflicht gegenüber seinen Nachkommen sähen. Naso, so fasst Plinius den Stand der Dinge zusammen, müsse »sich also selbst anstrengen« und »sich selbst Mühe geben«. Da Naso ein Mann sei, der in jeder Hinsicht der Fürsorge wert sei, habe er diesen Anforderungen bislang selbstverständlich voll entsprochen. Vor allem habe er sich Freunde erworben und diese Freunde stets mit Achtung behandelt. Und wie Naso dabei konkret vorgegangen ist, exemplifiziert Plinius dann an seinem eigenen Beispiel. Naso habe ausgerechnet ihn »zum Gegenstand seiner Zuneigung und Nachahmung« erwählt – und zwar erst in einem Alter, in dem er sich ein eigenes Urteil erlauben konnte. Sooft er bei Gericht spreche, stehe Naso »aufgeregt« neben ihm; wann immer er aus seinen Texten vortrage, sitze er an seiner Seite; an der Entstehung seiner literarischen Werke nehme er Anteil. Naso, so lässt sich sein Verhalten wohl auf den Punkt bringen, hat seine Bewunderung und Liebe für Plinius also unermüdlich und unübersehbar in der Öffentlichkeit demonstriert. Durch diese Gesten der Anerkennung und der Ehrerbietung hat er den Älteren in die Pflicht genommen, sich ebenso öffentlich für ihn einzusetzen und ihn zu unterstützen. Und genau dieser Pflicht kommt Plinius in seinem Empfehlungsschreiben an Fundanus nach. Denn am Ende des Briefes fordert er ihn noch einmal emphatisch auf, nach Rom zu kommen und seine Stimme mit seiner eigenen zu vereinigen. »Es liegt mir sehr viel daran«, so schreibt er, »Dich vorzuzeigen« und »mit Dir herumzugehen«21. Dabei verspricht sich Plinius von diesem gemeinsamen öffentlichkeitswirksamen Werben für die Kandidatur des Naso noch einen durchaus erwünschten Nebeneffekt. Er hält das Ansehen des Fundanus nämlich für so groß, dass dessen öffentliches Eintreten für den Kandidaten es erleichtern werde, noch weitere einflussreiche »Freunde« ins Boot zu holen. Wir haben hier also den klassischen Fall vor uns, in dem eine VerbinD ie S o rg e u m si c h u n d di e an de re n | 47
dung verschiedener Netzwerke Synergieeffekte erzielen und damit der Sorge um den anderen noch mehr Durchschlagskraft verleihen soll. Die Aktivierung einer ganzen Kette von Nahverhältnissen und aus ihnen resultierender Reziprozitätsverpflichtungen soll hier gebündelt werden, um einem einzigen Zweck zu dienen – so sieht es jedenfalls vordergründig aus. Denn letztendlich sollte Naso keineswegs der einzige Profiteur dieser konzertierten Aktion sein. Plinius kommt am Ende seines Briefes nämlich noch einmal auf die Sorge um sich selbst zurück, die er ja schon am Anfang des Briefes angesprochen hatte. Er betont nun noch einmal emphatisch, dass er Fundanus nicht nur um Unterstützung für Naso angeht, sondern dass er auch ein ganz persönliches Interesse an dessen Anwesenheit in Rom hat. »Reiße Dich los«, so beschwört er ihn und ermahnt ihn dann, dass auch seine persönliche Lage, »sein gegebenes Wort« und »seine Ehre« die Präsenz und die Unterstützung des Fundanus erforderlich machen. »Ich habe mich des Kandidaten angenommen«, so schreibt er, »und es ist bekannt, daß ich es getan habe.« »Ich bewerbe mich also, ich gehe das Risiko ein.« Und wenn Naso scheitern solle, so treffe ihn, Plinius, die »Zurückweisung«.22 Die Sorge um den hoffnungsvollen jungen Kandidaten, dem er für dessen Gesten der Ehrerbietung zur Reziprozität und damit zur Unterstützung verpflichtet ist, trifft sich hier also mit der Sorge des Plinius um sich selbst. Ein Misserfolg des von ihm öffentlich geförderten Kandidaten stellt seine Einflussmöglichkeiten in Frage und mindert durch den damit einhergehenden Prestigeverlust sein soziales Kapital. Die Sorge um die anderen ist hier also Teil der Sorge um sich selbst, die in der Epoche des Plinius für die Angehörigen seiner Statusgruppe immer vorrangig um ihr Bild in den Augen der anderen kreiste. Ich schließe mit einem Beispiel, in dem das dichte Netzwerk unterschiedlicher Nahbeziehungen mit den aus ihnen resultierenden reziproken Pflichten und Ansprüchen noch einmal sichtbar wird. Dabei soll der Fall des Sextus Erucius zugleich dazu dienen, die für die römische Gesellschaft der Kaiserzeit kulturspezifische Verknüpfung der Sorge um die anderen mit der Sorge um sich selbst noch einmal in all ihrer Komplexität herauszuarbeiten. Plinius ist der Familie des Sextus Erucius durch eine generationenübergreifende Kette von Nahverhältnissen unterschiedlicher Art verbunden. Bedeutende Glieder in dieser Kette sind dabei Erucius Clarus, der Vater des Sextus, sowie Gaius Septicius, sein Onkel. Erucius Clarus gehörte dem Ritterstand an. Plinius charakterisiert ihn als einen »aufrichtigen, altrömischen Mann«, der sich durch seine Redegewandtheit auszeichnete und mit großem Erfolg als Anwalt in Prozessen auftrat. Septicius Clarus, der Onkel, war dem Plinius durch die gemeinsamen literarischen Interessen verbunden. Er soll ihn zur Publikation seiner Briefe ermutigt haben.23 Plinius beschreibt ihn als »den ehrlichsten, einfachsten, redlichsten und zuverlässigsten Menschen«, den er kenne. Beide Männer, so betont er, liebten ihn »um die Wette« und »lieben ihn doch alle gleich«.24 Diese Liebe, die sich zweifellos in öffentlich sichtbaren Gesten der Zuneigung und 48 | E lke S tein-Hö l ke s k a mp
Wertschätzung äußerte, verpflichtete Plinius zur Dankbarkeit. Und diese Dankbarkeit musste sich dem gesellschaftlichen Code der Zeit entsprechend in konkreten Taten manifestieren. Plinius hatte dieser Verpflichtung zur Gegenleistung in den vergangenen Jahren bereits voll entsprochen und war bereit, noch weiteren »Dank abzustatten«. Er hatte den Sohn bzw. Neffen der beiden Männer, Sextus Erucius, als jungen Mann am Anfang seiner Karriere intensiv gefördert und war bereit, ihm auch weiter seine Fürsorge angedeihen zu lassen. Er hatte nämlich seinen Einfluss beim Kaiser aufgeboten und dafür gesorgt, dass Nerva dem Sextus Erucius die Senatorenwürde verliehen und ihn für das Amt des Quaestors empfohlen hatte. Nun unterstützte er ihn bei seiner Bewerbung um das nächsthöhere Amt, das Tribunat. Dabei war es ihm offenbar wiederum gelungen, die Fürsprache des Kaisers für die Kandidatur zu erreichen. Allerdings musste Sextus Erucius auch als Kandidat des Kaisers letztendlich vom Senat zum Tribunen gewählt werden. Und das erforderte den weiteren unermüdlichen Einsatz seines Mentors Plinius, der nun auch bei den Mitgliedern dieses Gremiums intensiv für ihn werben musste – eine Verpflichtung, die Plinius beunruhigte und geradezu ängstigte, ja, die ihn in eine »Sorge« und »Aufregung« versetzte, wie er sie nie gekannt hatte. Sein starkes emotionales Engagement bei der Bewerbung des Sextus Erucius erklärt Plinius damit, dass auch für ihn viel auf dem Spiel stehe. Es gehe um nicht weniger, so schreibt er, als um seine »Ehre«, seinen »guten Ruf« und sein »Ansehen«. Falls die Kandidatur des Sextus Erucius im Senat scheitere, so fürchtet er, könne der Eindruck entstehen, dass er den Kaiser bei seinen früheren Empfehlungen getäuscht habe und man seinem Urteil nicht trauen könne. Um dieser Gefahr zu entgehen, ist Plinius bereit, sich richtig ins Zeug zu legen und das gesamte Netzwerk seiner Freunde zu aktivieren. Er drücke all seinen amici die Hand, so schreibt er an Domitius Apollinaris, den ehemaligen Statthalter der Provinz Lykien-Pamphylien und Consul suffectus des Jahres 97, den er brieflich um Unterstützung bei seiner Kampagne bittet. Er gehe von Haus zu Haus und auf die öffentlichen Plätze, um weitere Unterstützung für Sextus Erucius einzuwerben. Dabei prüfe er durch seine Bitten, »wieviel er durch sein Ansehen oder seinen Einfluß vermag«. Plinius wertet seinen Einsatz für den jungen Mann also gewissermaßen zu einem Test für sein eigenes aktuelles Standing auf. Dabei ist er sich völlig im Klaren darüber, dass aus diesem intensiven Werben um Unterstützung für Sextus Erucius neue Verpflichtungen entstehen, denen er sich in der Zukunft ohne Ansehensverlust nicht entziehen kann. Er verspricht Domitius Apollinaris dann auch Gegenleistungen, die er auf jeden Fall erbringen wird, auch wenn dieser sie gar nicht einfordert. Und er erweist darüber hinaus dessen hohem Rang gebührende Reverenz, indem er die Zahl derer hervorhebt, die ihm täglich aufwarten, ihn lieben und verehren und jederzeit bereit sind, ihn in seiner Fürsorge für andere zu unterstützen.25 Die Sorge um die anderen erscheint hier als Bestandteil der alltäglichen und allgegenwärtigen Konkurrenz D ie S o rg e u m si c h u n d di e an de re n | 49
zwischen den Angehörigen der Führungsschicht um Ansehen und Einfluss. In der Zahl derjenigen, denen ein Einzelner effektiv und erfolgreich seine Fürsorge und Förderung angedeihen lassen kann, einerseits und in der Zahl seiner amici, die er als weitere Unterstützer gewinnen kann, andererseits manifestiert sich stets aufs Neue die Zugehörigkeit zur Elite und die aktuelle Rangordnung innerhalb der Elite. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Kaiser, dessen Möglichkeiten der Einflussnahme und Fürsorge diejenigen aller anderen natürlich weit überschritten. Als Vermittler und Makler – »broker«, wie Richard Saller es genannt hat – für kaiserliche Unterstützung zu fungieren, ist deshalb eine zentrale Facette dieses ewigen Wettbewerbs, in den Plinius und seine Standesgenossen einen guten Teil ihrer Kraft und ihrer Energie investierten und der damit ihre Sorge um sich selbst ganz wesentlich bestimmte.26 Eine Bilanz könnte folgendermaßen aussehen: Die Ritter und Senatoren der Generation des jüngeren Plinius waren in ein komplexes Gefüge von interpersonalen Beziehungen zu Menschen ganz unterschiedlicher Statusgruppen eingebunden. Das Spektrum reichte dabei von den abhängigen Mitgliedern ihrer eigenen familia über Landsleute aus ihrer Heimatregion bis hin zu jüngeren oder älteren Standesgenossen, mit denen sie auf der Bühne der hauptstädtischen und imperialen Gesellschaft kooperierten. Alle diese Beziehungen generierten eine umfassende Pflicht zur Sorge um den anderen. Dabei ist zwischen symmetrischen Beziehungen verschiedener Art und verschiedenen Grades, die sozial Gleichstehende verbanden, und einem breiten Spektrum von asymmetrischen Beziehungen mit einem unterschiedlich steilen, aber erkennbaren sozialen Gefälle zwischen den Partnern zu unterscheiden. Die Wohltaten, die zwischen den »Freunden«, den amici, ausgetauscht wurden, wie sie in der lateinischen Sprache mit einem gewissen Euphemismus unterschiedslos bezeichnet wurden, waren dementsprechend strukturell durchaus unterschiedlich. Sie umfassten konkrete materielle Zuwendungen und Rechtsbeistand ebenso wie symbolische Gesten des Respektes und der Anerkennung, die als Einlagen in das soziale Kapital des Empfängers zu werten sind und seinen Status und seinen Rang erhöhten. Als typisch kann dabei die Konvertierbarkeit der Leistungen angesehen werden, die es ermöglichte, sich für ein Empfehlungsschreiben etwa mit einem Legat zu revanchieren. Gemeinsam ist allen diesen Leistungen, dass sie die strikte Verpflichtung zur Reziprozität generierten: Fürsorge und Förderung mussten in jedem Fall vergolten werden. Dabei galt diese Verpflichtung zur Gegenleistung stets über Generationen hinweg. Für Wohltaten der Väter- und Großvätergeneration mussten sich noch Kinder und Kindeskinder erkenntlich zeigen. Auf diese Weise entstanden generationenübergreifende Netzwerke, deren jeweils situationsbezogene Aktivierung wesentlicher Teil der Fürsorge für den anderen war. Dabei kann es wohl als kulturspezifische Besonderheit der 50 | E lke S tein-Hö l ke s k a mp
römischen Gesellschaft angesehen werden, dass die Sorge um den anderen stets öffentlichkeitswirksam inszeniert werden musste. Leistungen und Gegenleistungen spielten sich als Teil der Interaktion und Kommunikation unter Anwesenden ab und mussten als solche erkannt und damit anerkannt werden, um wirksam zu sein. Dabei galt die Fürsorge für andere in allen Lebensbereichen als legitim – und zwar im Gegensatz zu modernen Gesellschaften auch im politischen Feld. Sie manifestierte sich dort in der Unterstützung, die man dem anderen vor Gericht und bei der Bewerbung um Ämter zukommen ließ und wurde als selbstverständlicher Teil des politischen Prozesses angesehen. Als konstitutives Element der sozialen und politischen Ordnung waren die Sorge um die anderen und die daraus resultierenden Verpflichtungen stets auch eine Dimension des allgegenwärtigen Wettbewerbs, in dem die Angehörigen der politischen Elite um Ansehen und Einfluss konkurrierten. Sie waren selbstverständlicher Teil des self-fashioning der Ritter und Senatoren, die durch erfolgreiche Fürsorge für die anderen ihren Rang innerhalb der Elite zu etablieren bzw. zu erhöhen suchten. Die Sorge um die anderen verband sich hier also ganz selbstverständlich mit der Sorge um sich selbst, die in dieser Gesellschaft immer auch um die Relation des Individuums zu seinem gesamten sozialen Umfeld kreiste.
A n m e r kun ge n *
Auch dieses Mal gilt mein Dank Karl-Joachim Hölkeskamp für geduldige Kritik und vielfältige Anregungen. 1 Plin. 8, 9, 1f. Vgl. auch 7, 15, 1f., wo Plinius betont, dass er es für höchst ehrenvoll hält, sich um »die schwierigen Angelegenheiten seiner Heimatstadt« zu kümmern und »Streitigkeiten unter Freunden zu schlichten«: Nam et rei publicae suae negotia curare et disceptare inter amicos laude dignissimum est. S. zu den beiden Texten jeweils A. N. Sherwin-White, The Letters of Pliny. A Historical and Social Commentary, Oxford 1966, ad loc. Zur Briefsammlung des Plinius und zur Funktion der Briefe als vielsagenden Selbstzeugnissen s. etwa H. Krasser, »Claros colere viros oder über engagierte Bewunderung«, Philologus 137 (1993), S. 62–71; M. Ludolph, Epistolographie und Selbstdarstellung. Untersuchungen zu den ›Paradebriefen‹ Plinius’ des Jüngeren, Tübingen 1997; E. Fantham, Literarisches Leben im antiken Rom. Sozialgeschichte der römischen Literatur von Cicero bis Apuleius, Stuttgart 1998; J. Henderson, »Portrait of the Artist as a Figure of Style: P.L.I.N.Y’s Letters«, Arethusa 36 (2003), S. 115– 125; R. K. Gibson, »Pliny and the art of (in)offensive self-praise«, Arethusa 36 (2003), S. 235–254 und vor allem D. Pausch, Biographie und Bildungskultur. Personendarstellungen bei Plinius dem Jüngeren, Gellius und Sueton, Berlin u. a. 2004, S. 71ff. und 141ff., dem es überzeugend gelingt darzustellen, wie Plinius gerade »die Offenheit der epistolographischen Form« dazu nutzt, »dem Leser die vielfältigen Facetten der eigenen Person gleichsam im SpieD ie S o rg e u m si c h u n d di e an de re n | 51
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gel der anderen Figuren zu präsentieren«. S. neuerdings E. Hartmann, »Die Kunst der edlen Selbstdarstellung. Plinius der Jüngere als Kunstkenner und Euerget«, in: Th. Fuhrer, A.-B. Renger (Hgg.), Performanz von Wissen. Strategien der Wissensvermittlung in der Vormoderne, Heidelberg 2012, S. 109–127. Plin. epist. 8, 16, 1–3. Ebd. 8, 16, 3f. Zur Person des Valerius Paulinus s. A. R. Birley, Onomasticum to the Younger Pliny. Letters and Panegyric, Leipzig 2000, S. 97. Plin. epist. 5, 19, 1–9. Die für die Epoche typische Semantisierung dieser Art von Beziehungen in der Sprache der Freundschaft zeigt sich vor allem in folgenden Formulierungen: Accedit longa iam caritas hominis, quam ipsa pericula auxerunt. est enim ita natura comparatum, ut nihil aeque amorem incitet et accendat quam carendi metus (4f.). S. auch den Kommentar von Sherwin-White (o. Anm. 1), ad loc., der vergleichbare Texte von Zeitgenossen des Plinius anführt, die zeigen, dass eine solche Behandlung von Sklaven und Freigelassenen durchaus noch nicht weit verbreitet war. Vgl. auch den ganz ähnlichen Fall Plin. epist. 8, 1. Zur Terminologie s. vor allem R. Saller, Personal Patronage under the Early Empire, Cambridge 1982, S. 9 und 13 sowie ders., »Patronage and friendship in early imperial Rome: drawing the distinction«, in: A. Wallace-Hadrill (Hrsg.), Patronage in ancient society, London etc. 1989, S. 49–62. Dass Freundschaft für Plinius zunächst einmal eine emotionale Angelegenheit und ein ethisches Konzept ist, betont L. De Blois, »The Political Significance of Friendship in the Letters of Pliny the Younger«, in: M. Peachin (Hrsg.), Aspects of Friendship in the Graeco-Roman World, Portsmouth, Rhode Island 2001, S. 129–134. Zur Erforschung interpersonaler Nahbeziehungen kann man auf eine umfangreiche internationale, interdisziplinäre und interepochale Diskussion zurückgreifen. Hier seien nur einige Titel genannt, die mir als wegweisend für die Kategorienbildung erscheinen und zudem im interkulturellen Vergleich innovative Zugänge zum antiken Material eröffnen: W. Reinhard, »Freunde und Kreaturen. ›Verflechtung‹ als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen«, in ders., Ausgewählte Abhandlungen, Berlin 1997, S. 289–310; B. Beer, »Friendship, Anthropology of«, in: International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, Amsterdam 2001, S. 5805–5808; P. Schuster, R. Stichweh, J. Schmidt, F. Trillmich, M. Guichard, G. Schlee, »Freundschaft und Verwandtschaft als Gegenstand interdisziplinärer Forschung. Einleitung zum Themenschwerpunkt«, sozialersinn 1 (2003), S. 3–20. S. auch A. Winterling, »Freundschaft und Klientel im kaiserzeitlichen Rom«, Historia 57 (2008), S. 298–316 mit weiterer Literatur zur historischen, soziologischen und ethnologischen Erforschung von Freundschaft und Patronage in Anm. 4. Zur Übertragung des Freundschaftsbegriffs auf asymmetrische Klientelverhältnisse s. etwa die klassische Formulierung im Commentariolum petitionis (16): »Die Bewerbung um eines der Staatsämter ist auch in die sorgfältige Beachtung zweier Vorgehensweisen gegliedert, von denen die eine auf das Bemühen um die Freunde (amici), die andere auf den Willen der Masse gerichtet ist. Das Bemühen um die Freunde muß durch Gefälligkeiten, pflichtschuldige Dienste,
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alte Beziehungen, Leutseligkeit und durch eine von Natur aus angenehme Art bereitet sein. Aber dieser Freundesbegriff (nomen amicorum) erstreckt sich bei der Bewerbung weiter als im übrigen Leben; wer auch immer es nämlich ist, der dir irgendeine Zuneigung zeigt, der dich achtet, der dein Haus immer wieder aufsucht, der muß einfach zu den Freunden (amici) gezählt werden. Dennoch aber nützt es in besonderer Weise, denen lieb und angenehm zu sein, die auf Grund eines angemesseneren Grundes Freunde sind: auf Grund einer Verwandtschaft, eines Angehörigenverhältnisses, der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft oder eines anderen engen Verhältnisses.« S. dazu Quintus Tullius Cicero. Commentariolum petitionis, hrsg., übers. und komm. von G. Laser, Darmstadt 2001, ad loc. Zur Sache s. P.A. Brunt, The Fall of the Roman Republic and Related Essays, Oxford 1988, S. 351-381, 382-442, bes. 439ff. Zur steigenden Bedeutung im Prinzipat s. neuerdings E. Hartmann, »›Euer Purpur hat unsere Togen aus dem Dienst entlassen‹ – Zum Wandel des städtischen Klientelwesens im Rom der frühen Kaiserzeit«, Millenium 6 (2009), S. 1–37. Plin. epist. 1, 14, 1f. S. dazu Sherwin-White (o. Anm. 1), ad loc. Zu den genannten Personen s. Birley (o. Anm. 4), S. 76. Plin. epist. 1, 19, 1–4. Die Einleitung zu dem Brief zeigt exemplarisch die Begrifflichkeit, derer sich Plinius in solchen Briefen bediente: Municeps tu meus et condiscipulus et ab ineunte aetate contubernalis, pater tuus et matri et avunculo meo, mihi etiam, quantum aetatis diversitas passa est, familiaris; magnae et graves causae, cur suscipere, augere dignitatem tuam debeam. Plinius und Romatius Firmus besuchten denselben Grammatiklehrer in Comum. S. dazu SherwinWhite (o. Anm. 1), ad loc. Zur Person des Romatius Firmus s. Birley (o. Anm. 4), S. 85. Plin. epist. 6, 8, 1–9. Atilius stammte wohl aus Mailand oder aus Bergamo. Zu den genannten Personen s. Birley (o. Anm. 4), S. 39f., 83. Zu Plinius’ »norditalischer Solidarität« und seinen vielfältigen Beziehungen in die Transpadana s. E. Champlin, »Pliny’s other country«, in: M. Peachin (Hrsg.) (o. Anm. 5), S. 121, 128; S. Mratschek, »Illa Nostra Italia. Plinius und die Wiedergeburt der Literatur in der Transpadana«, in: L. Castagna, E. Lefèvre (Hgg.), Plinius der Jüngere und seine Zeit, Leipzig 2003, S. 219–241, hier 222ff. S. generell auch Reinhard (o. Anm. 6), S. 305ff. zu diesem Aspekt der »Freundschaftsbeziehungen« in vormodernen Gesellschaften: »Häufig werden Transaktionen entlang ganzer Ketten von Freunden abgewickelt. Ein Problem wird von Freund zu Freund weitergetragen, bis es endlich einen erreicht, der die Möglichkeit besitzt, es zu lösen, obwohl ihn vielleicht mit demjenigen, dem die betreffende Schwierigkeit zuerst begegnete, keinerlei direkte Beziehung verbindet.« Zur Bedeutung der Landsmannschaft und zum heuristischen Potential dieser Kategorie bei der Erforschung interpersonaler Nahbeziehungen in vormodernen Gesellschaften s. Reinhard (o. Anm. 6), S. 305ff. Reinhard betont, dass sich Landsmannschaft vor allem dann als »besonders dynamische Kategorie« erweise, wenn bei Führungsgruppen »Stellenvererbung« nicht in Frage komme. »Die Italiener«, so fährt er fort, »haben dafür parallel zu nepotismo, der Bevorzugung von Verwandten, den Ausdruck campanilismo geprägt, der wörtlich Kirchturmpolitik bedeutet, aber etwas anderes meint, als dieser Begriff in unserer Sprache besagen will, denn im Italienischen ist damit die Bevorzugung von Landsleuten gemeint.« Zur Bedeutung D ie S o rg e u m si c h u n d di e an de re n | 53
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der Reziprozitätsverpflichtung und der daraus resultierenden »Unkündbarkeit« dieser Beziehungen s. Saller (o. Anm. 5), S. 13. Zum Einsatz interpersonaler Nahbeziehungen in der Kaiserzeit und zum Bedeutungswandel gegenüber der Republik allgemein s. grundlegend Saller (o. Anm. 5), 25ff. u. ö.; W. Nippel, »Klientel, Gesellschaftsstruktur und politisches System in der römischen Republik«, Humanistische Bildung 22 (2002), S. 137–151, ausführlich zur Forschungsgeschichte und zur aktuellen Debatte; Winterling (o. Anm. 6), S. 298ff.; F. Goldbeck, Salutationes. Die Morgenbegrüßungen in Rom in der Republik und der frühen Kaiserzeit, Berlin 2010, S. 263–281. Plin. epist. 4, 17, 1–7. Zu den genannten Personen s. Birley (o. Anm. 4), S. 43, 51f. Zum Aspekt der Öffentlichkeit und Sichtbarkeit s. auch Winterling (o. Anm. 6), S. 314, der bei der Bewertung der Nahbeziehungen in der Kaiserzeit »eine Schwerpunktverlagerung von der instrumentellen hin zur symbolischen und zur performativen Dimension« diagnostiziert. S. dazu neuerdings auch P. Eich, »Aristokratie und Monarchie im kaiserzeitlichen Rom«, in: H. Beck, P. Scholz, U. Walter (Hgg.), Die Macht der Wenigen. Aristokratische Herrschaftspraxis, Kommunikation und ›edler‹ Lebensstil in Antike und früher Neuzeit, München 2008, S. 125–151, hier S. 145ff. Eich betont, dass aristokratische Betätigung in jedem Fall eine »unmittelbare Öffentlichkeit« verlangte, »die fallweise von den Standesgenossen im Senat«, »den Bewohnern Roms« oder »den Bürgern in Waffen im Heerlager« konstituiert wurde. Plin. epist. 4, 17, 2f.; 10f. Interessant ist hier wiederum die Begrifflichkeit, mit der Plinius seine Beziehung zu Gaius Caecilius Strabo charakterisiert: Est quidem mihi cum isto, contra quem me advocas, non plane familiaris, sed tamen amicitia. S. dazu den Kommentar von SherwinWhite (o. Anm. 1), ad loc. Für eine theoretische und historische Einordnung der Kompatibilität von Freundschaft und Politik s. H. Devere, »Introduction. The Resurrection of Political Friendship: Making Connections«, in: B. Descharmes, E. A. Heuser, C. Krüger, T. Loy (Hgg.), Varieties of Friendship. Interdisciplinary perspectives on social relationships, Göttingen 2011, S. 17–39. Zu der kulturspezifischen »Kumulation und Kombination sich ergänzender und dadurch stützender ›Prominenzrollen‹« in der römischen Republik und der Kaiserzeit s. K.-J. Hölkeskamp, »›Prominenzrollen‹ und ›Karrierefelder‹ – Einleitende Bemerkungen zu Thematik und Begriffen«, in: W. Blösel, K.-J. Hölkeskamp (Hgg.), Von der militia equestris zur militia urbana. Prominenzrollen und Karrierefelder im antiken Rom, Stuttgart 2011, S. 9–27. Zu den Rahmenbedingungen, in die die hier behandelten Fälle einzuordnen sind, s. Saller (o. Anm. 5), S. 30, 46. Plin. epist. 6, 29, 1–3. Zu den Prozessen, bei denen Plinius als Ankläger oder Verteidiger aufgetreten ist s. Plin. epist. 6, 29, 7–11. Plinius’ Einstellung zu dieser Frage wird in folgender Passage besonders deutlich: »Wie freut es mich, daß ich bei meiner Prozeßführung immer nicht nur jede Abmachung, jedes Geschenk, jede Spende, sondern auch alle kleinen Gefälligkeiten zurückgewiesen habe. Man muß freilich das, was unehrenhaft ist, nicht als unerlaubt, sondern als beschämend meiden.« (Plin. epist. 5, 13, 8f.).
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18 Plin. epist. 6, 23, 1–5. Zu den genannten Personen s. Birley (o. Anm. 4), S. 54, 94. 19 Zur Person des Fundanus s. Sherwin-White (o. Anm. 1), S. 291 und 361; Birley (o. Amn. 4), S. 72f. 20 Plin. epist. 6, 6, 1–3. Zum Fall des Iulius Naso s. Goldbeck (o. Anm. 12), S. 265. 21 Plin. epist. 6, 6, 3–7. Der Vater des Iulius Naso besuchte mit Plinius zusammen die Vorlesungen des Quintilian und des Nicetes Sacerdos, den berühmtesten Rhetoriklehrern der Zeit. 22 Plin. epist. 6, 6, 8f. Zur Sache s. P. M. M. Leunissen, »Conventions of Patronage in Senatorial Careers under the Principate«, Chiron 23 (1993), S. 101–120, hier S. 102ff., der betont, in welchem Maße eben auch dignitas und Status des Patrons auf dem Spiel standen. 23 Zu den beteiligten Personen s. den Kommentar von Sherwin-White (o. Anm. 1), ad loc. sowie Birley (o. Anm. 4), S. 58, 88. 24 Plin. epist. 2, 9, 5. Auch hier ist wiederum das Vokabular, dessen sich Plinius hier bedient, aufschlußreich: Omnes me certatim et tamen aequaliter amant, omnibus nunc ego in uno referre gratiam possum. 25 Plin. epist. 2, 9, 1–6. S. Leunissen (o. Anm. 22), S. 104f. 26 Als programmatisch dazu kann die Aussage des Plinius in epist. 1, 17, 2 angesehen werden: Pulchrum et magna laude dignum amicitia principis in hoc uti, quantumque gratia valeas, aliorum honoribus experiri. Zur Sache s. grundlegend Saller (o. Anm. 5), S. 58ff., 74f. u. ö. S. außerdem Leunissen (o. Anm. 22), S. 104ff. und neuerdings auch die Untersuchung von Goldbeck (o. Anm. 12), S. 271, 274 und 278, der am Beispiel der salutatio herausarbeitet, dass interpersonale Nahbeziehungen »gerade für Personen in Kaisernähe« dokumentierten, wer »über tatsächliche Macht verfügte«. Winterling (o. Anm. 6), S. 312 mit etwas anderem Akzent. Er betont die Bedeutung der »in keinem direkten Bezug zur kaiserlichen Gunst stehenden amicitia-Beziehungen« für die symbolische Inszenierung von Rang.
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Bernd Schneidmüller
EINLEITUNG: SORGE ALS WEITES FELD DER MEDIAEVISTIK „Werft all eure Sorge auf ihn, denn er kümmert sich um euch.« (1. Petr. 5,7). Die Einheitsübersetzung des Neuen Testaments nimmt in diesem Vers aus dem Ersten Petrusbrief die griechische und lateinische Differenzierung der Sorge und des Sorgens auf. Die Bibelübersetzung nach Martin Luther fängt diese Spannweite in einem einprägsamen Wortspiel ein: »Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch.« Mittelalterliche Menschen lasen in der lateinischen Vulgata die unterscheidenden Worte von sollicitudo für die drückende Sorge des Menschen und cura für die Fürsorge Gottes (omnem sollicitudinem vestram proiicientes in eum, quoniam ipsi cura est de vobis).1 Kaum ein anderer Bibelvers umgreift die rahmenden Pole unseres Themas so präzis wie diese Worte aus dem Ersten Petrusbrief. Nagender Angst steht liebende Pflege gegenüber. Nicht die lähmende Macht der sollicitudo, sondern die gestaltende Kraft der cura prägt das Streben nach Vollkommenheit in der Verwirklichung des augustinischen Liebesgebots: »Liebe und tue, was du willst« (dilige et quod uis fac). Mit diesen einfachen, aber nicht leicht zu interpretierenden fünf lateinischen Worten beginnt Gert Melville seine Studie über die Herausforderungen der göttlichen Heilsbotschaft an mittelalterliche Menschen. Das Alte und Neue Testament war voller Beispiele und Normen. Sie schärften den Christen die Nächstenliebe ein, den angemessenen Umgang mit der eigenen Seele und dem eigenen Körper, den Dienst an der Gemeinschaft und sogar die Feindesliebe. In solch unerfüllbaren Herausforderungen vollzog und vollzieht sich christliches Leben. Johannes Fried beschreibt in seiner Studie über die Sorge im Kontext von Vollkommenheit die daraus entstehenden Paradoxien. Menschen mussten sich im beständigen Scheitern einrichten und durften trotzdem nicht resignieren. Perfektion war eben irdisch nicht erreichbar. Ihre Fehlerhaftigkeit hielten Christenmenschen nur dank der vergebenden Macht der Kirche oder dank der Kraft der Gnade Gottes aus. In diesem Spannungsgefüge zwischen unerreichbarer Norm und irdischer Begrenztheit bewegt sich das Christentum seit zweitausend Jahren. Das mittelalterliche Jahrtausend entfaltete sich auf dogmatischen Verfestigungen der Antike und bereitete die neuzeitliche Gnadentheologie vor, welche die vergebende Liebe Christi über alle menschlichen Unvollkommenheiten triumphieren ließ. In dieser langen Zwischenzeit des Mittelalters, die in zwei Essays kaum auf S o rge a l s we i t e s Fe l d de r M e di aev i st i k | 59
eindeutige Entwicklungslinien zu reduzieren war, entfalteten sich manche Experimente mit dem Individuum und seiner Verantwortung für die Gemeinschaft, mit der Kreation besserer Gemeinschaften und mit der Sorge, das Haus Gottes wenigstens als Abbild schon ein wenig auf Erden erstehen zu lassen. Verantwortlich waren – Gert Melville greift dafür die prägnante Wortbildung Max Webers auf – jene »Virtuosen des Glaubens«, welche die Wiederkehr Jesu Christi und das göttliche Gericht nicht einfach nur geduldig abwarten wollten. Diese Religiosen gingen daran, die Sorge um die eigene Seele und um die ganze Welt sofort und konkret zu verwirklichen. Darum erbauten sie in Einzelzellen, Kirchen und Klöstern Abbilder vom erwarteten Gottesreich, noch unvollkommen in diesseitiger Beschränkung, aber doch schon etwas näher am Himmel als der Rest.2 Im oszillierenden »Umfeld von Liebestaten zwischen Erotik, Verehrung, Barmherzigkeit, Berechnung, Furcht und vielen weiteren Komponenten« (Gert Melville) kulminierten die Sehnsüchte nach Vollkommenheit in der Verwirklichung von Reinheit und Ernsthaftigkeit. Dabei rangen Exegese und Praxis im Rückgriff auf biblische Vorschriften beständig um das richtige Verhältnis von dilectio, caritas und amor. Doch das Nachdenken über die Nächstenliebe bestimmte den theologischen Diskurs nicht vorrangig. Allerdings wurde immer wieder um Verantwortung und Vorsorge gerungen, für das große Ganze, die engere Gemeinschaft, den eigenen Leib und die eigene Seele.3 Die Seele zum Haus Gottes auszubauen, wurde zu einer zentralen mimetischen Herausforderung des hochmittelalterlichen Mönchtums.4 Die Fürsorge für die Ausgestaltung der klösterlichen Gemeinschaft wie für das Verhältnis von Individuum und Konvent erwuchs zur elementaren Aufgabe aller monastischen Reformen.5 In der Befolgung des Liebesgebots wurden Brücken zu Bedürftigen überschritten, vor allem in der institutionellen Etablierung karitativer Einrichtungen für Bedürftige, für Pilger, für Arme, für Alte, für Ausgegrenzte, für Randgruppen.6 Besondere und eigentümliche Akzente setzte das Mittelalter in der Gewährleistung von Erinnerung als Zukunftsfürsorge. Memoria wurde zur Signatur einer Welt im Kampf gegen das Vergessen.7 Stifter auf allen sozialen Ebenen leisteten beträchtliche Anstrengungen, damit ihr Name in der Gemeinschaft der Lebenden und der Toten nicht unterginge.8 Von der Fürbitte der Nachgeborenen erhoffte man sich Beistand für die langen Wege in die Ungewissheit. Die Bücher des Lebens, die geistliche Gemeinschaften zur Sicherstellung dieser Memoria anlegten, waren der Verheißung der Johannes-Apokalypse nachempfunden, nach der im göttlichen Gericht die im Buch des Lebens verzeichneten Gerechten die Gnade Gottes empfingen.9 Deshalb galt der Sorge um die richtigen Wege zu Gott und zum Bestehen im Jüngsten Gericht allergrößte Aufmerksamkeit – cura wurde zur beständigen Anstrengung im Irdischen zur Bewältigung postmortaler Ungewissheiten. Solche Bemühungen sind vor allem für große Männer und Frauen bezeugt. Als Beauftragte Gottes trugen die Könige und Kaiser Verantwortung für Reich und 60 | Bernd S chne id müll e r
Kirche. Ihr Gottesgnadentum verpflichtete sie geradezu zur beständigen Herrschersorge. Johannes Fried zeigt das an den unermüdlichen Anstrengungen Karls des Großen zur Erfüllung seiner Herrscherpflichten im gesamten Großreich, die 789 in der Admonitio generalis programmatisch zusammengefasst wurden. Ähnlich prägnant ließe sich das auch am Beispiel Kaiser Heinrichs II. entwickeln. In seinen Urkunden verkündete er, dass von einem, dem viel gegeben war, auch viel verlangt werde. Herrschaft erschien ihm als göttlicher Auftrag, »von dessen Erfüllung sein ganzes Seelenheil abhinge«.10 Eine Urkunde von 1005 für St. Adalbert in Aachen formulierte das so: Im reich gefüllten Haus Gottes sind wir, so ist uns bewusst, die obersten Verwalter. Wenn wir die Verwaltung getreu ausführen, werden wir selig werden und, indem wir in die Freuden des Herrn eingehen, dessen Güter besitzen. Wenn wir aber untreu sind, dann werden wir in die Folterkammer hinabgestoßen und bis zum letzten Glied gefoltert werden.11
In seiner Verantwortung für das Haus Gottes (domus Dei) richtete Heinrich einen Großteil seiner Kraft auf die Gründung und Ausstattung seines Bistums Bamberg. Diesem vertraute der kinderlose Kaiser die Memoria für sich, seine Frau Kunigunde und für seine Vorfahren an. In Bamberg wollte er begraben sein. Hier wurde er mehr als ein Jahrhundert nach seinem Tod in die Heiligkeit zelebriert.12 Heinrichs himmlische Glorie lässt sich nur erahnen, sein irdischer Lohn für das Handeln an den Kirchen Gottes ist dagegen augenscheinlich. Wie in einem Brennglas vereinen Leben und Nachleben dieses Kaisers in der Mitte des Mittelalters die beständig treibende Sorge für das eigene Seelenheil und für die Sorge um Reich und Kirche. Doch der Christ wusste im Mittelalter, dass alles Streben nach Vollkommenheit durch Sorgen, Fürsorgen und Vorsorgen nicht zum endgültigen Ziel gelangte. Gewiss konnte man wie Heinrich II. beständig gegen den Absturz in die Folterkammer (tortorium) kämpfen. Doch irdische caritas und cura mussten Stückwerk bleiben. Diese Weisheit hielt schon die Bibelstelle aus dem Ersten Petrusbrief bereit, mit dem wir diesen Kommentar begannen. Nur die Einsicht in irdische Vorläufigkeit half hier weiter. Demut (humilitas) war der Schlüssel zum Glück: »Beugt euch also in Demut unter die mächtige Hand Gottes, damit er euch erhöht, wenn die Zeit gekommen ist.« (1. Petr. 5,6). Dafür sollte der Mensch in der Nachfolge Christi seine sorgenvolle Unruhe auf Gott werfen, denn nur ihm gelang die vollkommene Sorge (cura) um die Menschen. Auf dieser biblischen Grundlage lehrte die mittelalterliche Theologie zwar die Endlichkeit allen Fürsorgehandelns. Gleichzeitig forderte sie beständige Sehnsucht nach Vollkommenheit ein, deren Unerreichbarkeit nur in Demut auszuhalten war. Aus diesem Spannungsverhältnis resultierten die vielen Aufbrüche S o rge a l s we i t e s Fe l d de r M e di aev i st i k | 61
mittelalterlicher Menschen zu Gott, zu sich selbst und zu den Nächsten. Dass die Geschichte von Kirche und Welt immer nur Stückwerk auf dem Weg zur Vollkommenheit blieb, spornte an.
A n m e r kunge n 1 Vgl. R. Feldmeier, Der erste Brief des Petrus (Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament 15/I), Leipzig 2005, S. 162–164. 2 G. Melville/B. Schneidmüller/S. Weinfurter (Hgg.), Innovationen durch Deuten und Gestalten. Klöster im Mittelalter zwischen Jenseits und Welt (Klöster als Innovationslabore. Studien und Texte 1), Regensburg 2014. 3 G. Melville, »Im Spannungsfeld von religiösem Eifer und methodischem Betrieb. Zur Innovationskraft der mittelalterlichen Klöster«, Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig 7 (2011), S. 72–92; J. Dücker, »Vorstellungen von Gemeinschaft und sozialer Ordnung. Zum Innovativen in dominikanischen Schriften des 13. Jahrhunderts«, in: M. Breitenstein/S. Burkhardt/J. Dücker (Hgg.), Innovation in Klöstern und Orden des Hohen Mittelalters. Aspekte und Pragmatik eines Begriffs (Vita regularis. Abhandlungen 48), Berlin 2012, S. 197–214. Zur cura corporis G. Zimmermann, Ordensleben und Lebensstandard. Die Cura Corporis in den Ordensvorschriften des abendländischen Hochmittelalters. Unveränderter ND zum 75. Geburtstag hrsg. von U. Knefelkamp, Berlin 1999; K. Oschema, »Die ganze Person. Körper als Medium sozialer Authentizität im Mittelalter«, in: W. G. Schmidt (Hrsg.), Körperbilder in Kunst und Wissenschaft, Würzburg 2014, S. 167–190. 4 M. Breitenstein, »Der Traktat ›Vom inneren Haus‹. Verantwortung als Ziel der Gewissensbildung«, in: Breitenstein/Burkhardt/Dücker (Hgg.) (o. Anm. 3), S. 263–292. 5 G. Melville, Die Welt der mittelalterlichen Klöster. Geschichte und Lebensformen, München 2012. 6 M. Pauly, Peregrinorum, pauperum ac aliorum transeuntium receptaculum. Hospitäler zwischen Maas und Rhein im Mittelalter (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte 190), Stuttgart 2007; N. Bulst/K.-H. Spiess (Hgg.), Sozialgeschichte mittelalterlicher Hospitäler (Vorträge und Forschungen 65), Ostfildern 2007; G. Drossbach (Hrsg.), Hospitäler in Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankreich, Deutschland und Italien. Eine vergleichende Geschichte – Hôpitaux au Moyen Âge et aux Temps modernes. France, Allemagne et Italie. Une histoire comparée (Pariser Historische Studien 75), München 2007; B. Laqua, Bruderschaften und Hospitäler während des hohen Mittelalters. Kölner Befunde in westeuropäisch-vergleichender Perspektive (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 58), Stuttgart 2011. 7 K. Schmid/J. Wollasch (Hgg.), Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter (Münstersche Mittelalter-Schriften 48), München 1984; D. Geuenich/O. G. Oexle (Hgg.), Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 111), Göttingen 1994; O. G. Oexle 62 | Bernd S chne id müll e r
(Hrsg.), Memoria als Kultur (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 121), Göttingen 1995. 8 M. Borgolte, Stiftung und Memoria, hrsg. von T. Lohse (StiftungsGeschichten 10), Berlin 2012; M. Borgolte (Hrsg.), Enzyklopädie des Stiftungswesens in mittelalterlichen Gesellschaften, Bd. 1: Grundlagen, Berlin 2014. 9 Das neutestamentliche »Buch des Lebens« v. a. in Apoc. 3,5; 17,8; 20,12–15. Zum Mittelalter D. Geuenich/U. Ludwig (Hgg.), Libri vitae. Gebetsgedenken in der Gesellschaft des Frühen Mittelalters, Köln/Weimar/Wien 2015. 10 S. Weinfurter, Heinrich II. Herrscher am Ende der Zeiten, Regensburg 32002, S. 82. 11 MGH. Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser, Bd. 3: Die Urkunden Heinrichs II. und Arduins, Hannover 1900–1903, Nr. 99, S. 123f. Deutsche Übersetzung von Weinfurter, Heinrich II. (o. Anm. 10), S. 82. 12 B. Schneidmüller, »Die einzigartig geliebte Stadt – Heinrich II. und Bamberg«, in: J. Kirmeier/B. Schneidmüller/S. Weinfurter/E. Brockhoff (Hgg.), Kaiser Heinrich II. 1002–1024. Katalog zur Bayerischen Landesausstellung 2002 (Veröffentlichungen zur bayerischen Geschichte und Kultur 44/2002), Augsburg 2002, S. 30–51.
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Johannes Fried
SKIZZENHAFTE ÜBERLEGUNGEN ZUR SORGE IM KONTEXT VON VOLLKOMMENHEIT 1 Meine Damen und Herren! In einiger Verlegenheit trete ich vor Sie. Mich bedrückt die Sorge, nichts Neues bieten zu können. Selbst das hochtrabende Wort »Prolegomena zu Sorge im Kontext von Vollkommenheit« wäre fehl am Platze. Ich gebe einige splitterhafte, unfertige Überlegungen zum Besten, betrachte allgemein vertraute Beispiele und rufe bekannte Phänomene in Erinnerung; und das alles in zufälliger, geradezu willkürlicher Auswahl, so wie ich auf sie gestoßen bin. Das hat mit Vollkommenheit nichts zu tun. Die folgenden Bemerkungen stellen deshalb bestenfalls einen fragmentarischen, vielleicht auch nur einen gescheiterten Versuch dar, über Sorge im Kontext von Vollkommenheit zu reflektieren. Die Überlegungen, die ich vortragen werde, bedienen sich biblischer und neutestamentlicher Aussagemuster. Ich bin aber weder Theologe noch Kirchenhistoriker, in Theologicis vielmehr blutiger Laie. Aber für das Mittelalter stehen keine anderen Muster als eben diese der heiligen Schriften zur Verfügung. Zudem kann ich mich aus Zeitgründen ausschließlich dem früheren Mittelalter zuwenden. Thomas von Aquin etwa spielt bei mir überhaupt keine Rolle. Im frühen Mittelalter gibt es – von Heiligenleben abgesehen – nur normative Texte, keine oder nahezu keine erzählenden Darstellungen, die sich mit »Sorge« in einem speziellen oder allgemeinen Sinne auseinandersetzen. Sehe ich recht, so ergingen sich die Gelehrten der hier ins Auge gefassten Epoche, also des früheren Mittelalters bis ins 9. und 10. Jahrhundert, in keinen theoretischen Reflexionen über anthropologische Bedingungen der Sorge. Sie begnügten sich bei dem, was sie zum Gegenstand ausführten, mit ethischen, gelegentlich normativen Überlegungen und Forderungen. Erst in späterer Zeit wird sich dies ändern. Eine Ausnahme sei allerdings nicht verschwiegen: die Vita Karls des Großen von Einhard. Sie bringt tatsächlich vier Beispiele von Fürsorge. Karl habe sich hinsichtlich ihrer Erziehung in so großer Sorge um seine Söhne und Töchter gekümmert, dass er niemals ohne sie zu speisen oder zu reisen wünschte: tantum in educando curam habuit. Da saßen die Knaben und Mädchen also an seinem Tisch und begleiteten ihn auf seinen Fahrten durch das Reich und auf Kriegszügen, gerade auch die Töchter. Ihre Erziehung dürfte in diese Fürsorge mit eingeschlossen gewesen sein. Sodann, die zweite Sorge des Königs: Er liebte die Fremden (peregrini) und zwar: in eis suscipiendis magnam habebat curam, in der Aufnahme von ihnen legte Karl also größte Sorge an den Tag und zwar so nachhaltig, »dass ihre Anzahl 64 | Johannes Fr ie d
dem Reich tatsächlich lästig schien« (c. 21). Auch sorgte sich Karl um die Liturgie: curabat magnopere. So hieß es im Blick auf die Aachener Pfalzkirche (c. 26). Endlich kümmerte der Kaiser sich – curavit – um die Armen und um Christen unter muslimischer Herrschaft. Letzteres führte zu erheblichen Geldsendungen in das Heilige Land, zumal nach Jerusalem und dem Heiligen Grab. Das ist gewiss ein breites Spektrum von Sorge, aber eben nicht nur von privater Fürsorge, vielmehr von Sorge um den religiösen Kult, um Schutz und Festigung des Glaubens und der Kirche, um die Fremden, die zumeist Gelehrte waren, mithin also Sorge um die Bildung und ihrer Erneuerung, endlich Sorge um das Heilsziel Jerusalem. Es zeigten sich darin zugleich Ansätze zur Institutionalisierung dieser königlichen Sorge, insofern etwa Schulen eingerichtet, Klöster und Kirchen geschützt werden sollten. Das »Sorge-Thema« ist freilich mit Erziehung, Religion, Bildung oder Fremdenschutz keineswegs erschöpft, aber mit Karl ist der Zeitraum aufgewiesen, dem ich mich im Folgenden in erster Linie zuwenden werde. Ich beginne mit einer Frage: »Hast du die Sorge nie gekannt?« (Goethe, Faust II, 5. Akt, »Mitternacht«). Mephisto fragt es. In der Tat, die Sorge hat viele Gesichter, auch teuflische. Der intellektuelle, sich als künftiger Sieger fühlende Mephisto winkt geradezu lauernd seinem irdischen Herrn mit der Sorge – seinem Herrn, der gegen alle menschlichen Gefährdungen immun zu sein schien. Die Sorge aber kann auch einen Dr. Faust überfallen, ergreifen, beherrschen. Die Sorge, der Zweifel, die Verzweiflung. Diese teuflische, nagende, angsteinflößende »Sorge«, lateinisch weniger sollicitudo als vielmehr timor, desiderium, dubitatio, scrupulositas, concupiscentia, cupiditas, aviditas oder wie auch immer, diese Sorge soll Goethes Held nicht gekannt haben? Keines ihrer Gesichter? Nicht Gier, nicht Ehrgeiz, nicht Zweifel, nicht Angst? Keine Beklemmung, dolor, tristitia? Angor taucht einmal in einem Brief Hadrians I. an Karl den Großen auf. Die Wortbelege verdanke ich meinem alten deutsch-lateinischen Heinichen von 1873. Dort finden sie sich unter dem Lemma »Sorge«. Neben derartiger Sorge, neben tristitia, angor etc., gibt es eine andere Sorge, eine zuversichtliche, eine schenkende, eine nicht nagende, eine spendende Sorge, Fürsorge, cura, sollicitudo, vielleicht caritas. Benevolentia freilich begegnet in meinen Belegen nicht; das ist ein bemerkenswertes Symptom. Denn Cicero, dessen De officiis den Begriff kannte und am Hof Karls des Großen verfügbar gewesen sein dürfte, verwandte das Wort. Statt seiner wurden Begriffe christlich-neutestamentlicher Sprache eingesetzt. Die mephistotelische Frage hat also eine eigentümliche Spannung zwischen aviditas oder cupiditas hier und caritas da – um nur die äußersten Pole dieses großen semantischen »Sorge«-Feldes anzudeuten. Bestätigung findet der Sachverhalt durch Notker Teutonicus, einen beachtlichen Kenner der lateinischen Sprache kurz vor der Jahrtausendwende. Er benutzte S k izze nha f t e Ü b e r l e gunge n zur S o rge im Kont ex t von Voll kom m e n h e i t | 65
das althochdeutsche sórga, also das neuhochdeutsche »Sorge«, als Interpretament für lateinisch cura (auch für cura mordax oder cura noxia, also für die tödliche, die verfolgende Sorge), benutzt sórga ferner für perturbatio und fluctus mentis (mithin für Verzweiflung), weiter für sollicitudo. Das Verb sórgên steht bei Notker für sollicitare, curam gerrere, vereri, für timeri, pertimescere oder für formidare,2 also die schlimmsten Formen von Furcht, von Angst, von Getriebensein durch Angst. Dieser Reichtum umschließt das semantische Feld cura bei Notker Teutonicus. Derartige besorgte Angst entfernt sich deutlich von der Sorge im Kontext von Vollkommenheit, erst recht vom Streben nach Vollkommenheit. Allenfalls Gottesfurcht weist in diese Richtung. Wie also stand es um das Streben nach »Heil«, nach den eigenen, prinzipiell »letzten«, dringendsten Prioritäten, die jeder für sich selbst setzen mochte, gemäß seinen eigenen Vorstellungen von Ziel, Perfektion und Vervollkommnung? Derartiges Streben nach »Heil« kannte gleichfalls die zwei Seiten: die cupiditas, die Gier nach weltlichem Reichtum, Glück, Erfolg (derentwegen konnte man auch im Mittelalter grau werden vor Sorge) und das Streben nach Seligkeit. Zugespitzt könnte man das Verhältnis von Vollkommenheit und Sorge zueinander bestimmen wie das Ziel und das Movens, den Motor, um das gesteckte Ziel zu erreichen. Dabei bedient sich die Sorge der verschiedensten Mittel, um ans Ziel zu kommen: die der Predigt, der Geduld, des Tadels, der Ermahnung, des Mitleids, der »Liebe«, der Schelte, der Buße, der Reform, aber auch der Ausbeutung, des Betrugs, der unrechten Gewalt, des Raubes oder des Krieges. Vor allem der Apostel Paulus verdeutlichte diesen Zusammenhang. Er erhob immer wieder die Perfektionsforderung: »im Verständnis aber seid vollkommen« (sensibus autem perfecti estote, 1. Kor. 14,20) und noch knapper: »seid vollkommen« (perfecti estote, 2. Kor. 13,11). »Paulus« aber vereinte die Vervollkommnung durchaus mit Sorge um menschliches Tun: »Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit, dass ein Mensch Gottes sei vollkommen, zu allem guten Werk geschickt.« (Omnis scriptura divinitus inspirata utilis est ad docendum, ad arguendum, ad corripiendum, ad erudiendum in iustitia, ut perfectus sit homo Dei, ad omne opus bene instructus. 2. Tim. 3,16f.). Gerechtigkeit lehren, predigen, zu ihr erziehen, das führt den Menschen zur Vollkommenheit. Doch es genügt noch nicht. Super omnia autem […] caritatem [habete], quod est vinculum perfectionis. (Kol. 3,14). Über allem stehe die Liebe; sie ist das Band der Vollkommenheit, der Inbegriff christlicher (Für-)Sorge. Lateinische Interpretamente für »Vollkommenheit« (aus demselben schon zitierten Nachschlagewerk) verdeutlichen wiederum eine erhebliche semantische Spannbreite: von der perfectio, der integritas, der absolutio oder verbal des ad perfectionem pervenire bis hin zu beatitudo, der Seligkeit. Daneben gibt es natürlich 66 | Johannes Fr ie d
die Vollendung der Bosheit, der Verworfenheit, Verdammnis, der Gottverhasstheit. Der zuletzt genannte positive Begriff – beatitudo – verweist im Kontext des semantischen Feldes von »Sorge« wiederum auf einen grundsätzlichen Dualismus und eine Dichotomie der Fragestellung. Auf der einen Seite spielen anthropologische, individualistische Dimensionen eine Rolle, auf der anderen Seite handelt es sich um kulturelle, kollektive oder soziale Phänomene. Ich werde auf beide kurz eingehen. Zunächst die anthropologische Frage: Sie ist im lateinisch-christlichen Mittelalter von der Religionspraxis nicht zu trennen und gilt der Sorge um das eigene ewige Heil und der dazu führenden eigenen Vervollkommnung. Die Sorge um Vollkommenheit oder vielleicht genauer: die Sorge um Vermeidung ihres Gegenteils – der Verworfenheit – ist wohl die am stärksten kulturstiftende psychische Komponente der mittelalterlichen christlichen Kultur. Bedrängen mochten die Forderungen der Apostel und Evangelien; in ihrer Kenntnis wurde die Frage immer wieder aktualisiert: Kann der gläubige Christ auf Erden Vollkommenheit verwirklichen? Kann er es aus eigener Macht oder Kraft? Welche Art Sorge wäre »weltlicher« Vollkommenheit angemessen? Raffgier oder Liebe? Wie werde ich reicher, mächtiger oder glücklicher hier, auf Erden? Wie kann ich hier selig werden? Diese Fragen weckten im Mittelalter nagende Sorgen – dubitatio oder timor, aber auch die Nächstenliebe, Fürsorge, caritas. Sie drängten zu Stiftungen, zur Gründung von Klöstern, Kirchen, zu Armenspeisungen, Hospitälern, Schulen, bewirkten Bildung und formten die gesamte Kultur. So förderte im Mittelalter – anthropologisch betrachtet – das Verlangen nach Vollkommenheit: das Streben nach Seligkeit, nach Heiligkeit, nach Lohn im Jenseits, nach dem ewigen Leben in den Freuden des Paradieses eben durch Wohltaten auf Erden. Indes, unser aller Urvater Adam hatte das Paradies verspielt. Damit war die Möglichkeit, aus eigenen Mühen Vollkommenheit zu erreichen, in Frage gestellt. Anders formuliert: Mit Adams Sturz, mit der Notwendigkeit der göttlichen Heilstat, wurde die Sorge geweckt. Durfte man fürderhin noch Vollkommenheit erwarten? Führte alles Sorgen, alles Wollen ohne Gottes helfende Gnade nur zum Bösen? Wie erlange ich einen gnädigen Gott? War der Mensch des Guten, des guten Willens überhaupt fähig? Ich will dieses Fragenbündel nicht weiter vertiefen. Das gesamte Prädestinationsproblem sieht sich damit aufgeworfen. Versuchung und Sündenfall und dessen Innewerden erscheinen als Ursache jedes Verlangens, aller Sorge – der teuflischen wie der anagogischen, der das Leben genießenden wie der ernsten theologischen. Ein eigentümliches psychologisches Erklärungsmuster zeichnet sich für das Mittelalter ab. Die individuellen und kollektiv wirksamen psychischen Spannungen sehen sich in Transzendenz gebettet, um ihrer deutend Herr zu werden. Die Sorge um jede Art von Vervollkommnung sah sich der spannungsreichen EinwirS k izze nha f t e Ü b e r l e gunge n zur S o rge im Kont ex t von Voll kom m e n h e i t | 67
kung übermenschlicher Mächte ausgeliefert – Gott oder dem Teufel. Als Begehren zur Sünde (voluptas), als Gottverlangen zum Heil. Ein besonders schönes Beispiel für die Spannung von Gottverlangen und voluptas findet sich in der Benediktsregel. Sie setzt wiederholt das desiderium carnis, also das Verlangen nach körperlichem Wohlbefinden und anderen verwerflichen desideria, dem spirituellen Leben entgegen. Die Sünde und das Verlangen danach stehen der Vollkommenheit und der intentional von ihr gelenkten caritas entgegen. Doch wer ist frei von Sünde und Versuchung? Solche Ungewissheit musste die Sorge erhöhen. Alsbald drängen sich theologische Fragen auf: Wie kann die Sünde überwunden werden, wenn ein und dasselbe Vermögen, eben das Verlangen, zum Heil oder zum Untergang führen kann? Wie kann der Einzelne gegen die Sünde bestehen? Was soll ich tun? Eine Antwort fand man in Jesu Seligpreisungen. Sie entpuppen sich freilich als ein ganzes Bündel von »Sorge-Stiftern«. Wie kann ich schwacher Mensch diesen Preisungen genügen, diesen Entsorgungsstrategien? Selig sind die Barmherzigen, selig sind, die reinen Herzens. Wer außer den Heiligen ist rein im Herzen? Wer kann es sein? Selbst Benedikt, selbst Franziskus kannten die Versuchung im Herzen und haben deswegen gehandelt, wie sie handelten. Beati qui persecutionem patiuntur propter iustitiam. Selig die, die um der Gerechtigkeit willen Verfolgung erleiden; selig die Friedfertigen. Im Mittelalter fanden sich diese Sätze regelmäßig zitiert. So zog – nur dieses Beispiel – die große Mainzer Synode des Jahres 813 aus der Seligpreisung Beati pacifici normative Folgerungen für die Lebensordnung ihrer Gegenwart. In ihnen spiegelten sich die aktuellen Sorgen der Synodalen. Den Seligpreisungen folgt im Matthäusevangelium eine Serie von Verhaltensanweisungen, wie man selig werden kann. Etwa: Liebet eure Feinde. Indes, wie soll das möglich sein? Was ist Liebe? Mir kommt der Ketzerkreuzzug von 1209 in den Sinn. Da wurde Feuer an die Kathedrale von Béziers gelegt, obwohl sich in ihre festen Mauern auch rechtgläubige Katholiken vor der Kriegsfurie gerettet hatten. Verbrennt sie alle! Gott kennt die Seinen! So wurden die Kreuzritter zum Töten ermuntert. War das Liebe? Die Aufforderung zur Feindesliebe erweist sich als in höchstem Maße widersprüchlich. Sie weckte Sorge über Sorge, zeitigte damals im Jahr 1209 eine eigentümliche Mischung aus Sorglosigkeit und bedrängender Sorge: Kümmert euch nicht, handelt gläubig, Gott sorgt für das Rechte! Diese Mischung aus Sorglosigkeit und Sorge steckt in der christlichen Anweisung zur Vollkommenheit. Tatsächlich folgt im Anschluss an die Seligpreisungen ein wunderbares Jesuswort, das kaum erfüllbar ist. Estote ergo vos perfecti, sicut et Pater vester perfectus est. („Seid also so vollkommen, wie euer Vater vollkommen ist.«). Wie soll ich armseliger Mensch göttliche Vollkommenheit erreichen können? »Seid vollkommen!« Im Plural und jeder Einzelne. Vollkommen ist also, wer den Seligpreisungen zu folgen vermag und gott-väterliche Ebenbildlichkeit erreicht. Doch die Heilssorge 68 | Johannes Fr ie d
verlangt konkretes Handeln: »Wenn du vollkommen sein willst – geh, verkaufe, was du hast und gib es den Armen und du wirst einen Schatz im Himmel erwerben!« (Si vis perfectus esse, vade, vende, quae habes, et da pauperibus, et habebis thesaurum in caelo; et veni, sequere me. Mt. 19,21). »Geh und folge mir nach!« Die Sorge um Vollkommenheit verlangt die Nachfolge Christi. Samaritertum ist nicht jedermanns Sache. Entäußerung all dessen, was ich lieb gewonnen habe im Leben, kann zu Radikalisierung führen, sei es in der Armutsforderung, sei es in der Verzweiflung. Beides findet sich im Mittelalter. Verzweiflung aber kann zur Absage an Gott führen. Man könnte darüber nachdenken, ob diese Spannung durch die kaum erfüllbaren Gebote christlicher Ethik einen Grund lieferte für den welthistorischen Erfolg des Islam. Die islamische Ethik kennt keine Gottes-Nachfolge, erleichtert also den Eintritt ins Paradies. Die Stichworte timere und dubitare weisen auf noch eine andere semantische Ebene der Forderung nach Vollkommenheit. Sie gilt der Seelenstärke. Jesu Aufforderung an Petrus, über das Wasser zu gehen, empfiehlt sich nicht zu wörtlicher Befolgung. Habete, so sprach der Herr, als Petrus zögerte, »habete fiduciam, […] nolite timere (Mt. 14,27). Habt Vertrauen und sorgt euch nicht um ein mögliches Scheitern. Das Scheltwort an Petrus verschärft die Forderung: Modicae fidei, quare dubitasti? (Mt. 14,31). Du hast kein Vertrauen. Warum lässt du deinen Glauben von Sorge zermürben? Zweifel also: die Aufhebung der Zuversicht. Auch darin artikuliert sich Sorge. Der Glaube fördert Vollkommenheit, der Zweifel verstärkt die Sorge. Gerade so wie in der verlangten Sorglosigkeit gegenüber dem eigenen Leib: Ihr sollt euch nicht kümmern, was ihr essen werdet, wie ihr euch kleiden werdet usw. (Mt. 6,25). Nur eine einzige Sorge besitzt unabänderliche, gleichsam überweltliche Gültigkeit. Sie folgt den zurückgewiesenen Sorgen um Leib und Leben, um heute und morgen: Sorgt euch, so heißt es nun, um das Gottesreich – regnum Dei – und um Gottes Gerechtigkeit – iustitiam eius […] nolite ergo solliciti esse in crastinum (Mt. 6,33f.). Denkt nicht an morgen. Vollkommenheit erscheint als Entäußerung aller weltlichen Belange. Ich lasse die mittelalterliche Exegese der zitierten Evangelistenworte, die Kommentare zum Matthäusevangelium mit Einschluss der Glossa ordinaria beiseite. Ich verweise aber auf Fürstenspiegel, die ethische Konsequenzen aus den religiösen Forderungen ziehen, etwa auf die Schrift »Über die zwölf Mißstände der Welt« (De XII abusivis saeculi), einen Fürstenspiegel, der um 700 in Irland entstand und in der Zeit Karls der Großen das Frankenreich erreichte. Der vierte Missstand lautet: Wenn der Reiche nichts verteile, wenn er geizig sei, was nütze ihm dann alle diligens cura auf Erden, wenn er darüber das Himmelreich verlöre?3 Aber wie ist eine seligmachende diligens cura auf Erden möglich? Zur Antwort wird Mt. 19,21 zitiert: Wenn du vollkommen sein willst: geh und verkaufe alles S k izze nha f t e Ü b e r l e gunge n zur S o rge im Kont ex t von Voll kom m e n h e i t | 69
usw. Ein Weg des Einzelnen zur Vollkommenheit führt über die Fürsorge für die Armen. Vollkommenheit durch die Liebe. Niemand sah Gott bislang. Doch wenn wir uns wechselseitig lieben (1. Joh. 4,12), dann ist Gott in uns und diese Liebe in uns ist vollkommen caritas eius in nobis perfecta est. Solche Reziprozität der Liebe mündet in vollkommene Gottesliebe. Vollkommenheit erscheint als ein in Gottesliebe auf Wechselseitigkeit angelegter Gemeinschaftsbund. Daraus lässt sich die These entwickeln: Die höchste, zu Vollkommenheit führende Sorge eines Christenmenschen artikuliert sich in der Wechselseitigkeit der caritas. Noch einmal: Was ist Liebe? Die Antwort lautet nun: Das Streben nach Vollkommenheit in wechselseitiger Nächstenliebe. Sie ist zugleich Vollendung der Gottesschau. Denn Gott ist die Liebe. Auch dieses Johannes-Wort wird von der Mainzer Synode 813 zitiert. Die Zeitgenossen interpretieren auf diese Weise die ihnen passenden Bibelstellen, setzen sie entsprechend zur Normfindung und als Legitimationsstrategie ein. Diese Liebe verweist aber nicht zuletzt auf die Zukunft, auf das Kommen der Endzeit, des Jüngstes Gerichts. Auch dazu äußerte sich der erste Johannesbrief (1. Joh. 4,17): Darin nämlich sei die Liebe Gottes zu uns vollkommen, dass wir fiduciam habeamus in die iudicii, dass wir Vertrauen haben sollen am Tag des Gerichts. Timor, Angst, Sorge, die ängstliche Sorge, die treibende Sorge non est in caritate – so heißt es in Vers 18 desselben Briefes –, sondern die vollkommene Liebe vertreibt den timor. Perfecta caritas foras mittit timorem. Andernfalls fehlt die Vollkommenheit in der Liebe. Qui autem timet, non est perfectus in caritate. Keine alttestamentliche Stelle, glaube ich, handelt so eindringlich von der menschlichen Vollkommenheit und dem Verlangen nach ihr, wie diese wenigen neutestamentlichen Sätze. Das Streben nach Vollkommenheit ist schlechthin christliche Heilslehre, weil Vollkommenheit in sich selbst nichts Solipsistisches ist, sondern karitativer Gemeinschaftsbund mit Gott. Sätze wie die zitierten präfigurieren mittelalterliche, menschliche, gesellschaftliche Wahrnehmungstypen. Sie sind normative Lebensanweisungen und zugleich semantische Aussagemuster. So trifft man immer wieder im sozialen Kontext auf perfectus, perfectio, timor, cura, sollicitudo, caritas und deren weites semantisches und begriffliches Umfeld und findet dazu auch immer wieder die entsprechenden Verben der Sorge, der sorgenden Intention, der Fürsorge und eines gesegneten Lebens. Leicht flossen den Autoren dabei die Vorgaben der heiligen Schriften in die Feder. Es ist eben ein Aussagemuster, das ihnen an die Hand gegeben war. Das klingt zusammengenommen recht optimistisch. Gleichwohl sind Schwierigkeiten erkennbar. Das Mittelalter war gleichsam nur eingeschränkt optimistisch. Einer der härtesten, desillusionierenden Texte aus der Zeit nach Zeit Karl dem Großen floss aus der Feder Lothars von Segni, des späteren Papstes Innozenz III.: 70 | Johannes Fr ie d
De miseria conditionis humanae. Es ist ein Elend, Mensch zu sein. »Was soll ich sagen, Mutter! Warum hast du mich geboren, mich, den Sohn der Bitternis und des Schmerzes?«4 Adam wurde aus Erde geformt. »Du aber (Mensch) aus Samen, aus unreinem Sperma.« »In Sünden empfing mich meine Mutter.«5 Und so ging es fort. Sünde, Sünde, wohin man schaute. »Der Herr Gott formte den Menschen aus dem Lehm der Erde, dem nichtigsten der Elemente. Die Sterne schuf er aus Feuer, die Winde aus Luft, Fische und Vögel aus Wasser, den Menschen aber und die Tiere aus Erde.«6 Elend über Elend. »Kampf (militia) ist das Leben des Menschen auf Erden«;7 Dämonen und Mitmenschen lauern, um jeden zu verderben. Das alles aber geschieht aus eigener Schuld: Denn unstillbare Gier beherrscht den Menschen,8 Sorge also um das Falsche. Alle Todsünden überantworten den Menschen der Verdammnis. In solcher Sicht war an Vollkommenheit aus eigener Kraft nicht zu denken. »Jede gute Gabe, jedes vollkommene Geschenk kommt von oben, steigt herab von dem Vater des Lichts; was unwürdig ist, ist menschlicher Unvollkommenheit beizumessen.« Auch das lehrte der künftige Papst und zwar in seiner Exegese der hl. Messe.9 In dieser Schrift urteilte er freundlicher über den Menschen. Das eben erneut sachte angeklungene Thema von Gnade und Prädestination kann auch jetzt nicht aufgegriffen werden, obgleich mit Gottschalk von Sachsen (oder Orbais) ein bemerkenswerter, karolingerzeitlicher Autor dazu befragt werden könnte. Gleichwohl versteckt sich in der Prädestinationslehre das größte Problemfeld für die Sorge im Kontext von Vollkommenheit. Kann der Mensch aus eigener Entscheidung das Gute wollen? Gottschalk fand eine erschreckende, von den Zeitgenossen verdammte Antwort: Die Menschen unterlägen einer doppelten Prädestination, einer zum Guten und einer zum Bösen. Die Gnade Gottes aber kann kein Sorgen erzwingen, wenn Gott es nicht lenke. Das frühere Mittelalter blickte gewöhnlich nicht so skeptisch wie Gottschalk oder wie Innozenz III. auf den Menschen. Es äußerte sich zuversichtlicher. Vollkommenheit und Seligkeit schienen ihm durchaus erreichbar zu sein. Wichtigste Empfehlungen verwiesen auf Askese, auf das Mönchtum und das Gebet. Sie erschienen als der Heilsweg schlechthin und gaben sich als Gabentausch auf persönlicher und auf institutioneller Ebene. Angst vor dem Gericht ließ etwa ein Kloster stiften, die Mönche sollten für das Heil des Stifters und für ihr eigenes beten. Dafür floss ihnen die Gabe des Klosters mit seiner wirtschaftlichen Ausstattung zu. Die Wechselseitigkeit dieses Gabentausches ist sicher eine der stärksten kulturstiftenden Faktoren der Karolingerzeit und weit darüber hinaus. Wie man im Kloster zu leben habe, schrieb frühzeitig die Regula magistri vor. Sie benannte die gebotenen Normen mit Verben und Begriffen der Sorge, der Fürsorge für das eigene Leben und das Seelenheil der Stifter. Frühmittelalterliche Memorialbücher, gelegentlich als Liber vitae bezeichnet, hielten tausende von StifS k izze nha f t e Ü b e r l e gunge n zur S o rge im Kont ex t von Voll kom m e n h e i t | 71
ter- und Beter-Namen fest und dokumentierten auf diese Weise die ungeheure gesellschaftliche Relevanz des Gebetswesens für die Stifter und ihre Mitmenschen. Schon in der Regula magistri wurden die Mönche darauf verwiesen, entsprechend vorbildlich zu leben, nicht den leichten Weg zu wählen, sondern die schweren Verpflichtungen des Gemeinschaftslebens auf sich zu nehmen als Schutz eigener Schwäche, um die desideria voluptatis zähmen zu können. Sie sollten sich nicht ihnen, sondern dem Gebot eines geistlich Höheren, dem Abt unterwerfen. Gehorsam erscheint als Heilsweg gegen irdisches Verlangen, als Heilsweg jedenfalls für den Mönch, ein Gehorsam zur Realisierung rechter Heilssorge. Helfende Anweisungen fehlten nicht: Wenn du den Gipfel der Demut erreichen und damit ad exaltationem caelestem, zur himmlischen Seligkeit, gelangen willst, dann baue dir deine Jakobsleiter und steige sie Sprosse um Sprosse nach oben bis zum Ziel. Die Regula Benedicti griff das Bild auf. In ihm spiegelte sich ein Handeln, das sich der Sorge vor dem Bösen verdankt. Die Benediktsregel erkennt – ähnlich der Magisterregel – in der humilitas das Mittel zur Errichtung dieser Jakobsleiter, das Instrument also der Vervollkommnung in Sorge vor den voluptatibus und deren zerstörender Macht. Zur Vollkommenheit gelangt der Mönch, auch das lehrt die Benediktsregel, durch die genaue Befolgung der doctrinae sanctorum patrum, der Lehren der Kirchenväter und der heiligen Schriften. Damit erreicht er die celsitudo perfectionis. Die Regel gibt sich so geradezu als ein Handbuch zur Bewältigung der Sorge und zur Erreichung der Vollkommenheit. Das Schlusskapital verlangt denn auch die vollständige Befolgung der Regeln: hanc regulam perfice; »diese Regel vollziehe« (c. 73). Der Mönch soll also und kann in der klösterlichen Gemeinschaft sein Verlangen nach Vollkommenheit verwirklichen. Dieses Verlangen, diese Sorge soll aber gesellschaftlich fruchtbar werden, nämlich durch Fürsorge für die anderen durch das Gebet. Selbstheiligung wirkt als Effizienzsteigerung des kollektiven Memorialgebetes. Auf diesen Effekt weist die Regel zwar nicht eigens hin, doch er entspricht dem Heilsbedürfnis der frühmittelalterlichen Gesellschaft, die diese Klöster stiftete und die Mönche in sie einwies. Ein bekanntes Beispiel aus der Zeit Karls des Großen kann diese Aufgabe verdeutlichen: Walahfrids Visio Wettini. Sie beschrieb eine Vision, die der sterbende Mönch Wetti im Kloster Reichenau hatte, als er etwa zehn Jahre nach Karls des Großen Tod den Kaiser am Läuterungsberg schrecklichste Qualen erleiden sah. Wetti rsp. Walahfrid schlossen an deren Schilderung die Aufforderung an die Mitmönche an, in Christi Namen demütig zu werden und zu beten. Dem winke das Heil, den diese Sorge erfülle: cui cura subintrat. Die Vision sollte tatsächlich das Memorialgebet fördern. Immer wieder scheint auch timor als Handlungsmotiv auf. Das ganze Mönchsdasein gibt sich hier als eine einzige Sorge um den Eintritt in den Himmel und zwar für Beter und Stifter. 72 | Johannes Fr ie d
Derartige Sorge also führte zu Klostergründungen und Kirchenstiftungen, ja überhaupt zu religiösen Stiftungen jeder Art. Sie zeitigte Frömmigkeitsformen wie die laus perennis, den ständigen Gebetsgesang, den die Mönche rund um die Uhr mit wechselnden Chören aufführten, verfestigte die Kontinuität des Gebetsgedenkens, die memoria, verbreitete Gebetsverbrüderungen, die Klöster, Kleriker und Laien zusammenschlossen, um wechselseitiges Gebetsgedenken zu pflegen. Solche Sorge ließ endlich die bereits erwähnten libri vitae entstehen, die Lebens- und Gedenkbücher, in die die Verbrüderten eingeschrieben wurden und aus denen Gott die Frommen erkennen möge, wenn es zum Gericht kommt. All das sind Formen, die im 8. Jahrhundert entstanden, in der Zeit Karls des Großen, die sich dann im 9. und 10. Jahrhundert weit ausbreiteten und große Wirkung erzielten. Auf weltlicher Seite sind vergleichbare Töne zu vernehmen. Mit ihnen wollen wir uns vollends der kulturellen Seite der Sorge um Vollkommenheit zuwenden. Da bat wohl im Jahr 802 ein Graf Wido, der gerade als Gewaltbote des Königs für die Gegend von Tour entsandt war, den großen Alkuin, damals Abt in Tour, um Verhaltensempfehlungen für seine Tätigkeit. Der Angelsachse verfasste eine kleine Schrift, die weite Verbreitung finden sollte; noch heute sind um die 140 Handschriften erhalten: De virtutibus et vitiis liber ad Widonem comitem. »Ich erinnere mich«, so antwortete der Gebetene, deiner Bitte und meines Versprechens, in knappen Worten einige Empfehlungen für deine Tätigkeit aufzuzeichnen, die – wie ich weiß – dich mit Streitigkeiten befassen lässt, damit du die väterlichen Mahnworte gleich zur Hand haben kannst. Du solltest ihrer eingedenk sein und dich durch sie zum Streben nach ewiger Seligkeit anhalten lassen. Gerne komme ich einer so löblichen Bitte nach und wünsche mir, dass meine Sätze deinem ewigen Heil dienlich seien. Ich weiß, dass du mit vielen weltlichen Angelegenheiten befasst bist. Deshalb bitte ich dein Heilsstreben, dieses Schreiben regelmäßig zu lesen, damit dein Geist, von äußeren Mühen erschöpft, zu sich selbst zurückkehren und erkennen kann, was ihn erfreut und wohin er streben soll. Bereite dir durch großzügige Almosen, durch Gerechtigkeit der Richter und der Urteile, durch stete Barmherzigkeit in unermüdlichem Wollen die Wohnstätte himmlischer Glorie.10
Der gelehrte Mann verwies den Grafen, der zu Visitationen in eine agonale Umwelt aufbrach, auf die Sorge um ewiges Heil, derer er ständig eingedenk sein sollte: Bereite dir durch großzügige Almosen, durch Gerechtigkeit der Richter und der Urteile, durch stete Barmherzigkeit in unermüdlichem Streben die Wohnstätte himmlischer Glorie. Es gibt heute wohl keine vergleichbare Anweisung verfassungsrechtlicher Art, die einem Richter höherer Instanz gilt, die in gleicher Weise auf ethische, ausschließlich auf ethische Fragen, und nicht auf institutionelle KonS k izze nha f t e Ü b e r l e gunge n zur S o rge im Kont ex t von Voll kom m e n h e i t | 73
ditionierungen eingeht. Fragen der Art: »Wie spricht man Recht?«, »Wie wähle ich die Richter aus?« fielen für Alkuin ganz unter den Tisch. Ihm war allein das Gebot der caritas, der Almosen, der Gerechtigkeit, der Barmherzigkeit als Aufgabe des politisch Handelnden von Bedeutung das höchste Maß der Sorge. Es war dieselbe Botschaft, die das Muspilli-Lied (v. 15ff.), jene althochdeutsche, für ein Laienpublikum verfasste Dichtung vom Jüngsten Gericht und dem Ende der Welt, verkündete: Das Paradies sei der Ort, so heißt es da: selida ano sorgun, »der Seligkeit ohne Sorgen«. Darum ist jeder Mensch so sehr darauf angewiesen, daß ihn sein Herz dazu antreibt, Gottes Willen mit freudigem Einverständnis zu tun und die Glut der Hölle ängstlich (harto) zu meiden. Dort wartet der uralte Satan mit heißer Flamme. Das sollte erwägen, mit Sorge bedenken (sorgen drato), wer sich sündig weiß.11
Dann winkt ewige Freude: Denne ni darf er sorgen, denne er ze deru suonu quimit („Dann muss er sich nicht sorgen, wenn er zum Gericht geht« (v. 65). Die Sorge um das ewige Heil begründete die Sorge der Herrschenden um Gerechtigkeit, auf die er in reziprokem Gabentausch dann auch beim Jüngsten Gericht hoffen darf. Ich ende mit einem kursorischen Blick auf die cura pastoralis Gregors des Großen, auf die Sorge nämlich des geistlichen Hirten, die ihn gegenüber seiner Gemeinde, seiner Herde erfüllen soll. Sie ist wenigstens in ihren Schlussteilen der kulturellen Perspektive des Sorge-Themas und des Strebens nach Vollkommenheit verpflichtet. Die »Hirtensorge« begann mit Gregors Eingeständnis der Nachlässigkeit und implizierte die um so dringlichere Mahnung zu öffentlichem Einstehen für solche Sorge: Pastoralis curae me pondera fugere delitescendo voluisse […] reprehendis („Du tadelst zu Recht, dass ich durch Verstecken die Lasten der Hirtensorge fliehen wollte«). Vierfach wird dann die Lehre unterbreitet: Wie das culmen regiminis, mithin den Gipfel von Herrschaft und Leitungsgewalt, ohne Sünde erlangt werden solle; wie, wer dorthin gelange, leben solle; wie, wer dann recht lebt, zu lehren habe; wie endlich der recht Lehrende täglich seiner Hinfälligkeit (infirmitas) eingedenk sein solle.12 Jener eingangs angesprochene Dualismus begegnet freilich auch hier: die Sorge nämlich um das Gemeinwohl und die Sorge um die eigene Vollkommenheit. Denn beide ergänzen einander, gehen ineinander über, bedingen einander. Die Hirtensorge teilt sich durch eigenes Vorbild den Untergebenen mit. Gefahren lauern freilich allenthalben: cura regiminis cor per diversa intuendo diverberat. Sie peinigt, spaltet das Herz, bewirkt Konfusion.13 Das dritte Buch weist im ersten Kapitel 36 Admonitiones auf, wie nämlich die einzelnen Menschen, Stände und Bedürftigen »nach der Qualität der Hörer« predigend zu mahnen und zu belehren seien.14 74 | Johannes Fr ie d
Mit solchen Mahnungen erweisen sich diese Admonitiones für den Prediger als ein einziges Sorgenbündel. Da heißt es etwa: Cum sancta quis studet dicere, curet – necesse est – illicitas suggestiones edomare: »Wer Heiliges sagen wolle, trage unbedingt Sorge, unrechte Gedanken zu bändigen.«15 Wie aber kann, wer Sünde anprangert, Nicht-Sündiges denken? Das knappe, nur ein Kapitel umfassende vierte Buch besteht in der einzigen Sorge (magna cura necesse est), sich nicht selbst zu überhöhen. Es ließe sich leicht aufweisen, wie diese Schrift auf Karls des Großen Reformerlasse einwirkte, angefangen mit den Kapitular von 779 über die zehn Jahre jüngere Admonitio generalis zu der berühmten Epistula generalis, dem Lehrschreiben, das die Sorge um eine bessere Bildung im Kloster anmahnte, bis hin zu den Reformsynoden seit der Frankfurter Synode von 794 und nach der Kaiserkrönung. Alle diese Erlasse sind immer wieder von »Sorge« erfüllt und geleitet. »Da uns«, so Karl durchaus programmatisch, »die göttliche Milde unablässig in Krieg und Frieden schützt, […] deshalb wollen wir, da wir Sorge tragen (quia cura nobis est), den Stand unserer Kirchen ständig zu verbessern, die durch die Nachlässigkeit unserer Vorfahren nahezu vergessene Aufgabe der Wissenschaft (litterarum officina) mit wachem Eifer erneuern (reparare […] satagimus) und – so viele wir können – durch unser Beispiel zu eindringlichen Studien der freien Künste anhalten.«16 Der aufmerksame König sorgt sich um Verbesserung: nos […] solerti […] curamus.17 Noch zuletzt verwies die große Synode von Mainz im Jahr 81318 eigens auf die Befolgung der »Hirtensorge«. Auch Karls Nachfolgeordnungen für sein Königtum sind von »Sorge« geleitet. »Die göttliche Milde«, so erläuterte die Reichsteilung von 806, »erleichterte durch unsere drei Söhne die Sorge um die von Vergesslichkeit bedrohte Zukunft«: Divina clementia […] per (tres filios) […] curam oblivioni obnoxiae posteritatis leviorem fecit.19 Solche Sorge konzentrierte sich nicht nur auf die Geistlichkeit oder auf kirchliche Belange im engeren Sinne. Gerade vom gerechten König wird erwartet, »dass er für alle seine Untertanen die Leitungsaufgabe (rectoris officium) wahrnimmt (procuret). So forderte die erwähnte Schrift De XII abusivis saeculi.20 Als Inhalt königlicher Sorge werden beispielsweise verzeichnet: Iustitia, neminem opprimere, Fremde, Waise und Witwen schützen, furta prohibere, adulteria punire, iniquos non exaltare, impios de terra perdere, ecclesias defendere, patriam defendere, in Deo confidere und anderes. An diesen Tugenden wird jeder Herrscher gemessen, und die Sorge um ihre Verwirklichung soll jeden guten Herrscher leiten. Es bewirkt die Vermittlung individueller Qualitäten an die Gemeinschaft. Karl befolgte die Mahnung. Das lange Proömium zur Admonitio generalis bekundete es: Wir bedenken in friedfertiger Einsicht frommen Geistes gemeinsam mit den Priestern und unseren Räten die überfließende Milde Christi, des Königs, gegen uns und unser Volk, S k izze nha f t e Ü b e r l e gunge n zur S o rge im Kont ex t von Voll kom m e n h e i t | 75
bedenken auch, wie notwendig es sei, Ihm nicht nur mit ganzem Herzen und dem Mund fromm zu danken, sondern durch fortwährende gute Werke in Seinem Lobpreis fortzufahren, auf daß Er, der unserem Königtum so große Ehren erwies, uns und unser Königtum auf ewig Seinen Schutz zu gewähren erwürdige: Deshalb gefiel es uns, eure Aufmerksamkeit, ihr Priester der Kirchen Christi und Führer ihrer Herde, ihr helle Leuchten der Welt, zu bitten, in wacher Sorge und emsiger Mahnung das Gottesvolk zur Weide ewigen Lebens führen zu wollen und die verirrten Schafe auf den Schultern wahrer Vorbilder und Lehren in die Mauern kirchlicher Sicherheit zurückzutragen, damit der gierige Wolf keines von ihnen finde, das die kirchlichen Gebote verletzte oder die väterlichen Überlieferungen der universalen Konzile übertrat, und – fern sei es! – verschlinge.
Die Sorge des Hirten erinnert offen an die cura pastoralis Gregors des Großen. Karl folge, so hieß es in der Admonitio weiter, dem Vorbild des heiligen Josias, des biblischen Königs, der das Reich umfuhr, das Gott ihm verliehen hatte, um zu bessern und zu mahnen und den Kult des wahren Gottes zu erneuern. Nicht, dass er, Karl, sich Heiligkeit anmaße, wohl aber geselle er sich den Heiligen zu, weil er allenthalben, so gut er könne, ihrem Vorbild an Eifer für ein gutes Leben zu Preis und Ruhm Jesu Christi folgen wolle. Verben also der Sorge und Fürsorge: »umfahren«, »bessern«, »mahnen«, »nacheifern« kennzeichneten die Königsaufgabe. Bald darauf erinnerte Theodulf von Orléans den König an das schon zitierte, zur Vollkommenheit weisende »Paulus«wort (2. Tim. 3,16f.): Omnis scriptura divinitus inspirata utilis est ad docendum, ad arguendum, ad corripiendum, ad erudiendum in iustitia, ut perfectus sit homo Dei, ad omne opus bene instructus. Die heiligen Schriften seien nützlich zur Belehrung, zur Rede, zur Korrektur und zur Erziehung zu Gerechtigkeit. Die zuletzt angeführten Zeugnisse belegen, wie weit die Sorgethematik sich bis in die Herrschaftssphäre hineinzog. Es handelte sich tatsächlich in einem umfassenden Sinn um Sorge für das Gemeinwohl, nicht etwa um den Spezialfall der caritas. Wohl aber beherrschten Sorge, auch Angst vor dem Jüngsten Gericht die gesamte Thematik. Jene kleine Schrift über die zwölf Missstände fasste es knapp zusammen. Hat Karl der Große ihren Sinn verinnerlicht, so muss er seine ganze Herrschaftszeit in Angst verbracht haben. Der anonyme Autor drohte nämlich, dass dem, der herrsche, im Jüngsten Gericht die Gesamtheit aller Sünden seiner Untertanen in seinem Reich aufgebürdet werde. Karl war sich jedenfalls der dieser Drohung immanenten Verpflichtung bewusst. Ein Kapitular nach dem anderen wandte sich, vermehrt in seinen letzten Jahren, der Sündenminderung in seinem Reich zu. Schon der große Erlass von 789, die Admonitio generalis, schloss, wir sagten es, mit dem Hinweis auf das Jüngste Gericht; dieser begleitete Karl geradezu über seine gesamte Herrschaftszeit: »Wir wissen alle, das Jüngste Gericht steht kurz bevor. Wir müssen aufpassen, dass wir da bestehen könne.« Diese kon76 | Johannes Fr ie d
tinuierliche Sorge vor dem Bestehenkönnen im Jüngsten Gericht war auch für Karl der Antrieb für Liebe, für Frieden, für Gerechtigkeit und überhaupt für die Verwirklichung christlicher Herrschaft. Der tiefste Grund der Sorge war demnach das Jüngste Gericht. sorgen mac diu sela, unzi diu suona arget,21 »Sorgen muss sich die Seele, bis die Entscheidung fällt«. Karl der Große handelte aus dieser Sorge: Die Admonitio generalis endete in der Tat mit dem Appell zu einem auf das Gericht zulebenden Handeln: »Deshalb, ihr Lieben, bereiten wir uns im Wissen der Wahrheit, damit wir den Gegnern der Wahrheit Widerstand leisten können und das Wort Gottes wachse.« Die erste Person schloss den König mit ein. »Friede den Predigern, Gnade den Gehorsamen, Ruhm unserem Herrn Jesus Christus. Amen!«
A n m e r kun ge n 1 Durchgesehene Abschrift nach der elektronischen Aufnahme des Vortrags. Für diese Abschrift danke ich Karena Weduwen. Die Vortragsform wurde im Wesentlichen beibehalten. Auf Belege musste verzichtet werden, soweit sie nicht in knappster Form integriert werden konnten; sind sie nicht verzeichnet, finden sie sich leicht in meiner Monographie: Karl der Große. Gewalt und Glaube, München 2013. Weitere Literaturhinweise fielen dem Skizzenhaften der nachstehenden Überlegungen zum Opfer. 2 Vgl. E. H. Sehrt, Notker-Glossar. Ein Althochdeutsch-Lateinisch-Neuhochdeutsches Wörterbuch zu Notkers des Deutschen Schriften, Tübingen 1962, s. v. 3 De XII abusivis saeculi, hrsg. von S. Hellmann, Leipzig 1909, S. 38. 4 Lothar von Segni, De misera humanae condicionis, lib. 1, c. 1, in: Patrologia latina, Bd. 217, Sp. 701–762, hier 701. 5 Ebd., lib. 1, c. 3, Sp. 703. 6 Ebd., lib. 1, c. 2, Sp. 703. 7 Ebd., lib. 1, c. 20, Sp. 712. 8 Ebd., lib. 2, c. 7ff., Sp. 720f. 9 Übersetzung: F. von Hurter, Papst Innozenz des Dritten sechs Bücher von den Geheimnissen der heiligen Messe, Schaffhausen 1845, S. 3. 10 Ediert in: Patrologia latina, Bd. 101, Sp. 613–638, hier Sp. 613f. 11 Muspilli, in: Althochdeutsche Literatur. Ausgewählte Texte mit Übertragungen, hrsg., übers. und mit Anm. versehen von H. D. Schlosser, Frankfurt a. M. 1970. 12 Liber regulae pastoris, hrsg. von F. Rommel (Sources Chrétiennes, Bd. 381f.), Paris 1992. 13 Ebd., lib. 1, c. 4. 14 Ebd. lib. 3, prol. 15 Ebd., lib. III,1,26. 16 Monumenta Germaniae Historica, Capit. 1, Nr. 30, S. 80, 22–8. S k izze nha f t e Ü b e r l e gunge n zur S o rge im Kont ex t von Voll kom m e n h e i t | 77
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Ebd. Monumenta Germaniae Historica, Conc. 2,1, c. 16, S. 265. Monumenta Germaniae Historica, Capit. 1, Nr. 45 pr., S. 127, 3–4. De XII abusivis saeculi (o. Anm. 3), S. 51. Muspilli (o. Anm. 11), v. 6.
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»LIEBE UND TUE, WAS DU WILLST!« – EINE HERAUSFORDERUNG FÜR DEN MITTELALTERLICHEN MENSCHEN Es scheint so einfach gewesen zu sein im christlichen Mittelalter, als die Menschen von der Bibel und den Kirchenvätern lernten, dass nach der Liebe zu Gott die Liebe zum Nächsten das höchste Gebot sei und dass man unweigerlich alles richtig mache, wenn man es befolge. Mit »Liebe und tue, was du willst!« (dilige et quod uis fac)1 hatte Augustinus eine scheinbar ganz schlicht klingende Formel für den Weg zu einer Vollkommenheit der Liebe gefunden, die alles eröffne und alles ermögliche, was gut sei. Doch betrachtet man die Verhältnisse genauer, so zeigten sich die Menschen des Mittelalters gerade in ihrer Haltung gegenüber dem Gebot der Nächstenliebe erstaunlicherweise als recht disparat und in Gesamtheit weit davon entfernt, es hierbei trotz insistierender Antriebe seitens der Hüter des Glaubens zu einer gewissen Vollkommenheit zu bringen. Allein jener Satz »Liebe und tue, was du willst!« schon bedurfte eines besonderen Zugangs.2 Kaum eine Äußerung in der christlichen Überlieferung scheint stärker zur zügellosen Willkür, zur Sprengung jeglicher Regel aufgerufen zu haben als jener. Doch darum war es gerade nicht gegangen. Nicht der zweite Teil der Aussage ist der entscheidende, sondern der erste mit seiner unabdingbaren Fokussierung auf dem Imperativ »liebe!«. Was nach Willkür klingen mag, ist die absolute Einbindung des Handelns in eine gegenüber menschlicher Gesetzeskraft höherrangige Verhaltensnorm, der unterstellt wird, dass sie wiederum nur eine ganz bestimmte Handlungsweise hervorbringen lässt: Man könne nicht die Liebe in sich haben und zugleich Böses tun, unterstrich Augustinus und zeigte analog, dass alles Handeln, das mit Liebe geschehe, unweigerlich zum Guten führe: Schweigst du, so schweige aus Liebe; rufst du, so rufe aus Liebe, verbesserst du, so verbessere aus Liebe; bist du nachsichtig, so übe Nachsicht aus Liebe. Die Wurzel [des Handelns] bleibe innerhalb der Liebe, [dann] kann aus dieser Wurzel nichts anderes als Gutes entstehen.3
Das Eingangszitat ist also zu ergänzen: Liebe und tue, was du willst, denn es kommt dabei immer nur Gutes für jeden anderen Menschen heraus. Ein solcher » Li e be u n d t u e , was du wi ll st ! « | 79
Satz klingt verlockend und kann zu einer Ethik der Nächstenliebe anstoßen, die wiederum zu einer vollkommenen Ordnung der gegenseitigen Sorge, der Rücksichtnahme und Unterstützung, der Harmonie und des Friedens führen würde. Diese spektakuläre Qualität verlieh jenem Satz dann auch eine beträchtliche Rezeption während des gesamten Mittelalters. Insbesondere suchte man ihn einzufügen in eine Ordnung höheren Ranges. Denn es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Inhalt jenes Satzes, vordergründig gesehen, der Lebenswelt immanent blieb und er somit durchaus veranlasste zu fragen, warum man überhaupt dazu bewegt wird zu lieben, und wie und wen man zu lieben habe. Der Satz spricht nur eine positive Folge des Liebens an, nicht ein tiefer liegendes Motiv, nicht das Objekt und auch nicht die Form. Lieben kann man durchaus auch etwas Schädliches oder Schändliches, Liebe muss nicht altruistisch sein, vielmehr kann man der egoistischen Eigenliebe verfallen sein, und schließlich oszilliert das Umfeld von Liebestaten zwischen Erotik, Verehrung, Barmherzigkeit, Berechnung, Furcht und vielen weiteren Komponenten. Das benützte Wort diligere spezifizierte in dieser Hinsicht nicht. Augustinus selbst zog zur entsprechenden Klärung in seinem Werk De civitate Dei mehrere Bibelstellen heran, »weil einige meinen, dilectio oder caritas sei[en] etwas anderes als amor«. Und er fuhr fort: Denn sie behaupten, dilectio sein in einem guten, amor in üblem Sinne zu verstehen. Doch es steht fest, dass nicht einmal die weltlichen Schriftsteller die betreffenden Worte so gebrauchen. Mögen immerhin die Philosophen zusehen, ob und wie sie hier einen Unterschied machen sollen, auf jeden Fall bekunden ihre Schriften, dass sie auch die amor genannte Liebe, wenn sie sich auf gute Dinge und auf Gott selbst richtet, hochschätzen. Doch es mußte klargelegt werden, dass auch die Schriften unser Religion, deren Ansehen wir über alle anderen stellen, zwischen amor, dilectio und caritas nicht unterscheiden.4
Zuvor aber hatte er einleitend etwas Entscheidendes aufgezeigt, bei dem es tatsächlich um die gesuchte Verankerung von Nächsten- und Selbstliebe ging: »Dessen Vorsatz es ist, Gott nicht dem Menschen gemäß zu lieben, sondern den Nächsten wie auch sich selbst Gott gemäß zu lieben, der wird ohne Zweifel wegen dieser Liebe als eines guten Willens bezeichnet.« Nichts anderes besagt dies als die Tatsache, dass eine reine Nächstenliebe für sich keine Bedeutung habe, sondern dass sie nur Sinn ergebe in ihrer Transzendenz auf den zu liebenden Gott. Thomas von Aquin brachte dies dann in seiner »Theologischen Summe« (II, II, 25, 1) mit scholastischer Schärfe auf den Punkt: »Der Grund aber, den Nächsten zu lieben, ist Gott; denn das müssen wir im Nächsten lieben, dass er in Gott sei. Daher ist es klar, dass der Akt, mit dem wir Gott lieben und mit dem wir den Nächsten lieben, ein und derselbe Akt ist.« Damit aber ist die Freiheit, zu tun, was man will, wenn 80 | Gert Melville
man nur liebt, erklärt und gerechtfertigt: Es sind die Gottesliebe und dann die aus ihr entfaltete Nächstenliebe, die diese Freiheit ermöglichen, denn als göttlich Verankertes stehen sie über jeglicher menschlicher Regulierung. Mit dem Bezug auf 1. Tim. 1,9, »Das Gesetz ist nicht für die Gerechten da«,5 benennt Augustinus analog zu seinem Satz »und tue, was du willst« eine Konsequenz solch vollkommenen Liebesverhaltens, welches gesetzlos sein kann, weil es eingebettet ist im Recht des Allerhöchsten. Augustinus hatte damit in struktureller Verdichtung nachvollzogen, was im Markusevangelium (12,28–34) durch den Bericht über den Dialog eines Schriftgelehrten mit Christus über die höchsten Gebote bereits vorgezeichnet war: Ein Schriftgelehrter […] fragte ihn: Welches Gebot ist das erste von allen? Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden. Da sagte der Schriftgelehrte zu ihm: Sehr gut, Meister! Ganz richtig hast du gesagt: Er allein ist der Herr, und es gibt keinen anderen außer ihm, und ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer. Jesus sah, dass er mit Verständnis geantwortet hatte, und sagte zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes.
Rituelle Opferungen sind ebenso wie äußerlich korrekte Beobachtungen von Gesetzen systemkonform. Sie folgen Normen, weil es die Aufrechterhaltung der Ordnung verlangt, aber sie verlangen selbst keine Liebe bei ihrer Befolgung. Gott jedoch soll man lieben »mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft«, und so ist es bei vollkommenem Gelingen dieser Liebe nur folgerichtig, Rituale und Gesetze letztendlich fahren zu lassen. Das Gleiche gilt – wie Augustinus durch die deduktive Verknüpfung beider Liebesgebote gezeigt hat – für die Nächstenliebe, die nicht äußerlichen Gesetzen, Gewohnheiten und Konventionen gehorcht, sondern dem inneren Willen, anderen Menschen gut zu sein, weil man Gott gut sein will. Paulus – und auf ihn berief sich auch Augustinus – hat die Notwendigkeit von Liebe für ein gutes Handeln am Nächsten mit sehr drastischen Worten hervorgehoben: »Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts.« (1. Kor. 13,4f.). Weil eine solche Liebe aus dem Inneren des Einzelnen erwachsen muss und es nicht reicht, ihr im Ritual äußerlicher Akte Genüge zu leisten, ist sie ein nicht einfach zu erwerbendes Gut. Es bedarf – wie oben schon angeklungen – der Willensbereitschaft zur Abgabe von Eigenem und zum Verzicht der allein dieser Welt » Li e be u n d t u e , was du wi ll st ! « | 81
innewohnenden Werte zugunsten einer Sehnsucht nach dem Göttlichen. Ja, es bedarf sogar der emotional stupenden Wendung von Hass in Liebe, denn in der Bergpredigt hatte Christus das Gebot der Nächstenliebe erweitert: Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet. (Mt. 5,43–48).
Der Satz »Liebe und tue, was du willst!« ist also primär keine freiheitseröffnende Aussage, sondern – wie oben schon angesprochen – eine, die in ein Spektrum höchster Ansprüche an eine innere Haltung einbindet und jegliches Böse, Gewalttätige und Hassvolle zu beseitigen gebietet. Dementsprechend konnte Liebe als ein durchaus zu gebrauchender Universalschlüssel zum richtigen, also guten Handeln vor allem jenen Frauen und Männern des Mittelalters erscheinen, die die Welt verlassen hatten und die in einer klösterlichen Gemeinschaft nach der Vervollkommnung ihres Tuns und Denkens strebten, um sich der ewiger Seligkeit in Gott zu nähern – den »Virtuosen des Glaubens« also, wie Max Weber6 definierte. Schon die älteste derjenigen Klosterregeln, die über das Mittelalter hinweg von maßgeblicher Bedeutung blieben – die Regel des Augustinus –, brachte dies zum Ausdruck, als sie ihren Text mit jenen zentralen Bibelzitaten einleitete: »Vor allem, liebe Brüder, soll Gott geliebt werden, sodann der Nächste; denn das sind die Hauptgebote, die uns gegeben sind.«7 Die ihr an Wirkung nicht nachstehende Benediktsregel setzte an hervorgehobener Stelle – dort nämlich, wo es gleich zu Beginn um »die Werkzeuge der geistlichen Kunst« ging – die analoge Aussage: »Vor allem: Gott, den Herrn, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Ebenso: Den Nächsten lieben wie sich selbst.« (c. 4, 1f.). Diese grundlegenden Gebote richteten sich hier wie ein Fanal speziell an diejenigen, welche die Suche nach der Erlösung ihrer Seele zu perfektionieren trachteten, indem sie gemeinschaftlich ihr Selbst Gott in unabdingbarer Liebe hingaben. »Aus ganzem Herzen kann der Mensch nichts lieben außer Gott allein«, hieß es zum Beispiel auch im Liber de doctrina8 des Stephen von Muret, einem Werk aus dem 12. Jahrhundert, das die Spiritualität mittelalterlichen Klosterlebens signifikant wiedergab. Als Voraussetzung zum Gewinn dieser Gottesliebe bedurfte es der wechselseitigen Liebe unter den Gefährten, mit denen man in Gemeinschaft lebte. So ist es nicht erstaunlich, dass die genannten Regeln das Gebot der Nächstenliebe durch weitere Normen zu vertiefen suchten. Die Regel des Augustinus setzte ihren Einleitungssatz demgemäß mit folgenden präzisierenden Worten fort: »Das Erste, warum ihr in Gemeinschaft zusammenlebt, ist, einmütig im Haus zu wohnen, und 82 | Gert Melville
ein Herz und eine Seele zu sein auf Gott hin.«9 Die Benediktsregel öffnete mit gleicher Zielsetzung sogar einen ganzen Fächer an sozialen Verhaltensnormen, die an die Praktizierung von Gottes- und Nächstenliebe gebunden waren: Wie es einen bitteren und bösen Eifer gibt, der von Gott trennt und zur Hölle führt, so gibt es den guten Eifer, der von den Sünden trennt und zu Gott sowie zum ewigen Leben führt. Diesen Eifer sollen also die Mönche mit glühender Liebe [amor] in die Tat umsetzen; das bedeutet: Sie sollen einander in gegenseitiger Achtung zuvorkommen; ihre körperlichen und charakterlichen Schwächen sollen sie mit unerschöpflicher Geduld ertragen; im gegenseitigen Gehorsam sollen sie miteinander wetteifern; keiner achte auf das eigene Wohl, sondern mehr auf das des anderen; die Bruderliebe [caritas fraternitatis] sollen sie einander selbstlos erweisen; in Liebe sollen sie Gott fürchten; ihrem Abt seien sie in aufrichtiger und demütiger Liebe [caritas] zugetan. Christus sollen sie überhaupt nichts vorziehen. Er führe uns gemeinsam zum ewigen Leben. (c. 72).10
Doch auch in anderen normativen Basistexten des Klosterlebens nahm die gegenseitige Liebe einen zentralen Platz ein. So definierte beispielsweise das Grunddokument des Zisterzienserordens aus dem frühen 12. Jahrhundert, die Carta Caritatis (»Urkunde der Liebe«) ihren Zweck selbst aus dieser brüderlichen Liebe heraus: In diesem Dekret bestimmten die genannten Brüder und legten für ihre Nachfahren fest, um einem künftigen Bruch des gegenseitigen Friedens vorzubeugen, durch welchen Vertrag, auf welche Art und Weise, ja vielmehr mit welcher Liebe ihre Mönche, dem Leibe nach auf Abteien in verschiedenen Weltgegenden verstreut, dem Geiste nach unzertrennbar miteinander vereint bleiben sollten. Diesem Dekret wollten sie den Namen Carta Caritatis geben, denn es schließt jede Belastung durch Abgaben aus und hat so allein die Liebe und das Wohl der Seelen in göttlichen und menschlichen Dingen zum Ziel.11
Oder es postulierte zum Beispiel die erste Regel des Franziskus von Assisi, die brüderliche Liebe seiner Jünger im Geiste des Evangelisten Johannes: Und sie sollen sich gegenseitig lieben, wie der Herr sagt: ›Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, wie ich euch geliebt habe.‹ [ Joh. 15,12]. Und sie sollen die Liebe, die sie zueinander haben, im Handeln zeigen, wie der Apostel sagt: ›Lasst uns nicht mit dem Wort und der Zunge lieben, sondern in Tat und Wahrheit.‹ [1. Joh. 3,18].12
Vor dem Hintergrund solcher Aussagen hat folgende prägnant zusammenfassende Feststellung im Historischen Wörterbuch der Philosophie durchaus ihre Richtigkeit: »In Abhebung vom Ethos der Antike, bei dem die Gerechtigkeit im Vordergrund steht, rückt das Christentum die N[ächstenliebe] ins Zentrum des ethischen Den» Li e be u n d t u e , was du wi ll st ! « | 83
kens und Handelns.«13 Daraus aber ist eine gravierende Folgerung ziehen, die mit jenen Zitaten aus dem klösterlichen Bereich keineswegs abgedeckt ist: Die christliche Botschaft kann sich nicht allein auf die Schar jener Gerechten beziehen, die bei erreichter Vollkommenheit dann aufgrund ihrer Liebesfähigkeit der Gesetze nicht mehr bedurften. Oder anders gesagt: Nicht nur den »Virtuosen des Glaubens«, den Menschen also in den Klöstern, sollte die Nächstenliebe Gebot und zugleich Schlüssel zum Reich Gottes sein, sondern jeder Christ musste sich ihr verpflichtet fühlen. Und hier zeigt sich einmal mehr, welche schwierige Aufgabe das absolute Liebesgebot darstellte bzw. wie stark jenes »liebe!« als Verpflichtung jeden Einzelnen normativ einband und wie sehr es eine ethische, mehr noch: eine religiöse Forderung darstellte, deren Einhaltung im lebensweltlichen Handeln des mittelalterlichen Menschen stets prekär und eher unwahrscheinlich gewesen zu sein schien. Um diese kurz zu erläutern, sei zunächst ein kurzer Blick auf die Einstellung zur körperlichen Gewalt geworfen, denn diese steht sicherlich im denkbar äußersten Gegensatz zur Nächstenliebe – erkennbar allein dadurch, dass Christus den Feindeshass, der Gewalt erzeugt, ins Leere laufen lassen wollte mit seiner Empfehlung »Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin.« (Lk. 6,29). Im Mittelalter – jener Epoche, die vergleichsweise am stärksten vom christlichen Glauben geprägt war – zeigte sich auf den ersten Blick mehr Gewalt als Nachsicht und Barmherzigkeit, mehr Grausamkeit als Erbarmen. Und beides begnügte sich nicht damit, als eine innerweltliche Obsession aufzutreten, sondern beanspruchte sogar noch eine sublimierende Transzendenz des Tuns, indem es oft genug unter Berufung auf die Wiederherstellung der gestörten Ordnung Gottes daherkam.14 Dazu nur ein Beispiel aus dem Bereich der Ketzerbekämpfung: Unter dem militärischen Oberbefehl Ludwigs (nachmalig des achten seines Namens als König von Frankreich) wurde während eines Feldzuges gegen die Albigenser im Jahre 1219 nahezu die gesamte Bevölkerung der Stadt Marmande massakriert, und die Schlächter sahen Gewalt als Vollzug einer rächenden Ordnung, wussten sich im Willen Gottes handelnd, und die beobachtende Welt akzeptierte dies und hieß es gut.15 Es war dies kein einzelner Fall einer solchen, allen sichtbaren Demonstration. Wer hinausging auf die öffentlichen Plätze, konnte »live« bei Hinrichtungen diejenigen sterben sehen, die auf ihren eigenen Glauben bestanden und somit nicht mehr tolerierbar geworden waren. Doch auch die Strafen für einen Gesetzesbrecher erscheinen in ihrer unbeschreiblichen Grausamkeit nicht minder als ein bestialisches Ritual der Gewalt. Und wer in die Ghettos der Juden ging, der konnte die sehen, von denen geschrieben worden war, sie hätten gerufen: »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder« (Mt. 27,25); und allzu oft konnte er sie vor den Augen aller hingeschlachtet auffinden, weil der gekreuzigte Christus gerächt werden musste. Man mag solche unfassbaren und nicht im Mindesten versteckten Exzesse von körperlicher Gewalt mit dem Sachverhalt zu erklären suchen, dass der Gewalt ein 84 | Gert Melville
gleichsam magischer Charakter dergestalt zugemessen worden war, dass sie hier nach einem Vergehen »reinigte« und die Ordnung wiederherstellte, hierfür aber der Visualisierung vor der Rechtsgemeinschaft und damit deren Partizipation bedurfte. Man mag neben diesen archaischen Erklärungen auch stärker rationalen Argumenten des Mittelalters folgen und gewaltsames Handeln unter der Perspektive sogar des Liebesgebotes und der Fürsorglichkeit sehen: Schutz von Bedrängten, Durchsetzung des Rechtes und des Friedens waren moralisch zwingende Motive zum Vollzug von Gewalt – ihrer konnte sich ein guter, am Allgemeinwohl orientierter Herrscher rühmen lassen. Eine violentie per vim repulsio (»Niederschlagung von Gewaltsamkeit durch Gewalt«) zählte nach dem Decretum Gratiani (D. 1 c. 7), dem grundlegenden Rechtsbuch der Kirche, in Zitierung der frühmittelalterlichen Enzyklopädie Isidors von Sevilla sogar zum allen Völkern gemeinsamen Naturrecht. Und man mag darauf hinweisen, dass es in allen politisch-ethischen Schriften jener Zeit als unumstrittene Maxime galt, Milde, Bereitschaft zum friedlichen Ausgleich und Vergebung seien Tugenden, die immer vor die Exekution von Gewalt gesetzt wurden. Diese Erklärungen besitzen zweifellos einen Geltungsanspruch, der historisch nicht von der Hand zu weisen ist. Umso mehr aber zeigt gerade ihre rechtfertigende Argumentation, wie unerreichbar entrückt in den eben angesprochenen Bereichen die Stringenz des christlichen Liebesgebotes ist, obgleich sie jeder kannte und ethisch billigte. Der Imperativ »liebe!« scheint hier allenfalls ein ideeller Fluchtpunkt gewesen zu sein, bei dem zwar die religiös geforderten Handlungslinien des Guten zusammenliefen und auf den man sich immer berufen konnte, der aber der konfliktären Lebenswelt eines sich gegen wahre oder vermeintliche Feinde verteidigenden, in mancher Hinsicht sogar paranoiden Mittelalters eher fernstand. Neben Gewaltverzicht betraf das Liebesgebot im Besonderen die Fürsorge für die Armen und Schwachen. In der recht strikt stratifizierten Gesellschaft des Mittelalters trennte Arme und Reiche scharf eine soziale Kluft. Dies verstärkte sich in jener Zeit der aufkommenden Städte mit ihren neuen monetären Wirtschaftsformen beträchtlich. Die Armen waren gänzlich ausgegrenzt und zwar sowohl rechtlich als auch räumlich und kommunikativ. Politisch hatten sie keine eigene Stimme, mit der sie auf ihr auswegloses Elend, auf ihre tägliche Sorge um das schiere Überleben, auf ihren Hunger, auf ihre erbärmlichen Behausungen und auf ihre Verlorenheit bei Krankheiten hätten hinweisen können.16 Nur kirchliche Institutionen hatten von jeher einen Ort der Fürsorge, des Unterhaltes und der Pflege von Kranken und Armen angeboten, erst in der Karolingerzeit kurzfristig und dann ab dem Hochmittelalter durchgängig erfolgten auch vonseiten der Laien größere Aktivitäten.17 Bereits in der Urkirche galt die Sorge bedürftigen Mitgliedern. Bald entwickelte sich bei fortschreitender Institutionalisierung der Kirche ein eigenes Amt » Li e be u n d t u e , was du wi ll st ! « | 85
– die Diakonie –, das für karitative Aufgaben, für Kranken- und Gefangenenbesuche, für materielle Hilfeleistungen in den Gemeinden zuständig war. Ab dem 3. Jahrhundert entstanden eigene Hospitäler sowie Xenodochien für durchreisende Glaubensgenossen. Nach der Konstantinischen Wende brach die Konzentration auf eigene Mitglieder zwangsläufig auf und als kurz danach die staatliche Ordnung des Weströmischen Reichs nach und nach in sich zusammenstürzte, übernahmen zunächst die bischöflichen Einrichtungen, dann aber auch klösterlichen die Versorgung der Armen und Kranken. Klösterliche Norm war – wie schon gezeigt –, sich intern in brüderlicher Liebe verbunden zu wissen. Doch dies ließ sich auch nach außen wenden und auf alle Menschen jenseits der klösterlichen Grenzen übertragen. Schon in der Benediktsregel ist als karitative Leitlinie festgeschrieben worden: »Arme bewirten. Nackte bekleiden. Kranke besuchen. Tote begraben. Bedrängten zu Hilfe kommen. Trauernde trösten.« (c. 4). Klöster wurden zu Versorgungs- und Pflegestationen, die Oasen in einer Wüste des Mangels gleichkamen. Allein in der Blütezeit des karolingischen Reiches trat noch eine »staatlich« organisierte und durch entsprechende Gesetze affirmierte Armenfürsorge hinzu, die in Hungerjahren wie 794 oder 805, aber nicht nur zu solchen Zeitpunkten von hohem Nutzen war. Nach dem Zusammenbruch der Karolingerherrschaft fiel diese Fürsorge zunächst wieder allein den Klöstern zu. Besonders stach dabei Cluny mit seinen hunderten, über Westeuropa verstreuten Häusern hervor. Ein spezielles Amt für die Betreuung von Notleidenden – das des Elemosinars – formte sich heraus, und immer unüberschaubarer wurde die Menge der Armen, die versorgt werden musste; um das Jahr 1100 waren es in Cluny jährlich 18.000.18 Kaum einen deutlicheren Indikator mag es damit für den Sachverhalt gegeben haben, dass in jener Zeit der Nahrungsmittelknappheit Hungersnot gewissermaßen ein Naturzustand war. Die Zukunft kirchlicher Fürsorge sollte dann ab dem 12. Jahrhundert vor allem den damals entstehenden und die Christenheit umspannenden Hospitalorden gehören, deren ältester und vielleicht auch erfolgreichster der Antoniterorden mit seiner Pflege der am Mutterkorn Erkrankten war, zu denen aber auch hochspezialisierte Orden zu zählen sind wie der der Trinitarier, der sich auf Gefangenenfreikauf konzentrierte, der der Magdalenerinnen, der sich um Straßendirnen kümmerte oder der der Mercedarier, die sich auf Gefangenenfreikauf konzentrierten.19 Seit etwa der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts waren dann aber in den aufblühenden Städten (anfangs insbesondere Italiens) mit ihrer neuartigen Geldwirtschaft immer häufiger auch begüterte Laien anzutreffen, die aus Frömmigkeit und Sorge um ihr Seelenheil sich mit ihrem Besitz auch direkt – das heißt nicht allein in Zwischenschaltung der bisherigen institutionellen Formen kirchlicher caritas – den Armen zuwandten und dabei große Teile ihres Vermögens umwidmeten zu Stiftungen für Hospitäler und Armenfürsorge. 86 | Gert Melville
Um mit nur vier prominenten Beispielen einen Bogen durch die Jahrhunderte zu schlagen: Zu solchen Wohltätern zählte früh schon Homobonus von Cremona, der 1199 von Innozenz III. sogar heiliggesprochen wurde.20 Er zog sich als reicher Handelsherr mit fortgeschrittenem Alter von seinen Geschäften zurück, die er – wie überliefert – stets mit untadeliger Ehrlichkeit und Freigebigkeit gegenüber den Bedürftigen geführt hatte, und verkaufte seinen Besitz, um ihn für wohltätige Zwecke zu verwenden. Seiner Familie und sich selbst ließ er genug zum Auskommen, wenn er auch dabei persönlich in höchster Bescheidenheit lebte. Aus dem Nürnberg des 14. Jahrhunderts sei Konrad Groß genannt, der dort 1339 das Heilig-Geist-Spital als so genannte Seelgerätstiftung gründete.21 1443 richtete Nicolas Rolin, Kanzler des burgundischen Herzogs Philipp des Guten, in dem durch Hungersnöte während des Hundertjährigen Krieges schwer bedrängten Beaune das Hôtel de Dieu als eines der modernsten Krankenhäuser seiner Zeit ein.22 Im Jahre 1456 schließlich gründete der Mailänder Herzog Francesco Sforza mitten in der Stadt das »Ospedale Maggiore«, ließ dafür von einem der berühmtesten Baumeister seiner Zeit, von Pietro Averlino, genannt Filarete, ein prächtiges Gebäude im Stile einer Großabtei errichten und löste die Vielfalt der für die Kranken- und Armenversorgung in der Stadt bisher zuständigen geistlichen Institutionen auf.23 Solche Aktivitäten mochten viele von Not und Krankheit befreit, ihnen das Leben gerettet und Hoffnung gegeben haben. Sie waren ein Segen für die Armen und die hilflos Kranken – für alle, welche am erbärmlichen Rande der Gesellschaft standen und welche nun dank der christlichen Gebote, die – wie oben zitiert – »die Nächstenliebe ins Zentrum des ethischen Denkens und Handelns« gerückt hatten, zum Ziel sozialer Fürsorge wurden. Dieser Sachverhalt kann nicht deutlich genug unterstrichen werden, stand er doch im scharfen Gegensatz zur Gewaltbereitschaft und zur oftmals ungezügelten, ja durchaus als delektabel empfundenen Grausamkeit des Mittelalters und war er doch der Hoffnungsschimmer auf eine im Göttlichen verankerte und tatsächlich praktizierte Humanität! Gleichwohl sollte nicht übersehen werden, dass – wie schon eingangs hervorgehoben – eine solche im Göttlichen verankerte Humanität jedem, der sie praktizierte, ungeheuer viel abverlangte. Immer stand jenes oben zitierte Pauluswort im Raum: »Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts.« Gemäß dieser Maxime waren nicht allein materielle Zuwendungen verlangt und waren sie auch noch so hoch, sondern in erster Linie Akte der Liebe, denn alles Gute, was hervorgebracht wurde, kann nur als Gutes gelten, wenn es sich aus Liebe speiste. Es erscheint angesichts des eben geschilderten Nutzens für die Armen geradezu als bestürzend, dass die Messlatte der Fürsorge demnach so hoch gelegt war, dass sie wohl nur von wenigen Gerechten erreicht werden konnte. Hier zeigte sich das christliche Liebesgebot in einer problematischen Bivalenz: Einerseits bedeutete es die pragma» Li e be u n d t u e , was du wi ll st ! « | 87
tische Motivation zu guten Werken, andererseits forderte es eine innerliche Haltung, deren Emotionalität nicht so ohne weiteres von jedem Menschen erwartet werden konnte. Ein Scheitern schien vorprogrammiert zu sein, so dass eigentlich die Zuwendungen hätten verschwinden müssen. Da dies aber offensichtlich nicht der Fall war, stellt sich die Frage, welche Lösung man gefunden hatte. Sie konnte nur eine pragmatische sein. Schon Lukas (18,25) hatte bekanntlich vom Kamel gesprochen, das leichter durch ein Nadelöhr gehe als ein Reicher in das Himmelreich eintrete, und als Kontrastfigur den Armen Lazarus präsentiert, der den Abfall vom Tische der Reichen aufzuklauben gezwungen gewesen sei und nach dem Tode im Schoße Abrahams ruhe. Daran anschließend hatte sich wenig später Clemens von Alexandria veranlasst gesehen, ganz grundsätzlich zu fragen »Welcher Reiche kann überhaupt das Heil erlangen?« und damit überhaupt eine Bipolarität von irdischem Reichtum und himmlischem Heil in den alternativen Fokus von Verdammnis und Seelenrettung zu stellen.24 Demgemäß konnte kein Geringerer als Lothar von Segni, der spätere Papst Innozenz III., auf eine alt verwurzelte Tradition unterstellter Unverträglichkeit von Reichtum und Seelenheil zurückgreifen, als er, Mt. 25,42 folgend, schrieb, Christus werde beim Jüngsten Gericht all die in ihrem Reichtum Hartherzigen anklagen mit den Worten:25 »Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben.« Und er werde zu ihnen sagen: »Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist!« Wohingegen die Gerechten das ewige Leben erhalten würden. Diejenigen, die sich im Mittelalter von solchen Worten angesprochen sahen, ließen aus Furcht vor der Bestrafung ihrer Schwäche gegenüber den Verlockungen weltlicher Güter, ihrer Gier und Habsucht den Armen Almosen zukommen, Stiftungen für Kranke gründen und Siechenhäuser errichten. Sie hofften auf eine Rettung ihres Seelenheils, denn sie konnten im Matthäusevangelium auch die positive Seite aus dem Munde Christi hören: Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben? Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. (Mt. 25,34–40). 88 | Gert Melville
Die vollständige Zitierung dieser Stelle geschah vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sich nirgendwo sonst der Katalog der guten Werke am bedürftigen Nächsten, dessen Repräsentant Christus selbst ist, präziser gefasst findet. Diese Werke erschienen messbar, zählbar auf der Waage der letzten Abrechnung, wie es dem kaufmännischen Ordnungsgeist entsprach. Jener Homobonus aus Cremona dürfte wohl seine guten Taten in erster Linie aus Liebe zu den bedürftigen Mitmenschen vollbracht haben. Er zählte zu den Gerechten, denen Vollkommenheit zu eigen war.26 Jener Konrad Groß jedoch ließ in die Stifterurkunde seines Nürnberger Spitals schreiben: Wie heilsam ist doch die Unterstützung der Armen, die, während sie bemüht ist, dem Nächsten in seinem augenblicklichen Unglück zu helfen, sich die Errettung vom ewigen Unglück verdient.27
Und Nicolas Rolin trug gar in die Gründungsurkunde seines Hôtel de Dieu ein: Ich, Nicolas Rolin, Ritter, Bürger von Autun, Herr von Authume und Kanzler von Burgund, an diesem Sonntag, dem 4. Tag des Monates August, im Jahre des Herrn 1443, […] im Interesse meines Seelenheils, danach strebend irdische Gaben gegen Gottes Gaben zu tauschen, […] gründe ich, und vermache unwiderruflich der Stadt Beaune ein Hospital für die armen Kranken, mit einer Kapelle, zu Ehren Gottes und seiner glorreichen Mutter […].28
Der um Legitimation seiner Herrschaft ringende Francesco Sforza schließlich errichtete das Hospital vornehmlich deshalb, weil er damit symbolisch zeigen konnte, dass er Krankheit und Bedürftigkeit als Fürst im Griff habe und somit den religiös determinierten Erwartungen hinsichtlich der Sorge für das Gemeinwohl entsprach.29 Um des Seelenheils willen »irdische Gaben gegen Gottes Gaben zu tauschen« war ein Geschäftsmotto, das im Mittelalter theologisch durchaus eine Rechtfertigung fand. Der schon genannte Lothar von Segni betonte in seinem »Büchlein über das Almosen« (Libellus de Eleemosyna) zwar auch, dass Gaben an die Armen aus Barmherzigkeit als Frucht der Liebe erfolgen sollten, führte dann aber über die Verfahrensweise aus: Was du auf Erden gibst, wird dir im Himmel vergolten, was du an Almosen auf Erden gibst, wird für dich im Himmel aufbewahrt. Nichts an weltlichen Gütern wirst du mit dir aus diesem Leben tragen außer das Almosen allein, das du durch die Hand der Armen in den Himmel vorausgeschickt hast.30
Jene von Clemens von Alexandria erstmals als kritisch benannte Bipolarität von irdischem Reichtum und himmlischem Heil ist hier zu einer frappierenden Har» Li e be u n d t u e , was du wi ll st ! « | 89
monie gebracht worden: Eine Abgabe aus Ersterem schafft Zuwachs bei Letzterem und der Arme ist dabei gleichsam das Medium, der Transporteur. So ist Arnold Angenendt völlig zuzustimmen, wenn er eine solche Struktur auf die prägnante Formel bringt: Die Almosen waren für die Armen. Aber das Motiv, sie zu spenden, zielte auf die Seelenrettung der Spender. […] Das Almosen verwandelte sich in ein religiöses Mittel, um die eigenen Sünden loszuwerden und bei Gott Gnade zu erlangen […] Mit Almosen Reinigung und Gnade erlangen zu können, verschaffte den Armen einen Heilswert für die Reichen, was als heilsamer Austausch verstanden wurde.31
* Von der Sorge um das eigene Seelenheil, die der Liebe zu sich selbst entsprang, ist hier viel gesprochen worden. Von Liebe, die dem Nächsten entgegengebracht wird, war indes nicht explizit die Rede, doch mag sie sogar von Fall zu Fall implizit mitgeschwungen haben. Und Gott wurde an allem Anschein nach stärker gefürchtet als geliebt. Ein Missverhältnis, das ein Autor des 12. Jahrhunderts – also der Hochzeit der Reflexion über die christliche Liebesethik – wie der Zisterzienserabt und Verfasser einer der wichtigsten Schriften über die christliche Liebe, Aelred von Rievaulx, kaum in Einklang mit seiner Lehre gebracht hätte. Er sagte in seinem »Spiegel der Liebe«: Es liebt sich nämlich der nicht, der entweder den Nächsten oder Gott nicht liebt, noch liebt einer den Nächsten wie sich selbst, wenn er sich selbst nicht liebt. Der fehlenden Gottesliebe jedoch wird jeder überführt, der seinen Nächsten nicht liebt.32
Aelred suchte die Dimensionen, Grenzen und Visionen einer vollkommenen Liebe zwar in einem klösterlichen Rahmen, gleichwohl galten sie ihm im Prinzip auch für den gesamten Fächer des Christentums. Aelred lockerte den monolithischen Block jenes »Kategorischen Imperativs« »liebe!« gewissermaßen nach Facetten unterschiedlicher Motivationen und Wirkkräfte auf und bemühte sich damit, das Liebesgebot greifbarer, äußerlich anwendbarer und innerlich erlebbarer zu machen. Allerdings ging er von einem unverrückbaren Sockel aus, der aus der eben angesprochenen Trias von Selbst-, Nächsten- und Gottesliebe bestand. Und er war der Überzeugung, dass »diese drei Liebesbewegungen voneinander geweckt, voneinander genährt und voneinander entzündet, aber alle gemeinsam vollendet« werden. Ein solcher Ansatz erscheint hochfliegend zu sein, wirkt weit davon entfernt, jene normative Kraft des Pragmatischen in 90 | Gert Melville
Rechnung zu stellen, die im Abschliff des Alltags die Vision einer vollkommenen Liebesharmonie auf ein offensichtlich realistisches Maß von religiösen Sedimenten zurückschraubte. Doch gerade er vermochte die Diskrepanz zwischen dem ideellen Kern der Liebesdogmatik und dem faktischen Umgang damit frappierend deutlich aufzuzeigen. Aelred folgte einer präzisen analytischen Vorgehensweise, mit der er die Stufen der Nächstenliebe aufschlüsselte und sie mit der menschlichen Kapazität zum Sozialverhalten korrelierte. Die erste Form der Nächstenliebe beziehe sich – so führte er aus – auf die Blutsverwandten. Die Liebe zu ihnen liege in der Natur des Menschen, so dass es ganz und gar unmenschlich sei, sie nicht zu besitzen. Die zweite Form betreffe diejenigen, die einem durch das »Band besonderer Freundschaft oder durch gegenseitige Dienstleistungen« nahestünden. Hier dehne sich die Liebe zu einer größeren Herzensweite aus, obgleich sie noch nicht die »Gerechtigkeit der Pharisäer« übersteige, die geboten hätten, den Nächsten zu lieben und den Feind zu hassen. Die nächste Ausdehnung der Liebe umgreife dann alle, die unter dem gleichen Joch der Berufung stünden – also die Mitbrüder seines Ordens. Daraufhin blieben nur noch zwei Menschengruppen übrig, die ebenfalls »durch die Fesseln der Liebe verbunden« sein sollten. Zum einen handele es sich um die Heiden, Juden, Häretiker und Schismatiker, deren Unwissenheit zu beklagen sei, mit deren Schwäche man Mitleid haben solle und denen der Trost des Gebetes zuzuwenden sei. Zum anderen gehe es um die Feinde, denen dem Evangelium gemäß Gutes zu tun sei. In einem abschließenden Fazit kommt er dann auf den entscheidenden Punkt: Es sei die Vernunft des Menschen, die ihn zu Wohltaten gegenüber seinem Nächsten antreibe, nachdem erkannt worden sei, dass die Nächstenliebe das größte Gebot Gottes darstelle. Jeder Nächste sei entweder Freund, kein Freund/kein Feind oder Feind: Freund, wenn er einem etwas Gutes getan habe, kein Freund, wenn er einem nichts zuleide getan habe, und Feind, wenn er einem geschadet habe. In der rhetorischen Figur einer Klimax führte er dann aus, dass die Vernunft drei Gründe vorlege, sich für einen Freund in Liebe einzusetzen, zwei Gründe für das liebevolle Verhalten gegenüber einem Nichtfreund/Nichtfeind und einen Grund für die Feindesliebe. Die drei Gründe für ein positives Verhalten gegenüber einem Freund sind die Natur, weil er ein Mitmensch sei, die Schuldigkeit, weil er ein Freund sei, und schließlich das Gebot Gottes, weil er unser Nächster sei. Die zwei Gründe für den Nichtfreund/Nichtfeind sind auch hier die Natur, weil er Mitmensch, und das Gebot, weil er unser Nächster sei. Der eine Grund für den Feind ist das Gebot allein, weil es von Gott so vorgeschrieben worden sei. Die Leiter stieg auf von der rein natürlichen Veranlagung zum ausschließlichen Gebot. Es war eine Leiter des Gehorsams und sie implizierte eine innere Liebesgesinnung nur in der Weise, dass diese graduell aus Liebe zu Gott, die zu einer Akzep» Li e be u n d t u e , was du wi ll st ! « | 91
tanz seiner Gebote führte, erworben werden musste. Verlangt war ein »aktiv gestaltetes Nahesein zu anderen Menschen«33, durch welches man nach dem Modell des Samariters (Lk. 10,25–37) Fürsorge dem angedeihen ließ, der unbekannt war und der zudem einem Stamm angehörte, der auf die Herkunft des Helfenden verächtlich herabblickte. Ein solches Modell vollkommener Nächstenliebe war als Norm nicht in der Natur des Menschen eingelegt. Um es zu erreichen, bedurfte es in der Tat der Übung, der Überwindung, des Lernens. Dessen war man sich im Mittelalter angesichts der Radikalität des Liebesgebotes voll bewusst. Thomas von Aquin formulierte den entsprechenden Prozess der Steigerung mit lapidaren Worten: »Da nämlich der Nächste aus der heiligen Liebe heraus um Gottes willen geliebt wird, wird der Mensch, je mehr er Gott liebt, um so mehr Liebe auch dem Nächsten gegenüber beweisen.« (Summa theol., II, II, 25, 8). Selbst ein Heiliger war einer solchen Herausforderung nicht enthoben. Sie galt beispielsweise auch für einen Franziskus von Assisi, der schon den Zeitgenossen als Monument eines »solidarischen Bruders«34 vor Augen stand und von dem überdies betont wurde, dass seine Akte der Nächstenliebe und Barmherzigkeit nicht einfach nur aus selbständigem Ermessen, sondern auch aufgrund einer superinfusa pietas, einer seiner Persönlichkeit im Besonderen eingegossenen Gottesliebe, zustande kamen.35 Franziskus hatte sich tatsächlich in einer Entwicklung nach und nach anwachsender Hinwendung zu den Armen und Kranken befunden, welche zunächst sogar außergewöhnlicher Anstöße und Selbstüberwindungen bedurfte.36 Anfangs, als er noch ein leichtlebiger Kaufmannssohn war, hatte er Bettler aus dem Handelshaus seines Vaters gescheucht; erst von der »göttliche Gnade berührt« – wie es hieß – habe er sich darüber Vorwürfe gemacht und den Weggewiesenen zu einem Almosen zurückgeholt.37 Seine erste Begegnung mit einem Leprosen erzeugte in ihm tiefen Ekel, den er mit Mühe überwand: »Und obwohl ihn wie üblich der Anblick [des Leprosen] abstieß, besiegte er sich selbst, indem er seinen Gefühlen Zwang antat, und sogleich ging er hin und küsste ihn.«38 Und auch später, als er bereits ein Leben in Armut führte, erschien ihm seine Liebe zu den Ausgestoßenen und Vergessenen nie vollkommen ausreichend, und er gab noch seinen einzigen Mantel, den er besaß, Ärmeren, die kein Gewand hatten. Er neidete denen, die ärmer waren als er, ihre Armut, denn diese glich stärker der vollkommenen Armut Christi. Diese Armut Christi wollte er erreichen, da sie ihm Pforte war für die höchste Erfüllung seiner grenzenlosen Liebe zu Gott – Pforte also für eine absolute sequela Christi (Christusnachfolge). Als einer der entscheidenden Schlüssel hierfür galt ihm die alles verschenkende, doch nie genügende Nächstenliebe.39 Der programmatische Satz »Liebe und tue, was du willst!« mochte verheißungsvolle Offerte sein, die Welt des im Göttlichen verankerten Guten zu betreten, doch in der Praxis des mittelalterlichen Lebens war der Satz vor allem eine paränetische Aussage über ein Streben nach letztlich nicht Erreichbarem, das dem Heili92 | Gert Melville
gen wie dem Sünder gleichwohl Sinn bereits dann versprach, wenn er sich auf den Weg dorthin machte.
A n m e r kun ge n 1 In ep. Ioannis VII 8, in: Patrologia latina, Bd. 35, Sp. 2033; vgl. zur Liebesdefinition bei Augustinus: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Darmstadt 1980, Sp. 296–299 (s. v. Liebe). 2 Siehe G. Constable, »Love and Do What You Will«. The Medieval History of an Augustinian Precept, Kalamazoo 1996. 3 […] sive taceas, dilectione taceas; sive clames, dilectione clames; sive emendes, dilectione emendes; sive parcas, dilectione parcas: radix sit intus dilectionis, non potest ista radice nisi bonum existere. In ep. Ioannis VII 8 (o. Anm. 1) 4 Augustinus, De civitate Dei, lib. 14, c. 7, hgg. von B. Dombart/A. Kalb (Corpus Christianorum. Series Latina, Bd. XLVII), Turnhout 1955, Bd. 2, S. 422; übers. von W. Thimme. 5 Augustinus, De ordine 2, 1, 2, hrsg. von W, G. Green (Corpus Christianorum. Series Latina, Bd. XXIX), Turnhout 1970, S. 107; vgl. P. von Moos, »Krise und Kritik der Institutionalität. Die mittelalterliche Kirche als ›Anstalt‹ und ›Himmelreich auf Erden‹«, in: G. Melville (Hrsg.), Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigung kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln 2001, S. 293–340, hier S. 304f. 6 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 51972, S. 342. 7 »Ordo monasterii«, in: L. Verheijen, La règle de Saint Augustin, 2 Bde., Paris 1967, Bd. 1, S. 148. 8 »Liber de doctrina uel Liber sententiarum sev rationvm beati viri Stephani primi patris religionis Grandimontis«, in: Scriptores ordinis Grandimontenses (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaeualis 8), hrsg. von J. Becquet, Turnhoult 1968, S. 1–62, hier S. 19. 9 „Praeceptum«, in: L. Verheijen (o. Anm. 6), Bd. 1, S. 417; vgl. K. Schreiner, »Ein Herz und eine Seele. Eine urchristliche Lebensform und ihre Institutionalisierung im augustinisch geprägten Mönchtum des hohen und späten Mittelalters«, in: G. Melville/A. Müller (Hgg.), Regula Sancti Augustini. Normative Grundlage differenter Verbände im Mittelalter, Paring 2002, S. 1–48. 10 Vgl. zu diesem Gedanken klösterlicher Brüderlichkeit C. Walker Bynum, Docere verbo et exemplo. An Aspect of Twelfth Century Spirituality, Missoula 1979. 11 »Carta Caritatis prior«, in: Einmütig in der Liebe. Die frühesten Quellentexte von Cîteaux, hgg. von H. Brem/A. M. Altermatt, Langwaden 1998, S. 99. 12 »Regula non bullata«, c. 11, in: Franziskus-Quellen. Die Schriften des heiligen Franziskus, Lebensbeschreibungen, Chroniken und Zeugnisse über ihn und seinen Orden, hgg. von D. Berg/L. Lehmann, Kevelaer 2009, S. 79. 13 K. E. Løgstrup, »Nächstenliebe«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Darmstadt 1984, S. 354. » Li e be u n d t u e , was du wi ll st ! « | 93
14 Vgl. G. Melville, »Ein Exkurs über die Präsenz der Gewalt im Mittelalter«, in: M. Kintzinger/J. Rogge (Hgg.), Königliche Gewalt – Gewalt gegen Könige. Macht und Mord im spätmittelalterlichen Europa (Zeitschrift für Historische Forschung, Beihefte, Bd. 33), Berlin 2004, S. 119–134. 15 Siehe J.-Y. Lagrange, «Il y a 766 ans: Marmande, ville martyre«, Cahiers d’études cathares 115 (1987), S. 80f. 16 E. Schubert, »Soziale Randgruppen und Bevölkerungsentwicklung im Mittelalter«, Saeculum 39 (1988), S. 294–339. 17 Siehe die profunde Darstellung von O. G. Oexle, »Armut, Armutsbegriff und Armenfürsorge im Mittelalter«, in: C. Sachsse (Hrsg.), Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik, Frankfurt a. M. 1986, S. 73–101. 18 Siehe J. Wollasch, »Eleemosynarius. Eine Skizze«, in: K. Hauck (Hrsg.), Sprache und Recht. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters, Festschrift für Ruth Schmidt-Wiegand, Berlin/New York 1986, S. 972–995. 19 Vgl. G. Melville, Die Welt der mittelalterlichen Klöster. Geschichte und Lebensformen, München 2012, S. 154–158. 20 Siehe M. Morandi, »Neue Wege zur Heiligkeit: Homobonus von Cremona«, in: B. Schneidmüller/St. Weinfurter/A. Wieczorek (Hgg.), Die Staufer und Italien. Drei Innovationsregionen im mittelalterlichen Europa, Bd. 1, Darmstadt 2010, S. 367–372. 21 Vgl. M. Mende, »Zum Hochgrab des Konrad Groß (um 1340) im Nürnberger Heilig-GeistSpital«, Nürnberger Altstadtberichte 32 (2007), S. 55–70. 22 Vgl. H. Kamp, Memoria und Selbstdarstellung. Die Stiftungen des burgundischen Kanzlers Rolin, Sigmaringen 1993. 23 Vgl. G. Albini, »La gestione dell’Ospedale Maggiore di Milano nel Quattrocento: un esempio di concentrazione ospedaliera«, in: A. J. Grieco/L. Sandri (Hgg.), Ospedali e città: L’Italia del Centro-Nord, XIII–XVI secolo, Firenze 1997, S. 157–178. 24 In seinem Werk Quis dives salvetur?. Vgl. dazu U. Neymeyr, Die christlichen Lehrer im zweiten Jahrhundert. Ihre Lehrtätigkeit, ihr Selbstverständnis und ihre Geschichte, Leiden 1989, S. 79ff. 25 Lothar von Segni, »De misera humanae condicionis«, lib. 3, c. 15, in: Patrologia latina, Bd. 217, Sp. 701–762, hier Sp. 744f.; vgl. J. W. Brodman, Charity and Religion in Medieval Europa, Washington, D. C. 2009, S. 19ff. 26 Vgl. A. Vauchez, »Innocent III, Sicard de Crémone et la canonisation de saint Homebon († 1197)«, in: A. Sommerlechner (Hrsg.), Innocenzo III. Urbs et orbis, Bd. 1, Roma 2003, S. 435–455. 27 G. Löhlein, »Die Gründungsurkunde des Nürnberger Heilig-Geistpitals von 1339«, Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 52 (1963/64), S. 67. 28 Edition der Urkunde bei Kamp (o. Anm. 21), S. 330. Deutsche Übersetzung nach: Seite »Hôtel-Dieu (Beaune)«, in: Wikipedia, http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=H%C3% B4tel-Dieu_(Beaune)&oldid=130240792 (abgerufen: 19. September 2014, 9:55 Uhr). 94 | Gert Melville
29 Darüber handelt die ungedruckte Mailänder Dissertation: J. Haas, Macht und Misericordia im Quattrocento. Die Ambrosianische Republik, der Fürst Francesco Sforza und die »gran reformatione« der Mailänder Hospitäler (1447–1466), Diss. Università Cattolica del Sacro Cuore, Milano 2009 (http://hdl.handle.net/10280/564). 30 Lothar von Segni, »Libellus de Eleemosyna«, in: Elogio della carità (Libellus de Eleemosyna – Encomium Charitatis), hrsg. von St. Fioramonti, Città del Vaticano 2001, c. 2. 31 A. Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, S. 592. 32 Die folgenden Aussagen finden sich im 3. Buch des Spiegels der Liebe, die Übersetzungen nach: Aelred von Rievaulx, Spiegel der Liebe, übertragen u. eingel. von H. Brem, überarb. von H. U. von Balthasar, Einsiedeln/Trier 1989, S. 121ff. Vgl. hierzu M. Breitenstein, »Is there a Cistercian Love? Some Considerations on the Virtue of Charity«, in: G. Melville (Hrsg.), Aspects of Charity. Concern for one’s neighbour in medieval vita religiosa (Vita regularis. Abhandlungen, Bd. 45), Berlin 2011, S. 55–98. 33 H. Balz, »Nächster III. Neues Testament«, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 23, Berlin/ New York 1994, S. 720. 34 R. Manselli, Franziskus. Der solidarische Bruder, Freiburg im Breisgau, Basel, Wien 1995. 35 Siehe Thomas von Celano, Zweite Lebensbeschreibung, in: Franziskus-Quellen (o. Anm. 12), c. 51, S. 347; vgl. zu Bonaventura, der diese Feststellung wörtlich aufgenommen hatte: M. Schlosser, »Die geistlichen Sinne bei Bonaventura« (2010), S. 6: http://www.akademiers.de/fileadmin/user_upload/download_archive/religion-oeffentlichkeit/100626_schlosser _bonaventura.pdf. (aufgerufen am 28. 12. 2014). 36 Vgl. O. Schmucki, »Schrittweise Entdeckung der evangeliumsgemässen Lebensform durch den heiligen Franziskus von Assisi«, in: U. Köpf, L. Lehmann (Hgg.), Oktavian Schmucki OFMCap. Beiträge zur Franziskusforschung, Kevelaer 2007, S. 305–358. 37 Anonymus Perusinus, in: Franziskus-Quellen (o. Anm. 12), c. 1 (4), S. 579. 38 J. von Speyer, Leben des heiligen Franziskus, in: Franziskus-Quellen (o. Anm. 11), c. 2 (12), S. 533f. 39 Vgl. dazu G. Melville, »What role did charity play in Francis of Assisi’s attitude towards the poor?«, in: ders. (Hrsg.), Aspects of Charity (o. Anm. 32), S. 99–122.
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Barbara Stollberg-Rilinger
EINLEITUNG: RENAISSANCE Eignet sich Sorge – als Begriff und als Praxis – als Schlüssel zum Epochenwandel in der europäischen Geschichte? Es gibt bisher weder eine Begriffsgeschichte von »Sorge« noch eine Geschichte der entsprechenden Praxisformen. Doch die Hinweise, die die Spurensuche in den beiden Beiträgen dieses Abschnitts zutage gefördert haben, liefern einige Anhaltspunkte dafür, dass es sich tatsächlich um einen Schlüssel zur Umbruchepoche der Renaissance und des Humanismus handeln könnte. Beide Beiträge gehen von der Vieldeutigkeit des Begriffs aus. Da ist zunächst die Unterscheidung zwischen einem passiven und aktiven Sinn (worauf auch Alois Hahn in diesem Band hinweist): die passive Besorgnis, das Sich-Sorgen-Machen, die melancholia einerseits; das aktive Sorgen, die Für- und Vorsorge, das Sorge-Tragen für andere, die caritas andererseits. Sorge kann sowohl einen Seelenzustand meinen als auch den Grund für diesen Zustand oder auch die aktive Praxis, diesen Grund aus der Welt zu schaffen. Dass die Bedeutungsnuancen von »Sorge« noch vielfältiger sind, zeigen die Gegenbegriffe, mit denen sich die Beiträge auseinandersetzen: Unbesorgtheit im Sinne von Seelenruhe (Cicero); Versorgung im Sinne materiellen Versorgtseins; Sicherheit, se-curitas, im Sinne von Risikominimierung, Gefahrenabwehr und Stabilität. Von all dem ist in den Beiträgen die Rede. Der Philosoph Enno Rudolph (Luzern) geht von der Spannung zwischen Selbstsorge und Sorge um das Gemeinwesen aus. Er sieht einen Kern der antiken politischen Philosophie in der dialektischen Vereinbarung von der individuellen Selbstsorge, die letztlich auf ein sorgloses Sterben gerichtet ist, und der Sorge um die Polis. Diese beiden Pole der antiken »Sorge-Dialektik« findet Rudolph auch bei Machiavelli wieder; er lokalisiert die Selbstsorge im Il Principe, die Sorge um die Polis in den Discorsi. Folgt man Rudolph, so lässt sich die vieldiskutierte Spannung zwischen den beiden Schriften auf diese Weise auflösen: Die Sorge des Fürsten um seinen eigenen Machterhalt dient der Sorge für die Einheit der Republik und richtet sich am Ende auf seine, des Fürsten, eigene Erübrigung. Anders als Rudolph, der die Idee der Sorge in Antike und Renaissance jenseits des Begriffs und der Sache aufzuspüren sucht, wendet sich der Historiker Cornel Zwierlein (Bochum) der Begriffsgeschichte von cura/securitas und der konkreten Praxis der Vorsorge zu. In drei unterschiedlichen Phänomenen findet er Anhaltspunkte für einen Epochenwandel im 15./16. Jahrhundert: in der kaufmännischen Praxis der assicuranza, einer Vorsorge, die keine Vorbilder in der Antike hatte, in Re n ai ssan c e | 99
der Praxis der monti di pietà, der kleinen karitativen Pfandkreditbanken, die christliche Fürsorge mit frühkapitalistischer Finanzwirtschaft verbanden, und schließlich in der cura dello stato eines Lorenzo de Medici. In all dem sieht Zwierlein ein neuartiges Bemühen um securitas, das ohne den Verschriftlichungsschub des 14. Jahrhunderts nicht zu denken sei und das sich als Autonomiegewinn von Wirtschaft und Politik beschreiben lässt. Begriffsgeschichtlich flankiert wird das durch die Beobachtung, dass securitas sich hier und da als vornehmstes politisches Ziel an die Stelle von pax zu schieben beginnt.
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Enno Rudolph
SORGE ALS FORM UND INHALT DER POLITIK Machiavellis bene commune als normative Vorgabe des Il Principe Von dem Fabeldichter Hyginus wird berichtet, er habe erklärt, warum der Mensch (homo) nach dem Stoff (humus) heiße, aus dem er gemacht sei, warum sein Geist nicht ihm gehöre, sondern dem Götterkönig Jupiter, und warum Cura die Regie über sein Leben führe. Die Sorge des Hyginus ist nicht diejenige Heideggers, durch den sie erst vor knapp hundert Jahren vorübergehend ins Zentrum des philosophischen Interesses gerückt worden ist. Sie ist keine Mitgift des menschlichen Daseins, kein A priori der menschlichen Existenz – sie war vorher da. Implizit konveniert diese Lesart mit derjenigen Hans Blumenbergs, der vermutet, dass in der alten Fabel ein wichtiges Stück fehle – das »Kernstück« –, das die Frage zuallererst beantworte, warum überhaupt die Sorge jenes Gebilde geschaffen habe, das – am Ende mit dem Namen »Homo« versehen – nach dem Schiedsspruch Jupiters auch der Sorge gehören solle, solange es lebe.1 Gemäß gnostischer Lesart, der Blumenberg die Fabel zuordnet, hat die Sorge sich im Fluss gespiegelt – deswegen überquerte sie ihn, statt sich am Flusslauf aufzuhalten – und schuf das Gebilde aus Lehm nach ihrem Bilde: der Mensch – ein Bild der Sorge. Welcher Sorge – der ängstlichen Besorgnis? Der Für- oder Vorsorge? Des Umsorgens? Der Text legt nahe: der Sorge für das eigene Geschöpf, dessen Leben und Beständigkeit, vielleicht dessen Unsterblichkeit als geistiges Wesen unter dem Regime Jupiters. Wie immer – am Anfang war die Sorge, und anders, als Michel Foucault es seiner verkürzten Entgegensetzung zwischen dem Individuum der Antike und dem Subjekt der Moderne zugrunde legt2, ist das Subjekt der Moderne zwar, wie Foucault behauptet, Resultat einer unentrinnbaren Konstitution und nachhaltigen Prägung durch vorgegebene disziplinierende Machtverhältnisse, aber – und das unterschätzt Foucault infolge seiner fatalistischen Fixierung auf die politische Physik der Macht – es ist, was es ist, erst im Vollzug einer gelingenden Selbstbehauptung gegen jeden Widerstand: den der soziohistorischen Mächte ebenso wie den der Natur. Das Individuum der Antike hingegen ist entschieden deutlicher dazu legitimiert, sich als subjectum zu verstehen, als das der Moderne.
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1. P l a t o ns pol it isc he Dial e kt ik de r Sorge Der Mensch der griechischen und der römischen Antike lebt nach der Maxime secundum naturam vivere3 und nicht contra naturam, wie der Mensch der Moderne. Die beiden eminenten philosophischen Autoren der klassischen griechischen Antike, Platon und Aristoteles, haben gezeigt, dass dieser Maxime nur über den Weg einer politischen Existenz entsprochen werden kann. Nicht erst die populär gewordene Basisdefinition der aristotelischen Anthropologie, der Mensch sei ein zoon politikon, sondern bereits die detaillierte, vom Gerechtigkeitsempfinden des einzelnen Bürgers ausgehende konzipierte Grundlegung der politischen Philosophie Platons belegt diese These hinreichend: kata physin zu leben heißt, der differenzierten Struktur und Interdependenz seiner seelischen Energien – sowohl der animalischen als auch der intellektuellen – ausgewogen zu entsprechen. Platons politische Pädagogik will zeigen, wie man das macht. Die politische Existenz vollzieht sich in Form einer im strikten Sinn als »dialektisch« zu bezeichnenden Einheit aus individueller und gemeinschaftlicher Lebensführung – genauer: aus Selbstsorge und zugleich aus Sorge für die Polis. Was in der Moderne als absolute Alternative gilt – private Exklusivität oder politische Disponibilität –, ist in der Antike, das heißt sowohl in der griechischen Polis als auch in der römischen Res Publica untrennbar miteinander verknüpft. Natürlich ist es die Seele eines jeden Bürgers, die ihn individuiert,4 und ebenso natürlich ergibt sich daraus, dass potentiell jeder individuelle Bürger etwas anderes als das ihm ›Zukommende‹, ›Zuträgliche‹ und ›Genügende‹(to sympheron) für sich beansprucht, als alle anderen Bürger, ein Gerechtigkeitsproblem, das nur durch eine Politik der Garantie individueller Chancenoptimierung – nicht Chancen zum Genuss sozialer Kompensation, sondern Chancen zur Partizipation an spezifischer Förderung der individuellen Eignungen, Begabungen und Talente – zu erreichen ist. Die Chancen sind nach diesem in Platons Politeia entwickelten Idealkonzept für alle Bürger gleichermaßen so bereitzustellen, dass sie von jedem Einzelnen unterschiedlich umgesetzt werden können. Jeder fühlt erst dann seine individuelle Besonderheit, seine Unvertretbarkeit und Einmaligkeit in fairer Weise anerkannt und gefördert, wenn er auf authentische Weise die Polis beseelt, um nicht zu sagen: die Polis ist.5 Dafür kämpft Sokrates in Athen, dafür wurde er aber auch zum Tode verurteilt. Was John Rawls für die Praxis der politischen Gegenwart suchte, hatte Platon für die Theorie des idealen Staates entworfen. Eine pikante, zumeist wenig beachtete Passage aus dem Hauptwerk der politischen Philosophie Platons, der Politeia, zeigt darüber hinaus eindrucksvoll, dass Platon den Begriff einer dialektisch verstandenen Sorge gezielt einsetzt und noch in anderer Weise verwenden kann: nämlich als Sorge für die Pflege der religiösen Tradition – letztere verstanden als kulturelles Symbol einer unvertretbaren Par102 | Enno R ud ol p h
tizipation am Leben der Polis. Der Diskurs über die anthropologischen und konstitutionellen Bedingungen der Herstellung und Bewahrung von Gerechtigkeit als Ideal des politischen Handelns findet im Hause des wohlhabenden Kephalos statt. Dieser empfängt die Gesprächsteilnehmer gastfreundlich, um sich alsbald mit dem – offenbar für jeden Gesprächsteilnehmer plausiblen – Hinweis zu empfehlen, er habe noch für die »heiligen Dinge« Sorge zu tragen (epimelethenai) und den Göttern Opfer zu bringen.6 Da er dem dramatischen und für nachfolgende Epochen paradigmatischen Disput zwischen Sokrates und dem »Hardliner« unter den Sophisten, Trasymachos, nicht beiwohnt – geht es doch immerhin um die ungebrochen aktuell gebliebene Alternative zwischen einer naturalistischen und einer »idealistischen« Politikkonzeption –, könnte man ihn als einen Chargen betrachten, dessen dramaturgische Funktion für die Komposition des Dialogs eher als marginal zu bewerten ist. Da er aber nicht abtritt, ohne seine eigene, das anschließende Gespräch prägende Definition von Gerechtigkeit abgeliefert zu haben, ist seine Rolle höher zu bewerten, nämlich als die eines neutralen Treuhänders der Problemstellung. Die »Sorge« darum, ob man gerecht gelebt habe, übermannt den Menschen im Angesicht des Todes – so die Ausgangsbeobachtung des Kephalos. Daher solle man besorgt sein, rechtzeitig jedem zurückzugeben, was man ihm schulde. Die Beantwortung der hintersinnigen Frage des Sokrates, ob damit auch gemeint sei, dass man selbst dann seiner Rückgabepflicht zu entsprechen habe, wenn man jemandem gefährliches Werkzeug wie beispielweise todbringende Waffen schulde, – wenn also die akute Gefahr bestehe, dass der (inzwischen eventuell wahnsinnig gewordene) Gläubiger missbräuchlich mit solchen Dingen umgehe und die Gemeinschaft in Gefahr bringen könne –, überlässt der Gastgeber den Gästen. Dieses Vorgespräch erweist sich als schlüsselhaft für den wohl bedeutendsten Gerechtigkeitsdiskurs der europäischen Antike: Gerechtigkeit üben heißt, eine Politik zu entwickeln, die darin besteht, eine Balance zu finden zwischen Selbstsorge – mit dem Ziel, jedem zu ermöglichen, sorglos zu sterben – und Sorge um die Polis – mit dem Ziel, jedem die Urteilskraft zu vermitteln, darüber entscheiden zu können, was er nicht nur sich, sondern zugleich den anderen und indirekt damit der Polis schuldig ist. Wer nach dieser Maxime zu leben versucht, stößt immer wieder aufs Neue an seine Grenzen. Ein Mann wie Kephalos symbolisiert diese Erfahrung, indem er sich verpflichtet, den Göttern zu opfern – ein signifikantes Element der Dramaturgie des Textes, mit dem Platon demonstrativ den gegen Sokrates erhobenen Vorwurf der Jugend gefährdenden Gottlosigkeit dementiert und beweist, dass Sokrates in frommen Milieus tätig ist.
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2. Ma c h i ave ll is pol it isc he St rat e gie der Sorge Die Strömung des europäischen Humanismus wird in ihrem Ursprung zu Recht mit dem Anliegen in Verbindung gebracht, die Kultur Europas durch ein spezifisch profiliertes Projekt zu ›humanisieren‹, für das ein kompetenter Dialog mit der literarischen und historischen Antike als konstitutiv galt. Dieses Anliegen verbindet, wie Ernst Cassirer gezeigt hat, markant unterschiedliche Autoren wie Petrarca, Cusanus, Ficino, Pico della Mirandola und Erasmus derart auffällig miteinander, dass das markante Design einer authentischen Serie mit einer integrierenden Thematik entsteht, ohne dass man zu einer Verklärung dieser Epoche tendieren muss, wie sie für das Renaissancebild Jacob Burckhardts typisch war.7 Das spezifische Profil dieses Projekts ergibt sich aus einer historisch zunehmend verdichteten Verknüpfung jener drei kulturellen Errungenschaften, die dem im 19. Jahrhundert nachgereichten Terminus »Humanismus« seine terminologische Bedeutung und seine historische Legitimation als Bezeichnung derjenigen geistigen Strömung vermittelt haben, über die bis heute eine ganzes Zeitalter definiert wird. Dabei soll nicht in Abrede gestellt werden, dass sich innerhalb dieser Epoche – die statt »Renaissance« vielleicht besser »Neuinszenierung« heißen könnte – Sprünge finden lassen, die jeweils den Verdacht einer »Epochenschwelle« nahelegen8. Die Errungenschaften sind per se gänzlich unbestritten, und ihre Synthese ist so evident, dass sie keiner weiteren Rechtfertigung bedarf. Es handelt sich um die Emergenz von drei großen »H«: die Institutionalisierung des (H)Umanista als massgebliche Gelehrtenfigur, die Etablierung der Studia Humanitatis an den Bildungsstätten des damaligen Europa und die Literarisierung des weltanschaulichen Grundanliegens eines erheblichen Teils der für die Zeit von Petrarca bis etwa Erasmus signifikanten Autorenschaft dieser Epoche: Gemeint ist das erwachende Interesse an einer universalen Definition der Menschenwürde, der Dignitas Hominis, wie es sich niederschlug in der Entstehung einer eigenen Literaturgattung: der »Dignitas-Literatur«. Entscheidend ist, dass diese drei Teilprojekte durch die auf je auf unterschiedliche Weise erkennbare Intention miteinander verbunden waren, im programmatischen Rückgriff auf die griechische und römische Antike nicht nur dieser zu neuer Aktualität zu verhelfen, sondern sie sogar zu übertreffen9. Dazu gehörte allerdings ein zusätzliches Profilelement, dass sich für die Signatur des Humanismus zunehmend als prägend erwies: die Politik. Historisch ist dieses Element primär mit der Figur Niccolò Machiavellis verbunden; umstritten ist allerdings, ob der Humanismus mit Machiavellis Projekt der rigorosen und machtpolitisch konsequenten Strategie einer Republikanisierung Italiens seinen Kulminationspunkt erreichte, oder ob Ma104 | Enno R ud ol p h
chiavellis Bedeutung in einem jähen Bruch mit dem Humanismus an der Schwelle zur Moderne bestand10. Nicht erst seit dem Erscheinen der Thoughts on Machiavelli von Leo Strauss11, sondern spätestens seit Cassirers definitivem Freispruch Machiavellis vom Verdacht der Urheberschaft des Machiavellismus, dem sich inzwischen eine Reihe maßgeblicher Interpreten aus sehr unterschiedlichen Perspektiven anschlossen – offenbar ohne bemerkt zu haben, dass Cassirer ihnen zuvor gekommen war12 –, wird Machiavellis Il Principe nicht länger als Rezeptur zur skrupellosen Machterhaltung im politischen Handlungsraum, sondern als komplementäre Abhandlung zu den Discorsi, die nach nahezu uneingeschränkter Übereinstimmung als das Dokument eines verlässlichen Bekenntnisses zum Ideal des politischen Republikanismus gelten, gelesen. Tatsächlich sind beide Texte – so lässt sich deren jeweilige Thematik und deren Durchführung im Thema dieses Beitrags spiegeln – durch das Motiv der Sorge miteinander zu verbinden, und eine Synopse der beiden Abhandlungen macht zudem sichtbar, dass dies in evidenter Analogie zur platonischen Sorgedialektik nachzuvollziehen ist: Il Principe handelt von der Selbstsorge, die Discorsi dagegen von der Sorge um die Polis. Von den vorausgesetzten Kompetenzen, über die nicht nur ein fürstlicher Machthaber, sondern generell ein zoon politikon zu verfügen hat, um seine Macht langfristig zu erhalten, spricht Il Principe; die Discorsi beantworten dagegen die Frage, welchem Zweck die Kunst der Machterhaltung zu dienen hat, nämlich der Gründung einer Republik. Letzteres heißt im aktuellen Fall: Es geht in den Discorsi um die Transformation des antagonistischen Mächtepluralismus zwischen den italienischen Fürsten, dem französischem König, dem deutschem Kaiser und dem Papst in ein von den intervenierenden äußeren Mächten befreites und republikanisch verfasstes Italien. Der Principe verbindet drei eigens dazu geforderte Tugenden – im ursprünglichen Sinne der virtus romana oder der politischen arete bei den Griechen verstanden als »Fähigkeiten« oder »Tüchtigkeiten«. Gemeint sind zunächst fortuna bzw. occasione, verstanden als die Fähigkeit, günstige Gelegenheiten beim Schopf zu packen, daneben die necessità, verstanden als die Fähigkeit zur realistischen Einschätzung der jeweiligen Ausgangslage und die virtù, verstanden als die Fähigkeit zur Ausbalancierung von Eigeninteresse und Gemeinwohl. Diese bilden ein Dreigestirn von ausgezeichneten Begabungen, ohne deren kunstfertige Anwendung das eigentliche politische Ziel, das lediglich in kurzfristiger Perspektive im Machterhalt, in langfristiger Perspektive aber in der Schaffung einer neuen politischen Ordnung besteht, verfehlt wird. Immer wieder werden Figuren, auf die Il Principe als exemplarisch für die eine oder andere dieser Fähigkeiten verweist, gern mit Machiavellis politischen Idealgestalten verwechselt. So scheint Cesare Borgia gerade in seiner Eigenschaft als S o rge a l s Form u n d I n h alt de r Pol i t i k | 105
skrupelloser und zur Grausamkeit neigender Stratege die Funktion eines Vorbildes zu erfüllen: Vorbild allerdings allenfalls für diejenigen, »die durch Glück und mit fremden Waffen zur Herrschaft aufgestiegen sind«.13 Gerade so aber ist der politische Heilsbringer nicht vorzustellen. Cesare Borgia ist zwar als ein exemplarischer Fall für den »Umgang mit Fortuna« anzusehen, die ihm insbesondere dadurch günstig zu sein schien, dass der päpstliche Machthaber im Vatikan sein Vater war. Das Lob des Cesare Borgia ist aber mit Vorsicht zu beurteilen. Sowohl der unmittelbare Zusammenhang im Il Principe als auch der durch Einbezug der Discorsi hergestellte mittelbare Kontext zeigen, dass Machiavelli sorgfältig zwischen solchen exemplarischen Figuren für die Anwendung strategischer Methodik, zu denen Cesare Borgia gehört, einerseits und andererseits solchen, die für das Ideal seiner eigentlichen politischen Zielsetzung stehen, unterscheidet: Letztere heißen Romulus, Moses oder Alexander der Große – Figuren, die entweder dem Mythos oder der Historie entspringen, die aber eines gemeinsam haben: die erfolgreiche Stiftung einer neuen politischen Ordnung. Das ›Buch der Selbstsorge‹, Il Principe, verliert das strategische Ziel niemals aus den Augen, wie sich bei genauer Lektüre zeigt: Cesare Borgia fällt am Ende durch. Eher setzt das Buch auf Lorenzo de’ Medici, den es einweihen will in eine Kunst, deren Ausübung in der Fähigkeit besteht, das komplexe Kräftespiel der Mächte im Lande sowohl innen- als auch außenpolitisch zu durchschauen, die Regeln der Diplomatie wie auch der Kriegsführung zu beherrschen bzw. gegebenenfalls neu festzulegen und sich als Souverän der politischen Virtuosität zu erweisen. So schälen sich zwei ungewöhnliche Kandidaten heraus, die über die für die Übernahme der Funktion des uomo virtuoso hinreichende Eignung verfügen, da sie die außergewöhnliche Kunst beherrschen, zwei nach unserem Verständnis diametral entgegengesetzte Typen der Machtanwendung miteinander zu kombinieren. Damit sind einerseits die gemeint, denen es um eine kompromisslose Identifizierung von Machterhaltung und Selbsterhaltung geht, von der Il Principe handelt. Andererseits geht es um die, die den vorbehaltlosen, am Ende aber selbstlosen Einsatz für die Einigung Italiens und für eine Neugestaltung der politischen Ordnung anstreben. Ziel ist, einen Zustand zu erreichen, in dem die Geltung der Gesetze und das Ethos der politischen »Gemeinschaft« einander spiegeln, wovon die Discorsi handeln. Dieser übermenschliche Machtmensch hat dafür zu sorgen – und diesem Ziel dient die auf ihn zugeschnittene Staatsräson –, dass »die Republik für sich selbst sorgen« kann: »Die Funktion des uomo virtuoso in Machiavellis politischer Theorie ist also, sich selbst überflüssig zu machen.«14 Keiner hat das antike Modell der Sorge-Dialektik so streng aktualisiert und zugleich derart zeitgemäß implementiert wie Machiavelli. Sie reflektiert sich idealiter im revolutionären Virtuosen, der die beiden Komponenten des politischen Ethos der Sorge vereinigt: als Sorge um den Machterhalt im Interesse der Erhaltung des 106 | Enno R ud ol p h
Staates ist sie die Aktualisierung des Modells der Sorge um sich selbst. Komplementär dazu verhält sich die Sorge um die Polis. Sie aktualisiert sich im Kampf für die Republik. Sie gliedert sich in die Sorge um die Bewahrung der Geltung der Tradition und in die Sorge um die Zukunft Italiens: Deshalb kommt das imperium romanum als historisches Muster und Exempel in den Discorsi permanent zum Zuge – bis hin zur Belobigung des Tyrannenmordes als vorbildliche Tat. Über die Frage nämlich, ob Machiavelli in dem berühmten 6. Kapitel des dritten Buches der Discorsi – wo es um politische Verschwörungen, namentlich um diejenige des Marcus Junius Brutus gegen Caesar, geht – davor warnt, zu solchen Mitteln zu greifen, oder ob er vielmehr darin eine »Anleitung« zum republikanischen Widerstand liefert, ist viel geschrieben worden.15 Vielleicht liegt der Schlüssel zum Verständnis des Kapitels nicht in ihm selbst, sondern außerhalb desselben – dort, wo Machiavelli den legendären Vorfahren und das angebliche Vorbild des Täters, Lucius Junius Brutus, abhandelt: im zweiten Kapitel desselben Buches. Es ging damals um alles – um den Schwur, »künftig nie mehr einen König in Rom zu dulden«. Und diese Aussicht in ihrer generalisierbaren und eo ipso exemplarischen Bedeutung für die Gegenwart beschwört Machiavelli bereits im zweiten Buch der Discorsi: »Das Allerwunderbarste aber ist der Aufstieg Roms, nachdem es seine Könige verjagt hatte. Die Ursache ist leicht einzusehen. Nicht das Wohl des Einzelnen, sondern das Gemeinwohl ist es, was die Staaten gross macht.« (»Non il bene particolare ma il bene commune è quello che fa grandi le città.« [Hervorh. v. Vf.])16. Lucius Brutus habe sich meisterhaft zu verstellen vermocht, »um weniger beobachtet zu werden, die Könige leichter zu stürzen und sein Vaterland bei der ersten Gelegenheit befreien zu können«, lobt Machiavelli ihn noch nachdrücklicher als Livius es tat. Ein Vorbild an Sorge – Sorge nicht als schicksalhafte Last, sondern als politische Energie. »Aus seinem Beispiel müssen alle lernen, die mit ihrem Fürsten unzufrieden sind.«17 Die Sorge für das bene commune rechtfertigt den Tyrannenmord. Den zu begehen bedarf es der virtù: also der dialektischen Tugend, die die Sorge um sich selbst – Mut, Energie, Entscheidungsfreudigkeit und Kampfbereitschaft – mit der Sorge um die Polis verbindet.
A n m e r kun ge n 1 H. Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluss, Frankfurt a. M. 1987, S. 197ff. 2 M. Foucault, Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt a. M. 2007, S. 251. 3 Vgl. zur Tradition und Bedeutung dieses Mottos: K. Flasch, »Ars imitatur naturam. Platonischer Naturbegriff und mittelalterliche Philosophie der Kunst«, in: ders. (Hg.), Parusia. Festgabe für J. Hirschbeger, Frankfurt a. M. 1965, S. 265ff. 4 Aristoteles, Metaphysik 1038b1ff. S o rge a l s Form u n d I n h alt de r Pol i t i k | 107
5 Apologie 29d/e. 6 Politeia 331d9. 7 Vgl. dazu E. Rudolph, »Humanismus als Philosophie«, in: ders., Ernst Cassirer im Kontext. Kulturphilosophie zwischen Metaphysik und Historismus, Tübingen 2003, S. 98ff. 8 H. Blumenberg, Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner, Frankfurt a. M. 1976, S. 31. 9 Vgl. H. Baron, Bürgersinn und Humanismus im Florenz der Renaissance, Berlin 1992, S. 32f. 10 Vgl. E. Rudolph, »Die Renaissance – Frühe Phase der Neuzeit oder Epoche sui generis?«, in: Th. Leinkauf (Hrsg.), Dilthey und Cassirer. Die Deutung der Neuzeit als Muster von Geistesund Kulturgeschichte, Hamburg 2003, S. 92ff. 11 Vgl. dazu H. Meier, »Die Erneuerung der Philosophie und die Herausforderung der Offenbarungsreligion. Zur Intention von Leo Strauss’ Thoughts on Machiavelli«, in: ders., Politische Philosophie und die Herausforderung der Offenbarung, München 2013, S. 39ff. 12 E. Cassirer, Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens (zuerst 1946), Frankfurt a. M. 1988, S. 184; K. Reinhardt, »Thukydides und Machiavelli«, in: ders., Die Krise des Helden. Beiträge zur Literatur- und Geistesgeschichte, München 1962, wiederabgedruckt in: ders., Vermächtnis der Antike, Göttingen 1989, S. 184ff.; H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt a. M. 1995, S. 368. 13 N. Machiavelli, Il Principe/Der Fürst, Stuttgart 1991, S. 63. 14 Münkler (o. Anm. 12), S. 366. 15 St. Saracino, Tyrannis und Tyrannenmord bei Machiavelli. Zur Genese einer antitraditionellen Auffassung politischer Gewalt, politischer Ordnung und Herrschaftsmoral, München 2012, S. 379. 16 Discorsi II, 2. 17 Discorsi III, 2.
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Cornel Zwierlein
SE-CURARE, SINE CURA, SE-CURITAS, ASSECURATIO : INNOVATIONEN DER SICHERHEITSPRODUKTION IN DER RENAISSANCE Die Renaissance, gerade die italienische, ist eine Epoche des Umbruchs nicht nur für Vorstellungen und Institutionen von »Sorge«, sondern auch von ihrem positiven Widerpart, der se-curitas. Es ist ein Anliegen dieses Beitrags, cura und securitas als zwei Seiten einer Problemkonfiguration zusammen zu behandeln.1 Etymologisch ist das se- in securitas ja wie ein alpha privativum zu verstehen, Sicherheit/securitas ist eben der Zustand der Nicht-Sorge. Gerade für die Renaissance mit ihrem Rückgriff auf die antiken Vorstellungen und Begriffswelten ist die Betrachtung auch dieses Gegenstücks besonders wichtig, denn erst in dieser Zeit erhält securitas/ sicurtà wieder eine große Bedeutung. Wenn »Sorge«, cura, verschiedene Semantiken hat, je nachdem, ob sie sich negativ oder positiv auf geistige oder physische Zustände bezieht (Angst, Schmerz, Sich-um-etwas-Kümmern, der Gegenstand der Sorge), so kann die Abwesenheit von Sorge (se-curitas) ebenso viele Semantiken haben (Sorg-losigkeit, ruhig, sorgen-frei, unbekümmert, sicher). Man könnte aus diesem Grundbezug cura/securitas ein Ordnungsschema für einen Durchlauf durch die komplette Geschichte machen.2 Hier beschränken wir uns bescheidener nur auf einige Aspekte der Renaissance-Zeit. Für diese ist die antike Grundlegung unerlässlich, die in diesem Band schon weiter oben entfaltet wurde; es sei nur daran erinnert, dass der Begriff securitas zentral zuerst bei Cicero auftaucht, etwa in De officiis I, 69: Frei muß man aber sein von jeder Verwirrung des Geistes, sowohl von Begierde und Furcht, als auch besonders von Kummer, zu großer Lust und Zorn, auf daß Ruhe der Seele und Ungestörtheit herrsche, die Beständigkeit und Würde mit sich bringt.3
Der Begriff steht dann hier und bei Seneca immer im philosophischen Kontext der stoischen und epikureischen Lehre von der ataraxia, der Gemütsruhe und Besonnenheit, man könnte in der Übersetzung auch »Sorgenfreiheit« einsetzen: Zur Zeit Ciceros »hörte« man als Römer ohne Zweifel die Verbindung von cura/securitas noch mit. Gleichzeitig finden wir gerade bei Cicero in den Briefen und in Se-curare, sine cura, se-curitas, assecuratio | 109
den Reden immer wieder auch die Idee der cura rei publicae, der Sorge um den Staat und das Gemeinwesen. Diese cura rei publicae wird dann aus der republikanischen Tradition auf die Ebene von Prinzipat und Kaisertum transferiert und transformiert;4 hier tritt sie dann im Kaisertum ab Nero zusammen mit der securitas auch als Tugendkonzept, als Politikziel und -allegorie der imperialen Ordnung auf: Statuen werden errichtet und Münzen geprägt mit der Aufschrift securitas Augusti oder securitas publica: Das Imperium stellt sich als der Garant für die möglichst flächendeckende Abwesenheit von »Sorgen« dar. An diesem Punkt verbindet sich das pure Konzept mit institutionellen Praktiken der staatlich-imperialen Wohlfahrtsgewährung. Es ist interessanterweise in dieser Hinsicht kein republikanischer Begriff, sondern erst einer aus der Kaiserzeit. Im Mittelalter hingegen taucht securitas dann kaum mehr als Leitbegriff für individuelles wie kollektiv-institutionelles Handeln auf, während die cura sehr wohl von großer Bedeutung bleibt.5 Der Begriff, auch das Abbild, die Allegorie sowie die Zielvorstellung von Sicherheit und vor allem auch die »praktische Sicherheits-Politik« werden aber gerade in der Renaissance wieder neu nach antikem Vorbild rezipiert und zunehmend darüber hinausgehend entwickelt. Im Folgenden wird zunächst danach gefragt, ob und wie in der bisherigen gängigen – meist älteren – Literatur zur Diskussion und Bestimmung des Epochenbegriffs und -umbruchs der Renaissance »Sorge« und »Sicherheit« eine gewisse Beachtung gefunden haben (I). Dann werden zwei Beispielsfelder der Institutionalisierung von Vorsorge- und Sicherheitspraktiken näher betrachtet: Wirtschaft und Politik. Im Bereich der Wirtschaft wird noch einmal unterschieden und zunächst ein Element des neuen frühkapitalistischen Wirtschaftens des Italiens der Renaissance, die assecuratio betrachtet (II); dann wird kurz an die Monti di pietà erinnert (III), die schon ein Brückenelement zum staatlichen Bereich herstellen. Dieser wird dann im letzten Beispiel genauer behandelt, indem am Beispiel der staatsbrieflichen Kommunikation von Lorenzo de’ Medici untersucht wird, inwiefern die Sorge um die Sicherheit des eigenen Staates wie des italienischen Staatenkollektivs oder -systems und Praktiken der Systemstabilisierung zu einem novum der Renaissance wurden, und wie so die Institutionalisierung des Staatensystems auch hinsichtlich von cura/securitas ihren Reflex in der politischen Sprache erfuhr (IV).
I. Re n a i ssanc e : zum St and de r Histori ographi e der » E po che nsc hwe ll e « Der Epochenbegriff der Renaissance ist im französischen, italienischen und angloamerikanischen Sprachraum bis heute zentral, im deutschen aber war er von 110 | Cornel Zwi e r l e in
etwa 1960 bis 1990/2000 von geringer Bedeutung, zumindest außerhalb der kunsthistorischen Forschung. Dies liegt daran, dass der Begriff meist dominant dem kulturhistorischen Feld zugeordnet wird, das in der Zeit der Prädominanz der sozialhistorischen Forschung eher ausgeblendet war. In der Zeit von Ende des 19. Jahrhunderts bis 1960 hingegen entflammte immer wieder eine allgemeine Diskussion um Herkunft, Prägung und unterschiedliche Interpretation des Begriffs als Stil- oder Epochenbegriff sowie über seine Reichweite. Es ließe sich hier eine sehr lange Liste von berühmten Autoren aufführen, die nach Jules Michelet und Jacob Burckhardt jenseits ihrer jeweiligen Spezialforschungsgebiete jeweils auch größere Beiträge zum Konzept von »Renaissance« vorgelegt haben.6 Verwandt hiermit sind auch die zahllosen Beiträge zum »Humanismus«, oft als charakteristische »Geistesströmung« oder Bildungs-»Bewegung« der Renaissance gefasst. Unmöglich kann in diesem Rahmen diese Literatur erschöpfend rezensiert werden. Es sei aber festgehalten, dass innerhalb derselben, obgleich es ja gerade um das Problem der Epochenschwellen und der Epochenspezifizität geht, verblüffend wenig Kriterien für dieselben jenseits der ideengeschichtlichen/geistigen Ebene angeführt werden: Was sind eigentlich die Motoren und Antriebskräfte dieses Epochenwandels, und worin bestehen seine genauen Inhalte? Während also in einer Unzahl von allgemeinen Erörterungen zum Epochenbegriff bis etwa 1960/70 bei näherem Hinsehen doch relativ wenig Handgreifliches gerade für unsere hier einschlägige Ebene des »Handelns« oder der Praktiken zu finden ist, gilt für die gegenwärtige internationale Renaissance-Forschung das Umgekehrte: Sie floriert zwar, kümmert sich aber kaum mehr in diesem generellen Sinne um die Konzeptualisierung der Epochenschwelle.7 Das mag zum einen an wissenschaftssoziologischen Entwicklungen der Pragmatisierung der Epoche gerade in der angloamerikanischen und italo-französischen Forschung gelegen haben (wenn der Rahmen institutionell gesichert ist, erscheint das Nachdenken über das Ganze eher überflüssig); vielleicht auch an der allgemeinen Tendenz, im Zuge von Globalisierung und »Entzeitlichung« weniger in historistisch geprägten Epochen-Tiefen zu denken. Andererseits scheint mir gerade diese Inkommensurabilität »alteuropäischer« Epochenbegriffe wie dem der Renaissance mit globalen Gegebenheiten uns unter einen neuen Definitionsdruck zu stellen.8 »Sicherheit« und Innovationen im Bereich praktischer »Für-/Vorsorge« kommen jedenfalls in diesen allgemeinen Epochenbestimmungen so gut wie nicht vor. Beim großen Jakob Burckhardt etwa wird ja auch im systematischen ersten Abschnitt zum Staat als Kunstwerk erstaunlich personen- und ereignisorientiert erzählt, ohne stark auf Institutionelles einzugehen, mit Ausnahme der hellsichtigen Betonung des »statistischen Blicks«, der in der Renaissance neu sei. 9 Im politischen Bereich wird freilich immer wieder die »Krise« der italienischen Kriege ab 1494 bemüht; aber das Epochenmachende, »Mittelalter« von »Neuzeit« TrenSe-curare, sine cura, se-curitas, assecuratio | 111
nende dieser Invasion ist nicht ohne weiteres im Vergleich zu vielen vorhergehenden Invasionen eines Herrschers in ein anderes Gebiet innerhalb Europas und auch nach Italien einzusehen. Immerhin sind zwei argumentative Sequenzen im Rahmen dieser älteren Epochen-Diskussionen bedeutsam: Zum einen die Argumente, mit denen einst etwa Armando Sapori der kulturellen »Renaissance« eine wirtschaftliche vorlagern wollte, die vom 13. Jahrhundert bis 1350 anzusetzen sei.10 Nun entsprang diese These, die dem Wirtschaftlichen eine chronologische und kausale Vorreiterstellung gegenüber dem Kulturellen zusprach, zwar dem Zeitgeist der späten 1950er Jahre und der folgenden Zeit. Man kann hier in Frage stellen, ob das Kulturelle wirklich dem Wirtschaftlichen nachfolgte.11 Die Idee einer »wirtschaftlichen Renaissance« kann auch abgelehnt werden, indem man strikt an der kulturhistorischen Semantik der Epoche festhält. Wenn man aber die wirtschaftlichen Innovationen auf die ihnen zugrunde liegenden kommunikationshistorischen Kulturtechniken (Faktorei-Kommunikation, Notationssysteme) zurückführt, liegt das Wirtschaftliche eben viel näher an Politik und Humanismus, und dann ist es sinnvoll, das frühkapitalistische Wirtschaften im mediterranen Raum als ein Element der Renaissance in ihrer technisch-innovativen Dimension zu verstehen. Zweitens taucht in dieser allgemeinen Diskussion um den Begriff der Renaissance durchaus immer wieder der Verweis auf die Emergenz des so genannten »neuzeitlichen Staatensystems« in Italien auf, mit dem Neuerungen im Bereich der politischen Sprache und Konzeptbildung (zum Beispiel equilibrio/Gleichgewichtsdenken) verbunden sind.12 Im Übrigen werden Renaissance und Humanismus seit jeher vor allem über Ideen und Prozesse wie »Individualisierung«, Empirismus-Begründung, Antike-Imitation oder Wissenschaftsneubegründung erklärt, während man etwa im sozialstrukturellen Bereich wenig Neuerungen vorweisen kann. Sicherlich: Für Italien zeichnet sich ein Prozess der Ablösung der Vielfalt von Signorien, Republiken und Tyrannides durch arrondiertere größere Territorialstaaten ab, was auch Folgen für den Charakter von Patriziat, »Adel« und »Bürgern« hat – Kategorien, die in Italien ohnehin weniger klar definiert und geschieden waren.13 Aber diese langsam vonstattengehende Veränderung würde kaum die Ansetzung eines großen Epochenschnitts rechtfertigen, wie Mediävisten vermutlich nicht zu Unrecht einwenden würden. Wenn es also der geistig-inhaltliche Bereich ist, der von so großer Bedeutung ist, dann müssen wir das Materielle, das dahintersteht, im Bereich des Wandels des medial-kommunikativen Bedingungsgefüges suchen. Hier scheint mir für beide Bereiche, Wirtschaft und Politik, auf die ich abheben möchte, letztlich auch für den der Kultur, der Umstieg auf Papier flächendeckend um 1300, die Infrastrukturrevolution der poste und der damit einhergehende Verschriftlichungsschub zentral zu sein.14 Es geht um die Frage, was die Kombination dieses 112 | Cornel Zwi e r l e in
Wandels im Bereich von Aufschreib- und Verbreitungsmedien für eine Funktion und Wirkung auf der Wahrnehmungs- und Produktionsseite hat. Der zentrale Gedanke ist, dass dieses mediale Bedingungsgefüge für den etwas schwer zu fassenden Bereich der Wirklichkeitsrepräsentation erhebliche Folgen hat. Dies gerade auch im Bereich von Wirtschaft und Politik: Die zentrale Strukturänderung des mediterranen Handels, die das »revolutionäre« Potential in sich barg, war eben dieser Kommunikationsunterbau einer papiernen Welt von tausenden von Geschäftsbriefen, die ständig zwischen den fondachi auf Land- und Wasserweg transportiert wurden, deren Informationen zur Repräsentation der Wertflüsse und zu einer Autonomisierung einer Sphäre der Werte diente. Man muss auf diese qualitativen Aspekte der Kommunikationsform von Änderungen abheben, nicht nur auf die Vermehrung von Gedrucktem und Geschriebenen.15 Ebenso war der Kommunikationsunterbau des so genannten »Staatensystems« die papierbasierte diplomatische Kommunikation und die von ihr abgeleiteten Derivattypen von Gegenwartsrepräsentations-Medien wie unter anderem die handschriftlichen Zeitungen. Auch hier war das Entscheidende, dass die ständig wechselnde politische Gegenwart der Ereignisse so eine neue Repräsentationsform, ja überhaupt eine eigene Realität erhielt. In beiden Fällen führt dieser entscheidende Wandel zur Ausbildung neuer Quellentypen, die wir dann in großen Mengen in den Archiven vorfinden und die auf neue Realitäten verweisen. Ich neige dazu, hier von »Verdopplung« der Realitäten zu sprechen, weil durch diese Typen serieller narrativer Repräsentationskommunikation in den Köpfen der Wahrnehmenden und Produzierenden eine »Wirtschafts- und Politikwelt« weit jenseits vom haptisch Greifbaren, vom vor Ort Vorhandenen, von der Anwesenheitskommunikation entsteht, eine Welt der Werte, die man dann sichern und abkoppeln kann jenseits der Einbrüche im Bereich physischer Naturkatastrophen; eine Gegenwartsrepräsentation politischer Aktionen, Akteure und Bewegungen, die anonym und unabhängig von der Steuerung der diplomatischen Kommunikation prozessiert. Hier wird ein neuer Schritt in der »Vergegenständlichung« von eigentlich Nichtanwesendem erreicht. – Dies mag so in wenigen Worten in abstracto skizziert bleiben.16 Es ist der Punkt, den ich für beide Bereiche – Politik und Wirtschaft – als gemeinsames explicans festhalte: Renaissance wird so epochal zwar einerseits über eine »weiche« Kategorie, die einer massiven Wahrnehmungsänderung, bestimmt; sie wird andererseits aber auch an die »harte« Materialität der Kommunikationsmedien rückgebunden und damit an handfeste archivalische Befunde: Ab dem 14. Jahrhundert finden sich eben all jene neuen Typen von kaufmännischer Schriftlichkeit, ab dem 15. Jahrhundert dann die dichten kontinuierlichen Serien von Botschafter-dispacci, Instruktionen, Relationen und avvisi.
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II. S o rge und Sic he rhe it im m e dit erranen H andel sei t de m 14. Jahrhunde rt : assecuratio Das in unserem Zusammenhang Bedeutsame hinsichtlich der ersten, hier knapp dargestellten Beispielpraxis der maritimen Transportversicherung als spezifischer Form von Sorgen-Entlastung und Sicherheitsproduktion in der mediterranen kaufmännischen Kommunikation ist, dass sie im engeren Umfeld der Kaufleute die Schicksals- und Gefahrengemeinschaft ablöst und in eine Kumulation von Individualverantwortlichkeiten und Eigenvorsorge-Parteien transformiert. Der Zukunftsaspekt, dass man sich also grundsätzlich durch Prämienzahlung vor Abfahrt des Schiffes und insbesondere vor Schadenseintritt versichern sollte, ist nicht zwingend, da es bis weit ins 17. Jahrhundert hinein üblich war, dass man zwar Versicherungsverträge abschloss, die Prämienzahlung aber erst nach Wiederkehr des Schiffes mit dem erzielten Gewinn verrechnete. Entscheidender an der Prämienversicherung ist, dass wir aus den Kaufmannsbriefen, wie sie uns im berühmten Datini-Archiv überliefert sind,17 ablesen können, dass sie tatsächlich auf »Sorgen« der Kaufleute reagierte. Der Begriff für deren Sorge um den Schutz ihrer Ware vor Naturunglücken oder Piraterie war die melencholia. Auffällig in den Datini-Briefen ist, dass im ansonsten gepflegten nüchternen Duktus der Berichte und Berechnungen immer wieder dieser emotionssprachliche Verweis auf die »Melancholie« auftaucht, welche die Sorge um den Verbleib von Waren beim Schreiber auslöst. So ist die Rede davon, dass »Melancholie« beim Händler ausgelöst worden sei, weil statt sechs geschickten Ballen nur fünf angekommen seien. »Große Melancholie«, so wird beschrieben, wird ebenfalls empfunden, wenn der Verbleib von 40 abgeschickten Ballen Tuch im Wert von 2000 Gulden ungeklärt ist, denn diese sicher zu befördern habe 8 Franken gekostet. Datini solle nach dem Verbleib der Ware in Viglana schauen, damit Tieri di Benci in Mailand nicht weiter »Melancholie« verspüren müsse: Soldaten (»giente d’arme«) in Turin behinderten den Weitertransport von Ware seit mehr als einem Monat.18 Immer müsse man sich vorsehen, dass kein Schaden aus bestimmten Gefahren folge. Man habe darauf aufzupassen, »dass große Gefahr drohe« (»che grande rischio achore«), man müsse »vorsehen, dass kein Schaden daraus folge« (»providere che danno non ve ne seghuisse«).19 Dass Datini selbst nach Avignon reise, sei nicht ratsam, denn er werde große Gefahr eingehen auf einem so langen Weg.20 In solchen Zusammenhängen von Sorge und Vorsichtmahnung um das Wohl der Güter und der Menschen taucht – zumal wenn es um Reisen und Transport über das Meer hinweg geht – zuweilen auch in den Kaufmannsbriefen nur beim genauen Hinsehen erkennbar das Instrument der Versicherung auf: Bascano da Pescina ist zufrieden, dass seine Tuchware mit der erstbesten Gelegenheit nach Barcelona geschickt werde, doch solle Francesco Datini eine Versicherung zumindest über die Hälfte des Warenwerts abschließen, damit man kein zu großes Risiko eingehe.21 114 | Cornel Zwi e r l e in
Melancholie, curarsi, rischio sind hier Synonyme für »Sorge«, denen die Versicherung, die assicuranza, als Antwort gegenübersteht. Das Quellenmaterial erlaubt es nicht, hier aufgrund des Wortkörpers Melancholie weiter über Einflüsse galenisch-hippokratischer Theorien in der Kaufmannswelt à la Saxl/Panofsky nachzudenken. Im System der doppelten (oder mehrfachen) Buchführung trug man gegen das geringe Minus der Prämie auf der Sollseite im eventuellen Schadensfall an Stelle des Warenverkaufswerts die Versicherungssumme ein, so dass auf der Wertrepräsentation der Haben-Seite die Ereignisse der physischen Welt (Schiffbruch, Untergang) ausgeblendet wurden. Bezöge man den Renaissance-Begriff rein auf die Semantik des Wiedergebärens, des rinasci, würde bei diesen Befunden in der Tat die Rede von einer wirtschaftlichen Renaissance sinnlos sein, denn kaufmännische Praxis-Innovationen, die gerade nicht imitativ-emulativ auf Antikes zurückgriffen, haben hiermit nichts zu tun. De facto – und das zeigen auch die frühen Vorläufer der rinascimentalen Querelle des anciens et des modernes22 – ging es in der Renaissance aber stets um als Altes camoufliertes Neues. Bei der Prämienversicherung hingegen entfiel die Camouflage, sie war von namenlosen ungelehrten Erfinder-Kaufleuten langsam als Praxis generiert worden, die sich gar nicht um Dignitäten alter und neuer Wissensordnungen kümmerten. Es gab sie noch nicht in der Antike und sie passte auch nicht in die »Systematik« der ersten gelehrten Wissensordnung, die sich mit ihr auseinandersetzen musste, des römischen Obligationenrechts.23 So waren die ungelehrten Kaufleute eigentlich in ihrem praktischen Handeln der Sorge-Bewältigung noch unverblümt innovativer als die Renaissance-Philosophen im Bereich der Ideen und elaborierten Texte. Die kaufmännische Kommunikation etwa zwischen fondachi in Avignon, Barcelona, Florenz, Genua, Palma de Mallorca, Pisa, Prato oder Valencia (so im Fall der Datini) schuf ein stetes Kommunikationsnetz, in dem die Briefe zirkulierten, die ihrerseits die Repräsentation der Welt der Werte produzierten: Hier waren die Versicherungen ein Mittel der Entkopplung. Die physische Welt mit ihren Gefahren von Raub, Blitzschlag, Unwetter und Piraten wurde abgelöst von der Welt der Werte; ging ein Schiff in der physischen Welt unter, blieb die Bilanz in jener anderen Welt der Werte dank Versicherungen trotzdem unberührt, das Soll/Haben-Verhältnis blieb gleich. Die Sorgen wurden damit also nicht aus der Welt verbannt – im Gegenteil: Wir finden sie als melencholia stets im sonst dürren Kaufmannsbrief-Italienisch deutlich emotionalisiert herausgehoben. Aber sie werden gleichsam gebändigt oder gepuffert durch die Komplexitätsvergrößerung der Kreation einer zweiten Realitäts- bzw. Repräsentationsebene.
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III. S o rg e und Sic he rhe it zwisc he n Pri vatwi rtschaft und S t a at : die Monti di pietà Ein zweites Beispiel, um Epochenspezifisches der Zeit des 15. Jahrhunderts bezüglich neuer »Fürsorgepraktiken« in den Blick zu nehmen, sind die bekannten Monti di pietà. Jenseits aller Weber’schen Wahrheiten und auch Mythen vom protestantischen »Geist des Kapitalismus« und vom calvinistischen Ursprung der erlaubten Zinsnahme in der christlichen Welt24 hat man zu Recht immer wieder auf die strukturelle Innovation der sparkassenähnlichen Monti di pietà, wie sie zuerst 1462 (in Perugia) entstanden und dann vom Minderen-Bruder Bernardino da Feltre (1439–1494) zuerst in Mantova und danach in 30 Städten eingeführt wurden, hingewiesen.25 In dieser Institution mischen sich tatsächlich teilweise bis heute, soweit die Nachfolger dieser Banken noch existieren, Zielelemente von caritas und frühkapitalistischem Wirtschaften. Wenn also die Assekuranz im ersten Beispiel Sorgenbewältigung in der genuin neuen frühkapitalistischen Wirtschaftskommunikation repräsentierte, so stehen die Monti hier für ein Mischphänomen, bei dem solche kaufmännischen Formen mit älteren kirchlich-staatlichen gekreuzt wurden. Bis 1515 waren schon 135 Monti entstanden, Ende des 18. Jahrhunderts gab es bereits 700 aktive Monti. Man hat geschätzt, dass Bernardini an die 3.600 mehrstündige Predigten überall in Italien gehalten habe, um das neue Finanzinstrument zu propagieren.26 Heute werden diese Monti gerne mit den Institutionen des micro-financing und der micro-credits (Grameene-Bank) verglichen, für die 2006 Muhammad Yunus den Friedensnobelpreis verliehen bekam. Jedenfalls eignete ihnen wiederum ein hohes Maß an Innovativität, denn Eigenvorsorge und kirchliche und obrigkeitliche (Armen-)Fürsorge sowie karitative Fürsorge für den Nächsten mischten sich hier in einer neuen Institution. Zudem vereinte sich auf einer weiteren Ebene in den Monti die ganz weltliche Sorge um bares Geld mit der Sorge um das Seelenheil. Da Feltre und später andere nutzten als »Werbe«-Imago für diese Institution den Schmerzensmann, das Sinnbild der Sorge schlechthin. Bei der Einweihung einer solchen Institution wurde dieser meist in einer Prozession vorangetragen.27 Unter diesem Symbol für Leid und Sorge, aber auch für die daraus folgende Pflicht zum Sich-Sorgen wurde eine Instanz geschaffen, die gerade auch für den einfachen Mann den Zugang zu Kleinkrediten bei niedriger oder gar keiner Verzinsung ermöglichen sollte. Ihren Ausgang nahmen die Montes pietatis bekanntlich im Franziskanerorden. Schon der erste 1462 in Perugia scheint mit leicht antijüdischen Tendenzen eingesetzt worden zu sein.28 Dies bleibt eine Konstante, denn ein Ziel war, der jüdischen Zinspraxis, die bis zu 100% Zinsen verlangte, das Wasser abzugraben. Nach anderen Interpretationen ist diese, freilich unmissverständlich aus den Franziskanerpredigten ablesbare antijüdische Stoßrichtung nur ein Kom116 | Cornel Zwi e r l e in
pensationsdiskurs, während der eigentliche Grund und die Bedarfsgenerierung der Monti darin lag, dass zwischen 1450 und 1500 in Italien eine bemerkenswerte demographische Steigerung stattfand (von 8,8 auf 10 Mio. Einwohner), weshalb die Monti vor allem zur Deckung der so entstandenen Liquiditätsengpässe dienten.29 Auch der Monte di pietà in Florenz etwa profitierte gerade in der Zeit seiner ersten Kapitalbildung seit 1496 von den antijüdischen und zugleich aggressiv devotionalen Tendenzen des Regimes der Savonarolianer.30 Das Neue an den Monti di pietà war der Einsatz moderner Kapital-Investment-Praktiken bei Anvisierung eines grundsätzlich karitativen Gesamtziels. Durch den Appell an das Verantwortungsgefühl und die caritas-Bereitschaft von Einzelpersonen oder Institutionen wie etwa den Gilden oder traditionellen städtischen Korporationen wie der Parte di Guelfa in Florenz wurde erreicht, dass diese entsprechende Summen in den Monte als Einlage einzahlten. Diese Einzahlungen wurden meist unter Bedingungen vorgenommen wie der, dass der Einzahler seine Summe jederzeit zu Lebzeiten zurücknehmen konnte (allerdings oft mit einer etwa einmonatigen Ankündigungsfrist) und dass das Geld, sollte der Einzahler in der Zwischenzeit sterben, dann etwa den Erben auszuzahlen oder aber auch für wohltätige Zwecke einzusetzen war. Ebenfalls sollte das Geld im Todesfall zur Bezahlung von Seelenmessen eingesetzt werden. Das so von unterschiedlichen Parteien immer nur befristet eingezahlte Geld bildete den Kapitalstock, aus dem dann der Monte Armen oder jedenfalls Kapitalschwachen Kleinkredite vergeben konnte. Als Sicherheit für das Kapital fungierte meist ein Pfand. Der Geldwert des Pfandes wurde bei Eingabe geschätzt und dann der Kredit ausgezahlt. Teilweise, bei längerer Pfandleihe, wurden geringe Zinsen auf die geliehenen Gelder erhoben, etwa 7% in Neapel, um die laufenden Kosten zu bestreiten.31 Manchmal variierte der Zins allerdings auch erheblich, etwa in Bologna zwischen 3,5% und 30%, wobei der Grund für dieses erhebliche Schwanken nicht immer klar aus den Quellen ersichtlich ist.32 Im Laufe der Zeit konnte dieser philanthropische Anteil des Bankgeschäfts zurückgehen; in Neapel entwickelten sich Monte di pietà und Monte dei poveri schließlich zu einer simplen Deposit- und Girobank, die Pfandleih-Kredite wurden zu einem Nebengeschäft.33 Den Franziskanern war bei der Einführung der Monti sehr wohl das neuere Konzept von Geldzirkulation und Geldbedeutung bewusst: Bernardino da Siena etwa formulierte Pecunia non solum habet rationem simplicis pecuniae vel rei, sed etiam ultra hoc quandam seminalem rationem lucrosi quam comuniter capitale vocamus – Geld habe nicht allein den simplen Sinn des Geldes oder einer Sache, sondern abgesehen davon auch eine Art wohlstands-produktive Kraft, die man gemeinhin »Kapital« nenne.34 Die Kontenführung der Monti wurde stets sehr erfahrenen Kaufleuten, gegebenenfalls sogar Patriziern der Städte überantwortet, die selbst kaufmännische Erfahrung hatten, die Monti unterlagen aber den Regeln einer sehr konservativen Marktpolitik. Sie durften sich nicht mit dem Kapital an Se-curare, sine cura, se-curitas, assecuratio | 117
»Spekulationsgeschäften«, Unternehmenskäufen und Ähnlichem beteiligen. Insgesamt wurden so Institutionen geschaffen, die extrem langlebig waren und sind und die sich in Krisenzeiten stets als Stabilitätsanker der jeweiligen städtischen und territorialen Gesellschaft erwiesen: »In such a world the importance of the security offered by the monte should not be underestimated.«35 Die Sicherheit wurde übrigens auch in mehreren Nebenfunktionen ausgenutzt. Manche Adlige in Neapel nutzten die Institution auf besondere Weise: Wenn sie sich im Sommer zu ihren luftig-kühlen Feriensitzen begaben, ließen sie diebstahlgefährdete wertvolle Gegenstände als Pfand in der Aufbewahrung des Montes. So konnten sie sich gegen Diebstahl in ihren Stadtwohnungen sichern, hatten Bargeld für die Ferientage und konnten das Pfand nach Rückkehr in die Stadt und nach neuen Geldeinnahmen etwa aus inzwischen erfolgten Ernteverkäufen im Herbst wieder einlösen.36 Insgesamt darf man wohl sagen, dass einmal mehr die Gesamtfunktion dieser neuen Institutionen, die Italien ab 1462 in einem dichten Netz überzogen, die Produktion von ökonomischer Sicherheit war. Sie wurde aus Sorge um das Wohl der kleinen Leute eingerichtet, damit diese sicher und sorgen-frei sein sollten. Die Masse der Institutionen schuf tatsächlich einen Sicherheitspuffer für das frühkapitalistische ökonomische System Italiens: Und zwar hier durchaus schon in der Breite, während die Prämienversicherung bis ans Ende des 17. Jahrhunderts, als das Prinzip aus dem maritimen Transportbereich für den Bereich Feuer und Leben in breiterem Umfang in private und territorialstaatliche Institutionen des Binnenlands transferiert wurde, im Wesentlichen nur ein Spezialinstrument der Kaufleute blieb. Bei den Monti di pietà ist bemerkenswert, wie die neuartigen Mechanismen des kaufmännischen »Arbeitens mit Kapital« und Erfahrungswerte aus dem Bankwesen eine erstaunliche Symbiose mit den karitativen und devotionalen Grundwerten und -praktiken der Gesellschaft des 15./16. Jahrhunderts eingingen: Es waren Hybridbildungen, die als solche aber tatsächlich »neue« Praktiken des Umgangs mit den Sorgen und Nöten der Unter- und Mittelschicht einübten. Sicherheit und Sorge waren auch hier komplementär. Möglich war dies offensichtlich erst unter den Bedingungen eines politisch weitgehend befriedeten Italiens nach dem Frieden von Lodi 1454: Die Diffusion und Einrichtung dieser Pfand-Kreditbanken, das landesweite Predigen und Wirken der Franziskaner konnte in dieser weitgehend kriegsfreien Zeit stattfinden, wie überhaupt die wirtschaftlichen Zusammenhänge während des Friedens besser geschützt waren. Damit hängt die Diffusion dieses Netzes ökonomischer Vorsorge und Sicherheitsproduktion auch mit der Stabilisierung der politischen Situation und Kräfte zusammen, auf das ich im dritten Punkt zu sprechen kommen werde: Ein auch für die wirtschaftlichen Verhältnisse sensibler Politiker wie Lorenzo de’ Medici sorgte sich nicht allein aus Friedensliebe, sondern auch aus Sorge um wirtschaftliche Sicherheit37 um die Aufrechterhaltung der Friedenssituation. 118 | Cornel Zwi e r l e in
IV. Cura dello stato und sicurtà d’Italia : Poli ti k und St a a t e n syst e m de r Re naissanc e Betrachten wir nun einen Praxisbereich, der, wie erwähnt, durchaus öfter in den allgemeinen Epochen-Bestimmungen zur »Renaissance« vorkommt, den Bereich interterritorialer Politik im so genannten (italienischen) Staatensystem. Das Neue der Renaissancepolitik ist gerade, dass sie nicht mehr – zumindest nicht mehr ausschließlich – auf ein gemeinsames bonum commune ausgerichtet ist, sondern dass die Wahrnehmung der Interdependenz der Wirkkräfte und Potenzen der einzelnen Fürsten und Republiken im Vordergrund steht. Die Diskussion über die Entstehung des so genannten italienischen neuzeitlichen Staatensystems hat sich seit dem 19. Jahrhundert über die Monographie von Pillinini bis hin zu Senatores Monographie von ideengeschichtlichen über struktur-systemische Ansätze zu eher wieder quellen- und kommunikationshistorischen Arbeiten entwickelt.38 Die Frage nach den Praktiken der Sorge, von cura und securitas in diesem neuen Feld der interterritorialen Politik, kann auf mehreren Ebenen angegangen werden. Zunächst gibt es die Ebene der handlungsleitenden Wahrnehmung: Wie äußerte sich die »Sorge« um Stabilität der Verhältnisse in den einschlägigen politischen Kommunikationsformen, etwa den dispacci der Diplomaten und den Entscheidungstexten der Herrscher? Hierbei ließen sich noch die Sorgen um die Sicherheit des eigenen Territoriums und jene um die Stabilität und Sicherheit des ganzen interdependenten Systems unterscheiden; eine Unterscheidung in innere und äußere/internationale Sicherheit, die schon Botero um 1600 angelegentlich seiner Erörterung des Gleichgewichtsgedankens (contrapeso) formulierte: Wäre die ganze Welt einer Republik oder einem Fürsten zugehörig, so wäre die »Kunst des Gegenwiegens« (Gleichgewichts-Kunst, arte del contrapesare) überflüssig und ohne jede Notwendigkeit. Aber aufgrund der Pluralität der Fürsten folge, dass das Gleichgewicht nützlich und gut sei. Es sei aber von zweierlei Sorte: Manchmal habe es den Frieden einer Republik zum Ziel, die aus verschiedenen Staaten zusammengesetzt ist wie Italien und Deutschland und wie die ganze Christenheit; dann aber auch wieder die Sicherheit und den Wohlstand (sicurezza e ben essere) eines einzelnen Staates.39 Die »Gleichgewichtskunst« erscheint also in der politischen Theorie um 1600 als das zentrale Mittel internationaler Produktion von Sicherheit und von ben-essere, als Antwort auf die politischen »Sorgen«, und Lorenzo de’ Medici erscheint hier als alter Meister dieser Politikform – eine Rolle, die ihm zuerst Bernardo Ruccellai in seinem De bello italico zugeschrieben hat. Das intensive Bemühen Lorenzos zusammen mit Ferdinand von Aragón, die libertatem pacemque zu bewahren, ist hier im Lateinischen noch mit dem älteren Begriff der pax, nicht der securitas bezeichnet.40 Einige Jahrzehnte später bei Francesco GuicSe-curare, sine cura, se-curitas, assecuratio | 119
ciardini, dem vielleicht aufschlussreichsten politischen Historiker für unsere Frage, ist es schon Lorenzo alleine, der die Waage des italienischen Gleichgewichts hält, und das Handlungsziel ist als sicurtà comune benannt: So war der Stand der Dinge, so waren die Grundlagen der Ruhe Italiens disponiert und dergestalt im Gleichgewicht gehalten, dass man nicht nur keine gegenwärtige Unruhe fürchtete, sondern man konnte nicht einmal leicht voraussehen, durch welche Pläne, Zufälle oder mit welchen (wessen) Waffen solche Ruhe aufgewühlt werden mochte – als im Monat April des Jahres 1492 der Tod Lorenzo de’ Medicis eintrat: ein bitterer Tod für ihn wegen des Alters (denn er starb, als er die 44 Jahre noch nicht vollendet hatte); bitter aber auch für das Vaterland, das aufgrund seiner Reputation und Klugheit und durch sein hervorragend auf die ehrenvollsten und exzellenten Dinge ausgerichteten Geist wunderbar an Reichtümern und allen jenen Gütern und Schmuck blühte, mit denen in den menschlichen Angelegenheiten ein langer Frieden verbunden zu sein pflegt. Schließlich aber war es ein höchst unangenehmer Tod für den ganzen Rest Italiens, und zwar sowohl wegen all jener anderen Aktionen, die ständig durch ihn zugunsten der allgemeinen Sicherheit [per la sicurtà comune] unternommen wurden; als auch insofern als er ein Instrument der Mäßigung und gleichsam eine Bremse in den Differenzen und Verdächtigungen war, die häufig aus unterschiedlichen Gründen zwischen Ferdinand und Lodovico Sforza entstanden, Fürsten fast gleich an Ehrgeiz und Macht.41
Guicciardini zeichnet hier das bekannte Bild des »Goldenen Zeitalters« der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts nach dem Frieden von Lodi 1454, in der die vielfältigen Ambitionen und Kriegsgelüste der expansionistischen Herzöge von Mailand, Lodovico Sforza, und des Königs von Neapel, Ferdinand von Aragón, durch Lorenzo im Gleichgewicht gehalten werden, was dem ganzen »Vaterland« (patria) Wohlstand und Segen bringt – geschützt durch eine sicurtà comune, eine allgemeine Sicherheit, die hier semantisch nahe der Ruhe (tranquillità/quiete), also durchaus antikisierend der ataraxia und damit der allgemeinen »Sorgenfreiheit«, nahesteht. In der Manuskriptfassung benutzte Guicciardini hier im Anschluss als antikes Spiegel-Exempel jene Stelle aus der berühmten Ursachenlehre des Lukan zum Beginn des bellum civile, in der als einer der Gründe für den Kriegsausbruch der Tod des Crassus mit eben jenem Bild genannt wird, dass nun mit dem mittleren, ausgleichenden der Triumvirn die geballte Ambition der beiden anderen aufeinanderprallte, so wie die nicht mehr durch den Isthmos von Korinth gebändigten Ionischen und Ägäischen Meere.42 Sehr ähnlich der berühmten Passage findet sich Lorenzos Rolle durch Guicciardini auch im Elogio di Lorenzo de’ Medici beschrieben.43 Und wenn man die Storia d’Italia durchgeht, findet man immer wieder in sehr bemerkenswerter Weise die »Sicherheit Italiens« (sicurtà d’Italia) der Gefahr oder den Belastungen/Sorgen (travagli) gegenübergestellt, man findet die Benen120 | Cornel Zwi e r l e in
nung der Sicherheitsproduktionsmittel (mezzi di sicurtà), als welche etwa eine Teiloder Gesamt-Allianz (lega particulare, lega universale) der italienischen Territorien eingestuft werden. Die »Freiheit und Sicherheit Italiens zu stabilisieren« (stabilire la libertà, e la sicurtà d’Italia) wird als politisches Gesamtziel gerade der Florentiner Politik in Guicciardinis Schriften 1537/40 begriffen.44 Nun wollte Pillinini ja die Erfassung von Lorenzo als jenem einzigen Aufrechterhalter des Gleichgewichts Italiens als einen Mythos dekonstruieren,45 wofür sicher beim Lorenzo/Crassus-Vergleich schon die stark antikisierende Stilisierung spricht. In der Tat standen jene ersten Lorenzo-Laudatoren dem Mediceer durchaus sehr nahe: Bernardo Rucellai war sein Schwager, hatte mit ihm aber auch in seiner Zeit als Botschafter der Republik Florenz in Neapel brieflichen Kontakt, kannte also gerade das im Zitat anklingende Verhältnis von Lorenzo und Ferdinand von Aragón aus eigener Anschauung. Guicciardini war der Enkel jenes Jacopo Guicciardini, der in verschiedenen Positionen, vor allem aber als Florentiner Botschafter in Mailand, einer der häufigsten Kommunikationspartner gerade für die ausgefeilten politischen Briefe Lorenzos war. Wenn hier also der Verdacht der retrospektiven Stilisierung naheliegt – obgleich Francesco Guicciardini für seine Geschichte Italiens sehr wohl auf Florentiner Archivmaterial und erreichbare Briefe und avvisi zurückgriff –, so ist zu fragen, ob und wie diese analytischen historiographischen und politiktheoretischen Kondensate bei Ruccellai, Guicciardini und Botero tatsächlich eine Politikpraxis der Sorgenvermeidung und Sicherheitspolitik schon der »echten« Hochrenaissance des 15. Jahrhunderts korrekt wiedergeben. Uns muss hier interessieren, wie die Tätigkeit eines Politikers wie Lorenzo im nun offenbar bestehenden pluralen interterritorialen Beziehungsgefüge der Signorien und stati Italiens sich als »Sorge« um ein größeres Ganzes ausdrückt, und wie sich »Sicherheit« als angestrebtes Ziel zu dieser Sorge verhält. Jenseits philologischer Interessen am Auftauchen bestimmter Wortkörper wie sicurezza/sicurtà oder contrapeso wird hierfür ein stichprobenhafter Durchgang der politischen Sprache der veröffentlichten dispacci des 15. Jahrhunderts der Gonzaga (Mantova-Milano-Korrespondenz), Sforza (Milano-Napoli-Korrespondenz; Milano/Frankreich-Korrespondenz) sowie der diplomatischen Briefwechsel Machiavellis und Lorenzo de’ Medicis Aufschluss geben. Diese Quellenbasis ist keinesfalls vollständig, aber sie repräsentiert immerhin die Mailänder, Mantovaner, venezianische und Florentiner politische Perspektive und Sprache.46 Wenn die politische Praxis der interterritorialen Diplomatie, der Allianzenbildung und Entscheidungssteuerung eben doch »durch Worte« mitbestimmt wurde, dürfen wir das wohl als »Praxis« verbuchen.47 Als Ergebnisse dieser Durchsicht, die freilich in diesem Rahmen nur kursorisch und nur als Hinweis auf weiteren Forschungsbedarf erfolgt, zeigt sich zunächst, dass sich die Florentiner Perspektive und entsprechend auch die politische SpraSe-curare, sine cura, se-curitas, assecuratio | 121
che doch tatsächlich ein wenig von den anderen unterscheiden. In den Depeschen von Zaccaria Barbaro – die aufgrund des Archivbrands im Dogenpalast 1571 zu den wenigen erhaltenen diplomatischen Briefcorpora eines venezianischen Botschafters aus dieser frühen Zeit gehören – findet sich die Formel der Aufrechterhaltung von »Ruhe und Frieden Italiens (quiete et pace de Italia)«,48 aber kaum das abstraktere Sicherheitskonzept und die Idee einer »Staats-/Staatensorge«. Wohl findet sich eine durchaus bemerkenswerte Präsenz von Reflexivität hinsichtlich der Mehrheit der Potenzen, ihrer notwendigen Abstimmung und Aggregation ihrer »Willen« untereinander, was etwa in Briefen vom 9. und 10.12.1471 sehr deutlich wird, in denen von der voluntà de tuta [sic] Italia und der voluntà dele potentie de Italia die Rede ist.49 »Sicherheit« taucht nur selten und entweder mit Bezug auf eine Herrscherperson oder – immerhin – auf die Funktion von Festungsanlagen auf.50 In den späten Mantovaner Depeschen finden sich etwa bei einem Diplomaten aus bester, auch humanismusoffener Klientelfamilie wie Benedetto Capilupi sehr wohl der abstraktere Bezug von Politik auf Staatlichkeit (»sich im Staat sichern/stabilieren«, »Sicherung des Staates«)51 und auf Sicherheitspolitik als einer diesen Staat umfassenden Gesamtkonzeption,52 in den früheren Jahren und auch bei Gesandten mit weniger humanistischem Hintergrund allerdings herrscht eine deutlich einfachere, zu Beginn auch stark dialektal geprägte Sprache vor; »Sicherheit« kommt hier häufig noch reflexhaft in den mittelalterlichen Verwendungsformen, etwa als Geleitsicherheit vor.53 Auch bei den Gesandten der Sforza in Neapel ist dies ähnlich,54 wieder findet sich durchaus eine gewisse gesamt-italienische Wahrnehmung,55 die freilich so auch schon früher im Spätmittelalter vorzufinden sein wird, aber – um nur einen Indikator zu nehmen – der Wechsel vom personenbezogenen pace in Italia zur sicurtà d’Italia findet nicht statt. Demgegenüber erscheint das Wahrnehmen, Räsonnieren, die Entscheidungsfindungs-Orientierung und deren Versprachlichung bei Lorenzo de’ Medici doch als Besonderheit.56 Er hatte offenbar tatsächlich eine nicht selbstverständliche Vorstellung von »Italien« als Ganzem, als einer transterritorialen Einheit, und er schreibt nicht nur sich, sondern auch den anderen Territorien eine Verantwortung für dieses Ganze zu: »Über das, was ganz Italien angeht, kann und darf er [Sforza] nicht entscheiden ohne den universalen Konsens ganz Italiens« schreibt er etwa 1476 bezüglich Sforzas an seinen Mailänder Botschafter.57 Gegenüber dem venezianischen und dem Mailänder Botschafter bedauert Lorenzo 1477, dass die Liga nur insoweit »Staats-Sorge (cura dello stato)« habe, insoweit es die Freiheit von ihnen und ihrer Staaten anbelange – man darf e silentio die Idee einer Staatssorge des gesamten italienischen Staatenzusammenhangs annehmen.58 In den wöchentlich und täglich zur Steuerung der Politik aus der paragouvernementalen Situation in Florenz heraus an die Botschafter der Republik geschickten Instruktionen, Weisungsbriefen und Reaktionen finden wir das Verfolgen solcher politischer Ziele 122 | Cornel Zwi e r l e in
ausgedrückt. 1481 etwa schickt Lorenzo eine Instruktion an Niccolò Michelozzi, der gleichsam »privat« für Lorenzo als Gesandter bei Federigo da Montefeltro in Urbino arbeitet, und setzt mit einer Erinnerung der »Unannehmlichkeiten und Gefahren in Italien (inconvenienti et pericoli di Italia)« und der »so großen Verwirrung und Gefahr (tanta confusione et pericolo)« ein. Die »Abhilfe-Rezepte oder -Mittel (rimedii)«, um die es geht, betreffen dann immer eine unione di Italia oder eine unione universale. Häufig geht es dabei darum, die zögernden Venezianer einzufangen: Diese selbst müssten eigentlich ein Interesse daran haben, »sich in Italien abzusichern (assicurarsi in Italia)«, auch wenn es ihnen um Rückeroberung von an die Türken verlorenen Gebieten außerhalb Italiens gehe. Dann sei es besser, sich schon in einer gut eingerichteten »Vereinigung und Sicherheit Italiens (unione et sicurtà di Italia)« zu befinden, anstatt dass man diese erst im Moment einer Krise selbst suchen müsse.59 Solche Instruktionen, Briefe und Urteilsräsonnements sind für uns kostbare Verschriftlichungen der handlungsleitenden Gesamtwahrnehmung des Staatensystems seitens Lorenzos. Das Denken in diesen Reflexivitätsmustern ist deutlich: Lorenzo bittet etwa ausdrücklich Federigo da Montefeltro, sich die Gedanken nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihn, Lorenzo, zu machen,60 man müsse »gut den einen wie den anderen verstehen (intendere bene l’uno l’altro)«61, all das immer im Gesamtbewusstsein, »dass überall Ängste bestehen (essendo adunque undique angustie)« – überall gibt es Angst/ Sorgen: »Unser Untergang (ruina nostra)«, der »Untergang von uns allen (ruina di tutti noi)«, »der Untergang aller Staaten der Liga und der Freiheit Italiens« (1482)62 oder der »komplette Untergang unser Staaten und von ganz Italien (la totale ruina de’ nostri stati et di tucta Italia)« (1486)63 stehen immer drohend am Horizont.64 Man hat inzwischen darauf hingewiesen, dass Lorenzo wohl eigentlich wenig an eine universale Liga glaubte, und dass er eher die traditionelle Allianz Florenz – Mailand – Neapel vorzog.65 Auch hat man aufgezeigt, dass er selbst in den Briefen nie eine solche balance-of-power-Idee ausgedrückt hatte, wie sie ihm später Rucellai zuschrieb.66 Doch ist sein geopolitisches Bewusstsein von »Florence’s insecurity« in der Nähe von Neapel stark.67 Und jedenfalls lässt sich erstens zeigen, dass die politische Wahrnehmung der Interdependenzen von staatlichen Handlungen, die damit stärker reflexive Prägung der Sorgevorstellung, gerade auf diese Gegebenheiten als doppelte cura dello stato, als Sorge für den Einzelstaat und als Sorge für das Staatenkollektiv bei Lorenzo seit ca. 1480 präsent ist. Und dass zweitens gleichzeitig »Sicherheit«/sicurtà hier als neues Konzept, semantisch in seiner Reichweite erweitert bis hin zur sicurtà d’Italia, bedeutsam wird. Guicciardini hat also in dieser Hinsicht nichts rückprojiziert, sondern die historische Darstellung um 1537–40 kondensiert und schärft nur das, was in der operativen Politik der 1470er/1480er Jahre gegeben war. Dass hier die humanistische Durchdringung der AusdrucksSe-curare, sine cura, se-curitas, assecuratio | 123
Lorenzo de‘ Medici mit curaFalte (Florentiner Werkstatt 1478/1521, vermutlich nach Modell von Andrea del Verrocchio/Orsino Benintendi, kolorierte Terrakotta, H. 65,8 cm, Br. 59,1cm, Ti. 32,7 cm. Samuel H. Kress Collection, copyright Board of Trustees, National Gallery of Art, Washington)
möglichkeiten zentral ist, zeigte schon die kurze vergleichende Beobachtung zu dispacci von entsprechend mehr oder weniger vorgeprägten Botschaftern. Man kann sogar fragen, ob dieses exzeptionelle Sorgenbewusstsein Lorenzos und sein Suchen nach neuen Formen der Sicherheitsproduktion visuellen Ausdruck gefunden hat: Auf nahezu allen Porträts zwischen 1478 und den 1560ern von Lorenzo de’ Medici (im Ölbild und in Skulpturen) weist er eine markante Stirnfalte auf.68 Man darf diese wohl als Ausdruck von Sorge und Ernsthaftigkeit lesen, vielleicht dann sogar spezieller als Ausdruck jener »Staats-Sorge« (cura dello stato).69 In der Kunstgeschichte zur antiken Plastik gibt es die Interpretation, dass das topische Auftreten einer markanten Stirnfalte bei Augustus des frühen so genannten »Oktavian«-Typus als künstlerischer Ausdruck der cura rei publicae70 zu deuten sei, die in der antiken Literatur, in der Historia Augusta und auch beim jüngeren Plinius beschrieben wird (»cura-Falte«).71 Ob nun also Lorenzos Falte gar als ein Rückgriff von Andrea Verrocchio oder später Giorgio Vasari auf die antike (cura-?)Falte zu deuten ist, scheint in der Kunstgeschichte nicht diskutiert zu werden und ist vielleicht auch nicht entscheidbar. Lorenzo selbst – die delikate Stellung als Fürst-Bürger und Bürger-Fürst ausbalancierend – ließ sich ja zu Lebzeiten kaum stilisierend porträtieren.72 Wenn die bekannte Washingtoner Terracotta-Büste vielleicht auch auf ein Vorbild aus dem späten 15. Jahrhundert zurückgeht, so stammt sie doch wohl erst aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts – die 124 | Cornel Zwi e r l e in
Sorgenfalte Lorenzos wäre also ein wiederum nicht ganz ansatzloses künstlerisches Kondensat so wie Guicciardinis historisch-politik-theoretische Analyse Lorenzos für den Bereich politischer Kommunikation.73 Auf der politiksprachlichen und -operativen Ebene ist jedenfalls klar zu belegen, dass dieses staats- und staatensystembezogene Binom von cura/securitas als Indikator eines allgemeinen Wahrnehmungswandels genau im Zentrum des politischen Humanismus auftaucht. Dafür können wir, obwohl auf der künstlerischen Ebene die entsprechende Entwicklung nicht mit gleicher Sicherheit aufzuzeigen ist, im Zweifel die Falte auf Lorenzos Stirn zumindest für uns als Symbol jener rinascimentalen cura dello stato nehmen (Abb. 1).
V. Sc h l us s : Zur E poc he nspe zifik rinasci mentaler cura/securitas Wie im parallelen Beitrag von Enno Rudolph zur Ebene der Ideen, habe auch ich ein Tryptichon von drei auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Handlungsfeldern in den Blick genommen: ein Feld der rein kaufmännischen Wirtschaftskommunikation, ein Feld der innenpolitischen, gemischt staatlich-kirchlichen Wirtschaftsförderung (Monti di pietà) und schließlich das Feld der außenpolitischen zwischenstaatlichen Kommunikation. Jeweils habe ich gefragt, inwiefern hier »Sorge« und »Sicherheit«, cura und securitas, in Feldern einander gegenüberstehen, die in der Renaissance einen Innovationsschub erfahren – auch wenn, wie erwähnt, die traditionelle und weit ausgreifende Diskussion über die Epochenschwelle Mittelalter/Renaissance allermeist entweder diese praktischen Bereiche gar nicht erfasste oder jedenfalls die Frage nach cura/securitas keine Rolle spielte. Am Schluss muss das Wagnis stehen, einige notwendig abstrakte, teilweise aber auch einige handfeste Gemeinsamkeiten festzustellen, die als Bindeglied zwischen diesen und als Kausalfaktoren für die Entstehung der praktischen Formen von Sorge und Sorgenfreiheit (se-curitas) in der Renaissance stehen können. Für die beiden ersten wirtschaftlichen Beispiele gilt, dass sie die Form des frühkapitalistischen Wirtschaftens voraussetzen und dass beide, assecuratio und Monti di pietà, Effekte der Kapitalkumulierung und statistischer Regelmäßigkeiten ausnutzen: Das Zahlen kleiner Summen für Versicherungen durch den Einzelnen und die Teilgarantie von Versicherungssummen für den Schadensfall durch einzelne Kaufleute erweist sich im Zeitablauf und in der gegenseitigen Verschränkung von Versicherern und Versicherten als insgesamt wirtschaftlich funktional und emotional sorgendämpfend. Ebenso nutzten die Monti di pietà das Bankenprinzip der Kumulierung von Kapital unter der Voraussetzung, dass in der Summe die laufenden Se-curare, sine cura, se-curitas, assecuratio | 125
Eingänge immer wieder auftretende Rückforderungen von Kapitaleinlagen ausglichen. Da im Unterschied zu echten Banken hier das Geld für die Einleger keinen Gewinn erzielte, musste man als geldwerten Parameter im Funktionsgefüge hier das karitative Solidaritätsgefühl der jeweiligen Kapitaleigner ansetzen.74 Jedenfalls steht als renaissancetypisches Element eine neue Form abstrakter Berechnung von Kumuleffekten der »großen Zahl« im Hintergrund. Die zweite Beobachtung betrifft das komplementäre Gegenstück zu dieser abstrakteren Erfassung und Ausnutzung von Kumuleffekten und Gesamteinheiten: die Tendenz zur individuellen Eigenvorsorge statt korporativer Nachsorge. Grundansatz und Effekt zugleich dieser neuen Praktiken des Sich-Sorgens und der Sorgendämpfung ist eine Individualisierung: Jenseits einer philosophischen oder soziologischen Debatte, ob es einen säkularen historischen Prozess der Individualisierung gibt, die in letzter Zeit vor allem gegen die Annahme einer im Burckhardt’schen Sinne überhöhten Konzeption von »Individualität« in der Vormoderne geführt wird, ist es entscheidend hervorzuheben, dass die protokapitalistischen Kommunikationsformen des mediterranen, vor allem des italienischen Raumes in der Tat dazu führen, dass Adressierer und Adressat von »Sorgen«, Sorgendämpfung und Sicherheitsmechanismen der Einzelne und nicht korporative Strukturen sind. Jedenfalls (denn es handelt sich in diesen Übergangszeiten häufig um Hybridformen) ist dies das neue Element. In der Wirtschaftsgeschichte haben zwar zuletzt viele, etwa Ogilvie und andere, auch für die Frühe Neuzeit weiter die Kompetitivität und Wirkmächtigkeit von Gilden und Zünften betont, was nicht in Abrede gestellt werden soll. Die einzelvertragliche Selbst-Für-sorge und Vor-sorge stellt aber doch den Einzelnen ins Zentrum. Aggregiertes und Kumulations-Denken ausgehend von und kombiniert mit dem Denken in Individualitäten ist hier offenbar ein gemeinsamer struktureller Kern. So allgemein ausgedrückt findet sich hierzu die Parallele auch im Bereich der politischen Praxis, da, wie gezeigt worden ist, die große Sorge Lorenzos einerseits das Aggregierte, die Sicherheit Italiens ist – ein Ganzes, das so eigentlich erst neu gedacht und geschaffen wird; andererseits liegt dieser Sorge-Steigerung gerade die Wahrnehmung der in Einzelinteressen und Einzelstaatseinheiten zergliederten politischen Welt zugrunde. Das Neue dieser Kombination von Aggregat und Individualität wird durch die Wahrnehmungseffekte erzeugt, die sowohl die wirtschaftliche als auch die politische verstetigte Briefkommunikation bewirkt: Im Fall der wirtschaftlichen Kommunikation leuchtet es rasch ein, wenn wir von der Emergenz einer neuen Sphäre der Werte reden – gerade die Praxis der Versicherung macht deutlich, wie hier Zahlen bzw. Werte Gegenstände in der Welt substituieren. Aber auch für die politische Kommunikation muss man eine ähnliche Wirkung durch die Verschrift126 | Cornel Zwi e r l e in
lichung im stetigen diplomatischen dispacci-Verkehr annehmen: stati/Staaten gewinnen ihre Realität erst in dieser Kommunikation. Und es scheint, dass in diesen zerdehnten Gesprächen von nicht Anwesenden – wie man Briefkommunikation beschreiben könnte – das stete Bewusstsein der räumlichen Entfernung und das Training des Denkens in Räumlichkeit auch seinen semantischen Ausdruck im Übergang vom personen-relationalen zum sphären-bezogenen Sorgen hat, der Suche wohl nicht nach Vollkommenheit im strengen Sinne, aber nach se-curitas.
A n m e r kun ge n 1 In einem ganz allgemeinen Sinne teilen beide auch den paradoxalen doppelten Zeitbezug, einerseits ein Beharrungs- und Sicherungselement, andererseits ein Zukunftssicherungselement: F. X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchung zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, Stuttgart 21973, S. 156–169. Überlegungen zur Historisierung des Verhältnisses von Sicherheitsproduktionsmechanismen und Zeithorizonten sind entfaltet bei C. Zwierlein, »Grenzen der Versicherbarkeit als Epochenindikatoren? Von der europäischen Sattelzeit zur Globalisierung des 19. Jahrhunderts«, Geschichte & Gesellschaft 38 (2012), S. 423–452. 2 Vgl. J. T. Hamilton, Security – Politics, Humanity and the Philology of Care, Princeton 2013. 3 Vacandum autem omni est animi perturbatione, cum cupiditate et metu tum etiam aegritudine et voluptate nimia et iracundia, ut tranquillitas animi et securitas adsit, quae affert cum constantiam tum etiam dignitatem. Cicero, De officiis/Vom rechten Handeln, übers. von K. Büchner, Darmstadt 1994, I, S. 69. 4 H. U. Instinsky, Sicherheit als politisches Problem des römischen Kaisertums, Baden-Baden 1952; Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt, Teil II, Bd. 17/2, hrsg. von W. Haase, Berlin/New York 1981, S. 903f. 5 Zur Sorge-Konzeption und -Institutionalisierung im Mittelalter vgl. die Beiträge Fried und Melville in diesem Band. 6 Ich nenne hier stellvertretend nur einige Beiträge: W. Goetz, »Mittelalter und Renaissance«, Historische Zeitschrift 98 (1907), S. 30–54; ders., »Renaissance und Antike«, Historische Zeitschrift 113 (1914), S. 237–259; P. Joachimsen, »Aus der Entwicklung des italienischen Humanismus«, Historische Zeitschrift 121 (1920), S. 189–233; H. Baron, »Renaissance in Italien«, Archiv für Kulturgeschichte 21 (1931), S. 95–128 (Teil I), S. 215–239 (Teil II), S. 340–356 (Teil III); ders., »Das Erwachen des historischen Denkens im Humanismus des Quattrocento«, Historische Zeitschrift 147 (1933), S. 5–20; G. Weise, »Der doppelte Begriff der Renaissance«, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturgeschichte und Geistesgeschichte 11 (1933), S. 501–529; ders., »Vom Menschenideal und von den Modewörtern der Gotik und der Renaissance«, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 14 (1936), S. 171–222; W. K. Ferguson, »Humanist Views of the Renaissance«, The AmeSe-curare, sine cura, se-curitas, assecuratio | 127
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rican Historical Review 45 (1939), S. 1–28; G. Saitta, »Per l’intelligenza dell’Umanesimo e del Rinascimento«, Giornale critico della filosofia italiana 29 (1950), S. 143–161; G. Weise, Renaissance und Antike, Tübingen 1953; G. Saitta, Il pensiero italiano nell’umanesimo e nel rinascimento, Florenz 1961; C. Trinkaus, »Renaissance Idea of the Dignity of Man«, in: P. P. Wiener (Hrsg.), Dictionary of the History of Ideas. Studies of Selected Pivotal Ideas, Bd. 4, New York 1973, S. 136–147; A. Buck, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Renaissance und Barock. I. Teil, Frankfurt a. M. 1972, S. 1–27 – Ältere begriffsgeschichtliche Hinweise: A. Philippi, Der Begriff der Renaissance. Daten zu seiner Geschichte, Leipzig 1912; J. Trier, »Zur Vorgeschichte des Renaissance-Begriffes«, Archiv für Kulturgeschichte 33 (1951), S. 45–63. – Abgesehen von den hier genannten Titeln bin ich zur Prüfung dieses Punktes systematisch die Bestände der Bibliothek des Münchner Renaissance-Philosophie-Instituts sowie eine Sammlung von knapp 90 einschlägigen Aufsätzen zum Thema der Renaissance-Epochenbestimmung von etwa 1880 bis 1970 durchgegangen, die sich im Nachlass des Renaissance-Pädagogik-Historikers Lutz Rössner (ehemals TU Braunschweig) befinden, welcher auf Umwegen einst an die LMU München gelangte. Im Zuge der Teilinventarisierung 2006 ergab sich eine nicht vollständige, aber sicher repräsentative Sammlung insbesondere der englisch-, französisch-, italienisch- und deutschsprachigen Forschung zum Renaissance-Komplex. Ich teile damit den Befund, den C. Hirschi, »Vorwärts in neue Vergangenheiten. Funktionen des humanistischen Nationalismus in Deutschland«, in: T. Maissen/G. Walther (Hgg.), Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur, Göttingen 2006, S. 362–395, 368f. für das Humanismus-Konzept konstatiert, verfolge im Übrigen aber einen anderen Weg der Funktionsbestimmung. Vgl. dazu allgemein C. Zwierlein, »Frühe Neuzeit, ›multiple modernities‹, Globale Sattelzeit«, in: A. Landwehr (Hrsg.), Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution, Bielefeld 2012, S. 389–405. Etwas kurzgriffig erscheint J. Goody, Renaissances. The One or the Many?, Cambridge 2010, man kann global vergleichend nicht »Renaissance« schlicht als Akt des historischen Rückgriffs definieren. Das Buch zeigt aber, dass das Alteuropa/Globalitäts-Problem hinsichtlich der Epochenkonzepte derzeit allerorten auftaucht. J. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien: ein Versuch, Stuttgart 122009, S. 54ff. zur Statistik; S. 82 einmal der Stichpunkt »Sicherheit«: »Das erste, was [d. h. unter der Herrschaft des Borgia-Papstes Alexander VI.] geschah, war die einstweilige Herstellung der öffentlichen Sicherheit.« A. Sapori, »Medioevo e Rinascimento. Spunti per una diversa periodizzazione«, Archivio Storico Italiano 115 (1957), S. 135–164. Etwa wenn man an Vertreter der Frührenaissance wie Lovato de’ Lovati oder Alberto Mussato und andere seit Ende des 13. Jahrhunderts denkt. R. Witt, In the footsteps of the ancients. The origins of humanism from Lovato to Bruni, Leiden 2000 und ders., The two latin cultures and the foundation of renaissance humanism in medieval Italy, Cambridge 2012 sind jüngere prononcierte monographische Behandlungen dieses Frühhumanismus.
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12 Etwa bei H. Baron, »Politische Einheit und Mannigfaltigkeit in der italienischen Renaissance und in der Geschichte der Neuzeit, in: A. Buck (Hrsg.), Zum Begriff und Problem der Renaissance, Darmstadt 1969, S. 180–211, 192: »100 Jahre vor dem Frieden von Lodi, zur Zeit Petrarcas, hätte sich noch niemand träumen lassen, daß die ruhelose Vielheit italienischer Städte und Kleinstaaten bald in wenigen großen Gebieten mit fest bestimmten Grenzen und deutlich ausgeprägten politischen Physiognomien aufgehen würde. Die entscheidende Frage muß deshalb lauten: Wann und wie nahm diese Vereinfachung und Festigung der zwischenstaatlichen Ordnung ihren Anfang?«; F. Catalano, »La crisi italiana alla fine del secolo XV«, Belfagor 11 (1956), Nr. 4, S. 393–414 (Teil I); Nr. 5, S. 505–527 (Teil II). – C. Morandi, »Il concetto dell’equilibrio nell’Europa moderna«, Archivio storico italiano 98,1 (1940), S. 6: »L’equilibrio fu, perciò, concepito in senso rigidamente conservatore, statico, per ovviare alle altrui minacce e garantire la propria tranquillità«. 13 C. Donati, L’Idea di nobiltà in Italia, sec. XIV–XVIII, Roma 1995 bleibt das Referenzwerk; der italienische Fall ist ähnlich komplex wie der englische. »Klassischeren« Mustern folgte der piemontesische Feudaladel (aber auch hier betont A. Merlotti, L’enigma della nobiltà. stato e ceti dirigenti nel Piemonte del Settecento, Firenze 2000 die Unklarheit der Kategorie); vergleichender Überblick: R. Asch, Europäischer Adel in der frühen Neuzeit. Eine Einführung, Wien 2008. 14 Vgl. für die Übernahme der Papierherstellungstechnik von den Arabern nur R. I. Burns, »The paper revolution in Europe. Crusader València’s Paper Industry«, Pacific Historical Review 50 (1981), S 1–30, P. Burke, Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2001 v. a. zu Quantitätszunahmen; weitere Literatur dann bei C. Zwierlein, »Gegenwartshorizonte im Mittelalter. Der Nachrichtenbrief vom Pergament- zum Papierzeitalter«, Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 12 (2010), S. 3–60. 15 So aber meist Hirschi (o. Anm. 7), S. 374f. 16 Genauere Argumentation für den politischen Bereich bei C. Zwierlein, Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland, Göttingen 2006 und für den wirtschaftlichen Bereich ders., Der gezähmte Prometheus. Feuer und Sicherheit zwischen Früher Neuzeit und Moderne, Göttingen 2011, S. 45–72. 17 Für einen Überblick immer noch F. Melis, »Intensità e regolarità nella diffusione dell’informazione economica generale nel Mediterraneo e in Occidente alla fine del Medioevo«, in: Mélanges en l’honneur de Fernand Braudel, Bd. 1: Histoire économique du monde méditerranéen 1450–1650, Toulouse 1973, S. 389–424/b; unter den deutschsprachigen Beiträgen einschlägig F. J. Arlinghaus, Zwischen Notiz und Bilanz. Zur Eigendynamik des Schriftgebrauchs in der kaufmännischen Buchführung am Beispiel der Datini/di Berto-Handelsgesellschaft in Avignon (1367–1373), Frankfurt a. M. 2000. 18 Francesco Datini habe vom Empfang von 5 fustani geschrieben, es hätten aber sechs sein müssen: […] dome maraviglia che nula menzione ne fate […] òne melanchonia e ancho mi maraviglio chome voy nulla menzione ne fate de la sexena bala […] (Mailand, 26.6.1383, L. Frangioni, Milano fine Trecento. Il carteggio milanese dell’Archivio Datini di Prato, 2 Bde., Firenze Se-curare, sine cura, se-curitas, assecuratio | 129
1994, S. 24, ebenso im gleichen Fall S. 25); E vedi s’io dicho vero ch‹io avevo meso a chamino da balle 40 i tra più volte e di niuno sapeno novella che valevono più di f. 2000 e grande malichonia n’aveno. […] chostono da franchi 8 per falle andare sichure, sì che no ti challe dare malichonia di nulla che, cho lla grazia di Dio, io mi credo andrano a salvameto. (Mailand 28.7.1384, ebd., S. 60f.). 19 Mailand, 30.9.1384, ebd., S. 72. 20 […] poi si chore pericholo andare uno sì lugho chamino sì che no mi pare facci per voi. (Mailand 7.3.1386, ebd., S. 101). 21 E io sono contento che ongni mio fustanio di ghuado e di mezo ghuado che chostà abiate mandiate a Barzallona a’deti per primo buono pasagio ma che prendiatte sechurttà per la mettà di cò che varanno per no chorere a tanto rischio e per prima letera mi ditte che ne pensate fare. (Mailand, 29.1.1384, ebd., S. 40). Im von Frangioni edierten Teil der Datini-Korrespondenz ist die Erwähnung von Versicherungen nicht sehr häufig, was wohl auch daran liegt, dass es in Mailand insgesamt weniger um Meertransport ging. 22 Vgl. z. B. G. Panciroli, Discorso delle cose che haueuano gli antichi, & hoggidi non sono & di quelle, che dopo si sono ritrouate, Ms. in Archivio segreto Vaticano, Misc. II, 90, f. 227r–289r (vor 1580), später ediert als Rerum memorabilium iam olim deperditarum et contra recens atque ingeniose inventarum libri II, hrsg. von H. Salmuth, 2 Bde., Amberg 1599–1602; A. Buck, »Aus der Vorgeschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Mittelalter und Renaissance«, Bibliotheque d’Humanisme et Renaissance 20 (1958), S. 527–541. 23 Zwierlein, Der gezähmte Prometheus (o. Anm. 16), S. 45–63. 24 Zur Diskussion allgemein W. H. Swatos/L. Kaelber (Hgg.), The Protestant Ethic Turns 100. Essays on the Centenary of the Weber Thesis, Boulder 2005; W. Schluchter/F. W. Graf (Hgg.), Asketischer Protestantismus und der »Geist« des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch, Tübingen 2005. 25 Aus der unüberschaubaren Fülle von Einzelstudien vgl. etwa M. Carboni/M. G. Muzzarelli, I monti di pietà fra teoria e prassi. Quattro casi esemplari: Urbino, Cremona, Rovigo e Messina, Bologna 2009 und Überblick bei M. G. Muzzarelli, Il denaro e la salvezza. l’invenzione del Monte di pietà, Bologna 2001. 26 G. Barbieri, »La funzione storica dei monti di pietà nei sermoni del beato Bernardino da Feltre«, in: Economia e Storia 5, 3 (1984), S. 261–271, 269. 27 C. R. Puglisi/W. L. Barcham, »Bernardino da Feltre, the Monte di Pietà and the Man of Sorrows: Activist, Microcredit and Logo«, Artibus et Historiae 29, 58 (2008), S. 35–63. 28 H. Holzapfel, Die Anfänge der Montes Pietatis, 1462–1515, München 1903, S. 36ff. 29 M. Fornasari, »Economia e credito a Bologna nel Quattrocento. La fondazione del monte di pietà«, Società e Storia 16 (1993), S. 475–502, 482f.; ders., Il »Thesoro« della città. Il Monte di Pietà e l‹economia bolognese nei secoli XV e XVI, Bologna 1993. – Das Funktionsargument ändert freilich nichts am Inhalt der Texte. 30 C. Breshahan Menning, Charity and State in Late Renaissance Italy. The Monte di pietà of Florence, Ithaca/London 1993, S. 37–63. 130 | Cornel Zwi e r l e in
31 Ista autem congregatio [an Kapital] sit posita in bona manu et ut illi qui mutuant per più securità non vol scritto ne obbligatione, sed pignus, quia tutius est incumbere pignori; ille portando acceptam pecuniam, accipit suum pignus (zit. nach Barbieri: [o. Anm. 26], S. 267). 32 Fornasari (o. Anm. 29), S. 500f. betont, dass weder in der Person des Schuldners noch in der Höhe des Kredits ein Grund für diese in Bologna zu verzeichnende große Spreizung abzulesen ist, lediglich die Qualität des Pfandes mag hier einschlägig gewesen sein. 33 P. Avallone/R. Salvemini, »Dall’assistenza al credito. L’esperienza dei Monti di Pietà e delle Case Sante nel Regno di Napoli tra XVI e XVIII secolo«, Nuova rivista storica 83 (1999), S. 21–54, hier S. 36. 34 Barbieri (o. Anm. 26), S. 266 – Ausführlicher ders., Il pensiero sociale del Medioevo, Verona 1968. 35 Breshanan Menning (o. Anm. 30), S. 143 (mit Bezug auf die schwierige innen-/außenpolitische Situation in der Zeit der Regierungsübernahme von Cosimo I. um 1540). 36 Avallone/Salvemini (o. Anm. 33), S. 35. 37 »That the interests of the Bank lay at the heart of Medicean diplomacy is a fact not always fully perceived in the accepted view of Lorenzo as little skilled in banking compared to his grandfather« (M. Mallett, »Lorenzo and Venice«, in: G. C. Garfagnini (Hrsg.), Lorenzo il Magnifico e il suo mondo, Firenze 1994, S. 109–121, hier S. 111). 38 G. Mattingly, Renaissance diplomacy, London 1955; G. Pillinini, Il sistema degli stati italiani 1454–1494, Venezia 1970; M. Mallett, »Italian Renaissance Diplomacy«, Diplomacy & Statecraft 12,1 (2001), S. 61–70; F. Senatore, Uno mundo de carta. Forme e strutture della diplomazia sforzesca, Napoli 1998; D. Frigo (Hrsg.), Politics and Diplomacy in Early Modern Italy. The Structure of Diplomatic Practice, 1450–1800, Cambridge 2000. 39 Adunque se tutto il mondo fosse di vna Republica, o di vn Prencipe, l’arte del contrapesare sarebbe souerchia, e la necessità nulla: ma per la pluralità de’ prencipi segue, che il contrapeso sia utile e buono non per natura sua, ma per accidente. Et è di due sorti, perché alle volte ha per fine la pace d’una Republica composta di più stati differenti, quale è l’Italia e l’Alemagna e la Christianità tutta insieme; alle volte la sicurezza e ben essere di uno stato particolare. Nel primo caso il contrapeso consiste in vna certa aguaglianza, per la quale il corpo della Republica non habbia membri che non siano tra sé proportionati e con una certa equalità bilanciati, ne pende per soverchio peso più da questa parte che da quella: nel che valse già assai Lorenzo de’ Medici, Prencipe della Republica Fiorentina, conciosia ch’egli, tenendo uniti i Prencipi d’Italia meno potenti, bilanciò le forze e tenne a segno i disegni de’ più potenti; con che l’Italia godé a’ suoi tempi di una tranquilla e lieta pace Ma il contrapeso, che ha per oggetto la sicurezza particolare di uno stato, tocca a chiunque ha dominio, e se ne vuole, senza dipendere dai cenni altrui, assicurare […] (G. Botero, »Del contrapeso delle forze de’ Prencipi«, in: ders., Relatione della Republica venetiana, Venezia 1605, S. 8r–10v, 9r–v). 40 Verum, ubi Ferdinandus Aragonius et Laurentius Mediceus vita excessere, […] perturbari, miscerique cuncta coepere. Hi longe prudentissimi omnium Italiae principum, cum ad protegendam communem libertatem pacemque & otium intendissent animum, consociassentque consilia, jam Se-curare, sine cura, se-curitas, assecuratio | 131
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inde a parentibus veluti jure haereditario relata ac per manus tradita, ea assidue agitare, movere, niti, quibus res Italiae starent, ac (ut illorum verbis utar) examine aequo penderent. (Bernardo Rucellai, De bello italico, hrsg. von D. Coppini, Firenze 2011, S. 44–46). [1492] […] Tale era lo stato delle cose, tali erano i fondamenti della tranquillità d’Italia, disposti e contrapesati in modo che non solo di alterazione presente non si temeva ma né si poteva facilmente congetturare da quali consigli o per quali casi o con quali armi s’avesse a muovere tanta quiete. Quando, nel mese di aprile dell’anno mille quattrocento novantadue, sopravenne la morte di Lorenzo de’ Medici; morte acerba a lui per l’età perché morí non finiti ancora quarantaquattro anni; acerba alla patria, la quale, per la riputazione e prudenza sua e per lo ingegno attissimo a tutte le cose onorate e eccellenti, fioriva maravigliosamente di ricchezze e di tutti quegli beni e ornamenti da’ quali suole essere nelle cose umane la lunga pace accompagnata. Ma e fu morte incomodissima al resto d’Italia, cosí per l’altre operazioni le quali da lui, per la sicurtà comune, continuamente si facevano, come perché era mezzo a moderare e quasi uno freno ne’ dispareri e ne’ sospetti i quali, per diverse cagioni, tra Ferdinando e Lodovico Sforza, príncipi di ambizione e di potenza quasi pari spesse volte nascevano. (F. Guicciardini, Storia d’Italia, hrsg. von E. Mazzali, Milano 1988, lib. I, 2, S. 9). Da che molti, forse non inettamente, seguitando quel che di Crasso tra Pompeio e Cesare dissono gli antichi, l’assomigliavano a quello stretto il quale, congiungendo il Peloponneso, oggi detto la Morea, al resto della Grecia, impedisce che l’onde de’ mari Ionio e Egeo tumultuosamente insieme non si mescolino. Die Passage ist im Codice Mediceo-Laurenziano 166 durchgestrichen, vermutlich vom Autor selbst (F. Guicciardini, Storia d’Italia, hrsg. von S. Seidel Menchi, Torino 1971, vol. 1, S. 10). Gegenüber dem übermächtigen Venedig habe Lorenzo für eine lega particulare von Neapel, Mailand und Florenz gesorgt di che seguì la securtà e conservazione commune di tutta Italia. (Pillinini [o. Anm. 15], S. 26). Vgl. Sollevorno questi nuovi consigli non mediocremente gli animi di tutta Italia, poiché il duca di Milano rimaneva separato da quella lega, la quale piú di dodici anni aveva mantenuta la sicurtà comune […] [Ferdinando] rifiutati totalmente questi consigli, i quali giudicava partorirebbero non sicurtà, ma travagli […] non si confidava Lodovico d’avere trovato rimedio bastante alla sicurtà sua (lib. I, 3 [1492], S. 23f.); ne riportò a Firenze la pace publica, e la sicurtà privata (lib. I, 14 [1494], S. 107); con grandissima instanza a intendersi con loro, per la sicurtà comune, contro a’ franzesi (lib. II, 4 [1495], S. 175); non cessava di confermare al pontefice e a Piero de’ Medici la disposizione sua alla quiete e sicurtà d’Italia (lib. I, 7 [1494], S. 69); quando era il tempo di stabilire la libertà e la sicurtà d’Italia, spargere semi di nuovi travagli ! [...] che ’l desiderio d’assicurare sé e tutta Italia da’ barbari (lib. III, c. 4 [1496], S. 281); la grandezza del pericolo […] fusse piú difficile trovare mezzo di sicurtà per ciascuno che convenire negli articoli delle differenze; perché togliendosi alla sicurezza dell’uno quel che si consentisse per assicurare l’altro (lib. III, 6 [1496], S. 300f ); cosa molto utile alla sicurtà d’Italia (lib. III, 8 [1496], S. 318); perché quanto piú fussino potenti, tanto piú alla sicurtà d’Italia nocerebbono (lib. III, 14 [1498], S. 361); per quiete e sicurtà sua continuasse l’amicizia col regno di Francia (lib. VIII, 16 [1510], S. 889); non essere intenzione
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della lega alterare né il dominio né la libertà della città, pure che, per la sicurtà d’Italia, si rimovesse il gonfaloniere del magistrato (lib. XI, 3 [1511], S. 1176); tutte le condizioni oneste della quiete e sicurtà della sedia apostolica e di Italia (lib. XVII, 13 [1526], S. 1977) (Hervorh. v. d. Vf.). 45 Pillinini (o. Anm. 38), passim. 46 Dispacci sforzeschi da Napoli, hgg. von F. Senatore/F. Storti, bislang 5 Bde., Napoli 1997– 2009; Carteggio degli oratori Mantovani alla corte sforzesca (1450–1500), hrsg. v. F. Leverotti, bislang 15 Bde., Roma 1999–2003; P. M. Kendall/V. Illardi (Hgg.), Dispatches with related documents of Milanese ambassadors in France and Burgundy (1450–1466), 3 Bde., Ohio/Dekalb 1971–1981; Dispacci di Zaccaria Barbaro (1471–1473), hrsg. von G. Corazzol, Roma 1994; N. Machiavelli, Lettere, legazioni e commissarie, hrsg. von C. Vivanti, Torino 1999; Corrispondenza degli ambasciatori fiorentini a Napoli, hrsg. von B. Figliuolo, bisher 6 Bde., Napoli 2002– 2012; L. de’ Medici, Lettere, hrsg. von N. Rubinstain u. a., bisher 16 Bde., Firenze 1977–2011. Dies ist nur eine Auswahl einschlägiger dispacci-Serien und carteggi von einzelnen Diplomaten. Die jüngeren Editionsunternehmen hat S. Bertelli, »Diplomazia italiana quattrocentesca« Archivio storico italiano 159 (2001), S. 797–827, 806 einst schon kritisiert: »È curioso come, in tutte queste iniziative editoriali, sia stato misconosciuto completamente il valore – che pure è eccezionale – che questi carteggi rivestono per la storia della lingua.« – In der Tat ist man hier für begriffshistorische Fragen nach wie vor auf ein Durchblättern Seite für Seite angewiesen. Vgl. für eine begleitende Umschau: »Diplomazia edita. Le edizioni delle corrispondenze diplomatiche quattrocentesche«, Bullettino dell’Istituto Storico Italiano e Archivio Muratoriano 110/2 (2008), S. 1–143. 47 Dass gerade die »Worte« und das Sprachhandeln selbst im so betitelten Band S. Andretta/S. Pequignot/M.-K. Schaub/J.-C. Waquet/C. Windler (Hgg.), Paroles de négociateurs. L’Entretien dans la pratique diplomatique de la fin du Moyen Âge à la fin du XIXe siècle, Roma 2010 zu wenig berücksichtigt wurden, darf als einzige Kritik an diesem sonst sehr gelungenen Einblick in die aktuelle Diplomatieforschung genannt werden. 48 Etwa Barbaro, Dispacci, hrsg. von G. Corazzol, Nr. 21 (S. 61), 25 (S. 65), 74 (S. 149). 49 Ebd., Nr. 46, 47 (S. 99, 102). 50 Ebd., Nr. 4 (S. 37: […] grande reputatione et segurtà dele cosse dela regia Maestà et nostre); Nr. 62 (S. 125: mutatione der porte et castelli […] per più segurtà). 51 Carteggio degli oratori mantovani, vol. 15 (1495–1498), Nr. 1 (S. 77: stabillirse in stato), Nr. 2 (S. 81: stabillimento del stato et intrate). 52 Ebd., Nr. 10 (S. 94: […] tene el Reame securissimo), Nr. 126 (S. 264: una pace universale et assicuramento de le cose de Franza). 53 Ebd., Nr. 97 (S. 225). 54 Bei A. del Trezzo etwa immer einmal wieder Reflexe der räumlich-staatlichen SicherheitsWahrnehmung (Dispacci sforzeschi da Napoli, V, Nr. 71, S. 142: nostra Puglia restarà libera et secura). 55 Etwa Dispaci sforzeschi da Napoli, vol. I (1444–1458), Nr. 11 (S. 39–43). Se-curare, sine cura, se-curitas, assecuratio | 133
56 Zu Lorenzo de’ Medici: G. delle Donne, Lorenzo il Magnifico e il suo tempo, Roma 2003; F. W. Kent, Lorenzo de’ Medici and the art of magnificence, Baltimore 2004; M. J. Unger, Magnifico. The brilliant life and violent times of Lorenzo de’ Medici, London 2008; B. Toscani (Hrsg.), Lorenzo de’ Medici. New Perspectives, Berlin/New York 1993; M. M. Bullard, Lorenzo il Magnifico. Image and anxiety, politics and finance, Firenze 1994; H. Heintze u. a. (Hgg.), Lorenzo der Prächtige und die Kultur im Florenz des 15. Jahrhunderts, Berlin 1995; M. Mallett/N. Mann (Hgg.), Lorenzo the Magnificent. Culture and politics, London 1996; G. C. Garfagnini (Hrsg.), Lorenzo il Magnifico e il suo mondo, Firenze 1994. Vgl. auch C. Zwierlein, »Security Politics and Conspiracy Theories in the Emerging European State System (15th/16th c.)«, Historical Social Research 38,1 (2013), S. 65–94, 75–81 für eine Analyse des narrativen Duktus von Lorenzos politischen Situationsanalysen. 57 […] delle cose apartenenti a tutta Italia non può né debbe piglare partito sanza il consenso universale di Italia, Lorenzo, Lettere, vol. I, S. 180. 58 [P]erché la dispositione di tucta la lega è di non havere altrimenti cura dello stato et libertà loro che degli stati proprii (L. de’ Medici, Lettere, vol. I, dox. XIII, 26.11.1477, S. 435). 59 Ebd., vol. VI, Nr. 504, S. 266 (3.7.1481). 60 Ebd., vol. V, Nr. 504, S. 268 und S. 269: Tutte queste cose richieggono che la Sua Signoria parli largamente et pensi così alle cose nostre come alle sue, perché in effetto troverrà potere così fare fondamento, per quello ch’elle sono, delle cose nostre quanto d’alcune altre. 61 Ebd., vol. IX, Nr. 793, 14.10.1485. 62 Ebd., vol. VII, Nr. 583. 63 Ebd., vol. X, Nr. 828. 64 Bullard (o. Anm. 56), S. 65–79 betont, dass die Angst-Ausdrücke vor allem nach der guerra dei baroni stark wurden. Der sprachliche Befund gibt ihr Recht, andererseits betont Mallett, Lorenzo and Venice (o. Anm. 37), S. 120, dass wenig später gerade nach diesem Ereignis größere Ruhe einkehrte (»Florence felt less pressured by its allies«). 65 Bullard (o. Anm. 56), S. 9, Anm. 11. 66 Ebd. 67 Ebd., S. 57. 68 Dies durchaus im Gegensatz zu Porträts anderer Mitglieder der Medici-Familie. Die Stirnfalte stets auf den zu Lebzeiten entstandenen Bronze-Medaillen von Bertoldo di Giovanni (1478 – mit salus-publica-Aufschrift wie auf antiken Kaisermünzen, vgl. u. Anm. 71), der Medaille von 1469/75, der Medaille von Niccolò di Forzore Spinelli (c. 1490/92), den drei posthumen Terracotta-Büsten in Washington, Oxford und Prag, dem Gemälde Giorgio Vasaris von 1533/4 in den Uffizien, im Porträt aus dem Atelier von Agnolo Bronzino (1553), etwas gemildert auf jenem von Luigi Fiammingo (1553/60) – demgegenüber eine Abbildung im Fresko des Domenico Ghirlandaio (1483/85) in der Sassetti-Kapelle, Santa Trinità, Florenz, und ebenso die Totenmaske (1492) mit entspannter Miene, die im Gegenzug die künstlerische Gewolltheit der Falten-Hervorhebung in den anderen Darstellungen deutlich macht, vgl. die Abbildungen
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bei A. Luchs, »Lorenzo from Life? Renaissance Portrait Busts of Lorenzo de’ Medici«, The Sculpture Journal 4 (2000), S. 6–23. Zu den Medici-Porträts insgesamt K. Langedjik, The portraits of the Medici. 15th–18th centuries, 3 Bde., Firenze, 1981–1987. Zum antiken Sorge-Begriff vgl. in diesem Band S. 15–55. Ich orientiere mich hier an den Ausführungen von J. Berenger, »SHA Alex. Sev. 48,1 et la cura rei publicae«, in: G. Wirth (Hrsg.), Romanitas-Christianitas. Untersuchungen zur Geschichte und Literatur der römischen Kaiserzeit. FS 70 Johannes Straub, Berlin 1982, S. 308–323, der zur Interpretation einer Anekdote der Vita des Alexander Severus inzident eine Begriffsgeschichte der cura rei publicae in Rom vom frühen Prinzipat bis in die Spätantike liefert. So einst E. Simon, »Das neugefundene Bildnis des Gaius Caesar in Mainz«, in: dies. (Hrsg.), Ausgewählte Schriften, Bd. II: Römische Kunst, Mainz 1998, S. 29–58, hier S. 40–43, die etwa noch Canovas Napoleon-Porträts mit entsprechender Stirnfalte als Nachempfindung des antiken Octavian-Typus und als Ausdruck einer »gewisse[n] repräsentative[n] Sorge um das öffentliche Wohl« interpretieren will. Anders D. Boschung, Die Bildnisse des Augustus, Berlin 1993, S. 95: Zusammenziehen der Augenbrauen als Zeichen des durchdringenden Blicks. F. W. Kent, Lorenzo de’ Medici & the Art of Magnificence, Baltimore 2004, S. 96f. Zu den entsprechenden Porträts vgl. A. Luchs (o. Anm. 67). Man könnte vermutlich im Vergleich zu normalen Banken sogar mathematisch exakt beziffern, welchen Geldwert für einen bestimmten Zeitraum das caritas- und Solidaritätsgefühl der Summe aller Einleger ausmacht. Meines Wissens ist eine solche Berechnung für die Monti di pietà im Vergleich etwa mit den »normalen« Banken der Medici, Strozzi, Salviati noch nicht vorgenommen worden. Für einen detailgenauen Einblick in das Wirtschaftsgebaren dieser Renaissance-Bankiers vgl. etwa H. Lang, »Herrscherfinanzen der französischen Krone unter Franz I. aus Sicht italienischer und oberdeutscher Bankiers. Die Rolle der Florentiner Salviati als Financiers der französischen Regierung«, in: P. Rauscher u. a. (Hgg.), Das Blut des Staatskörpers. Forschungen und Perspektiven zur Finanzgeschichte der Frühen Neuzeit, München 2012, S. 457–508.
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Edoardo Tortarolo
EINLEITUNG: 18. JAHRHUNDERT Die Erforschung jener Grundbegriffe, die die europäische Kultur gekennzeichnet haben, ist für die Untersuchung der Geschichte des 18. Jahrhunderts besonders relevant. Die diskursiven Dimensionen der verschiedenen Ausprägungen der Aufklärung näher in den Blick zu nehmen ist unerlässlich und in der neueren Forschung selbstverständlich. Damit ist eine bemerkenswerte Zäsur zur traditionellen Aufklärungsforschung angedeutet, in der lange Zeit stabile Bedeutungen vorausgesetzt wurden, so dass zentralen Begriffen wie »Vernunft« und »Revolution«, »Geist« und »Körper«, »Republik« und »Monarchie« im 18. Jahrhundert ein grundsätzlich analoger Inhalt wie im 20. Jahrhundert zugesprochen wurde. Der Akzent auf die Diskursivität in der Kultur der Neuzeit gilt jedoch heutigentags als selbstverständlich und die neuesten Perspektiven in der Aufklärungsforschung hängen mit den Folgen dieser Umorientierung erkennbar zusammen. Eine tiefgreifende Revision der Aufklärung wird auch in den Beiträgen von Wehinger und Schlögl deutlich. In den folgenden Anmerkungen wird der Versuch unternommen, kursorisch zu zeigen, weshalb das von beiden Autoren behandelte Thema der »Sorge im Aufklärungsdenken« eine zentrale Rolle im heutigen Verständnis der Aufklärung spielt. Dem Interesse für die diskursiven Dimensionen der Geschichte der Neuzeit liegt die Anerkennung des Umstands zugrunde, dass Worte und Begriffe das Resultat eines stark interaktiven, stets instabilen und offenen Entstehungsprozesses sind. Sie dürfen nicht »at face value«, also unreflektiert, angenommen werden. Das Verhältnis von Vergangenheit und ihrer Präsenz in der Gegenwart – wenn es so etwas überhaupt gibt – ist dabei keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Herausforderung für die Historiker.1 Die prägnanteste und einfachste Formulierung ist in den »Philosophical Investigations« von Wittgenstein zu finden. Wittgenstein ging davon aus, dass Wörter keine unveränderliche Essenz besitzen. Die Phänomene der empirischen Welt aber seien durch »family resemblances« gegenseitig gebunden, ein Netz von Ähnlichkeiten unter Phänomenen sei erkennbar. Der berühmte Paragraph 67 drückt diese These deutlich aus: § 67. I can think of no better expression to characterize these similarities than ›family resemblances‹; for the various resemblances between members of a family: build, features, colour of eyes, gait, temperament, etc. etc. overlap and cries-cross in the same way. And I shall say: ›games‹ form a family. And for instance the kinds of number form a family in the same way. Why do we call something a ›number‹? Well, perhaps because it has a-direct-relationship 18. J ah rh u n de rt | 139
with several things that have hitherto been called number; and this can be said to give it an indirect relationship to other things we call the same name. And we extend our concept of number as in spinning a thread we twist fibre on fibre. And the strength of the thread does not reside in the fact that someone fibre runs through its whole length, but in the overlapping of many fibres.
Begriffe können nicht eindeutig sein. Ihre Analyse im Bezug auf Kontext und Intentionalität der Akteure ist daher notwendig. In such a difficulty always ask yourself: How did we learn the meaning of this word (›good‹ for instance)? From what sort of examples? In what language-games? Then it will be easier for you to see that the word must have a family of meanings. (§ 77).
Der Begriff »Sorge« bietet sich als interessanter Fall im Diskurs der frühen Neuzeit an, denn es geht dabei um einen besonders vielschichtigen Begriff, dessen Bedeutungen an sich schwer zu entschlüsseln sind. Wichtig ist es zudem, die Bedeutungen jener Wörter in den europäischen Sprachen zu berücksichtigen, die der deutschen »Sorge« entsprachen. Was, so muss man grundsätzlich fragen, hat »Sorge« im 18. Jahrhundert bedeutet, als sich der Dialog unter Gelehrten und gebildeten Menschen im Spannungsfeld vom Latein, Französisch und den sich formierenden Nationalsprachen entwickelte? Wehinger und Schlögl beginnen ihre Untersuchung mit einer Analyse der gängigen Bedeutungen des Begriffs »Sorge« im 18. Jahrhundert, wie sie in den am weitesten verbreiteten Wörterbüchern beschrieben wurden. Das Netz der »family resemblances« kann damit annähernd rekonstruiert werde. Wehinger zufolge bestimmte die Lösung von der christlich-lutherischen Perspektive eine Wende in der Bedeutung von Sorge, indem die Sorge säkularisiert wurde und ihren Bezug auf das Jenseits verlor. Den Vollzug dieses Bedeutungswandels untersucht sie dabei exemplarisch auch am Beispiel des preußischen Königs Friedrich II. Sorge richtet sich für ihn ausschließlich auf das Diesseits, auf das Leben in dieser Welt. Ihre Untersuchung des Begriffs »Sorge« signalisiert somit auch den Verlust der Transzendenz als unangefochtenen, zentralen Wert der europäischen Kultur. Für Schlögl entspricht der Wandel in der Bedeutung von Sorge einem grundsätzlichen Wandel in der Vorstellung und in der Struktur der Gesellschaft. Da der Staat als Ausdruck der königlichen Allmächtigkeit konzeptualisiert war und durch eine bis ins Detail reichende Gesetzgebung ständig reglementiert und korrigiert wurde, konnte er nur ein statisches und rigides Gefüge haben. Im Laufe des 18. Jahrhunderts setzt sich jedoch die Ansicht durch, dass der Staat einem System von Bedürfnissen entspreche und daher weniger statisch sei: Der Anspruch auf die totale Kontrolle seitens der Behörden erscheint als zwecklos. 140 | Ed oard o Tor t a ro l o
Methodologisch gesehen haben beide Beiträge den Versuch gemeinsam, Sozialund Strukturgeschichte durch das Medium der Begriffsanalyse anschaulich zu machen. Interessanterweise spielen die Schriften des preußischen Königs für Wehinger und Schlögl eine wichtige Rolle. Anders als bei zeitgenössischen, eher theoretisierenden Autoren tritt die performative Funktion seiner Texte unmittelbar vor Augen. Unter diesem Blickwinkel zeigt sich Friedrich II. jedoch auch als zweideutig und kompliziert: Der preußische König drückte sich schriftlich auf Französisch aus, wurde von Wolff inspiriert, stand aber zugleich in regem Briefwechsel mit Voltaire und d’Alembert. Sein entschiedener Absolutismus kam mit französischen Begriffen zum Ausdruck. Wie Wehinger zeigt, deckte soucis ein ähnliches Feld wie Besorgnis und Betrübnis und tangierte die von den Zeitgenossen Bayle und Voltaire ausgearbeiteten Fragen. Die Teilnahme Friedrichs II. an der französischen Umorientierung war trotzdem begrenzt: Er konnte sich der Identifikation von soucis mit Nächstenliebe und säkularisierter charité nicht anschließen. Ganze Bereiche der Aufklärung blieben ihm verschlossen. Als Friedrich II. im Jahre 1777 die Akademie der Wissenschaften dazu aufforderte, einen Preis für die beste Beantwortung der Frage »Est-il utile de tromper le peuple?« auszuloben, war von vornherein klar, dass »Sorge« als Form der unbegrenzten Nächstenliebe und unvoreingenommenen emotionalen Hingabe keine Option war. Umso interessanter ist der Erfolg, der dieser Initiative zuteilwurde: 42 Beiträge wurden nach Berlin eingereicht, von denen 33 akzeptiert und evaluiert wurden. Die Mehrheit der Teilnehmer lehnte die Nützlichkeit des Betrugs schroff ab, einige bekannten sich zu einer genau umschriebenen Zweideutigkeit, die jedoch nur als vorübergehendes Erziehungsmittel verstanden wurde. Wie bekannt, entschied sich Beguelin, der in der Akademie für die Preisvergebung zuständig war, für zwei Preisgewinner. Becker stand für die negative Antwort auf die Frage, während Frédéric de Castillon die Position des Königs vertrat: »Das Volk muss dem Irrtum überlassen werden«2 – nicht gerade ein Beweis dafür, dass die unbedingte Nächstenliebe triumphierte oder triumphieren sollte. Bei Friedrich II. standen theoretische Äußerungen im Widerspruch zu seinen operationellen Entscheidungen. Schlögl erwähnt zu Recht, dass dem preußischen König eine statische Vorstellung der Gesellschaft eigen war und dass er sich als regulierende Macht seiner Untertanen in der Pflicht sah und für unentbehrlich hielt. Ihm galten die äußerst begrenzten Dimensionen des preußischen Staatsdienstes (im 18. Jahrhundert gehörten weniger als 3000 Personen zum Personal) nicht als Gegenargument. Den Überzeugungen vom »aufgeklärten« König zum Trotz wurde der Hiatus zwischen seiner Vorstellung einer in allen Belangen steuerbaren Gesellschaft und der Realität, die in wachsender Komplexität und inneren Interaktion Ausdruck fand, unübersehbar3. Welche Rolle hat dann die Thematik der Sorge in diesem Zusammenhang gespielt? 18. J ah rh u n de rt | 141
Lange Zeit, sicherlich zu lange Zeit, wurde die Aufklärung als geistige Bewegung mit dem Paternalismus des so genannten aufgeklärten Absolutismus verwechselt. Aus dieser Perspektive ist die Thematik der Sorge eher als Ausdruck einer wohlwollenden Disziplinierung denn als Quelle unbeugsamer und selbstgerechter Pädagogik der Macht behandelt worden. Im Großen und Ganzen wurde das Thema der »Leidenschaften der Aufklärung« beiseitegeschoben und unzureichend untersucht. Die Rolle der philanthropischen Leidenschaften – und speziell der Sorge – als Teil einer Anthropologie der Aufklärung erhielt nur eine untergeordnete Funktion zugeteilt. Leidenschaften wurden überhaupt überwiegend in den Bereichen von Literatur, Ästhetik und Psychologie der Aufklärung berücksichtigt. Einer der angesehensten und einflussreichsten Historiker des 20. Jahrhunderts, der zur Aufklärung geforscht hat, Peter Gay, hat zugestanden, dass (einigen) Aufklärern die bewegende Kraft der Leidenschaften sehr bewusst war. Aber selbst für Peter Gay, den begeisterten und sehr informierten Kenner Sigmund Freuds, war die emotionelle Seite der Aufklärung ein schwieriges Thema. Yet the philosophes’ celebration of passion inevitably had its wry aspects. Wieland and Voltaire, David Hume and John Adams joined in regretting man’s susceptibility to irrational impulse; they were complacently amused by his love of wonder, sardonic about the ease with which his noble philosophizing was subverted by appeals to baser passions, and horrified by his inclination to violence. Like progress, the passions seemed to the philosophes an uncertain blessing.4
Die Aufsätze von Wehinger und Schlögl sind Ausdruck einer neuen Tendenz der Forschung, die in den letzten Jahrzehnten die Relevanz auch nichtrationaler Elemente der aufklärerischen Argumentationen hervorhoben hat. »Nichtrational« setzt keinesfalls automatisch »eine Revolte gegen die Vernunft« voraus. Das ist der Fehlschluss, den Isaiah Berlin mit schwerwiegenden Konsequenzen für die spätere Forschung gezogen hat. Er hat in der Tat nicht erkannt, dass die Denker der Aufklärung europaweit mit einer Transformation der sozialen und kulturellen Verhältnisse konfrontiert waren und dass sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Grundwerte ebenfalls massiv in einem Transformationsprozess befanden. Auch diejenigen, die als Repräsentanten einer fideistischen und streng orthodoxen Einstellung gelten, waren jener variablen Kombination aus Formen der aufgeklärten Rationalität und Ausdrucksweisen der aufgeklärten Leidenschaften ausgesetzt und wurden entsprechend beeinflusst. Ein wesentliches Moment dieses Transformationsprozesses lag in der minimierten Bindekraft der traditionellen Religion. Wenn das Jenseits offenbar keine fundamentale Angst mehr machte, die grundsätzlich alle soziale Akteure in Schranken halten konnte, und, wie Bayle erkannte, Atheisten moralisch bessere Menschen sein konnten (und der Tat oft waren) als Christen, 142 | Ed oard o Tor t a ro l o
dann sollten die an den aufklärerischen Diskussionen interessierten Gelehrten und Schriftsteller auch dieser neuen Situation angemessene Wertsysteme entwickeln. Die Welt zeigte sich, wie Adam Smith sagte, als »a fatherless world«, und es galt nun, die Bedürfnisse ihrer Einwohner neu zu untersuchen. Das neueste Buch von Anthony Pagden, The Enlightenment and Why It still Matters, nimmt diese Frage auf, indem es rekonstruiert, wie die Aufklärung einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung der Moderne leistete und die Betrachtung der anthropologischen Struktur grundsätzlich revidierte. Es ist auch für die Diskussion um die Thematik der Sorge relevant, denn dem Begriff »sentiment« wird eine zentrale Rolle in der Aufklärungsphilosophie zugeschrieben. Er ist mit dem Respekt vor den Rechten der gesamten Menschheit verknüpft. Eine egalitäre Einstellung zur Menschheit entspringe aus einer unreflektierten Haltung der zivilisierten Menschen, die Empathie als fundamentale Eigenschaft ansähen, ebenso wie aus einer rationalen Gesellschaftsanalyse. Pagden unterstreicht darüber hinaus, in welchem Maße die Begriffe »Handel« und »Fortschritt« Drehpunkte der Kultur der Aufklärung gewesen seien (wie auch Wehinger und Schlögl deutlich implizieren). Im dritten Kapitel »Bringing pity back in« (S. 53–78) wird nun »Sorge« als zentrales Thema angeschnitten und die These aufgestellt, dass in der Aufklärung das Hobbes’sche Diktum Homo hominis lupus auf den Kopf gestellt wurde. Rousseau sei also repräsentativer als Mandeville – dies entspreche dem Novum (und dem Guten) der Aufklärung. Ist es wirklich so gewesen? „Sorge« – als Mitleid, als instinktive, unreflektierte Ablehnung der Leiden des Nächsten und als aktives Engagement für das Wohl der Fremden – war ein wichtiges Thema, das sich vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbreitete. Sie war aber auch eine Herausforderung, die unterschiedliche Reaktionen hervorrief. Beide Beiträge bieten interessante Beispiele dafür: Wehinger untersucht die freimaurerische Aneignung vom Begriff der Brüderlichkeit, dem sich auch Friedrich II. anschloss, wenn wir einem Bericht in der Gazette de Berlin aus dem Jahre 1780 Glauben schenken. Schlögl analysiert die Philanthropie als ein zentrales Element der Reformphilosophie im Bezug auf die sich selbst regulierende Gesellschaft. Brüderlichkeit und Philanthropie gehören zum Diskurs über die Sorge, die von bestimmten Strömungen in der Aufklärungsbewegung ernster genommen wurde als von anderen. Für die Radikalaufklärung, die für gewöhnlich die meiste Aufmerksamkeit der Historiker auf sich zieht, war »Sorge« von großer Bedeutung. Ein Beispiel kann am besten zeigen, wie unterschiedlich der Begriff der »Sorge« interpretiert wurde: Diderot wäre wahrscheinlich gerne an den Pazifischen Ozean gereist, sicherlich lieber, als in einem Schlitten nach Russland zu fahren. Die Russen hat er direkt kennengelernt – wenn auch nur den Hof – und hat sich bei der Kaiserin Katharina II. für den Fortschritt der sozialen Verhältnisse in ihrem Reich eingesetzt; er tat es aber nicht mit dem gleichen Pathos, das er für die ihm persönlich 18. J ah rh u n de rt | 143
völlig unbekannten Tahitianer ausdrückte. Die von Bougainville beschriebenen Tahitianer boten ihm die Möglichkeit, seine Sorge um die Natur der Menschheit zu artikulieren, die von der Zivilisation bedroht wurde, und einen Schritt weiter zu gehen als die freimaurerische Brüderlichkeit und die Reformphilosophie von Rochows es ihm erlaubt hätte. Diderot war mit Hobbes sehr gut vertraut: Von ihm hatte er die These, derzufolge die Bedürfnisse unbegrenzt wachsen und dass dies eben das Merkmal der Moderne sei. Diderot war aber fest davon überzeugt, dass die Aufklärung ein Produkt der Moderne und zugleich ihre innere Regulierung war. Die Moderne war nicht nur durch Brüderlichkeit und Philanthropie – gezähmten Individualismus und Fortschritt der Vernunft –, sondern auch durch Spannungen in der Gesellschaft, durch rücksichtslose Ausbeutung, durch Kolonialismus und sich ausbreitende Sklaverei gekennzeichnet. Im Supplément au Voyage de Bougainville sowie einige Jahre später in der Histoire des deux Indes nahm seine Sorge eine aggressive Färbung, einen ultimativen Ton, ja einen apokalyptischen Duktus an: Die Sorge sucht sich die Ausdrucksweisen, die der Sache angemessen sind. Wenn das Wachstum der Bedürfnisse zur Vernichtung der Naturvölker und zur globalen Sklaverei führe, dann sei der Übergang zum Aktivismus gerechtfertigt. Die Tahitianer seien aufgefordert, jegliche Beziehung zu den Europäern abzulehnen, die Sklaven in Amerika dürften ihre unmenschlichen Eigentümer umbringen. Die Sorge für den Nächsten hatte damit ihre extreme und paradoxe Formulierung gefunden.
A n m e r kunge n 1 History and Theory, 45 (October 2006), »On Presence«. 2 Brief an d’Alembert, 8.1.1770, in: W. Krauss, Est-il utile de tromper le peuple? Ist der Volksbetrug von Nutzen?, Berlin 1966, S. 17. 3 E. Hellmuth, »Der Staat – Starker Leviathan oder Koloss auf tönernen Füßen?«, in: B. Soesemann/G. Vogt-Spira (Hgg.), Friedrich der Große in Europa. Geschichte einer wechselvollen Beziehung, Stuttgart 2012, Bd. 2, S. 20–32. 4 P. Gay, The Enlightenment. An Interpretation. 2: The Science of Freedom, London 1973 (zuerst 1969), S. 191.
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Brunhilde Wehinger
VON DER GOTTESLIEBE ZUR BRÜDERLICHKEIT Zur Debatte um charité , (Für-)Sorge, Nächstenliebe im 18. Jahrhundert SANS, SOUCI. Mit dem berühmt gewordenen Namen des Schlosses Sanssouci, das Friedrich II. zwischen 1745 und 1747 als Sommervilla vor den Toren seiner Residenzstadt Potsdam erbauen ließ, rückte Mitte des 18. Jahrhunderts der Begriff »Sorge« auf singuläre Weise ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Es war damals keineswegs üblich, den Namen eines Schlosses an seiner Außenfassade anzubringen. In Sanssouci hingegen finden wir noch heute die aus vergoldeten Bronzelettern bestehende Inschrift an prominenter Stelle auf dem Mittelrisalit unter der Kuppel an der Südseite des Schlosses: SANS, SOUCI. Die ungewöhnliche Interpunktion, vor allem das rätselhafte Komma, das die beiden kurzen Wörter SANS („ohne«) und SOUCI („Sorge«) voneinander trennt, beschäftigt seit gut 250 Jahren die Gemüter, der Punkt am Ende der Inschrift hingegen weniger. Bei genauer Betrachtung ist jedoch zu erkennen, dass der Punkt aus einem auf der Spitze stehenden Dreieck besteht und aus drei Rosetten gebildet wird. Um die simple Funktion eines Punktes zu erfüllen, hätte eine einzige, etwas größere Rosette genügt. Ausgehend von der Annahme, der König habe bei der Konzeption von Schloss und Park Sanssouci, die von seinem Architekten Knobelsdorff und zahlreichen Künstlern, Handwerkern, Gärtnern realisiert wurde, nichts dem Zufall überlassen, ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass dem Komma von Sans, Souci eine geheime Botschaft eingeschrieben sein müsse.1 Unter den weitgehend spekulativen Entzifferungsversuchen sei kurz auf die plausibelste Lesart hingewiesen, die theologisch-philosophische, die sich darauf stützt, dass in frühneuzeitlichen Geheimschriften das Komma »Calvinismus« und der Punkt »Deismus« bedeute; daraus ergäben sich verschlüsselte Hinweise auf Friedrichs persönliche Einstellungen zu Religion und Philosophie: »Ohne Calvinismus (d. h. ohne Prädestinationslehre) ist man ohne Sorge (als) Deist.«2 Dem aus einem Dreieck gebildeten Punkt kommt im Kontext von Schloss und Park Sanssouci m. E. eine weitere Bedeutung zu: Das von Ferne nicht so leicht erkennbare Dreieck spielt auf die Freimaurerei an, für die das Dreieck (zum Beispiel in Form des immer wiederkehrenden, auf der Spitze stehenden Winkelmaßes) die Funktion eines Erkennungszeichens hatte. Bezugnahmen auf die im 18. Jahrhundert geheime Symbolik der Freimaurer sind Vo n d e r Got t e sl i e be z u r B rü de rl i c h ke i t | 145
im Garten von Sanssouci zahlreich zu entdecken.3 Stünde der Punkt insgeheim für Deismus, wäre dies auch mit den Idealen der Freimaurerlogen zu vereinbaren. Der Deismus oder die natürliche Religion bildet im Denken der Freimaurerei das religiöse Fundament, von dem aus andere Konfessionen toleriert werden können. Freimaurer-Symbole finden sich im Schlossgarten von Sanssouci unter anderem bei den beiden Sphingen, die den Beginn des von Süden nach Norden aufsteigenden Weges oder der »Achse der Erkenntnis«4 zum Schloss auf dem Weinberg markieren und Szenen des Initiationsritus der Freimaurer aufgreifen. Auch die skulpturale Interpretation der vier Elemente am Fontänenrondell im Gartenparterre war für die Eingeweihten als Bekenntnis des Königs zur Freimaurerei lesbar; das gilt auch für die Gruft im östlichen Teil des Gartens, die Friedrich II. bereits 1745, im Alter von 33 Jahren, als seine Grabstätte erbauen ließ. Einer zeitgenössischen Anekdote zufolge wäre die geheime Botschaft des Namens Sanssouci auf das noch vor dem Schloss fertiggestellte Grab beziehbar: »Quand je serai là, je serai sans souci« (»Wenn ich dort liege, werde ich ohne Sorge sein«) soll der junge König seinem Kammerherrn, dem Marquis d’Argens, anvertraut haben.5 Die philosophische Reflexion des Todes als Ausgangspunkt für die Suche nach dem irdischen Glück spielt in der Freimaurerei ebenso eine Rolle wie im Denken jener prominenten Gäste, die um 1750 zu den philosophischen Soupers nach Sanssouci geladen wurden.6 Die Antikenrezeption im Zeichen der Lumières hat auch in den dichterischen Werken des Philosophen von Sanssouci (1750) deutliche Spuren hinterlassen. In Sanssouci war um 1750 auch die Freimaurerei im Spiel. Friedrich wurde bereits 1738 in die Geheimgesellschaft aufgenommen, anschließend auch zahlreiche seiner Getreuen.7 Seit 1740 war sein italienischer Freund und Gast der philosophischen Soupers in Sanssouci, Francesco Algarotti, Mitglied der königlichen Loge in Berlin. Selbst der Starphilosoph von Sanssouci, Voltaire, der das Zusammenwirken von Aufklärung und Geheimnis kritisch sah, wurde im hohen Alter Mitglied der Pariser Loge »Au Neuf Sœurs« (»Zu den Neun Schwestern«, gemeint sind die Musen), die als vorrevolutionärer »Temple de la fraternité égalitaire« galt und der neben renommierten Wissenschaftlern, Künstlern, Schriftstellern auch Akteure der nordamerikanischen Unabhängigkeit sowie viele spätere Revolutionspolitiker angehörten.8 Das Bildprogramm von Sanssouci beinhaltet das verschlüsselte Bekenntnis des Königs zur Freimaurerei und zu deren Idealen Toleranz, Freiheit des Denkens, Brüderlichkeit sowie Anspielungen auf die antike Lebensphilosophie, deren moderne Adepten sich keine Sorgen machen müssen angesichts des Todes. Sie überwinden als aufgeklärte Epikureer »die leeren Schrecken des Todes« und »die Angst vor einem anderen Leben« und tragen auch nicht die Bürde der Erbsünde. Die Sorge um das Jenseits ist ihnen fremd, weil sie den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele ablehnen, wie es in einer Versepistel aus den Œuvres du Philosophe de Sans146 | Brunhild e We hinge r
Souci heißt.9 Der Name des Schlosses erschließt sich dergestalt als eine mehrfach codierte Bezeichnung für die Suche nach dem irdischen Glück, einer »sorgenfreien« Existenzform und Alternative zum »sorgenvollen« Alltag von Hof und Stadt.10 Mit dieser Einstellung lassen sich auch die ikonographischen Anspielungen auf die Ideale der Freimaurer im Garten von Sanssouci vereinbaren. Die Geheimgesellschaft verknüpfte ihre Suche nach dem Weg der Erkenntnis an die wohltätige Brüderlichkeit im Sinne der laizistischen Humanitätsidee, die die Bedeutung der christlichen Nächstenliebe im Horizont mitführt. In der Französischen Revolution trat dann die säkularisierte Brüderlichkeit aus dem Schonraum der geheimen Logen heraus und wurde zu einem Leitbegriff, dem in Zeiten der gesellschaftlichen Zerwürfnisse eine besondere Integrationskraft zugetraut wurde.11 Die »Brüderlichkeit«, die seit dem frühen 18. Jahrhundert von den Freimaurern erprobt worden war, avancierte zu einem emotionalen Bindeglied zwischen Liberté und Égalité, die von den Aufklärern rechtsphilosophisch fundiert und 1789 in die Erklärung der Menschenrechte aufgenommen worden waren, während die Fraternité ihren »revolutionären Auftritt« erst mit der Republik hatte. Dem philosophischen Programm von Sanssouci, dem ländlich-idyllischen Rückzugsort der höfischen Aufklärung, ist die revolutionäre Bedeutung der Brüderlichkeit naheliegenderweise wohl kaum eingeschrieben. Umso bemerkenswerter erscheint es rückblickend, dass gerade die kosmopolitische Freimaurerei, die in den preußischen Staaten seit 1740 die Protektion des Königs genoss (und dafür entsprechend königstreu war), dazu beitrug, dass Fraternité nach Liberté und Égalité nach der Abschaffung der Monarchie zur dritten Devise der französischen Republik avancierte und es heute noch ist.12 In einem Artikel, der im Juni 1780 in der Gazette de Berlin über die Loge »À l’Amitié« („Zur Freundschaft«) erschien, wird daran erinnert, dass mit der Aufnahme Friedrichs in den Freimaurerorden »die Brüderlichkeit das Licht der Welt« erblickt habe und dank seiner Protektion der Fortbestand dieser »wahrhaft königlichen Kunst« gesichert sei.13
U n be re c ht igt e , anm aße nde und ve rnü nfti ge Sorgen Die Sorge, die Friedrich II. im philosophisch-ästhetischen Programm seiner Sommerresidenz suspendieren wollte, ist im 18. Jahrhundert durch eine zweifache Semantik markiert: Sorge bedeutet im Deutschen zunächst Kümmernis im Sinne der Besorgnis, »eigentlich, die mit Unruhe verbundene anhaltende Richtung des Gemüths auf die Abwendung eines Uebels oder Erlangung eines künftigen Gutes, und die damit verbundene Unlust oder unangenehme Empfindung«, wie es im Artikel »Sorge« in der Oekonomisch-technologischen Enzyklopädie oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirthschaft […], kurz: im »Krünitz« heißt, Vo n d e r Got t e sl i e be z u r B rü de rl i c h ke i t | 147
jener monumentalen Enzyklopädie, die zwischen 1773 und 1858 in 242 Bänden erschien.14 Der 156. Band, in dem der Artikel »Sorge« zu finden ist, wurde erst 1833 veröffentlicht und stammt nicht mehr aus der Feder des Enzyklopädie-Begründers Johann Georg Krünitz, sondern wurde von einem seiner Nachfolger verfasst, der noch einmal das semantische Feld des Begriffs absteckt, das sich in den deutschsprachigen Enzyklopädie- und Wörterbuchartikeln des 18. Jahrhunderts abzeichnet. Der vorherrschende Referenzhorizont des Krünitz-Artikels »Sorge« ist die Luther-Bibel. Unmittelbar nach der oben zitierten Erläuterung wird auf Psalm 127,2 verwiesen: »Sein Brod mit Sorgen essen«. Weitere Belege zur Wortgeschichte sind Adelungs Wörterbuch15 entnommen. »Sorge« bedeute Kummer, Gram, Traurigkeit, Trauer, Schmerz des Gemüts, Betrübnis, Unruhe, Unlust – verschiedene Facetten eines betrüblichen Gefühls. Es folgen Verweise auf Psalm 13,3: »Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele?« sowie auf Jeremias 17,8: »Sorget nicht, wenn ein dürres Jahr kommt«, ansonsten werden Redewendungen und Sprichwörter aufgezählt. Eine kritische Auswertung wird nicht vorgenommen, die sprachliche Ausdifferenzierung des gefühlsbetonten Phänomens »Sorge« wird jedoch deutlich erkennbar. Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, das in 64 Bänden und 4 Supplementbänden von 1732 bis 1754 in Leipzig erschien, steckt den Bedeutungshorizont des Begriffs »Sorge« ab, wie er sich Mitte des 18. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum für den Lexikonbegründer Zedler darstellte, der vom neuen Denken nicht ganz unbeeindruckt zu sein schien. Johann Heinrich Zedler brachte zahlreiche Nachschlagewerke heraus, zum Beispiel die zwanzigbändige Allgemeine Staats-, Kriegs-, Kirchen- und Gelehrten-Chronicke. Seine Laufbahn als erfolgreicher Verleger begann mit einer Edition der Sämtlichen Werke und Schriften Martin Luthers. So wundert es nicht, dass auch in seinen Lexikonartikeln die Luther-Zitate vorherrschen. Der Artikel »Sorge« erschien 1743 (Bd. 38, S. 935–937) und ist erheblich umfangreicher und wesentlich komplexer angelegt als der erwähnte Artikel des »Krünitz«. Zedler beginnt folgendermaßen: Sorge, Lat. Cura, ist eine fleißige Aufmerckung und Bekümmerniß um ein Ding, da man mit sich zu rathe gehet, und nachdencket, wie man eine Sache recht angreiffen musse, daß man keine Ungelegenheit, Schaden oder Gefahr davon habe, sondern daß alles einen erwünschten Ausgang gewinnen möge: Wie etwan Eltern für ihre Kinder, Obrigkeit für die Unterthanen, Lehrer und Prediger für ihre Gemeine, auch ein jeder Christ dafür, daß er des Zwecks der Seligkeit nicht verfehle, bekümmert seyn müssen.16
»Sorge« als Bekümmernis erscheint hier vor allem im Sinne von Für- und VorSorge, sozialer Verantwortung im privaten und öffentlichen Bereich, in Familie, 148 | Brunhild e We hinge r
Staat, Kirchengemeinde und nicht – wie im »Krünitz« – an erster Stelle als introvertierte, das Gemüt, die Gefühle des Einzelnen betreffende Bekümmernis. Für-Sorge und Vor-Sorge werden im zweiten Argumentationsschritt aber auch im »Zedler« auf das religiös geprägte, irdische Leben des Christen bezogen und zwar stets mit Blick auf die anzustrebende »Seligkeit« im Jenseits, vor dem sich der Christenmensch in Acht nehmen soll. Ohne Gottesbezug sind Für-Sorge und VorSorge im »Zedler« explizit (noch) nicht vorgesehen. Doch war der Leipziger Verleger dem Denken der deutschen Frühaufklärung verpflichtet, die zwar keine Zweifel an den Grundfesten der christlichen Religion aufkommen ließ, aber Vernunft und Vorurteilskritik zum Thema machte. Zedler ordnet in seinem Artikel »Sorge« das semantische Feld des Begriffs in drei Hauptabteilungen und bringt einen weiteren Schlüsselbegriff ins Spiel, nämlich den des »Berufs« bzw. der »Arbeit«, die im Denken der Aufklärung nicht länger als Strafe Gottes hingenommen, sondern zunehmend positiv konnotiert werden: Zuförderst gebe es, heißt es zur Sorge im »Zedler«, die notwendigen, von Gott dem Menschen auf den Weg gegebenen »Sorgen«, die »ein jeder in seinem Amte, Stande und Beruf haben soll«. Gemeint sind soziale Aufgaben und Verpflichtungen des Individuums innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Diese werden als Selbstverständlichkeit, die keine detaillierte Erklärung benötigt, vorausgesetzt. Im zweiten Argumentationsschritt geht es um unnötige, insbesondere »fleischliche« Sorgen, welche »aus Misstrauen und Zweiffel an der Gnade Gottes entstehen, oder auf sündliche Sachen gerichtet sind«. Auch hier erfolgen keine weiterführenden Erläuterungen. Und schließlich gebe es – und im Folgenden wird ausführlich argumentiert – die »gemischten« Sorgen; zum Beispiel wenn einer all das tue, was er tun soll, aber an Gott zweifle und ungeduldig werde, wenn es nicht vonstatten gehe, wie er es sich erhoffe. Diese Sorgen seien aber nicht nur unnötig, sondern geradezu anmaßend. Sodann gebe es die berechtigte Sorge, die Vor-Sorge hinsichtlich dessen, was aus den menschlichen Handlungen an Gutem oder Schlechtem in der Zukunft erwachsen könne. Diese begründete Sorge mache sich der Kluge und Tugendhafte zu eigen; dafür sind VorSicht, Weit-Sicht, Kritik- und Erkenntnisfähigkeit vonnöten. Ganz unnötig hingegen seien all jene Sorgen, die sich die Menschen um Dinge machten, die nicht in ihrer Macht, sondern in Gottes Hand lägen. Angelegenheiten dieser Kategorie solle der Mensch der göttlichen Vorsehung überlassen. Das dürfe aber nicht dazu führen, dass der Mensch die Hände in den Schoß lege, »denn«, wie es bei Paulus heiße, »wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen«. Der Mensch sei »zum arbeiten gemacht, wie der Vogel zum fliegen«. Hier deutet sich der Arbeitsbegriff im Sinne einer sozialen Pflicht und Identität stiftenden Tätigkeit an, der diejenigen, die nicht arbeiten, sondern faulenzen oder sich der Muße hingeben, ausgrenzt. Verstärkt wird die rhetorische Wirkung des (bürgerlichen) Arbeitsbegriffs durch die polemische Spitze gegen den Müßiggang als aller Laster Anfang. Vo n d e r Got t e sl i e be z u r B rü de rl i c h ke i t | 149
Schließlich macht der »Zedler« die Bedeutung des Begriffs »Sorge« in Verbindung mit der christlichen Pflicht zur »Vor-Sorge« stark, diese erscheint als eine Tätigkeit, bei der andere »ver-sorgt« werden, sie ist auf die Zukunft des Individuums und der Gesellschaft ausgerichtet. So gelte es, in guten Tagen »Vor-Sorge« zu treffen für sich und die Seinen, »vorsichtig« bzw. »fürsichtig« zu sein hinsichtlich des Gemeinwesens. Im »Zedler« wird die »Vor-Sicht« in physischer, emotionaler, seelischer Hinsicht austariert und mit anschaulichen Bibelzitaten unterlegt, die nun aber die »vernünftigen«, das heißt die berechtigten Sorgen des Christen benennen. Unchristlich und inakzeptabel erscheinen vor diesem Hintergrund all jene »Sorgen«, die im Misstrauen gegenüber Gott und im Zweifel an seiner Macht gründen. Dass im »Zedler« diese Dimension so stark herausgestellt wird, verweist darauf, dass es um die Mitte des 18. Jahrhunderts mit den religiösen Zweifeln einiges auf sich gehabt haben muss und Zedlers Enzyklopädie das Schwinden der kirchlichen Autorität und den Zweifel an den Versprechungen des Christentums nicht völlig ignorieren konnte. Wenden wir uns der im 18. Jahrhundert lebhaft diskutierten zweiten Bedeutungsebene von »Sorge« zu: der »Sorge« im Sinne von caritas. Während »Caritas« im deutschen Sprachgebrauch ein Fremdwort bleibt, wurde es im Englischen und Französischen eingebürgert: charity (oft im Plural charities) und charité im Sinne von tätiger Nächstenliebe, Armenfürsorge, Wohltätigkeit oder »Wohltun«, das Erbringen von »guten Werken«, in der zweiten Jahrhunderthälfte auch Philanthropie.17 In den französischsprachigen Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts wird in den Artikeln zu charité immer noch das »Almosenwesen« erwähnt: Vom Standpunkt der Aufklärung aus, um es zu kritisieren; seitens der Kirche, um die konkrete Möglichkeit einer erhofften Sündentilgung zu verteidigen, denn das Almosenwesen gilt nach wie vor als eine Form der »Vor-Sorge« für das Seelenheil des Christen, der ein »gutes Werk« erbringt, das Hilfsbedürftigen im irdischen Leben und dem Wohltäter im Jenseits zugutekommt. Im Unterschied zur Wortbedeutung der Sorge als Gefühl des Kummers und der Betrübnis wird die »Sorge« im Sinne von (wohltätiger) Nächstenliebe im Laufe des 18. Jahrhunderts in Frankreich zum Gegenstand aufschlussreicher Debatten. Beim Studium der Quellentexte gewinnt man den Eindruck, es gehe den französischen Aufklärungsphilosophen, die die öffentliche Debatte um den Begriff der charité führten, darum, sich im Wettstreit um die Deutungshoheit des bis dato ungebrochen positiv besetzten Begriffsfeldes gegen die flächendeckend verankerte theologische Übermacht behaupten zu müssen und zugleich ihre moralische Integrität sowie die moralphilosophische Legitimität ihrer Kritik unter Beweis zu stellen. So geht es den philosophes in dieser Debatte darum, caritas oder charité zu dem zentralen, nicht länger ausschließlich christlich, sondern fortan moralphilosophisch begründeten Schlüsselbegriff der aufklärerischen Ethik umzuformen. Die 150 | Brunhild e We hinge r
Debattenbeiträge zur »Sorge« im Sinne von Für-Sorge, Für-Sorglichkeit, Menschenliebe stehen im Horizont des aufklärerischen Projektes der Emanzipation des philosophischen Denkens von der Theologie und der damit einhergehenden Modernisierung der Begriffe. In diesem Kontext zeigt sich, dass mit der europäischen Aufklärungsbewegung Philosophie und Theologie fortan getrennte Wege gehen, allerdings nicht ohne heftige Konfrontationen zwischen den Repräsentanten des in die Defensive gedrängten Katholizismus und den Vertretern der Lumières, die die Religionskritik in der zweiten Jahrhunderthälfte radikal zuspitzten.
Charité – die Sorge um de n Näc hst e n Im Folgenden soll in der gebotenen Kürze dargelegt werden, wie sich die Bewegungen im semantischen Feld des Begriffs »charité« – tätige Nächstenliebe, Fürsorge, Wohltätigkeit – vor allem in französischsprachigen Enzyklopädien und Wörterbüchern des 18. Jahrhunderts darstellen. Die enzyklopädische Quellengattung ist für begriffsgeschichtliche Fragestellungen, die sich auf das Jahrhundert der Aufklärung beziehen, in besonderer Weise einschlägig: Es gibt kaum ein Wissensgebiet, das nicht einer enzyklopädischen Erfassung unterzogen worden wäre. Die Artikel zum Begriff »charité« in folgenden Werken geben Aufschluss: Dictionnaire de l’Académie française (1694, 1762, 1798); Cyclopaedia, or, An universal dictionary of arts and sciences von Ephraim Chambers (1728), die für die Enzyklopädiebewegung in Frankreich eine besondere Rolle spielte; Dictionnaire des dictionnaires (1785), eine Kompilation verschiedener Wörterbucheinträge, die sich als »Esprit« im Sinne von Quintessenz der Wort- und Begriffsgeschichte versteht und eine Besonderheit des enzyklopädischen 18. Jahrhunderts darstellt; sodann die Encyclopédie méthodique (Abteilung »Théologie«, 3 Bde., 1788) aus der Feder des Abbé Bergier; und die Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société des gens de lettres […] von Denis Diderot und d’Alembert – das Symbol der Lumières, eine der zentralen Referenzen der aufklärerischen Debattenkultur und der intellektuellen Avantgarde in den Auseinandersetzungen um die Deutung gesellschaftspolitischer und kultureller Schlüsselbegriffe in der zweiten Jahrhunderthälfte. Die Encyclopédie verfügte über einen Wirkungskreis weit über die französischen Landesgrenzen hinaus und beflügelte die Dynamik der Enzyklopädiebewegung.18 Ihr Verleger André-François Le Breton plante ursprünglich eine französische Ausgabe von Chambers’ Cyclopaedia; doch Diderot, der als Übersetzer engagiert worden war, entwickelte ein völlig neues Projekt, das zu einem enormen kommerziellen Erfolg und Meilenstein in der Verlagsgeschichte wurde. Es ist bekannt, dass die Encyclopédie sowohl in fürstlichen Bibliotheken außerhalb Frankreichs (zum Beispiel in der Schlossbibliothek zu Sanssouci) als auch in bürgerlichen Häusern vorhanden war.19 Vo n d e r Got t e sl i e be z u r B rü de rl i c h ke i t | 151
Angesichts ihrer europaweiten Verbreitung erschütterte die Encyclopédie nicht nur die Autorität der Vertreter von Thron und Altar in Frankreich, sondern sie brachte zudem eine Flut an weiteren Enzyklopädien mit sich, die einerseits zu retten versuchten, was unter Diderots und d’Alemberts Regie in Frage gestellt oder ad absurdum geführt worden war, oder andererseits die kritischen Positionen der Encyclopédie noch überbieten wollten. Voltaire war der Meister der zugespitzten enzyklopädischen Intervention. Er hat diesbezüglich verschiedene Formate entwickelt, die in zahlreichen Auflagen mit immer neuen Ergänzungen auf den Markt kamen: den Dictionnaire philosophique portatif (1764, zahlreiche Neuauflagen), La raison par alphabet (»Das Alphabet der Vernunft«, 1769) sowie die ebenfalls alphabetisch angelegte Replik auf Diderots und d’Alemberts Encyclopédie mit dem Titel Questions sur l’Encyclopédie („Fragen zur Encyclopédie«, 1770–71, 1774). Als Alternative zum enzyklopädischen Großprojekt seiner philosophischen Mitstreiter bot Voltaire ein handliches, für ein größeres Publikum erschwingliches Format mit Essays, die antiklerikal, mit scharfer Ironie, Esprit und viel Humor geschrieben sind. Die ursprüngliche Idee eines Dictionnaire philosophique portatif entstand im September 1752 in Potsdam-Sanssouci.20 Am Beispiel des Begriffs »charité« und seiner diversen Komplementär- und Gegenbegriffe lässt sich das hitzige Ringen um dessen Bedeutung anschaulich nachvollziehen. Charité ist in den erwähnten Wörterbüchern und Enzyklopädien, die in der ersten Jahrhunderthälfte erschienen, also vor der Encyclopédie, übereinstimmend und ganz im Sinne der christlichen Ethik positiv besetzt und wird als das zentrale Gebot christlicher Fürsorglichkeit gegenüber Hilfsbedürftigen – insbesondere Kindern, Armen, Kranken etc. – bekräftigt. Auf diese positive Konnotation verweisen auch die französischen Aufklärer gerne, vor allem um ihre Kirchenkritik zu untermauern, indem sie den aus ihrer Sicht korrupten Klerus mit dem Gebot der Nächstenliebe konfrontieren. Voltaire lässt aus dem gesamten christlichen Tugendkatalog nur die Nächstenliebe (»la bienfaisance envers le prochain«) als Tugend gelten, denn nur sie genüge der Vernunft. Die »wohltätige Nächstenliebe«, heißt es im Dictionnaire philosophique (Artikel »Vertu«, 1764) sei der einzige Beitrag der christlichen Religion zum Wohlergehen der Gesellschaft. Und Tugend gebe es überhaupt nur in Gesellschaft. Weil der Mensch von Natur aus ein soziales Wesen sei, könne als wahrhaft tugendhaftes Handeln nur das gelten, was zum Wohle der Gesellschaft gereiche. Der Einsame könne vielleicht ein Heiliger werden, aber niemals ein tugendhafter Mensch. Wer sich in die Einsamkeit zurückziehe und sich als Eremit gebärde, übe weder Nächstenliebe noch sei er »tugendhaft«; für die Gesellschaft zähle er nicht.21 Daraus leitet Voltaire die Diesseitigkeit der karitativen Wohltätigkeit ab, die keinen Bezug mehr zur Transzendenz der christlichen Nächstenliebe aufweise. Bereits Montesquieu, der sich als Autor des Esprit des lois (1748) vorsichtshalber als »écrivain politique« bezeichnet („Ich bin in diesem Werk nicht Theologe, 152 | Brunhild e We hinge r
sondern politischer Schriftsteller«), um die Konfrontation mit den Theologen zu vermeiden, hatte die Frage nach dem Beitrag der Religionen für das Wohlergehen der Gesellschaft und das irdische Glück ihrer Mitglieder erörtert. Seine Antwort, das Christentum betreffend, ist ebenso kurz wie prägnant: La religion chrétienne, qui ordonne aux homme de s’aimer, veut sans doute que chaque peuple ait les meilleures lois politiques et les meilleures lois civiles, parce qu’elles sont, après elle, le plus grand bien que les hommes puissent donner et recevoir.22
Auch Voltaire erörterte die Nächstenliebe hinsichtlich ihres gesellschaftlichen Nutzens und ihres Beitrags zur irdischen Glückseligkeit des Menschen; darüber hinaus nobilitierte er die charité als einzige Tugend, die im Zeitalter der Vernunft zähle. Für Montesquieu liefert das religiöse Gebot der Nächstenliebe die Begründung für die Einführung guter Gesetze und implizit für Rechtsstaatlichkeit, Rechtsgleichheit und die im Esprit des lois thematisierte Gewaltenteilung. Diese weitreichende, politische Semantik der Nächstenliebe findet sich in Chambers’ Cyclopaedia (1728) oder in den französischsprachigen Enzyklopädien aus der ersten Jahrhunderthälfte noch nicht. Dort steht der Begriff für eine der christlichen Kardinaltugenden, die in Form der Wohltätigkeit die Liebe zu Gott für alle sichtbar werden lasse. Charité wird als Bekenntnis zum christlichen Glauben bestimmt, das gesellschaftlich wirksam wird. Sie ist religiös und weltlich zugleich, gründet im Jenseitsglauben und vollbringt »gute Taten« im Hier und Heute. Die radikalen Kritiker der theologischen Deutung der tätigen Nächstenliebe werden nicht mehr Gottesliebe sagen, sondern Gottesfurcht und darauf bestehen, dass es die Besorgnis hinsichtlich des Jüngsten Gerichts, Angst und Furcht vor den ewigen Höllenstrafen seien, mit der die Theologen die Menschen erschrecken und sie zur Nächstenliebe forcieren. Interessant im Artikel »Charity« in Chambers’ Cyclopaedia23 sind die kurzen Hinweise auf sehr konkrete Formen der tätigen Nächstenliebe, die zur Nachahmung empfohlen werden: Die von Königin Anne 1710 eingerichtete »Society of Women«, die sich um die armen Familien der Manufakturarbeiter kümmere, oder die Kongregation der Pariser »Dames de la Charité« – in beiden Fällen Wohltätigkeitsorganisationen adliger Damen; das gilt auch für die von Chambers erwähnten Ladies, die in London »Charity Schools« unterhalten, wo Waisenkinder und Knaben und Mädchen armer Familien versorgt werden und lesen, schreiben und rechnen lernen. Bemerkenswert ist, dass Chambers die ungebrochen positiv konnotierte charity als eine weibliche Tugend stark macht, eine Tugend, die – so ließe sich daraus schließen – in Form gesellschaftlicher Anerkennung den wohltätigen Damen oder »Charity Ladies« ebenso zugutekommt wie ihre »guten Werke« den Armen. Der Verweis auf das fürsorgliche, heute würden wir sagen: das soziale Vo n d e r Got t e sl i e be z u r B rü de rl i c h ke i t | 153
Engagement der Königin und ihre Rolle als leuchtendes Vorbild für die Damen der »Society« verweist auf eine von der bürgerlichen Gesellschaft übernommene und bis heute vor allem in den Vereinigten Staaten stark ausgeprägte Form der charity: die philanthropy als öffentlich inszenierte Wohltätigkeit der Reichen, Schönen und Superreichen, die angeben, einen Teil ihres Vermögens in Form von Spenden »für einen guten Zweck« der Gesellschaft zurückgeben zu wollen.24 Die von Chambers herausgestellte charity des weiblichen (Hoch-)Adels findet sich im Bild der Frau wieder, das sich im Laufe des 18. Jahrhunderts in Kunst, Literatur und Philosophie herauskristallisiert und die »naturgegebene« Verknüpfung von Weiblichkeit und (mütterlicher) Fürsorglichkeit zu einem essentiellen Attribut der ehrbaren bürgerlichen Frau stilisiert. Im »Zedler« hingegen spielt die angeblich typisch weibliche Wohltätigkeit (noch) keine Rolle; er verweist allgemein auf vorbildlich wirkende Nächstenliebe und rückt zur Anschauung zwei »typisch« männliche Figuren in den Vordergrund, deren »Beruf« es sei, Nächstenliebe zu lehren (der Prediger) oder sich fürsorglich um die Erziehung der Kinder zu kümmern (der Lehrer). Im Artikel »Charité« der Encyclopédie (Bd. 3, 1753) werden Chambers’ Ausführungen zu den charity-Aktivitäten der englischen Damen übernommen und dem Hauptteil des Artikels »Charité«, der von Diderot verfasst wurde, mit dem korrektem Verweis auf die Quelle beigefügt.25 Im Wörterbuch der Académie française und in den französischen Enzyklopädien aus der ersten Jahrhunderthälfte erscheint charité nur als christliche Kardinaltugend, die darin bestehe, Gott zu lieben, indem man seinen Nächsten liebe und dies tätig zum Ausdruck bringe. Die Tugend der charité lasse sich durch »gute Gaben« in Form von »aumônes« (»Almosen«, die der Kirche gespendet werden) am besten verwirklichen; an zweiter Stelle auch durch das Erteilen »guter Ratschläge«; schließlich durch Unterstützung des akut Not leidenden Nächsten. Kurz: Charité wird in den französischen Wörterbüchern übereinstimmend als »amour de Dieu et du prochain par rapport à Dieu« bestimmt. Der Gottesbezug bleibt zentral, auf die Almosen wird großes Gewicht gelegt. Für die 1788, am Vorabend der Französischen Revolution erschienene Encyclopédie méthodique oder Encyclopédie Panckoucke (Abteilung »Theologie«, 3 Bde.) verfasste der Abbé Nicolas Bergier, ein renommierter, publikationsfreudiger, streitbarer Jesuit und Gegenspieler Voltaires, einen umfangreichen Artikel zum Begriff »charité«.26 Er schlägt dabei (im Vergleich zu den Enzyklopädie-Artikeln aus der ersten Jahrhunderthälfte) einen ganz neuen Ton an: Charité wird auch von ihm als christliche Kardinaltugend bestimmt, aber so entschieden, als gebe es nur diese eine und als habe er den Artikel »Vertu« in Voltaires Dictionnaire philosophique studiert. Bergier erweitert das semantische Feld des Begriffs in zwei Richtungen: Charité bedeute über die Nächstenliebe als Gottesliebe hinaus Wohltätigkeit als solche, die jetzt offenbar keiner theologischen Begründung mehr bedarf: 154 | Brunhild e We hinge r
Sie sei »une vertu purement humaine« („eine rein menschliche Tugend«), die Anerkennung verdiene. Gleich im ersten Satz des Artikels erscheint eines der Modewörter der Aufklärung: l’humanité – die Menschlichkeit als wichtigster semantischer Aspekt der charité, die nicht nur im Christentum, sondern in allen großen Religionen gepredigt werde. An zweiter Stelle beleuchtet der Abbé die christliche Tugend des Almosenspendens als traditionellen Beweis der christlichen Nächstenliebe. Die universelle, allgemeinmenschliche Dimension der charité wird aber durch den Hinweis relativiert, dass es die christliche Religion sei, der die Vielzahl der karitativen Einrichtungen zu verdanken sei, sogar die Verurteilung der Sklaverei. Die zivilisatorische Wirkung der christlichen Nächstenliebe wird in einem kulturgeschichtlichen Exkurs illustriert. Dem religiösen Gebot der Nächstenliebe verdankten wir, so der Abbé, »die Milderung der Sitten« und den erfolgreichen Kampf gegen den »kriegerischer Furor«, der die Menschen jahrhundertelang ins Unglück gestürzt habe. Auch sei es der zivilisatorisch wirksamen christlichen Nächstenliebe zu verdanken, dass sich die Völker dem Königtum unterwarfen, das für Frieden und Ordnung sorge und dessen Fundament seinerseits in der christlichen Staatsreligion gründe. Man sieht, wie weit der Abbé das semantische Feld des Begriffs erweitert, um letztlich die theologische Begründung der Nächstenliebe zu bekräftigen, die seit der Mitte des Jahrhunderts von den zunehmend radikaler argumentierenden antiklerikalen Aufklärern vehement in Frage gestellt wurde. Sogar für die Erklärung des Ursprungs des französischen Königtums, eines der heftig diskutierten politischen Themen der zweiten Jahrhunderthälfte, liefert die christliche Nächstenliebe Argumente. In der zivilisationsgeschichtlichen Perspektive Nicolas Bergiers wird charité zu einem zentralen Baustein für seine Konzeption des zivilisatorischen Fortschritts, der ohne christliche Religion nicht denkbar sei.
Charité i m Ze ic he n de r Lumières Der Theologe Bergier entpuppt sich in seinem »Charité«-Artikel als aufmerksamer Leser der Encyclopédie. Diderots Argumente sind ihm geläufig. Das ist nicht verwunderlich, denn die Encyclopédie méthodique war ursprünglich als aktualisierte Neuauflage der großen Encyclopédie und als Konkurrenzunternehmen geplant, blieb aber ein Torso, obwohl zwischen 1782 und 1832 insgesamt 210 Bände erschienen. Bergier, der für die 3 Bände zur Theologie verantwortlich zeichnet, unternimmt in seinem Artikel zur charité eine »Réfutation de nos Philosophes incrédules« (»eine Widerlegung unserer ungläubigen Philosophen«). Argument für Argument versucht er, die zentralen Kritikpunkte in Diderots Artikel als unzureichend zu widerlegen, und zwar von einem Standpunkt aus, der von der Argumentationsform her den Aufklärern in nichts nachsteht. Bergier macht sich Vo n d e r Got t e sl i e be z u r B rü de rl i c h ke i t | 155
Diderots Rhetorik geschickt zu eigen, ganz zu schweigen von der Gelehrsamkeit, die seinen Artikel kennzeichnet. Er übernimmt Diderots Vorwurf, beim Almosenwesen handle es sich um nichts anderes als um »käufliche Liebe« („amour mercenaire«). Diderots Argumentation wird aufgegriffen, gedreht und gewendet, bis zum Schluss gerettet erscheint, was im Encyclopédie-Artikel zur charité argumentativ zertrümmert wird, nämlich das theologische Argument, erst die Gottesliebe verleihe der irdischen Nächstenliebe ihre wahre Bedeutung. Der Theologe Bergier insistiert auf der wertenden Unterscheidung zwischen christlicher Nächstenliebe mit ihrer Wirkkraft sowohl auf Erden als auch hinsichtlich des Jenseits und der Nächstenliebe als Manifestation rein diesseitiger Humanität, wie sie von den Aufklärungsphilosophen gedeutet wird. Für den Abbé ist es kaum verwerflich, wenn die Menschen wohltätig sind oder auch nur vorgeben, es zu sein. Wohltätigkeit, Für-Sorge, Vor-Sorge seien stets nützlich. Nicolas Bergier, der eine hohe Stellung am Versailler Hof innehatte und unter anderem Beichtvater des Bruders von Ludwig XVI. war, zählt die karitativen Einrichtungen der katholischen Kirche lobend auf, ebenso die noble Geste der französischen Königin Marie-Antoinette, die wöchentlich Spitäler, Armen- oder Waisenhäuser besuchte, die von gläubigen Ordensschwestern geführt wurden. Die 1788 keineswegs überraschende Kritik an der aufdringlich zur Schau gestellten Wohltätigkeit in Form des demonstrativen Almosenwesens wird bestätigt: Es sei völlig übertrieben, denjenigen, die aufgrund ihrer Arbeitsunwilligkeit und Faulheit arm seien, aus Eitelkeit und Selbstsucht Almosen zu geben oder die Bettler zu beglücken, indem man sie an seine üppige Tafel lade. So ermuntere man nur die Faulenzer, weiterhin zu schmarotzen, statt sich Mühe zu geben und für den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. Auch die Aufklärer verstärkten ihre Kritik am »Schmarotzer« mit dem Ziel, dessen angebliche Wohltäter zu dekuvrieren und ihre als Nächstenliebe bemäntelte Aufrechterhaltung der Abhängigkeit der Armen von ihren selbstgefälligen Wohltätern als Strukturmerkmal der rechtlichen Ungleichheit und sozialen Ungerechtigkeit des »Ancien Régime« zu geißeln.27 Aus der Perspektive des Abbés aber bleibt ein unabgegoltener Rest: Trotz aller gesellschaftlichen Nützlichkeit der »charité purement humaine« fehle dieser, so merkt er an, der Aspekt der »seelischen Vor-Sorge« hinsichtlich des Lebens nach dem Tod. Damit wird einer der Dreh- und Angelpunkte des unwiederbringlich zerstörten Verhältnisses von Aufklärungsphilosophie und Theologie deutlich. Es bleibt das zentrale Anliegen des bis zu einem gewissen Punkt durchaus mit der Aufklärung vertrauten Geistlichen Bergier, die aufklärerische Kritik am Jenseitsglauben – das heißt die Kritik an der theologisch einzig legitimen Motivation für die charité – zu widerlegen und die christliche Bedeutung der Nächstenliebe hinüberzuretten in die neue Zeit, die sich 1788, als sein Artikel erschien, bereits ankündigte.
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D i e Nä c h s te nl ie be – e ine nat ürl ic he Gabe des Menschen? Dass Diderot den Encyclopédie-Artikel »Charité« selbst verfasste, ist bemerkenswert. Der 3. Band, in dem der Artikel erschien, entstand in der ersten, euphorischen Arbeitsphase des Autorenkollektivs. Die Enzyklopädisten waren sich damals noch einig, die Bereitschaft der Prominentesten unter ihnen – neben Diderot und d’Alembert waren dies vor allem Voltaire, Montesquieu, Rousseau, Condorcet, Holbach –, sich mit Beiträgen zu zentralen Begriffen zu beteiligen, war noch ungebrochen. Der vielbeschäftigte Chef griff selbst zur Feder, um den Artikel »Charité« zu verfassen, und zerpflückte mit subtiler Ironie den Anspruch der Theologie, die Deutung der Nächstenliebe zu monopolisieren und alle Formen der tätigen charité, die ohne Gottesbezug, dafür aus Gründen der Humanität geübt wird, auszugrenzen, ihr die Wertschätzung zu verweigern und sie letztlich zu verachten. Diderot spart nicht an Zuspitzung und antiklerikaler Polemik: Es geht ihm dabei um den Begriff der »Liebe«, ausgehend von der Trias »amour de soi«, »amour du prochain«, »amour de Dieu« – Eigenliebe, Nächstenliebe, Gottesliebe. Diese Konzeption, die in der alles transzendierenden Gottesliebe gipfele, sei eine Wahnvorstellung oder ein Vorurteil, das es aufzuklären gelte. Der Mensch, unvollkommen und sterblich, könne Gott in seiner unendlichen Vollkommenheit niemals lieben, höchstens anbeten oder bewundern. Die primäre menschliche Form der Liebe sei die »Eigenliebe« bzw. die »Selbstliebe«, die im Kontext der positiven Anthropologie der Lumières nicht länger als negativ konnotierter Egoismus, sondern als eine positiv verstandene Selbst-Liebe oder Selbst-Sorge vorausgesetzt wird. Diderot gibt eingangs auf nahezu sophistische Weise den Theologenstreit um den Gegensatz von »amour pur« und »amour mercenaire« (reine vs. käufliche Liebe) wieder und schließt: »Es ist ganz und gar natürlich, dass wir versuchen, glücklich zu werden« – hier, auf Erden. Es handele sich dabei um eine Wahrheit, die von allen verstanden werde, die am dauerhaftesten und am besten beleuchtet (»éclairée«), also aufgeklärt sei. »Glück« – so laute übereinstimmend der »Schrei der Menschheit« und das entspreche ganz der Natur. Die (Nächsten-)Liebe sei »purement humaine« (»rein menschlich«, wie es der Abbé Bergier 1788 wörtlich wiederholt); sie leiste ihren Beitrag zum irdischen Glück. Fragen wir unser eigenes Herz, ruft Diderot seinen Lesern zu, hören wir auf unsere inneren Empfindungen, beobachten wir die menschliche Psyche, erforschen wir unsere Erfahrungen in der sozialen Wirklichkeit – und wir werden erkennen, ganz unabhängig von der Vielfalt, den Unterschieden oder der Verschrobenheit menschlicher Glücksvorstellungen, dass es ein gemeinsames, wenn auch vielgestaltiges Ziel gibt: »le bonheur«. Damit lenkt Diderot die Aufmerksamkeit auf eine der meistdiskutierten Fragen des 18. Jahrhunderts: das Glück. Vom »amour de soi« zum »amour du prochain«, Vo n d e r Got t e sl i e be z u r B rü de rl i c h ke i t | 157
die jeweils ihren Teil zum menschlichen Glück beitrügen, sei es nur ein Schritt – wie uns die Erfahrung lehre: vom Ich zum Du –, ein natürlicher Impuls. Denn der Mensch sei von Natur aus ein soziales Wesen – eine Grundüberzeugung der Enzyklopädisten. Das eigene Glück sei ohne das Glück des Nächsten nicht denkbar. Das zeige sich schon in der Familie: Das Glück der Eltern werde erst möglich, wenn es den Kindern gutgehe. Die große Frage, die Diderot stellt, ohne sie eindeutig zu beantworten, lautet: Gibt es die »natürliche Güte«? Ist der Mensch von Natur aus gut (fürsorglich gegenüber seinem Nächsten)? Oder ist er von Geburt aus ein unbeschriebenes Blatt und wird durch Erziehung, gute Vorbilder und Geselligkeit zu einem vervollkommnungs- und gesellschaftsfähigen Wesen? Dass die Erziehung im Denken Diderots und seiner Mitstreiter eine herausragende Rolle spielt, zeigt sich unter anderem darin, dass der ausführliche Encyclopédie-Artikel »Éducation« (Bd. 5, 1751), den der renommierte Philosoph und (Früh-) Aufklärer Du Marsais verfasste, die individuelle und die gesellschaftliche Wirkung der Erziehung beleuchtet und betont, dass Kinder dank einer aufgeklärten Erziehung lernen, für sich selbst und für die Gesellschaft zu sorgen: Sie werden zu gebildeten Persönlichkeiten und zu »citoyens« erzogen, damit sie ihre naturgegebenen Talente entfalten können. Die Kinder lernen fürsorgliches Handeln, weil sie dadurch gesellschaftliche Anerkennung erfahren, die ihnen wiederum zum Vorteil gereicht. Erziehung und Erfahrung vermittelten ichbezogene Für-Sorglichkeit und gesellschaftlich wirksame Nächstenliebe oder, wie es bei den Freimaurern heißt: die fraternité, die dank der brüderlichen Wohltätigkeit zur »Quelle des wahren Glücks« werde.28 Diderots Argumentation läuft darauf hinaus, das klerikale Monopol der Anerkennung der einzig wahren Motivation der charité zu brechen und zu begründen, warum wohltätiges Handeln, das nicht religiös motiviert ist, die gesellschaftliche Wertschätzung verdient. Auch Ungläubige empfinden Mitgefühl oder »Vaterlandsliebe«, merkt Diderot an; sie sorgen sich um ihren Nächsten oder setzen sich für das Wohlergehen ihres Vaterlandes ein – ohne dass die Religionszugehörigkeit ausschlaggebend wäre. Für Diderot gibt es keinen Zweifel mehr: Nächstenliebe, charité oder caritas, stellt er in einen laizistischen Kontext und beantwortet damit eine Frage, die bereits im Rahmen des Kampfes gegen das Vorurteil von den Frühaufklärern diskutiert wurde: Sind Atheisten zur Nächstenliebe fähig? Pierre Bayle vertrat Ende des 17. Jahrhunderts die These, es gebe auf Erden Menschen, die ohne Religion und friedlich in Gesellschaft lebten; die von Bayle angesprochenen Völker hätten ihre eigene Moral, sorgten füreinander, seien wohltätig. Das heißt: Auch Ungläubige können gute Menschen sein. Gegen das Vorurteil, Ungläubige seien moralisch verwerfliche Menschen, forderte der Frühaufklärer die Trennung von Moral und Religion. Ein »Paradox«, merkt dazu Montesquieu (der 1730, während seiner Englandreise, in eine Londoner Freimaurerloge aufgenommen wurde) im Esprit des lois an: »Bayle will angeblich bewiesen haben, man sei besser 158 | Brunhild e We hinge r
Atheist als Götzenanbeter. Mit anderen Worten heißt das: es ist nicht so gefährlich, überhaupt keine Religion zu haben als eine schlechte.«29 Voltaire knüpfte daran an und polemisierte gegen religiösen Fanatismus und Vorurteile (ebenfalls im Rekurs auf Pierre Bayle). Im Philosophischen Wörterbuch (1767) führt er einmal mehr aus, dass nicht die Atheisten (darunter Philosophen, die noch auf dem Irrweg seien), sondern die (religiösen) Fanatiker die Gesellschaft zerstörten.30 Der Kampf gegen Vorurteil, Fanatismus und Intoleranz ging bei Voltaire und seinen Mitstreitern einher mit dem Einsatz für die Freiheit, insbesondere für die Meinungs- und Pressefreiheit. Freiheit (Liberté) und (Rechts-)Gleichheit (Égalité) gingen in die »Erklärung der Menschenrechte« ein und in die daraus folgende Gesetzgebung der Französischen Revolution. Anders verhielt es sich mit der dritten Devise: Fraternité als säkularisierte Nächstenliebe galt weiterhin als moralische Verpflichtung. Sie sollte ein hochgradig emotional besetzter Begriff mit utopischem Potential bleiben. Der universellen Brüderlichkeit hat Friedrich Schiller in seiner Ode »An die Freude« (1786), die er im Auftrag einer Freimaurerloge dichtete, euphorisch Ausdruck verliehen und dabei im Überschwang der Freude und brüderlichen Großherzigkeit – »Alle Menschen werden Brüder« – die Schwestern »vergessen« … Dank Beethoven bleibt der kosmopolitische Brüderlichkeitsgedanke des 18. Jahrhunderts in der Europahymne gegenwärtig.31
A n m e r kun g e n 1 H.-D. Kittsteiner, Das Komma von SANS, SOUCI. Ein Forschungsbericht mit Fußnoten, Heidelberg 2001. 2 Ebd., S. 59. 3 A. von Buttlar/M. Köhler, Tod, Glück und Ruhm in Sanssouci, Ostfildern 2012. 4 Ebd., S. 16–21. 5 Ebd., S. 43–53; Kittsteiner (o. Anm. 1), S. 12–14. 6 U. P. Jauch, »Annotationen zu den Asylanten, Querdenkern und Avantgardisten in der ›Tafelrunde‹. Die Gemeinschaft der Epikureer zu Sanssouci«, in: B. Sösemann/G. Vogt-Spira (Hgg.), Friedrich der Große in Europa. Geschichte einer wechselvollen Beziehung, Bd. 1, Stuttgart 2012, S. 68–111. 7 Buttlar/Köhler (o. Anm. 3), S. 42; P.-Y. Beaurepaire, »Freimaurer. Fürstliche Protektion, Hoflogen und hugenottische Netzwerke«, in: Sösemann/Vogt-Spira (Hgg.) (o. Anm. 6), Bd. 2, S. 97–111. 8 Ch. Porset, Voltaire Franc-Maçon, La Rochelle 1995. 9 R. Meyer-Kalkus, »›Mein Freund Lukrez‹. Friedrichs XVIII. Epistel an den Marschall von Keith: Über die leeren Schrecken des Todes und die Angst vor einem anderen Leben«, in: B. Wehinger/G. Lottes (Hgg.), Friedrich der Große als Leser, Berlin 2012, S. 121–142. Vo n d e r Got t e sl i e be z u r B rü de rl i c h ke i t | 159
10 »Venez à Sans-Souci!« heißt es in Friedrichs Versepistel, die er anlässlich der Einweihung von Sanssouci (1.5.1747) an den Marquis d’Argens adressierte und in der das Ideal einer philosophisch-geselligen Lebensweise ganz »ohne Sorgen« entworfen wird; vgl. G. Vogt-Spira, »Das antike Rom im geistigen Haushalt des Königs«, in: Sösemann/Vogt-Spira (Hgg.) (o. Anm. 6), Bd. 1, S. 128–144, hier S. 128–130. 11 H. Brunkhorst, Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft, Frankfurt a. M. 2001, S. 40–78. 12 M. Ozouf, »Fraternité«, in: F. Furet/M. Ozouf (Hgg.), Dictionnaire critique de la Révolution Française, Paris 1988, S. 731–740; W. Schieder, »Brüderlichkeit, Bruderschaft, Brüderschaft […]«, in: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 41992, S. 552–581, hier S. 563–564. 13 Beaurepaire (o. Anm. 7), S. 108f. 14 Digitale Ausgabe der Universitätsbibliothek Trier: http://www.kruenitz1.uni-trier.de/. 15 Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 1. Aufl. Leipzig 1774–1786, 5 Bde. 16 Art. »Sorge«, in: Digitale Ausgabe der Bayerischen Staatsbibliothek: http://www.zedler-lexicon.de/. 17 Hierzu M. Rassem, »Wohlfahrt, Wohltat, Wohltätigkeit, Caritas«, in: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 595–636 (zum 18. Jh.: S. 619–627). 18 Die Encyclopédie erschien von 1751 bis 1789 in 17 Foliobänden, 11 Bänden mit Kupferstichen, 5 Supplement- und 2 Registerbänden in Paris; Faksimileausgabe: Stuttgart 1966ff. 19 Goethe, Dichtung und Wahrheit, Dritter Teil, 11. Buch. 20 Voltaire, Dictionnaire philosophique, hrsg. von R. Naves/J. Benda, Paris 1987, S. X. 21 Ebd., Artikel »Vertu«, S. 413f. 22 Montesquieu, De l’esprit des lois (24. Buch, 1. Kap.: «Des religions en générales«), in: Œuvres complètes, Bd. 2, hrsg. von R. Caillois, Paris 1951 (Pléiade), S. 714f. Deutsche Ausgabe: Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Auswahl, Übers. u. Einl. von K. Weigand, Stuttgart 1994, S. 364f: »Die christliche Religion befiehlt dem Menschen die Nächstenliebe an, und so ist es zweifelsohne ihr Wille, daß jedes Volk die besten staatlichen und die besten bürgerlichen Gesetze habe, denn diese stellen – nächst ihr – das höchste Gut dar, das Menschen geben und erlangen können.« 23 E. Chambers, Cyclopaedia, digitalisierte Ausgabe des University of Wisconsin Digital Collections Center: http://digital.library.wise.edu/1711.dl/HistSciTech.Cyclopaedia01. 24 O. Zunz, Philanthropy in America. A History, Princeton 2012. 25 Diderot verfasste auch den Encyclopédie-Artikel »Femme« („Frau«) sowie einen Essay über die Frauen (1772), in dem er sein bürgerliches Frauenbild (das er bereits im Encyclopédie-Artikel skizziert hatte) bekräftigt: »Über die Frauen«, in: H. M. Enzensberger, Diderots Schatten. Unterhaltungen, Szenen, Essays, Frankfurt a. M. 1994, S. 271–288. 160 | Brunhild e We hinge r
26 Encyclopédie méthodique. Théologie, t. 1, par M. l’abbé Bergier, Paris 1788; digitale Edition der Bibliothèque nationale de France: http://cataloque.bnf.fr/ark:/12148/cb30088545. 27 In seinem Dialogroman Le neuveu de Rameau (entstanden 1761) entwirft Diderot eine Satire auf die so genannte Wohltätigkeit des Gastgebers, der sich einen zynischen »Schmarotzer« zur Beruhigung des Gewissens und zur Vertreibung der Langeweile hält. 28 »Franc-Maçonnerie«, in: Dictionnaire européen des Lumières, hrsg. von M. Delon, Paris 1997, S. 559–566, hier S. 563. 29 Montesquieu, De l’esprit des lois, 24. Buch, 2. Kap. »Paradoxe de Bayle« (o. Anm. 22); Übersetzung (o. Anm. 22), S. 365. 30 Voltaire, »Athée«, »Athéisme« [»Atheist«, »Atheismus«], in: Dictionnaire philosophique (o. Anm. 20), S. 36–44. 31 Ozouf (o. Anm. 12), S. 733; Schieder (o. Anm. 12), S. 564.
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Rudolf Schlögl
»SORGE« IM ZEITALTER DER AUFKLÄRUNG Von der Ordnung zum Arrangement der Selbststeuerung
Um in erster Annäherung zu erfassen, was sich mit dem Konzept der Sorge bezogen auf sich selbst und andere Menschen im 18. Jahrhundert verband, bietet sich ein Blick in Lexika an. In Johann Heinrich Zedlers 38. Band von 1743 findet sich ein entsprechendes Lemma, in dem zunächst einmal die Subjekte der Sorge und ihre Objekte definiert sind: Es sorgen die Eltern für ihre Kinder, die Obrigkeit für die Untertanen, der Prediger für die Gemeinde und jeder Christ dann selbst für seine Seeligkeit. Auch die Art der Sorge wird typologisch aufgegliedert: Erstens die von Gott mit jedem »Amte, Stand und Beruf« verbundenen Sorgen; zweitens diejenigen »unnötigen und fleischlichen« Sorgen, die sich aus dem Zweifel an der Gnade Gottes ergeben; drittens dann die »gemengte[n] und gemischte[n]« Sorgen, die sich einerseits aus dem Zweifel an der Gnade und dem Segen Gottes ergeben und in Ungeduld führen, »wenn es nicht recht«, wie der Mensch »dencket, von statten gehen will«. Statt diese gemischten wie die fleischlichen Sorgen im weiteren Verlauf des Artikels als unnütz und schädlich gänzlich zu verwerfen, fügt der Artikel hier noch einen weiteren Typus an: die »Sorge aus Klugheit und der Tugend«. Denn nicht alle auf die Zukunft bezogenen Sorgen sind »für übermäßig und unnutz zu achten, wenn man allezeit bedencket, was aus diesem oder jenem Unternehmen Gutes oder Böses erfolgen könne, und sich entsprechend achte«. Diese Ausgangsargumentation beschert dem Autor des Artikels zwei Probleme, denen er sich im Rest seiner Ausführungen widmet. Einmal fühlt er sich veranlasst, dem Missverständnis entgegenzutreten, die grundsätzliche Aufgehobenheit des Menschen in einer christlichen und durch das im Artikel fleißig zitierte Wort Gottes garantierten Welt- und Heilsordnung sei eine Aufforderung, dass er sich nicht um seine »Nahrung« zu kümmern habe: »Dass er seine Zeit mit Müßiggang zubrächte, das sey ferne!« ruft der Verfasser aus. Die Sorge für den ihm gegebenen Stand und Beruf ist dem Menschen Pflicht. »Denn der Mensch ist zum Arbeiten gemacht.« Zweitens ist aus Gnade und Vorsehung Gottes aber auch nicht zu folgern, dass der Mensch sich nicht um sein Heil zu kümmern habe. Das sei die erste Sorge des Menschen, nur an Gottes Gnade dürfe er nicht zweifeln und darüber in Sorge fallen. Der »zeitliche Aufenthalt« werde sich für denjenigen von selbst finden, der nach dem Reiche Gottes trachte. Immerhin aber nennt 162 | R ud olf S c hl ö gl
der letzte Satz als unhintergehbare Bedingung dafür, »dass der Mensch« seiner Berufs-Arbeit »fleißig abwarte[t]«.1 Ein Konzept der Sorge setzt, das kann man dem Text entnehmen, offenbar eine bestimmte Welt- und Sozialordnung voraus, die darüber hinaus Einfluss auf die sich damit verbindenden Konzepte vom Menschen als eines handlungsfähigen Individuums nehmen. Im vorliegenden Fall stehen die Subjekte der Sorge vom Vater über Pfarrer und Obrigkeit bis hin zu dem die Menschen mit seiner Vorsehung lenkenden und umsorgenden Gott zu den Objekten der Sorge in einer Herrschaftsbeziehung, die sich im Modus des Sorgens zu vormundschaftlicher oder patriarchalischer Fürsorge verwandelt. Gleichzeitig stehen die »Sorgefähigen«, die der Artikel anführt, untereinander offenbar in einer hierarchischen Ordnung. In eine solche christlich und heilsgeschichtlich geordnete Welt ist der Christ gestellt. Er ist als Einzelner nicht aufgerufen, sie zu verbessern, sondern allenfalls die stets drohende Korruption dieser Ordnung, die durch Nachlässigkeit gegenüber den Amtspflichten und durch Sünde droht, soweit es ihm möglich ist, zu verhindern. Er hat in Klugheit die Folge seiner Handlungen zu bedenken, also Risikobegrenzung zu betreiben. Die Abwehr von Gefahren, soweit sie mit den Zufälligkeiten der Vorsehung verbunden sind, ist ihm hingegen nicht möglich. Hier ist er auf das Vertrauen auf die Weisheit und Güte Gottes verwiesen. Diese Vorsehung verbindet Gegenwart und Zukunft in der ewigen Unbewegtheit Gottes, so dass der Mensch auch scheitern muss, die Folgen von Ereignissen richtig einzuschätzen. Der Artikel Zedlers verweist an dieser Stelle auf die Ausführungen im Artikel »Esther«, in dem man ein Beispiel finde, wie Gott aus kleinen Ereignissen Großes mache und diese also dem Kalkül des Menschen entziehe.2 Auf sich selbst beziehe sich schließlich das sorgende Subjekt disziplinierend und vermeidend. Der Christ meide die Sünde und mache sich für die Ordnung durch Tugend »geschickt«. Ich werde im Nachfolgenden zeigen, dass sich dieses Konzept der Sorge um eine geordnete, hierarchisch gegliederte Welt im 18. Jahrhundert als sehr zählebig erwies, dass aber an vielen und schließlich entscheidenden Stellen Transformationen zu beobachten sind, die endlich dazu führen, dass sich das Konzept der Sorge bezogen auf Individuum und Gesellschaft bis zum Ende des 18. Jahrhundert grundsätzlich gewandelt hatte. Dieser Wandel war kein bloßer Effekt des Diskurses, sondern wurde vorangetrieben durch den Umstand, dass das alte Modell an einer zunehmend komplexen und funktional differenzierten gesellschaftlichen Wirklichkeit immer offenkundiger scheiterte. Ich werde in drei Schritten vorgehen. Zunächst gehe ich (kurz) auf das Konzept der Vollkommenheit ein, dann beschäftige ich mich mit der Sorge des Menschen um sich selbst und schließlich mit der Sorge um die Gesellschaft und ihrer Ordnung.
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1. Vo ll kom m e nhe it Es ist an dieser Stelle nicht die umfassende Geschichte des Konzepts von Vollkommenheit darzustellen. Wichtig in unserem Zusammenhang sind die im 18. Jahrhundert zu beobachtenden epistemischen Verschiebungen, weil sie auf die Umstellungen in den Vorstellungen von Sorge um Individuum und Gesellschaft vorausweisen. Die mittelalterliche Idee der Perfektibilität verband eine Welt im status corruptionis mit dem transzendenten ens perfectum. Damit war Vollkommenheit zwar teleologisiert, aber das Ziel blieb, weil transzendent, allenfalls für die dem Menschen eingeschaffene, aber im Sündenfall verdorbene Vernunft zu erahnen, nicht aber wirklich zu greifen. Renaissanceautoren wie Pico oder auch Erasmus verlagerten den Akzent, indem sie den Menschen als Schöpfer seiner selbst entwarfen, brachen aber diese Grundkonstellation nicht auf.3 Sie ist auch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch zu greifen. In seiner in vielen Auflagen immer wieder gedruckten Schrift über die Bestimmung des Menschen von 1748 entwarf der protestantische Theologe Johann Joachim Spalding ein sinnenfrohes, aber vernunftgesteuertes Individuum, das zur Reflexion fähig ist und deswegen erkennt, dass seine Seele in ein Gleichgewicht komme, wenn sie sich in die göttliche Ordnung füge. Der Mensch soll den Leib erhalten, die höheren und edleren Triebe der Seele befördern, sich als gesellschaftstauglich erweisen, indem er sich anderen Menschen zuwende und insgesamt die Regeln des Rechts und der Ordnung anerkenne. Hierdurch komme die Seele in eine »Heiterkeit und Ruhe«, die von äußeren Widerwärtigkeiten nicht mehr angefochten werden könne, weil sie die Natur als ein Ganzes voller Ordnung erkenne. Immerhin hatte offenbar die Neue Wissenschaft seit dem 17. Jahrhundert die Natur als einen Bereich der Vollkommenheit ins Bewusstsein gehoben, vor der das Unglück und die Katastrophen der menschlichen Welt allerdings umso kräftiger leuchteten und die Seele in ihrer Ruhe störten. Sie war nur wiederzugewinnen, wenn die Ewigkeit in das Diesseits hineingerechnet wurde.4 Vollkommenheit war hier immer noch als gegebener und absoluter Zustand gedacht, der in sozialen Zusammenhängen nicht erreichbar war und dem sich die Seele nur annähern konnte, indem sie sich in diese Ordnung fügte und damit Ruhe gewann. Christian Wolff hatte das in vergleichbarer Weise gedacht.5 Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts finden sich dann insbesondere in literarischen Texten zunehmend andere Sichten auf Vollkommenheit. Das Glück des Menschen liegt demnach nicht mehr im Erreichen des Zustandes, sondern im Streben danach, so dass die Erfüllung des Wunsches gleichzeitig seine Vernichtung und damit die des Glückes wird. Erwerb vergnügt mehr als Besitz, verkündet die Popularphilosophie, und Lessing definiert auch den christlichen Glauben als eine fortwährende Bewegung, weil Gott uns nicht die Wahrheit, sondern das Streben 164 | R ud olf S c hl ö gl
danach eingepflanzt habe. Die im Sündenfall begründete Defizienz der Welt ist jetzt nicht mehr Ursache für die Unruhe der Seele, sie wird im Streben, sie zu bessern, zur Voraussetzung dafür, den Einklang mit sich selbst zu finden.6 Diese »Ästhetik des Aufschubs«, die das Glück der Gegenwart aus einer künftig zu erreichenden Ordnung zieht und nicht mehr aus einem Sich-Fügen in einen gegebenen Zustand, war ein erster wichtiger Schritt zur zeitlichen Dynamisierung des Konzepts von Vollkommenheit. Ein zweites Element wurde in den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts durch die Zivilisationsgeschichte hinzugefügt. Seit Voltaire schrieb man die Geschichte der Menschheit als eine der fortschreitenden Verbesserungen der menschlichen Sitten und Gebräuche durch eine laufende Akkumulation von Fertigkeiten und Wissensbeständen. Damit konnte die Vorstellung, die Evolution des Sozialen vollziehe sich als immerwährender Kampf gegen Entropie und das Böse, nach und nach abgelöst werden durch die Vorstellung eines auf Wachstum programmierten Prozesses, der durch die Tätigkeit der aufgeklärten philosophes zusätzlich reflexiv wurde. Man beobachtete nicht nur die Akkumulation von Wissensbeständen, sondern reflektierte die institutionelle Bedingungen ihrer Hervorbringung und Ansammlung sowie auch die Rolle, die die Aufklärer selbst dabei spielten. Ein solcher auf sich selbst gerichteter Wachstumsprozess sprengte, wie Condorcet anschaulich machte, zwangsläufig alle Teleologie.7 Er hatte kein immanentes Ziel mehr, ließ sich auch nicht mehr aus sich selbst heraus zum Stillstand bringen, sondern nur noch von außen stören. Aus statischer Vollkommenheit war unendliche Perfektibilität geworden, nicht allein, indem sie dynamisiert und prozessualisiert wurde, sondern weil man sie als reflexiven Vorgang dachte.
2. In di v i du e n: Von de r Se l bst re gie rung z ur U n e n dl ic hke it de r B e dürfnisse Das Konzept des Individuums war zu Beginn des 18. Jahrhunderts und noch lange in dessen Verlauf bestimmt durch die Vorstellung von der societas civilis als einem Ordnungszusammenhang, für den der Mensch erst hergerichtet werden müsse. Nicht nur, dass er in sie durch einen Unterwerfungsvertrag eintrat, der ihm alle seine natürlichen Rechte nahm, so dass ihm seine Freiheiten dann von einer Obrigkeit als standesbezogene Privilegien portionsweise und streng limitiert wieder zugeteilt werden mussten.8 Der durch die Gewaltdrohung des autokratischen Leviathans ermöglichte und aufrechterhaltene Ordnungszusammenhang der societas civilis setzte Individuen voraus, die sich selbst zähmten, die bewusst an ihrer Gesellschaftstauglichkeit arbeiteten, sich zu einem anderen Menschen zugewandten » S o rge « i m Ze i t alt e r de r Au f k l äru n g | 165
und zuwendungsfähigen Menschen machten, wie Spalding das formuliert hatte, und ihre natürlichen Bedürfnisse einer strengen Kontrolle durch die Vernunft unterwarfen, damit sie einen Beitrag zum gemeinen Besten leisten konnten, das als Chiffre für die Ordnung und Gliederung des societas cicilis den unhintergehbaren Normhorizont markierte. Dass Hobbes diese natürlichen Bedürfnisse des Menschen für grenzenlos erklärt hatte, machte die an dieser Stelle notwendige Anstrengungen nur noch dringlicher und umfassender. In seinen Vernünftigen Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen, die Christian Wolff 1736 in den Druck gab, ist ein solches Szenario paradigmatisch entworfen. Vernunft und Tugend machen den Menschen gesellschaftsfähig, hieß es dort, und deswegen entwarf Wolff dann auch ein Erziehungsprogramm für den Familienvorstand, das durch gute Beispiele, Belehrungen, inszenierte Erfahrungsräume, aber auch Strafen aus Kindern Menschen machte, die zur »Selbstregierung«, wie es hieß, fähig sein sollten.9 Alle drei Aspekte – (1.) die Erziehung eines sensualistisch gedachten zu einem aus vernünftiger Einsicht und durch die in der Seele eingeschriebenen pädagogisch veranlassten Erfahrungen auch habituell tugendhaften Menschen, der dann (2.), mit der Fähigkeit zur Selbstregierung ausgestattet, nicht nur weiterhin an seiner Tugendhaftigkeit arbeitete, sondern sich (3.) aktiv an der Ausgestaltung der gesellschaftlichen Ordnung beteiligte, wurden seit den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in einer wachsenden Vielzahl von Institutionen und Medien betrieben. Ich nenne nur die Societäten und die Freimaurerei, in denen diese Programme der Tugendverbesserung und Selbstregierung inszeniert und von den gesellschaftlichen Eliten mit wachsender Begeisterung praktiziert wurden. In Frankreich standen dafür ebenfalls die Freimaurerei und die erziehende Geselligkeit der Akademien; in England die Clubs und wiederum die Freimaurerei.10 Das diskursive Material für diese lieferten die moralischen Wochenschriften, die nach dem Vorbild des Londoner Spectator von 1711 in Deutschland wie in Frankreich geschrieben, gekauft und gelesen wurden.11 Die räsonierende und praktische Mitwirkung an der Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse hatte sich die Freimaurerei ebenfalls auf ihre Fahnen geschrieben, wie es in Frankreich Aufgabe der Akademien war und in Deutschland den meist auf obrigkeitliche Initiative hin gegründeten Patriotischen Gesellschaften als Ziel vorgegeben wurde. Diese erziehende Formung des zur vernünftigen Selbstregierung fähigen Menschen wurde vorerst noch als Familienangelegenheit gedacht. Das war Folge der institutionellen Schwäche des primären Schulwesens in den europäischen Gesellschaften der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und führte dazu, dass sich eine programmatisch ausformulierte Pädagogik als eine Wissenschaft von der Erziehung erst seit Ende der 1740er Jahre greifen lässt. In Deutschland entstand sie unter dem Begriff der Philanthropie. 1758 schrieb Johann Bernhard Basedow seine Prakti166 | R ud olf S c hl ö gl
sche Philosophie für alle Stände, in der er darlegte, wie Lehrer bei ihren Schülern die üblen Gewohnheiten, die zu Missbräuchen führten, tilgen und dafür die guten einpflanzen sollten, damit den Heranwachsenden, wie man mit Bezug auf Lockes Erziehungsschrift von 1693 formulierte, die Tugend »angenehm« werde.12 Friedrich Eberhard von Rochow ging seit 1775 daran, sein Rittergut zu einem großen patriotischen und philanthropischen Reformprojekt auszugestalten. Er verteilte Brachland an Soldatenwitwen, baute eine Schule für die Kinder seiner Bauern, in der nach basedowschen Grundsätzen unterrichtet wurde und stiftete schließlich auch eine Witwen- und Armenkasse.13 In welchem Ausmaß dieses philanthropische Erziehungsprogramm zur Selbstregierung ein Stützpfeiler dessen war, was Foucault »Disziplin« genannt hat, wird deutlich, wenn man den Artikel »Éducation« zur Hand nimmt, der 1755 im 5. Band der Encyclopédie veröffentlicht wurde. Der Autor widmet sich zuerst den Prinzipien und Inhalten, nach denen die Erziehung des Körpers und des Geistes zu gestalten wären, um seine Einsichten dann in einem Beispiel zusammenzuführen. In den Militärschulen des Königreiches würden die jungen Männer zu starken Charakteren geformt, die gegen die Verführungen der Gesellschaft dauerhaft gewappnet seien, und es wird ihnen überdies eine unerschütterliche Liebe und Dankbarkeit gegen alle diejenigen Autoritäten und Instanzen – vom König angefangen bis hinunter zu den örtlichen Repräsentanten des Staates und den Eltern – eingepflanzt, die ihnen den Besuch dieser Schule ermöglicht hätten. Im Sinne Rousseaus korrumpierte hier nicht mehr der Sündenfall das Individuum, sondern die Gesellschaft verdarb es mit ihrer Zivilisation. Unter den dagegen schützenden Erziehungsmethoden wurden eine wissenschaftlich fundierte Unterweisung durch bestens in den einzelnen Fächern qualifiziertes Lehrpersonal, das gute Beispiel und eine fortdauernde Kontrolle hervorgehoben. Letztere sollte sicherstellen, dass niemand sich zu irgendeinem Zeitpunkt den an ihn gesetzten Anforderungen entziehen könne.14 Erziehung zur »Selbstbeherrschung« setzte lückenlose Überwachung voraus. Die »Volksaufklärung« der aufgeklärten Eliten und auch die Vielzahl der patriotischen Vorschläge und Initiativen, die man seit der Mitte des 18. Jahrhunderts registrieren kann, vermitteln den Eindruck, dieses sich selbst regierende Individuum, das unablässig an der Verbesserung der Verhältnisse mitarbeitete, sei Teil eines gigantischen Reformprojekts, mit dem die Aufklärung die Gesellschaften des 18. Jahrhunderts in Bewegung setzte. Dennoch machen die Genese und vor allem die tiefe disziplinäre Imprägnierung dieses Programms doch sehr deutlich, dass es offenkundig mindestens bis in die 1790er Jahre darum ging, in der in eine starke und im Grunde nicht mehr beherrschbare Bewegung geratenen Gesellschaft die gewohnte und durch ein christliches wie auch vernünftiges Naturrecht legitimierte Ordnung weiterhin aufrechtzuerhalten. Wenn die Erziehung in ihrer ersten Aufgabe versage, Ehrfurcht vor den Obrigkeiten einzupflanzen sowie das Bemühen, » S o rge « i m Ze i t alt e r de r Au f k l äru n g | 167
zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse beizutragen, sei die Störung der Harmonie, der Ruhe und der »guten Ordnung« gewiss, stand in den ersten Absätzen des zitierten Artikels in der Encyclopédie zu lesen. Dies führe schließlich, wie man aus der Geschichte wisse, zwangsläufig zu Revolution und Umwälzung. Dieser Zusammenhang wie auch die schließlich immer deutlicher zutage tretende Vergeblichkeit des Versuchs, diese Ordnung zu retten, wird auch noch an einer anderen Stelle greifbar. Als 1779 in Halle die erste Professur für Pädagogik eingerichtet werden sollte, wehrte sich die gesamte theologische Fakultät unter Führung Johann Salomo Semlers so erfolgreich gegen den neuen Kollegen Ernst Christian Trapp, dass dieser schnell wieder das Weite suchte.15 Dahinter standen nicht nur persönliche Animositäten, sondern es ging um einen grundsätzlichen Konflikt, der das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen im Gesamten betraf. Die neue Pädagogik, wie Trapp sie vertrat, setzte darauf, die Menschen zum Nachdenken zu befähigen, weil der Dumme, wie Rochow schrieb, »weder vor noch nach« denke, sich daher auch nicht zu helfen wisse und »eben darum Opfer der Ereignisse« werde. Deswegen müsse es Ziel sein, den »verderblichen Fatalismus« des Volkes durch Volksaufklärung und Schulbildung zu vertreiben. Zwar hatten die Theologen stets betont, dass ihr Beharren auf einer alle Geschicke lenkenden Vorsehung und auf der jenseitigen Rettung allein aus der im Wort verbürgten Gnade und Heilstat Christi weder als Aufforderung zur weltlichen Untätigkeit noch als eine Lehre von einem fatum mahumetanum, wie Leibniz das 1710 in seiner Theodizee bezeichnet hatte, zu verstehen sei. Aber man bestand weiterhin darauf, dass die Gesellschaftstauglichkeit des Menschen nur durch Furcht vor einem strafenden Jenseits gewährleistet werden könne. Diese deistische Hauptthese mussten die Theologen durch Pädagogik und eine wenn auch immer noch sehr lückenhaft institutionalisierte primäre Schulbildung in Frage gestellt sehen. Den zweiten Kern des Konfliktes legte Lessings Reaktion auf Basedows Schriften frei. Dessen Vorschlag, Jesus den Kindern in der Schule als frommen und ganz heiligen Mann vorzustellen, nicht mehr aber als Opferlamm, provozierte den wolfenbüttelschen Bibliothekar trotz seiner aufgeklärten Grundhaltung zu der Frage, wann denn die Kinder sonst mit den grundlegenden orthodoxen Wahrheiten der Religion vertraut gemacht werden sollten. Lessing sah die zentrale »Versicherung« des evangelischen Christenmenschen als Grundlage seiner Weltorientierung im Verschwinden begriffen, wenn man die Kinder bereits in der Schule zu »Socianern« mache.16 Das Jenseits wurde offenkundig in seiner Notwendigkeit und Funktionalität in zweierlei Hinsicht in Frage gestellt. Die Pädagogik (samt des philosophischen und popularphilosophischen Moraldiskurses, in den sie eingelagert war) setzte auf Tugendhaftigkeit aus Vernunfteinsicht sowie habituelle Prägung durch Erfahrung und Beispiele statt auf die drohenden Strafen im Jenseits. Kant sollte dem in seiner Metaphysik der Sitten dann die definitive Formulierung geben.17 Damit hatte Reli168 | R ud olf S c hl ö gl
gion einen starken Konkurrenten im Geschäft, den Menschen gesellschaftstauglich zu machen, bekommen. Der Verfall der Kirchenzucht im 18. Jahrhundert lässt die sozialen Veränderungen aufscheinen, mit denen diese neue Konfiguration verbunden war.18 Ein Blick in die katholische Welt zeigt, dass auch dort in den oberen Schichten die Dringlichkeit, für das jenseitige Heil zu sorgen, indem man die Ökonomie der in der Heilsanstalt zirkulierenden Gnadenmittel mit großzügigen Legaten bediente, seit den 1760er Jahren im unaufhaltsamen Schwinden begriffen war.19 Dieses insbesondere in den städtischen Mittel- und Oberschichten zu beobachtende nachlassende Interesse an der Fürsorge des Himmels und seiner Bewohner betraf nicht nur das Heil der Seele, sondern auch das Wohl auf dieser Welt, und es fällt nicht zufällig zusammen mit der Ausbreitung von Versicherungen. Wie sich hier die Perspektiven verschoben, zeigen die Versicherungen selbst. Überstellte man in der ersten Hälfte des Jahrhunderts in Witwen- und Waisenversicherungen die Zukunft von Frauen dem Versicherungsvertrag und der Vorsehung anheim, so trat seit 1770 der reine Versicherungsaspekt in den Vordergrund, was zudem mit einer durchgreifenden Mathematisierung der Risikokalkulation auf der Grundlage von bevölkerungsstatistischen Daten verbunden war. Auch die von Gott verhängte Todesstunde lag nicht länger außerhalb der von einer tierischen Menschennatur bestimmten Wahrscheinlichkeit.20 Das pädagogische Individuum fügte sich also nicht nur aus Vernunfteinsicht freiwillig in die Ordnung der Gesellschaft ein, es bedachte auch sein Tun und Handeln im Hinblick auf eine durch Risiken strukturierte Zukunft, ganz wie Rochow es formuliert hatte, um nicht mehr Opfer der Ereignisse zu werden. Indem das Individuum auf neue Weise für sich sorgte, wurde es auch ein anderes. Die Deisten von Warburten bis Leibniz hatten zwei Gegner: Pierre Bayle, der erklärt hatte, auch Atheisten könnten gute und damit soziable Menschen sein, und Bernard Mandeville, der eine funktionierende Sozialordnung auf der Basis von Eigennutz und Laster imaginiert hatte. Giambattista Vico schlug in die gleiche Kerbe, als er feststellte, das Christentum habe als zivilisierende Kraft in der Menschheitsgeschichte versagt, weil es darauf setze, dass der Geist die körperlichen Leidenschaften zähme, statt umgekehrt die körperlichen Leidenschaften zu nutzen, um den Geist in Bewegung zu setzen. Vico bestand, wie später die Pädagogik, auf einem sich sensualistisch in der Welt orientierenden und nach der Befriedigung seiner Bedürfnisse strebenden Menschen.21 Das wurde nach und nach Allgemeingut. Christian Wolff wies in seiner Gesellschaftslehre zwar noch die Vorstellung vom unbeschränkt selbstsüchtigen Menschen als möglicher Grundlage eines Konzepts sozialer Ordnung mit Nachdruck zurück, fühlte sich aber gleichzeitig zur Feststellung veranlasst, dass er ihr den Menschen »wie er ist« zugrunde legen wolle.22 Als Adam Smith 1759 seine Theory of Moral Sentiments veröffentlichte, die bis in die 1790er Jahre in weiteren fünf Auflagen ausgearbeitet und verbreitet wurde, legte er » S o rge « i m Ze i t alt e r de r Au f k l äru n g | 169
darin eine Theorie der Sozialintegration vor, die er ausdrücklich von einer systemischen Integration etwa durch wirtschaftliches Vertragshandeln abgrenzte, wie sie sich zwischen nur interessegeleiteten und auf ihren individuellen Vorteil bedachten Individuen vollzog. Im Feld der Sozialintegration setzte er zwar ebenfalls ein von selbstsüchtigen und unsozialen Leidenschaften getriebenes Individuum voraus, dem er aber nachdrücklich riet, diese seine Leidenschaften so zu modellieren und zu moderieren, dass sie für ein Gegenüber nachvollziehbar und damit akzeptabel würden. Smith aktivierte, indem er einen straffähigen Staat, der Übergriffe auf Mitmenschen verhinderte, als wichtigste Vorraussetzung der civil society darstellte, noch einmal des Modell des Thomas Hobbes. Aber seine civil society war bevölkert von Menschen, die als wechselseitige Beobachter und Beobachter-Beobachter empathiefähig und damit soziabel wurden. Sozialintegration war getragen von moralischen Gefühlen, die durch eine Zirkulation der Leidenschaften und durch wechselseitige Ein- und Wertschätzungen hervorgerufen wurden.23 Man wurde soziabel, indem man die Beurteilung des eigenen Handelns durch andere antizipierte. Es war eine Gesellschaft des fortlaufenden Aushandelns von sozialen Identitäten in der Zirkulation der moralischen Urteile von Alter und Ego. Diese neue Vorstellung des Sozialen rechnete nicht nur mit der Unendlichkeit der Leidenschaften, sie unterstellte auch deren Eigendynamik und Reflexivität. Aller self command müsse die eigenen Leidenschaften mit Klugheit moderieren, um auch die negativen Folgen ihrer Unterdrückung beherrschbar zu halten. Das ging sehr viel weiter als die Zähmung der Leidenschaften durch Erwerbsstreben, die A. O. Hirschman für die erste Hälfte des Jahrhunderts nachgezeichnet hatte.24 Nicht mehr Zwang oder Furcht garantierten die Gesellschaftsfähigkeit des Menschen. Die Gesellschaft stellte sie im sozialen Kontakt gewissermaßen selbst her, indem sie als ein Markt der moral sentiments funktionierte, der den Einzelnen fortlaufend mit Informationen über die Akzeptanz seiner Leidenschaften versorgte und ihm so Parameter für ihre Moderation lieferte, ganz wie man es mit Waren macht, um ihre Marktakzeptanz zu verbessern. Umgekehrt konnte sich der Einzelne an der Wertbildung sozialer Tatsachen ebenfalls durch seine Urteile beteiligen. Die entstehende medizinische Psychologie arbeitete seit dem letzten Drittel des Jahrhunderts daran, diese Selbstregulierung auch auf den Organismus und die Psyche zu übertragen. Jetzt wurden unsoziale Leidenschaften als »schlechte Angewohnheiten« identifizierbar.25 Auch wenn die rechtliche und politische Umsetzung dieser Konzeption einer freien, sich vernünftig orientierenden Individualität mit der Französischen Revolution noch längst nicht allgemein vollzogen war, so wurden doch die Folgen dieser »Freisetzung« der Bedürfnisbefriedigung sehr schnell sichtbar. Hegel sah bereits, dass die auf dem Prinzip des absoluten Zufalls beruhende Zusammenführung des Allgemein-Gesellschaftlichen und des besonderen Subjekts in der bürgerlichen Ordnung für das Individuum mit seinen unbeschränkten Bedürfnissen zu unkal170 | R ud olf S c hl ö gl
kulierbaren Folgen führen würde. Allein Arbeit war jetzt noch Medium sozialer Inklusion. Sie lieferte das Individuum sowohl in seiner sozialen Ehre wie auch in seiner materiellen Reproduktion dem Zufälligkeiten nicht berechenbarer Konstellationen aus. Die bürgerliche Gesellschaft würde auf diese Weise das Individuum in den Stand eines Spielers setzen, dem eine sichere Kalkulation der Zukunft nicht möglich sei und der deswegen seine Handlungsperspektive allein auf die Gegenwart beschränken müsse.26 Das Individuum der unbegrenzten Bedürfnisse war damit in der für es bestimmten Arbeits-Gesellschaft angekommen, die es durch deren Befriedigung hervorbrachte, aber es musste feststellen, dass die Sorge um sich selbst als Selbstregulierung einerseits unberechenbare Resonanzen der Leidenschaften erzeugte und andererseits die Sorge um sich selbst als Existenzsicherung dem Regiment eines Zufalls unterstellt war, der um nichts kalkulierbarer war als die göttliche Vorsehung, weil kein Ziel mehr in ihr auszumachen war.
3. Ge s e ll s c haf t : Von de r O rdnung durch Anordnen z ur Se l bs t regul ie rung de r Z irkul at ion Im 25. Kapitel seines 1740 kurz vor seinem Regierungsantritt zuerst erschienen Antimachiavel befasste sich Friedrich II. mit »dem Einflusse des Glückes in die Geschäfte der Welt, und wie man ihm widerstehen könne«. Er rühmte Machiavelli dafür, die Frage nach dem Verhältnis von »Freyheit« und »Vorbestimmung« aus der Metaphysik in die Politik gebracht zu haben. In dieser Sphäre sei es aber angebracht, die metaphysischen Spekulationen ruhen zu lassen und stattdessen ganz pragmatisch danach zu streben, wie man »seine Scharfsinnigkeit und Klugheit besseren« möge. Er schlug im weiteren Verlauf des Textes vor, anstelle der Begriffe von Glück und Zufall, die er für »sinnlose Wörter« hielt, das Konzept von Ursache und Wirkung zu setzen. Was der Mensch für Zufall halte, seien eben nichts anderes als die unbekannten Ursachen eines Ereignisses, wie er am Beispiel des Würfelspiels erklärte, bei dem es dem noch so guten »Gesichte« nicht möglich sei, Stärke und Drehung der würfelnden Hand, aus der die schließliche Lage des Würfel allein folge, zu erfassen. Friedrich führte dann eine ganze Reihe von Beispielen aus seiner politischen Gegenwart Europas an, in denen überraschende Ereignisse aus nicht erkennbaren Ursachen folgten, um daraus dann zu schließen, dass es unbedingte Pflicht eines Herrschers sei, sein Wissen von den Zusammenhängen, in die er mit seinen Entscheidungen hineinagiere, so umfassend wie möglich zu gestalten, damit er von den Ergebnissen seiner Handlungen nicht überrascht werde. Das mündete dann in den allgemeinen Ratschlag: » S o rge « i m Ze i t alt e r de r Au f k l äru n g | 171
Ein jeder Mensch, und hauptsächlich diejenigen, welche der Himmel bestimmet hat, über andere zu regieren, sollten sich einen Entwurf ihrer Ausführungen machen, darin alles aus so guten Gründen herflösse, und so genau aneinander hinge, als in einer geometrischen Demonstration.
Man könne auf diese Weise erreichen, dass niemand sich von den Zwecksetzungen des Fürsten entferne. Und: »Man könnte auf solche Art alle Fälle und Begebenheiten zur Beförderung seiner Absichten anwenden, und alles würde des Vollführung des vorbedachten Werkes das seinige beitragen.« Milde schloss Friedrich dann, dass auch den Fürsten ein Recht auf Unvollkommenheit zugesprochen werden müsse, und das Volk sich damit begnügen lasse, dass der Fürst in dieser Hinsicht nach Vollkommenheit strebe.27 Friedrichs »Vollkommenheit« war bereits prozesshaft gedacht. Zwar hatte sich Friedrich II. in seinem Antimachiavel große Mühe gegeben, sich als ersten Diener seines Staates darzustellen und damit das Publikum davon zu überzeugen, dass er nicht mehr Machiavellis Regierungsmodell folgte, wonach ein Fürst sein Land vorzugsweise erobere und er dadurch in ein gewissermaßen exterritoriales Verhältnis zu ihm trete. »Regieren« war dann notwendigerweise vom Ziel der Abwehr innerer und äußerer Gefahren bestimmt, die seine Macht bedrohten. Wer dann aber Friedrichs Testament von 1752 zur Hand nimmt oder andere Schriften, in denen er den Zustand seiner Territorien vor oder nach den Kriegen, die er ihnen zumutete, beschrieb, der stellt fest, dass Friedrich in genau diesem Modus sein Regierungshandeln begriff und sein Regierungsgeschäft danach betrieb. Es gab ein einziges zentrales Ziel, nämlich die Steigerung seiner Macht, die sich in der Schlagkraft seiner Armee ausdrückte, und unter dieser Perspektive wurden die einzelnen Territorien seines Reiches jeweils als Räume beschrieben, in denen Bevölkerungszahl, die Produktion und Bevorratung von Nahrungsmitteln samt der Gewerbeproduktion auf Überschüsse und Erträge an Menschen, Waren und Geld hin kalkuliert wurden, die dann für das Heer als Soldaten und für Kornspeicher und Staatsschatz zur Thesaurierung verfügbar waren.28 Das war Machiavellis Regierungsprinzip, »aufgeklärt« durch den Rationalismus eines Merkantilismus, der die von einem zentralen Ziel bestimmte Mechanik der Nullsummenordnung eines autarken herrschaftlichen Oikos auf den Raum von Territorien übertragen hatte. In einem solchen Raum wurden Ungleichgewichte zwischen den Elementen als »Missbräuche« sichtbar, gegen die man entsprechend mit »Polizeymandaten« vorging, indem Preise festgesetzt, Produktion und Konsumption reglementiert und auch sonst alle Verhaltensweisen ge- oder verboten wurden, von denen man annahm und befürchtete, dass sie dem zum Gemeinen Besten stilisierten Staatszweck zuwiderliefen. In genau diesem Sinne begriff Friedrich II. seine Herrschaft als eine Kunst der richtigen, das heißt zweckmäßigen Anordnung der 172 | R ud olf S c hl ö gl
relevanten Elemente Menschen, Nahrungsmittel, gewerbliche Waren und Geld als dem Speichermedium von Überschüssen. Sucht man für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts nach einer »Theorie« des Menschen und seiner Gesellschaft, die dieser regierenden Sorge für die Gesellschaft entsprach, so kann man Christian Wolffs Vernünftige Gedanken von 1736 heranziehen. Wir hatten oben bereits gesehen, dass der sich selbst regierende Mensch die Grundlage des hier entfalteten Modells der Gesellschaft und ihrer Regierung darstellte. Die Gesellschaft als societas civilis dachte sich Wolff als Aggregat von kleinen und wiederum auch zusammengesetzten »Gesellschaften«, angefangen von der Familie über Gruppen bis hin zu korporativ verfassten Einheiten. Zusammengehalten wurde dieses »gemeine Wesen« durch die arbeitsteilige Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse, wobei es auf zwei wichtige nähere Bestimmungen ankommt. Den Grund und die Form der Arbeitsteilung erfasste Wolff nicht als vertragsförmige Tauschvorgänge, sondern sah sie charakterisiert durch die in der Heilsordnung begründete Pflicht der Menschen, sich wechselseitig zu »dienen«. Dieses officium humanitatis wurde noch am Ende des Jahrhunderts in Anschlag gebracht, um erlaubtes von unerlaubtem Marktverhalten zu unterscheiden. Auch die Dynamik dieser Arbeitsteilung, die Wolff angesichts der Vielzahl der menschlichen Bedürfnisse durchaus sah, sollte durch die »Notdurft« des Leibes gesteuert und damit auch gebremst werden. Nur den Vermögenden wollte er ihren Luxuskonsum zugestehen, weil sie offenkundig die Armen dadurch in Arbeit setzten, und ihnen wiederum die Befriedigung ihrer notwendigsten Bedürfnisse ermöglichten. Die Regierung eines solchen »gemeinen Wesens« gestaltete sich als »Hausvaterschaft«, die auf die richtige Menschen- und Familienzahl zu achten, die Menge der Rohstoffe und der möglichen Produkte in Betracht zu ziehen und schließlich die Ausgewogenheit der Stände durch die Polizeymandate und Gesetzgebung sicherzustellen hatte.29 Wolff beschrieb mit dem Anspruch der systematisierenden Vollständigkeit die gesamte Topographie der merkantilen Wirtschaft und ihrer polizeylichen Ordnung im Horizont einer Vergesellschaftung, die auf einem vernunftbegründeten Altruismus der Menschen beruhte, ohne auf theoretischer Ebene zu realisieren, dass er selbst diese merkantile gesellschaftliche Raumordnung als eine darstellte, die sich an entscheidenden Stellen wandelte. Die unentschiedene Argumentation in der Frage der Dynamik der Bedürfnisse und der Luxusproduktion war ein Indikator dafür. Ein zweites Indiz zeigte sich darin, dass Wolff an verschiedenen Stellen »Arbeit« als ausschließliches Medium sozialer Inklusion gelten ließ und dieses explizit vom altruistischen Modell des Almosens abgrenzte. Arme sollten in Arbeitshäusern zur Arbeit gebracht werden, Nahrungsmittelpreise durften nicht zu niedrig angesetzt werden, weil Not zur Arbeit treibe. Wolff formulierte hier, was für den Rest des Jahrhunderts zur Grundlage aller institutionellen Armenfürsorge werden » S o rge « i m Ze i t alt e r de r Au f k l äru n g | 173
sollte. Nimmt man den starken Akzent, den Wolff auf die freie Produktion und Vermittlung von (neuem) Wissen in Akademien, Universität und Schulen legte, hinzu, so bekommt diese Gesellschaft bereits ein Doppelgesicht: Sie ist einerseits noch die von einem vernunftgegründeten christlichen Altruismus ermöglichte Vergemeinschaftung explizit nicht interessengeleiteter Individuen, andererseits aber dann der arbeitsteilige Verbund der Waren- und Wissensproduktion zur Befriedigung tendenziell nicht begrenzbarer Bedürfnisse. Diese Janusköpfigkeit des Gesellschaftsmodells konnte nicht ohne Folgen für die Charakterisierung des Regierens und der Gesetzgebung bleiben. Angesichts der Vielzahl der zu regulierenden Felder und der verschiedenen Größen, die zum Ausgleich zu bringen waren, wurde es für den Gesetzgeber zur ersten Pflicht, sich das zur Regulierung der allgemeinen Wohlfahrt notwendige Wissen anzueignen. Auch dann sei es aber nicht immer möglich, alle Fälle vorherzusehen, so dass Herrscher einerseits bereit sein sollten, Gesetze zu verbessern, vor allem aber vor ihrer Veröffentlichung genau zu prüfen, ob man die angezielte Wirkung auch erreichen würde. Zu viele Änderungen würden den Eindruck erwecken, die Ratgeber des Fürsten wüssten nicht, was dem Land zuträglich sei.30 Dass mit dieser Argumentation Funktion und Legitimität des absoluten Monarchen wie auch seiner Gesetzgebung in Frage gestellt waren, fiel Wolff nicht auf. Je mehr es also nicht mehr darum ging, eine Ordnung der Gesellschaft durch polizeiliche Normierung und Gesetze einzurichten und ihre Aufrechterhaltung sicherzustellen, sondern es darum zu tun war, sie in ihrer aus dem Bevölkerungswachstum und der Unbegrenztheit der menschlichen Bedürfnisse erwachsenden Dynamik zu steuern, desto mehr trat ins Bewusstsein, dass man die Ursache-Wirkungs-Verhältnisse in den zu regulierenden Konstellationen nicht ausreichend einschätzen konnte, um richtig zu regieren. Die Komplexität der Gesellschaft, das heißt die selektive Verknüpfung von unterschiedlichen Ereignissen und Zuständen, war zu hoch geworden. Deswegen wurde über die Kunst der Gesetzgebung auch immer intensiver nachgedacht.31 Das bedeutete aber letztendlich, dass die Vorstellung vom Räderwerk der Gesellschaft, das strikte Koppelungen zwischen Ereignissen oder auch ununterbrochene Kraftübertragungen aus dem zentralen Federgehäuse monarchischen Entscheidens heraus voraussetzte, an das Ende ihrer Leistungsfähigkeit und Plausibilität gelangt waren. Das alternative Modell formierte sich in der Krise der französischen Staatsfinanzen und der damit verbundenen Auseinandersetzung um den Getreidefreihandel. Die Theoretiker der Physiokratie formulierten ein Konzept, das sich fundamental vom vorigen Ordnungsmodell unterschied. Es kann hier nicht im Detail entwickelt werden. Nur die wesentlichen Punkte sind hervorzuheben: (1.) An die Stelle des Räderwerks der zentralen Ursache trat die Zirkulation von Beobachtungen und Ereignissen wie Erntemengen, Kauf- und Investitionsentscheidungen oder 174 | R ud olf S c hl ö gl
auch Abschöpfungsmargen und Marktpreisen. Diese Ereignisse wirkten nicht aufeinander, sondern sie traten dergestalt in Wechselwirkung, dass sie sich über den Faktor Zeit vermittelt gegenseitig in ihrer Form und Größe beeinflussten. Auf diese Weise gewannen die beobachteten Prozesse (2.) reflexiven Charakter, das heißt, sie wirkten auf sich selbst zurück. Deswegen ist die Rede vom »Kreislauf« auch eigentlich irreführend. Es ging um Autokatalyse und Selbstverstärkung. Wachstum brachte Wachstum hervor, die Befriedigung von Bedürfnissen weitere Bedürfnisse. Das ermöglichte dann (3.) paradoxe, über die Zeit vermittelte Wirkungszusammenhänge etwa in der Weise, dass hohe Nahrungsmittelpreise bei freien Märkten sich zum Vorteil der »kleinen Leute« auswirken würden. Das Modell, das Quesnay entworfen hatte, setzte eine auf der Produktivität des Bodens aufbauende natürliche Ordnung der Gesellschaft und ihrer Reproduktion voraus. Diese Ordnung galt es zu erhalten, wo sie funktionierte, und wiederherzustellen, wo sie außer Kraft gesetzt war. Das hatte (4.) zur notwendigen Folge, dass der Staat weitgehend auf Eingriffe in diese Zirkulationskreisläufe verzichtete. Er sollte sich in seinen normativen Vorgaben darauf beschränken, die Möglichkeit der ungehinderten Zirkulation und damit der Reproduktion der Ordnung in den notwendigen zeitlichen Zyklen sicherzustellen. Er musste deswegen sogar zulassen, dass an die Stelle des geschlossenen Raumes ein mit anderen Systemen kommunizierendes System trat, die Zirkulation der Waren, Menschen und des Geldes also an seinen Grenzen nicht aufhörte.32 Die Wirtschaft beanspruchte, ein von politischen Imperativen und Eingriffen unabhängiger Raum zu sein. Statt Märkte durch Zölle und Privilegien zu regulieren und Käufer und Verkäufer auf Messen zusammenzudrängen, sollte der Markt allgemein werden, wie Turgot in seinem Artikel in der Encyclopédie geschrieben hatte.33 Das alles bedeutete, dass Herrschaft und »Regieren« neu gedacht werden mussten: Nicht mehr die relevanten Einheiten definieren und sie durch enttäuschungsresistente polizeiliche Normierungen als zentrale Impulse in Bewegung zu setzen und sie richtig zu platzieren, damit vorhersehbare Wirkungen sich einstellten, war die Aufgabe, sondern es ging jetzt um das richtige Arrangement von sich selbst steuernden Dynamiken, die über die Zeit aufeinander wirkten. Recht verstanden, war erst jetzt Kausalität zwischen gesellschaftlichen Einheiten oder »sozialen Fakten« möglich, weil die Zeit der Rückkoppelung eingerechnet wurde, während die Tableaus der merkantilen Raumordnung in der reinen Gegenwart verharrten, in der es keine Kausalität geben konnte und sie deswegen einen Anstoß von außen durch die obrigkeitliche Polizey benötigten.34 Das führte schließlich auch in eine Entfremdung zwischen zentraler Macht und polizeilich normierender Gesetzgebung, je mehr sie nicht mehr okkasionell, von Fall zu Fall und nacheinander erfolgte, sondern systematisiert und – nach rechtlichen Gesichtspunkten mehr als nach sachlichen – aufeinander abgestimmt werden sollte. In der uneinge» S o rge « i m Ze i t alt e r de r Au f k l äru n g | 175
standenen Wahrnehmung dieser Problematik verzichtete Friedrich II. darauf, das über drei Jahrzehnte hinweg diskutierte und immer wieder revidierte allgemeine Landrecht in Geltung zu setzen. Auch sein Nachfolger entschloss sich dazu erst nach Eingriffen, die jeden Verdacht tilgten, die herrschaftliche Autokratie und Normsetzungskompetenz sei durch die innere Komplexität des Gesetzeswerkes und den Prozess seines Zustandekommens in Frage gestellt.35 Die polizeiliche Normierung als Medium der wirkungsvollen Generalisierung von herrschaftlicher Macht hatte damit ausgedient und man musste andere solcher Medien suchen. Eines davon hieß »Vertrauen«. Joseph II. versuchte, es durch die Umstellung der Staatsfinanzierung auf börsengehandelte Staatsanleihen zu installieren und auf diese Weise das physiokratische Modell für die Transformation der Herrschermacht nutzbar zu machen.36 Er scheiterte wie auch die physiokratischen Reformen in Frankreich an den »Verhältnissen«, scheinbar am Widerstand des Adels, hauptsächlich aber daran, dass die Konstitution dieser Adelsmacht und der zentralen Macht von dieser Zirkulation der Interessen freier Individuen weiterhin ausgenommen werden sollte. Die Zirkulation der Interessen freier Individuen wird in der Späre der politischen Macht verweigert. Adam Smith hatte diese Transformation in seiner Theory of Moral Sentiments 1752 sehr klar benannt. Es handelte sich nach seiner Darstellung um einen Differenzierungsprozess familial und verwandtschaftlich integrierter Gesellschaften (»pastoral societies« nannte er sie), wie man sie beispielsweise noch in Schottland vorfinde, hin zu einer kommerziell integrierten, wie England sie darstellte, in der dann die familialen und verwandtschaftlichen Solidaritätsbeziehungen zerfielen und sich in Individualinteressen auflösten. Sozial- und Systemintegration waren nicht länger deckungsgleich. Damit gewann auch das Regieren einer solchen »commercial society« eine neue Qualität. Obwohl es eigentlich thematisch gar nicht nahelag, widmete Smith dieser Frage mehrere Seiten. Der Versuch, eine solche Gesellschaft etwa in einer Krise oder im Falle der Uneinigkeit von Gruppen mit Gewalt oder auch nur mit Charisma nach einem vorgefassten Modell und Muster einzurichten, sei zum Scheitern verurteilt. Anders als der Schachspieler habe der Politiker es nicht mit Figuren zu tun, die man einfach auf einem Brett verschieben und neu arrangieren könne. Man müsse stets berücksichtigen, dass sie sich bereits in einer dynamischen Bewegung befänden.37 Smith zog an dieser Stelle die notwendige Konsequenz aus seiner Vorstellung von freien Individuen, die sich mit ihren ebenfalls eigendynamischen und reflexiv bewegenden Leidenschaften auseinanderzusetzen hatten. Weil dies aber so war, wurde aus der Krise und dem Konflikt auch eine Chance der Innovation für die Gesellschaft. Samuel Simon Witte, der 1782 in physiokratischer Manier über die »Schicklichkeit der Aufwandsgesetze« schrieb, entwickelte aus solchen Ansichten das Modell einer notwendig reflexiven Gesetzgebung. Da es nicht mehr möglich sei, 176 | R ud olf S c hl ö gl
die Wirkungen von normierenden Eingriffen in einer Gesellschaft der zirkulierenden Bedürfnisse zuverlässig abzuschätzen, müsse der weise Gesetzgeber aus Widerständen und Abweichungen von seinen Anordnungen lernen und seine Gesetze entsprechend nachjustieren oder aufheben.38 Aus der enttäuschungsresistenten polizeilichen Normierung der Gesellschaft wurde die Norm zu einer kognitiven Quelle der Information für erste und zweite Beobachtung aller Steuerungsbemühungen, indem sie Kritik, Widerstand und Devianz hervorbrachte. Damit wurde in Umrissen ein neues Konzept der politischen Macht und des Regierens erkennbar, das auch die möglichen Kosten von Normierungen jenseits der unbeabsichtigten Folgen zu kalkulieren begann und daher schließlich abzuschätzen bemüht war, mit wie viel Devianztoleranz eine Zirkulationskonstellation ausgestattet sein müsse, ab wann die Reproduktionsmatrix selbst gefährdet wurde und wann es angezeigt war, Abweichung von der Norm einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen. Foucault hat dies das »Sicherheitsdispositiv« genannt, das, wie Jürgen Link gezeigt hat, mit einer volatilen, nur noch statistisch zu erfassenden »Normalität« der gesellschaftlichen Wirklichkeit verbunden war.39 Das waren die »politiktheoretischen« Konsequenzen einer zunächst ökonomischen Lehre von der Zirkulation der Bedürfnisse und der Mittel zu ihrer Befriedigung. Die rechtlichen und institutionellen Konsequenzen hat erst die Französische Revolution gezogen. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte begründete die Freiheit des Individuums. Konstitution und Republik installierten die Nation als auf sich selbst gerichteten Prozess der Zirkulation von Interessen und Meinungen, der sich in dieser Zirkulation in Zielen und Mitteln fortlaufend selbst erfand. Welche Aporien in dieser neuen bürgerlichen Gesellschaft allerdings lagen, machte die »Terreur« mit ihrer Bewirtschaftung des Mangels und ihrer gesinnungsdiktatorischen Zwangserziehung deutlich. Ein weiterer Umstand war aber auch, dass die revolutionäre Nation kriegerisch expandierte, um sich zu stabilisieren und sie den politischen Prozess sehr schnell der bonapartistischen Diktatur des in Militärerfolgen begründeten Charismas auslieferte. Hegel hat die Ratlosigkeit, die die Zeitgenossen angesichts der neuen bürgerlichen Gesellschaft befiel, in seiner Rechtsphilosophie anschaulich auf den Punkt gebracht. Als Grundprinzip dieser Gesellschaft identifizierte er aus der Perspektive des Individuums die absolute Zufälligkeit der Lebensperspektiven, die sich aus dem Treiben ergaben, in dem jeder fortgesetzt danach trachtete, den Eigennutz zu befriedigen. Der Pöbel – armer wie reicher – sei eine notwendige Folge dieser Konstellation. Da aber die bürgerliche Gesellschaft auf der Ebene der Allgemeinheit gegen ihr Grundprinzip nicht vorgehen konnte, empfahl Hegel auf mittlerer Ebene Korporationen und dem Staat eine »Polizei«, die den Zufall dort moderieren solle, wo er gegen das Recht und das Wohl aller verstoße, ohne allerdings die individuelle Freiheit als Grundlage der »Nutzung« der bürgerlichen Gesellschaft » S o rge « i m Ze i t alt e r de r Au f k l äru n g | 177
zu beschneiden. Weil Hegel aber wusste, dass auch auf diese Weise der durch Überproduktion auftretende Pöbel nicht zu verhindern sei, war für ihn die Expansion der bürgerlichen Gesellschaft auf andere Kontinente die notwendige Folge.40 Funktional bestimmte Systeme zeichnen sich offenbar durch eine hohe Kapazität aus, die Probleme zu lösen, denen sie ihre Form verdanken, aber auch dadurch, dass sie dafür sorgen, dass die Folgen ihrer Problemlösungsstrategien an anderen Stellen auffallen. Die neue »sorgende« Selbststeuerung der Gesellschaft war deswegen konstitutiv immer auch eine Fehlsteuerung. Es kam und sollte künftig auf die Beobachterperspektive ankommen.
A n m e r kunge n 1 Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 38, Sp. 936f. (zit. n. www.zedler-lexicon.de). 2 Zedler, Universallexicon, Bd. 8, Sp. 1993–1996. 3 J. Früchtl, Artikel »Vollkommenheit«, in: K. Barck u. a. (Hgg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 6, Stuttgart 2005, S. 367–397. 4 J. J. Spalding, Die Bestimmung des Menschen. Kritische Ausgabe, Bd. I/I, Berlin 2006 (zuerst 1748), S. 10–17. 5 C. Wolff, Vernünftige Gedanken von dem Gesellschaftlichen Leben der Menschen und in Sonderheit von dem gemeinen Wesen der Beförderung der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechtes, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet, Frankfurt a. M. 1736, S. 168–171. 6 A. Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 2 2003, S. 247–254. 7 Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, Frankfurt a. M. 1976, bes. S. 146ff. (neunte und zehnte Epoche). 8 D. Klippel, »Persönlichkeit und Freiheit. Das ›Recht der Persönlichkeit‹ in der Entwicklung der Freiheitsrechte im 18. und 19. Jahrhundert«, in: G. Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1987, S. 269–290, hier S. 269–283. 9 Wolff, Vernünftige Gedanken (o. Anm. 5), S. 59–66. 10 Für Deutschland: H. Reinalter (Hrsg.), Aufklärungsgesellschaften, Frankfurt a. M. u. a. 1983; H.-U. Gumbrecht/R. Reichardt/Th. Schleich (Hgg.), Sozialgeschichte der Aufklärung in Frankreich, Teile I–II, München 1981; für England: P. Clark, British Clubs and Societies 1580–1800. The Origins of an Associational World, Oxford 2000. 11 W. Martens, Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1971. 12 J. Overhoff, Die Frühgeschichte des Philanthropismus (1715–1771). Konstitutionsbedingungen, Praxisfelder und Wirkung eines pädagogischen Reformprogramms im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 2004, S. 18–48. 178 | R ud olf S c hl ö gl
13 H. Schmidt, Vernunft und Menschlichkeit. Studien der philanthropischen Erziehungsbewegung, Bad Heilbronn 2007, S. 27–42. 14 Dumarsais, Artikel »Éducation«, in: D. Diderot/J. le Rond d’Alembert (Hgg.), Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Metiers, etc., University of Chicago: ARTFL Encyclopédie Project, hrsg. von R. Morrissey (Spring 2013 Edition), Bd. 5, S. 397–403. 15 Schmidt (o. Anm. 13), S.106–114. 16 Overhoff (o. Anm. 12), S. 141ff.; zur Argumentation der Deisten R. Schlögl, Alter Glaube und moderne Welt. Europäisches Christentum im Umbruch 1750–1850, Frankfurt a. M. 2013, S. 348–354. 17 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Werke, hrsg. von W. Weischedel, Bd. 8, Frankfurt a. M. 2013, S. 348–354. 18 H. R. Schmidt, »›Verfall der Religion‹. Epochenwende um 1700«, in: P. Blickle/R. Schlögl (Hgg.), Die Säkularisation im Prozess der Säkularisierung Europas, Tübingen 2005, S. 245–258. 19 R. Schlögl, Glaube und Religion in der Säkularisierung. Die katholische Stadt – Köln, Aachen, Münster 1700–1840, München 1995. 20 G. Clark/G. Anderson, »Introduction«, in: dies. (Hgg.), The Appeal of Insurance, Toronto u. a. 2011, S. 3–16; C. Zwierlein, »Grenzen der Versicherbarkeit als Epochenindikatoren? Von der europäischen Sattelzeit zur Globalisierung des 19. Jahrhunderts«, Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 406–422. 21 Schlögl, Alter Glaube (o. Anm. 16), S. 350f., 369–374. 22 Wolff, Vernünftige Gedanken (o. Anm. 5), S. 5. 23 A. Smith, Theory of Moral Sentiments, hrsg. von D. D. Raphael/A. L. Macfic, Indianapolis 1954, Part I, Sect. I–III; Part III. 24 A. O. Hirschmann, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründung des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt a. M. 1987. 25 B. Kleeberg, »Schlechte Angewohnheiten. Einleitung«, in: ders. (Hrsg.), Schlechte Angewohnheiten. Eine Anthologie 1750–1900, Berlin 2012, S. 9–63, hier S. 25–35. 26 G. F. W. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. von H. Reichelt, Frankfurt a. M. 1972, S. 169f., 174–182; ders., Die Philosophie des Rechts. Vorlesungen von 1821/1822, hrsg. von H. Koppe, Frankfurt a. M. 2005, S. 230. 27 Die Werke Friedrichs des Großen, hrsg. von G. B. Volz, Bd. 7, Berlin 1913, S. 101–107. 28 Ebd., S. 117–193. 29 Wolff, Vernünftige Gedanken (o. Anm. 5), S. 209–249, 265–290. 30 Ebd., S. 421–434. 31 H. Mohnhaupt, »Grundlagen in der Geschichte der Gesetzgebung auf dem europäischen Kontinent vom 16. bis zum 18. Jahrhundert«, Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 28 (2006), S. 124–174, bes. S. 155ff.; ders./A. Paul (Hgg.), Prudentia Legislatoria. Fünf Schriften über die Gesetzgebungsklugheit aus dem 17. und 18. Jahrhundert, München 2003. » S o rge « i m Ze i t alt e r de r Au f k l äru n g | 179
32 F. Quesnay, Tableau Économique, hrsg. von M. Kuczynski, Berlin 1965; L. Vardi, The Physiocrats and the World of the Enlightenment, Cambridge 2012; Ch. Loïc, »From the Encyclopédie to the Tableau Économique: Quesnay on Freedom of Grain Trade and Economic Growth« European Journal of Economic Thought 7 (2000), S. 1–21; M. Sonenscher, »Physiocrats as a Theodicy«, Theory of Political Thought 23 (2002), S. 326–339; H. Spenger Banzhaf, »Productive Nature and the Net Product: Quesnay’s Economics Animal and Political«, History of Political Economy 32 (2000), S. 517–551. 33 A. R. J. Turgot, Artikel »Foire«, in: D. Diderot/J. le Rond d’Alembert (Hgg.), Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Metiers, etc., University of Chicago: ARTFL Encyclopédie Project, hrsg. von R. Morrissey (Spring 2013 Edition), Bd. 7, S. 39–41, hier S. 41. 34 P. Dockès, L’espace dans la Pensée Économique du XVIe au XVIIIe Siècle, Paris 1969, S. 13–75, 234–294; M. Sandl, Ökonomie des Raumes. Der kameralwissenschaftliche Entwurf der Staatswissenschaft im 18. Jahrhundert, Köln 1999, S. 278–310. 35 P. Krause, »Die Überforderung des aufgeklärten Absolutismus Preußens durch die Gesetzgebung. Zu den Hemmnissen auf dem Weg zum Allgemeinen Landrecht«, in: G. Birtsch/D. Willoweit (Hgg.), Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft. Zweihundert Jahre Preußisches Allgemeines Landrecht, Berlin 1998, S. 131–211. 36 Künftig dazu J. Behnstedt, Ein Band des Vertrauens. Medialität, Regierungskunst und öffentlicher Kredit in der Habsburger Monarchie während des Siebenjährigen Krieges, Manuskript Konstanz 2015 (unveröff.). 37 Smith, Moral Sentiments (o. Anm. 23), S. 220–234. 38 S. S. Witte, Ueber die Schicklichkeit der Aufwandsgesetze. Beantwortung darüber durch die Aufmunterungsgesellschaft zu Basel im Jahre 1780 aufgegebene Preisfrage, Leipzig 1782, S. V– IX, 27–31; vgl. J. Shovlin, Luxury, Patriotism and the Origins of the French Revolution, Ithaca 2006, S. 14–48; Saint Lambert, Artikel »Luxe«, in: D. Diderot/J. le Rond d’Alembert (Hgg.), Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Metiers, etc., University of Chicago: ARTFL Encyclopédie Project, hrsg. von R. Morrissey (Spring 2013 Edition), Bd. 9, S. 763–771. 39 M. Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesungen am College de France 1977–1978, Frankfurt a. M. 2004, S. 26f., 88–120; J. Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 21999, Teil V. 40 Hegel, Grundlinien (o. Anm. 26), S. 208–214; ders., Philosophie des Rechts (o. Anm. 26), S. 216–224.
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Gerd Schwerhoff
EINLEITUNG: MODERNE Als »Zeitalter der Extreme« hat der englische Historiker Eric Hobsbawm bekanntlich das kurze 20. Jahrhundert charakterisiert; auf den Spuren der beiden folgenden Studien würde man in Hinblick auf die regulative Leitidee der »Sorge« wohl nicht fehlgehen, die Epoche der Moderne seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert insgesamt als ein solches Zeitalter anzusprechen. Hans Vorländer (Dresden) skizziert den Prozess der Vergesellschaftung der Sorge, die Entwicklung von der individuellen Fürsorge hin zur Vorsorge als institutionell ausgefaltetes, gesamtgesellschaftliches Organisationsprinzip in den letzten 150 Jahren. Alois Hahn (Trier) beleuchtet aus soziologischer und philosophischer Sicht die Hintergründe der modernen Karrieren dieser institutionellen Sorge ebenso wie der individuellen Selbstsorge im Zeichen der Umcodierung von »Gefahr« auf »Risiko«. Georg Kohler (Zürich) schließlich richtet seinen Blick auf das moderne Gesundheitswesen als eines der extremen Produkte dieser Entwicklung und seziert dessen Aporien. Dabei fällt zunächst der radikale Wandel auf, durch den dieser Zeitabschnitt gekennzeichnet ist. Obrigkeitlicher Paternalismus, individuelle Fürsorge oder die radikale Laissez-faire-Attitüde der reinen Markttheorie sind keineswegs passé, aber als leitendes Paradigma rückte doch mehr und mehr das Postulat der kollektiven sozialen Sicherungssysteme ins Zentrum. Aus der vormals religiös motivierten Sphäre christlicher caritas verlagert sich die Sorge damit zugleich in die Sphäre des Politischen. In einem großen Spannungsverhältnis zum Kampfruf nach kollektiver Solidarität und Sicherheit steht der – in der Moderne ebenfalls wachsende – Anspruch auf individuelle Selbstsorge, den man gleichzeitig als Freiheitsrecht und als Verpflichtung des Einzelnen, für die eigene Person Verantwortung zu übernehmen, verstehen kann. Die verschiedenen Sozialstaatsmodelle in Deutschland, der Schweiz oder den USA lassen sich als je verschiedene Antworten auf die Frage nach der richtigen Balance zwischen gesellschaftlicher Vorsorge und individueller Selbstsorge lesen. Auf keinem anderen Gebiet dürfte dieses Spannungsverhältnis so groß sein wie auf demjenigen des heutigen Gesundheitswesens. Gesundheit (oder präziser: die Vermeidung von Krankheit bzw. der Umgang mit ihr) muss in hohem Maß Gegenstand der Selbstsorge des Einzelnen sein, von der Prävention von Unfällen und Krankheitsfällen über das Verhalten als Kranke(r) bis hin zur Konfrontation mit dem Sterben. Auf der anderen Seite gibt es auf keinem Feld so unbedingte Forderungen an das System der kollektiven Fürsorge wie auf dem des Gesundheitswesens: Von allem nur das Beste! Kohler zeigt anschaulich, wie dieser Trend in eine Gesundheitsreligion M ode rn e | 183
mündet, in eine säkulare Variante des unbedingten Verlangens nach Vollkommenheit – das Streben nach Heilung im Diesseits hat dasjenige nach Heil im Jenseits abgelöst. Die Leistungsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme werden diese – stets in neue Höhen steigenden – Ansprüche systematisch verfehlen. Und so stehen am Ende des Abschnitts vorsichtig tastende Überlegungen, wie den Extremen zu entkommen ist, wie die kollektive Fürsorge durch eine individuelle Selbstsorge unterfüttert werden kann, die zunächst und vor allem bei der Reflexion über die notwendigen Grenzen der gemeinschaftlichen Vorsorge ansetzt.
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Hans Vorländer
VON DER SORGE ZUR ORGANISIERTEN SOLIDARITÄT Die Entwicklung zum modernen Sozial- und Wohlfahrtsstaat
Wenngleich der Begriff ursprünglich für eine andere historische Epoche geprägt worden ist, so erscheint es doch angemessen, von einer »Sattelzeit«1 zu sprechen, wenn die Entwicklung zum modernen Sozial- und Wohlfahrtsstaat charakterisiert werden soll. Zu umfassend war der Wandlungsprozess, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann und der »Sorge« zu einem gesamtgesellschaftlichen Organisationsprinzip werden ließ. Nicht mehr die individuelle Fürsorge, nicht mehr die Liebe zum Nächsten schienen die strukturellen Gefährdungslagen moderner, industrieller Gesellschaften auffangen und sozial abfedern zu können, es wurden Politiken, Instrumente und Institutionen entworfen und implementiert, die Sorge zu einer Aufgabe der gesamten Gesellschaft machten. Der moderne Sozialstaat wurde erfunden, zugleich Ausgangspunkt einer im 20. Jahrhundert weiter vorangetriebenen Entwicklung, die den Staat zu umfassender Für- und Vorsorge gegenüber seinen Bürgern verpflichtete. Erst am Ende des 20. Jahrhunderts schien der Wohlfahrts- und Präventionsstaat als allumfassendes Prinzip der individuellen und kollektiven Daseinsvorsorge an seine Grenzen zu stoßen. Dabei waren Ausmaß und Organisation staatlich organisierter Sozial- und Wohlfahrtspolitik in den Ländern Westeuropas und Nordamerikas keineswegs einheitlich ausgeformt worden, wenngleich sie in der Entfaltung kollektiver Sicherungssysteme, die an die Stelle individueller oder freiwilliger Formen der Für- oder Vorsorge traten, doch gleichgerichtet waren. In der formativen Phase, die grob von 1870 bis 1920 angesetzt werden kann, vom Auftauchen der sozialen Frage bis zur Kodifizierung sozialer Rechte in den Nachkriegsordnungen, werden sowohl die Konvergenzen wie die Unterschiede deutlich. Sie werden kurz umrissen, nachdem der grundlegende Paradigmenwechsel von der Sorge zur organisierten Solidarität skizziert worden ist. Der – zwangsläufig kursorisch bleibende – Überblick zum modernen Sorge-Konzept wird mit einem Ausblick auf die verschiedenen Typen des Wohlfahrtsstaates beschlossen.
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D e r Pa radigm e nwe c hse l : Von de r S orge z ur o rga n i s ie rt e n Sol idarit ät 1848 ist ein entscheidendes Jahr: John Stuart Mill veröffentlichte seine Principles of Political Economy und Marx und Engels formulierten mit dem Kommunistischen Manifest einen flammenden Aufruf zur Mobilisierung der Arbeiterklasse.2 Wo Mill noch einmal die seit Adam Smith bekannten Grundsätze des modernen, auf kapitalistischer Produktionsweise und freiem Handel basierenden Wirtschaftssystems entfaltete, betteten Marx und Engels die bürgerliche Gesellschaft in die historische Abfolge von Klassenkämpfen und revolutionärer, auf der Veränderung der Produktionsverhältnisse beruhender Umwälzungen ein. Mill und Marx/Engels lagen weit auseinander, was die Frage der Veränderung der Verhältnisse betraf. Aber sie hatten alle drei ein untrügliches Gespür für die fundamentalen sozialen Veränderungen, die durch die neuen Formen des Wirtschaftens bewirkt worden waren. Auf jeden Fall war das Ende einer Gesellschaftsformation absehbar, die auf dem Glauben beruhte, dass allein die Mechanismen des Marktes Wohlstand und soziale Gerechtigkeit herstellten. Wo Marx und Engels die revolutionäre Überwältigung des kapitalistischen Systems propagierten, machte sich Mill Gedanken über die Rolle des Staates bei der Bewältigung von Aufgaben der Infrastruktur, des Bildungssystems und der Armenpolitik. Mill, Marx und Engels waren nicht die Einzigen, die die Veränderung von Ökonomie und sozialen Lebenslagen reflektierten. Die so genannten Frühsozialisten hatten das Prinzip des Privateigentums kritisiert – »Eigentum ist Diebstahl«3 –, Lorenz von Stein, ein erster Beobachter und Analytiker sozialer Bewegungen, hatte schon zuvor von konservativer Seite Sozialpolitik als Aufgabe eines »sozialen Königtums« bestimmt.4 Zudem hatten sich bald erste Zusammenschlüsse von Arbeitern und Kleinproduzenten in Genossenschaften, Gewerkvereinen und dann auch in Gewerkschaften und sozialistischen Parteien gebildet. Damit kommt es zu einem grundlegenden Prozess der Politisierung von sozialen Lebenslagen. Das klassisch-antike Modell der Trennung von Oikos, dem – privaten – Haushalt, und der Polis, in denen die bürgerschaftlichen Angelegenheiten verhandelt werden, ist genauso hinfällig wie die Laissez-faire-Attitüde der reinen Markttheorie, die in den Mechanismen von Angebot und Nachfrage die Gewähr auch für eine sozial gerechte Verteilung von Gütern und Wohlstand sah und die Politik aus der Regulierung des ökonomischen und sozialen Handelns heraushalten wollte. Mit der fortschreitenden Durchsetzung der Industriegesellschaft aber ist die Trennung der Sphären hinfällig; auch Sorge, vor allem Armenfürsorge, ist nicht mehr Privileg der staats- oder politikfreien Räume. Damit ist nicht gesagt, dass freiwillige, sozial motivierte oder religiös inspirierte Hinwendung zum Nächsten oder tätige Hilfe beispielsweise in so genannten Armenhäusern gänzlich abgelöst oder 186 | Hans Vorlä nd e r
gar substituiert worden wäre durch kollektiv organisierte Staatshilfe – der Weg hierzu war lang und keineswegs vollständig. Aber die politische Forderung nach sozialen Maßnahmen der Unterstützung oder Kompensation von Arbeitsplatzverlust oder Krankheit durch – anfänglich sehr stark auch christlich, vor allem evangelisch geprägte – Arbeiterbewegungen und sozialistische oder fortschrittliche bürgerliche Parteien machten die soziale Frage zu einer Frage der politischen Auseinandersetzung und Regulierung. Aus »Sorge« wird der Ruf nach »Solidarität«, ein politischer Kampfbegriff gegen die Klasse der Kapitalisten und ein Integrationsbegriff, der die Proletarier als revolutionäre Klasse konstituieren sollte. Die Ausdehnung des Wahlrechts, im Deutschen Reich ab 1871 und hier früher und umfassender als in England, macht die soziale Frage zu einer genuin politischen und, wo sie ihre Repräsentanten findet, auch zu einer der parlamentarischen Behandlung oder, wo dies nicht der Fall ist, weil die Sozialisten durch Repressalien unterdrückt oder verboten werden, zu einer Auseinandersetzung auf der Straße. Mit der Politisierung der sozialen Frage geht auch, zweitens, eine »Verwissenschaftlichung« von Fragen, die mit Sorge zusammenhängen, einher: Wie kann eine solidarische Gesellschaft geschaffen werden, wie sollen Sozialpolitiken aussehen, auf welchen Wegen, dem der Gesetzgebung oder dem der revolutionären Erringung, kann der Sozialstaat errungen werden? Die Suche nach der Blaupause, die den industriegesellschaftlichen Umbruch beherrschbar und sozial steuerbar macht, führt auch zur Geburt des Sorge-Experten, als Arbeiterführer, als Vordenker, als Experimentator, als Wissenschaftler. Die Verwissenschaftlichung setzt ein mit dem Wechsel vom Frühsozialismus zum wissenschaftlichen Sozialismus, indem Marx den Frühsozialisten vorhält, dass diese einen moralischen Zugang zu den Problemen ihrer Zeit hätten und ihre Zuflucht in utopischen Romantizismen – etwa den frühindustriellen Formen genossenschaftlich produzierender Klein- und Gemeinschaftseigentümer – nähmen, damit aber einer wissenschaftlichen, also vor allem auf der Analyse des Kapitals und seiner Logik beruhenden Handlungsperspektive im Wege stünden.5 Die Vorstellung, dass die Umgestaltung der modernen Gesellschaft nur auf planmäßiger, das heißt wissenschaftlicher Grundlage möglich ist, findet sich indes nicht nur in sozialistischen, sondern auch in vielen anderen reformerischen Bewegungen, von den Saint-Simonisten über Comte bis zu den englischen Fabians, von der Begründung der Soziologie bis zu den Zusammenschlüssen der Ökonomen, vom deutschen »Verein für Socialpolitik« bis zur »American Economic Association« oder den Protagonisten des amerikanischen Pragmatismus ( James, Dewey), die nicht zuletzt aus der sozialreformerischen Chicagoer »Hull House«-Bewegung von Jane Addams hervorgingen.6 Der »Experte für das Soziale« ist oftmals der Experte für die Deutung der gesellschaftlichen Pathologien und Meinungsführer der sozialreformerischen Bewegung. Vo n d e r S o rge zu r org an i si e rt e n Sol i dari t ät | 187
Mit der sozialen Frage, ihrer Politisierung und Verwissenschaftlichung, wird, drittens, die Sorge zugleich vergesellschaftet bzw. verstaatlicht. Damit sind zwei Modi ihrer Überführung und Behandlung in einen gesamtgesellschaftlich-politischen Kontext gemeint. Sorge wird entindividualisiert, es ist keine dem anderen okkasionell oder situativ veranlasste Form der Zuwendung durch einen Einzelnen, sondern Sorge wird ein gesellschaftlicher Aggregatzustand, der gesteuert und bewirtschaftet werden muss. Es gibt Agenturen, Vereinigungen und Institutionen, die die Sorge für die anderen in professionelle Hände nehmen, sie organisieren und politisch absichern. Das kann der Staat selber sein im Wege der Einführung sozial- oder wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme, von der Arbeitslosen- und Unfall- bis zu einer intergenerationellen Rentenversicherung auf Kapital- oder obligatorischer Abgabenbasis. Es können aber auch nichtstaatliche, gesellschaftliche Organisationsformen der Selbsthilfe sein, von Gewerkschaften über Stiftungen bis zu Vereinigungen von Alten- und Armenbetreuung, die gleichwohl Privilegien staatlich-rechtlicher Anerkennung (beispielsweise durch das Gesellschaftsrecht oder den Gemeinnützigkeitsstatus) besitzen. Hier handelt es sich also nicht um punktuelle Für- und Vorsorge, sondern es hat sich ein fundamentaler Wechsel in eine organisierte, auch öffentlich sichtbare und ökonomischen Rationalitätserwägungen gehorchende Form des Sorgens vollzogen. Die Verstaatlichung der Sorge ist, viertens, zugleich auch ihre Verrechtlichung. Der moderne Staat, der sich von seiner Geltung her als ein demokratischer Rechtsstaat versteht und legitimiert, handelt in den Formen des Rechts. Sozialpolitische Maßnahmen bedürfen der Rechtsform, sie sind zum Teil in so genannten Sozialgesetzbüchern kodifiziert. Damit stellt sich der moderne Staat zugleich auch als ein Sozialstaat dar, der sich einer Form materialer Gerechtigkeit verschreibt und Leistungen für seine Bürger erbringt, die von der sozialen Existenzsicherung bis zu umfassenden Transfers zur Förderung von Bildung, Familie und Beruf reichen. Aus dem status negativus ist der Bürger im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart längst in den status activus et positivus, einer Rechtsposition umfassender politischer und sozialer Teilhabe, hineingewachsen.7 Dem entspricht auch die Dogmatik der Rechtsansprüche. Bürgerrechte, ursprünglich als liberale Abwehrrechte gegen staatliche Willkür konzipiert und dann um demokratische Beteiligungsrechte erweitert, umfassen, durchgesetzt als Ergebnis sozialer Kämpfe und politischer Konflikte und erstmals vollumfänglich in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 normiert, nunmehr soziale Grundrechte.8 Die Sorge um eine finanzielle Alterssicherung ist so, beispielsweise in der Sozialrechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland, zum – eigentumsgleichen – Rechtsanspruch auf staatliche Leistungen mutiert.
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D i e Fo r m i e rung de s ne ue n Paradigm as Die formative Phase ist zwischen 1870 und 1920 anzusetzen. Da wird das Konzept geschmiedet. Sozialversicherungen, Unfall-, Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung werden in Deutschland zwischen 1883 und 1927 eingeführt. In Großbritannien verläuft der Prozess ähnlich, wenngleich etwas später beginnend: 1897 Unfallversicherung, 1908 Rentensystem, 1911 Krankenversicherung und Arbeitslosenversicherung; in Frankreich ebenfalls zwischen 1898 und 1928. Die USA hinken etwas hinterher, einer langen Anlaufphase über die Protestbewegungen des »Populist Movement« der 1890er Jahre und des »Progressive Movement« nach der Jahrhundertwende folgen in der schweren Wirtschaftskrise der 1930er Jahre erste größere sozialpolitische Maßnahmen, die aber erst in der »Great Society« unter Johnson zu umfassenderen, im Vergleich zu Europa aber doch letztlich rudimentär bleibenden Systemen ausgebaut werden. Erst unter Barack Obama sollte es, nach jahrzehntelangen Auseinandersetzungen zuvor, zur Einführung einer obligatorischen Krankenversicherung kommen. In der Schweiz ist 1911 die Krankenversicherung, 1918 die Unfallversicherung eingeführt worden, die Rentenversicherung indes erst 1946 und eine Arbeitslosenversicherung gar erst in den 1980er Jahren. Zwei Geschwindigkeiten und zwei Modelle geben sich in dieser Entwicklung zu erkennen. In Europa verläuft, mit Ausnahme der Schweiz, die Herausbildung sozialstaatlicher Sicherungssysteme relativ schnell und ist im Grundsatz zügig abgeschlossen. In den USA – und der Schweiz – bleiben soziale Leistungen eher das Ergebnis privat- bzw. arbeitsrechtlicher Aushandlungsprozesse, zumeist zwischen den Tarifparteien innerhalb eines Betriebes. Der (Zentral-)Staat, in den USA in seiner politischen Steuerungsfunktion ohnehin konstitutionell schwach ausgebildet, spielt zunächst keine entscheidende Rolle in der Ausformung des Sozialstaates und dann, nach dem Zweiten Weltkrieg, auch nur eine begrenzte, von gesellschaftlichen und ökonomischen Akteuren immer wieder kritisierte. Hinsichtlich der Modelle lässt sich das eine als das Versicherungsmodell bezeichnen, die Bismarck’sche Variante, das andere lässt sich mit Lord Beveridge verbinden, der 1942 in Großbritannien einen nach ihm benannten Plan vorgelegt hat, bei dem Sozialleistungen über Steuern finanziert werden. Hier werden einheitliche, pauschale Leistungen durch eine öffentlich agierende Verwaltung erbracht, während sich das Versicherungsmodell über Beiträge finanziert und die Verwaltung im Wesentlichen privatrechtlich organisiert und paritätisch durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber (wie auch die Finanzierung) administriert wird. Das ist ein fundamentaler Unterschied, weil über Steuern finanzierte Leistungen zur Disposition des jeweiligen Budgetgesetzgebers gestellt sind, wohingegen das Beitragssystem eine größere Immunität gegen schnelle politische Wechsel aufweist. Vo n d e r S o rge zu r org an i si e rt e n Sol i dari t ät | 189
Die politischen und sozialen Kräfte, die diese formative Phase zwischen 1870 und 1920 prägten, sind unterschiedliche, das weite Spektrum zwischen bürgerlichen, auch konservativen, und sozialistischen Reformkräften abdeckend, die, lässt man die – im Einzelnen doch erheblichen – Unterschiede und die auf Umsturz des kapitalistischen Systems fokussierten Strömungen einmal beiseite, durchaus als »große transatlantische Reformgemeinschaft«9 bezeichnet werden können. Diese umfasst die sozialpaternalistischen Ansätze Bismarcks, der hoffte, durch ein System von Grundsicherungen die Arbeiterklasse von ihrer politischen Vertretung trennen zu können, was indes nicht, auch nicht auf dem Weg des Verbotes der Sozialisten, gelang. In England bildete sich um die Jahrhundertwende eine bemerkenswerte und in dieser Form auch einzigartige Koalition von »Lib-Lab« heraus, einer reformorientierten Liberal Party und einer den parlamentarischen Weg der Veränderung einschlagenden Labour Party. In Frankreich tritt die »Solidarisme«-Bewegung von Léon Bourgeois politisch in Erscheinung. In Italien werden in der Ära Giolitti 1906 bis 1914 eine Reihe von Reformen initiiert. Und in den USA entwickeln sich ab den 1890er Jahren Reformbewegungen, vor allem zunächst in den Einzelstaaten, dann, vor dem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg, auch auf nationaler Ebene. Konvergenzen programmatischer Art ergeben sich vor allem deshalb, weil sich um die Jahrhundertwende die Strömungen von an Reformen interessierten politischen Kräfte aufeinanderzubewegen: Einmal gibt es eine Bewegung vom revolutionären Sozialismus hin zu Reformkonzepten, die auf parlamentarischen Wegen Sozialpolitiken durchzusetzen und die soziale Transformation des Kapitalismus zu erreichen suchten. Hierfür stehen vor allem die englischen Fabians. Die andere Bewegung vollzieht sich innerhalb des liberalen, fortschrittlich bürgerlichen Lagers, wo sich Positionen eines sozialen Liberalismus zu erkennen geben, die den Individual- und Laissez-faire-Liberalismus auf die moderne Industriegesellschaft mit ihren sozialen Problemen einzustellen versuchen. Das zeigt sich wiederum besonders deutlich in England innerhalb der »Liberal Party« und ihrem intellektuellen Umfeld, beispielsweise bei Leonard T. Hobhouse oder John A. Hobson.10 In Deutschland ist die Gemengelage etwas unübersichtlicher. Zum einen hält der Linksliberalismus von Eugen Richter am Ende des 19. Jahrhunderts immer noch am Leitbild des selbständigen Bürgers fest, der sich um seine Belange kümmert und Sorge um sich und seine Nächsten als Form individueller Vorsorge und ethisch-moralischer Fürsorge versteht. Auf der anderen Seite versucht der soziale Liberalismus eines Friedrich Naumann nach der Jahrhundertwende, Sozialpolitik als staatliche Aufgabe zu begründen, um die Lebens- und Arbeitsrisiken des in großen Industrieunternehmen abhängig beschäftigten Arbeiters aufzufangen. Gleichwohl überantwortete Naumann dem Staat nicht gänzlich die Organisation von Sorge-Strukturen. In den Betrieben selbst sollten sich die Arbeiter als »Industriebürger« Mitspracherechte und soziale Rechte erkämpfen. Hiermit glaubte 190 | Hans Vorlä nd e r
Naumann – und mit ihm andere Reformliberale – die Idee der Eigenverantwortung, neben der Selbständigkeit ein Zentralwert des klassischen Individualliberalismus, in das Industriezeitalter mit seinen Großorganisationen transponieren zu können. Als ehemaliger Pfarrer und politischer Anführer des Evangelisch-Sozialen Kongresses war es da nur konsequent, dass für ihn »Staatshilfe« erst nach »Selbsthilfe« und »Gotteshilfe« kam, wie es im Titel der von ihm begründeten, einflussreichen Zeitschrift Die Hilfe als Zentralmotto hieß.11 Die Sorge ging damit nicht ganz im Konzept des organisierten Sozialstaates auf – was sie im Übrigen auch in sozialistischen Kontexten nicht tat. Denn Solidarität bedeutete hier auch immer das Versprechen gegenseitigen Einstehens und gemeinsamen Kampfes um soziale Verbesserungen in Arbeitervereinen und Gewerkschaften. Aber im Unterschied zu liberalen Reformbegründungen ging es hier nicht mehr um die Bewahrung einer Vorstellung individueller Eigenverantwortung in verändertem Kontext, sondern um die Durchsetzung von sozialen und ökonomischen Forderungen einer Klasse von eigentumslosen, ihre Arbeitskraft als Ware verdingenden Arbeiterschaft. Das verlieh den sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Positionen letztlich auch eine größere politische Durchschlagskraft, zumindest in den Ländern, in denen die entsprechenden Parteien Einfluss auf die Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme nehmen konnten. Das war in Europa stärker der Fall als in den Vereinigten Staaten von Amerika.12
Type n de s Sozial- und Wohlfahrt sst aates Im Laufe des 20. Jahrhunderts sind die Sozial- und Wohlfahrtsstaaten unterschiedlich ausgestaltet worden, zum Teil gibt es Pfadabhängigkeiten, die sich aus der Entstehungssituation, der kulturellen Einbettung oder den jeweiligen politischen Machtkonstellationen erklären lassen. So bleiben die sozialen Sicherungssysteme auch nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA rudimentärer als in vielen Staaten Kontinentaleuropas. Der amerikanische Zentralstaat ist schwächer, die politische Kultur favorisiert individuelle oder freiwillige Versicherungsleistungen, der Mittelstand weiß seine starke Stellung in Sozialprogramme politisch umzumünzen, die vornehmlich und selektiv für ihn – beispielsweise im Bereich der Kranken- und Altersunterstützung – ausgelegt sind. In einem Land, das sich selbst als society of opportunities mit nach oben offenen individuellen Aufstiegsmöglichkeiten beschreibt, kommt den Einstellungsmustern eigenverantwortlicher Sorge ein ganz anderer Stellenwert zu als in Ländern mit ausgeprägten kollektiven Sicherheitsbedürfnissen und Sekuritätserwartungen. Entscheidend ist dann hier, welche politische Strömung in der Lage ist, ihrer spezifischen Konzeption von Sozial- und Wohlfahrtsstaat zum Durchbruch zu verhelfen. So unterscheidet die vergleichende Vo n d e r S o rge zu r org an i si e rt e n Sol i dari t ät | 191
Sozialforschung auch zwischen Wohlfahrtsregimen, die sich in ihren spezifischen, historisch herausgebildeten Arrangements von Staat, Markt und Gruppen, Familien, Individuen unterscheiden.13 Danach wird im liberalen Typus die staatliche Sozialpolitik auf die Bedürftigsten zugeschnitten, aber auch überwiegend beschränkt und dem Markt die Steigerung der kollektiven, den Einzelnen und der Familie die der individuellen Wohlfahrt überantwortet. Das konservative Modell bewahrt traditionelle Strukturen, stärkt statusbezogene, auf unterschiedliche Gruppen (Selbständige, Angestellte, Arbeiter) zugeschnittene Sozialversicherungssysteme, erwartet vom Markt nur eingeschränkte, aber von der Familie starke Impulse für soziale Unterstützungsleistungen. Das sozialdemokratische Konzept geht hingegen von Gleichheitsvorstellungen aus, begründet daraus Ansprüche – entitlements – auf Leistungen und setzt diese auch kompensatorisch gegen die Ungleichheitseffekte marktwirtschaftlichen Handelns und ungleiche familiäre oder individuelle Ausgangspositionen ein. Die drei Typen zeigen unterschiedliche Reichweiten und Intensitäten in der Versorgung mit sozialen Leistungen, aber entsprechend des finanziellen Umfangs auch verschiedene Durchgriffe des Staates in die Einkommensverteilung. Dort, wo es zu einer tendenziell egalitären Staatsbürgerversorgung kommt (zum Beispiel in Schweden bis Ende der 1980er Jahre), werden umfassende Sicherungssysteme für Krankheit, Arbeitslosigkeit, Pflegebedürftigkeit und Ausfälle von Einkommen infolge Unfalls oder von Invalidität, Mutterschaft oder Elternzeiten, aber auch für die Wohnungsversorgung (staatlicher Wohnungsbau; Miet- oder Heizkostenzuschüsse) und das Bildungssystem (Ausbildungsgelder) geschaffen und durch hohe Einkommenssteuern finanziert. Konservative wie liberale Modelle sind hier in Umfang und Finanzbedarf in der Regel restriktiver, weil sie stärker individuelle oder freiwillige Formen der Vor- und Fürsorge privilegieren (hierfür aber auch vielfach steuerliche Anreize setzen). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind umfassende wohlfahrtsstaatliche Regime bisweilen an ihre Grenzen, vor allem die ihrer Finanzierung, gestoßen. So machte beispielsweise die Sozialleistungsquote in Deutschland in den Jahren 2010 bis 2012 ca. 30% des Bruttoinlandsproduktes aus. Das hat nicht nur zu einer internationalen Debatte über die Grenzen des Wohlfahrtsstaates und der durch ihn bewirkten Verteilungskonflikte, sondern auch zu einem Diskurs über die Balance staatlicher (Grund-)Sicherung und individueller Vorsorge geführt, in deren Verlauf das von der englischen Labour-Partei unter Tony Blair verfolgte Konzept eines den Bürger »aktivierenden« Sozialstaates auf große Resonanz stieß, unter anderem als Argumentationshintergrund für die so genannten »Hartz-Reformen« in der SPD geführten Regierungskoalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder. Damit war nun nicht die vollständige Rückkehr zu einem rein privaten Konzept der Sorge intendiert – etwa in dem Sinne, wie der 192 | Hans Vorlä nd e r
deutsche Liberale Thomas Dehler 1956 im Deutschen Bundestag formuliert hatte: »Die Vorsorge für das Alter war von jeher das Königsrecht des freien Mannes gewesen.«14 Gleichwohl markierten die Reformen um die Jahrtausendwende, die in vielen Ländern des nördlichen Europas und auch in den USA implementiert wurden, eine neue Wende im Diskurs um staatliche und nichtstaatliche Konzepte von Sorge.
A n m e r kun ge n 1 R. Koselleck, »Einleitung«, in: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1979, S. XV. 2 J. Stuart Mill, Principles of Political Economy with some of their Applications to Social Philosophy, London 1848; Th. Kuczynski, Das Kommunistische Manifest (Manifest der Kommunistischen Partei) von Karl Marx und Friedrich Engels. Von der Erstausgabe zur Leseausgabe. Mit einem Editionsbericht (Schriften aus dem Karl-Marx-Haus, Bd. 49), Trier 1995. 3 P.-J. Proudhon, Qu’est ce que la propriété? Ou recherches sur le principe du droit et du gouvernement, ed. É. James, Paris 1966. 4 L. von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsre Tage, 3 Bde., Leipzig 1850. 5 Karl Marx über Proudhon, Brief an v. Schweitzer, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, I.20: Artikel, Entwürfe. September 1864 bis September 1867, Berlin 22003, S. 60–68; vgl. auch K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, 1845/46 und F. Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, Paris 1880. 6 Vgl. hierzu v. a. J. T. Kloppenberg, Uncertain Victory. Social Democracy and Progressivism in European and American Thought 1870–1920, New York/Oxford 1986. 7 Die beiden Begriffe sind von G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, Freiburg im Breisgau 1892 übernommen und adaptiert worden. 8 Vgl. zur historischen Durchsetzung Th. H. Marshall, Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt/New York 1992. 9 H. Vorländer, »Transatlantische Reformgemeinschaft an der Wiege des 20. Jahrhunderts«, liberal 30.4 (1988), S. 87ff. und ders., »Auf der Suche nach der gerechten Gesellschaft. Zur ideenpolitischen Tradition des sozialen Liberalismus in Europa und Amerika«, liberal 35.4 (1993), S. 74ff. 10 Zu diesen Entwicklungen vgl. St. Collini, Liberalism & Sociology. L.T. Hobhouse and Political Argument in England 1880–1914, Cambridge u. a. 1979; M. Freeden, The New Liberalism. An Ideology of Social Reform, Oxford 1986; J. A. Hobson, The Crisis of Liberalism. New Issues of Democracy (1909), hg. von P. F. Clarke, Brighton 1974; L. T. Hobhouse, Liberalism (1911), Introduction A. P. Grimes, New York 1964.
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11 Vgl. zu Naumann: P. Theiner, Sozialer Liberalsimus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860–1919), Baden-Baden 1983. 12 Hierzu im Vergleich K. Holl/G. Trautmann/H. Vorländer (Hgg.), Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986; H. Vorländer, Hegemonialer Liberalismus. Politisches Denken und politische Kultur in den USA 1776–1920, Frankfurt a. M./New York 1994. 13 G. Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton 1990. Vgl. auch die Nachweise in M. G. Schmidt, »Wohlfahrtsstaat; Wohlfahrtsregime«, in: ders., Wörterbuch zur Politik, Stuttgart 32010, S. 909ff. (meine Darstellung folgt Manfred Schmidt). 14 Inhalt: Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages, 154. Sitzung vom 27.06.1956 (dipbt. bundestag.de/doc/btp/02/02154.pdf ).
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Georg Kohler
MASERN, MASERATI, MADONNA … Die Sorge im modernen Gesundheitswesen I. Wi e v i e l G e sundhe it brauc ht de r Mensch? „Wie viel Gesundheit braucht der Mensch?« – Der Titel spielt auf eine Erzählung von Tolstoi an; auf die Geschichte vom habsüchtigen Bauern, der sich an einem einzigen Tag zu Tode arbeitet: »Wie viel Erde braucht der Mensch?« Der Bauer stirbt, weil er sich mit allen Kräften um das bemüht, was ihm als das gute Leben erscheint –nämlich eben »zu haben«, sehr viel zu haben, also möglichst alles Land zu haben, das er in einem Tag erpflügen kann. Die Anstrengung ist tödlich. Am Ende braucht er gar nichts mehr. Nur die anderen benötigen ein bisschen Erde, um seine Leiche zu begraben. Der Sinn der Parabel ist klar: Kritik an der menschlichen Neigung zu Maßlosigkeit und Größenwahn; eine Tendenz, die mit der Struktur unseres Selbstbewusstseins grundsätzlich verknüpft zu sein scheint. Direkt oder indirekt kann sie jeder menschlichen Existenz gefährlich werden. Tolstois Geschichte ist eines der sehr vielen Gleichnisse dafür, was bei den alten Griechen Hybris – der Hochmut der Selbstverkennung – heißt. Das Entscheidende all ihrer poetischen Darstellungen liegt nicht darin, zu stoischer Daseinsverachtung zu bewegen. Es sind auch nicht Karfreitagspredigten, die das irdische Dasein als eine Prüfungsfrist zugunsten einer besseren Lebensweise, der Erlösungsform hiesigen Lebens im himmlischen Jenseits, plausibel machen sollen. Es geht durchaus um das, was gutes Leben unter irdischen Bedingungen ausmacht. Nämlich um die Fähigkeit, die richtigen Gleichgewichte zwischen Tun-Wollen und Sein-Lassen zu finden; die Balance in der Anerkennung unserer Endlichkeiten und in der Anstrengung, über sie hinauszuwachsen. Das alles sollte man im Kopf behalten, wenn es um die Frage geht, worin das sinnvolle Maß medizinischer Versorgung und gegenwartsspezifischer, sozialstaatlicher »Sorge« besteht: »Wie viel Gesundheit braucht der Mensch?« Wenn wir ehrlich sind, lautet die spontane Entgegnung: »So viel als irgend möglich!« Insoweit ist sie der Antwort analog, die der tolstoische Bauer durch sein Verhalten gibt. Vielleicht sind wir aber, angesichts seines Schicksals, immerhin bereit, zu relativieren und zu sagen: »So viel Gesundheit, wie sinnvollerweise möglich ist.« Ma s e rn , M ase rat i , M adon n a ... | 195
Bevor ich überlege, was das – sinnvollerweise – bedeuten kann, will ich tun, was von Philosophen üblicherweise erwartet wird: Reflexion auf den theoretischen Hauptbegriff. »Gesundheit« – was ist das eigentlich? Sogleich sind wir auf die berühmt-berüchtigte WHO-Formel verwiesen, wonach Gesundheit als der »Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens« zu definieren sei. Von dieser tollkühnen Umschreibung möchte ich vorerst aber die Finger lassen und Gesundheit nicht material, wie das die WHO-Formel tut, diskutieren, sondern formal. Dies aus dem simplen Grund, dass das Problem der Formel auf der Hand liegt: ihre immanente Unendlichkeit. Die WHO-Formel macht Gesundheit zu einem Hybris-Wort. Durch diese Beobachtung wird etwas von dem sichtbar, was die formale Seite des Gesundheitsbegriffs charakterisiert; seine konstitutive Grenzenlosigkeit im Kontext der condition humaine. Denn es gehört zum Mensch-Sein, nie völlig gesund zu sein, sich aber auf dieses Ideal immer schon bezogen zu haben. Nur darum wurden die ewig gesunden Götter Griechenlands, diese unverwüstlich alterslosen Bewohner des Olymps, erfunden. Oder der christliche Himmel, in dem sogar wir Sterblichen alle das Heil, die endgültige Heilung finden können.
II. Ge s un dhe it al s L et zt be griff Wohin sind wir unterwegs? – Das ist die Frage, die sich beim Blick auf die Idee der Gesundheit im Spiegel des medizinischen Fortschritts aufdrängt. Bei der Betrachtung seines Ganges kann man drei Welten unterscheiden: die »Masern-Welt«, die »Maserati-Welt« und die »Madonna-Welt«. Die zuerst genannte Welt ist historische Vergangenheit; die an zweiter Stelle erwähnte entspricht unserer Gegenwart; die dritte zeigt – vielleicht – die baldige Zukunft. Den drei Welten entsprechen bestimmte gesellschaftliche Praktiken. In der »Masern-Welt« bemüht sich die Medizin, mehr oder weniger erfolgreich, um die Wiederherstellung akut kranker bzw. verletzter Patienten. Was Gesundheit bedeutet, ist unmittelbar klar: Befreiung von einem offensichtlichen Leiden. Die »Maserati-Welt« will dies natürlich auch leisten, aber sie tut es (oder möchte es tun) auf dem neuesten Stand der Wissenschaft und zwar prinzipiell für jede vermutete Besserungsmöglichkeit und grundsätzlich für jeden Patienten oder jede Patientin, ganz egal, welche Eigenschaften diese sonst noch haben. Dass die »Maserati-Welt« eine sehr limitierte Oberfläche besetzt, muss freilich ausdrücklich angemerkt werden. Die spezifischen Probleme, die ihren Regeln erwachsen, können nur in den reichen Gesellschaften der Gegenwartsmoderne vorkommen. Von einer »Maserati-Welt« in Kenia oder Uganda zu reden, wäre so uninformiert wie zynisch. 196 | Georg Kohl e r
Die »Madonna-Welt« schließlich ist diejenige, in welcher die Medizin die immanente Unendlichkeit des formalen Gesundheitsbegriffs systematisch zugunsten der Ausdehnung ihres Wirkungsfeldes ausnutzt; und zwar im Verein mit wirtschaftlich-technischen Entwicklungschancen und getragen von ökonomischen Interessen. In der »Madonna-Welt« erklärt uns die Medizin – frei nach Dr. Knock – für a priori therapiebedürftig, für prinzipiell heil-los und ergo für ewig krank; jedenfalls so lange, solange sie noch nicht eingreift. In diesem Horizont wird selbst das Altern zur Krankheit und die Schrumpfung von allerlei Jugendattributen sowieso. »Tod dem Tod!« und »Forever young!« sind die Parolen, und die Patronin, die den Triumph der Medizin beschützt und überglänzt, ist die scheinbar ewig junge Pop-Artistin mit dem Künstlernamen »Madonna« … Formal betrachtet ist Gesundheit also ein Letztbegriff wie »Glück«. Glück und Gesundheit haben durchaus eine enge Beziehung, insofern Gesundheit normalerweise ein Element dessen ist, was wir mit »Glück« intendieren. Doch was bedeutet »Letztbegriff«? Ich halte mich ans Beispiel »Glück«. »Glück« ist der Name für das umfassende Projekt menschlicher Existenzweise und menschlicher Lebendigkeit, welch Letztere ja immer auf etwas aus ist: auf Liebe, auf Macht, auf Anerkennung, auf Erfüllung irgendwelcher innerer Anforderungen usw. Fragt man nun, warum diese Ziele erstrebt werden, kann die letzte Antwort nur lauten: um zufrieden, um »glücklich« zu werden und zu sein. »Glück« ist also das letzte, umfassende Ziel, das alle anderen Ziele überhaupt erst sinnvoll und als Ziele verständlich werden lässt. Das Gesagte impliziert nicht, dass »Glück« und »Gesundheit« letzten Endes dasselbe sind; ganz und gar nicht. Auf diesen Unterschied wird gleich zu achten sein, doch vorweg ist festzustellen, dass wir erstens Krank-Sein als etwas erleben, das im Prinzip nicht gut und daher zu überwinden ist, Gesundheit also ein Gut darstellt, das als Letzthorizont unserer Wünsche jeden Gesundheitsmangel aufzuheben verlangt; und zweitens, dass wir »volles« Glück letztlich mit Heil-, also völligem Gesund-Sein verbinden. Gesundheit ist mithin Letztbegriff formaler Art in der Weise, dass sie zur menschlichen Lebenssinnvorstellung überhaupt gehört. Indes: Ist Gesundheit darum auch ein »höchstes Gut« (als solches wird sie ja gelegentlich – und in gesundheitspolitischen Debatten mit größter Emphase – bezeichnet)? – Nein, dies gerade nicht! Denn von der Gesundheit als »höchstem Gut« zu reden, hieße dem zu verfallen, was man »Gesundheitsreligion« nennen darf; eine Haltung, die ebenso verbreitet wie, paradox gesagt, »lebensgefährlich« ist. All dies zerrüttend, was nötig ist, um menschliche Lebendigkeit sinnvoll, das heißt mit dem Sinn für ihre natürliche Rhythmik, zu vollziehen. Dazu ein Zitat des Mediziners Manfred Lutz: Gesundheit heisst das Zauberwort. Man muss etwas tun, um gesund zu bleiben, zu werden oder wieder zu werden. Die Inbrunst, mit der man sich darum bemüht, sich dafür aufopfert, Ma s e rn , M ase rat i , M adon n a ... | 197
erinnert an Religion. Die Gesundheitsreligion herrscht schichten-, partei- und konfessions übergreifend in jedem Winkel unserer Gesundheitsgesellschaft. Selbst in den Raucherreservaten, die es noch gibt, raucht man mit schlechtem Gewissen. Auch der Begriff der Sünde wird heute eigentlich nur noch gesundheitsreligiös verwendet. Etwa beim Verzehr von Sahnetorte. Das hat alles allerdings katastrophale politische Folgen. Ein Politiker, der die Absicht hat, auch weiterhin gewählt zu werden, muss Sätze ausstossen, die dem Sinne nach bedeuten: Wir wollen für die Gesundheit nicht weniger als alles tun. Dennoch, für die Krise der Gesundheitssysteme sind nicht Politiker verantwortlich, sondern eine im Gesundheitswahn dahintreibende Gesundheitsgesellschaft, die die Politik immer wieder zu halsbrecherischen Kapriolen aufs Hochseil scheucht. Jede demokratische Gesellschaft hat die Politiker, die sie verdient, und solange wir in allen Geburtstagsreden von Flensburg bis Passau Gesundheit als ›höchstes Gut‹ preisen, müssen wir uns nicht wundern, dass Gesundheitspolitik seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr wirklich stattfindet.1
Weshalb aber ist Gesundheit nicht »höchstes Gut«? – Weil zum menschenmöglichen guten Leben auch das Sich-Einsetzen für andere und für Ideale wie Gerechtigkeit und Freiheit oder, weniger großartig, für Ehre und Ruhm gehören. Ziele, die unter Umständen riskante Taten einschließen, Handlungen, deren Erfolg oft mit dem eigenen Tod bezahlt wird. – Literatur, die Werke aus dem Opernrepertoire, die großen, traurig-schönen Filme von Alamo bis Titanic: Sie alle erinnern immer wieder daran, dass es Situationen gibt, in denen Gesundheit und Leben um jeden Preis nicht mehr die höchsten Güter sind; auch nicht in unserem, wie die Zeitdiagnostiker es nennen, »postheroischen« Zeitalter. »Gesundheit« ist ein Begriff, der formal durchaus den Charakter eines Letztbegriffs hat, mithin ein Ziel bezeichnet, dem wir immer irgendwie verpflichtet sind, allerdings nicht um jeden Preis. Auf diesen Unterschied will ich aufmerksam machen, wenn ich von der formalen Seite den materialen Aspekt der Gesundheit trenne. Und indem ich darauf hinweise, dass Gesundheit nicht »höchstes Gut« im absoluten Sinn ist; ein Wert, dem alle anderen Werte bedingungslos zu unterordnen wären. Eben darum sind Glück und Gesundheit nicht schlicht gleichzusetzen. Gesundheit ist also ein relatives Gut, doch von besonderer Art. Es ist zwar letztes Ziel, aber »hienieden«, für uns irdische Menschen, ist sie »letztes« Ziel allemal in zweiter Priorität. Aus dem Gesagten resultiert eine Bestimmung des Gesundheitsbegriffs, die ich jetzt diskutieren möchte. Gesundheit sei von besonderer Art, aber doch ein relatives Gut. Wenn wir Gesundheit als relatives Gut bestimmen, stellt sich die Frage, welche Instanz für die Regulierung der Relationen zwischen der Gesundheit und den anderen Gütern zuständig ist. Ist es die Politik, ist es die Sitte, die Moral, ist es die Religion? – Ich schlage als Antwort »Selbstsorge« vor. – Was ist darunter zu verstehen? 198 | Georg Kohl e r
III. S e l bs t sorge und We rt ewande l „Selbstsorge« ist ein Begriff, der in der neueren ethischen Diskussion gelegentlich gebraucht wird. Es ist Michel Foucault gewesen, der ihn in den 1980er Jahren des letzten Jahrhunderts prominent gemacht und ihn mit der Idee einer »Ästhetik der Existenz« verknüpft hat.2 Mit ihm wendet sich Foucault gegen ein Konzept von Moral, das für alle Fälle die Regel bereithält, nach der wir uns richten müssen: Moral als Katechismus, der von oben und von außen her sagt, was richtig ist und was falsch. Stattdessen plädiert Foucault für die Möglichkeit moralischer Selbstformung, die sich daran orientiert, dass jeder und jede für sich selber sein/ihr Leben zu leben und es gut und sinnvoll zu gestalten hat. Als (Kunst-)Werk gewissermaßen, das Anfang und Ende besitzt und wohlproportioniert sein muss, will man es als gelungen betrachten. Foucault spricht deshalb ausdrücklich von der »Ästhetik« der Existenz. Er will dadurch deutlich machen, dass wir für unser Leben die Maßstäbe des Richtigen nirgendwoher sonst holen können als aus der speziellen, je eigenen Anlage und Aufgabe, aus der heraus – wie bei der künstlerischen Produktion – die angemessene Form zu entwickeln ist. Und wie der Künstler ist man zwar allein zuständig für das Werk der Selbstgestaltung, doch zugleich dafür verantwortlich, dass es die anderen anspricht und inspiriert. „Selbstsorge« bedeutet nicht »Selbstverantwortung« im Sinn libertärer Egozentrik, keine rabiat eigennutzorientierte Selbstbehauptungspraxis, wie sie von ultraliberalen Markttheoretikern empfohlen wird. Grundlegend für das Konzept der »Selbstsorge« ist die Vorstellung, dass Menschen ihr Leben selbstbewusst und selbstbestimmt zu führen haben; dass zweitens dazu sowohl die Anerkennung der eigenen Zielkonflikte und Wahlnotwendigkeiten gehört wie das Wissen um die eigene Endlichkeit und Befristetheit, und drittens, dass Leben niemals wahrhaft erfolgreich zu führen ist, wenn verdrängt wird, dass wir auch Teil größerer Gemeinschaften sind und in solidarischen Beziehungen zu unseren Mitmenschen stehen. »Selbstsorge« ist mithin nichts anderes als der Name für die Anstrengung, aus unserem Dasein ein Ganzes zu machen, das alle Aspekte menschlicher Lebendigkeit zu umfassen vermag. Das klingt einleuchtend, aber auch abstrakt-unverbindlich. Doch nur auf den ersten Blick; dann, wenn man die Idee der Selbstsorge nicht in konkrete Situationen einführt. Das ändert sich, wenn man sie auf bestimmte Kontexte bezieht; zum Beispiel auf die Situation des normal und mehr oder weniger unspektakulär Alternden. Also in eine Lage, in die wir uns alle früher oder später individuell einfühlen können. Die Idee der Selbstsorge wird also erst dann wirklich hilfreich, wenn man konstatiert, dass ihr praktischer Gehalt situativ zu erfüllen ist. Anspruchsvoll bleibt sie dennoch; nicht zuletzt darum, weil sie durch die Strukturen der gegebenen sozialen Welt nicht gestützt wird. Ma s e rn , M ase rat i , M adon n a ... | 199
In der gegenwärtigen Welt ist die Selbstsorge im skizzierten Sinn nämlich fast nur die Sache der Einzelnen. Die generell geltenden, allgemeinen gesellschaftlichen Orientierungssysteme, diejenigen Wertordnungen, die früher die persönliche Ethik, die subjektiven Verhaltensregulative befestigt haben, unterstützen sie nicht. Aus dem einfachen Grund, weil sie in ununterbrochenem Wandel begriffen sind; in einer Veränderung, die die Einzelnen und ihr Selbstverständnis nicht bestärkt, sondern irritiert und in Frage stellt. Was sind Werte? – Werte sind die Orientierungsmittel der praktischen Vernunft, die uns erlauben, zu unterscheiden zwischen dem Guten und dem Schlechten, zwischen dem Nützlichen und dem Überflüssigen, dem Unerlässlich-Notwendigen und dem Größenwahnsinnigen. Leider sind diese Orientierungshilfen nichts so Festes und Ständiges wie die Fixsterne am Firmament. Werte stehen in unmittelbarem Verhältnis zum jeweils vorhandenen Können und zum aktuellen Vorrat des zeitgeschichtlich Möglichen, das heißt zu den gesellschaftlichen Chancen, die realisierbar sind, wenn wir uns fragen, was wir wollen, sollen und was wir nicht tun dürfen. Werte sind kollektive Leithinsichten, doch sie sind zugleich abhängig von historisch sich mehr oder weniger rasch verändernden zivilisatorischen Voraussetzungen sowie von sozialen Strömungen. Sie bilden ebenso die Fundamente persönlichen und kollektiven Verhaltens wie sie »Effekte und Wirkungen« übergreifender Prozesse und Vorgänge sind. Um es mit einem Bild zu sagen: Werte (nicht unbedingt alle, aber weitaus die meisten) sind Leuchttürme, die auf Flossen im Meer der historischen Bewegung stehen. Je stürmischer der Wind des Fortschritts bläst, desto unsicherer darum ihre Orientierungsleistung. Damit ist man bei den Gründen und Problemstellungen angelangt, die sich zeigen, wenn ernsthaft überlegt wird, warum wir – bei allem Lob der Selbstsorge – schnell in größte Verlegenheit geraten, wenn es um Dinge wie Gesundheit und medizinische Versorgung geht. Im Folgenden will ich auf eine paar elementare Tatsachen hinweisen, die erklären, weshalb diese gegenwartsmoderne Sorge, die den scheinbar harmlosen Namen des »Gesundheitswesens« trägt, für ein Thema steht, das uns alle fast zwingend überfordern muss. Die Tatsachen sind: (a) Es ist historisch ziemlich neu, dass es besser ist, zum Patienten professioneller Medizinalbetreuung zu werden, als nicht in die Hände der Ärzten zu fallen. (b) Deshalb gibt es historisch kaum anschlussfähige Erfahrungen dafür, wie etwa Markt und Gesundheitswesen erfolgreich zu verbinden wären. (c) So, wie früher ein allen Menschen zugängliches Recht auf die mögliche Erlangung ewigen, freilich jenseitigen Lebens garantiert war, so soll den Menschen (das glauben jedenfalls Angehörige der postchristlich-säkularisierten Welt) das Recht auf ein möglichst ausgedehntes irdisches Dasein gesichert werden. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird aus dem Gesundheitswesen schnell eine »Gesundheitsreligion«. 200 | Georg Kohl e r
Die beiden ersten Feststellungen betreffen historische Fakten, die dritte These bezieht sich auf die aktuell verbreitete normative Einstellung. Alle drei Tatbestände zusammen sorgen angesichts der Frage nach der finanziellen Sicherung von (c) für die bekannten Diskussionsschwierigkeiten. Dass Selbstsorge, die ja – gemäß obiger Umschreibung – den Sinn für die Beschränktheit der eigenen Vitalität und Lebensdauer enthält, soziologisch betrachtet eine eher unwahrscheinliche Leistung darstellt, ist nun durch die drei Thesen zu verdeutlichen.
IV. Vo n de r »M ase rn«- zur »M adonna-Welt« De facto, so versichern uns die Medizinhistoriker, konnten Ärzte früher nur sehr wenig für ihre Patienten tun. Darum war die generelle Einstellung gegenüber der Krankheit so etwas wie ein stoischer Fatalismus, den man durch religiöse Überzeugungen (oder durch Aberglauben) zu bewältigen suchte – und ab und zu sogar in echte Weisheit zu verwandeln vermochte. Eine allgemeine Gesundheitsversorgung existierte nicht, aus der Volksmedizin erwuchs bisweilen eine Art von Gemeinschaftsversorgung auf lokaler Ebene3, aber die Gilde der Ärzte war daran nicht besonders interessiert. Liest man die Akten von Krankheitsgeschichten und Behandlungsberichten (etwa der französischen Könige), war es eher ein Glück, nicht von allzu viel ärztlicher Zuwendung behelligt zu werden. Louis XIV. beispielsweise wurde ein erbarmungswürdiges Opfer der damaligen Heilkünstlerzunft. Man riss ihm sämtliche Zähne aus, verletzte dabei den Gaumen so schwer, dass dort ein Loch entstand, was fortan dazu führte, dass der roi soleil beim Essen die mit dem Mund aufgenommenen Nahrungsbrocken gelegentlich wieder durch die Nase auswarf. Was also für die Zeit vor dem 19. Jahrhundert feststeht, sind sowohl die medizintechnische Ohnmacht der Gesellschaft als auch die dazu passende Ethik und Moral des Ertragens solcher Plagen wie Seuchen, Gebrechlichkeit und früher Tod sowie drittens das sozialpolitische/sozialstaatliche Nichtvorhandensein von Solidarsystemen im Bereich von Gesundheitspflege und Krankenversorgung. Die Werte, die unter diesen Umständen gelten, sind die Werte der Demut, des Umgangs mit dem knappen Gut des Glücks, noch nicht siech zu sein, des Vertrauens auf Heil und Heilung im Jenseits und natürlich die Werte der familialen Kleingruppenethik. Sterben war keine einsam-anonyme Sache im Spitalbett, sondern eine Angelegenheit von halböffentlicher, ziemlich streng ritualisierter Form. Das alles ändert sich dramatisch mit der ungeheuren Erweiterung der menschlichen Handlungsvermögen durch Wissenschaft, Technik, industrielle Wirtschaftsform und liberaldemokratische Staatlichkeit, also durch die Expansion der prometheischen Menschenmacht, die nach der Französischen Revolution im 19. Jahrhundert Ma s e rn , M ase rat i , M adon n a ... | 201
beginnt und die sich seither nicht bloß fortsetzt, sondern noch ständig beschleunigt. Kennzeichnend für die Gegenwartsmoderne sind darum gerade die konträren Entwicklungen zu den stabil-uralten Verhältnissen der Zeit vor Semmelweis, Virchow, Pasteur, Koch und wie sie sonst geheißen haben mögen. An die Stelle ärztlicher Ohnmacht tritt medizinisch relevantes Wissen und Können, tritt die auf den menschlichen Leib gerichtete Macht von moderner Wissenschaft, Technik und Industrie. An die Stelle einer Ethik der Knappheit tritt eine Moral der Chancen und des Überflusses. Und an der Stelle familialer Strukturen bilden sich die Systeme des demokratisch legitimierten Wohlfahrtsstaates aus. Unweigerlich verknüpft mit diesen Umstellungen ist aber in allen drei Bereichen – im Bereich des Könnens (Wissenschaft und Technik), des Sollens (Ethik und Werte) und des Verteilens (Politik und Wohlfahrtsstaatlichkeit) – das Problem der Grenzen, genauer gesagt: das paradoxe Problem von Grenzen, die gleichzeitig als verschiebbar-fluide und dennoch als gefährlich nahe und scharfe Klippen erscheinen. (Das ist mein zweites Bild für das heutige Orientierungsproblem, das ich zuerst mit der Metapher der auf Flöße gestellten Leuchttürme im Sturm zu fassen versucht habe.) Kein Wunder also, dass wir in solcher Lage nervös werden: Die Ethik der Knappheit passt gut zur »Masern-Welt«, doch auch in der »Maserati-Welt« mit ihrer Ethik der Chancen gibt es Grenzen, Klippen und zerstörerische Strudel; nur verschieben sich diese dauernd so rasch, dass uns schwindlig wird … Es ist evident, dass das Thema der Aufhebung scheinbar unverrückbarer, natürlicher Begrenzungen der menschlichen Tatmacht durch die moderne Wissenschaft und Technik wie von selbst in die Bereiche der Moral, der Werte und der Politik hinüberführt. Das ist einfach zu begreifen – und wenig beruhigend. Ungemütlich wird es nämlich, wenn man die Zusammenhänge genauer analysiert und dabei die Interferenzen nicht außer Acht lässt, die zwischen den drei, zunächst getrennt eingeführten Bereichen des Könnens (Wissenschaft und Technik), des Sollens (Ethik) und der Politik spielen. Das anwachsende Können bringt unvermeidlich die Moral der Knappheit – die Moral der permanenten Konfrontation mit den Fakten menschlicher Endlichkeit – zum Verschwinden und schafft dadurch Platz dafür, was wir »Hedonismus«, »Individualismus«, »Perfektionismus« nennen. Was alles freilich geschieht, ohne die Grundtatsache abschaffen zu können, dass wir Menschen am Ende eben doch Menschen, endliche Wesen bleiben und nicht unsterbliche Götter sein können. Man könnte diesen Übergang von der Moral der Knappheit zur Ethik der Chancen in vielerlei Perspektiven erörtern, in denen sichtbar wird, wie sehr durch die Handlungsfreiheiten der Moderne das Problem der Grenzsetzung vergrößert wird. Nennen will ich von diesen Perspektiven nur zwei: die Konsequenzen für die Idee kollektiver Solidarsysteme und die charakterverändernden Folgen der Erfah202 | Georg Kohl e r
rung des (scheinbar grenzenlosen) Fortschritts in eine offene Zukunft. Beide Wirkungen kommen darin überein, dass sie einerseits den irdischen – also befristeten – Daseinssinn der menschlichen Existenz betonen und zugleich die Illusion der Parole »Forever young« befeuern. Was das für den Betrieb des Gesundheitswesens als einer öffentlich-solidarischen Gesellschaftspflicht bedeutet, lässt sich unter dem Stichwort der »Umstellung von der Seel- zur Körpersorge« skizzieren: Dass die Kirche allen Menschen in der Weise zugänglich sein muss, dass sie mit ihrer institutionellen Hilfe in den »Himmel« kommen können, das war der Basiskonsens der vormodernen Gesellschaft im christlichen Europa. Heute, da der Glaube ans ewige Leben nicht mehr recht trägt, ist an dessen Stelle der Glaube an die möglichst lange irdische Existenz getreten. Und so wie die Institution zugunsten des Lebens-in-Ewigkeit für jedermann da war, so soll nun eben auch die Institution zur Erlangung möglichst langer irdischer Lebensdauer für alle Menschen offen sein. Die Urhoffnungen der menschlichen Seele auf Erlösung werden nun nicht mehr am »Himmel« festgemacht, sondern am Eingang (genauer gesagt: am Ausgang) der »Wiederherstellungsanstalt für physiologische Perfektion«, zu deren Endfigur und Vollendungsform irgendwann nicht mehr der normale Spital zählt, sondern die Schönheitsklinik mit »Madonna« als Schutzpatronin. Weil dem Menschenwesen ein unstillbarer Drang nach grenzenloser Steigerung der eigenen Selbstmacht und nach absoluter Vollkommenheit innewohnt, bedeutet die durch die Fortschrittserfahrung ermöglichte Umstellung von der Moral der Knappheit zur Ethik der Chancen für das Gesundheitswesen fast unausweichlich die Inbetriebnahme einer gewaltigen sozialen und ökonomischen Wunschmaschinerie. Es kommt zur Fabrikation immer neuer Sehnsüchte und ihrer Erfüllungsversprechen; jener Kreislauf setzt ein von Bedürfnisanreizung, vorläufiger Befriedigung und erneuter Frustration, den wir als Kinder der Marktwelt und ihrer Konsumparadiese nur allzu gut kennen. Dass diese Logik nicht nur auch, sondern erst recht dort wirkt, wo es um unser physisch-irdisches Wohlsein und Glück geht, ist klar – damit auch, weshalb der Weg von der »Masern«- zur »Maserati-Welt« und weiter in den zutiefst illusionären Madonnahimmel hinein treibt.
V. Se l bs t s orge , Sol idarit ät und Suf fizi enz pri nz i p Das von der Dynamik des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und den Logiken der Marktwirtschaft angetriebene Gesundheitswesen muss immer teurer werden bzw. immer mehr kosten. Dass das nicht nur Nachteile hat, ist jedem einleuchtend, der nach den Treibern ökonomischen Wachstums sucht. Nun gehört zur Entwicklungslogik der gegenwärtigen, »postindustriellen«, »informationsgesellschaftlichen« Sozialwelt notwendigerweise ein schärferes Heraustreten der Ma s e rn , M ase rat i , M adon n a ... | 203
materiellen Ungleichheiten und der Unterschiede in den Lebenschancen, die mit den verschiedenen sozialen Gruppen verbunden sind. Die vergleichsweise egalitäre Sozialstruktur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwandelt sich in ein tendenziell inegalitäres Schichtensystem. Nur im Gesundheitswesen darf das in keiner Weise anerkannt werden – jedenfalls dann nicht, wenn man die Idee des gleichen Anspruchs auf das »ewige Leben« auf die Versprechungen und Chancen der Medizin überträgt. Was zur Folge hat, dass alle Diskussionen über Gesundheit, Gesundheitswesen und Gesundheitskosten ziemlich unmittelbar in eine politische Auseinandersetzung über den Sozialstaat und dessen Ausgestaltung münden. Das ist eine Tatsache, die in unserem Kontext ein Thema der politischen Praxis par excellence auftauchen lässt: das Thema »Selbstsorge und soziale Verantwortung«. Das ist nun allerdings eine so große Sache, dass ich abschließend nicht viel mehr als ein paar Gedanken über die schlichte Notwendigkeit, ihm nicht immer auszuweichen, äußern kann. Denn offensichtlich ist Verdrängen und Ausweichen das, was geschieht; auf allen Ebenen – auf der der Politik, der Ökonomie und auch auf der Ebene der Ethik. Es ist evident, dass mit dem Thema »Selbstsorge und soziale Verantwortung« oder: »Sinn und Grenzen des Sozialstaates« schwierigste Verteilungsfragen verbunden sind und dass dabei das Schreckwort der »Zwei-Klassen-Medizin« nicht mehr zu verdrängen ist. Aber ist Selbstsorge – in der Weise, wie ich ihren Sinn umschrieben habe – etwas so völlig Irreales, dass es aussichtslos erscheint, über ihre mögliche Wirksamkeit genauer nachzudenken? Man braucht ja die Fähigkeit der Menschen nicht allzu pessimistisch zu beurteilen, das eigene Leben bedacht und in Anerkennung seiner Grenzen zu führen. Grenzen, die einen nötigen, auf das Wohlwollen der anderen zu achten und auf die eigene Sterblichkeit ebenso. Also zu verwirklichen, was Selbstsorge eben bedeutet.4 Selbstsorge verlangt vor allem, dass nicht und nichts verdrängt wird, wenn wir uns mit unserer je eigenen Existenz beschäftigen und mit der gegenwärtigen Gesellschaft, in der wir sie zu vollziehen haben. Was zur Konsequenz hat, dass alle Fragen, die mit Altern, Pflegebedürftigkeit und Sterben zusammenhängen, zu Katalysatoren praktischer Einsicht in die individuelle Hinfälligkeit werden können und werden müssen. Knappheit, Endlichkeit der Ressourcen, das sind heute in vielerlei Hinsicht Gegenstände öffentlicher und privater Reflexion geworden. Warum soll ausgerechnet die subjektiv aufdringlichste dieser Knappheiten, nämlich die der persönlichen Lebenszeit, unserer allgemeinen Bereitschaft zur Nachdenklichkeit entzogen bleiben? Freilich braucht es dafür auch stets wieder Anstöße und Anlässe, doch die sind ja nicht schwer zu finden. Am leichtesten wohl im Bereich dessen, was »Sozialstaatlichkeit« heißt und staatlich garantierte »soziale Verantwortung«. 204 | Georg Kohl e r
Wer sich damit beschäftigt, gerät rasch ins Minenfeld aller Fragen der sozialen Gerechtigkeit – und damit natürlich in die Todeszone jeder Argumentation, die mit dem Alarmbegriff der »Zwei-Klassen-Medizin« markiert ist. Um den Ungeheuern dieser Todeszone nicht zu begegnen oder von ihnen nicht gefressen zu werden, bleibt in unserer »Maserati-Welt«, so scheint es, im Grunde nichts anderes übrig, als bedingungslos zu versichern, natürlich müssten, unter medizinischen Gesichtspunkten betrachtet, alle alles vom Feinsten bekommen. Jede andere Antwort erscheint von vornherein als moralisch falsch und ist verheerend für die eigene Position im öffentlichen Diskurs. Ist dies also – »Alles für alle vom Besten!« – das Leitprinzip, dem wir uns zu unterwerfen haben, wenn wir fragen, was soziale Verantwortung und sozialstaatliche Solidarität bedeuten? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es tatsächlich sehr häufig so zu sein scheint: Über kurz oder lang steckt man in der argumentativen Falle, entweder Fürsprecher des »Alles-für-alle-vom-Besten« zu sein oder dann der herzlose Advokat der Ungerechtigkeit. Darüber hinaus habe ich den Eindruck, dass sehr viele Akteure des Gesundheitswesens kein Interesse daran haben, der »Maserati-Welt« und ihren Aporien zu entkommen. – Sie verdienen zu gut an allen Blockaden in dieser Frage, und solange es möglichst ist, die Krankenkassenprämien immer wieder anzuheben und fürs Ungedeckte den Staat zahlen zu lassen, gibt es für sie keinen Grund, einen Ausweg zu suchen … Business as usual, das ist eine Maxime, die in vielen präkatastrophalen Zusammenhängen gilt – in der Klimapolitik, beim Ressourcenverbrauch, im Umgang mit den Massen der wirklich Armen jenseits der Grenzen unserer Wohlstandsregionen. Im Blick auf diese Verhaltensform wird man immer wieder an einen bösen Witz erinnert – an den des Mannes, der aus dem 100. Stock des Hochhauses springt und auf der Höhe von Stock 99 erklärt, bis jetzt sei doch alles ganz gut gegangen. Will man anders handeln, dann sollte als erste Pflicht die zur Nichtverdrängung anerkannt werden. Was im gegebenen Zusammenhang bedeutet, dass auch der Sozialstaat und seine Finanzierbarkeit vernünftigerweise zu respektierende Grenzen besitzen. Zweitens ist festzustellen, dass der Sozialstaat nicht auf einer einfachen Gleichheitsideologie basieren kann, sondern dass er sich an das »Suffizienzprinzip« halten muss. Dieses ist eine Norm der Solidarität, aber eine, die sich zugleich am Gedanken der Nachhaltigkeit orientiert. Ich zitiere Wolfgang Kersting: Der Sozialstaat ist dazu da, dass jeder Bürger genug bekommt [Hervorh. v. Vf.]. Zu Recht hat man daher in dem Konzept der Suffizienz den normativen Orientierungsbegriff der Solidarität erblickt und es als überlegene Alternative zum Gleichheitsideal des Egalitarismus betrachtet. Daher wäre die Aufgabe des Sozialstaates nicht erst dann beendet, wenn die grösstmögliche sozio-ökonomische Gleichheit erreicht ist, die mit den Kontinuitätsbedingungen des Marktssystems eben noch verträglich ist. Sondern bereits dann, wenn eine ausreichende Ma s e rn , M ase rat i , M adon n a ... | 205
Versorgung aller gewährleistet ist, würde sich der Sozialstaat als überflüssig erweisen. Auch der solidaritätsbegründete Sozialstaat reagiert auf Ungleichheit; aber weder erregt ihn die Ungleichheit als solche noch die, die durch die moralisch willkürlichen Begabungsdifferenzen und Unterschiede des Herkommens erzeugt wird. Der Suffizienztheoretiker weigert sich, Gleichheit und Ungleichheit zu moralisieren; […] Nicht Ungleichheit ist für ihn ein moralischer Skandal, sondern Not, Unterversorgung.5
Das Suffizienzprinzip ist eine Norm der Solidarität, aber eine, die sich auch am Gedanken der Nachhaltigkeit orientiert. Gewiss, das Zitierte bezeichnet eine äußerst allgemeine Vorstellung. Doch können wir einfach in den Wind schlagen, was Kersting – und viele andere – im Hinblick auf den Sozialstaat in Erinnerung ruft? Und können wir tatsächlich ein für allemal darauf verzichten, das Suffizienzkriterium auch auf dem Feld der Gesundheitspolitik anzuwenden? Angesichts der vielfältigen Versuchungen, in die illusionären Paradiese der »Madonna-Welt« auszuwandern? Ist es denn wirklich falsch, auf die Frage »Wie viel Gesundheit braucht der Mensch?« mit der trockenen Antwort »Nicht die der WHO-Formel, aber jedenfalls genügend« zu replizieren? Und ist es verkehrt, wenn man aufgefordert wird zu erläutern, was das konkret meinen soll, mit Beispielen zu entgegnen, die unübersehbar machen, dass gerade das Suffizienzprinzip heute immer wieder verletzt wird? Es gibt dafür ja Beispiele (und einige kenne ich persönlich) und wenn man solche selber findet, dann kann man diese mit den eigenen Erfahrungen vergleichen – um zu diskutieren, ob das Suffizienzprinzip nicht doch irgendwie funktionieren könnte. Womit wenigstens eine erste Anleitung für die Suche nach der Antwort auf die Ausgangsfrage »Wie viel Gesundheit braucht der Mensch?« gefunden wäre.
A n m e r kunge n 1 Die Zeit, 17.4.2008, S. 45f. 2 Vgl. dazu: Zur Genealogie der Ethik. Interview mit Michel Foucault, in:H.L.Dreyfus/P. Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a.M., 1987, S. 265ff. 3 Vgl. Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M/New York 1992 4 An dieser Stelle möchte ich vor einer Schlussfolgerung noch einmal ausdrücklich warnen; nämlich dass ich nicht einer »Selbstverantwortung« das Wort rede, die von jenen Libertären immer wieder empfohlen wird, die vom Gedanken besessen sind, dass soziale Transferleistungen möglichst zu vermeiden und dass die Lebensrisiken und der Umgang mit ihnen ganz allein die Sache des einzelnen Individuums sind und sein sollen. 5 W. Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart 2000, S. 385f.
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Alois Hahn
SORGE UND SELBSTSORGE Ein Beitrag der empirischen Soziologie zu einem nicht nur philosophischen Problem. 1. All ge m e ine t e rm inol ogisc he Vorüberlegungen Der Ausdruck »Sorge« zeigt im Deutschen auf zwei Bedeutungsrichtungen, die aber eng verbunden sind. Zunächst drückt sie ein Gefühl der Bedrohung durch ein innerweltliches Übel oder bisweilen auch durch eine jenseitige Gefahr aus, und zwar für sich, für andere oder bestimmte Weltzustände. Es kann also zum Beispiel um die Gesundheit, das Leben, das Heil oder die Umwelt gehen. Die Liste ist jedenfalls nahezu unendlich lang. Als solches ängstliche oder furchtsame Gefühl oder als Stimmung handelt es sich erst einmal um einen psychischen Zustand, in dem das eigene Selbst oder das, woran es hängt, worum es ihm geht, auf dem Spiel steht. Eine ähnliche Struktur weist im Übrigen auch das Wort »Kummer« im Verhältnis zum Wort »sich bekümmern« auf. Das Wort »Bekümmernis« kann dabei sowohl den Grund als auch die emotionale Folge des Kummers meinen. Die Heidegger’schen Überlegungen zu seiner Theorie der Sorge, auf die ich nachher noch zu sprechen komme, scheinen übrigens von den Gedanken Kierkegaards zur »bekymring« auszugehen1. Ich will diesen Typ von Sorge, die sich sorgt, weil sie nichts besorgen kann, als ersten Typ von Sorge bezeichnen. Dieses Gefühl der Sorge kann auch eine kollektiv empfundene Stimmung sein. Düstere Ahnungen werden dann zu Atmosphären, die ganze Epochen charakterisieren. Man sorgt sich nicht als Einziger um den Ausbruch der Pest, eine große Hungersnot oder eine kosmische Katastrophe, die aber als nicht abwehrbar erscheint. Unter aktuellen Bedingungen werden solche Sorgen typischerweise medial inszeniert. Sie charakterisieren dann nicht unbedingt die Epoche, sondern werden zu politischen oder ideologischen Erkennungsmelodien durchaus identifizierbarer zum Beispiel ökonomischer Interessen: Kommunizierte Sorgen und Untergangsphantasien als Kampfparolen, die die Sorgen bestimmter Klassen als universale Bedrohung stilisieren. Was früher die Aufgabe von Propheten oder Bußpredigern war, ist heute oft die spezieller intellektueller Akteure, die ihren Zuhörern oder Lesern Sorgen injizieren. Kollektive Sorgen stellen sich stets durch Kommunikation ein. Deren Form variiert allerdings epochal. Sorg e u n d Se l bst sorg e | 207
Sorgen dieser Art können sich auch auf die Vergangenheit beziehen. Deren Interpretation ist stets umkämpft. Ausgehandelt wird aber ihre Gültigkeit immer im Hier und Jetzt. So hat bekanntlich Jürgen Habermas einer bestimmten Gruppe deutscher Historiker während des so genannten Historikerstreits vorgeworfen, sie betrieben die »Entsorgung« der nationalsozialistischen Vergangenheit. Dieser Kampf um die »öffentliche Weltauslegung« verschärft sich allerdings, wenn es um die Zukunft geht. Die Zukunft, um die wir uns sorgen, ist immer eine »gegenwärtige« Zukunft. Trotz der Tatsache, dass Sorgen immer nur im Gegenwärtigen operativ sind, deshalb aber trotzdem Vergangenes thematisieren können, ist gleichwohl ihr zentrales Thema immer die Zukunft. Das stimmt selbst dann, wenn man nicht mit Heidegger als zumeist verborgenen und feige verdrängten Urgrund aller Sorge den je eigenen Tod und die Angst vor ihm annehmen möchte, wenn man also – sozusagen – den Standpunkt des »Man« vertritt. Das von Heidegger als Signum der existenziellen Eigentlichkeit identifizierte »Vorlaufen in den eigenen Tod« bleibt eine Metapher, die räumlich Mögliches ins Zeitliche transponiert. Wir können in dem von Heidegger gemeinten Sinn gerade nicht in unsere Zukunft »vorlaufen«. Der Ausdruck selbst entspringt übrigens, bevor er zum Bestandteil dessen wurde, was Adorno als den »Jargon der Eigentlichkeit« angriff, dem Jargon des Militärs während des Ersten Weltkrieges. »Vorlaufen in den Tod« meinte das Vorpreschen der Soldaten in das feindliche Feuer, hatte also einen örtlichen, keinen zeitlichen Sinn. Was das Dasein allerdings auszeichnet, ist, dass es sich imaginativ und sorgenvoll, fröhlich oder in Angst mögliche Zukünfte vergegenwärtigt. Aber es bleiben eben gegenwärtige Zukünfte, wie Luhmann das genannt hat. Übrigens in erkennbarer Parallele zu Augustins Konzeption der Zeitlichkeit in den Confessiones. Sorge kann also die individuelle Stimmung sein, die sich angesichts möglicher Bedrohungen einstellt, denen man tatenlos zusehen muss, weil man sie nicht abwenden kann, angesichts von Bedrohungen immerhin, die nicht unbedingt Wirklichkeit werden müssen. Das ist – wie gesagt – der erste Typ von Sorge. Sorge kann aber auch den mehr oder minder entschlossenen Versuch implizieren, einem Übel zuvorzukommen oder ihm abzuhelfen, also dafür zu sorgen, dass etwas gar nicht erst geschieht oder zustößt oder jedenfalls nicht mehr passiert, und zwar kann sich die Sorge dann wieder auf den Sorgenden selbst beziehen, auf andere Menschen oder die Umwelt. Auch hier handelt es sich also erneut um eine gegen unendlich gehende Zahl möglicher »Sorgen«. Das also wäre der zweite Typ von Sorge. Er stellt aber zunächst ebenso eine individuelle Sorge dar wie der erste Typ. Es geht aber um eine gewissermaßen aktive Sorge, Vorsorge und Fürsorge, die auf Sorgen vom ersten Typ gleichsam reagiert, eingreift oder zu verhindern sucht, dass sie sich einstellen, und zwar bis hin zu jener faustischen Attitüde der modernen Wissenschaft und Technik, die die Zustände als Herausforderung begreift, sie zu ändern 208 | Alois Hahn
oder gar neue Welten zu schaffen, in denen wir uns »keine Sorgen« mehr machen müssen. Es ist die Sorge um Zukünftiges, wie sie alle Planer und politische oder religiöse Visionäre auszeichnet. Sie wirkt aber auch als schlichtes Movens im alleralltäglichsten Bereich. Vom Sparer bis zu dem, der an eine Diät glaubt, findet sie sich. Wir könnten unser Leben gar nicht führen ohne diese ständige Sorge ums Nächste und Trivialste. Es handelt sich also um eine aktive Sorge, die buchstäblich von den Besorgungen für den täglichen Lebensbedarf bis hin zu den kleineren und größeren Sorgen reicht, die sich zum Beispiel um Anerkennung und Aufstieg drehen, um Erfolg und Beschämung, Glück im Spiel oder in der Liebe, um Gesundheit und Krankheit, die unsere everyday-world prägen. Jeder Werkzeuggebrauch steht immer im Kontext besorgender Praxis. Ich weiß nicht, ob die Heidegger’sche Fassung dieses Zusammenhangs die Einsicht in das, worum es geht, für jeden vertieft oder eher verrätselt. Aber zumindest ein Zitat sei gestattet: Für die Analyse des nächstbegegnenden Seienden ist es zwar schon ein wesentlicher Gewinn, wenn der spezifische Zeugcharakter dieses Seienden nicht übersprungen wird. Es gilt aber, darüber hinaus zu verstehen, daß der besorgende Umgang sich nie bei einzelnem Zeug aufhält. Das Gebrauchen und Hantieren mit einem bestimmten Zeug bleibt als solches orientiert auf einen Zeugzusammenhang. Wenn wir z. B. ein ›verlegtes‹ Zeug suchen, so ist dabei weder lediglich noch primär nur das Gesuchte in einem isolierten ›Akt‹ gemeint, sondern der Umkreis des Zeugganzen ist schon vorentdeckt. Alles ›zu Werke Gehen‹ und Zugreifen stößt nicht aus dem auf ein isoliert vorgegebenes Zeug, sondern kommt aus der je schon erschlossenen Werkwelt im Zugriff auf ein Zeug zurück.2
Man könnte vielleicht auch als etwas weniger philosophisch Beschlagener zu übersetzen versuchen, dass Gebrauchsgeräte, also das, was Heidegger »Zeug« nennt, immer schon gefundene Antworten der Sorge auf Probleme sind, in deren meist nicht reflektierter Bewältigung unser alltägliches Dasein besteht. Ob es dabei, wie Heidegger meint, zumindest implizit, in jedem Augenblick um das Dasein als Ganzes geht, möchte ich nicht entscheiden. Dass aber alle »Zweckzusammenhänge« – im Sinne Diltheys – eingebettet sind in den »Teppich des Lebens«, wird man zwar nicht leugnen wollen. Aber mit jedem solchen einzelnen Zweckzusammenhang als Ausdifferenzierung ist eben immer auch eine Interdependenzunterbrechung verbunden, die es gerade ermöglicht, nicht alles Eigentliche im tapfer sich ängstigenden »Vorlaufen in den Tod« zu sehen.
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2. In s t i tut ional isie rt e Sorge und d i e Rolle des Staates Es ist nun gerade dieser zweite Typus der Sorge, der immer wieder auch zu kollektiven Anstrengungen, Fürsorgeeinrichtungen, Vorsorgemaßnahmen usw. führt. In diesem Sinne kann Sorge dann zur institutionellen Aufgabe großer Organisationen bis hin zum Staat werden. Dieser erscheint im Laufe der letzten hundert Jahre, und zwar nicht nur in Deutschland oder in Europa, nicht mehr nur als Legitimitätsmonopolist für die Anwendung physischer Gewaltanwendung, wie ihn Max Weber charakterisiert hatte. Vielmehr wird er zur letzten Adresse, zum Generalbevollmächtigten und zur ultimativen Verantwortungsquelle für die Sorge um das Wohl seiner Bürger. Wenn man sich die Entwicklung der institutionalisierten Sorge seit dem Beginn der Neuzeit und verschärft seit dem 19. Jahrhundert vor Augen hält, so führt die Linie – trotz nicht zu leugnender Gegentendenzen – immer stärker von privater Vor- und Fürsorge in die Richtung eines allzuständigen Wohlfahrtsstaates oder wie es im Französischen bisweilen heißt: Der Staat wird zum État de Providence oder zum État de Bienêtre. Das heißt natürlich nicht, dass private Fürsorge ihre Bedeutung verliert. Im Gegenteil! Sie wird aber zunehmend lediglich als subsidiär zur öffentlichen Zuständigkeit gesehen und zugelassen und unter Kuratel des Staates gestellt, der sie bisweilen direkt anordnet und ihre Formen vorgibt. Man denke etwa an so genannte »Vorsorgeuntersuchungen« oder die Verknüpfung staatlicher Versorgungsleistungen mit privaten Vorleistungen. Trotzdem ist die dominante Richtung nicht zu übersehen. Ich will zur Veranschaulichung nur ein Beispiel erwähnen: Die Bismarck’sche Einführung der Rentenversicherung sah keinesfalls vor, dass der Rentner seinen Lebensunterhalt zu 100% aus der Rente bestreiten sollte. Die Hälfte des Nötigen sollte von der Familie getragen werden. Die Gründe für diesen Wandel sind vielfältig und hier zunächst nicht zu diskutieren. Es geht mir erst einmal lediglich um den Hinweis auf eine Tendenz.
3. D i e Karrie re de s Sorge be grif fs Diese Entwicklung ist historisch einzigartig. Auch das Avancement der Sorge zu einer bedeutenden Kategorie der Philosophie ist vergleichsweise rezent. Margarete Kranz verweist darauf, dass der Begriff seine primären Wurzeln im Okzident eher im theologischen Bereich hatte und nennt als »das wirkmächtige Zeugnis zum Thema Sorge« die Bergpredigt: Diese mahnt dazu, sich nicht ängstlich um den morgigen Tag zu sorgen […]. Nach biblischem Zeugnis wird der Mensch zu sich befreit, indem er Gott die Sorge anheimstellt. 210 | Alois Hahn
Der Rat, alle Sorgen auf den Herrn zu werfen […], wird zu einem wesentlichen Bestandteil christlicher Anthropologie: Sic etiam vivimus non in cura sed in reiectione curae […] heißt es in Rekurs auf Ps. 127,2 bei M. Luther. Nicht die täglichen Besorgungen, die erbeyd und mühe, werden verworfen; sondern die sorge aber ist widder Gott. Geboten indessen ist aber die Sorge, die aus der Liebe kommt.3
Auch bei Kierkegaard ändert sich an dieser Bewertung nichts Wesentliches, wichtig ist allerdings die Verzeitlichung des Konzepts, an der Heidegger anschließt: ›Alle irdische und weltliche Sorge (bekymring) geht im Grunde auf den morgenden Tag.‹ Diese Sorge ist ›Selbstplagerei‹ (›selvplagelse‹). Während der gläubige Christ ein ›Gegenwärtiger‹ ist, der ›den Tag heute mit dem Ewigen erfüllt‹, ist der Heide ein ›Selbstplager‹, der weder im Heute noch im Morgen wirklich ›lebt‹ und so sein Selbst verliert.4
Die These der Autorin in Bezug auf die Bedeutung der Kategorie der Sorge in der Tradition: Bis zum 20 Jh. war Sorge weniger ein philosophischer Begriff als ein Thema der christlichen Homiletik […]. Erst durch M. Heideggers Analyse des Daseins, in dem der Begriff der Sorge als Existenzial eine systematische und für die Fundamentalontologie methodisch zentrale Rolle zukommt, wird aus der Bezeichnung eines allgemein menschlichen Phänomens ein philosophischer Begriff.5
Sucht man nach einer Erklärung für den Erfolg Heideggers in diesem Kontext, fällt sicher auf, dass er eben viele der Einsichten, die Husserl in seiner Analyse der Intentionalität bereits gewonnen hatte, nun mit eher emotional aufgeladenen Termini überhöht, so dass der Generation derer, die aus dem Ersten Weltkrieg kamen, dem Tod ins Auge geschaut hatten, Philosophie als nicht nur intellektuell interessant, sondern als lebensweltlich relevant erscheinen konnte. Der »Jargon der Eigentlichkeit« (Adorno) als Aufmerksamkeitsverstärker. Pierre Bourdieu verweist umgekehrt darauf, dass es eine durchgehende Darstellungsfinte Heideggers sei, Ausdrücke aus dem alltäglichen Verwaltungsjargon wie zum Beispiel eben »Fürsorge« durch Etymologisieren gleichsam aufzuwerten. So wird das Triviale zum Raunen des Wesentlichen. Das mag alles richtig sein. Aber lässt sich für diese relativ späte Neubewertung der Sorge auch wissenssoziologisch vielleicht eine Erklärung finden? Wie kommt es insbesondere auch zur Erhebung des Staates zum Generalagenten aller gesellschaftlichen Sorgeverwaltung? Im Hintergrund des bereits angedeuteten Zusammenhangs, der zur Konzentration von Zuständigkeiten von Für- und Versorgungsleistungen aller Art beim Staat Sorg e u n d Se l bst sorg e | 211
und ganz generell zur Ausdehnung des zu Besorgenden auch bei den Einzelnen geführt hat, steht zunächst einmal, dass in der Tat immer mehr äußere Zustände der Welt als nicht nur veränderlich, sondern auch als veränderbar erfahren wurden, dass sie also nicht einfach Schicksalsschläge sind, die man fürchten kann und von denen man allenfalls hoffen konnte, dass man zumindest jetzt und für diesmal verschont bleiben wird. Mit den technischen Entwicklungen, wie sie sich seit der Neuzeit und dann mit immer rasenderer Geschwindigkeit seit dem 19. Jahrhundert aufdrängen, wächst der Raum des als machbar und steuerbar Empfundenen.
4. Ri s i ko und G efahr Niklas Luhmann unterscheidet in diesem Kontext zwischen Risiko und Gefahr, vieles, was früher Gefahr war, gilt jetzt als Risiko: Es ist wichtig, zwischen Risiko und Gefahr zu unterscheiden. Von Risiko spricht man dann, wenn etwaige künftige Schäden auf die eigene Entscheidung zurückgeführt werden. Wer kein Flugzeug besteigt, kann nicht abstürzen. Bei Gefahren handelt es sich dagegen um von außen kommende Schäden. Um im Beispiel zu bleiben, daß man durch herabfallende Flugzeugtrümmer getötet wird. Beide Fälle behandeln die Ungewißheit eines künftigen Schadens, sind also Gegenfälle zur Sicherheit. Sie unterscheiden sich aber an der Frage, ob das Unglück auf eine Entscheidung zugerechnet wird oder nicht.6
Ein klassisches Beispiel für Gefahren in dem hier verstandenen Sinne waren jahrhundertelang schwere Infektionskrankheiten. Sie sind entscheidungsunabhängig entstanden. Ob man sich ansteckt oder nicht – ist insbesondere bei unsicherem Wissen über die Krankheit kaum individuell beeinflussbar, sondern erscheint als Schicksal.7 Damit ist die Sorge, die sich auf diese Gefährdung richten kann, so gut wie nie vom zweiten hier erwähnten Typ: Man kann nicht wirklich etwas tun. Man kann nicht dadurch, dass man sich um etwas kümmert, abwenden, dass etwas geschieht. Allerdings – und das spielt eine große Rolle, kann man die Betroffenen pflegen, sich um sie kümmern. Der lateinische Ausdruck für Pflege und der für Sorge, cura, sind ja identisch. Und nicht zuletzt kann man sich nicht nur um sein eigenes Seelenheil kümmern, sondern auch um das seiner Nächsten. Man könnte – vielleicht etwas zynisch – auch sagen: Wo es nichts mehr zu besorgen gibt, bleibt Seelsorge. Der »Kurat« ist ja ein Seelsorger. Für die Gegenwart im allgemeinen ist es nun charakteristisch, dass sie dazu tendiert, immer mehr ursprünglich als Gefahren eingestufte Unsicherheiten als Risiken zu interpretieren. 212 | Alois Hahn
Vieles – nicht allein Infektionskrankheiten – was noch vor einigen Generationen als unvermeidlicher Schicksalsschlag empfunden worden wäre, erscheint jetzt als Resultat von zurechenbaren Handlungen oder Unterlassungen. Selbst Naturkatastrophen werden als Folgen prinzipiell vermeidbarer Eingriffe angesehen. Wer z. B. für die Erhaltung bestimmter Produktionsweisen ist, plädiert damit für die Inkaufnahme der Verbreiterung des Ozonloches usw. Das Problem liegt allerdings darin, dass nicht von vornherein feststeht, wie im Einzelfall zugerechnet werden soll.8
Oder um noch einmal Luhmann zu zitieren: »Was für den Einen ein Risiko ist, ist für den anderen eine Gefahr.«9 Mit der Zunahme von wahrnehmbaren Kontingenzen10, die als »eigentlich« steuerbar erfahren sind, wächst gleichzeitig der erste und der zweite Typ von Sorge. Es besteht ein immer größerer riskanter Handlungszwang: Man muss sich kümmern. Gleichzeitig aber wächst das individuelle Gefühl der Ohnmacht, also die ubiquitäre Sorge, dass sich vermeidbare Katastrophen ereignen. Luhmann hat das mit einem inzwischen schon zum geflügelten Wort gewordenen Bonmot verdichtet: »Alles könnte anders sein, und fast nichts kann man ändern.« Es kommt auf diese Weise zu einer Neuverteilung von Sorge. Man könnte auch sagen, die Struktur der Sorge als gesellschaftliche Gegebenheit verändert sich. Es gibt die Sorgen, die sich die »Entscheider« machen oder machen sollten, und es gibt die Sorgen der von diesen Entscheidungen Betroffenen. Diese jedenfalls beziehen sich nicht mehr nur auf eigene Optionen, obwohl diese ebenfalls drastisch gesteigert werden. Mindestens ebenso wichtig wird die Sorge, dass die Entscheider versagen. Deren Handeln hat aber nicht mehr den Charakter unverstehbarer göttlicher Ratschlüsse oder schicksalhafter Verkettungen und von Naturkatastrophen. Sie erscheinen als gewählte und verantwortungspflichtige Entscheidungen. Nur unter sehr einfachen Bedingungen gilt, daß wer die Gefahr liebt, darin umkommt. Immer häufiger sind Situationen, dass jemand glaubt, er werde umkommen, weil ein anderer die Gefahr liebt. ›Wenn es dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis‹ sagte man sprichwörtlich. Jetzt aber haben manche das Gefühl, sie gingen unter, weil andere aufs Eis gegangen sind. Bisweilen mag es auch ganz unstrittig sein, wer etwas riskiert und wer deshalb – ohne selbst etwas dafür zu können – gefährdet wird. So wird man vielleicht den riskant Überholenden leicht und mit der Hoffnung, dafür Konsens zu finden, für den allein Verantwortlichen für die Gefährdung anderer bestimmen können. Aber was wäre, wenn man dagegen geltend machte, daß man ja eine Situation hätte meiden können, in der man mit riskanten Überholern rechnen muß. Grundsätzlich erweist sich also, daß die Zuschreibungen von Verantwortung, von Gefahr und Risiko sozial umstritten sein können und ein Konsens darüber schwer herzustellen ist. Unsicherheiten werden nur dann kollektiv als Risiken interpretiert, wenn ihre Folgen zweifelsfrei eigenen Handlungen zugerechnet werden (können).11 Sorg e u n d Se l bst sorg e | 213
Es fällt nicht schwer, diese allgemeine Überlegung zum Beispiel auf die gegenwärtige Finanzkrise zu übertragen. Der einzelne Sparer bringt sein Geld, zum Beispiel aus Sorge, bestohlen zu werden, auf die Bank. Nun aber hängt alles von den Entscheidungen ab, die er gar nicht mehr selbst kontrollieren kann. Seine Sorge verschiebt sich. Der Staat als Hort des Horts bietet sich an, diese Sorge zu übernehmen. Er wird somit zum Stellvertreter in der Ökonomie der Sorge. 12 Aber mit dieser Übertragung findet eben keinesfalls eine definitive Überwindung der Sorge des einzelnen Sparers statt. Die Adressaten verschieben sich. Aus einer Risiko-Sorge wird eine Gefahren-Sorge. Der Staat kann dann unter Umständen andere haftbar machen, weil sie ihrer Sorgepflicht nicht genügt hätten. Er kann zum Beispiel Wissenschaftlern die Verantwortung für Fehlurteile in Strafprozessen aufbürden. Dieser Tage zeigt ein Gerichtsurteil wieder einmal, in welch engen Grenzen er sich dabei bewegt […]. Kritik hagelt es auf den Richter in L’Aquila, der sechs Seismologen und einen Katastrophenschützer wegen fahrlässiger Tötung zu langjährigen Haftstrafen verurteilte. Sie hätten vor dreieinhalb Jahren Bürger der italienischen Stadt ›ungenau, unvollständig und widersprüchlich‹ informiert, die deshalb wenig später zu den mehr als 300 Todesopfern eines Erdbebens gehörten.13
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Doch wie immer es am Ende ausgeht, es zeigt sich beispielhaft an diesem Fall der Konflikt um die Sorgfaltspflicht: Darf sich die Politik, der ebenfalls Versäumnisse bei der Vorsorge vorgeworfen werden, mit Verweis auf die Wissenschaft herausreden oder nicht? Bei aller Neigung des politischen Systems, im Einzelfall Verantwortung zu delegieren, so ist doch prinzipiell unbestritten, dass diese Abwehr nur deshalb versucht wird, weil es primär als erst einmal für zuständig gehalten wird. Auch noch in der Verurteilung von Schuldigen übernimmt der Staat diese Generalvertretung kollektiver Sorge.
5. S t e llve rt ret ung Den Zusammenhang von Sorge und Stellvertretung hat übrigens Heidegger selbst sehr eindrucksvoll beschrieben: Zu den Seinsmöglichkeiten des Miteinanderseins in der Welt gehört unstreitig die Vertretbarkeit des einen Daseins durch ein anderes. In der Alltäglichkeit des Besorgens wird von solcher Vertretbarkeit vielfältig und ständig Gebrauch gemacht. Jedes Hingehen zu …, jedes Beibringen von … ist im Umkreis der nächstbesorgten ›Umwelt‹ vertretbar. Die Mannigfaltigkeit vertretbarer Weisen des In-der-Welt-seins erstreckt sich nicht nur auf die abgeschliffe214 | Alois Hahn
nen Modi des öffentlichen Miteinander, sondern betrifft ebenso die auf bestimmte Umkreise eingeschränkten, auf Berufe, Stände und Lebensalter zugeschnittenen Möglichkeiten des Besorgens. […] Bezüglich dieses Seins, des alltäglichen Miteinanderaufgehens bei der besorgten ›Welt‹ ist Vertretbarkeit nicht nur überhaupt möglich, sie gehört sogar als Konstitutivum zum Miteinander.14
Für Heidegger unterscheidet sich alle innerweltliche Sorge mit ihren Möglichkeiten des Einander-Vertretens fundamental vom Sterben, das einem eben niemand abnehmen kann: Indes scheitert diese Vertretungsmöglichkeit völlig, wenn es um die Vertretung der Seinsmöglichkeit geht, die das Zu-Ende-kommen des Daseins ausmacht und ihm als solche seine Gänze gibt. Keiner kann dem Anderen sein Sterben abnehmen. […] Das Sterben muß jedes Dasein jeweilig selbst auf sich nehmen […]. Am Sterben zeigt sich, daß der Tod ontologisch durch Jemeinigkeit und Existenz konstituiert wird.15
Nun ist die Unvertretbarkeit des Sterbens nicht zu leugnen. Was Heidegger aber übersieht, ist, dass man einem anderen auch das Leben nicht abnehmen kann. »Jemeinigkeit« gilt für jeden Moment meines Lebensvollzuges. Auch das Atmen, Fühlen und Denken kann mir niemand abnehmen. Mein Schmerz ist immer mein Schmerz usw.16 Über viele Jahre habe ich zusammen mit Trierer Kollegen quantitative und für Deutschland repräsentative empirische Untersuchungen zu Einstellungen zu AIDS durchgeführt.17 Es ging dabei auch um die Frage, wer eigentlich die Hauptsorge dafür übernehmen solle, damit es nicht zu Ansteckungen mit dem zum Zeitpunkt unserer Untersuchungen tödlichen Virus komme. Für den hier zu erörternden Kontext mag es genügen, auf einige Ergebnisse zu verweisen. Es zeigte sich nämlich, dass eine Gruppe der Befragten dazu tendierte, dem Staat diese Verantwortung zuzuschanzen. Sie sahen im tödlichen Virus eine Gefahr, die sich ubiquitär verbreite und von identifizierbaren Minderheiten ausgehe: Ausländern, Immigranten, Homosexuellen usw. Der Staat müsse deshalb den Einzelnen vor den Virenträgern schützen. Er müsse sie mittels möglichst umfassender Massentests identifizieren und durch Überwachung, Segregation und Isolation ihren Verkehr mit der gesunden Bevölkerung unterbinden. Die dazu »im Notfall« als akzeptabel oder notwendig erachteten Maßnahmen würden einen massiven Eingriff in die individuellen Freiheitsrechte implizieren. Selbst Internierung oder Tätowierung standen auf der Liste der erforderlichen Präventionen. In nahezu allen Fällen handelte es sich bei diesen Personen (ihr harter Kern lag bei etwa 20–25% der Befragten) um Bürger, bei denen die objektive Wahrscheinlichkeit, sich zu infizieren, eher gering war, zum Beispiel ältere Personen auf dem Lande, die durch die Art ihrer LebensSorg e u n d Se l bst sorg e | 215
führung vor einer Ansteckung durch sexuelle Kontakte weitgehend geschützt waren. Sie empfanden aber ein allgemeines Gefühl der unspezifischen Bedrohung durch Fremdes und Fremde und durch Neues. Die Welt erschien ihnen insgesamt eher bedrohlich. Sie sorgten und ängstigten sich nicht nur um ihre Gesundheit, sondern auch um ungezählte andere Dinge, zum Beispiel die Sicherheit auf der Straße und die Stabilität der Verhältnisse. In gewisser Weise ließe sich ihr Gemütszustand so charakterisieren, wie Faust ihn im ersten Akt des gleichnamigen Dramas evoziert: Wenn Phantasie sich sonst mit kühnem Flug/ Und hoffnungsvoll zum Ewigen erweitert,/ So ist ein kleiner Raum ihr nun genug,/ Wenn Glück auf Glück im Zeitenstrudel scheitert./ Die Sorge nistet gleich im tiefen Herzen,/ Dort wirket sie geheime Schmerzen,/ Unruhig wiegt sie sich und störet Lust und Ruh;/ Sie deckt sich stets mit neuen Masken zu,/ Sie mag als Haus und Hof, als Weib und Kind erscheinen,/ Als Feuer, Wasser, Dolch und Gift;/ Du bebst vor allem, was nicht trifft,/ Und was du nie verlierst, das mußt du stets beweinen.
Tatsächlich entspricht oft ihre subjektive Verunsicherung auch ihrem objektiv prekären Status. Neben diesem Typus der Sorge fand sich allerdings auch ein anderer. Er wertete die Möglichkeit sich anzustecken gerade nicht als Gefahr, sondern als Risiko, gegen das man sich schützen könne, das man eventuell auch auf sich nehmen müsse, um bestimmte Selbstverwirklichungschancen zu nützen. Es handelt sich – wohlgemerkt – nicht einfach um schlichte Sorglosigkeit, sondern um das, was man mit Michel Foucault als »Selbstsorge« bezeichnen könnte. Hier zeigt sich bisweilen eine Haltung, die man durchaus in extremen Fällen mit der Schiller’schen Formel umschreiben könnte: »Und setzet ihr nicht das Leben ein,/ Nie wird euch das Leben gewonnen sein.«
6. S e l bst sorge Das Selbstsorge-Konzept wird bei Foucault zunächst gerade nicht als moderne Form identifiziert. Vielmehr »entdeckt« er es in der griechischen Antike als epiméleia tou heautoû. Unsere aktuellen empirischen Forschungen lassen sich jedoch mit dieser Konzeption verbinden. Dies lässt sich vor allem im Umgang mit dem eigenen Tod und Sterben beobachten. Das »Vorlaufen in den Tod« hatte bei Heidegger keinesfalls bedeutet, dass das Dasein sich selbst den Tod gibt. Im Gegenteil! Das »Vorlaufen« war nicht als Überwindung der Todesangst aufgefasst worden, sondern als »Angstbereitschaft«, als »Aushalten« der Angst, der man sich stellt. Das aktuelle empirische Material verweist jedoch auf eine Selbstsorge, zu der gerade die gezielte 216 | Alois Hahn
Selbsttötung als Sicherung der eigenen Würde gegen den Verfall durch körperliche Hinfälligkeit, Demenz usw., aber auch als Sorge um den Verlust bürgerlicher Reputation strategisch eingesetzt wird. Die Sorge gilt gerade nicht dem Sterben als solchem, sondern der Sorge um das Wie seines Ablaufs. Andererseits aber auch der Entscheidung, ob man unter bestimmten Umständen nicht eher den Tod wählen soll, als unter moralischen oder physischen Bedingungen zu existieren, die im Widerspruch zur bislang beanspruchten Identität stehen. Man schämt sich weiterzuleben.
7. S e l bs t t öt ung al s Se l bst sorge 1 8 Eine Quelle von Scham, die hier bedeutsam wird, hängt mit der Unverfügbarkeit über den eigenen Körper zusammen. Eine Lage unausweichlich auf sich zukommen zu sehen, in der der eigene Leib in Widerspruch steht zu den Vorstellungen von Selbstwürde, ohne die man nicht existieren möchte, führt zu einer Angst, die gerade nicht Angst vor dem Tod ist, sondern davor, auf eine bestimmte Art leben zu müssen. Und diese Angst ist beim zum Selbstmord entschlossenen Menschen stärker als die Angst vor dem Tod. Sie wird zum Gegenstand eines besonderen Typs von Selbstsorge, nämlich der Organisation des eignen Todes und Sterbens, die bis zur direkten Selbsttötung reichen kann. In diesem Kontext werden einige empirische Befunde vorgestellt, die belegen, dass in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Verschiebung der Sorgeprofile stattgefunden hat. Gefragt, ob sie eher Angst vor dem Tod oder eher vor dem Sterben haben, antworten in einer Telefonumfrage aus dem Jahre 2006 60% der Befragten mit »vor dem Sterben«. Hingegen nur 7% der Befragten geben an, eher Angst vor dem Tod zu haben (N=313). Auf die Frage, wie sie sterben möchten, sagen 80% der Befragten, dass sie »plötzlich und unerwartet«, und nur 20%, dass sie »auf den Tod vorbereitet und bewusst« sterben möchten (N=289).19 Zu diesem Themenkomplex passen auch im Jahre 1999 von unserem Trierer Forschungsteam erhobene Daten. Dabei wurde in einer für Deutschland repräsentativen Stichprobe gefragt, was denn an einer schweren Krankheit das »Allerschlimmste« sei. Man hätte vermuten können, dass die Befragten hier äußern würden, sie fürchteten sich am meisten vor erwarteten starken Schmerzen. Dies allerdings gaben lediglich 14% der Menschen zu Protokoll und verwiesen diese Angst damit auf den vierten Rang. Es zeigte sich eindeutig, dass das Schlimmste für die Befragten der körperlich-geistige Verfall war. »Keine Kontrolle mehr über meine Körperfunktionen zu haben« nannten 29,2% der Befragten als größtes Übel, den drohenden geistigen Verfall 27,3%, hingegen die Bedrohung durch den Tod »nur« 19,5%; von anderen gemieden zu werden 5,8% und körperlich entstellt zu sein 4,1% (N=2494).20 Sorg e u n d Se l bst sorg e | 217
Vor dem Hintergrund dieser Daten wird verständlich, warum die Untersuchungspersonen auf die Frage, wie sie sterben möchten, mehrheitlich »plötzlich und unerwartet« geantwortet hatten statt »bewusst und darauf vorbereitet«.21 Hinter diesen unscheinbaren Umfragedaten verbirgt sich ein tiefgreifender Wandel in der Einstellung zu Tod und Sterben, der sich in Europa im 20. Jahrhundert vollzogen hat. Für einen langen Zeitraum war die Doppelgesichtigkeit des mors certa, hora incerta ein schwerwiegendes Problem für die Menschen des Abendlandes, und zwar nicht in erster Linie wegen des Todes an sich, sondern wegen der unsicheren Stunde seines Eintretens, die womöglich keine Zeit zur Vorbereitung auf das Sterben ließ. In einer christlich geprägten Welt war der »gute« Tod mit Vorbereitungen verbunden, mit religiösen und davon abgeleiteten säkularen Handlungen, die vollzogen sein wollten, um das diesseitige Leben abschließen und im Vertrauen auf das jenseitige Leben den Tod als Durchgangsstation hinnehmen zu können. Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass »der Tod ohne das Sterben« das gefürchtete Übel war. Das Normale war, dass auf eine kurze Sterbephase, in der man seine Angelegenheiten regeln konnte, absehbar der Tod folgte. Im Zuge der Entwicklung, welche die Medizin im 20. Jahrhundert durchlaufen hat, ist diese zeitliche Nähe von Sterben und Tod auseinandergefallen und die Sterbeverläufe erstrecken sich nunmehr häufig über einen viel längeren Zeitraum, vor dem die Menschen sich fürchten. Diese Phase des Sterbens ist immer häufiger verknüpft mit langem Siechtum, mit Abhängigkeit von Pflege usw. Heute ist der erhoffte Tod daher der sich nicht ankündigende, plötzlich über einen kommende Tod, also gerade das, was vordem das am meisten Gefürchtete war. In diesen Rahmen fügen sich auch die Ergebnisse einer anderen von uns durchgeführten Studie.22 Dort wurden Krankenpflegekräfte unter anderem danach gefragt, ob sie es begrüßen würden, wenn eine Sterbehilfe-Organisation wie Dignitas auch in Deutschland arbeiten dürfte.23 Rund die Hälfte aller befragten Pflegekräfte stand einer solchen Organisation zustimmend gegenüber (49,2%, N=662). Ganz offenkundig ist es also so, dass ein großer Teil der Bevölkerung sich ein Leben vorstellen kann, das nicht mehr wert ist, gelebt zu werden, und zwar nicht in dem Sinne, dass sie ein solches Urteil über das Leben anderer Menschen fällten. Viel mehr geht es um diese Erwägung in Bezug auf das eigene Leben. Und das Resultat dieser Erwägungen wird zunehmend in Patientenverfügungen fixiert, oder Vertrauenspersonen werden zu Maßnahmen legitimiert, für den Fall, dass man selbst zu einer Entscheidung nicht mehr in der Lage ist. In Bezug auf sich selbst lassen es viele Menschen nicht bei theoretischen Auffassungen bewenden, sondern sie sind auch bereit, zur Selbsttötung zu schreiten. Selbsttötung ist dabei nahe verwandt mit dem, was Foucault die »Sorge um sich« genannt hat. Der Begriff der Selbstsorge wird bei Foucault im zweiten und dritten Band seiner Arbeiten zur Sexualität eingeführt. Auch ihm geht es darum, dass der Körper immer auch als Stö218 | Alois Hahn
renfried auftaucht, wenn es um die Sicherung der personalen Würde des Individuums geht. Um genau das also, was Durkheim, Simmel und Goffman, wie gesehen, als die »Heiligkeit« des Individuums beschrieben haben. Für die Antike, auf die er sich bezieht, nimmt Foucault nun unter anderem zwei Formen des Störpotentials in den Blick, für die der Körper ursächlich ist. Nämlich einerseits den Nahrungstrieb und andererseits die Sexualität. Die Kontrolle beider Störquellen erscheint selbstredend als notwendig, wenn der Einzelne sich nicht in Situationen verfangen will, in denen er sich so verhält, wie es seinem Selbstbild widerspräche. Sexuelle und gastrische Disziplin mögen immer auch durch die Machtapparate der Gesellschaft erzwungen werden, also im Dienst einer an gefügigen Körpern interessierten Politik stehen, die unter Umständen sogar explizit »biopolitisch« orientiert ist. Das schließt aber nicht aus, dass das Individuum seinerseits an Selbstregulierung interessiert ist, und zwar nicht, um Sanktionen zu entgehen, sondern um sein Verhalten mit idealen Selbstbildern kompatibel zu machen. Foucault spricht in diesem Zusammenhang von Selbstsorge, um die Strategien der Selbstgestaltung zu beschreiben, die diese Harmonie herstellen. Er spricht bisweilen auch von »Autotechnik«, wobei die Bedeutung von Technik im Sinne eines Kunstwerks durchaus gewollt ist: die Produktion von sich selbst als Kunstwerk. Zum anderen meint techne im Griechischen auch das Handwerk, die Disziplin oder die Praxis: die praktischen Umgangsformen mit sich selbst. Damit ist gemeint, dass der Einzelne sich selbst zu einem Kunstwerk schaffen und dabei die vom Körper ausgehende »Sabotage« in den Griff bekommen muss. Für die Antike meint Foucault nun, dass die im Diskurs dieser Epoche zentrale Problematik gerade nicht von der Sexualität ausgehe. Im Zentrum der selbstdisziplinären Aufmerksamkeit stehe viel mehr die Beherrschung der »Völlerei«, also dessen, was in der mittelalterlichen, christlich geprägten Sündenlehre als gula beschrieben wird. In unserem Kontext geht es nun nicht um den Körper als Störenfried, weil er Hunger oder Durst hat oder sich mit sexuellen Bedürfnissen meldet, sondern sich als unverfügbar zeigt im Kontext von Krankheit und Sterben. Der Körper ist als kranker und sterbender eben auch eine unkontrollierbare Quelle von Ekel und Scham. Natürlich kann man, wenn man an die Moderne denkt, nicht übersehen, dass die Dispositive der Hygiene und der Medizin im Allgemeinen auch hier sekundär neue Formen der Kontrolle und Würdesicherung stiften. Insbesondere die Kontrolle des Schmerzes ist in einem Maße gelungen, wie es sich vormoderne Zeiten wahrscheinlich nicht träumen ließen. Aber es bleibt – nach Faust – »ein Erdenrest, zu tragen peinlich«. Es verschieben24 sich die Ängste der Menschen auf einen Punkt, eben den des Verfalls, der damit gerade außerhalb der Reichweite einer immer besser werdenden Analgesie und Schmerztherapie liegt. 1968 konnte noch berechtigterweise resümiert werden, dass die Qualen der Agonie und damit der Schrecken des Todes »als Prozess« weitestgehend der Vergangenheit angehörSorg e u n d Se l bst sorg e | 219
ten.25 Wenn sich aber heute 80% der Menschen einen »plötzlichen und unerwarteten Tod« wünschen, spricht das für einen neuen Schrecken des Todes als Prozess: Den der Angst vor dem »sozialen Sterben« im Sinne des körperlich-geistigen Verfalls. Die neuen Sorgen beziehen sich darauf, dass hier eine Phase entsteht, in der man dahinvegetiert als Lebewesen, das weder wirklich tot noch richtig lebendig ist. Man fürchtet sozusagen, schon längere Zeit, bevor man gestorben ist, als lebender Toter sozial konserviert zu werden. Hinzu kommt, dass man sich auch deshalb vor sich selber schämen kann, weil man wegen seiner körperlichen und geistigen Hinfälligkeit nicht mehr für sich selbst sorgen kann, also anderen zur Last fällt. Und das ganz unabhängig davon, ob zum Beispiel Angehörige oder auch professionelle Pflegekräfte diese notwendige Pflege und Hilfe tatsächlich als Last empfinden. Dabei ist allerdings auch nicht zu vernachlässigen, dass Hilfsverpflichtungen derart verinnerlicht sein können, dass man sich schämen würde zuzugeben, sie tatsächlich doch als Last zu empfinden.
8. D a s »nac kt e L e be n« al s Sorge Menschen machen sich also Sorge, durch Krankheit buchstäblich auf ihr nacktes Leben reduziert zu werden. Das »nackte Leben« wird von Giorgio Agamben in seinem Essay »Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben« beschrieben.26 Die nicht unumstrittene These Agambens geht davon aus, dass die Moderne durch medizinische, politische oder juridische »Dispositive« gekennzeichnet ist, die der Herstellung und Konservierung »nackten Lebens« dienen. Für die Gegenwart gibt er zwei Beispiele, nämlich einerseits die lebenden Hirntoten, die in Kliniken als organische »Reservearmee« für zukünftige Transplantationsbedürfnisse bereitgehalten werden und zum anderen die »Muselmänner« in den Konzentrationslagern der Nazis. Dass er diese Beispiele in einem Atemzug nennt, ist vielfach als besonders skandalös empfunden worden. Besonders verstörend in diesem Zusammenhang ist, dass Agamben auf der gleichen Ebene auch die Situation von zum Tode Verurteilten ansiedelt, besonders in den Vereinigten Staaten, in dem Land also, aus dem der Großteil der Richter der Nürnberger Prozesse stammte. So sind in den zwanziger Jahren 800 Häftlinge in den Gefängnissen der Vereinigten Staaten mit dem Plasmodium der Malaria infiziert worden, in der Absicht, ein Mittel gegen das Sumpffieber zu finden.27
Dazu, ob die Analogien von Agamben richtig oder falsch sind, wollen wir uns hier nicht äußern. Uns geht es ausschließlich darum, dass wir für unsere heutige Gegenwart Menschen beobachten können, die solche Situationen »lebender Leichen« 220 | Alois Hahn
imaginativ vor Augen haben und diese Situationen durch vorweg formulierte Willensbekundungen oder eben durch eigene Taten unbedingt vermeiden wollen. Ob man hier von Freiwilligkeit sprechen will oder nicht, darüber lässt sich sicher streiten. Unabhängig davon jedenfalls, wie die neuere Neurowissenschaft die Frage des »freien Willens« sieht, so ist doch vollständig klar, dass die von uns ins Auge gefassten Menschen an die Freiwilligkeit ihres eigenen Handels glauben und sie genau deshalb jeden Versuch, sie an dessen Ausübung zu hindern, als Eingriff in ihre freie Willensentscheidung empfinden. Der Selbstmord wird für diese Menschen als letzte souveräne Verfügung über das eigene Leben relevant, solange sie es noch als lebenswert empfinden. Ihre Sorge bezieht sich auf diese mögliche eigene Zukunft. Die gegenwärtige Debatte über die Patientenverfügungen kann man gar nicht anders interpretieren als eine Diskursformation, die der Vorbereitung eines neuen Sorge-Dispositivs dient, in dem es um die Selbsttötung als Selbstsorge geht. Dieser Begriff von Foucault bringt höchst heterogene Elemente zusammen, zum Beispiel Diskurse, Institutionen, Gesetze und administrative Maßnahmen. Zusätzlich spielen spezifische Gebäude oder räumliche Ordnungen eine große Rolle. Es geht also, wie Foucault sich ausdrückt, um Ausgesprochenes und Nicht-Ausgesprochenes, vielleicht könnte man auch hinzufügen: Unaussprechliches. Dabei ist das Dispositiv selbst eben das Netz, das alle diese verschiedenen Elemente aufeinander bezieht und zusammenhält28. Im Moment ist freilich noch nicht abzusehen, wie das neue »Sterbedispositiv« institutionell ausfallen wird. Juristische, theologische, politische und moralische Debatten sind keineswegs an einem Punkt angekommen, der inhaltlich als konsensfähig angesehen werden könnte. Konsens besteht allerdings über die Notwendigkeit der Diskussion und die Unaufschiebbarkeit von Entscheidungen in dieser Sache. Der Beitrag der Soziologie kann nicht darin bestehen, selber ein Werturteil für die eine oder andere Lösung vorzuschlagen, er ist aber unverzichtbar, wenn es darum geht, die bestehenden Tendenzen empirisch zu registrieren und historisch zu situieren. Die Selbstsorge als »Selbst-Ent-Sorgung« mittels eines Dritten, meist eines Arztes, der als Suizidhelfer fungiert, ist bereits jetzt ein auch quantitativ durchaus beachtliches Phänomen, das sich in den Patientenverfügungen ausdrückt. Es entspringt einer neuen Tendenz zur moralischen Steigerung des Anspruchs an Selbstverfügung über das eigene Leben als Element der Menschenwürde. Dem entsprechen zunehmend auch neue rechtliche und medizinische Dispositive. Diese sind vor allem in der Schweiz – neben anderen europäischen Ländern – weiter entwickelt als in Deutschland, aber ein Druck auf Rechtsetzung und Rechtsprechung ist auch hier unverkennbar.
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A n m e r kunge n 1 Vgl. M. Kranz, Artikel »Sorge«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Basel, 1995, Sp. 1086. 2 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 101963, S. 325. 3 Kranz (o. Anm. 1), Sp. 1086. 4 Ebd., Sp. 1086f. 5 Ebd., Sp. 1087. 6 N. Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1988, S. 86. 7 W. H. Eirmbter/A. Hahn/R. Jacob, AIDS und die gesellschaftlichen Folgen, Frankfurt a. M./New York 1993, S. 43f. 8 Ebd., S. 44f. 9 N. Luhmann, Ökologische Kommunikation, Opladen 1986, S. 88f. 10 Ausführlicher zu dieser Problematik: A. Hahn, »Risiko und Gefahr«, in: G. von Graevenitz/O. Marquardt (Hgg.), Kontingenz (Poetik und Hermeneutik, Bd. 17), München 1998, S. 49–54 und ders. »Kontingenz und Kommunikation«, ebd., S. 493–523. 11 Eirmbter/Hahn/Jacob, AIDS (o. Anm. 7), S. 45. 12 Zur soziologischen Problematik der Stellvertretung vgl. allgemein: J. Weiss, Handeln und Handeln lassen. Über Stellvertretung, Opladen 1998. 13 F. Schmidt, »Prophezeiung und Prognose«, FAZ, 27.10.2012, Nr. 251/43 D1, S. 1. 14 Heidegger (o. Anm. 2), S. 239f. 15 Ebd., S. 240. 16 Meine eigene Auseinandersetzung mit der Heidegger’schen These von der Exklusivität des Todes in Bezug auf die »Jemeinigkeit« findet sich in: A. Hahn, »Heideggers Philosophie des Todes im Diskursfeld seiner Zeit (Weber, Simmel und Scheler)«, in: J. Weiss (Hg.), Die Jemeinigkeit des Mitseins. Die Daseinsanalytik Martin Heideggers und die Kritik der soziologischen Vernunft, Konstanz 2001, S. 105–128 und schon vorher in A. Hahn, Einstellungen zum Tod und ihre soziale Bedingtheit. Eine soziologische Untersuchung, Stuttgart 1968, S. 88ff. Die neueste Entwicklung der Debatte, die auch die empirischen Untersuchungen unserer Trierer Forschungsgruppe zur Thematik des Todes aufgreift, findet sich in: M. Hoffmann, »Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet«. Die Angst vor dem »sozialen Sterben«, Wiesbaden 2011. 17 Die Ergebnisse dieser Forschungen sind u. a. in folgenden Monographien veröffentlicht: Eirmbter/Hahn/Jacob, AIDS (o. Anm. 7), dies., Krankheitsvorstellungen in Deutschland. Das Beispiel AIDS, Opladen 1996; R. Jacob/W. H. Eirmbter/A. Hahn/C. Hennes/F. Lettke, Aids-Vorstellungen in Deutschland. Stabilität und Wandel. Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Aids-Forschung, Bd. 18, Berlin 1997. Zu Einzelproblemen, der mit AIDS verbundenen Ängste und Sorgen stammen aus diesem Forschungszusammenhang u. a. folgende Aufsätze: A. Hahn, »Sida en R.F.A.« Sociologie, No. 2, Novembre 1989, S. 36–46; A. Hahn, »Paradoxien in der Kommunikation über Aids«, in: H. U. Gumbrecht/K. L. 222 | Alois Hahn
Pfeiffer (Hgg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt a. M. 1991, S. 606–620; A. Hahn, »Le SIDA et la mort«, in: F. de Singly/F. Schultheis (Hgg.), Affaires de familles, Affaires d’État. Actes du Colloque Franco-Allemand Sociologie de la Famille, Nancy 1991, S. 157–164; R. Jacob/W. H. Eirmbter/A. Hahn, »AIDS: Krankheitsvorstellungen und ihre gesellschaftlichen Folgen«, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 44 (1992), S. 519–537; A. Hahn, «Talking About AIDS«, in: H. U. Gumbrecht/K. L. Pfeiffer (Hgg.), Materialities of Communication, Stanford 1994, S. 344–354; A. Hahn/W. H. Eirmbter/R. Jacob, «Le sida: savoir ordinaire et insécurité«, Actes de la recherche en sciences sociales, hrsg. von P. Bourdieu, 104, S. 81–90, Paris September 1994. 18 Der anschließende Text folgt einer Publikation, die in diesem Jahr erschienen ist: A. Hahn/M. Hoffmann, »Selbsttötung als Selbstsorge«, Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 66,6 (2012), S. 550–557. 19 Vgl. dazu ausführlich und mit weiteren Quellenbelegen: Hoffmann, »Sterben?« (o. Anm. 16). 20 F. Lettke/W. H. Eirmbter/A. Hahn/C. Hennes/R. Jacob, Krankheit und Gesellschaft. Zur Bedeutung von Krankheitsbildern und Gesundheitsvorstellungen für die Prävention, Konstanz 1999, Anhang S. 11. 21 Es ist dabei wichtig, darauf hinzuweisen, dass von uns keine akut schwerkranken oder sterbenden Personen befragt wurden. Es handelte sich um davon nicht betroffene Erwachsene. 22 Vgl. auch dazu Hoffmann, »Sterben?« (o. Anm. 16), S. 50ff. 23 Die Umfrage fand 2003 statt. Die deutsche Sektion von Dignitas mit Sitz in Hannover wurde 2005 unter dem Namen Dignitate gegründet. Immer noch allerdings unterscheiden sich die rechtlichen Rahmenbedingungen für Sterbehilfe in den verschiedenen Ländern Europas. 24 Hahn, Einstellungen zum Tod (o. Anm. 16); Hoffmann, »Sterben?« (o. Anm. 16). 25 Vgl. Hahn, Einstellungen zum Tod (o. Anm. 16), S. 33. 26 G. Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002. 27 Ebd., S. 165f. 28 Vgl. M. Foucault, Dits et Écrits, Bd. 3, S. 299.
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Mirko Breitenstein
EINLEITUNG: VERLANGEN NACH VOLLKOMMENHEIT ALS ERLÖSUNG VON DER SORGE Das Verlangen nach Vollkommenheit ist kein spezifisch europäisches Streben. Vollkommenheit als Ausdruck eines Zustandes, der in besserer Form nicht einmal mehr gedacht werden kann, ist, wie Karin Preisendanz in ihrem Beitrag zeigt, bereits ein zentraler Gedanke innerhalb innerhalb der Geisteswelten des frühen Indien. Konzepte wie jene von »Vollendung«, »Vollständigkeit«, »Erfüllung« oder eben »Vollkommenheit« sind dabei unmittelbar auf einen dem Menschen gegebenen Maßstab bezogen. Dieser Maßstab verweist auf ein Ziel, dessen Erreichen eben jene Erfüllung verspricht. Aus der Beobachtung des eigenen Seins erwächst eine Vorstellung von den Dimensionen, die jenes Sein noch vom gegebenen Sollen trennen. In Anbetracht dieser Wertbestimmung des Eigenen vor dem Hintergrund des Gegebenen werden jedoch die Unterschiede jener von Preisendanz beschriebenen Konzepte der »Vollkommenheit« gegenüber den europäischen Vorstellungen deutlich. Während letztere gleichsam die Orientierung eines höchst dynamischen Strebens markieren, das auf Verwirklichung von Vollkommenheit abzielt, können jene indischen Konzepte – zumindest am Ende der vorgestellten historischen Entwicklungslinien – als solche beschrieben werden, für die Vollkommenheit gleichsam in ihrer »Entwirklichung« besteht: als Zustand der Erlösung und Befreiung aus den Kreisläufen der universalen Ordnungen. Vor einem solchen Hintergrund gewinnen auch jene vielfältigen Formen des Sorgens in der altindischen Kultur eine durchaus eigene Orientierung. Zwar gibt es, wie Preisendanz bemerkt, im Sanskrit keinen Begriff, der das semantische Feld des deutschen Wortes »Sorge« abzudecken vermag, doch wird dessen Bedeutungsfülle stattdessen von einer ganzen Reihe von Begriffen getragen, die je einzelne Aspekte zum Ausdruck bringen. Dies gilt sowohl für die konzeptionelle, das heißt die geistige und emotionale Dimension, als auch für die praktischen Aspekte von Sorge. Dass insbesondere diese praktische Seite des Sorgens nicht nur eine Fülle von Begriffen sondern auch eine Vielzahl von Ausdrucksformen gefunden hat, spricht für die herausragende Bedeutung, die ihr zukam. Dies gilt bereits für jene Frühzeit höchster, durch die Götter garantierter Vollkommenheit, in dem die Sorge des Einzelnen vor allem auf die Wahrung der vollkommenen Ordnung gerichtet zu sein hatte. Das Sorgen eines Jeden hatte sich Ve r l a nge n na ch Vo ll ko mme nhe it al s E rl ösu n g von de r Sorg e | 227
im rituellen Vollzug zu bewähren und nur der korrekte Vollzug vermochte jene wahrhafte Wirklichkeit der allumfassenden kosmischen Ordnung zu erhalten – eine Tendenz, die sich im Laufe der Zeit noch deutlich verstärkte. Dabei wurde die Sorge für sich zugleich zum Ausdruck der Sorge für den Nächsten wie auch für den Kosmos, und eine jede wiederum für die je anderen Bezüge. Die Sorge um die Vollkommenheit des Weltganzen fand damit unmittelbaren Ausdruck in der Sorge um die Vollkommenheit des Rituals. An diesen hochspezialisierten Ritualismus nun schlossen sich, wie Preisendanz ausführt, jene religiösen Reformbewegungen an, die zu über viele Jahrhunderte hinweg zentralen geistigen Strömungen auf dem indischen Subkontinent werden sollten. Man wandte sich ab vom Bemühen um die Vollkommenheit des Rituals sowie der Weltordnung und orientierte besonders im späteren Buddhismus das eigene Sorgen gleichsam neu: Mitgefühl und Mitleiden wurden zu religiös fundierten und gesellschaftsorientierenden Leitbegriffen, die ihren pragmatischen Niederschlag auf der Handlungsebene in Fürsorge und Wohltätigkeit fanden. Jedes Sorgen war damit auf dessen Überwindung hin orientiert. Ein Verlangen nach Vollkommenheit fand sein Ziel in der Erlösung von der Sorge.
228 | Mirko Brei t e ns t e in
Karin Preisendanz
SORGE(N) IM RAHMEN DES STREBENS NACH VOLLKOMMENHEIT Überlegungen zum Phänomen anhand ausgewählter indischer Vorstellungen und Modelle
In der einen Zeitraum von etwas mehr als drei Jahrtausenden umspannenden Kulturgeschichte des indischen Subkontinents mit seinen vielfältigen Geistesströmungen und religiös-philosophischen Traditionen entwickelten sich naturgemäß verschiedene Konzepte individueller, gesellschaftlicher oder noch weiter gegriffener, makrokosmischer Vollkommenheit, die nur innerhalb der jeweiligen Weltvorstellungen verständlich sind. Im Folgenden sollen kontextuell verortet exemplarisch einige zentrale Vorstellungen von Vollkommenheit in der frühen indischen Kulturgeschichte angesprochen werden, die wiederum den Rahmen für Konzepte und das Phänomen von Sorge(n) im weitesten Sinne, wie im vorliegenden Band angesprochen, abgeben. Zugleich soll auf ausgewählte Aspekte von Sorge(n) Bezug genommen werden, die in den anderen Beiträgen des vorliegenden Bandes für den europäischen Kulturraum herausgearbeitet wurden.
1. E i n l e i t e nde B et rac ht unge n zu »Vollkommenhei t« , » H a r m onie « und »Sorge (n)« Im überaus reichen Vokabular des Sanskrit, der heute noch lebendigen Kultur-, Sakral- und Wissenschaftssprache des vormodernen Indien, gibt es verschiedene Worte, die mit »Vollkommenheit«, »Vollendung«, »Vollständigkeit« oder »Erfüllung« im Sinne eines Zustandes wiedergegeben werden können.1 Wie auch im Deutschen haben diese allerdings nicht einen allgemein gültigen terminologischen Charakter oder weisen Bezug zu einem einzigen bestimmten Konzept von Vollkommenheit auf. Ein mit der Vorstellung von Vollkommenheit verbundenes, schon auf eine bestimmte Art von Vollkommenheit hinweisendes Wort im Sanskrit2 ist ferner nih. śreyasa, wörtlich: »etwas, das nichts Besseres über sich hat«. Dieses Wort wird normalerweise mit »höchstes Gut« oder »Heil« wiedergegeben und bezeichnet in der klassischen religiös-philosophischen Literatur des Sanskrit den S o rge ( n) im R a hme n d e s S t re be n s n ac h Voll kom m e n h e i t | 229
– unterschiedlich konzipierten – Zustand der Erlösung oder Befreiung des Individuums aus dem fortwährenden und letztendlich unbefriedigenden und leidvollen Kreislauf von Wiedergeburten. Wenn dieser Zustand als »etwas, das nichts Besseres über sich hat«, bezeichnet wird, so kann man also sagen, dass der Zustand eines Individuums in der Erlösung als ein Zustand der Vollkommenheit verstanden werden kann. Dem verwandten Begriff der Harmonie hingegen, der im Zusammenhang mit der Vollkommenheit im Programm für den vorliegenden Band mehrfach erscheint, würde im klassischen indischen Denken am ehesten die Vorstellung der Ausgeglichenheit (sāmya) entsprechen. Ausgeglichenheit spielt z.B. im Kontext der traditionellen indischen Medizin, der Wissenschaft von der (vollen) Lebensspanne des Menschen (Āyurveda), eine große Rolle und wird dort als das ausgeglichene Verhältnis zueinander seitens der drei grundlegenden Körperstoffe (dhātu) Wind, Galle und Schleim bestimmt. Der Zustand ihrer Ausgeglichenheit, die Harmonie zwischen ihnen, stellt die vollkommene natürliche Konstitution des Menschen dar und wird als Gesundheit begriffen. Geht diese Harmonie durch das übermäßige oder zu geringe Vorhandensein eines der Körperstoffe verloren, so werden diese zu Störfaktoren (doṣa) und es liegt ein Zustand der Unausgeglichenheit (vaiṣamya) vor, der als Zustand der Krankheit begriffen wird.3 Ferner hat die Vorstellung der Ausgeglichenheit einen zentralen Platz in der Kosmologie und Ontologie des Sāṅkhya, einer alten und bis in die mittelalterliche Zeit weit verbreiteten und einflussreichen philosophischen Tradition Indiens. Der kosmische Urzustand, der mit der Urmaterie selbst (pradhāna oder prakṛti) gleichgesetzt werden kann, wird als Zustand der Ausgeglichenheit von drei wesenhaften »Konstituenten« (guṇa) der Urmaterie konzipiert, die als stofflich vorgestellte Funktionsweisen oder funktionelle Formen eben dieser einen Urmaterie zu verstehen sind; diese sind »Sein« oder »Güte« (sattva), die leichte und erleuchtende Funktionsform der Urmaterie, »Leidenschaft« (rajas), die bewegliche und antreibende Funktionsform, und »Dunkelheit« (tamas), die schwere und hemmende Funktionsform.4 Ihre Ausgeglichenheit ist der vollkommene uranfängliche Zustand des noch nicht entfalteten materiellen Bereichs der streng dualistisch konzipierten Welt des Sāṅkhya, bevor dann aufgrund einer Störung dieser Balance und einer Unausgeglichenheit der drei Funktionsformen eine von der Urmaterie ausgehende kosmische Evolution und Entfaltung einsetzt. Diese stellt einerseits die Schöpfung der uns bekannten Welt mit all ihren physischen und psychischen Erscheinungen dar, hat andererseits aber auch die Verstrickung der eigentlich völlig separat neben der Urmaterie existierenden, individuellen reinen Geistigkeit in die vielfältigen Phänomene der physisch-psychischen Welt und damit einen Zustand individueller Verblendung zum Resultat.5 Was nun die »Sorge(n)« anbelangt, so gibt es keinen Terminus im Sanskrit, der allein das weite semantische Feld des deutschen Wortes »Sorge« auch nur annä230 | Karin Preis e nd a nz
hernd abdecken würde und sich auf einen entsprechend komplexen und multivalenten Begriff beziehen würde. Es gibt jedoch eine Anzahl verschiedener Termini, die sich auf einzelne Aspekte von »Sorge« beziehen. Das Wort cintā, »Gedanke«, wird oft in einer pluralischen Bedeutung für »Gedanken« verwendet und bezieht sich dabei insbesondere auf trübe, beunruhigende und schmerzliche Gedanken, so dass man es mit »Sorge« oder »Besorgnis« (über etwas) oder auch »Sorgen« wiedergeben kann. »Sorge« oder »Besorgnis« (cintā) ist in der indischen Theatertheorie und Ästhetik die Bezeichnung für eine der dreiunddreißig alternierenden, situativ einsetzenden Befindlichkeiten,6 welche die acht emotionalen Grundstimmungen (rasa) ergänzen, von denen jeweils eine in einem Theaterstück oder anderen dichterischen Werk dominant sein sollte.7 Das Wort cintā ist von der Wurzel cet »erkennen, auf etwas achthaben« abgeleitet.8 Eine ähnliche Semantik liegt bei dem Wort ādhi, pluralisch »Gedanken«, aber auch »Sorge« und »Seelenleiden« vor, das von der Wurzel dhyā »sich vorstellen, im Sinn haben, denken an, nachdenken über« abgeleitet ist.9 Wenn man auf etwas Acht hat, d.h. sich einer Sache gedanklich – und vielleicht auch emotional – fokussiert in intensiver Weise zuwendet, dann bedeutet dies auch, dass man um diese Sache besorgt ist. Das Wort cintā lässt sich daher auch mit »Sorge« und »Besorgtheit« (um etwas) übersetzen. Ähnliches gilt für das verwandte Wort cintana, d.h. »Denken« (an etwas), »Nachdenken« (über etwas) und »Sorge« (um etwas). Statt einer Sache kann das Objekt, auf das sich die Sorge bezieht, in jedem Fall auch eine Person sein.10 Mit den Worten cintā und cintana wird der geistige und emotionale Aspekt von »Sorge« angesprochen. Was den eher praktischen Aspekt von »Sorge« betrifft, dass man Sorge für jemanden oder etwas walten lässt, also die »Sorge« für jemanden oder etwas oder »Fürsorge«, so ist dieser Aspekt auf verschiedene Weise Teil des semantischen Feldes einer ganzen Anzahl von Wörtern des Sanskrit oder steht mit den durch diese bezeichneten Begriffen in enger Verbindung. Vor allem upakāra, »Diensterweisung«, und sevā, »Dienst« (für oder an jemandem), sind hier zu nennen, wobei der letztere Begriff, der eine Fürsorge einschließt, eine zentrale Rolle in Mahatma Gandhis Ethik einnahm; er nannte daher die kleine Siedlung in der Mitte des indischen Subkontinents, die er während der letzten zwölf Jahre seines Lebens mit engen Anhängern aufbaute und von der aus er in dieser Zeit wirkte, Sevagram, wörtlich »Dorf des Dienstes«. Der Begriff der Fürsorge steht ferner dem der Wohltätigkeit sehr nahe, die allgemein mit dem Sanskrit-Wort hitakāraṇa (»Tun von Heilvollem«) bezeichnet wird. Freigiebigkeit, Spenden und Stiften (dāna, »Geben«), die in allen großen religiösen Traditionen Indiens eine Rolle spielen, stellen hingegen eine wichtige konkrete Art von Fürsorge dar.11 Auch Mitleid und Mitgefühl, mit den Worten karuṇā, dayā und anukampā bezeichnet, die als ethische Haltungen und tatsächlich erlebte Gefühle einen besonderen Stellenwert in der buddhistischen Spiritualität und Praxis besitzen, implizieren S o rge ( n) im R a hme n d e s S t re be n s n ac h Voll kom m e n h e i t | 231
u.a. Sorge um andere Lebewesen, wobei insbesondere mit anukampā, wörtlich: »Nach-« oder »Mitzittern«, der Aspekt des Besorgtseins um und der aktiven Fürsorge für andere angesprochen wird, sei es im weltlichen Kontext oder in Bezug auf das Heil; gemäß den ethisch-soteriologischen Vorstellungen des MahāyānaBuddhismus münden Mitleid und Mitgefühl des Bodhisattva auf der Handlungsebene ganz konkret in Fürsorge und Wohltätigkeit.12 Weiterhin stellt die medizinische Behandlung (upacāra) mit dem Ziel, den in der Unausgeglichenheit der drei Körperstoffe bestehenden Krankheitszustand zu beseitigen, eine Art konkreter Fürsorge dar.13 Verschiedene Vollkommenheitsvorstellungen bilden jeweils den Rahmen und Kontext der angesprochenen Begriffe auf der konzeptuellen und praktischen Ebene. Im Hinblick auf solche Vorstellungen ausdrücklich negativ besetzt sind hingegen zahlreiche mit verschiedenen Termini benannten Haltungen und Befindlichkeiten im unteren Spektrum von »Sorge«,14 wie Gier (lobha), Verlangen (rāga), Begierde (kāma) und Verhaftung (āsaṅga), sowie »Sorge(n)« im Sinne von Kummer (śoka) und Verzweiflung (viṣāda).
2. D i e vedisc h-brahm anisc he Kult urperi ode und di e ä lt e s te n re l igiöse n Vorst e ll ungen Die frühe Kulturgeschichte Indiens, die sich von ca. 1500 bis 500 v.u.Z. erstreckt, ist in literatur- und religionsgeschichtlicher Hinsicht von den vier Veden und der von ihnen ausgehenden und an sie anknüpfenden umfangreichen (oralen) Literatur geprägt, in sozialgeschichtlicher Hinsicht hingegen von der starken Dominanz des Standes der Brahmanen, die die genannte Literatur im Norden des Subkontinents schufen, pflegten und überlieferten. Auch wenn es zweifelsohne andere gesellschaftliche Milieus mit eigenen (oralen) Literaturen und religiösen Vorstellungen während dieser langen Zeitperiode in Indien gab, so ist uns deren Kulturgeschichte nur fragmentarisch aus der vedischen Literatur bekannt. Letztere eröffnet zuweilen auch Fenster auf eher volkstümliche oder regionale religiöse Vorstellungen oder lässt aus bestimmten Aspekten der Entwicklung ihrer eigenen religiösen Vorstellungen das Vorhandensein eben solcher anderer Vorstellungen erschließen. Die folgenden Ausführungen zu Aspekten des Phänomens der »Sorge(n)« im Rahmen des Strebens nach Vollkommenheit beziehen sich daher auf die Geisteswelt des vedisch-brahmanischen Milieus. Als Verständnishintergrund für den mit der indischen Kulturgeschichte nicht vertrauten Leser werden im Folgenden auch kurz die relevanten grundlegenden religiösen und metaphysischen Vorstellungen und die gesellschaftliche Situation der jeweiligen Phase bzw. des kulturellen Milieus 232 | Karin Preis e nd a nz
skizziert; damit sollte der jeweilige historische und konzeptuelle Rahmen für das herausgearbeitete Phänomen der »Sorge(n)« sowie für die darauf bezogenen, sich wandelnden Vorstellungen und epochen- und milieuspezifischen Umbrüche besser greifbar sein. Die Quelle für die religiösen Vorstellungen der ältesten Zeit sind die vier Veden, die ab ca. 1500 v.u.Z. im oralen Medium in der heute noch vorliegenden Form verfasst, als Sammlungen gestaltet und bis in die Neuzeit hinein tradiert wurden; sie stellen das religiös-sakrale Wissen (veda = Wissen) der Zeit dar.15 Die älteste der Sammlungen ist der Ṛgveda, mit mehr als tausend an die verschiedenen Götter gerichteten Hymnen (ṛc = Preisstrophe), die vorrangig einen religiös-rituellen Inhalt haben, aber – besonders in den historisch späteren Schichten der Sammlung – auch kosmogonische und proto-philosophische Gedanken ihrer Verfasser, der brahmanischen Dichter-Priester, zum Ausdruck bringen und einen Einblick in die daneben bestehende, frühe nicht-religiöse (orale) Literatur ermöglichen. Der Yajurveda ist eine Sammlung von Opfersprüchen und -formeln (yajus), die von den Priestern neben den feierlich rezitierten Hymnen bei der Durchführung der Opferrituale begleitend zu den einzelnen Handhabungen verwendet wurden. Ferner intonierte man während des Rituals bestimmte im Ṛgveda tradierte Hymnen nach festgelegten Melodien (sāman); diese Lieder sind im Sāmaveda zusammengetragen. Der vierte Veda, der Atharvaveda, stand ursprünglich mit einer bestimmten Klasse von Feuerpriestern (atharvan) in Verbindung und bewahrt vielfältiges faszinierendes Quellenmaterial: Hymnen an die Götter mit einem oft lebensnahen Ton, proto-philosophische, insbesondere kosmogonische Betrachtungen in hymnischer Form und Hymnen mit magisch-medizinischem Inhalt, sowie Gebete, Beschwörungen und sogar Verwünschungen. Er gewährt damit einen Blick auf die magisch geprägte Vorstellungs- und Lebenswelt außerhalb des elitären priesterlichen Milieus.16 In den genannten Quellen tritt uns eine Vielheit göttlicher Mächte entgegen, deren Wirken beschrieben und gepriesen wird und die um Unterstützung und Beistand gebeten werden. Hier finden sich einerseits altertümliche Naturgottheiten wie Himmel und Erde, und andererseits spezielle liturgische Gottheiten wie Agni, das Opferfeuer, und Soma, eine Pflanze, deren stimulierenden Saft man im Rahmen bestimmter Opferrituale presste und zu sich nahm. Die Vielfalt der Gottheiten insgesamt lässt sich als Ergebnis von ausgeprägt anthropomorphen sowie nur schwach oder gar nicht anthropomorphen Verdichtungen abstrakter Konzepte mit allgemein lebensweltlicher Relevanz zu göttlichen Mächten verstehen. Indra stellt, in besonders ausgeprägter anthropomorpher Form, Kraft und Potenz im Sinne physischer Stärke und militärisch-kriegerischer Macht dar, die Schar der Marut-s jugendliches Ungestüm, Varuṇa Recht und Wahrheit, Viṣṇu mit seinen drei den Kosmos durchmessenden Schritten räumliche Ausdehnung und die EröffS o rge ( n) im R a hme n d e s S t re be n s n ac h Voll kom m e n h e i t | 233
nung wie auch Erhaltung von lebenswichtigem Raum und Rudra die Wildheit und Gefahr der unbezähmten Natur, um nur die wichtigsten zu nennen. Ferner werden abstrakte Konzepte mit besonderer ethisch-moralischer, gesellschaftlicher und ritueller Relevanz zu nicht-anthropomorphen göttlichen Mächten verdichtet: Gott Mitra ist der Vertrag, Āryamān die Gastfreundschaft und Dakṣa die Geschicklichkeit im Opferritual.17 Die vielfältigen göttlichen Mächte sind durch ihre Disposition, ihre sich in ihrer jeweiligen Funktion äußernde gesetzesmäßige Bestimmung (dharman)18 in die allumfassende kosmische Ordnung eingebunden, die mit dem Wort ṛta, »Wahrheit«, bezeichnet wird, wobei Wahrheit und Wirklichkeit in der altertümlichen Vorstellungswelt der Veden kongruent sind. Gott Varuṇa ist der Hüter des ṛta und bestraft einerseits alle menschlichen Abweichungen von der in der Wahrheit bestehenden Ordnung, weshalb er auch als Gott des Eides fungiert, andererseits ahndet er auch andere Verletzungen der Ordnung im Sinne der wahren (normativen) Wirklichkeit.19 Obwohl die Sicht auf die Welt dem Zeugnis der genannten Quellen zufolge vorrangig von der Beschäftigung mit dem Diesseits geprägt war, lassen sich doch verschiedentliche Nachtodvorstellungen ausmachen, zum Teil auch mit Hilfe von späteren, altertümliche Vorstellungen erhaltenden Quellen. So stellte man sich eine unergründlich tiefe dunkle Unterwelt vor oder ein unter der Erde im Süden liegendes Reich des Königs Yama, vergleichbar dem Hades der alten Griechen, das zugleich die Welt der großen Mehrheit der Toten darstellt, zu der sie nach dem Tode geleitet werden. Weise, Seher und tapfere Krieger sah man als Sterne am Himmel transfiguriert, während man sich als besonders verdienter Opferherr nach dem Tode ein immer währendes glückliches Leben in Gemeinschaft mit den Göttern im Himmel erträumte.20 Daneben gab es den volkstümlichen Glauben an eine Weiterexistenz der Verstorbenen in einem nicht eindeutig lokalisierten Reich der Vorväter oder, so aus einem Detail des Totenkultes erschließbar, hier in dieser Welt in Form von Vögeln. Eine Art fortwährende Existenz auf Erden stellten sich die vedischen Dichter-Priester ferner in den eigenen männlichen Nachkommen vor sowie durch Ruhm, d.h. vermittels der seitens der Hinterbliebenen und anderer Mitmenschen gepflegten, dauerhaften positiven Erinnerung an die eigene Person. In proto-philosophischen Überlegungen darüber, was nach dem Tode mit dem Verstorbenen geschehen mag, hören wir hingegen davon, dass die verschiedenen empirischen und nicht-empirischen Bestandteile der Person in grundlegenden natürlichen Elementen verstreut werden oder in diese eingehen, was bestimmte wesenhafte Entsprechungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos impliziert und eine frühe Vorwegnahme späterer naturphilosophischer Ideen darstellt.21 Die Gesellschaft der ethnisch, sprachlich und kulturell eng verwandten vedischen Stämme von Viehhirten und Pferdezüchtern war in drei zunächst nicht rein hereditär bestimmten Ständen organisiert, dem »Lehrstand«, »Wehr234 | Karin Preis e nd a nz
stand« und »Nährstand«. Die geistliche und geistige Macht lag bei den Priestern (brāhmaṇa-s), die weltliche und militärische Macht bei den Aristokraten (kṣatriya-s); das Volk (viś) setzte sich aus Viehhaltern, Bauern, Handwerkern und anderen Dienstleistenden zusammen.
3. Vo ll ko m m e nhe it und Sorge im R ah men des vedi schen We lt bi l ds Im oben skizzierten Weltbild stellt das ṛta, die wirkliche Wahrheit oder wahrhafte Wirklichkeit, die allumfassende kosmische Ordnung, einen Zustand der Vollkommenheit dar, zum einen auf der höchsten makrokosmischen Ebene, auf der die göttlichen Mächte agieren, zum anderen aber auch auf der niedrigeren Ebene der hierarchisch konzipierten gesellschaftlichen Ordnung mit ihren Handlungsvorgaben. Das ṛta im Sinne eines vollkommenen Gefüges schließt somit normkonformes, wahrheits- und wirklichkeitsgerechtes Handeln von göttlichen Mächten und Menschen gleichermaßen ein. Die Götter tragen Sorge für die Befolgung, Bewahrung und Behütung der jeweiligen konkreten Zweckbestimmung oder Hingerichtetheit, die durch ihr(e) Werk(e) konstituiert wird und diesem/diesen inhärent ist (vrata), und somit zugleich auch für die Befolgung, Bewahrung und Behütung einer konkreten, auf mehrere Zwecke hin angelegten und in sich vollkommenen Weltstruktur. Dies bedeutet wiederum Sorge für ihr(e) Werk(e) selbst, in dem/denen das jeweilige Angelegtsein auf einen solchen spezifischen Zweck gesehen wird. Auch die beiden letztgenannten Aspekte, die zweckgerichtete Weltstruktur und das auf einen Zweck angelegte Werk selbst, können dabei als vrata bezeichnet werden. So ist zum Beispiel das allmorgendliche Erscheinen der als göttliche Macht aufgefassten Morgenröte, der Uṣas, also ihr immer wieder neu erfolgendes Werk der Erhellung der Welt, in seiner konkreten Zweckbestimmung, dass sich die Menschen zu ihrem Tagwerk erheben, Teil einer zweckgerichteten Weltstruktur. Die Menschen wiederum fügen sich dadurch, dass sie in der Frühe aufstehen, in Uṣas’ göttliches kosmisches Werk ein.22 Allgemein kann im vedischen Weltbild menschliche Vollkommenheit im Rahmen der kosmischen Vollkommenheit praktisch durch Erfüllung der auf das Individuum zutreffenden Vorgaben und Normen erreicht werden, also durch die Befolgung eines vrata im Sinne des »Sichanpassens als Nachvollzug eines festliegenden Verhaltensmodells«,23 wobei diese Vollkommenheit wiederum einen Beitrag zur Schaffung kosmischer Vollkommenheit im Sinne ihrer kontinuierlichen Erhaltung leistet. Daneben stellen aber auch die Erlangung von weltlichem Wohlergehen einerseits und das Erreichen der Todlosigkeit andererseits eine Art individueller, persönlicher Vollkommenheit für den Menschen in der vedischen Zeit dar. »Sorge« S o rge ( n) im R a hme n d e s S t re be n s n ac h Voll kom m e n h e i t | 235
in dem so abgesteckten Rahmen bezieht sich damit einerseits auf das Individuum selbst, betrifft andererseits aber auch das Wohl anderer, das Gemeinwohl, und das kosmische Wohl. Die Sorge um die aktive Erfüllung der dem Individuum nicht immer klar ersichtlichen Normen, also darum, den Vorgaben des ṛta konkret zu entsprechen, äußert sich auf der Handlungsebene zunächst in der Durchführung der häuslichen Opferrituale und in der Patronage von spezialisierten Priestern, die als ihre Aufgabe wiederum die sogenannten feierlichen Opferrituale durchführen und dabei – ihrem Stand entsprechend – belehrend wirken. Sie tun dies u.a. durch ihre visionäre hymnische Dichtung, die das wahre Wesen der Welt in immer neuer Weise ergründet und offenbart, also durch das bráhman, die dichter-priesterliche Formulierung der Wahrheit und Wirklichkeit, durch welche diese ihre magische Kraft entfaltet.24 Ferner kann man davon ausgehen, dass die Priester auch durch die erläuternde Unterweisung in die tiefere Bedeutung der Opferrituale ihre lehrende Funktion erfüllten und auf diese Weise für ein besseres Verständnis der rituellen Aufgaben anderer sorgten. Der Opferlohn (dakṣiṇā) erfolgte in Form von Vieh und Naturalien und – so zumindest gemäß einer möglichen Deutung – im Austausch mit dem durch die Durchführung der Rituale entstandenen Verdienst, der somit nicht dem Opferpriester, sondern dem Opferherrn zukommt. Auch im Falle einer anderen Deutung liegt eine Reziprozität vor, nämlich die Entschädigung des Opferpriesters, mittels des Opferlohns, dafür, dass er im Zuge der Opferhandlung für den Opferherrn Übles oder Böses auf sich genommen hat.25 In jedem Fall erfolgt durch die Patronage und den Opferlohn die Stiftung einer engen, wenn auch nicht spannungs- und konfliktfreien sozialen Beziehung zwischen dem Opferherrn (aus dem kṣatriya- oder viś-Stand, obwohl auch ein Mitglied des Priesterstandes einen anderen Priester als Opferpriester bestellen kann) und dem Opferpriester (brāhmaṇa), die über den auslösenden Aspekt der Sorge für sich selbst hinaus auch als eine zweckgeleitete Sorge füreinander beinhaltend gesehen werden kann. Ebenso gab es für religiöse Belehrung seitens der Brahmanen, wenn schon nicht direkte Entlohnung, die verpönt war, so doch diverse Gegenleistungen des Belehrten und somit eine Art von Reziprozität: Sorge um sich selbst und sein eigenes Wohl oder Heil ist zugleich »Versorgung« anderer. Eine Pflicht für den vedischen Menschen im Rahmen seines Strebens nach Vollkommenheit stellte weiter die Gastfreundschaft dar, die – wie oben bereits erwähnt – eine solch hohe kulturelle Bedeutung hatte, dass sie als abstrakte göttliche Macht im ethischen Bereich konzipiert wurde. Auch hier lässt sich konstatieren, dass die offensichtliche Fürsorge für andere zugleich Ausdruck einer Sorge um sich selbst ist, genauer gesagt: darum, sich selbst aktiv und bestätigend zur Norm in Beziehung zu setzen, im Hinblick auf das eigene Wohl und die eigene Vollkommenheit, und letztendlich auch Ausdruck einer Sorge um das vollkommene große Ganze, das ṛta. 236 | Karin Preis e nd a nz
Gleichermaßen sorgt der Mensch für die Götter, was sich in der eigenen Durchführung oder Beauftragung von Opferritualen äußert, stellen doch die Opfer eine Versorgung der Götter mit Nahrung und Preisliedern dar. Erstere erfolgt vor allem durch Vermittlung seitens der liturgischen Gottheit Agni oder mittels der Einladung der Götter als Gäste zum irdischen Opferplatz. Hierbei gilt das »do ut desPrinzip«, in Form eines geregelten Speise- und Gabenaustausches.26 Dieses Prinzip liegt auch dann zugrunde, wenn eine nebengeordnete göttliche Macht bei einem Opferritual nur scheinbar lediglich gepriesen wird, versucht der Opfernde doch damit, auch diese »bei Stimmung« zu halten und sich ihres weiteren positiven Wirkens im Gefüge der Weltordnung und speziell für sich selbst zu versichern, eine Art Assekuranz oder Vorsorge. Daneben tritt im vedischen Weltbild die Sorge um Sicherung des eigenen weltlichen Wohlstands als Ausdruck der individuellen Vollkommenheit hervor. Dieser bestand insbesondere in Vieh und Weidegründen, die gegen Krankheit und Diebstahl bzw. Unbrauchbarwerdung, insbesondere wegen ausbleibenden Monsunregens, und Eroberungsgelüste feindlicher Stämme geschützt werden müssen; hier holte man sich Schutz durch die Durchführung oder Beauftragung spezieller Opferrituale durch Priester bzw. konnte auf die Verteidigung mit Waffengewalt durch Angehörige des kṣatriya-Standes zurückgreifen. Der eigene Wohlstand wiederum ermöglicht fortgesetzte aufwendige Opfertätigkeit, Freigiebigkeit im Opferlohn und vorbildliche Ausübung der so wichtigen und für die vedischen Stämme in ihrer eigenen Perzeption charakteristischen Gastfreundschaft, sowie die bessere Erfüllung der dem eigenen Stand zugeordneten Pflichten, die sich auch auf die jeweils anderen Stände beziehen. Somit involviert die auf den ersten Blick dominante individuelle Sorge um sich selbst auch ein Zusammenspiel und einen kontinuierlichen gegenseitigen Austausch, wenn nicht gar eine Fürsorge für andere, innerhalb der Gesellschaft eines vedischen Stammesgebildes, in einer Weise, die wiederum durch die jeweiligen Pflichten der drei Stände vorgegeben ist. Die Sorge um sich selbst ist daher bei angemessener Konkretisierung im Handeln letztendlich einer gesellschaftlichen Vollkommenheit innerhalb des weiteren Rahmens der kosmischen Vollkommenheit zuträglich; die Sorge um individuelle Vollkommenheit befördert im Zusammenhang mit vorgegebenen Rollen innerhalb eines sozialen Beziehungsgeflechts zugleich die gesellschaftliche Vollkommenheit. Hinter dem Streben des vedischen Menschen nach Todlosigkeit – einer Form transzendenter individueller Vollkommenheit – steht hingegen Besorgnis über die drohende Vernichtung durch den physischen Tod, für deren Vermeidung oder Umgehung man Sorge trägt. Dies manifestiert sich in der Sorge um die Zeugung männlicher Nachkommen und der anschließenden Fürsorge für diese: eigene Söhne sind im vedischen Weltbild und auch in der Folgezeit in der brahmanisch-orthodoxen Kultur Indiens von immenser Bedeutung, insofern diese zu einem späteren ZeitS o rge ( n) im R a hme n d e s S t re be n s n ac h Voll kom m e n h e i t | 237
punkt für die Durchführung der Sterbe- und Totenrituale verantwortlich sein werden, für die rituelle Befriedung der Geister der Verstorbenen, auch im eigenen Interesse der Hinterbliebenen, bis sie ordnungsgemäß den Manen zugesellt sind, und für die periodische Versorgung der Manen durch sättigende Speiseopfer.27 Diese spezielle, Nachkommenschaft betreffende Sorge für andere, bedingt durch Sorge und Vorsorge für einen selbst, zielt letztendlich auch auf das Erlangen von Todlosigkeit im Sinne des Fortlebens in den Nachkommen und in deren andauernder Erinnerung an einen ab. Das Streben nach Todlosigkeit bedingt ferner die Sorge um Anhäufung von speziellem Verdienst, d.h. um die angemessene und vorbildliche, vorsorgende Durchführung von Opferritualen und Verehrung der göttlichen Mächte im Hinblick auf eine auch physisch unversehrte todlose Weiterexistenz nach dem Tode im Himmel, in Gesellschaft der anthropomorph vorgestellten Götter und ausreichend mit der zuvor im Opfer dargebrachten Nahrung versorgt. Dies ist ein hohes Ziel, das wohl nicht jeder zu erreichen hoffte; zumindest sollte jedoch die Anhäufung von speziellem Verdienst ein Weiterleben in dieser Welt durch fortdauerndes Ansehen und einen guten Nachruf nach sich ziehen, also die Erlangung einer wieder anderen Art von Todlosigkeit. Zu guter Letzt soll noch das Phänomen der Sorge im Sinne der konkreten, praktischen Fürsorge für andere seitens bestimmter Götter erwähnt werden. So sorgen z.B. die Aśvin-s, letztendlich mit den Dioskuren Castor und Pollux verwandte Zwillingsgötter, als heilende göttliche Mächte für andere. In den Hymnen des Ṛgveda werden sie als Heiler und Ärzte par excellence beschrieben und gepriesen. Sie sind in der Lage, ihren gealterten Verehrern neue Jugend, Kraft und Potenz zu verleihen. Darüber hinaus verstand man sie als wundersame Retter und Beschützer der Menschen. Verschiedene, nicht näher ausgeführte Legenden über ihre Fürsorge für die Menschen werden in den an sie gerichteten Hymnen angesprochen, z.B. wie sie einem gealterten Mann namens Cyavāna/Cyavana wieder Jugend und sexuelle Potenz verliehen, einen gewissen Krivi stärkten, den im Wasser schwimmenden Paura und den in Seenot befindlichen Sohn eines bestimmten Tugra retteten und einen Mann namens Atri von Ungemach in der Dunkelheit erlösten, was vielleicht auch als das Heilen von Blindheit verstanden werden kann. Ebenso benötigen die Götter trotz ihrer Göttlichkeit zuweilen heilende Fürsorge, und so werden die Aśvin-s mythologisch auch als Ärzte der Götter dargestellt, die z.B. Gott Indra – die göttliche Manifestation von kriegerischer Macht und Stärke überhaupt – heilen, wenn er aufgrund des übermäßigen Genusses des stimulierenden, normalerweise nur im rituellen Kontext zubereiteten und getrunkenen SomaTrunkes erkrankt ist.28
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4 . D i e Pe r iode de r B rāhm an. a-s – das fei erli che O pfe r r i t ual al s M aß all e r Dinge und das Konz ept der Vo ll ko m m e nhe it de r We lt durc h di e Vollkommenhei t de s O pfe rrit ual s Die um ca. 800 v.u.Z. beginnende Periode der Brāhmaṇa-s genannten, umfangreichen ritualexegetischen Werke überschneidet sich chronologisch mit der ausgehenden Periode der vier Veden.29 In den einzelnen Brāhmaṇa-s, die jeweils einem der vier Veden zugeordnet sind, widmen sich die hochgelehrten Exegeten der eingehenden Darstellung und insbesondere Erklärung und Auslegung der feierlichen vedischen Opferrituale unter all ihren Aspekten und in allen Details. Es ist offensichtlich, dass das feierliche Opferritual nun den zentralen Platz in den religiösen und proto-philosophischen Vorstellungen sowie im Weltbild überhaupt der priesterlichen Elite eingenommen hat, aus deren Kreis die Verfasser der Brāhmaṇa-s stammten. Vorboten der verschiedentlich ausgearbeiteten Zentralität des Opferrituals im Weltbild der Brāhmaṇa-s lassen sich aber schon in der vorherigen Periode der vier Veden ausmachen, z.B. wenn metaphorisch-dichterisch Parallelismen zwischen Vorgängen im Verlauf des Rituals, wie insbesondere der Soma-Pressung, und natürlichen kosmischen Vorgängen in den Hymnen zum Ausdruck gebracht werden.30 Eine konkrete kosmische Tragweite hat insbesondere das Soma-Ritual, das für sich, aber auch als Bestandteil verschiedener feierlicher Opferrituale durchgeführt wird; die ihrem konzeptionellen Ursprung nach liturgische Gottheit Soma erlangt dabei eine kosmisch umfassende Bedeutung dadurch, dass sie mit dem Spenden von lebenswichtiger Feuchtigkeit in dieser Welt hier in Verbindung gebracht wird.31 Das Opferritual als Ganzes wird ferner auch durch die verschiedene Form der drei Opferfeuerstellen, die bei den feierlichen Ritualen verwendet wurden, mit dem dreiteiligen Kosmos assoziiert. Schließlich finden sich vor allem im jüngeren Teil des Ṛgveda kosmogonische Hymnen, in denen die Weltenschöpfung als Durchführung eines Opferrituals durch einen göttlichen Opferpriester aufgefasst wird.32 In den Brāhmaṇa-s wird nun das Opferritual in der fehlerfreien Vollendung all seiner Aspekte gemäß der »vorwissenschaftlichen Wissenschaft« der Ritualexegese33 zum Ausdruck von ṛta par excellence und stärkt zugleich ṛta als Ganzes, stellt also gewissermaßen in sich eine vollkommene Harmonie dar, die einer anderen, vorgegebenen vollkommenen Harmonie folgt und diese dadurch vermehrt und stärkt. Die verschiedenen Komponenten der vollkommenen Opferhandlung werden von den Verfassern der Brāhmaṇa-s mit großer Liebe zum Detail und exegetischer Kreativität zu kosmischen und kosmogonischen Vorgängen in Beziehung und schließlich mit ihnen gleichgesetzt; letztendlich stellt das gesamte Opferritual S o rge ( n) im R a hme n d e s S t re be n s n ac h Voll kom m e n h e i t | 239
somit eine vollkommene (Wieder-)Schöpfung der Welt dar. Das Denken der Exegeten, die in den Brāhmaṇa-s zu Worte kommen, geht dabei von einem vielfältig differenzierten und systematisch angewandten Äquivalenzprinzip aus.
5. Vo ll kom m e nhe it und Sorge im Weltbi ld der B rā h m an. a-s Was die aufgrund der möglichen gesellschaftlichen Relevanz von »Sorge« im Hintergrund stehende gesellschaftliche Entwicklung in der Periode der Brāhmaṇa-s betrifft, so kann man von einer fortschreitenden Verhärtung der Standesgrenzen und einem Vordringen der reinen Vererblichkeit der Standeszugehörigkeit ausgehen. Es kommt nun ein vierter, dienender Stand zur alten hierarchischen Struktur der Gesellschaft hinzu, derjenige der śūdra-s, zunächst wohl von Angehörigen der sogenannten Substratbevölkerung gebildet, die die Ausübenden verschiedener Handwerke und Leister von als niedrig eingestuften Diensten umfasste. Es handelt sich hierbei um das Ergebnis einer allmählichen Integration, oder besser: um einen Anschluss, wenn auch auf niedrigster gesellschaftlicher Stufe, von Stammesfremden, also Angehörigen nicht-indoarischer Stämme im sich ständig nach Osten hin erweiternden Siedlungsgebiet der indoarischen Stämme im Norden des heutigen Indien.34 Die śūdra-s waren von den feierlichen Opferritualen ausgeschlossen und hatten lediglich eine Art verminderter Berechtigung zur Ausführung der kosmisch nicht unmittelbar wirksamen häuslichen Opferrituale, die in großer Anzahl neben den feierlichen stehen. In den Brāhmaṇa-s hören wir nach wie vor, bezogen auf die feierlichen Opferrituale, von der Versorgung der Götter und zugleich der Menschen, im Rahmen der Vorstellung eines erweiterten Gabenkreislaufes, d.h. die vom Menschen dargebrachte Opfergabe wird, möglicherweise über Zwischeninstanzen, von der jeweils angesprochenen göttlichen Macht entgegengenommen und kehrt, möglicherweise ebenfalls in mehreren Schritten, transformiert zum Opfernden zurück.35 Die so zum Ausdruck gebrachte Sorge für die Götter und implizierte praktische Fürsorge für sie muss konzeptuell jedoch in den Hintergrund treten gegenüber der immens werdenden Sorge um und Verantwortung für die vollkommene Durchführung der immer komplexer werdenden Opferrituale. Die Ordnung des Opferrituals ist nämlich jetzt zur subjektiven wie objektiven Weltordnung geworden, wobei jene zwar als solche wie diese vollendet für sich und in sich besteht, aber einer ständig wiederholten Aktualisierung bedarf; die wiederholte normgemäße Durchführung des Opferrituals durch den Menschen dient somit der Erhaltung der Weltordnung. Nun können sich die Opferpriester getrost als »Götter auf Erden« bezeichnen, und die so de facto entmachteten Götter haben in diesem Rahmen keine andere 240 | Karin Preis e nd a nz
Wahl, als die dargebotenen Opfer anzunehmen. Sie werden nun selbst zu Durchführenden der verschiedenen Opferrituale, allen voran der welten- und kulturerschaffende Gott Prajāpati („Herr der Geschöpfe«), wenn sie – den Darstellungen der Ritualexegeten zufolge – in gleicher Weise in der Urzeit für die Erstschaffung der letztendlich mit der Struktur und dem Aufbau des Opferrituals identischen Weltordnung Sorge tragen,36 eine Ordnung, die in ihrer Vollkommenheit auch die gesellschaftliche Ordnung mit einschließt. Die Menschen wiederum haben nun vermehrt Sorge dafür zu tragen, dass die feierlichen Opferrituale dank ihrer großzügigen Patronage von Priestern durchgeführt werden; letztendlich ist dies ein Sorgetragen für den Weiterbestand der Weltordnung.37 In diesem weiteren Rahmen, der von der priesterlichen Elite selbst gesteckt wurde, erfolgt der Schritt zu einer weiteren großen Macht, die eben dieser Elite zu Teil wird und in ihrer eigenen Sorge um die Vollkommenheit des Opferrituals begründet ist: Das von den Opferpriestern und Ritualexegeten gepflegte, geheime identifikatorische Wissen um die vielen komplexen Zusammenhänge und Beziehungen38 im weiteren Kontext des die Weltordnung ausmachenden Opferrituals bedeutet nämlich, dass der Wissende über die »Essenz« konkreter oder abstrakter Natur, die er als jeweils in diesen Beziehungen liegend erkannt hat, verfügen kann. Er tut dies im Sinne eines spezifischen Zugangs zur magischen Kraft der Wahrheit, der die Möglichkeit einer Einflussnahme auf die Wirklichkeit eröffnet.39 Auf der anderen Seite bringt die große Verantwortung der ausführenden Priester und damit Sorge um die vollkommene Ausführung der Opferrituale, die diese Entwicklungen in der Auffassung vom Opferritual und seiner Wirkkraft bewirkten, auch eine Sorge um die Menschen in dieser in Stand zu haltenden Welt mit sich. Daher könnte man die vollkommene Durchführung der Rituale seitens der Priester auch als eine Art Fürsorge für andere verstehen. Im feierlichen Opferritual der gegenständlichen Periode liegt eine weitere Sorge seitens der Menschen um die Götter, genauer: den Schöpfergott Prajāpati. Die Schichtung der Opferstelle im agnicayana-Ritual ist nämlich nicht nur ein besonders beeindruckender sichtbarer Ausdruck der Wiederherstellung des Kosmos, sondern in der äußerst komplizierten und langwierigen Prozedur wird durch den Opfernden zugleich die heilende Wiederherstellung Prajāpatis selbst bewerkstelligt, der sich bei der urzeitlichen Schöpfung der Welt so sehr erschöpft hatte, dass er sich in seine Teile auflöste, eine Art von Selbstopfer des Schöpfergottes für die Schöpfung.40 Für den Opfernden hingegen stellt die im Laufe der einjährigen rituellen Prozedur erfolgende Wiederherstellung der Zeit in ihrer Gänze und damit ihrer Vollkommenheit eine Vorwegnahme seiner Überwindung der fortschreitenden, fragmentierten Zeit einschließlich des mit ihr einhergehenden Verfalls dar. Dies ist nichts anderes als eine Vorwegnahme seines Erlangens von Todlosigkeit, dem erklärten Ziel des Opferrituals und anderer feierlicher Opferrituale gemäß den S o rge ( n) im R a hme n d e s S t re be n s n ac h Voll kom m e n h e i t | 241
Brāhmaṇa-s, in denen die Todlosigkeit im eigentlichen Sinne immer mehr zum dominierenden individuellen Vollkommenheitsideal des Menschen wird.41 Die Sorge um sich selbst noch in diesem Leben hier wird im feierlichen Opferritual dadurch zum Ausdruck gebracht, dass es auch präzise und detaillierte Verbindungen zwischen der Ordnung und dem Aufbau des Rituals und dem Mikrokosmos, spezifisch: dem Körper des Opfernden, gibt. Dies wird in der Darstellung und Auslegung des Neu- und Vollmondrituals in den Brāhmaṇa-s deutlich.42 Die anzustrebende vollkommene Ordnung eines bestimmten Rituals entspricht also nicht nur der Ordnung des Makrokosmos und stellt diese stets wieder neu her, sondern sie entspricht auch der anzustrebenden vollkommenen Ordnung des menschlichen Körpers und erhält diese durch ihre stetige rituelle Aktualisierung. Es darf also nichts im regulären Ablauf des Opferrituals ausgelassen werden; dies wäre so, »als ob man ein Körperglied abbräche oder eine der Vitalkräfte wegschlüge«.43 Es zeigt sich in der ritualistischen Weltsicht der Brāhmaṇa-s also eine exemplarische Verschlingung von Sorge um und für sich selbst, Sorge für andere, einschließlich der Götter, und Sorge um und für das kosmische Ganze im Rahmen des Strebens nach Vollkommenheit innerhalb eines hoch entwickelten und reflektierten magisch-analogischen Weltbildes.
6. D i e H inwe ndung zur We se nssc hau i n den U pa n is. ade n: Ne ue Voll kom m e nh ei tsvorstellungen un d Sorge n Die in den Brāhmaṇa-s zunehmend an Bedeutung gewinnende Rolle des detaillierten identifikatorischen Wissens über das Opferritual führt schließlich dazu, dass in manchen Kreisen der priesterlichen Elite das bloße Wissen über das Wesen des Opferrituals als ausreichend und wirksam erachtet wurde und die tatsächliche Durchführung des Opferrituals für die Erfüllung seiner Funktionen sekundär oder gänzlich unbedeutend wurde. Somit kommt es – schon in den Ausführungen einiger jüngerer Brāhmaṇa-s und den sich chronologisch an die Brāhmaṇa-s anschließenden »Wildnisbüchern« (Āraṇyaka-s) – zur Praxis einer Verinnerlichung des Opferrituals, also seinem Vollzug nur in Gedanken und im bzw. am eigenen Körper, verbunden mit dem umfassenden Wissen über die relevanten Identifikationen.44 In den auf die Āraṇyaka-s folgenden älteren Upaniṣaden (ab ca. 500 v.u.Z.) entwickelt sich schließlich eine zwar noch auf der Ritualexegese basierende, aber dennoch innovative Vorstellung von der Vervollkommnung des Individuums. Diese erfolgt durch das Erlangen des umfassenden Wissens über den brahman genann242 | Karin Preis e nd a nz
ten, einen und unveränderlichen Ursprung und Urgrund der Welt, der alles Belebte und Unbelebte wesenhaft durchdringt, verbunden mit der Realisierung, dass das eigene Selbst mit diesem wesensgleich ist. Dieses Wissen eröffnet Macht und Kontrolle über das Erkannte, wie im ritualexegetischen Denkmuster, ist aber darüber hinaus – in Verbindung mit Askese und Rückzug aus der dörflichen Gesellschaft mit all ihren Pflichten und Sorgen – Voraussetzung für die Beschreitung eines ganz bestimmten Nachtod-Weges. Dieser ist der lichte »Götterweg« (devayāna), der den Wissenden zur Todlosigkeit im Sinne einer immer währenden Existenz in der Welt des brahman führt, aus der es definitiv keine Rückkehr mehr in diese Welt hier gibt. Dies ist unter anderem vor dem Hintergrund zu sehen, dass sich schon in der Zeit der jüngeren Brāhmaṇa-s im Denken der priesterlichen Elite die Sorge um einen möglichen Wieder-Tod eingeschlichen hatte, der einen nach Erlangung der angestrebten individuellen Vervollkommnung in der (nur vermeintlichen) Todlosigkeit ereilen könnte, womit diese eben doch keine Vollkommenheit darstellt. Im Gegensatz zum lichten Götterweg steht der dunkle »Väterweg« (pitṛyāna), also der Weg der Ahnen oder zu den Ahnen: die mustergültige Durchführung ritueller Handlungen und Freigiebigkeit, also verdienstvolles Handeln im Rahmen der dörflichen Gesellschaft, führt die Verstorbenen zunächst zur Welt der Väter und zu einem Aufenthalt im Mond, der in seiner Dauer von der Menge des »Niederschlags« ihrer früheren Spenden abhängig ist. Der Weg setzt sich dann jedoch in einer Rückkehr in diese Welt hier fort, zu einer erneuten Existenz. Dieser Weg stellt in seiner Darstellung in den älteren Upaniṣaden eindeutig den zweitrangigen dar, gilt aber für die große Mehrheit der Menschen, die sich den traditionellen sozio-religiösen Normen unterwerfen und in ihrer im Kontext der Gesellschaft stattfindenden Erfüllung Vollkommenheit und ein Mittel zur eigenen Vervollkommnung sehen.45 Sorge um und für sich selbst steht im Zentrum des Götterweges und auch des vorangehenden Strebens nach dem Wissen um das Wesen des eigenen Selbstes; Fürsorge auch für andere findet sich hingegen im Zusammenhang mit dem Väterweg, in Form der Durchführung und Beauftragung von Opferritualen sowie in Form von Freigiebigkeit, mit der wahrscheinlich vorrangig Freigiebigkeit gegenüber der priesterlichen Elite gemeint ist, vielleicht aber auch die achtungsvolle Unterstützung von denjenigen Personen, die sich auf den Weg des Wissens begeben haben. Im Götterweg, der hier exemplarisch aus verschiedenen upaniṣadischen Lehren über die befreiende Erkenntnis des eigenen Wesens und individuelle Vervollkommnung herausgegriffen wurde, zeichnet sich zudem bereits das Phänomen des soteriologischen Solipsismus ab, der später für die religiösen Traditionen der Hindus kennzeichnend werden wird.
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7. D i e re l igiöse n Reform bewe gung en Ab der Mitte des 1. Millenniums v.u.Z. bahnt sich im nordöstlichen Indien ein radikaler religiöser Umbruch an, charakterisiert durch eine dezidierte Abwendung von der reinen hochritualisierten Opferreligion und -ideologie und den bestehenden gesellschaftlichen Strukturen mit einer durch die Dominanz der priesterlichen Elite bestimmten Hierarchie. Eventuell ausgelöst durch die Spannung zwischen Sein und Sollen, also aufgrund der gefühlten Unerreichbarkeit der immer mehr von den Ritualspezialisten konzeptuell in Beschlag genommenen, aber dennoch anzustrebenden Vollkommenheit, vielleicht auch dadurch, dass die Möglichkeiten des eigenen, direkten sinnvollen Handelns im Hinblick auf dieses Ziel immer mehr eingeschränkt wurden, oder auch wegen der zunehmend schwierigen Nachvollziehbarkeit der ritualistisch geprägten Vollkommenheitsvorstellungen, erfolgt nun eine Suche nach Alternativen. Diese Suche geht einher mit der Abwendung von der Gesellschaft, d.h. der Großfamilie und der dörflichen oder frühen städtischen Gemeinschaft, bestehend im Abwerfen der durch sie bestimmten vielfältigen sozio-religiösen und religiösen Pflichten und einem Rückzug in die Einsamkeit der Wildnis, oft zusammen mit einigen gleichgesinnten anderen Suchenden. Man experimentierte mit neu entwickelten Hilfsmitteln für die Erlangung von tiefschürfendem Wissen über das Wesen der Welt und seiner selbst, bestehend in systematischen meditativen Übungen, Atemübungen und verschiedenen asketischen Praktiken, wie extremem Fasten, sich der Sonne Aussetzen und anderen Kasteiungen des Körpers. Einerseits fügt sich historisch gesehen dieses Streben in den Rahmen einer Weiterentwicklung von Vorstellungen, wie derjenigen vom durch Wissen geprägten »Götterweg« hin zu einem Zustand der Vollkommenheit, die mit einer ganz bestimmten priesterlichen Elite in Verbindung standen; andererseits kam es im Zuge dieser Bewegung von nach Wissen suchenden »Aussteigern« zur Bildung von Gruppierungen von »sich Abmühenden« (śramaṇa-s), die sich um zum Teil namentlich bekannte häretische Lehrer scharten, die ganz neue Welterklärungen, Ideologien und Praktiken verkündeten. Der Tradition zufolge schlossen sich auch Siddhārtha Gautama, der historische Buddha, und Vardhamāna Mahāvīra, der historische Jina, der Bewegung an und wurden zu eben solchen Lehrern und letztendlich zu Begründern neuer religiöser Traditionen in Indien, dem Buddhismus und Jinismus ( Jainismus). Mit den neuen religiösen Vorstellungen kamen aber nicht nur neue Vorstellungen über die Vollkommenheit von Welt und Mensch, sondern es entstanden in diesem Zusammenhang auch neue Sorgen für diejenigen, die sich die neuen Vorstellungen zu eigen machten und nach Vollkommenheit strebten. Besonders im Falle des Buddhismus wird die historische Entwicklung – wie oben bereits angedeutet46 – vielfältige Ausdrucksformen von »Sorge(n)« zeitigen. 244 | Karin Preis e nd a nz
A n m e r kun ge n 1 Zu den am häufigsten verwendeten Worten zählen wohl siddhi und siddhatva, sampad, sampatti und sampannatva, (pari)niṣpatti und (pari)niṣpannatva sowie (sam/pari)pūrṇatva. 2 Alle im Folgenden verwendeten fremdsprachlichen Wörter sind Wörter des Sanskrit, im Sinne der alten Kultursprache Indiens in der Gesamtheit ihrer historischen Entwicklungsstufen. 3 Siehe z.B. C. Vogel, »Die theoretischen Grundlagen der indischen Medizin«, in: K. Hoheisel/H.-J. Klimkeit (Hgg.), Heil und Heilung in den Religionen, Wiesbaden 1995, S. 75–87. 4 Zu den drei »Konstituenten« der Urmaterie siehe Sāṅkhyakārikā 13 in E. Frauwallners Übersetzung dieser klassischen Darstellung der Sāṅkhya-Philosophie in: G. Oberhammer/ Ch. H. Werba (Hgg.), Erich Frauwallner, Philosophische Texte des Hinduismus (Nachgelassene Werke, Bd. 2), Wien 1992, S. 95–118 (S. 107). 5 Zu einer philosophischen Analyse und Bestimmung der drei Funktionsformen der Urmaterie sowie zu den beiden Zuständen ihrer Ausgeglichenheit und Unausgeglichenheit siehe K. B. Ramakrishna Rao, »The Guṇas of Prakṛti According to the Sāṁkhya Philosophy«, Philosophy East and West 13.1 (1963), S. 61–71. Zur Urmaterie des Sāṅkhya allgemein siehe K. A. Jacobsen, Prakṛti in Sāṃkhya-Yoga. Material Principle, Religious Experience, Ethical Implications (Asian Thought and Culture, Bd. 30), New York u.a. 1999, Teil II (Kapitel 5–7). 6 Siehe A. Malinar, »Schauspieler und ihre Rollen: Zur Deutung der sāttvika-bhāvas im Nāṭyaśāstra«, in: K. Steiner/H. Brückner (Hgg.), Indisches Theater: Text, Theorie, Praxis (Drama und Theater in Südasien, Bd. 8), Wiesbaden 2010, S. 10. 7 Eine kurze Beschreibung der Ursachen von »Sorge« / »Besorgnis« und der Weise, wie sie auf der Bühne zum Ausdruck gebracht werden soll, findet sich schon im Grundlagenwerk der altindischen Schauspielkunst, dem Nāṭyaśāstra. Siehe Nāṭyaśāstra 7.50 mit Prosa-Einleitung, in: M. Ghosh, Nāṭyaśāstra (A Treatise on Ancient Indian Dramaturgy and Histrionics) Ascribed to Bharata-Muni, 4 Bde., Nachdruck Varanasi 2002 (Chowkhamba Sanskrit Studies, Bd. 118), Übersetzung Bd. 1, S. 131f. 8 Siehe M. Mayrhofer, Etymologisches Wörterbuch des Altindoarischen (Indogermanische Bibliothek, Reihe 2, Wörterbücher), Bd. 1, Heidelberg 1992, S. 547f. 9 Siehe O. Böhtlingk/R. Roth, Sanskrit-Wörterbuch, St. Petersburg 1855–1875, s.v. ādhi und dhyā. 10 Siehe Böhtlingk/Roth (o. Anm. 9), s.v. cintā und cintana. 11 Siehe z.B. E. B. Findley, Dāna. Giving and Getting in Pali Buddhism, Delhi 2003. Theorien des Geschehens in den drei großen religiösen Traditionen Südasiens werden in M. Heim, Theories of the Gift in South Asia. Hindu, Budhist, and Jain Reflections on Dāna (Religion in History, Society, and Culture, Bd. 9), New York/London 2004 behandelt. Heim arbeitet dabei eine »Ethik der Wertschätzung« in einer hierarchischen Kultur, gekennzeichnet durch Ungleichheit und soziale Differenzierung heraus. 12 Siehe hierzu M. Maithrimurthi, Wohlwollen, Mitleid, Freude und Gleichmut. Eine ideengeschichtliche Untersuchung der vier apramāṇas in der buddhistischen Ethik und Spiritualiät S o rge ( n) im R a hme n d e s S t re be n s n ac h Voll kom m e n h e i t | 245
von den Anfängen bis hin zum frühen Yogācāra (Alt- und Neu-Indische Studien, Bd. 50), Stuttgart 1999, Kapitel 3, besonders S. 118–124, und Kapitel 8, besonders S. 234–240 und 252f. 13 Zur Sorge in diesem Kontext, auch aus einer anthropologischen Perspektive, siehe F. Zimmermann, »La place du soin dans la culture ayurvédique indienne«, in: P.-H. Keller / J. Pierret, Qu’est-ce que soigner? Le soin, du professionnel à la personne, Paris 2000, S. 191–205. 14 S. den Beitrag von J. Fried im vorliegenden Band. 15 Hier ist auf die bahnbrechende Studie zur Dialektologie, Chronologie und Geographie der vedischen Literatur, einschließlich der Literatur der Brāhmaṇa-s (siehe unten, Abschnitt 4), von M. Witzel, »Tracing the Vedic Dialects«, in: C. Caillat (Hrsg.), Dialectes dans les littératures indo-aryennes. Actes du Colloque International organisé par l’UA 1058 sous les auspices du C.N.R.S … Paris (Fondation Hugot), 16–18 septembre 1986, Paris 1989, S. 97–265, zu verweisen. 16 Zu den vier Veden aus literaturgeschichtlicher Sicht siehe die konzisen Beiträge von Th. Oberlies in: H. L. Arnold (Hrsg.), Kindlers Literaturlexikon, Stuttgart/Weimar 32009, Bd. 1: A-Bak, S. 657–659 (»Atharvaveda«), Bd. 13: Pin-Roo, S. 627f. (»Ṛgveda«), Bd. 14: Ror–Sez, S. 313f. (»Sāmaveda«) und Bd. 17: Vil–Z, S. 632–634 (»Yajurveda«). 17 Zu den vedischen Göttern aus historisch-religionswissenschaftlicher Sicht, ihrer Mythologie und ihrem Kultus siehe Th. Oberlies, Der Rigveda und seine Religion, Berlin 2012, Kapitel 5–7. Eine ausführlichere Darstellung des gleichen Autors findet sich in seinem Buch Die Religion des Ṛgveda. Erster Teil: Das religiöse System des Ṛgveda (Publications of the De Nobili Research Library, Bd. 26), Wien 1998. 18 Siehe H. Willman-Grabowska, »Evolution sémantique du mot ›dharma‹«, Rocznik Orientalisticzny 10 (1934), S. 38–50, besonders S. 38–42. 19 Siehe H. Lüders, Varuṇa, aus dem Nachlaß hrsg. von L. Alsdorf. Teil 2: Varuṇa und das Ṛta, Göttingen 1959. 20 Siehe H. Bodewitz, »Life after Death in the Ṛgvedasaṃhitā«, Wiener Zeitschrift für die Kunde Südasiens 38 (1994) (= R. A. C. Mesquita/Ch. H. Werba [Hgg.], Orbis Indicus. Gerhardo Oberhammer lustrum XIII. exigenti ab amicis discipulisque oblatus), S. 23–41. 21 Siehe K. Preisendanz, »Soul, Body and Person in Ancient India«, in: H.-D. Klein (Hrsg.), Der Begriff der Seele in der Philosophiegeschichte, Würzburg 2005, S. 119–175, auf S. 151–158. Siehe auch Oberlies, Der Rigveda und seine Religion (o. Anm. 17), Kapitel 8 (»Die rigvedischen Jenseits- und Seelenvorstellungen«). 22 Zum hier kurz umrissenen, komplexen und nur schwer mit einem Wort wiedergebbaren Begriff des vrata siehe P. Hacker, »Vrata«, Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen aus dem Jahre 1973. Philosophisch-historische Klasse, Göttingen 1973, S. 109–142, besonders S. 119–125. Für die an Uṣas gerichteten Hymnen in ihrer Gesamtheit sei der Leser auf L. Renou, Études védiques et pāṇinéennes, Tome III (Publications de l’Institut de civilisation indienne Série in-8°, Fascicule 4), Paris 1957, S. 1–104, verwiesen. 23 Hacker (o. Anm. 22), S. 126. 246 | Karin Preis e nd a nz
24 Siehe P. Thieme, »Bráhman«, Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 102 (Neue Folge 27) (1952), S. 91–129. 25 Gemäß der Heesterman’schen Deutung des archaischen, noch nicht ritualisierten Opfers handelt es sich bei der dakṣiṇā hingegen um ein mit Tod und Unreinheit behaftetes Geschenk des Opferherrn, ursprünglich an seine Gäste im Kontext des Opfermahls, auf einer späteren historischen Stufe dann an den amtierenden Opferpriester. Siehe J. C. Heesterman, »Reflections on the Significance of the Dakṣiṇā.«, Indo-Iranian Journal 3 (1959), S. 241–258, und ders., The Broken World of Sacrifice. An Essay in Ancient Indian Ritual, Chicago/London 1993, Kapitel 1, besonders S. 33–39. 26 Zur Mittlerfunktion Agnis in diesem weiteren Kontext siehe E. Wilden, Der Kreislauf der Opfergaben im Veda (Alt- und Neu-Indische Studien, Bd. 51), Stuttgart 2000, besonders S. 27–44. 27 Zu einer kurzen Darstellung der Toten- und Ahnenrituale siehe Oberlies, Der Rigveda und seine Religion (o. Anm.17), S. 294–300. 28 Zum Bezug der vedischen Götter zu medizinischer Fürsorge und Medizin überhaupt siehe den umfassenden Überblick in G. U. Thite, Medicine. Its Magico-Religious Aspects According to Vedic and Later Literature, Poona 1982, Kapitel VI, besonders S. 152–167. 29 Zum literaturgeschichtlichen Aspekt der Brāhmaṇa-s kann wieder auf eine konzise Darstellung von Oberlies in Kindlers Literaturlexikon (o. Anm. 16) verwiesen werden, und zwar in Bd. 3: Bou-Chr, S. 52–54 (»Brāhmaṇas«). 30 Zu den Soma-Hymnen siehe Oberlies, Die Religion des Ṛgveda. Zweiter Teil: Kompositionsanalyse der Soma-Hymnen des Ṛgveda (Publications of the De Nobili Research Library, Bd. 27), Wien 1999. 31 Siehe hierzu Wilden (o. Anm. 26), Kapitel I.1.4, besonders S. 59–64. 32 Siehe z.B. Ṛgveda 10.81 (Viśvakarman) und 10.90 (Puruṣa), zusammen mit weiteren kosmogonischen und proto-philosophischen Hymnen aus dem Ṛgveda übersetzt und kommentiert in L. Renou, Hymnes spéculatifs du Véda (Connaissance de l’Orient. Collection UNESCO d’œuvres représentatives. Série indienne), Paris 1956, S. 77–80 und 97–100. Siehe auch F. Edgerton, The Beginnings of Indian Philosophy. Selections from the Rig Veda, Atharva Veda, Upaniads and Mahābhārata (UNESCO Collection of Representative Works. Indian Series), London 1965. S. 61–63 und 67f. und mit reicher Annotation: W. H. Maurer, Pinnacles of India’s Past. Selections from the Ṛgveda (University of Pennsylvania Studies on South Asia, Bd. 2), Amsterdam/ Philadelphia 1986, S. 271–280. 33 Siehe H. Oldenberg, Vorwissenschaftliche Wissenschaft. Die Weltanschauung der BrāhmaṇaTexte, Göttingen 1919. 34 Siehe hierzu wieder Witzel (o. Anm. 15). 35 Siehe wieder Wilden (o. Anm. 26), Kapitel II.3.1. 36 Vom Schöpfergott Brahmā, der in der Zeit nach den Brāhmaṇa-s die Stelle Prajāpatis einnimmt, heißt es an einer Stelle im Gopathabrāhmaṇa explizit, dass er im Anschluss an die Schöpfung seiner selbst in Besorgnis darüber geriet, wie er all das, was er zu schaffen hatte, mittels einer einzigen, alles umfassenden Silbe erfahren könne. Siehe R. Mitra/H. Vidyabhushana (Hgg.), Gopathabrāhmaṇa, Calcutta, 1872, 1.1.16. S o rge ( n) im R a hme n d e s S t re be n s n ac h Voll kom m e n h e i t | 247
37 Siehe weiter hierzu Oldenberg (o. Anm. 33) und B. K. Smith, Reflections on Resemblance, Ritual and Religion, Delhi 1998, besonders Kapitel 3 und 4. 38 Siehe hierzu weiterführend und historisch umfassend A. Michaels, Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart, München 1998, Kapitel VII.4 (»Das Heil der Identifikationen«), insbesondere den Abschnitt »Die Logik der Identifikationen« (S. 365–374). 39 Siehe hierzu St. Schayer, Die Struktur der magischen Weltanschauung nach dem Atharva-Veda und den Brahmana-Texten (Untersuchungen zur Geschichte des Buddhismus und verwandter Gebiete), München-Neubiberg 1925, und wieder Smith (o. Anm. 37), besonders Kapitel 7. 40 Siehe hierzu und zur rituellen Wiederherstellung Prajāpatis durch die Götter die weiteren Ausführungen in Smith (o. Anm. 37), S. 54–69. 41 Siehe hierzu speziell J. Gonda, Die Religionen Indiens, Bd. 1: Veda und älterer Hinduismus (Die Religionen der Menschheit, Bd. 11), Stuttgart u.a. 21978, Kapitel IV.3 (»Prajāpati und die rituelle Überwindung des Todes«); zum agnicayana-Ritual siehe auch H. Tull, The Vedic Origins of Karma. Cosmos as Man in Ancient Indian Myth and Ritual (SUNY Series in Hindu Studies), Albany 1989, Kapitel 3 (»The Fire Altar (Agnicayana) as Man and Cosmos«), und umfassend F. Staal, Agni. The Vedic Ritual of the Fire Altar, Berkeley 1983. 42 Zu diesem periodischen Opferritual siehe U. Rustagi, Darśapūrṇamāsa. A Comparative Ritualistic Study, New Delhi 1981. 43 Siehe Śatapathabrāhmaṇa 11.1.6.35 in J. Eggeling (Übers.), The Śatapatha-Brāhmaṇa According to the Text of the Mādhyandina School (Sacred Books of the East, Bd. 44), Teil 5, Nachdruck Delhi u.a. 1988, S. 20. 44 Hier ist vor allem das prāṇāgnihotra zu nennen, das Feueropferritual (agnihotra) vermittels der Körperwinde oder der windförmig vorgestellten Vitalkräfte (prāṇa). Siehe hierzu die Studie in H. W. Bodewitz, Jaiminīya Brāhmaṇa I,1-65. Translation and Commentary with a Study. Agnihotra and Prāṇāgnihotra (Orientalia Rheno-Traiectina, Bd. 70), Leiden 1973. 45 Zu den beiden Wegen, vor allem in ihrer Darstellung in der Bṛhadāraṇyaka- und ChāndogyaUpaniṣad, wo sie mit der sogenannten Fünf-Feuer-Lehre (pañcāgnividyā) verknüpft werden, siehe z.B. E. Frauwallner, Geschichte der indischen Philosophie, Bd. 1: Die Philosophie des Veda und des Epos – Der Buddha und der Jina – Das Sāṃkhya und das klassische Yoga-System, Salzburg 1953, S. 49–55, und G. Oberhammer/Ch.W. Werba (Hgg.), Erich Frauwallner (o. Anm. 4), S. 32–36; ferner L. Schmithausen, »Zur Textgeschichte der Pañcāgnividyā«, Wiener Zeitschrift für die Kunde Südasiens und Archiv für indische Philosophie 38 (1994), S. 43–60, und ders., »Mensch, Tier und Pflanze und der Tod in den älteren Upaniṣaden«, in: G. Oberhammer (Hrsg.), Im Tod gewinnt der Mensch sein Selbst. Das Phänomen des Todes in asiatischer und abendländischer Religionstradition. Arbeitsdokumentation eines Symposions (Österreichische Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte, Bd. 624), Wien 1995, S. 43–74, besonders S. 60–65. 46 S. oben Seite 231f.
248 | Karin Preis e nd a nz
REGISTER Adams, John 142 Addams, Jane 187 Adorno, Theodor W. 208, 211 Aelred von Rievaulx 90f. Agamben, Giorgio 220 Alexander der Große 106 Alexander VI. 128 Algarotti, Francesco 146 Alkuin 73f. Aristoteles 102 Armut 23f., 31–33, 60, 65, 67, 69f., 85–90, 92, 116f., 150, 152f., 156, 167, 173, 186, 188, 205 Arulenus Rusticus 41 Atilius Crescens 42 Augustinus 79–82, 93, 208 Augustus 17, 124 Barbaro, Zaccaria 122 Barmherzigkeit 60, 68, 73f., 80, 84, 89, 92 Bascano da Pescina 114 Basedow, Johann Bernhard 166–168 Bayle, Pierre 141f., 158f., 169 van Beethoven, Ludwig 159 Benediktsregel 68, 72, 82f., 86 Bergier, Nicolas 151, 154–157 Bernardino da Feltre 116 Bernardino da Siena 117 Beveridge, William Henry 189 von Bismarck, Otto 189f., 210 Blumenberg, Hans 35, 101 Borgia, Cesare 105f., 128 Botero, Giovanni 119, 121 Bougainville, Louis Antoine de 144 Bourgeois, Léon 190 Le Breton, André-Francois 151 Buddha 244 Burckhardt, Jacob 104, 111, 126
Caesar 27, 107 L. Calpurnius Piso Frugi 22 Capilupi, Benedetto 122 caritas / charité 10, 21, 60f, 65, 67f., 70, 74, 76, 80, 83, 86, 99, 116f., 141, 135, 150–158, 183 Cassirer, Ernst 104f. Chambers, Ephraim 151, 153f. Christus 81–84, 88f., 92 Cicero 16, 25–31, 65, 99, 109, 168 (Erucius) Clarus 48 (Septicius) Clarus 48 Clemens von Alexandria 88f. Condorcet 157, 165 Crassus 120f. Cura 16–18, 20–22, 33, 59–62, 64–66, 69f., 72, 74–76, 99–101, 109f., 119, 122–125, 148, 211f. Cusanus 104 D’Alembert 141, 151f., 157 Datini, Francesco 114f., 129f. Dehler, Thomas 193 Dewey, John 187 Diakonie 10, 86 Diderot, Denis 143f., 151f., 154–158, 160f. Dilthey, Wilhelm 209 Domitian 41 Domitius Apollinaris 49 Du Marsais 158 Einhard 64 Engels, Friedrich 186 Erasmus 104, 164 Familie 9, 15, 17, 24, 27, 39, 41, 43, 48, 50, 87, 148, 153, 158, 166, 173, 176, 188, 192, 201f., 210, 244 Federigo da Montefeltro 123 Ferdinand von Aragón 119–121
Re g i st e r | 249
Ficino 104 Filarete (Antonio Averlino) 87 (Romatius) Firmus 41f. Foucault, Michel 34, 38, 101, 167, 177, 199, 216, 218f., 221 Franziskus von Assisi 68, 83, 92 Frédéric de Castillon 141 Freud, Sigmund 142 Friedrich II. (v. Preußen) 140f., 143, 145–147, 160, 171f., 176 Fürsorge 10, 16–18, 21, 23f, 39–47, 49–51, 59–61, 64f., 67, 70–72, 76, 85–87, 92, 100, 116, 150–154, 158, 163, 169, 173, 183–186, 190, 192, 208, 210f. 228, 231f., 236–238, 240f., 243 (Minicius) Fundanus 46–48, 55 Gabe 9, 17f., 24, 31, 35, 42f., 71, 74, 89, 154, 237, 240 Gandhi, Mahatma 231 Geld 28, 40, 65, 86, 116–118, 126, 135, 172f., 175, 214 Gerechtigkeit 20, 25–27, 29, 35, 45, 66, 68f., 73–77, 83, 91, 102f., 186, 188, 198, 205 Gesundheit 183, 195–207, 209, 216, 230 Gesundheitsgesellschaft 198 Gesundheitspolitik 197f., 206 Gesundheitsreligion 183, 197f., 200 Gesundheitswesen 183, 195–206 Goethe, Johann Wolfgang 65 Gottschalk von Sachsen 71 Gracchus 22 Gregor der Große 74, 76 Groß, Konrad 87, 89 Großzügigkeit 23, 25–27, 30, 39f., 42, 169, 241 Guicciardini, Francesco 119–121, 123, 125 Guicciardini, Jacopo 121 Habermas, Jürgen208 Hadrian I. 65 Hass 82, 84, 91 250 | Register
Hegel 170, 177f. Heidegger 101, 207–209, 211, 214–216, 222 (Corellia) Hispulla 43 Hobbes, Thomas 143f., 166, 170 Hobhouse, Leonard T. 190 Hobson, John A. 190 Holbach 157 Homobonus 87, 89 Horaz 20 Hume, David 142 Hyginus 20, 35, 101 Innozenz III. 70, 88f. James, William 187 Johnson, Lyndon B. 189 Joseph II. 176 Justinian 25f. Heinrich II. 61 Kant 168 Kantscher Imperativ 10 Karl der Große 61, 64f., 69f., 72f., 75–77 Katharina II. 143 Kephalos 103 Kierkegaard 207, 211 Kinder 31, 43f., 50, 61, 84, 148, 152–154, 158, 162, 166–168, 203, 216 Krankheit 34, 39f., 85–89, 92, 152, 183, 187, 192, 196f., 201, 209, 212f., 217, 219f., 230, 232, 237 Krankenhäuser 87f. Krankenpflege 86–88, 191, 201, 218 Krünitz, Johann Georg 147–149 Kunigunde 61 Leibniz 168f. Lessing 164, 168 Liebe 9f., 47f., 59f., 66–68, 70, 79–87, 89–92, 156f., 167, 197, 209, 211 Eigenliebe 80, 82, 90, 157 Feindesliebe 10, 59, 68, 82, 91 Nächstenliebe 10, 21, 59f., 67, 70, 79–84, 87, 89, 91f., 141, 147, 150–160, 185
Livius 107 Lucius Junius Brutus 107 Ludwig VIII. 84 Ludwig XIV. 201 Ludwig XVI. 156 Luhmann, Niklas 208, 212f. Lukan 120 Luther, Martin 59, 148, 211 Machiavelli 99, 104–107, 121, 171f. Mandeville, Bernard 169 Marcus Junius Brutus 107 Marie-Antoinette 156 Marx, Karl 186f. ( Junius) Mauricus 41 de Medici, Lorenzo 100, 106, 110, 118–122, 124 Michelet, Jules 111 Michelozzi, Niccolò 123 Mill, John Stuart 186 Montesquieu 152f., 157f. (Iulius) Naso 46–48 Naumann, Friedrich 190f. Nero 110 Nerva 49 Notker Teutonicus 65f. Obama, Barack 189 Patronage 17, 21, 23, 39, 236, 241 Valerius Paulinus 40f. Petrarca 104, 129 Pico della Mirandola 104, 164 Platon 102f., 105 Plinius, d. Jüngere 16f., 39–55 124 Pompeius 17 Priscus 42 Rawls, John 102 Reziprozität 16–18, 24, 28, 30f., 35, 43, 45, 48, 50, 70, 74, 236 Richter, Eugen 190 von Rochow, Friedrich Eberhard 144, 167–169 Rolin, Nicolas 87, 89
Rousseau 143, 157, 167 (Corellius) Rufus 44 (Cremutius) Ruso 45f. Schiller 159, 216 Schröder, Gerhard 192 M. Seius 39 Selbstlosigkeit 9 Selbstsorge 21, 34, 99, 102f., 105f., 157, 183f., 198–201, 203f., 216–219, 221 Semler, Johann Salomo 168 Seneca 15, 32, 36, 109 (Gaius) Septicius 48 Sextus Erucius 48f. Sforza, Francesco 87, 89 Sforza, Lodovico 120 Sklaven 32, 39–41, 52, 144, 155 Smith, Adam 143, 169f., 176, 186 Sokrates 102f. Solidarität 10, 53, 126, 135, 176, 183, 185, 187, 191, 205f. Spalding, Johann Joachim 164, 166 Staat 9, 16f., 21–24, 26f., 29, 86, 102, 107, 110–113, 116, 119, 122–127, 140f., 147– 149, 167, 170, 172, 175, 177, 185–192, 201, 205, 210f., 214f., 220 Präventionsstaat 185 Rechtsstaat 188 Sozialstaat 26, 183, 185, 187–189, 191f., 195, 201, 204–206 Staatsfinanzen 174, 176 Staasträson 106 Staatsreligion 155 Staatszweck 172 Territorialstaat 118 Wohlfahrtsstaat 23, 185–194, 202, 210 von Stein, Lorenz 186 Stephen von Muret 82 Steuern 10, 189, 192 (Gaius Caecilius) Strabo 43f., 54 Strauss, Leo 105, 108 Re g i st e r | 251
Sulla 27 Theodulf von Orléans 76 Thomas von Aquin 64, 80, 92 Thrasymachos 103 Tiberius 17, 19 Tieri di Benci 114 Tod 9, 16, 44, 61, 88, 102f., 117, 120, 146, 156, 169, 195, 197f., 201, 208f., 211, 215–220, 234f., 237f., 241–243, 247 Tolstoi 195 Trapp, Ernst Christian 168 Triarius 45f. Turgot 175 Ungerechtigkeit 156, 205 (Cornelius) Ursus 39 Vardhamana Mahavira 244 Vasari, Giorgio 124, 134 Vergil 20 Verrocchio, Andrea 124 Versicherungen 114f., 125f., 130, 169, 189, 191 Arbeitslosenversicherung 189 Krankenversicherung 189 Prämienversicherung 115, 118 Rentenversicherung 188f., 210
252 | Register
Sozialversicherung 189, 192 Transportversicherung114 Unfallversicherung 189 Witwen- und Waisenversicherungen 169 Vico, Giambattista 169 Voltaire 141f., 146, 152–154, 157, 159, 165 Walahfrid Strabo 72 Weber, Max 82, 116, 210, 60 Wetti 72 Wido 73 Wieland 142 Witte, Samuel Simon 176 Wittgenstein 139 Wohlfahrt 22f., 110, 174, 185, 188, 191f., 202, 210 Wolff, Christian 141, 164, 166, 169, 173f. Wohltat / Wohltätigkeit 21, 23–32, 35, 41, 43, 50, 67, 87, 91, 117, 147, 150–154, 156, 156, 228, 231f. Wohltäter 16, 23, 25, 87, 150, 156 Wohltatenempfänger 31 Wohltätigkeitsorganisation 153 Yunus, Muhammad 116 Zedler, Johann Heinrich 148–150, 162f. Zosimus 40
ZU DEN AUTOREN Dr. Mirko Breitenstein, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Sächsischen Akademie der Wissenschaften Prof. Dr. Johannes Fried, emeritierter Professor für mittelalterliche Geschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main Prof. Dr. Alois Hahn, emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Trier-Kaiserslautern Prof. Dr. Martin Jehne, Professor für Alte Geschichte an der Technischen Universität Dresden Prof. Dr. Georg Kohler, emeritierter Professor für politische Philosophie an der Universität Zürich Prof. Dr. Gert Melville, Direktor der Forschungsstelle für vergleichende Ordensgeschichte in Dresden Prof. Dr. Karin Preisendanz, Professorin für Südasien-, Tibet- und Buddhismuskunde an der Universität Wien Prof. Dr. Bernd Schneidmüller, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Heidelberg Dr. Elke Stein-Hölkeskamp, Privatdozentin für Alte Geschichte an der Universität Siegen Prof. Dr. Enno Rudolph, emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Luzern Prof. Dr. Rudolf Schlögl, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Konstanz Prof. Dr. Gerd Schwerhoff, Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Technischen Universität Dresden Prof. Dr. Barbara Stollberg-Rilinger, Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster Prof. Dr. Edoardo Tortarolo, Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Università del Piemonte orientale Prof. Dr. Gregor Vogt-Spira, Professor für Klassische Philologie und Latinistik an der Universität Marburg Prof. Dr. Hans Vorländer, Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Dresden Prof. Dr. Brunhilde Wehinger, Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam Prof. Dr. Cornel Zwierlein, Professor für Umweltgeschichte an der Universität Bochum
Zu de n Au t ore n | 253
EUROPÄISCHE GRUNDBEGRIFFE IM WANDEL: VERL ANGEN NACH VOLLKOMMENHEIT HERAUSGEGEBEN VON GERT MELVILLE, GREGOR VOGT-SPIRA UND MIRKO BREITENSTEIN
In der europäischen Kultur ist die Vorstellung tief verankert, dass es optimale Formen des individuellen und sozialen Lebens gebe. Dadurch wird ein dynamisierendes Potential freigesetzt: ein stetes Streben nach etwas noch Vollkommeneren. In diesem Sinne werden hier die europäischen Grundwerte betrachtet: als Leitbegriffe, die immer wieder neu ausgehandelt, angepasst und korrigiert werden. Die Bände der Reihe befassen sich mit sechs Grundbegriffen, die in der europäischen Geschichte intensiv diskutiert worden sind: Gerechtigkeit, Sorge, Freiheit, Erkenntnis, Schönheit und Glückseligkeit. In jedem Band werden von der Antike bis in die Gegenwart solche Epochen oder Zäsuren vergleichend behandelt, die für Prägungen und Ausgestaltungen der Begriffe besonders entscheidend waren. Dabei werden immer sowohl die Seite des Konzepts wie die konkrete historische Verwirklichung in den Blick genommen. BD. 1 | GERECHTIGKEIT
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GERT MELVILLE
FROMMER EIFER UND METHODISCHER BETRIEB BEITRÄGE ZUM MITTELALTERLICHEN MÖNCHTUM HG. VON CRISTINA ANDENNA UND MIRKO BREITENSTEIN
Klöster, Orden und religiöse Lebensformen zählen zu den zentralen Forschungsfeldern von Gert Melville. Sein Blick richtet sich insbesondere auf den frommen Eifer wie auf den methodischen Betrieb derjenigen, die sich für ein regelgeleitetes Leben entschieden hatten: Mönche und Nonnen, Kanoniker und Eremiten. Ein wesentliches Anliegen seiner Forschung ist es, die Vita religiosa als ein europäisches Phänomen aufzuzeigen, das nur im raum- wie zeitübergreifenden Vergleich angemessen gewürdigt werden kann. Mit diesem vergleichenden Ansatz hat er nicht nur wichtige Beiträge geleistet, sondern auch neue Impulse gegeben und Forschungsfelder eröffnet. Der vorliegende Band vereinigt anlässlich des 70. Geburtstags von Gert Melville zentrale Aufsätze zum mittelalterlichen Mönchtum, die einen Überblick über seine vielfältigen Forschungen geben. 2014. XVI, 398 S. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-22414-1
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