Zehn Jahre deutsche Einheit [1 ed.] 9783428504596, 9783428104598


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German Pages 166 Year 2001

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Zehn Jahre deutsche Einheit [1 ed.]
 9783428504596, 9783428104598

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K O N R A D L O W (Hrsg.)

Zehn Jahre deutsche Einheit

SCHRIFTENREIHE DER G E S E L L S C H A F T FÜR

DEUTSCHLANDFORSCHUNG

B A N D 77

Zehn Jahre deutsche Einheit Herausgegeben von

Konrad Low

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Zehn Jahre deutsche Einheit / Konrad Low (Hrsg.). Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung ; Bd. 77) ISBN 3-428-10459-5

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanisehen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-10459-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Vorwort Am 9. November 1989 fiel jene Mauer, die Berlin, die Deutschland, die Europa, die den Globus geteilt hatte. Darüber freuten sich in Deutschland fast alle. Und die sich nicht freuten, wagten es kaum, ihr Unbehagen laut auszusprechen. Immer gewaltiger der Chor derer, die da skandierten: „Wir sind das Volk!" Aus dieser Parole wurde fast über Nacht: „Wir sind ein Volk!", und so kam es innerhalb nur eines Jahres zur Wiedervereinigung, zur staats- und völkerrechtlichen Einheit. Seitdem sind zehn Jahre vergangen. Doch die Einteilung in alte und neue Bundesländer dauert an und hat nicht nur eine historische Berechtigung. Der Graben, der die Deutschen jahrzehntelang trennte, ist noch nicht überall zugeschüttet. Freilich, die Kluft wird - ob bewußt oder nicht - überzeichnet. Unsere Demoskopen vergleichen Ost mit West und stellen fest, daß die Urteile und Empfindungen der Deutschen hier und dort in vielen Punkten differieren. Stieße man nicht auf ähnliche Differenzen, würde man Nord mit Süd vergleichen? Auch wenn die vermutete Überzeichnung den Tatsachen entspricht, die Spuren von fast einem halben Jahrhundert der Trennung sind nicht beseitigt und konnten in zehn Jahren auch nicht beseitigt werden, gleichgültig ob in diesem schier einmaligen Prozeß Fehler gemacht worden sind oder nicht. Die materielle und ideelle Kluft war einfach zu tief. Im Rahmen eines Symposiums mit acht Referaten ist es nicht möglich, alle Fragen und Themen, die sich mit Blick auf zehn Jahre deutsche Einheit aufdrängen, auch nur ansatzweise anzugehen. Es soll nur ein Beitrag zu einer großen Diskussion sein. Der gemeinsame Nenner aller Ausarbeitungen ist die deutsche Einheit, ansonsten sind sie breit gefächert: Recht und Staat, Kirche und Kultur, Politik und Wirtschaft. Grundsätzlicher Natur sind die Ausführungen von Vera Lengsfeld. Danach ließ die friedliche Revolution Sozialisten und Kommunisten aller Schattierungen schlecht aussehen. Doch indem sie die DDR-Ära verklären und die Schwierigkeiten der Wiedervereinigung aufbauschen, gelingt es ihnen, dank der breiten Resonanz bei jenen, die die deutsche Einheit längst abgeschrieben hatten, die Niederlage vergessen zu machen. Wirtschaftlich stellen sie sich ohnehin besser als ihre Opfer, wodurch das Vertrauen in die staatliche Gerechtigkeit erschüttert wird. Für die Erlangung der Demokratie in der DDR, der deutschen Einheit und die Zukunft unseres Landes sind - so Stephan Hilsberg - die demokratischen Werte von überragender Bedeutung. Mit ihrer Hilfe hat die oppositionelle Bewegung in der

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Vorwort

DDR den entscheidenden Anstoß für die Demokratisierung des Landes gegeben und hierdurch die Deutsche Einheit ermöglicht. Das Verdienst der alten Bundesrepublik bleibt, die Deutsche Frage offengehalten und im Moment ihrer Ermöglichung die Deutsche Einheit realisiert zu haben. Deren historische Bedeutung liegt in der Wiederherstellung der Deutschen Nation, die durch Hitler zerstört worden war. Wenn auch die Bilanz der ersten zehn Jahre der Deutschen Einheit zwiespältig und äußerst spannungsreich ist, muß gleichzeitig festgestellt werden, daß diese Spannungen nur durch die Demokratie beherrschbar waren und bleiben. Der Autor dieser Einleitung setzt sich mit Bohleys geflügeltem Wort „Gerechtigkeit haben wir erwartet, den Rechtsstaat bekommen" auseinander und zeigt, daß die rechtsstaatlichen Garantien des Grundgesetzes dem Bürger unvergleichlich mehr nützen als die konturenarme „Gerechtigkeit". Der Beitrag von Peter März über Kanzlerschaft im Wiedervereinigungsprozeß untersucht zunächst die für Helmut Kohl maßgeblichen historischen Koordinaten regional, national und europäisch - sowie ausgehend von allgemeinen Charakteristika der „Kanzlerdemokratie" seine Machtposition in den 80er Jahren und seine Regierungsweise. Dabei wird insbesondere auch auf eine eher attentistische Position in der nationalen Frage abgehoben. Ferner wird die Frage erörtert, ob und in welchem Maße der vor allem für politische Führungsfiguren in der Zeit des 19. Jahrhunderts geeignete Begriffe des Staatsmannes auf Kohl zutreffen könnte, wobei durchgehend gewandelte Rahmenbedingungen für politisches Agieren zu berücksichtigen sind. In diesem Zusammenhang wird auch auf die augenscheinlich von Kohl selbst forciert betriebene Historisierung seiner politischen Rolle 1989/90 eingegangen. Abschließend versucht März, Kohls Rolle in der jüngsten deutschen Zeitgeschichte insgesamt zu bewerten, wobei der seit Ende 1999 manifest gewordene „Spendenskandal" berücksichtigt wird. Am Beispiel der Teilnehmer des „Historikerstreits" vergleicht Steffen Kailitz die Positionen links- und rechtsdemokratischer Intellektueller zur deutschen Einheit vor wie während des Vereinigungsprozesses. Vor dem Fall der Mauer macht der Autor eine klare Frontstellung zwischen linken und rechten Demokraten aus. Demnach hielten linke Demokraten die deutsche Einheit für nicht wünschenswert, während sie auf dem Wunschzettel rechter Demokraten - wenn auch selten an erster Stelle zu finden war. Der Fall der Mauer habe diese Frontlinie weitgehend verschüttet. Zwar sei die Freude über die Vereinigung nur unter rechtsdemokratischen Intellektuellen, nicht aber unter linksdemokratischen, groß gewesen, doch die ehemaligen Einheitsgegner auf der Linken hätten überwiegend pragmatisch die Einheit akzeptiert. Robert Grünbaum befaßt sich mit den Einstellungen deutscher Schriftsteller zur deutschen Einheit. Dabei schlägt er einen Bogen von dem Umbruchjahr 1989/90 bis in die Gegenwart. Welche Positionen nahmen die Literaten in Ost und West in der Revolution zur zukünftigen Entwicklung der DDR ein, und wie bewerten sie die

Vorwort

Entwicklung des vereinigten Deutschland heute, lautet die zentrale Fragestellung Grünbaums. Dabei geht er davon aus, daß die Einstellungen der Autoren als intellektuelle Führungspersönlichkeiten zum Vereinigungsprozeß von nicht zu vernachlässigender Bedeutung für das Gelingen der sogenannten „inneren Einheit" gerade in Ostdeutschland sind. Die Stellung der Evangelischen Kirche zur Einheit wurde, wie Klaus Motschmann ausführt, durch eine radikale Neubesinnung der evangelischen Theologie in den dreißiger und vierziger Jahren bestimmt. Die Niederlage Deutschlands und die daraus resultierenden Gebietsverluste wurden nicht als Konsequenz des Ost-WestKonflikts, sondern als Konsequenz des „deutschen Irrweges" seit der Reformation verstanden, als „das Ja zum Gericht Gottes". Mit der sogenannten Ostdenkschrift und mit der freiwilligen Preisgabe der institutionellen Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland 1969 paßte sich die Kirche den politischen Strukturen dieser Welt an. Die Evangelische Kirche in der DDR spielte in der Phase der friedlichen Revolution eine maßgebliche Rolle. Sie setzte sich zwar für radikale Reformen ein, aber nicht für die Einheit. Maßgebliche Vertreter verteidigten das „Humanum" des Sozialismus. Wie kommen die neuen Bundesländer wirtschaftlich auf die Beine, lautet kurzgefaßt die Frage, der sich Roland Sturm stellt. Der Handlungsspielraum ostdeutscher Landesregierungen in der Industriepolitik ist durch das Erbe der Treuhand und das finanzielle Übergewicht von EU-Förderung u. a. begrenzt. Die Regierungen sind aber dennoch nicht untätig geblieben und haben versucht, ihre regionalen Investitionspotentiale durch zielgerichtete Projekte zu mobilisieren. Die Wirtschaftsförderung in Ostdeutschland hatte und hat weiterhin Schwierigkeiten, das breitgefächerte Innovationspotential durch zielgerichtete Projekte zu mobilisieren und das Forderinstrumentarium zielgerichtet einzusetzen. Trotz aller Kritik nach zehn Jahren Wirtschaftsförderungspolitik bleibt diese aus mehreren Gründen alternativelos. Fest steht jedoch, daß wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland ohne die Mobilisierung der Betroffenen nicht möglich ist.

Bayreuth, im Oktober 2000

Konrad Low

Inhaltsverzeichnis

Vera Lengsfeld Sieger und Verlierer

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Stephan Hilsberg Die Bedeutung der demokratischen Werte für die deutsche Einheit

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Konrad Low „Gerechtigkeit haben wir erwartet, den Rechtsstaat bekommen" (Bärbel Bohley)

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Peter März Kanzlerschaft im Wiedervereinigungsprozeß - Leitbilder, Strategien, Management, Historisierungen

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Steffen Kailitz Die „deutsche Einheit" im Spiegel des „Historikerstreits" - What'sright?What's left? .

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Robert Grünbaum Positionen deutscher Schriftsteller damals und jetzt

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Klaus Motschmann Die Stellung der evangelischen Kirche zur deutschen Einheit

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Roland Sturm Wirtschaftsförderung und Industriepolitik in Ostdeutschland - Eine Zwischenbilanz nach 10 Jahren 147 Die Verfasser

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Sieger und Verlierer Von Vera Lengsfeld Als sich die deutsche Nation im Oktober 1990 in einem Staat vereinigte, beherrschten Freude und Optimismus das Denken und Fühlen der meisten Deutschen. Heute ist die Euphorie einer Nüchternheit gewichen, nicht jedoch einer nationalen Normalität. Da von eigentlichen Verlierern nicht gesprochen werden kann (was nach einer Revolution nicht unbedingt die Regel ist), wird von denjenigen, denen die ganze Sache nicht behagt, ein diffuses Gefühl der Unzufriedenheit verbreitet, so dass sich auch kaum die eigentlichen Sieger noch Sieger zu nennen trauen. Das Verhältnis Ost - West in Deutschland ist nicht einfach zu beschreiben, denn gewisse Störungen beruhen nicht auf Tatsachen, sondern auf mentalen Absonderlichkeiten. Noch vor einem halben Jahr, im Herbst 1999, hätte man - wollte man der Presse glauben - davon reden müssen, dass die Kluft zwischen West und Ost immer größer geworden sei, dass wir von der „inneren Einheit" weit entfernt seien. Damals wurde - angeblich - im Westen befürchtet, das Erbe der DDR erweise sich wirtschaftlich als Fass ohne Boden, die ehemalige DDR hätte nur verseuchte Landstriche, verrottete Betriebe, roten Atheismus, gedopte Sportler und Spitzel in die neue Bundesrepublik eingebracht. Im Osten andererseits wurde eine neue Abgrenzung von „westdeutschen" Lebens- und Politik-Stilen beobachtet: politisch links wie weit rechts. Von Ausplünderung sei allenthalben die Rede, von Bevormundung und Perspektivlosigkeit. Heute - nur ein halbes Jahr später, nach der Spendenaffäre der CDU, die beinahe zu einer Staatskrise erklärt worden ist - wird zwar der Rechtsradikalismus von Jugendlichen im Osten beklagt (während der Linksradikalismus der PDS längst salonfähig ist), es scheint aber der Glaube zu bestehen, der Osten sei nicht so konventionell, nicht so „korrupt", aus ihm kämen unbelastete, frische Politiker. Lassen wir die Stimmungen - und wenden uns zunächst den Fakten zu. Der Aufbau Ost ist nicht gescheitert! Seit 1990 sind immense Leistungen vollbracht worden. Insgesamt summieren sich die Bruttotransfers aus öffentlichen Kassen seit 1991 auf weit über 1.400 Milliarden DM. Dieser Aufbau Ost zählt zu den beeindruckendsten Erfolgsgeschichten und Solidarleistungen unseres Jahrhunderts. Die neuen Bundesländer sind sichtbar aufgeblüht! Wer das nicht sehen will, ist schlicht blind - oder sehr vergesslich. Mittlerweile ist die Quote der Erwerbstätigen im Westen und Osten beinahe gleich groß und liegt bei etwa 60 Prozent. Allerdings, das Bild von „dem" Osten ist falsch: Die neuen Länder haben eine unterschiedliche Entwicklung genommen.

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Vera Lengsfeld

Kurz nach der Währungsumstellung verdienten Arbeiter und Angestellte in der Industrie der neuen Bundesländer durchschnittlich 1.393 DM im Monat. Arbeiter und Angestellte in den alten Bundesländern verdienten durchschnittlich 3.983 DM. Seitdem ist das verfügbare Einkommen in den neuen Bundesländer deutlich angestiegen: allein von 1991 bis 1994 um über 51 Prozent. Seit der Vereinigung sind die Lohnstückkosten deutlich gesunken: 1998 lagen sie im Osten nur noch um 24 Prozent, 1991 dagegen noch mehr als 50 Prozent über dem westdeutschen Niveau. Die Arbeitskosten im Osten - gemessen am Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit je Arbeitnehmerstunde - lagen auf rund 69 Prozent des westdeutschen Niveaus, 1991 lag dieser Wert noch bei rund 49 Prozent. Im gleichen Zeitraum stieg die Produktivität - gemessen als Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigenstunde von knapp 33 Prozent des Westniveaus auf nunmehr fast 56 Prozent. Doch die Produktivitätsentwicklung stagniert. Der zweite Arbeitsplatz wird dieses Problem nicht lösen. Wir müssen hier entschieden umdenken. Trotz des riesigen finanziellen Aufwandes, mit dem Bund und Länder die Folgen von Teilung und deutschem Kommunismus zu tilgen versuchen, trotz des realen Aufschwungs hat sich ein gemeinsames deutsches Selbstbewusstsein in zehn Jahren nicht vollständig ausgebildet. Dafür gibt es reale Gründe: Von der Arbeitslosigkeit sind im Osten bestimmte Berufs- und Altersgruppen betroffen. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist viel zu hoch! Doch eine „Ostalgie" kann erst entstehen, wenn Vergangenheit vergessen wird, die DDR als obskures Objekt der politischen Verklärung erscheint. Beschönigen, Banalisieren und Leugnen sind angesagt. Das sei, so will man uns einreden, die Voraussetzung für die „innere Einheit". Nun darf man sich von nicht täuschen lassen: Hunderttausende Leistungsträger, besonders jüngere Facharbeiter und Fachkräfte, sind in den Westen übergesiedelt. Vor allem: die meisten früheren DDR-Bürger haben ihr Leben nach den gravierenden Umbrüchen gelassen, selbstbewusst und selbstbestimmt neu gestaltet. Sie sind die Gewinner der deutschen Einheit. Es sind zwar lautstarke Gruppen, es sind gleichwohl Minderheiten, die Stimmung gegen „den Kapitalismus" und den Westen machen. Sie versuchen, die Unterdrückung der Gesellschaft in der DDR durch angeblich nur einige wenige „schlechte Genossen" scheinheilig anzuerkennen, diese Tatsache allerdings vom Privatleben zu trennen. Und über diese Identität einer „DDR-Biographie", die von „Besserwessis" und Ex-Dissidenten angegriffen werde, die man selbst aber gegen das „Runtermachen von Lebensleistungen" verteidige, baut man insgeheim wieder eine Systembejahung auf. Falsche Oppositionen werden benutzt: „Demokratie" gegen DDR-Gemütlichkeit, Pluralismus gegen Selbstachtung. Politische, mentale, kulturelle Differenzen werden vermischt. Der Trick funktioniert, die PDS, eine rein populistische Partei, gewinnt allein aus ihrer zynischen Larmoyanz ihre politische Stärke. Und nicht wenige Grüne und SPD-Politiker stoßen in das gleiche Horn, und auch Bürgerliche lassen sich anstecken: So bedient man die gleichen Affekte wie die Ewiggestrigen auf der Linken.

Sieger und Verlierer

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Es wurden bei der Vereinigung Fehler gemacht. Der größte Fehler war, die Eröffnungsbilanz zu verschönen. Die Deutschen wurden mit dem Ausmaß des wirtschaftlichen Bankrotts, der ökonomischen und sozialen Verwüstung, die das SEDRegime hinterlassen hatte, nicht ernsthaft konfrontiert. Das gab der umbenannten SED bald die Möglichkeit, denflächendeckenden Umbau der alten Wirtschaftsstrukturen, die daraus resultierende Arbeitslosigkeit, die Probleme der in Unselbständigkeit gehaltenen Menschen mit der offenen Gesellschaft zu Fehlern der Vereinigung zu erklären. Früher oder später stimmten alle demokratischen Parteien in das Lamento über die angeblich misslungene innere Einheit ein. Sie ließen zu, dass die PDS-Slogans von den „Bürgern zweiter Klasse" die Meinung beherrschten, dass die Rede vom angeblichen „Abbau Ost", dem Plattmachen von Demokratisierung die Atmosphäre vergifteten. Bis heute wird es den Figuren der PDS erspart, in den Talkshows mit ihren Kritikern oder mit den Opfern der SED-Politik konfrontiert zu werden. Die PDS ist auch ein Medienphänomen. Obwohl sie 20 Prozent der Wähler in den neuen Bundesländern repräsentiert, beherrscht sie 80 Prozent der Berichterstattung über die dortigen Parteien. Dafür ist eine bundesdeutsche Publizistik verantwortlich, die mehrheitlich die Vereinigung nicht gewollt hat und zu deren Trauerarbeit über die verlorene DDR es gehört, die Nach-Wende-SED zu hofieren. Die stupide kommunistische Wirklichkeit der PDS wurde geschickt verdeckt, sie ist in Münster sichtbar geworden. Die DDR ist zwangsläufig verschwunden. Ich darf in Erinnerung rufen: Schon Ende 1981 bahnte sich ein Kreditstopp westlicher Banken für die DDR an. Die Investitionseffizienz halbierte sich im kurzen Zeitraum von 1981 bis 1984. Seit Mitte der 80er gab es kein reales Wirtschaftswachstum mehr. Die Innovationsschwäche der DDR war evident. Die Leistungen der DDR-Wirtschaft hätten auch mit einem deutlich geringeren Einsatz an Arbeitskräften erbracht werden können. Große Teile der Industrie hatten in über vierzig Jahren der sozialistischen Herrschaft weitgehend von ihrer Substanz gelebt. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit verschlechterte sich rapide. Die verminderte Exportfähigkeit der DDR-Produkte drückte sich auch in der Veränderung des Kurses der Mark der DDR zur D-Mark aus. War 1970 noch eine Relation von 1,70 Mark für 1 DM festgelegt, so wurden im Jahre 1988 4,40 Mark für 1 DM getauscht. Der Versuch, die Mikroelektronik weltmarktfähig zu entwickeln, scheiterte völlig. Der im Jahre 1988 von der DDR hergestellte 256-Kilobit-Chip kostete 534 DDR-Mark je Stück, auf dem Weltmarkt war er für 2 Dollar zu bekommen. Starke Importdrosselungen schränkten den Lebensstandard der Bevölkerung immer merklicher ein. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf stieg 1985 bis 1989 nur noch unwesentlich an und fiel relativ zum bundesdeutschen Pro-Kopf-BIP von 36 Prozent 1985 auf 33 Prozent 1989. Im April 1988 forderte der SED-Planungschef Gerhard Schürer eine starke Einschränkungen im sozialen Bereich und eine Senkung des Lebensstandards. Im Laufe des Jahres 1989 verschlechterte sich die Lage sichtbar. Schürer prognostizierte im Mai 1989 - selbstredend intern - die Zahlungsunfähigkeit der DDR für 1991. Der Verschleißgrad in sensiblen Bereichen der Industrie, so schätzte das MfS im Oktober ein, lag bei 50 Prozent, bei landwirt-

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schaftlichen Anlagen bei 65 Prozent: Am 27. Oktober 1989 trug Generalleutnant Kleine, Leiter der MfS - Hauptabteilung X V I I I (Volkswirtschaft), seinen Abteilungsleitern eine Krisen-Analyse vor. Nach seiner Einschätzung wären mindestens 500 Milliarden erforderlich, um den Anschluss an die westlichen Länder auf dem Gebiet der industriellen Produktion nicht zu verlieren. Dies hätte zwei vollen jährlichen Nationaleinkommen der DDR entsprochen. Nach dem Sturz Honeckers im Oktober 1989 hatte das SED-Politbüro Schürer beauftragt, eine Analyse der ungeschminkten wirtschaftlichen Lage der DDR für den neuen SED-Generalsekretär Egon Krenz anzufertigen: In einem dem Politbüro am 30. Oktober 1989 vorgelegten Papier schrieb Schürer etwa: „(...) in solchen Städten wie Leipzig, und besonders in Mittelstädten wie Görlitz u. a. gibt es Tausende von Wohnungen, die nicht mehr bewohnbar sind. (...) Die Feststellung, daß wir über ein funktionierendes System der Leitung und Planung verfügen, hält.. einer strengen Prüfung nicht stand. (...) Im internationalen Vergleich der Arbeitsproduktivität liegt die DDR gegenwärtig um 40% hinter der BRD zurück." Und: „Allein das Stoppen der Verschuldung gegenüber dem NSW (dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet) würde", so Schürer das Jahr 1990 prognostizierend, „eine Senkung des Lebensstandards um 25-30% erfordern und die DDR unregierbar machen." Alexander Sinowjew hat in seinem 1980 erschienenen Buch „Kommunismus als Realität" erkannt, dass die „soziale Auslese der anpassungsfähigsten Individuen" eine wichtige Grundlage für die Existenz der Ostblockstaaten gewesen ist. Gerade die SED-Eliten in der DDR waren eine Negativ-Auslese. Sie haben einen Staat ruiniert und kaputt-administriert. Zu den Versprechen des Einigungsprozesses allerdings gehörte, die SED-Eliten zu schonen. Die Eliten der DDR sind fast vollständig auf die Füße gefallen. Verlierer der Einheit jedenfalls sind sie nicht. Viel realer ist folgende Benachteiligung: Die Entscheidung der Bundesregierung, das zwischen 1945 und 1949 in der Sowjetzone geraubte Gut zu verkaufen, statt den rechtmäßigen Eigentümern zurückzugeben, hat mehr als nur materielle Bedeutung. Es ist vorenthaltene Gerechtigkeit! Auch die zögerliche finanzielle Entschädigung der Opfer von Stalinismus und Kommunismus ist unverständlich. Die Wirkungen der sich aus solchen Entscheidungen ergebenden Veränderungen im Wesen des Staates zeigen sich langfristig. Die Bevorzugung des politisch Opportunen zu Lasten dessen, was die Gerechtigkeit gebietet, trägt zur inneren Entfremdung der Bürger von ihrem Gemeinwesen erheblich bei. Und eine große Gefahr für unsere Demokratie ist eine schleichenden Auszehrung durch die wachsende Distanz der Bürger gegenüber dem Gemeinwohl, eine abnehmende Bindung und ein allgemeiner Vertrauensschwund in die demokratischen Institutionen. Die DDR war eine sozialistische Parteidiktatur mit totalitärem Anspruch und Charakter, mit einem Führungszentrum, das tatsächlich die totale Machtbefugnis besaß und über die Nomenklaturkader ausübte. Es gibt daran nichts zu amnestieren oder zu revitalisieren! Und politische Differenzen dürfen nicht, wie es in Mode gekommen ist, verschliffen werden. Sicher, nach 40 Jahren Teilung gibt es mentale

Sieger und Verlierer

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Unterschiede zwischen Ost und West. Der Westen hat eine kulturelle Amerikanisierung und revolutionsartige Individualisierungsprozesse durchgemacht. Im Osten wirkte ein arbeiterlich-sowjetisches indoktrinierendes Erziehungssystem. Nur sehr wenige wünschen sich zwar die DDR wirklich zurück, aber eine nicht unbedeutende Menge sagt immer noch: Die Idee des Sozialismus war gut, nur die Durchführung war schlecht. Im Osten der Republik hängen mehr Menschen als im Westen Deutschlands an einer sozialen Gerechtigkeit, die in der Tendenz als Gleichheit verstanden wird. Die Menschen in den neuen Bundesländern befürworten überwiegend einen fürsorglichen Staat, einen staatlichen Interventionismus in ökonomischen Dingen; sie haben tiefes Misstrauen gegenüber freien Marktkräften. Doch sollten die Unterschiede nicht überbewertet werden. Auch der Westen ist stark sozialdemokratisiert. Wie rasch sind der Gesellschaft in den vergangenen 30 Jahren linke Grundmuster aufgezwungen worden. Eckhard Jesse erinnert sich: „Wer mit Intellektuellen sprach, die in den achtziger Jahren aus dem Wirtschaftsgral der DDR gekommen waren, gewann den geradezu paradox anmutenden Eindruck, dass dem Marxismus im westlichen Deutschland mehr Lebenskraft innezuwohnen schien als im östlichen." 1989 und 1990 waren weltgeschichtliche bedeutsame Jahre. Es waren revolutionäre Jahre: Der 1917 ausgebrochene Krieg der Ideologien fand sein Ende. Die bipolare Ordnung verschwand, die Sowjetunion zerfiel. Wer ist nun der Sieger des Weltbürgerkieges? Wird die Welt von Fortschritt, Egailisierung, Humanisierung bestimmt werden? Zweifel sind angebracht. Es wäre fatal zu glauben, die Geschichte verliefe zwangsläufig, nach Gesetzen, bewege sich mit Notwendigkeit in eine Richtung. Mit der Beseitigung der Ordnung des Kalten Krieges begann keineswegs eine Epoche des Ausgleichs, keine selbstverständliche universale Durchsetzung von Demokratie, Marktwirtschaft und persönlichen Freiheitsrechten. Und dennoch liegen in der Epoche bei weitem mehr Chancen als Gefahren. Denken Sie nur an das Humankapital, das vom Kalten Krieg gebunden wurde. Wie reagieren die politischen Eliten in Deutschland auf die neue Lage? Die „Jalta-Generation" ist von der politischen Bühne abgetreten. Helmut Kohl warf ihr letzter großer Vertreter, die Wiedervereinigung war ihr letztes großes Verdienst: Von Stefan Heym stammt der Satz: er müsse nachträglich Herrn Kohl dankbar sein, „(...) dass er sich die DDR so schnell einverleibt hat. Wenn ich mir vorstellte, die DDR wäre noch Teil des Sowjetreiches was hätte das für Wirren gegeben (...)". Der politische Stil, der aus dem Kalten Krieg geboren worden war, ist überholt. Die alte Linke ist konzeptlos und frei von politischen Inhalten. Von ihr, sie mag sich „neue Mitte" nennen, ist vorerst keine geistige Offensive zu erwarten. Sie wird sich, wie Botho Strauß erkannt hat, „(...) damit begnügen, an der Organisation des gesellschaftlichen Lebens beteiligt zu sein, und schlimmstenfalls dessen Zerfall in Form der politischen Korrektheit vorantreiben". Für die Linke bedeutete das Jahr 1990 eine Niederlage. Aber ausgeschieden ist sie nicht, im Gegenteil. Es ist in wie in der Champions-League: Bayern München gewinnt in vier Spielen dreimal gegen Real Madrid, verliert nur einmal - aber die Spanier stehen im Finale.

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Wir stehen vor der Auseinandersetzung mit den geistigen Grundlagen einer die politische Kultur Deutschlands dirigierenden Linken, die sich allerdings seit 30 Jahren die Mühe gibt, sich liberal zu tarnen. Aber davon ist sie das Gegenteil. Die 68erTabubrecher haben sich als Meister im Erteilen von Denkverboten erwiesen. Die herrschende intellektuelle Furchtsamkeit korrespondiert mit einer stupiden Scheinmoralität. Die Affinität der sogenannten Progressiven zu ideologischer Verblendung und freiheitsfeindlichen Systemen ist noch lange nicht genügend diskutiert. Dort, wo die Unfreiheit lange abwesend ist, wo der Wohlstand politische Verantwortungslosigkeit gebiert, pflegen die Vorteile der Freiheit zu verblassen. Diese Gleichgültigkeit gegenüber den Freiheitswerten ist die größte Gefahr für die „innere Einheit" Deutschlands. Im Westen gab es starke Widerstände gegen die Vereinigung in Freiheit. Die deutsche Teilung galt auch im Westen als Quintessenz der Geschichte. Der Osten hatte zu büßen, um den westlichen Intellektuellen ein reines Gewissen gegenüber der nationalen Geschichte zu verschaffen. Der DDR-Sozialismus wurde jenseits von Werra und Elbe von Leuten relativiert, die heute zum politischen Establishment gehören. Selbstverleugnung war beinahe zu einem nationalen Reflex geworden. Die „Realität anerkennen" hieß seit den siebziger Jahren immer seltener, den deutschen Status quo eigentlich verändern zu wollen. Die Wiedervereinigung galt als „Illusion" (Egon Bahr), als „Mythos" (Walter Momper), als „Gefahr für den Frieden" (Peter Glotz) und als „Lebenslüge" der Bonner Republik (Willy Brandt). CDU-„Vordenker" Heiner Geißler wollte 1988 die „Wiedervereinigung" als Zielbestimmung aus dem Grundsatzprogramm der CDU streichen lassen. Antje Vollmer sagte noch am 8. November 1989: „Dabei ist die Rede von der Wiedervereinigung - das ist mir jetzt sehr wichtig - historisch überholter denn je." Die DDR wurde anerkannt, die Dissidenten als Gefahr für die Entspannung betrachtet. Vaclav Havel schrieb: „Ich erinnere mich noch, wie zu Beginn der 70er Jahre einige meiner westdeutschen Freunde und Kollegen mir auswichen aus Furcht, dass sie durch einen wie auch immer gearteten Kontakt zu mir, den die hiesige Regierung nicht gerade liebte (...), die zerbrechlichen Fundamente der aufkeimenden Entspannung bedrohen könnten. (...) Nicht ich war es, sondern sie, die freiwillig auf ihre Freiheit verzichteten."

Der Untergang des Kommunismus und die Wiedervereinigung Deutschlands waren revolutionäre Vorgänge. Der „Phantomschmerz", wie Martin Walser die deutsche Teilung nannte, ist 1989 gewichen. In zwölf Monaten war hinweggefegt, was bis dahin zu den „unverrückbaren" Wahrheiten der veröffentlichten Meinung in Deutschland gehört hatte. Eine Bewegung, die sich die Losung „Wir sind ein Volk!" auf die Fahnen schrieb, musste auf die selbsternannten progressiven Geschichtsphilosophen verstörend wirken. Joschka Fischer sagte eine Woche nach der Maueröffnung: „Die Geschichte ist in unseren bundesrepublikanischen Alltag eingebrochen." Er traf den Kern des Problems: Die Normativität des Faktischen hatte über die Ideologie gesiegt. Die 68er haben zwar viele Positionen besetzt, die „kulturelle Hegemonie" errungen, aber 1989 mussten sie eine starke Niederlage hinnehmen.

Sieger und Verlierer

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Brigitte Seebacher-Brandt schrieb: „Die Geschichte hat sie überlistet und - abgewählt. Auf geschichtlichen Wandel war die Generation der 68er nicht vorbereitet und nicht einmal darauf, dass das eigenen Weltbild Risse erhielt. So versagten sie in jenem Augenblick, der zur Epoche wurde." Die Rede von einer „gescheiterten inneren Einheit" sollen die historische Niederlage verdeckten, sogar in einen Sieg umwandeln. Gewarnt wurde vor einem „4. Reich", einem neuen „Großdeutschland", polemisierte wurden gegen einen »Anschluss" der DDR. Nach Auschwitz, so Günther Grass, hätten die Deutschen die Einheit nicht mehr verdient. Die westdeutsche Linke hat zwanzig Jahre lang Deutschland mit ihren Themen und Begriffe bestimmt. Aber sie stand jenseits der Geschichte. Diese politische Klasse ist von seinem Volk 1989 tief enttäuscht worden. Der wirtschaftliche Erfolg Westdeutschlands, die Wiedervereinigung sollen sündhaft sein. Eine politische Sündentheologie wird zur eigenen moralischen Erbauung genutzt. Ein dumpfer Selbsthass dient dazu, die eigene Macht ideologisch abzusichern. Und Hypermoralisierung ist von der Entmoralisierung eben nicht weit entfernt. Die Aufgaben der Zukunft lassen sich mit solchen Syndromen nicht lösen. Bedenklich ist der zugrundeliegende Begriff von Politik. Es ist das alte Problem der Ideologie: Das dogmatisch Gewünschte wird mit der Realität verwechselt. Die Deutschen haben verdrängt, dass Politik notwendig mit starken Interessenkonflikten, auch solchen, die nicht im Konsens oder auch nur friedlich zu lösen sind, zusammenhängt. Der Glaube an eine universale civil society , die ohne Repression wohltätig wirkt, sind Zeichen einer tiefsitzenden antipolitischen Einstellung. Wir sind aber vor zehn Jahren in das Reich des Politischen zurückgekehrt - und darin müssen wir uns bewähren. Deutschland steht vor drängenden Aufgaben! Wir können uns dabei von ewiggestrigen Miesmachern in Ost wie West nicht aufhalten lassen. Und wir dürfen nicht zusehen, wie auch die neue Bundesrepublik an einem unbezahlbaren Sozialsystem scheitert. Der Untergang der DDR lehrt auch das. Der Westen kann allerdings von Erfahrungen lernen, die beim Aufbau Ost gemacht worden sind: So gibt es in den neuen Bundesländern erheblich flexiblere Tarifverträge und zum Teil effizientere Planungs- und Genehmigungs-Verfahren, weniger überflüssigen Bürokratismus, weniger Über-Regulierung und falschen Perfektionismus. Die Tarifparteien werden zunächst im Osten - aber wohl vorbildhaft für ganz Deutschland - um eine Regionalisierung und Flexibilisierung nicht herumkommen. Die deutsche parlamentarische Demokratie ist nicht Utopia. Sie ist fehlbar, wie Menschen fehlbar sind. Sie erlaubt Ungleichheiten, weil Menschen ungleich sind. Und sie bildet das unbequeme Gegenteil von ideologischen Heilslehren. Die deutsche Demokratie hat sich zwar fünfzig Jahre bewährt, aber es waren Jahre der Prosperität. Demokratische Konzepte sind die Grundlage für Wohlstand, sie sind aber auch von diesem Wohlstand abhängig. Die Synthese von Wettbewerb und Solidarität ist das Erfolgsrezept der sozialen Marktwirtschaft. Solidarität darf aber nicht einseitig interpretiert werden: Es ist ein Gebot der Solidarität, dass die Vermö2 Löw

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genden den Bedürftigen helfen. Dem Grundsatz der Solidarität entspricht es aber auch, dass Hilfeempfänger, die zu eigener Leistung fähig sind, diese der Gemeinschaft nicht verweigern dürfen. Alles andere ist Sozialismus. Die entstandene Staatsverdrossenheit ist verständlich. Der Mittelstand etwa, der fast 70 Prozent aller Arbeitnehmer beschäftigt, 80 Prozent aller Lehrlinge ausgebildet, hat seit Jahren keine durchsetzungsfähige politische Lobby mehr. Und die Staatsquote belegt, wie stark sich die hoheitlichen Organe in das Leben der Bürger einmischen. Im Kaiserreich lag diese Quote unter zehn Prozent, heute haben wir bald 60 Prozent und nähern uns damit der vollständig entmündigten und entbürgerlichten Gesellschaft: In der DDR lag die Staatsquote weit bei über 90 Prozent. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht alle „Verlierer" der neuen Zeit werden. Aber ich bin mir sicher, auch wenn die Überwindung der Folgen von 40 Jahren Teilung und Kommunismus mehr Zeit in Anspruch nimmt, als viele vor zehn Jahren erwartet haben, ein geeintes Deutschland wird seinen Platz in der Welt einnehmen als souveräne, innovative und selbstbewusste Nation. Nur müssen wir unsere Möglichkeiten konsequent nutzen!

Die Bedeutung der demokratischen Werte für die deutsche Einheit Von Stephan Hilsberg Zusammenhang von Wahlen und demokratischen Werten „Berliner Republik " • Wir haben der ehemaligen Oppositionellen Bewegung in der DDR ihre Demokratisierung zu verdanken. • Ohne vorherige Demokratisierung der DDR keine Deutsche Einheit in Recht und Freiheit. • Die alte Bundesrepublik wurde vom Wunsch der DDR-Bevölkerung nach der Deutschen Einheit überrascht. • Die Deutsche Einheit war die Einlösung eines großen Versprechens. Sie war die Realisierung des wichtigsten Staatszieles der alten Bundesrepublik. • Es bleibt das Verdienst aller „alten" Bundesregierungen, die Deutsche Frage offengehalten zu haben. • Die Deutsche Einheit war nicht das Ergebnis einer zielgerichteten Politik der Bundesrepublik in der Zeit vor dem Herbst 1989. • Die Realisierung der Deutschen Einheit ist nicht das Verdienst Helmut Kohls, sondern war seine Pflicht, wie auch aller anderen, die an seiner Stelle gewesen wären. • Die Bundesrepublik ist durch die Deutsche Einheit westlicher geworden. • Die historische Bedeutung der Deutschen Einheit liegt in der Wiedergewinnung der Deutschen Nation, die durch Hitler zerstört worden war. • Hitlers Nationalsozialismus versprach den Deutschen eine nie dagewesene Größe und bereitete ihnen die größte Schmach ihrer Geschichte. Vor einem demokratischen Deutschland, (in Recht und Freiheit) brauchte Europa und die Welt keine Angst zu haben. Deshalb war die Demokratisierung der DDR die wichtigste Voraussetzung der Deutschen Einheit. Deshalb lag der Schlüssel zur Deutschen Einheit bei den Menschen, nicht den Machthabern in der DDR. Deshalb 2*

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war die alte Bundesrepublik nur Zuschauer und ihre Politik auf das Ofifenhalten der Deutschen Einheit beschränkt. Die Demokratisierung der DDR, die Entmachtung der SED und der Wiedervereinigungswunsch ihrer Bürger machten alle anderen politischen Strategien der Bundesrepublik gegenüber der DDR schlagartig obsolet, ja ließ sie im nachhinein wie einen Fehler aussehen. Es wäre heuchlerisch, heute allzusehr mit jenen zu rechten, die nicht mehr an die Deutsche Einheit glaubten, oder spezifisch „Deutschen Irrtümern" aufgesessen waren, wie etwa „die Teilung ist der Preis für Hitler", oder „Wir brauchen keine Einheit der Nation, Europa ist besser". Selbst die westliche Friedensbewegung, die in ihrer Konzentration auf die NATO gewiß allzu einseitig war, erkannte und benannte die größte Herausforderung der damaligen Zeit, die in der gefährlichen Eskalation des Hochrüstens der atomaren Waffenpotentiale lag, welche keiner Seite mehr nützte, sondern nur noch schadete. Eine militärische Lösung des Kalten Krieges gab es nicht, weil jeder militärische Schlag auch die eigene Seite vernichtet hätte. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür daß Westdeutschland bzw. Westeuropa eine Strategie des Totrüstens der Sowjetunion verfolgten. Diese Interpretation ist m. E. eine ex post-Legende. Einer Entspannungspolitik aber, die die Rüstungsspirale umdrehen wollte stand die Deutsche Teilung im Wege. Anders ausgedrückt, die tatsächlichen Bemühungen um eine Abrüstung seitens Gorbatschow eröffnete in der zweiten Hälfte der 80er Jahre eine Chance, die die Ostdeutschen in der gesamten Zeit vorher seit Kriegsende nicht hatten: Durch die Genfer Abrüstungsverhandlungen wurden auch die konventionellen Waffen in Europa, vor allem die Potentiale der Sowjetarmee in den Blick genommen. Sowjetische Truppenteile aber soweit sie in der DDR stationiert waren, hatten einen Doppelcharakter. Sie waren sowohl ein Kräftepotential im Kalten Krieg als auch sowjetische Besatzungstruppen in Deutschland. Es ist das Verdienst Gorbatschows, die Klugheit besessen zu haben, zu erkennen, daß die SU nicht mehr die Kraft besaß, Osteuropa zu unterjochen. Das heißt m.E. nicht, daß Gorbatschow die Deutsche Einheit wollte, aber er hat sie ermöglicht. Als man in der DDR spüren konnte, daß Gorbatschow Ernst machte mit dem Verzicht auf die Breschnew-Doktrin, wurde die Zeit reif für die Entmachtung der SED. Die SED alleine verfügte zu keiner Zeit über genügend eigene Machtmittel, ihre Diktatur aufrecht zu erhalten. Die SED-Diktatur war immer eine Diktatur von Moskaus Gnaden. Natürlich muß man alle Krisensymptome der SED-Herrschaft der 80er Jahre zusammensehen: der wirtschaftliche Bankrott, die ideologische Kraftlosigkeit, die Schwächung der Antifaschismus-Legende, die Unduldsamkeit nachwachsender Generationen, plus der (durch die Verwandtenbesuche 2. Grades auch den DDR-Bürgern sichtbare) wirtschaftliche und soziale Erfolg Westdeutschlands. Und doch war

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die Aufgabe der Breschnew-Doktrin das entscheidende Signal für eine Wende in der DDR. Dies gesehen zu haben, und sich darauf politisch-konzeptionell vorbereitet zu haben, ist der wichtigste politische Erfolg der ostdeutschen Oppositionsbewegung im allgemeinen, der ostdeutschen SDP im speziellen. Die allerdings schwer vorstellbare Alternative wäre gewesen, daß politische Erben der SED, bzw. der Nationalen Front die Gestaltungsmacht für einen Wandel in der DDR behalten hätten, mit völlig ungewissen Folgen für eine Demokratisierung der DDR und die Ermöglichung der Deutschen Einheit. Deshalb ist festzuhalten, daß sowohl innenpolitisch, als auch außenpolitisch die oppositionelle Bewegung in der DDR die eigentliche Triebkraft für den Wendeprozeß in der DDR, welcher in der Deutschen Einheit gipfelte, darstellte. Die Wiedererlangung der Einheit der Deutschen Nation ist also einzig und allein dem aktiven und gelebten Bekenntnis zu den westlichen Werten, zu Freiheit, Rechtsstaat, Menschenrechten und Demokratie zu verdanken. Was die Ideologen und totalitären Parteien Deutschland an Schaden zugefügt hatten, konnte nur durch seine Demokraten wieder einer Besserung zugeführt werden. Die Zukunft Deutschlands liegt in der Demokratie und der Freiheit, das ist die Lehre der Deutschen Einheit. Mit dem demokratischen Ritterschlag der Ost-CDU hat Kohl der ostdeutschen Demokratieentwicklung einen herben, bis heute nachwirkenden Rückschlag versetzt. Die Bilanz der Deutschen Einheit für die letzten 10 Jahre ist zwiespältig. Zu den großen Leistungen der Deutschen Einheit gehört der praktizierte Lastenausgleich für die Masse der Menschen und der im Vergleich zu den anderen ehemaligen kommunistischen Staaten Ost u. Mitteleuropas hohe Lebensstandard der Menschen in Ostdeutschland (Sozialunion). Zur Negativbilanz gehört allerdings auch die ungerechte Verteilung dieses Lastenausgleichs. (Sozialtransfer bezahlen nur die Sozialversicherten, die steuerlichen Sonderabschreibungen führten auch zu Einheitsgewinnern, die nicht in Ostdeutschland beheimatet sind.) Für viele Menschen, besonders in Ostdeutschland war die Deutsche Einheit mit dem schmerzlichen Abarbeiten von Illusionen verbunden, ein noch nicht abgeschlossener Prozeß. Dabei bestand die größte Illusion in einem sofortigen, (von der CDU genährten), wirtschaftlich selbsttragendem Aufschwung in Ostdeutschland. In der Wirtschaftspolitik wurden die größten, zudem irreversiblen Fehler gemacht. Die ostdeutsche Wirtschaft wurde ohne Schonung dem westdeutschen und westeuropäischem Markt ausgesetzt, welcher rücksichtslos die produktivitätsschwachen, unbekannten und mittellosen Betriebe ausradierte, im besten Fall, auf 10 % ihrer Mitarbeiterschaft reduzierte. Lediglich massive steuerliche Vergünstigungen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, eine sogenannte steuerliche Sonderzone, hätte diese Deindustrialisierung verhindern können. Dafür gab es in der Bundesrepublik weder genügend

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Befürworter noch eine ausreichende Mehrheit (weder bei Unternehmern noch Gewerkschaften). Inzwischen setzt sich die realistische Ansicht durch, daß erst in vielleicht 30 Jahren mit einem vorläufigem Ende des wirtschaftlichen Aufholungsprozesses gerechnet werden kann. Allerdings ist dieser Zeitraum auch spekulativ, weil er die hohen Wachstumsraten im relativ kleinen Bereich des florierenden verarbeitenden Gewerbes in Ostdeutschland für diesen Zeitraum interpoliert. Die hohe Arbeitslosigkeit von z. t. 50% (30% offen, 20% verdeckt wird zumindest nicht durch diesen Prozeß mittelfristig bzw. langfristig abgebaut werden können). Das heißt noch mindestens zwei Generationen werden für die kommunistische Diktatur in der DDR persönlich schwer zu zahlen haben. Gegenwärtig gibt es einige kleine Bemühungen um eine Beschleunigung des wirtschaftlichem Wachstumsprozesses in Ostdeutschland. Ohne weitere hohe Einsätze für die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur wird es keinesfalls gehen. Die wird in den nächsten 15 Jahren alleine weitere 300 bis 400 Mrd. DM verschlingen. Kostenmäßig befinden wir uns gegenwärtig in einer Phase, wo die zweite Billion für die Überwindung der Teilung bezahlt wird, insgesamt können es nach Abschluß dieses Prozesses gut und gerne 3 Billionen DM sein. Gauck hat in seiner Rede zum 10. Jahrestag des Mauerfalls im Bundestag gesagt, die Ostdeutschen wollten die Bundesrepublik und bekamen Nordrhein-Westfalen. Ich meine, sie bekamen sich selbst. Die Demokratie ermöglicht Selbstbestimmung, zwingt sie aber auch auf. Ein wichtiger Qualitätsfaktor der Demokratie ist der Bildungsgrad, die Erfahrung, das Können und das Stehvermögen der politischen Elite. Die demokratische Elite in der ehemaligen DDR war zahlenmäßig äußerst schwach, und verfügt bis heute über viel zu wenig Nachwuchs. Mit dem Prozeß der Deutschen Einheit war eine übermäßige Vertrauensverlagerung von Ost nach West verbunden. Diese Vertrauensverlagerung belastete die Entwicklung der ostdeutsche Demokratie und führte zu Umwegen. Dies war auch eine Folge eines Machtkampfes der westdeutschen Eliten gegen ihre ostdeutschen Konkurrenten. Lediglich die PDS konnte sich aus diesem Prozeß heraushalten, weshalb sie später, als das Pendel zurückschlug am stärksten von der Flut der Vorurteile zwischen Ost- und West so stark profitierte. In einer Demokratie gestalten kann nur der, der mit der spezifisch demokratischen Form von Machtausübung umgehen kann, der die Verbindung zwischen freiheitlichen Werten und demokratischen Institutionen sieht und der Realisierungschancen seiner Interessen in den demokratischen Institutionen (Parlamente, Parteien, Verwaltungen, Presse) sieht. Die Zurückhaltung der Ostdeutschen deutet noch immer auf eine starke Distanz zu den demokratischen Institutionen und Werten hin. Folgerichtig liegt hier eine der wichtigsten Aufgaben für die ostdeutschen politischen Kräfte. Die aktive Akzeptanz der demokratischen Institutionen in Ostdeutschland ist dann auch als ein Prozeß der Emzipation zu begreifen. Voraussetzung ist allerdings,

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daß nicht mehr Schuldfragen im Vordergrund der politischen Reflexionen stehen, sondern die des konstruktiven Aufbaus der eigenen Region und der Wahrnahme der hierfür vorliegenden tatsächlichen Chancen. Es muß aufhören, daß man sich nicht am Machbaren sondern am Wünschenswerten orientiert. Es muß aufhören, daß realistische Politik schon deshalb diskreditiert wird, weil sie nicht mehr den verlogenen Anspruch erhebt, Illusionen einlösen zu können. Die Crux der deutschen Einheit besteht darin, daß von den vermögenden Regionen (sprich den altbundesdeutschen) und den vermögenden Bürgern (im Regelfall den altbundesdeutschen) Solidarität bis an die Grenze der Belastbarkeit eingefordert wird, und von den ostdeutschen Regionen und Menschen eine Modernisierung, die sie über die Grenze der Belastbarkeit hin fordert. Doch ist diese Modernisierung der Preis für die Solidarität. Folgerichtig stehen wir im Prozeß der Deutschen Einheit gegenwärtig vor 2 Gefahren: der Modernisierungsverweigerung im Osten und der Solidaritätsverweigerung im Westen. Der eine Apologet ist dabei die PDS im Osten und die CSU im Westen. Beide sind sich näher als sie glauben. Beide sind in ihrer Deutschlandpolitik von regionalen Egoismen geprägt und setzen damit das Gelingen der Deutschen Einheit bewußt aufs Spiel. Beide sollten deshalb auf der bundespolitischen Ebene nicht an der Macht beteiligt werden. Sich zwischen Ost und West zu verstehen und zu akzeptieren heißt, im jeweils anderen nicht den Unmenschen zu sehen, der einen überfordert, sondern den Mitbürger, für den selbstverständlich ist, was dem anderen als eine Zumutung erscheint. Hier können Ost und West voneinander lernen: der Osten vom Westen, was Modernisierung, aber auch was Solidarität heißt, der Westen vom Osten, was Modernisierung den Menschen z.T. an Opfern abverlangt, aber auch welche Erfolge sie bringt. Eine solche Leistung, können nur demokratische Gesellschaften erbringen, weil sie mit der Pluralität als Grundwert über die notwendige Akzeptanz des Andersdenkenden verfügen. Was uns also gegenwärtig hilft, das sind die gleichen demokratischen Grundwerte, die auch die deutsche Einheit ermöglicht haben. Folgerichtig müssen wir die deutsche Einheit wertemäßig interpretieren und unsere Zukunftsorientierung aus diesen Werten ableiten, innenpolitisch wie auch außenpolitisch. Die für den Einigungsprozeß notwendige demokratische Weltegrundlage sollten wir auch zu unserer Meßlatte für den demokratischen Einigungsprozeß machen. Mit demokratischen Gesellschaften und demokratisch verfaßten Staaten in unserer ostund mitteleuropäische Nachbarschaft können wir zusammenleben, weil sie wie wir sich zu den gleichen Werten bekennen, die es auch uns Deutschen erlauben, friedlich und in gegenseitiger Achtung unsere Probleme lösen zu lassen. Die wirtschaftlichen Probleme stehen einer Integration nicht im Wege. Andersherum wird ein Schuh draus, unsere gemeinsamen Werte sind die einzige Grundlage, mit der wir diese wirtschaftlichen Probleme überhaupt lösen können. Auch historisch können wir auf diese Weise Wiedergutmachung leisten: Deutschland hat unter Hitler nicht

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nur sich selbst, sondern auch Europa zerstört. Mit Hilfe des EU-Integrationsprozesses können wir in Europa zu einer Heilung beitragen. Mit dem 2. Weltkrieg hat Europa seine führende Position in der Welt verloren. Heute ist Amerika die führende Weltmacht. Wir haben nicht die Möglichkeit international zu ausgeglichenen Verhältnissen beizutragen, wir können gegenwärtig einzig und alleine die amerikanische Führungsmacht anerkennen. Durch eine starke europäische Union (keine westeuropäische Union) aber ließen sich die internationalen Machtverhältnisse ausgeglichener, ausbalancierter gestalten, als das heute der Fall ist. Deutschland hat seine Zukunft einzig und allein in Europa, ohne Europa haben wir gar keine. Deutschland wird nicht in Europa aufgehen, wie keine der europäischen Nationen, aber es kann sich mit einer starken europäischen Union entfalten, wie alle anderen europäischen Nationen. Daraus folgt, wir sollten uns für eine schnelle europäische Integration all jener ost- und mitteleuropäischer Staaten aussprechen, die einen Beitritt zu EU wollen. Aus der demokratischen Wertegrundlage und Werteorientierung einer starken europäischen Integrationspolitik würde auch folgen, daß wir uns kritisch (kritischer) als bisher, mit antidemokratischen Entwicklungen à la Belorußland, neuerdings der Ukraine auseinanderzusetzen haben. Die Entfaltung und Erweiterung der EU aber wird Magnetkräfte auf diese Staaten freisetzen, wie es das starke demokratische Westdeutschland, gegenüber der DDR ausgestrahlt hat.

Gerechtigkeit haben wir erwartet, den Rechtsstaat bekommen" (Bärbel Bohley) Von Konrad Low I. Ein geflügeltes Wort Am 9. November 1991 berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung über eine Tagung, die der juristischen Aufarbeitung der SED-Diktatur gewidmet war, und schilderte die Erfahrungen vieler DDR-Bewohner, die sie nach der Wiedervereinigung mit dem bundesrepublikanischen Rechtssystem machen mußten. Bärbel Bohley, wegen ihrer Systemkritik im SED-Staat mehrmals verhaftet, brachte die Klagen auf den Punkt: „Wir haben Gerechtigkeit erwartet und den Rechtsstaat bekommen."1 Dieser Satz ist zu einem geflügelten Wort geworden, immer und immer wieder von führenden Politikern, von namhaften Journalisten und Professoren aufgegriffen. Das alte Wort Gerechtigkeit, das uns schon in allen Kultursprachen der Antike begegnet, hat offenbar wieder Hochkonjunktur, was auch der Buchmarkt mit etlichen Neuerscheinungen zu diesem Stichwort vermuten läßt.2 Die intensive Gerechtigkeitsdebatte ist ein deutsches Phänomen, ausgelöst, wie schon erwähnt, durch die Wiedervereinigung, gesteigert durch die Wahlerfolge der ehemaligen SED, der PDS. Zeitungstexte wie die folgenden bestätigen das Gesagte: „Die Bevölkerung in den neuen Ländern ist kaum im Zwiespalt, welche Partei berechtigt den Anspruch erhebt, Herold der sozialen Gerechtigkeit zu sein. Für sie ist die PDS, nicht die SPD die Partei der Arbeitnehmer und der kleinen Leute".3 Der Vorsitzende der PDS triumphiert: „Wir stoßen in die Gerechtigkeitslücke" 4, was ein 1 Nach Andreas Zielcke „Der kalte Schock des Rechtsstaats" Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) 9.11.1991. Laut Steffen Heitmann („Ankunft und Annahme des Rechtsstaates" Rheinischer Merkur Nr. 48) soll Bohley folgendes gesagt haben: „Unser Problem war ja nicht, den westlichen Rechtsstaat zu übernehmen, unser Problem war, daß wir Gerechtigkeit wollen. Und insofern haben wir natürlich dem Westen unsere Probleme vor die Füße gekippt in der Hoffnung, daß mit dem westlichen Rechtsstaat auch Gerechtigkeit in die neuen Länder kommt. Aber es sieht ja so aus, als ließe diese Gerechtigkeit lange auf sich warten." Eine Anfrage bei Bohley blieb bisher unbeantwortet. 2 Hier nur einige Beispiele: Andreas Domheim u.a. (Hrsg.) „Gerechtigkeit. Interdisziplinäre Grundzüge" Wiesbaden 1999; Herfried Münkler u.a. (Hrsg.) „Konzeptionen der Gerechtigkeit. Kulturvergleich - Ideengeschichte - Moderne Debatte" Baden-Baden 1999. 3 Renate Köcher „Chancen und Grenzen der PDS" FAZ 15.12.1999. 4 Lothar Bisky „So viel Sozialismus war in Deutschland noch nie" FAZ 7.12.1999.

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sorgfältiger Analytiker aus dem Westen bestätigt: „Soziale Gerechtigkeit ist das Schlüsselwort in allen Kampagnen der PDS."5 Daher lohnt es sich, über Gerechtigkeit und Rechtsstaat, diese zentralen Begriffe der Kultur, des Rechts und der Politik, nachzudenken, auch um die vor zehn Jahren formal besiegelte deutsche Einheit im Bewußtsein wie im Unterbewußten der Vollendung näherzubringen. II. „Der abendländische Traum von der gerechten Gesellschaft" Eines der erwähnten Bücher trägt den anspruchsvollen Titel „Die himmlische Stadt - Der abendländische Traum von der gerechten Gesellschaft" 6. Es lenkt unsern Blick zurück in die ferne Vergangenheit und läßt uns fragen: Was verstanden die Menschen unter „Gerechtigkeit" in Jerusalem, in Athen, in Rom? Was verstanden sie darunter zu Beginn der Neuzeit, was im 19. Jahrhundert? Was sagt ihnen heute „Gerechtigkeit"? Hier einige typische Ausschnitte aus der Geistesgeschichte: „Gerechtigkeit" ist ein Schlüsselbegriff des mosaisch-christlichen Glaubens. Er umfaßt „Heiligkeit", „Frieden", „Befreiung", „Erlösung", „Gnade", „Heil", kurz alles, was eine gute, diesseits- und jenseitsorientierte Gemeinschaft auszeichnet. Gott ist der Inbegriff des Guten. Er wird als der vollkommen Gerechte verehrt. Auch im Neuen Testament offenbart sich Gott als gütiger Vater, der seine Sonne aufgehen läßt über Gerechte und Ungerechte. Der große Philosoph Piaton, der im 5. und 4. vorchristlichen Jahrhundert in Athen lebte, nahm an der Politik nicht aktiv teil, da Sokrates, nach dem Urteil seines Schülers „der gerechteste aller Lebenden", staatlicherseits verfolgt und schließlich hingerichtet worden war. Diese Erfahrung speiste Piatons Staatslehre. „Die Unheilbarkeit aller gegenwärtigen Staaten" beweise, daß sie dem ethischen Anspruch der Philosophie nicht entsprechen. Piaton forderte einen gerechten Staat. Gerechtigkeit bedeutete für ihn Einheit des Ganzen, dem kein Teil fehlt und das die richtige Ordnung aller Teile verkörpert. 7 Sein Schüler Aristoteles ist wohl der erste, der zwischen Verkehrsgerechtigkeit und ausgleichender Gerechtigkeit unterscheidet. Die ersterwähnte stellt ab auf die Leistung: gleiche Arbeit, gleicher Lohn!, die andere auf den Bedarf oder die Bedürftigkeit. Der oströmische Kaiser Justinian, der von 527 bis 565 regierte, hat ein bis auf den heutigen Tag herausragendes Gesetzeswerk geschaffen. Darin nennt er Gerechtigkeit den festen, dauernden Willen, jedem das Seine zuzuteilen. „Iustitia est constans 5

Heinrich August Winkler „Von Marx zur Marktlücke" FAZ 19. 10. 1999. Paul Badde „Die himmlische Stadt. Der abendländische Traum von der gerechten Gesellschaft" München 1999. 7 Siehe Jörg Jantzen ,»Platon" in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.) „Staatslexikon" Freiburg 1988. 6

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et perpetua voluntas suum cuique tribuendi." 8 Auch Martin Luthers Gerechtigkeitsideal basiert auf der gleichen Annahme: „Was ist Gerechtigkeit anderes, als daß jedermann tue in seinem Stand, was er schuldig ist." Bärbel Bohley, der wir die Formulierung des Themas verdanken, wurde 1945 in Berlin geboren und ist in der DDR aufgewachsen. Dort wurde kein anderer Deutscher so verehrt wie Karl Marx. Die SED feierte ihn als „größten Sohn des deutschen Volkes"9, und bis heute hat sich die auf Gerechtigkeit fixierte PDS von ihm nicht distanziert. Auch im Westen genießt Marx, der namhafteste Kommunist, großes Ansehen. Daher erscheint es angezeigt, seine einschlägigen Äußerungen bekanntzumachen, zumal er nach den Vorstellungen mancher eine Brücke schlägt zu den Propheten des Alten Bundes, wie schon dem Buchtitel „Gerechtigkeit bei Karl Marx und in der Hebräischen Bibel" 10 zu entnehmen ist. „Gerechtigkeit" ist ein Lieblingswort in den Bekenntnisschriften von zahlreichen Kommunisten und Exkommunisten. Viele wollen ihre Hinwendung zum Kommunismus so verstanden wissen: „Da er die Gerechtigkeit über alles liebte, wurde er Kommunist." Was hier der Stellvertreter des jugoslawischen Präsidenten Tito und spätere Dissident Milovan Djilas mit Bezug auf sein Jugendidol schreibt, gilt für viele oder wird von vielen angenommen, so von Leo Trotzki und Susanne Leonhard. Ignace Lepp hat seine Hinwendung zum Kommunismus mit „Der Durst nach Gerechtigkeit" überschrieben. 11 Welches sind die Merkmale der Marxschen Gerechtigkeit? Hat seine Gerechtigkeit die Konturen verändert oder beibehalten? Gibt es aus seiner Feder längere systematische Abhandlungen zu diesem Thema? Die Antwort dürfte viele enttäuschen. Die wenigen Sätze, die Einschlägiges bieten, sind über das ganze Werk verstreut. 1864, also mit 46 Jahren, schrieb er in die Statuten der Internationalen Arbeiter-Assoziation: „Sie [die Arbeiter] erklären, daß diese Internationale Assoziation und alle Gesellschaften und Individuen, die sich ihr anschließen, Wahrheit, Gerechtigkeit und Sittlichkeit anerkennen als die Regeln ihres Verhaltens zueinander und zu allen Menschen".12 Ungläubiges Kopfschütteln dürfte bei den meisten Hörern die Mitteilung auslösen, daß Marx die Entlohnung der Arbeiter im Kapitalismus als gerecht bezeichnet hat. In seinem Hauptwerk, Das Kapital, 1867 erschienen, lesen wir: „Der Umstand, daß die tägliche Erhaltung der Arbeitskraft nur einen halben Arbeitstag kostet, obgleich die Arbeitskraft einen ganzen Tag wirken, arbeiten kann, daß daher der Wert, 8

So in den Digesten Ulpians. „Thesen des ZK der SED" Einheit/83 S. 10. 10 Heinz Monz „Gerechtigkeit bei Karl Marx und in der Hebräischen Bibel" Baden-Baden 1995. 11 Ausführlich dazu mit allen Belegen: Konrad Low „Warum fasziniert der Kommunismus?" München 1985 S.64ff. 12 Karl Marx/Friedrich Engels „Werke" (42 Bde.) Berlin (Ost) 1956ff. hier 16,15. 9

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den ihr Gebrauch während eines Tages schafft, doppelt so groß ist als ihr eigner Tageswert, ist ein besonderes Glück für den Käufer, aber durchaus kein Unrecht gegen den Verkäufer... Äquivalent wurde gegen Äquivalent ausgetauscht. Der Kapitalist zahlte als Käufer jede Ware zu ihrem Wert, Baumwolle, Spindelmasse, Arbeitskraft." 13 Schließlich sei noch ein Text zitiert, der den Erwartungen der Hörer besser entsprechen dürfte. In ihm ist zwar nicht ausdrücklich von Gerechtigkeit die Rede, aber man kann ihn unschwer so deuten: „In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden ist; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen - erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!" 14 Das „Pilotprojekt Ost", Kern des Rostocker Manifests der PDS, steht unter der Losung: „Gerechtigkeit und Entwicklung". Freilich eine nähere Bestimmung dessen, was mit „Gerechtigkeit" gemeint ist, suchen wir in der Broschüre vergebens.15 Abschließend sei noch das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland erwähnt, dessen erster Artikel „Gerechtigkeit" als Staatsziel ausweist: „Das deutsche Volk bekennt sich daher zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt." - Auch hier fehlt eine Begriffsbestimmung, so daß hinsichtlich des Inhalts ein Verweis auf die tradierte Ethik zu unterstellen ist. Prüfen wir im Folgenden den konkreten Gehalt der eben zitierten Texte. III. Gerechtigkeit nur eine „Phrase"? Gott, der vollkommen Gerechte, wird nicht nur von Skeptikern und Religionskritikern auf die Anklagebank gezerrt, auch der fromme Dulder Ijob begreift nicht, warum ihm die Familie, die Gesundheit, Hab und Gut genommen wurden: „Warum bleiben Frevler am Leben, werden alt und stark an Kraft?", klagt er und fährt fort: „Ihre Nachkommen stehen fest vor ihnen, ihre Sprößlinge vor ihren Augen. Ihre Häuser sind in Frieden, ohne Schreck, die Rute Gottes trifft sie nicht." 16 Gott gibt 13

Karl Marx/Friedrich Engels „Werke" (42 Bde.) Berlin (Ost) 1956ff. hier 23, 208 f. Karl Marx/Friedrich Engels „Werke" (42 Bde.) Berlin (Ost) 1956ff. hier 19, 21. 15 Siehe Konrad Low „Für Menschen mit kurzem Gedächtnis. Das Rostocker Manifest der PDS" Köln 1998. 16 Ijob 21, 7 ff. 14

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ihm keine Antwort, die uns einsichtig macht. Er führt Ijob nur vor Augen, daß es ihm nicht zustehe, mit dem Allmächtigen zu rechten. „Da antwortete der Herr dem Ijob aus dem Wettersturm und sprach: Wer ist es, der den Ratschluß verdunkelt mit Gerede ohne Einsicht? ...Wo warst du, als ich die Erde gegründet? Sag es denn, wenn du Bescheid weißt. Wer setzte ihre Maße?"17 So geht es fort über viele Zeilen. Das Neue Testament bietet ebenfalls - menschlich gesehen - keine praktikable Definition des Gerechten. Man denke nur an das Gleichnis vom Weinbergbesitzer, der seine Arbeiter unterschiedlich lange beschäftigt und doch jedem den gleichen Lohn auszahlt.18 Auch Piaton läßt uns fragend zurück. Welches ist die richtige Ordnung aller Teile, die er mit Gerechtigkeit in eins setzt? Aufschlußreicher ist da schon Aristoteles mit seinen zwei Arten der Gerechtigkeit. Aber, wenn es mehrere Arten gibt, sind es dann wirklich nur zwei? Oder sind es drei, vier? Kann es sein, daß die eine Gerechtigkeit der anderen widerstreitet? Die Verwirrung, die Marx auslöst, ist noch größer. Drei Äußerungen wurden zitiert. Die erste stellt Gerechtigkeit in eine Reihe neben Wahrheit und Sittlichkeit. Gleichzeitig teilt Marx seinem Freunde Friedrich Engels gleichsam hinter vorgehaltener Hand mit: „Nur wurde ich verpflichtet, in das Préamble der Statuten zwei ,duty' und , right 4 [also »Pflicht' und ,Recht'] Phrasen, ditto ,truth, morality and justice4 [Wahrheit, Sittlichkeit, Gerechtigkeit] aufzunehmen, was aber so placiert ist, daß es einen Schaden nicht tun kann."19 Mit anderen Worten: Der zitierte Text entsprach nicht seiner Überzeugung, war vielmehr nur eine Konzession an die Auftraggeber. Auch was die angeblich gerechte Entlohnung der Arbeiter im Kapitalismus anlangt, so dürfen wir unterstellen, daß Marx eine Zwecklüge konstruierte, um seine Anhänger glauben zu machen, daß im Rahmen der kapitalistischen Ordnung keine Verbesserung der Lage der arbeitenden Klasse zu erwarten sei, da alles systemimmanent betrachtet mit rechten Dingen zugehe. Nur eine revolutionäre Umgestaltung könne das Heil bewirken, das da lautet: Kommunismus, oder anders ausgedrückt: „Jedem nach seinen Bedürfnissen." Diese Verheißung ist geeignet, die Herzen aller Mühseligen und Beladenen höher schlagen zu lassen. Dem Nachdenklichen kommen Zweifel: Wer bestimmt, welches meine Bedürfnisse sind - ich oder andere? Wenn jeder für sich selbst die Bedürfnisse ermittelt, geht dann die Gesamtrechnung auf? Wenn aber andere meine Bedürfnisse festlegen, bin ich dann nicht entmündigt? Darauf gibt Marx keine Antwort. Doch die sozialistischen Staaten betonten, daß es nicht auf das subjektive Empfinden ankäme, sondern auf den objektiven, den wahren Bedarf, den das Kollektiv, die Partei, kenne. 17 18 19

Ijob 38, 1 ff. Matth. 20, 13 ff. Karl Marx/Friedrich Engels „Werke" (42 Bde.) Berlin (Ost) 1956ff. hier 31, 15 f.

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Nachdenklich stimmt, wie der „Willkommensgruß" für die Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald lautete. „Jedem das Seine" - stand in großen Lettern über dem Eingangstor 20 und mußte von den Opfern als bitterer Hohn empfunden werden. Einige der Aufseher mögen gar in ihrer ideologischen Verblendung den Worten Glauben geschenkt haben. Bleibt schließlich noch das Staatsziel „Gerechtigkeit" im Grundgesetz mit dem stillschweigenden Verweis auf die aktuelle Ethik. Ist dieser Verweis in einer pluralistischen Gesellschaft wirklich mehr als eine Blankovollmacht für das Bundesverfassungsgericht, „Gerechtigkeit" nach eigenem Gutdünken auszulegen, oder gar nur eine „Phrase", um Marxens Einschätzung aufzugreifen? Sehr befriedigend ist die Bilanz unseres Rückblickes auf mindestens 2500 Jahre Beschäftigung mit „Gerechtigkeit" nicht ausgefallen. Wohl alle Sprachen kennen dieses Wort. Wohl alle Menschen sprechen davon. Und doch kann sie niemand allgemeingültig definieren. Diese Feststellung rückt Bohleys geflügeltes Wort in ein eigentümliches Licht, wirft die Frage auf, ob sie sich mit „Gerechtigkeit" nur einer wohlklingenden Leerformel bedient hat, ob sie und ihre Landsleute einer Fata Morgana aufgesessen sind, ob nicht der Rechtsstaat, den sie wie ein enttäuschter Bettler halb verächtlich einstreicht, weit Besseres, weil Substanzhaitigeres bietet. IV. Der Rechtsstaatsbegriff des Grundgesetzes Im politischen Schrifttum begegnet uns das Wort „Rechtsstaat" erstmals um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Die Sache selbst aber, die es bezeichnet, also der Begriff, ist wesentlich älter. Bereits in der Antike wurden Forderungen erhoben und teilweise auch verwirklicht, die rechtsstaatlicher Natur sind. Was heißt „Rechtsstaat"? Ein Staat, in dem es Recht gibt? In diesem Sinne wäre jeder moderne Staat ein Rechtsstaat, da keiner auf eine gesetzliche Regelung des Zusammenlebens seiner Bürger verzichtet. Nur wenn in einem Gemeinwesen das Recht eine besondere Rolle spielt, kann von „Rechtsstaat" die Rede sein. Der Staat übertrifft jede andere innerstaatliche Vereinigung und jeden einzelnen an Macht, und zwar ganz erheblich. Macht, geballte Macht, ist gefährlich, da der Machtmißbrauch nie gänzlich ausgeschlossen werden kann. Von der Gefährlichkeit der Macht wußten die Menschen zu allen Zeiten, und viele haben über eine Abwehr nachgedacht. Schon Aristoteles schreibt in der Nikomachischen Ethik: „Wir wollen nicht, daß ein Mensch über uns herrscht, sondern der Geist des Gesetzes."21 Wie aber kann der Machtmißbrauch unterbunden werden? Die Athener ersannen das Scherbengericht, den Ostrakismos. Kam die Mehrheit der 20 21

Siehe die Abbildung in Ernst Nolte „Der Faschismus" München 1968 S.292. Nikomachische Ethik V6.

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Volksversammlung zu der Überzeugung, ein Bürger gefährde die Verfassung, konnte er für fünf oder zehn Jahre in Verbannung geschickt werden. Als die römischen Senatoren glaubten, Julius Caesar erstrebe die Alleinherrschaft, griffen sie zum Dolch, um die Republik zu retten. Eine unblutige, zugleich noch zuverlässigere Methode, Machtmißbrauch zu bekämpfen, ist unlöslich mit dem Namen des französischen Barons Montesquieu verknüpft. Ihm gebührt das Verdienst, nachdrücklicher als jeder Vorgänger dafür eingetreten zu sein, daß die Staatsgewalt nicht in den Händen eines einzigen konzentriert werde. Auch die Gewaltenteilung ist nur eine halbe Sache, wenn die richterliche Gewalt nicht so ausgestattet ist, daß sie jeden Bereich staatlichen Wirkens, soweit Rechte der Menschen betroffen sind, umfaßt. 1864 erhob daher Otto Bähr in seinem Werk „Der Rechtsstaat - Eine publizistische Studie" diese Forderung, der aber im deutschen Kaiserreich nicht entsprochen wurde. Auch in den dunkelsten Tagen deutscher Rechtsgeschichte war vom Rechtsstaat die Rede. Selbst der Präsident des Volksgerichtshofes Roland Freisler bejahte das Wort. Daher ist es, um jedes Mißverständnis auszuschließen, notwendig, dem Wort ein klärendes Beiwort beizufügen. Im Folgenden ist vom Rechtsstaat des Grundgesetzes die Rede, den allein Bärbel Bohley gemeint haben kann, da die DDR in der Bundesrepublik Deutschland aufgegangen ist. Auf den ersten Blick scheinen die Aussagen des Grundgesetzes über „Rechtsstaat" ziemlich bescheiden. Nur in Art. 28 ist ausdrücklich davon die Rede. Dort heißt es: „Die verfassungsmäßige Ordnung in den Länder muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen." Wir finden diese Grundsätze, wenn wir berücksichtigen, daß die Verfasser des Grundgesetzes das liberale Erbe der ersten deutschen Republik der Jahre 1919-1932, also der Weimarer Zeit, wieder aufnehmen wollten. Danach ist Rechtsstaat primär Gesetzesstaat. Das Gesetz herrscht, wie es Art. 20 Abs. 3 zum Ausdruck bringt. Ferner gehört Gewaltenteilung nach unbestrittener Ansicht zum liberalen Rechtsstaatsbegriff. Wir unterscheiden zwischen der gesetzgebenden, der vollziehenden und der richterlichen Gewalt. Vollziehende Gewalt, auch Verwaltung genannt, ist alles hoheitliche Handeln, das weder als Gesetzgebung noch als Rechtsprechung gilt. Bei der Forderung nach Gewaltenteilung steht nicht die Unterscheidung der einzelnen Funktionen im Vordergrund - sie ist auch in totalitären Staaten selbstverständlich - , sondern die organisatorische Trennung der Gewalten, d. h. es gibt eigene Organe für die Gesetzgebung, eigene für die Verwaltung, eigene für die Rechtsprechung, eben die Gerichte. Welche anderen Grundsätze zählen hierher? Sicherlich eine ganze Reihe jener Normen der Verfassung, die die Rechtsprechung betreffen, so Art. 103 des Grundgesetzes, der lautet:

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„Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Niemand darf wegen derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden." Soll jemandem wegen mißliebigen Verhaltens die Freiheit entzogen werden, ist es Sache der vollziehenden Gewalt (Staatsanwaltschaft), Klage zu erheben, Sache der Judikative, die Verurteilung auszusprechen (Strafgericht), wobei beide Gewalten darauf angewiesen sind, daß die Legislative (Bundestag und Bundesrat) ein Gesetz erlassen hat, das die erwiesene Tat mit Freiheitsstrafe bedroht. Dieses Gesetz muß in Kraft getreten sein, bevor das Delikt begangen wurde. Schließlich könnte noch das Staatsoberhaupt von seinem Begnadigungsrecht Gebrauch machen und den Strafvollzug verhindern. Insgesamt eine komplizierte Prozedur, die durch die Überlegung gerechtfertigt wird, daß auf diese Weise ein Maximum an Rechtssicherheit und Humanität gewährleistet ist. Nicht einmal bei den schwersten Rechtsverletzungen - Einlieferung in ein Konzentrationslager, ohne daß die Begehung einer strafbaren Handlung auch nur behauptet worden wäre - konnten in der NS-Zeit die Gerichte angerufen werden, da sie zur Nachprüfung der meisten hoheitlichen Akte unzuständig waren. Das Grundgesetz ist die erste Verfassung der Welt, die sich zur Perfektion des gerichtlichen Schutzes durchgerungen hat. Art. 19 Abs. 4 bestimmt: „Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen." Weder die Berufs- noch die Laienrichter dürfen sich irgendwelchen Weisungen beugen. Sie sind sachlich unabhängig. Die ebenfalls garantierte persönliche Unabhängigkeit besagt: Sie sind Richter auf Lebenszeit. Sie können gegen ihren Willen nicht versetzt werden. Der Staat hat sie angemessen zu alimentieren. Die Feststellung, daß niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf, ist die notwendige Ergänzung der richterlichen Unabhängigkeit. Was nützte es, wenn die Richter zwar unabhängig wären, der Justizminister aber befugt wäre, immer dort Richter seines Vertrauens einzusetzen, wo er oder seine Kollegen am Ausgang des Rechtsstreits besonders interessiert sind? Von Gerechtigkeit ist unter Juristen nicht häufig die Rede. Doch gelegentlich spielt sie als Korrektiv eine beachtliche Rolle. Sie und die Rechtssicherheit sind unverzichtbare Elemente des Rechtsstaats. Die Gerechtigkeit, wie die Juristen sie verstehen, fordert beispielsweise, daß der Täter der Schwere seiner Tat und seiner Schuld entsprechend bestraft wird, die Rechtssicherheit, daß klare Verhältnisse herrschen. Dazu gehört, daß Strafverfahren zu einem Abschluß kommen. Beide Prinzipien geraten mitunter in Widerstreit, und es muß dann die optimale Lösung gefunden werden. Dieses Problem taucht z.B. auf, wenn ein rechtskräftiges Urteil vorliegt und sich nachher neue Beweismittel anbieten, die geeignet sind, den man-

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gels Beweises Freigesprochenen der Tat zu überführen oder den Verurteilten zu entlasten. Auch die Verjährung von Ansprüchen dient der Rechtssicherheit und Klarheit. Doch geht sie zu Lasten der Gerechtigkeit, da bestehende Ansprüche nicht mehr durchgesetzt werden können. Abschließend seien noch die Mauerschützenprozesse der Jahre 1990 ff. erwähnt. Rein nach DDR-„Recht" hätten die meisten Mauerschützen und ihre Vorgesetzten nicht bestraft werden können. In letzter Instanz hat das höchste deutsche Strafgericht, der Bundesgerichtshof, die Bestrafung der Verantwortlichen mit folgenden Worten bestätigt: „Wenn Recht in einem unerträglichen Widerspruch zur Gerechtigkeit steht, muß das Recht [der Gerechtigkeit] weichen"22, eine der ganz seltenen, zugleich überaus bedeutsamen Ausnahmen, bei denen das Wort „Gerechtigkeit" Eingang in ein Urteil gefunden hat. Dieser keineswegs vollständige Überblick über die vielfältigen Ableitungen, die aus dem Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit folgen, zeigt, daß der Rechtsstaat etwas ganz Handfestes ist, eine Vielzahl konkreter Ge- und Verbote ausspricht, auf vielfältige Weise Schutz für jeden seiner Bewohner gewährleistet und zugleich die wünschenswerte Ordnung sicherstellt. V. War die DDR kein Rechtsstaat? Die Verfassung der DDR, die von 1968 bis 1990 in Geltung war, gebrauchte das Wort „Rechtsstaat" nicht. Dennoch wäre es falsch, daraus den Schluß zu ziehen, das Wort „Rechtsstaat" habe nie Eingang in den Sprachschatz der DDR gefunden. Bereits in der „Erklärung über die Bildung der Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien vom 14. Juli 1945" wurde als eine der Hauptaufgaben die Herstellung voller Rechtssicherheit auf der Grundlage eines demokratischen Rechtsstaats genannt. Doch wenig später folgte die Ächtung des Wortes, da es mit den bürgerlichen Staats Vorstellungen verwoben sei. Um so größer die Überraschung, als es 1961 plötzlich aus der Versenkung wieder auftauchte. Im ersten Parteiprogramm der SED vom Januar 1963 stand zu lesen: „Unser Staat, der Gerechtigkeit gegenüber jedermann übt, der - zum ersten Mal in der deutschen Geschichte - Freiheit, Gleichberechtigung und Menschenrechte seiner Büiger achtet und sichert, ist der deutsche Rechtsstaat."23 Gemessen am traditionellen abendländischen Rechtsstaatsbegriff und an dem des Grundgesetzes erfüllte die DDR keines der maßgebenden Kriterien, wie kurz an einigen Beispielen veranschaulicht werden soll: Die DDR verwarf die Gewaltenteilung unter Berufung auf Marx, der geäußert hatte: „Hier haben wir den alten Verfassungsunsinn. Die Voraussetzung einer »freien 22

BGH Az. 5 StR 370/92. Siehe Klaus Sieveking „Die Entwicklung des sozialistischen Rechtsstaatsbegriffs in der DDR" Berlin (West) 1975. 23

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Regierung ist nicht die Trennung, sondern die Einheit der Gewalten."24 Die amtlichen Kommentatoren der DDR-Verfassung sprachen mit Blick auf die bundesdeutsche Gewaltenteilungslehre von „Betrug". 25 Diese Argumentation diente nur der Vernebelung eigener schrankenloser Machtgelüste, die mit dem Gedanken der Gewaltenteilung unversöhnlich kontrastieren. An der Spitze stand die SED, genauer: das Politbüro unter Leitung des Generalsekretärs. Es fällte die politischen Grundsatzentscheidungen und lenkte die Arbeit aller staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen, also auch der Satellitenparteien. Das Politbüro hatte praktisch unbeschränkte Macht. Der totalitäre Staat kann auch keinen persönlich und sachlich unabhängigen Richter akzeptieren, zumal wenn er dazu berufen sein sollte, die Rechte des Bürgers gegenüber Partei und Staat wahrzunehmen. Die Verfassung der DDR sah in Art. 94 vor, daß Richter nur sein kann, „wer dem Volk und seinem sozialistischen Staat treu ergeben ist". Schon bei der Zulassung zum Jura-Studium war die „Bereitschaft zur aktiven Verteidigung des Sozialismus" erforderlich. Die Richter wurden auf fünf Jahre gewählt - wie die Richter des NS-Volksgerichtshofes - und konnten, wenn sie den Erwartungen nicht entsprachen, jederzeit abberufen werden. Alle waren ausdrücklich zur Parteilichkeit verpflichtet. Die Gerichtsdirektoren versammelten jeden Montag die zugeordneten Richter zum „Rapport" und berichteten über das Ergebnis an ihre Vorgesetzten. Die Abberufenen oder nicht Wiedergewählten standen praktisch auf der Straße. Sie hatten keine Chance, etwa als Justitiar in die Wirtschaft zu gehen.26 VI. Der Rechtsstaat ist kein Idealstaat Wenn Bärbel Bohley sagte, wir haben den Rechtsstaat bekommen, so trifft sie den Nagel auf den Kopf, denn der Rechtsstaat war für die DDR-Bewohner tatsächlich etwas ganz Neues, eine gewaltige qualitative Verbesserung für jeden freiheitsliebenden Menschen. Und doch, der Rechtsstaat ist alles andere als ein Idealstaat. Der Rechtsstaat ist ein menschliches Gebilde, und zwar in mehrfacher Hinsicht: 1. Er ist unvollkommen, weist Mängel auf. 2. Er ist human, nachsichtig, für viele zu nachsichtig. Diese Feststellungen verdienen es, näher erläutert zu werden. Zu 1: Die Präsentation der Merkmale des Rechtsstaats hat gezeigt, daß seine Struktur kompliziert ist. Um der Klarheit willen sind viele Bestimmungen notwendig, auch wenn der Laie versucht ist anzunehmen, in der Kürze liege die Würze. Doch wenn nicht Menschen, „die Richter", herrschen sollen, sondern Gesetze, so müssen Gesetze für alle Lebensbereiche geschaffen werden, an die sich die Richter 24

Karl Marx/Friedrich Engels „Werke" (42 Bde.) Berlin (Ost) 1956ff. hier 7,498. Klaus Sorgenicht u. a. „Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik" Berlin (Ost) 1969 Bd. I S . 279. 26 Siehe Andrea Baer „Die Unabhängigkeit der Richter in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR" Berlin 1999. 25

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zu halten haben. „Von der Wohltat der Rechtssicherheit bis zur Plage der Verrechtlichung ist es dann nur noch ein kleiner Schritt - vor allem dann, wenn noch ein Schuß Perfektionswut und Rechthaberei dazukommt."27 Die Beseitigung der „Gerechtigkeitslücke", von der eingangs schon die Rede war, kann aber im Rechtsstaat nur durch den Gesetzgeber erfolgen, also durch weitere Gesetze. Ferner: Worin besteht die Gerechtigkeitslücke? „Im Jahre 1992 gaben 82 v. H. der Ostdeutschen und 34 v. H. der Westdeutschen an, daß sie ihrer Meinung nach weniger als den gerechten Anteil dessen erhalten, was die Gesellschaft zu verteilen hat. 1996 glaubten das immerhin noch 62 v. H. der Ostdeutschen und wiederum rund ein Drittel der Westdeutschen... Ostdeutsche messen Gerechtigkeit eher an den Verteilungsergebnissen, Westdeutsche eher an der Chancengleichheit. 1997 stimmten dem Statement ,Das Wichtigste ist die soziale Gerechtigkeit* 67 v. H. der Ostdeutschen, aber nur 36 v. H. der Westdeutschen zu. Unter den Westdeutschen war dafür die Zustimmung zu der Aussage ,Das Wichtigste ist die persönliche Freiheit 1 mit 50 v. H. deutlich höher als unter den Ostdeutschen mit 19 v. H." 2 8 Würde also der Gesetzgeber dem Wunsch der Ostdeutschen nach mehr Gerechtigkeit im Sinne von mehr Gleichheit entsprechen, könnte dies im Westen als Abbau von Gerechtigkeit im Sinne von Freiheit empfunden werden. Diese Fakten und Überlegungen legen den Schluß nahe, die Ostdeutschen seien materialistischer, die Westdeutschen idealistischer eingestellt. Doch wie groß wäre die Diskrepanz wirklich noch, würden die Arbeitnehmer in ganz Deutschland gleich entlohnt? Zur Zeit erhalten beispielsweise die „Ost-Beamten" nur 86,5 Prozent der Bezüge in Westen. Die Gegner der Gleichheitsbestrebungen weisen zudem darauf hin, daß der Wirtschaftsstandort Deutschland gefährdet sei. „Die Wirkung einer Vermögensabgabe wäre katastrophal" 29, titelt eine sehr angesehene Zeitung. Ein anderes weitverbreitetes Blatt schreibt in den Headlines: „Steuerflüchtlinge dürfen sich freuen: Eine europaweite Abgabe auf Kapitalerträge wird es nicht geben."30 Warum? Weil andere europäische Staaten nicht mitmachen. Eine Tabelle zeigt, daß Deutschland, was Zinsbesteuerung anlangt, führend ist, eine weitere Erhöhung somit einen weiteren Geldabfluß ins Ausland zur Folge hätte, was niemand wünschen kann, dem der Abbau der Arbeitslosigkeit in Deutschland ein Anliegen ist. Zu 2: Ein Leserbriefschreiber machte sich unlängst Gedanken darüber, wie ein totalitärer Staat auf die Entführung des indischen Flugzeugs mit 155 Passagieren im 27

Hans Maier „Die Wohltat des Rechts und die Plage der Verrechtlichung" in: Manfred Mols u. a. (Hrsg.) „Normative und institutionelle Ordnungsprobleme..." Paderborn 1990 S. 132. 28 Cornelia Lang u.a. „Erfolg gegen Mißerfolg" Deutschland Archiv 1/2000 S. 14. 29 Hermann Simon „Ein Anschlag auf den Standort Deutschland" FAZ 13.11.99. 30 Christian Reiermann u.a. „Nationales Drama" DER SPIEGEL" 50/99 S.89. 3*

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Januar 2000 reagiert hätte. Seine durchaus begründete Vermutung: „Aug' um Auge!" Der Staat hätte den Entführern angedroht, daß für jeden getöteten Passagier zwei in Gewahrsam befindliche militante Muslime hingerichtet werden. „Doch ein Rechtsstaat kann sich nicht so tief fallen lassen, und so muß er dafür leiden" 31 , heißt es abschließend nicht ohne herben Beigeschmack. Ein weiteres Beispiel für jene Humanität des Rechtsstaats, die manchen fragwürdig erscheint: Die Sorge um eine wirksame Rechtspflege rechtfertigt nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht in jedem Fall die Durchführung eines Strafverfahrens. Es ist unzulässig, wenn angesichts des Gesundheitszustandes zu befürchten ist, daß der Beschuldigte bei Fortsetzung des Verfahrens sein Leben einbüßen würde oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nähme.32 Solche Überlegungen führten zur Haftentlassung Erich Honeckers, des Hauptverantwortlichen für Hunderte von Maueropfern, und des chilenischen Ex-Staatspräsidenten Augusto Pinochet. Nicht minder anstößig in den Augen vieler ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wonach die durch Gesetz verfügte Kürzung der Sonderrenten für die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit in manchen Fällen nichtig ist. 33 Unterstellt, das Urteil wäre falsch, es könnte von keinem anderen Gericht korrigiert werden. Ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip? - Nein, denn der Rechtsstaat garantiert nur, daß der Rechtsweg beschritten werden kann, und das ist hier geschehen. Ein unendlicher Rechtsweg ist weder möglich noch wünschenswert. Diese bittere Erkenntnis wird dadurch noch widerwärtiger, daß die DDR-Opfer heute im Rechtsstaat Deutschland weit schlechter gestellt sind als ihre Verfolger. „Für einen Täter mit durchschnittlicher Erwerbslaufbahn - zehn Jahre hauptamtlicher Mitarbeiter der Staatssicherheit, dreißig Jahre Zivilberuf und Inoffizieller Mitarbeiter - errechnete sie [die Hilfsorganisation für Diktaturopfer] eine mittlere Rente von 2740 Mark. Für einen Systemgegner mit einer anerkannten Verfolgungszeit von vierzig Jahren ergab sich weniger als die Hälfte: 1210 Mark." 34 Wolf Biermanns Polemik gipfelt in den Worten: „Was wird aus den Menschenschindern und Mördern und Folterknechten und Spitzeln und Berufslügnern? Alle diese Kostgänger der Tyrannei erweisen sich am Ende des Kalten Krieges als die eigentlichen Sieger. Aus der Asche ihrer Opfer steigen sie auf, ein lächerlicher Schwärm von gerupften Phönixen verdunkelt die Sonne über Deutschland. Tausende unschuldige Bürger sind in den Gefängnissen der DDR verblüht. Die Stasi-Generäle suhlen sich in ihren Datschen und sonnen sich im Licht verklärter Erinnerungen." 35

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Sharad Misra „Cause and Effect of a Hijacking" Time Febr. 7, 2000 S. 7. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 51, 345. Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 51 und 52 vom 28. April 1999. Konrad Schuller „Es hat sich gelohnt, der Macht zu dienen" FAZ 6.1.2000. Nach Siegmar Faust „Der Provokateur" München 1999 S. 320.

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VII. Das Menschenbild des Rechtsstaats Solche Erfahrungen und Einsichten begünstigen die Rechtsstaatsverdrossenheit und den Ruf nach Gerechtigkeit. Doch solange niemand die Elemente der Gerechtigkeit halbwegs exakt beschreibt, solange niemand sagt, welche staatlichen Einrichtungen abgeschafft, welche an ihre Stelle treten sollen, wie aus lauter unvollkommenen Menschen ein vollkommenes Gemeinwesen entsteht, wie ohne Erziehungsdiktatur alle diese Menschen denselben Gerechtigkeitsbegriff bejahen, bleibt Gerechtigkeit ein Traum, ein Ziel, dem wir uns bestenfalls allmählich Schrittchen für Schrittchen nähern, ohne es je zu erreichen. Auch in Zukunft wird es so sein, daß der im Prozeß Obsiegende das Urteil als gerecht preist, während der Unterlegene glaubt, ihm sei schlimmes Unrecht widerfahren. Auch in der Zukunft kann der Richter nicht den wahren Sachverhalt zugrunde legen, sondern nur den offenbar erwiesenen. Der Rechtsstaat hingegen hält, was er verspricht. Sein Menschenbild ist nüchtern. Er glaubt nicht an den charismatischen, über jede Versuchung erhabenen Führer, an die unfehlbaren Staatsorgane, an die stets loyalen Staatsdiener und Bürger. Er verspricht keine gerechten Urteile. Alle seine Vorkehrungen gegen Machtmißbrauch gewährleisten nicht den guten Staat. Aber sie bilden ein in der Regel wirksames Bollwerk gegen die Willkür der Mächtigen. Weitere Verbesserungen sind möglich, entsprechende Vorschläge erwünscht. Diese realistische Erkenntnis verhindert Tagträume und zeigt die Grenzen des Menschenmöglichen. Wer mehr vom Staat erwartet, als der Rechtsstaat gibt, wer Utopien sät, erntet Enttäuschung. In dem Maße, wie diese Einsicht an Boden gewinnt, wächst Deutschlands innere Einheit.

Kanzlerschaft im Wiedervereinigungsprozeß Leitbilder, Strategien, Management, Historisierungen* Von Peter März I . Rahmenbedingungen „Bisher konnte man die Beobachtung machen, daß zwei Dinge in Deutschland in der Familie nicht besprochen wurden: die Fragen der Sexualerziehung und die Fragen der früheren politischen Betätigung von Vater und Mutter i m Dritten Reich (...). Wenn aber jetzt einer eine schöne demokratische Rede hält und die Kinder hören von ihrem Onkel, das war auch ein dicker Nazi, dann ist alles dahin. M i r scheint es also zweckmäßig zu sein, mit einer vernünftig dosierten Offenheit die Dinge anzusprechen." 1 Diese zumindest scheinbar in das intellektuelle Vorfeld der „68er" einzuordnende Aussage stammt von niemand anderem als dem Mitdreißiger Helmut Kohl, so 1965 i m Bundesvorstand seiner Partei, moderiert vom noch amtierenden * Das Manuskript für diesen Beitrag wurde im wesentlichen im November 1999 abgeschlossen, also vor Bekanntwerden und Eskalieren jener Krise der CDU, die zumeist als „Spendenskandal" bezeichnet wird und in deren zeitgeschichtlichem Mittelpunkt die Figur Helmut Kohls steht. Da es hier vor allem um sein deutschlandpolitisches Agieren 1989/90 geht, konnte und sollte nicht der Versuch unternommen werden, bei der Darstellung und Bewertung dieser Phase die mögliche Rolle des Einsatzes vonfinanziellen Mitteln einzubeziehen, die nicht offen akquiriert wurden und zur innerparteilichen Stärkung der Position des Parteivorsitzenden in einem lehensähnlichen System hätten dienen können. Für den Zeitraum 1989/90 ist die Rolle eines solchen Vorgehens derzeit - Ende 2000 - auch nicht bzw. jedenfalls nicht hinreichend scharf erkennbar. Daß für die innerparteiliche Machtposition Helmut Kohls ein personales, feudale Züge tragendes Geflecht außerordentliche Bedeutung hatte, geht auch schon aus den bisher erkennbaren und in der Literatur analysierten Abläufen, auf die hier auch teilweise Bezug genommen wird, hervor. Dieses Geflecht und die in ihm wirkenden Strukturen und Abhängigkeiten beschreibt zuletzt Friedbert Pflüger: Ehrenwort. Das System Kohl und der Neubeginn, Stuttgart, München 2000. Pflüger zeigt u. a., wie Kohl es verstand, Gefolgschaften durch Auszeichnungen wie lange exklusive Gespräche, Einladungen zu Auslandsbesuchen und vielfache andere Vergünstigungen herzustellen. Deutlich wird aber auch, daß alle bestehenden bzw. auch nur in Aussicht gestellten Privilegien ein jähes Ende fanden, wenn die Zielperson den Erwartungen nicht entsprach wie Pflüger, als er im Spätsommer 1983 Kohls Angebot nicht folgte, seine Funktion als Redenschreiber bei Bundespräsident von Weizsäcker zugunsten einer Tätigkeit in der CDU-Zentrale aufzugeben (Pflüger, S. 29ff.). Auf die Frage, was nach dem heutigen Stand per Saldo Konturen eines Bildes von Helmut Kohl in der Geschichte sein könnten, wird im Schlußteil mit der hier gebotenen besonderen Vorläufigkeit eingegangen. 1 Adenauer: „Stetigkeit in der Politik." Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1961-1965, bearb. von Günter Buchstab, Düsseldorf 1998, Protokoll der Sitzung des CDUVorstandes vom 09.02.1965, S.856.

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greisen Vorsitzenden Konrad Adenauer. Offenheit für Zeitströmungen und zugleich eine mittlere Linie, die nicht zementiert und nicht überstrapaziert. Das sind Züge, die uns schon in diesen Zeilen begegnen. Fragen wir weiter nach den Koordinaten, die für den späteren Bundeskanzler bei seinem Handeln im Blick auf die nationale Frage bestimmend sein sollten, so müssen wir eingangs zumindest auf zwei Aspekte eingehen: Auf Leitbilder und historisches Bewußtsein wie Aktionsradius und Managementmöglichkeiten in der späten Phase der Kanzlerdemokratie. Kohl hat in der Übergangsphase am Ende seiner Kanzlerschaft 1998 dem Magazin „Capital" ein umfangreiches Interview gegeben, erschienen in der NovemberNummer, geführt mit dem Publizisten Johannes Gross offenkundig aber noch vor der Bundestagswahl; mit hoher Wahrscheinlichkeit wußte Kohl freilich zu diesem Zeitpunkt bereits, dass die Wahl nicht mehr zu gewinnen sei. In mehreren Schritten wird hier Kohls „Geschichtsbild" enthüllt. Zunächst schildert er die Folgen der totalitären Entartungen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts: „Die Werteordnung ist auf den Kopf gestellt worden." 2 Es fällt im übrigen nicht schwer, bei Konrad Adenauer eine Vielzahl an ähnlichen Formulierungen zu finden 3, und durchaus auch im Adenauerschen Sinn wird als eine Ursache der für das 20. Jahrhundert kennzeichnende Säkularisierungsprozeß benannt. Inwiefern die hier getroffenen Aussagen eher aus umfassenden Reflexionen oder in der politisch-biographischen Sozialisation Kohls liegenden Versatzstücken resultieren, ist so leicht nicht zu bestimmen. Einiges wird aber klarer, wenn man sich den unmittelbar gegebenen Identitätsfaktoren Kohls und seinen historisch-topographischen Fixpunkten nähert. Im Interview mit „Die Zeit" vom 27. August 1998 - auch hier schon bei allem aufgesetzten Wahlkampf-Selbstbewußtsein eine Art Rundum-Abschied - äußert er sich auf die Frage, was ihm der Begriff Nation bedeute, so: „Nation ist das umfassende, das über meiner Heimat steht. Meine Heimat ist die Pfalz, ich spreche deren Dialekt. Ich habe zugleich das Gefühl - man nennt es nicht ohne Grund Nationalgefühl - , hier in diesem Land als Deutscher in besonderer Weise beheimatet zu sein. Ich stehe zu diesem Gefühl und weiß, daß eine Übersteigerung von Übel wäre. Nie würde ich anderer Menschen Heimat und Nation schmähen. Ich bin europäischer Deutscher, deutscher Europäer." 4 Lassen wir diese dreifache Orientierung - regional-stammesmäßig, national und europäisch - gelten, dann spricht vieles dafür, daß sie nicht nur für Kohl als Person gilt, sondern zugleich eine Art mittlere Linie zwischen den Fixpunkten markiert, die hier das Spektrum der Unionsparteien in den 70er, 80er und auch 90er Jahren beschreiben. So hat etwa Kohls vermutlich wichtigster innerparteilicher Widerpart in der 2. Hälfte der 80er Jahre und wohl auch in den 90er Jahren, Heiner Geißler, nationale Orientierung zu2

Capital 11/98, S. 163. Vgl. aus der Vielzahl der einschlägigen Adenauer-Literatur nur die klassische Biographie von Hans-Peter Schwarz: Adenauer. Der Aufstieg: 1876-1952, Stuttgart 1986 u. ders.: Adenauer. Der Staatsmann: 1952-1967, Stuttgart 1991 ; zum Thema insb. Anneliese Poppinga: Konrad Adenauer. Geschichtsverständnis, Weltanschauung und politische Praxis, Stuttgart 1975. 4 Interview mit „Die Zeit", 27.08.1998, S.4. 3

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nehmend gegenüber einer anderen Trias zurückgestellt: regional-pfälzisch (hier noch wie Kohl), europäisch und universal-menschenrechtlich - gewissermaßen die Eingangspforte, die Geißler zum Befürworter einer auf einen grundrechtlichen Minimalkonsens gegründeten multikulturellen Gesellschaft werden ließ5. Die Frage, ob Geißlers Entfernung aus dem Amt des Generalsekretärs zwei Monate vor dem Fall der Mauer in Berlin nach einem mehrjährigen Entfremdungsprozeß und schließlichen Kollisionskurs zwischen beiden etwas mit einem „nationalen Defizit" Geißlers in der Kohlschen Wahrnehmung zu tun hatte, läßt sich heute aber noch nicht befriedigend klären. Versucht man nun, die historisch-topographischen Fixpunkte Kohls zu bestimmen, dann ergibt sich eine Art Doppelung: Sie stehen einerseits in der karolingischwesteuropäischen Tradition, andererseits aber auch in einer (ostelbisch-)nationalen, wobei letztere noch weiter östlich in der katholischen Traditionslinie des Zusammengehens vor allem mit antikommunistischen Kräften in Polen wiederum eine spezifisch europäische Note gewinnt. Für die erste Komponente finden wir die Jugend im linksrheinischen Ludwigshafen, das Studium in Heidelberg, mit dem für die frühen 50er Jahre klassischen emphatischen Bekenntnis zum europäischen Bundesstaat, die Regierungstätigkeit als Ministerpräsident in der Mainzer Staatskanzlei, die langen Jahre der Tätigkeit in Bonn und als spektakuläre Episode den Händedruck mit François Mitterrand am 22. September 1984 auf dem Schlachtfeld von Verdun. Als historisch-topographische Bezugspunkte für die zweite Linie können einmal die sächsische Heimat von Kohls Ehefrau Hannelore gelten, vor allem aber die Metropole Berlin. Spiegelbildlich zum Museum für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, das die historisch gewachsene spezifische Staatsräson des westdeutschen Staates zum Ausdruck bringen sollte, beabsichtigte Kohl für West-Berlin ein Museum zur nationalen Geschichte, welches naturgemäß mit dem einschlägigen DDR-Museum im Zeughaus Unter den Linden in Konkurrenz treten sollte. Nach der Wiedervereinigung fokussierte er dann symbolhaft die historische Rückbindung des Hauptstadt-Status Berlins u. a. durch die bekannte Umgestaltung der Neuen Wache mit der Kollwitz-Plastik und die schließliche Parteiname für das sogenannte Holocaust-Denkmal. Ein weiteres historisches Muster schließlich, das gewissermaßen westdeutsch-europäische Orientierung im Sinne der „Rheinischen Republik" und nationale Orientierung überwölbt, ist die häufige symbolhafte Hervorhebung bei Staatsbesuchen des Speyrer Domes mit dem bekannten Appendix der Deidesheimer Gastronomie (Besuch mit Staatsgästen im Deidesheimer Restaurant „Schwarzer Hahn" im Hotel Deidesheimer Hof zu gehobener pfälzischer Küche). Die Instrumentalisierung exponierter mittelalterlicher Objekte im Sinne einer nationalen Politik und Orientierung war bekanntlich eine ideologische Eigenheit vor allem der Wilhelminischen Ära. Der Kohlsche Gebrauch solcher Objekte mit ihrer Kaiserherrlichkeit wie den Gräbern der Salier-Kaiser und Rudolf von Habsburgs im 5

Vgl. zum Konflikt beider und zum Sturz Geißlers als CDU-Generalsekretär auf dem Bremer Parteitag der CDU im September 1989 Klaus Dreher: Helmut Kohl. Leben mit Macht, Stuttgart 1998, S. 388 ff.

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Speyrer Dom sollte hingegen offenkundig stärker die christlich-europäische Orientierung hervorheben, die über nationalen und regionalen Besonderheiten stehe. Zuletzt hat Kohl bekanntlich den Speyrer Dom als optisch opulenten Hintergrund für seine Verabschiedung durch die Bundeswehr mit großem Zapfenstreich beim Ausscheiden aus dem Amt im Oktober 1998 gewählt. Im Hinblick auf Polen ist auffallend, daß Kohl in der unmittelbaren Wiedervereinigungsphase des ersten Halbjahres 1990, als er in vielerlei Konflikte hinsichtlich der endgültigen völkerrechtlichen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze verwickelt war (s. u.), sich zugleich immer wieder die Zeit zu grundlegenden Ausführungen gegenüber Vertretern der nunmehr in Polen wesentlich die Regierungsverantwortung tragenden Solidarnosc nahm. Gegenüber Lech Walçsa erklärte er schon am 9. November 1989 in Warschau, wenige Stunden vor dem Mauerfall in Berlin, „gerade in der jetzigen Situation (...) wolle er die Dinge mit Polen ins reine bringen, er wolle Ergebnisse wegen der bilateralen Beziehungen, aber auch wegen der Entwicklung in der DDR erreichen. Es wäre grundfalsch, der DDR jetzt Priorität einzuräumen und zu behaupten, Polen sei kein Thema mehr. Denn die Entwicklung sei kein deutsches, sondern ein europäisches Problem." 6 Es entspricht wohl nicht nur Kohls politisch-historischer Grundorientierung, sondern seinem Naturell schlechthin, daß die hier skizzierten Linien in einem größeren Ganzen zusammengeführt werden können. Schon „seine" drei für die Bundeshauptstadt Berlin vorgesehenen Objekte fügen sich durchaus zusammen: das von ihm schließlich mitgetragene HolocaustDenkmal in der Stadtmitte als Ausdruck rückhaltloser Anerkennung der deutschen Schuld am Menschheitsverbrechen der Shoah - eine Anerkennung, ohne die in Zukunft eine würdige nationale Existenz der Deutschen nicht möglich sei; die rekonstruierte Neue Wache Unter den Linden als integrierendes Symbol für alle Leiden und Opfer, die mit beiden Weltkriegen und den Qualen des Totalitarismus verbunden sind, schließlich das Museum für deutsche Geschichte, nach der Wiedervereinigung Realität geworden durch Neuaneignung des alten DDR-Museums im Zeughaus gleichfalls Unter den Linden - Ort einer durch Eingeständnis von Krisen und Verbrechen möglich gewordenen positiven nationalen Selbstdarstellung, die, wenn ich es recht sehe, politische und Sozialgeschichte zusammenzufügen sucht. Diese „Geschichtstrias" im nationalen Kontext soll in einer Balance stehen mit Kohls europäischen Orientierungen, wobei die verschiedenen Linien geradezu idealtypisch auf der pfälzischen Revolutionsikone Hambacher Schloß zusammenlaufen: durch die große Volksversammlung von 1832 ein demokratisch-nationaler Befreiungsakt im vertrauten heimatlichen Rahmen, hier möglich durch die Einflüsse der firanzösi6

Gespräch Kohls mit Lech Walçsa am 09.11.1989 in Warschau, Protokoll in: Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, Dokumente zur Deutschlandpolitik, bearb. von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann, München 1998, hier S.495; für die wilhelminisch-nationale Inanspruchnahme mittelalterlicher Geschichte vgl. entsprechend die baulichen Maßnahmen Kaiser Wilhelms II., etwa die Hochkönigsburg im Elsaß, oder auch die Rede von Reichskanzler Fürst Bülow am 18.10.1908 anläßlich der Aufstellung der Büste Bismarcks in der Walhalla, Fürst Bülow: Denkwürdigkeiten, Bd. II, Berlin 1930, S. 347 ff.

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sehen Revolution im linksrheinischen Deutschland und unter Einbindung polnischer Befreiungskämpfer, die vor der russischen Despotie hatten fliehen müssen. Gegen dieses Vexierbild an historischen Orientierungen hat die intellektuelle Szene in Westdeutschland bekanntlich vor allem zweierlei Einwände vorgebracht: Auf der Ebene konkreter Aussagen und Geschehnisse hat sie sich gerne und mit hohem rhetorischem Aufwand am Wort von der „Gnade der späten Geburt" wie am Bitburg-Besuch mit Präsident Reagen vom 5. Mai 1985 gerieben. Daß Kohls oft wenig alerte Art dem entgegenkam, ist unbestritten. Grundsätzlicher war der im Zusammenhang mit dem sogenannten HistorikerStreit in den 80er Jahren erhobene Vorwurf, durch seine historischen Schwerpunktsetzungen suche Kohl ein politisch instrumentalisiertes Geschichtsbild vorzugeben7. Ohne daß dies hier weiter vertieft werden soll, ist auf die Inkonsistenz der damals erhobenen Vorwürfe kurz einzugehen. Einerseits hieß es, Kohl wolle fast in „schwarz-weiß-roter" Manier an das Bismarck-Reich und seine unabhängige Großmachtposition zwischen den europäischen Flügelmächten anknüpfen und somit die europäisierte politische Kultur der Bundesrepublik suspendieren, von einer damit verbundenen angeblichen Bagatellisierung des Nationalsozialismus ganz abgesehen.8 Vorgehalten wurde dem Bundeskanzler aber zugleich auch, daß er durch eine übertriebene Westorientierung, vor allem an den USA, eine echte Demokratisierung der Bundesrepublik im Sinne eines „progressiven" bzw. neomarxistischen Gesellschaftsbildes verhindere. Die hier gezeigten Widersprüchlichkeiten geben vor allem Auskunft über Widersprüchlichkeiten im damaligen linken Diskussionsfeld der Republik. Für die hier weiter zu verfolgende Fragestellung kommt es hingegen darauf an, der Frage nachzugehen, was Kohls politisch-historische Orientierungen für die jeweilige operative Deutschland- und Europapolitik in den gegebenen Lagen bedeutete. Die Auseinandersetzung damit setzt aber auch voraus, daß man sich über seine Rolle und seinen Aktionsradius in der „Kanzlerdemokratie" Klarheit verschafft. 7

Vgl. den Artikel „Geschichtsbewußtsein" in: Handbuch zur deutschen Einheit, hg. v. Werner Weidenfeld und Karl-Rudolf Körte, Neuausg. 1996, S.342; vgl. grundsätzlich jetzt auch Edgar Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990, Darmstadt 1999, insbesondere S. 303 ff. mit der These einer begrenzten konservativen Rückwende Kohls gegenüber der sozialliberalen Phase zuvor. Diese These wird vor allem an einer Revitalisierung des 17. Juni festgemacht. Hier liegt allerdings eine in der Darstellung insgesamt wohl überzogene Einschätzung des westdeutschen Erinnerns am 17. Juni in den fünfziger und frühen sechziger Jahren zugrunde, die fast das Bild einer damals schwarz-weiß-roten Republik zeichnet, geprägt von den nationalen Flügeln in FDP und SPD. Die Relativierung des Nationalstaates auch schon in diesen Anfängen paßt nicht in das hier vorgegebene Prokrustesbett. 8 Kohls mehrfache Besuche bei Emst Jünger in diesen Jahren waren natürlich schon optisch geradezu dazu angetan, solchen Vorwürfen Vorschub zu leisten, auch wenn Emst Jünger selbst sich mittlerweile längst, gerade durch seine intensive Beziehung zu Frankreich, gewissermaßen europäisiert hatte; das Signum des militaristisch-chauvinistisch Autoritären aus der Zeit der Weimarer Republik blieb aber natürlich vielfach in der Wahrnehmung Jüngers erhalten.

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„Im Anfang war Adenauer - so läßt sich der Beginn der Bundesrepublik kurz kennzeichnen."9 Hinreichend bekannt ist dieser lakonisch-plastische Auftakt Arnulf Barings in seiner Einführung zur „Kanzlerdemokratie". Potenzierter Gestaltungsanspruch und potenzierte Gestaltungsmacht an der Spitze der Exekutive sollen so zum Ausdruck gebracht werden. Im Blick vieler Bewertungen ist irgendwann auf den verschlungenen weiteren Wegen bundesdeutscher Geschichte diese Form von „leadership" verloren gegangen. Heinrich Oberreuter beschreibt das Führungsmanagement der letzten abgeschlossenen Kanzlerschaft so: „In der langen Amtszeit Kohls entstand ein neuer Typ der Koalitionsdemokratie mit einer deutlichen Akzentuierung von Moderation und Koordination - alles andere als kraftvolle Führung im Regierungsalltag. Darin ist eine Folge des gewachsenen Terraingewinns des parteiendemokratischen Prinzips zu sehen: Der Mann an der Spitze integriert Strömungen, er polarisiert nicht. Seine Richtlinienkompetenz endet an der Folgebereitschaft der eigenen Basis und nicht zuletzt an den Positionen und Interessen des Koalitionspartners." 10 Für die materiellen Ergebnisse des Kohlschen Regierungsmanagements über 16 Jahre stehen Bilanzen wie die kürzlich von Göttrik Wewer vorgelegte, die empirische Daten aus einer Vielzahl von sozioökonomisch bedeutungsvollen Sektoren untersuchen, es aber vermeiden oder versäumen, sie in ein wirklich vergleichendes Muster und in einen angemessenen Deutungsrahmen einzufügen. Beispielhaft für derlei, gewissermaßen immanent kritische Bewertungen sei hier auf den Beitrag von Roland Sturm über die an sich gewiß nicht zu Unrecht so vielfach gescholtene Kohlsche Finanz- und Verschuldenspolitik verwiesen.11 Sturm analysiert das expansive, im Ergebnis die finanzielle und damit politische Manövrierfähigkeit der öffentlichen Hand beeinträchtigende Anwachsen der Staatsverschuldung vor allem ab 1990. Was hier fehlt, ist eine wirklich politische Rückbindung dieser Entwicklung, nämlich ihre Bewertung in einem aussagekräftigen Bezugsrahmen, der folgende Faktoren berücksichtigen müßte: - die Wirtschafts- und Finanzpolitik in vergleichbaren, vor allem kontinental-europäischen Wohlfahrtsdemokratien, - die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Vorgängerregierung und - im spezifischen deutschen Falle die Veränderung der Staatsaufgaben durch die deutsche Wiedervereinigung 1989/90.

9 Amulf Baring: Außenpolitik in Adenauers Kanzlerdemokratie, TB-Ausg., Bd.I, München 1971, S.17. 10 Heinrich Oberreuter: Weichenstellungen - Ideen und Intentionen der Neuschöpfung im Spiegel der Republik von heute, Beitrag zu: Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, hg. von ders. und Peter März, München 1999, S. 11-22, hier S. 19. 11 Roland Sturm: Die Wende im Stolperschritt - Eine finanzpolitische Bilanz, in: Göttrik Wewer (Hg.): Bilanz der Ära Kohl. Christlich-Liberale Politik in Deutschland 1982-1998, S. 183-200.

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Auch wenn der letztere Faktor in Rechnung gestellt wird , erfolgt doch keine wirklich politische Bilanzierung, die die Bedeutung des Faktors Wiedervereinigung auch für die deutsche Finanzgeschichte angemessen berücksichtigt. Einer derartigen Bilanzierung kommt man hingegen schon näher, wenn man die Kreditaufnahme der öffentlichen Hand in der Ära Kohl mit der in der Zeit seines Vorgängers vergleicht. Die Kennziffer jährliche Nettoneuverschuldung in Relation zum Bruttoinlandsprodukt weist für die letzten Jahre der Kanzlerschaft Helmut Schmidts ein rapides Wachstum auf schließlich über 4% bis 1982 aus - damit wurde, naturgemäß fiktiv, das damals noch nicht geltende, heute allgemein geläufige ,Maastricht-Kriterium4 für den Beitritt zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion von 3 % in dieser Phase deutlich überschritten. Unter der Kanzlerschaft Helmut Kohls gelang dann eine Halbierung dieses Wertes auf 1990: 2,1 %. Die Negativrekorde in der Zeit Helmut Schmidts wurden nach erfolgter Wiedervereinigung mit ihren spezifischen Belastungen nur noch einmal, 1996, erreicht und in den Folgejahren dann wieder deutlich unterschritten. 13 Gewiß, eine „Austerity-Politik" nach dem Vorbild der angelsächsischen Staaten, insbesondere des Großbritanniens Margaret Thatchers, hätte womöglich bessere und eindeutigere Resultate erzielt, dabei aber jedenfalls die in der bundesdeutschen Konsens- und Korporatismus-Demokratie unabdingbare politische Integration verfehlt. Als Kennzeichen der deutschen Kanzlerdemokratie im Anschluß an die klassischen Prägungen durch Konrad Adenauer nennt Karlheinz Niclauß die folgenden Merkmale: - Dominanz des Kanzlerprinzips über Ressortprinzip und Kabinettsprinzip, - Kanzlerbonus im Regierungslager und beim Gros der Wähler, - Personalisierung der Auseinandersetzung zwischen Amtsinhaber und oppositionellem Kanzlerkandidaten, - enge Verbindung zwischen Amt des Kanzlers und Führung der größten Regierungspartei, - Definition von regierungstragendem und regierungsbekämpfendem Lager, - Profilierung durch die Außenpolitik14

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Sturm: Die Wende, a.a.O. S. 187. Vgl. Teil Öffentliche Finanzen- und Notenbank von Wolfgang Kitterer, in: 50 Jahre Deutsche Mark. Notenbank und Wahrung in Deutschland seit 1948, hg. v. der Deutschen Bundesbank, München 1998, hier S.242; femer Gerhard Stoltenberg: Wendepunkte. Stationen deutscher Geschichte 1947-1990, Berlin 1999, S.240ff. Vgl. FAZ 15.09.1999, S. 19: „Der lange Marsch der Finanzminister in den Schuldturm." Danach erreichte die Nettokreditaufnahme allein des Bundes in Relation zum Bruttoinlandsprodukt 1975 - also zum Beginn der Kanzlerschaft Helmut Schmidts - mit 3 % ihren absoluten Höhepunkt, 1982 lag sie bei 2,4%, 1989 bei 0,9%, 1998 bei 1,5%. 14 Karlheinz Niclauß: Kanzlerdemokratie. Bonner Regierungspraxis von Adenauer bis Kohl, Stuttgart 1988, S. 67ff.; femer Göttrik Wewer: Regieren in Bund und Ländern 13

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Legt man nun diese Kriterien zugrunde, dann wird man schwerlich dahin aigumentieren können, Kohl sei insofern ein schwacher Kanzler gewesen, als er den Ansprüchen an eine wirkungsvolle Kanzlerdemokratie nicht mehr genügt hätte. Man kann wohl allerdings im Anschluß an die oben zitierten Überlegungen von Heinrich Oberreuter konstatieren, daß er innerhalb des die Kanzlerdemokratie bezeichnenden Feldes Schwerpunkte verlagert und dem Moment des Parteichefs zusätzliches Gewicht gegeben hat. Ferner hat zweifellos die Vetomacht des Koalitionspartners das Kanzlerprinzip oft nachhaltig in Frage gestellt. Ein historischer Längsschnitt führt zugleich aber unschwer zu dem Resultat, daß die Bundesrepublik durchaus schwächere bzw. jeweils in bestimmter Weise von anderen Kraftfeldern in hohem Maße abhängige Kanzler gehabt hat. Das galt im übrigen zeitweise auch für Konrad Adenauer und dies nicht nur nach der Peripetie der Krise um seine Kandidatur als Bundespräsident 1959: Bekannt ist, wie schwer sich Adenauer gerade nach dem triumphalen Wahlsieg von 1957 (absolute Mehrheit der Union) tat, aus den verschiedenen Lagern im Unionsspektrum eine konsensfähige Regierungsmannschaft zu rekrutieren. Erhard war als Parteimann denkbar schwach - geradezu das idealtypische Gegenbild zu Adenauer und auch Kohl - und wohl am wenigsten zu einer Führung aus dem Kanzleramt in der Lage. Kiesinger war in hohem Maße vom Zusammenspiel der Fraktionsvorsitzenden Barzel (CDU/CSU) und Schmidt (SPD) abhängig und zudem der Kanzler, in dessen Regierungszeit sich das korporatistische Modell der „Konzertierten Aktion" etablierte. Brandt war offenkundig das bürokratische Administrieren zuwider, und Schmidt, der gerade dies so gern zelebrierte - „Leitender Angestellter der Republik" - machte sich in besonderem Maße von den Gewerkschaften abhängig. 15 Zugleich war Schmidt als „Parteimann" relativ schwach, in steter Auseinandersetzung mit dem linken SPD-Flügel. Auffallend ist zudem, daß eine knappe, vergleichende Skizze der bislang abgeschlossenen sechs Kanzlerschaften in der Geschichte der Bundesrepublik ein weiteres bemerkenswertes Resultat zeitigt: Zwei (1948-1998) in: 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Rahmenbedingungen - Entwicklungen - Perspektiven, PVS Sonderheft 30/1999, S. 496-519. Auffällig ist, wie sehr in diesem, für die einschlägige Zunft gewiß als repräsentativ anzusehenden Sammelband Führungspolitik als Element in den Hintergrund tritt. 15 Zu Adenauer hier nur aus der Fülle der Literatur Schwarz: Adenauer. Der Staatsmann a. a. O., S. 329ff.; zu Erhard, bekanntlich unnötig zynisch, Volker Hentschel: Ludwig Erhard, München u. Landsberg/Lech 1996, S. 435 ff.; ferner in der Authenzität sehr beeindruckend Horst Osterheld: Außenpolitik unter Bundeskanzler Ludwig Erhard 1963-66. Ein dokumentarischer Bericht aus dem Kanzleramt, Düsseldorf 1992; z.Z. Kiesingers Manfred Görtemaker: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S.437 ff; zum Regieren bei Brandt Horst Ehmke: Von der Großen Koalition zur Deutschen Einheit, Berlin 1994, S. 101 ff. Hier auch Bemerkungen zum Regieren unter Helmut Schmidt, naturgemäß aus größerer Distanz. Ferner Arnulf Baring: Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, Stuttgart 1982; zu Helmut Schmidt Wolfgang Jäger u. Werner Link: Republik im Wandel 1974-1982. Die Ära Schmidt, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Bd.5/II, Stuttgart 1987, ferner Helmut Schmidt: Weggefährten und Reflexionen, Berlin 1996.

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dieser Kanzler - Erhard und Schmidt - waren bzw. galten als ausgesprochene Wirtschaftsexperten - in welchem Maße in beiden Fällen hier Imagepflege eine besondere Rolle spielte, bleibt dabei ausgeklammert. Gerade diese beiden Kanzlerschaften scheiterten aber vor allem an der Verschlechterung ökonomischer und fiskalischer Rahmendaten, insbesondere an 1966 bzw. 1982 anwachsenden Staatsdefiziten in einem als nicht mehr akzeptabel geltenden Maß. (Die die Kanzlerschaft Helmut Schmidts am Ende belastende Mittelstreckenraketenfrage - NATO-Doppelbeschluß - in der eigenen Partei kommt dabei hinzu.) Der Befund, der sich daraus ergibt, ist offenkundig folgender: Zu ökonomischem und fiskalischem Gelingen ist augenscheinlich nicht so sehr persönliche Kompetenz beim Amtsinhaber die zentrale Voraussetzung, sondern dessen Fähigkeit zu einem erfolgreichen, divergierende Positionen integrierenden Management, wobei naturgemäß zugleich optimale Resultate nicht möglich sind. Im Fall der Bundesrepublik spielt hier die föderale Komponente ihres Staatsaufbaus eine weitere, wesentliche Rolle. Die über den Bundesrat hier gegebenen Vetomöglichkeiten haben Kohls Kanzlerschaft - das müßte vergleichend noch weiter untersucht werden - jedenfalls zweimal wirkungsvoll getroffen: Mit der Niederlage der Regierung Albrecht bei der Landtagswahl in Niedersachsen vom 13. Mai 1990 verlor die CDU/CSU und FDP-Koalition im Bund die Mehrheit im Bundesrat und mußte von nun an die Opposition stärker, als dies Kohl lieb war, an den innerdeutschen Wiedervereinigungsverträgen - über die Wahrungs-, Wirtschafts- und Sozialunion wie über die Vereinigung als staatsrechtlichen Vorgang - beteiligen. Es kam am Ende zu der Kuriosität, daß im Bundesrat am 22. Juni 1990 die SPD-Länder für den Vertrag über die innerdeutsche Wahrungsunion stimmten, allerdings mit Ausnahme des Saarlandes und Niedersachsen, an deren Spitze die damaligen Brandt-Enkel und Hoffnungsträger Lafontaine (zudem Kanzlerkandidat) und Schröder standen.16 Die zweite zentrale Beeinträchtigung von Regierungsfähigkeit durch organisierte Gegenmacht im Bundesrat ergab sich mit der Blockierung der Steuerreform, die die Regierung Kohl seit Mitte der 90er Jahre betrieb und die zu ihrem großen Erfolgsnachweis für die Bundestagswahl 1998 werden sollte. Die hier vom SPD-Vorsitzenden Lafontaine erfolgreich betriebene Blokkade schuf entscheidende Voraussetzungen für den Oppositionswahlsieg, der die 16 Jahre der Kanzlerschaft Helmut Kohls beendete. Will man die Essenz Kohlscher Politikgestaltung wirklich herausarbeiten, dann muß man die zentralen Wirkungsfaktoren heranziehen und deren vom Kanzler dirigiertes Zusammenspiel analysieren. Jürgen Gros hat dazu kürzlich das Machtdreieck Partei, Fraktion und Regierung untersucht. Damit sind die für die engere Regierungstätigkeit entscheidenden Größen benannt. Tut man das unvoreingenommen, dann erscheint die Gewichtsverlagerung auf den Kanzler als Parteichef auch nicht mehr so pejorativ wie in manchen Darstellungen. Um ein Gesamtbild des Politik16

Vgl. Peter März: Aspekte der Deutschen Wiedervereinigung, in: Vom Wiener Kongreß bis zur Wiedervereinigung Deutschlands. Betrachtungen zu Deutschland und Österreich im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Hubert Rumpel, München, 1997, S. 272 ff.

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Prozesses in dieser Kanzlerschaft zu gewinnen, sollten im übrigen noch mindestens vier weitere Größen hinzugenommen werden: Koalitionspartner, Ministerpräsidenten und Bundesrat - auf die hier liegenden Probleme wurde bereits hingewiesen - , Europäische Gemeinschaft bzw. Union mit den jeweils nahestehenden Staatsoberhäuptern bzw. Regierungschefs wie Mitterrand in Frankreich und Gonzälez in Spanien und Medien. Zu letzteren: Die ersten Untersuchungen zum Ende der Kohlschen Kanzlerschaft haben ja bereits deutlich gemacht, in welchem Maß die Stilisierung Gerhard Schröders zur kommunikativen Lichtgestalt am Ende das System Kohl zum Relikt einer überholten Zeit werden ließ.17 Gros schreibt über Kohls Machtpotential: „Durch die Personalunion von Bundeskanzler und CDU-Bundesvorsitzendem verfügte Helmut Kohl über zwei zentrale Ämter im Akteurs-Dreieck, die zum einen eine Austarierung der Binnenstruktur des Machtdreiecks und zum anderen die Koordination des Machtdreiecks mit anderen Akteursgruppen im Führungszentrum des Regierungssystems ermöglichten. Hinzu kam Kohls Einfluß auf die UnionsFraktion, der nicht nur aus seinem Abgeordneten-Mandat und seiner Stellung als Bundeskanzler, sondern insbesondere aus seiner Zeit als Oppositionsführer und ehemaliger Fraktionsvorsitzender resultierte (...). Ein wesentlicher Faktor war dabei seine diskrete, aber stets vorhandene Einflußnahme auf die Besetzung von Ämtern in der Fraktionsführung und sein in der Fraktion aufgebautes Informationsnetz." 18 Die Offenlegung von Politikabläufen im Zusammenhang mit dem „Spendenskandal" ab Ende 1999 hat dabei besonders nachhaltig die Rolle teilweise geradezu lehensähnlicher Verknüpfungen im inneren Gefüge der CDU deutlich gemacht - eine Erkenntnis, die in Grundzügen freilich bereits zuvor bekannt war. (Zugleich ist freilich davon auszugehen, daß keineswegs alle Funktionsträger und Verbände der Partei davon in gleicher Weise absorbiert waren.) Versucht man die hier in der Machtposition Helmut Kohls zusammenlaufenden Linien sehr knapp zu systematisieren, dann ergibt sich offenkundig etwa folgendes Bild: Die Zentrale war das Bundeskanzleramt, dessen Arbeit enorm an Effektivität gewann, nachdem hier Wolfgang Schäuble, auf den Kohl sich voll verlassen konnte, 1984 als Chef im Rang eines Bundesministers eingezogen war. Aus dieser Zentrale wurde zum einen die Bundestagsfraktion geführt, wobei entscheidende Transmissionsriemen die Parlamentarischen Geschäftsführer waren, die allesamt hoffen konnten, nach Bewährung in dieser Funktion in die Regierung aufzusteigen. Nach Schäuble gelang dies Rudolf Seiters und zuletzt Friedrich Bohl als Chefs des Bundeskanzleramts. Hinzu kam die nicht unbegründete Erwartung vieler Abgeordneter, bei einem konfliktfreien, im Sinne des ersten Mannes konstruktiven Verhalten in den Rang eines Parlamentari17

Vgl. Jürgen Gros: Politikgestaltung im Machtdreieck Partei, Fraktion, Regierung. Zum Verhältnis von CDU-Parteiführungsgremien, Unionsfraktion und Bundesregierung 1982-1989 an den Beispielen der Finanz-, Deutschland- und Umweltpolitik, Berlin 1998; zur Medien- und Wahlkampflage 1998: Elisabeth Noelle-Neumann, Hans Mathias Kepplinger, Wolfgang Donsbach (Hg.): Kampa. Meinungsklima und Medienwirkung im Bundestagswahlkampf 1998, München, 1999. 18 Gros: Politikgestaltung a.a.O., S.400.

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sehen Staatssekretärs aufzusteigen. Der zweite Strang führte in die Pärtei bis auf die Ebene der Kreisvorsitzenden, mit denen Kohl nicht selten unmittelbar kommunizierte, so daß er sich hier Verbündete gegebenenfalls auch gegen Landesvorsitzende in der CDU aufbauen konnte. Auch dabei konnten Vertraute aus der Bundestagsfraktion Hilfestellung leisten. Mit dieser Machtsicherung in der Partei ging zugleich deren Auszehrung als autonomer intellektueller Beweger in der Bundespolitik einher - eine Entwicklung, die häufig mit dem Auszug von Persönlichkeiten wie Kurt Biedenkopf, Heiner Geißler, Wulf Schönbohn, Ulf Fink u. a. aus dem obersten Parteimanagement assoziiert wird. Oft wird im Zusammenhang damit ein Verlust an Politikfähigkeit der CDU von Kohls verheißungsvollen Anfängen als Parteivorsitzender 1973 über den Gewinn des Kanzleramtes bis zum Ausscheiden Heiner Geißlers aus dem Amt des Generalsekretärs 1989 (s.u.) diagnostiziert. Hier sollte freilich relativiert werden: Einmal wird man schlechthin nicht erwarten können, daß eine Regierungspartei ähnlich eher akademische Politikangebote machen kann wie eine Oppositionspartei, die sich vor allem um ein intellektuell spannendes alternatives Profil zum Regierungsalltag bemühen muß. Zum anderen mußte Kohl als Zentralfigur naturmäß darum bemüht sein, eine auch für das national-konservative Publikum akzeptable Linie zu fahren, was mit einem Übergewicht „progressiver" Kräfte im Parteimanagement auf Dauer nur schwer vereinbar war. 19 Im Hinblick auf die Deutschlandpolitik führt Gros Kohls Stil, Politik zu machen, an den bekannten Auseinandersetzungen im Vorfeld des Wiesbadener CDU-Parteitages 1988 vor. In der ersten Fassung des einschlägigen Entschließungsantrages war die deutsche Frage in eine sehr eindeutige Verbindung mit europäischen Perspektiven gebracht worden; von nationalstaatlicher Wiedervereinigung war explizit nicht 19 Mit eindeutiger Parteinahme für das in den 80er Jahren allmählich ausscheidende progressive Parteimanagement Pflüger: Ehrenwort a. a.O.; vgl. auch die Beiträge in: Darstellungspolitik oder Entscheidungspolitik? Über den Wandel von Politikstilen in westlichen Demokratien, hg. von Karl-Rudolf Körte u. Gerhard Hirscher, München 2000. Den Prozeß der Zuordnung der Gesamtpartei auf Helmut Kohl beschreibt Franz Walter: Abschied vom Bürgertum. Wie die CDU wehnerisierte, warum Björn Engholm ihr Vorbild ist und „Angie" Kontinuität bedeutet, in: FAZ, 08.04.2000, S. 11 : „Die CDU unter Kohl wurde ,wehnerisiert'. Denn exakt so, nach dem Muster der Apparatherrschaft, gestützt auf einige Hundertschaften bedingungslos folgsamer Sekretäre, hatte Herbert Wehner die SPD in den sechziger Jahren mit harter Hand kommandiert. Wehnersche Organisationspolitik und Adenauersche Anthropologie, versüßt mit dem Sahnehäubchen kumpelhaften Menscheins - das war das .System Kohl·". Gewiß wird hier das Bild einer Mediatisierung, die es so absolut nicht gab, überzogen. Dazu blieb die CDU denn doch in ihren landsmannschaftlichen, konfessionellen, sozialen, liberalen und konservativen Elementen zu heterogen. Auch das Regieren in den Ländern und in großen Kommunen, mit den sich dabei herausbildenden jeweils eigenen Interessenlagen und Bündnissen, verhindert im System der Bundesrepublik grundsätzlich eine stromlinienförmige Homogenisierung. Gleichwohl: Der Aufbau eines Gefüges von Abhängigkeiten ist ganz unbestreitbar. Zu fragen ist freilich stets auch, in welchem Maß dies für effektives Regieren notwendig ist und wo die Grenzen des Legitimen und Sinnvollen liegen, da ein Übermaß an Homogenität eben auch notwendige Neuorientierungen verhindert, wie sich wohl gerade in der Spätphase der Ära Kohl zeigte.

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mehr die Rede, und sie schien auch konzeptionell ganz in den Hintergrund zu treten. Diese Überlegungen korrespondierten augenscheinlich mit den Ausführungen der Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen Dorothee Wilms vom 25. Januar 1988 in Paris, die den Nationalstaat in seiner Bedeutung relativierten und die Zustimmung der Nachbarn Deutschlands zur Überwindung einer Teilung hervorhoben. Wie Gros deutlich macht, standen hinter der sich in diesen Texten abzeichnenden Europäisierung der deutschen Frage im Unionsspektrum zahlreiche Köpfe von Gewicht.20 Die hier formulierte Position provozierte nun aber sehr bald und für ihre Protagonisten wohl überraschend Widerstand von drei Seiten: aus der CDU/CSUFraktion unter ihrem Vorsitzenden Alfred Dregger, wobei insbesondere die CDUSozialausschüsse (mit ihrer „nationalen" Traditionslinie in Fortführung von Jakob Kaiser und Ernst Lemmer) an der nationalstaatlichen Wiedervereinigung Deutschlands festhielten, aus der bayerischen CSU, die es immer verstanden hatte, das Festhalten an rechtlichen nationalstaatlichen Pfändern mit einer dezidierten Befürwortung der europäischen Integration zu vereinbaren, und aus der Publizistik, namentlich der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und hier der Feder Karl Feldmeyers. Als der Bundeskanzler das dieser informellen Koalition innewohnende Gewicht wahrnahm und abschätzen konnte, nahm er einen Kurswechsel vor und setzte Neuformulierungen durch, die, u. a. unter Rückgriff auf Formulierungen Konrad Adenauers, Wiedervereinigung und Gesamtdeutschland als Zielvorstellungen wieder explizit machten. Kennzeichend für sein Politikmanagement war auch, daß die Beruhigung der so hoch gegangenen Wogen Meinungsverschiedenheiten in dieser Frage auf dem Parteitag selbst gar nicht mehr aufkommen ließ.21 Für die hier zu untersuchende Fragestellung ergeben sich aus diesem Geschehnisablauf für das Politikmuster Kohl mehrere Schlußfolgerungen: Zum ersten die Orientierung an der politischen Vermittelbarkeit und Durchsetzbarkeit von Positionen, weniger an ihrer abstrakten inhaltlichen Stringenz; zum zweiten die Bereitschaft zur Kurskorrektur, wenn die Kräftefelder dies nahelegen, und zum dritten die Tatsache, daß eben auch ein Thema wie die Deutschlandpolitik in seiner Behandlung solchen Handlungsweisen unterlag. Wer von Kanzlerdemokratie bzw. Kanzlerschaft unter den skizzierten Bedingungen mehr verlangte bzw. verlangt, orientiert sich wahrscheinlich an einem Trugbild, das von bundesdeutschen Möglichkeiten weit entfernt liegt. 22 20 Zur Kommission Außen-, Sicherheits-, Europa- und Deutschlandpolitik der CDU, die für den Entschließungsantrag verantwortlich zeichnete, unter der Leitung von Heiner Geißler gehörten u. a. aus der politischen Führung Wolfgang Schäuble, Waither Leisler-Kiep, Karl Lamers, aus dem Bereich der Wissenschaft Christian Hacke, Hans-Peter Schwarz und Werner Weidenfeld, aus dem unmittelbaren Umfeld des Kanzlers Horst Teltschik, Gros: Politikgestaltung a.a.O., S.274. 21 Vgl. auch neben Gros: Politikgestaltung a. a. Ο., Sören Roos: Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes in der deutschen Kritik zwischen 1982 und 1989, Berlin 1996, S. 171 ff. 22 Vgl. auch Karl-Rudolf Körte: Veränderte Entscheidungskultur: Politikstile der deutschen Bundeskanzler, in: Darstellungspolitik oder Entscheidungspolitik? a.a.O., S. 13- S.37, hier

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II. Deutschlandpolitische Orientierungen und Abstimmungen Die Deutschlandpolitik Helmut Kohls bis zum offenen Ausbruch der Finalitätskrise der DDR im Spätsommer 1989 ist in einer monumentalen Untersuchung von Karl-Rudolf Körte detailliert und stringent untersucht worden; diese Analyse soll hier nicht noch einmal nachvollzogen werden. In einer generalisierenden Rückschau für diese Phase geht es daher vielmehr nur um zwei zentrale Aspekte: Welche Kräftefelder wirkten auf die Kohlsche Deutschlandpolitik ein, und wie stark war der hier vollzogene Bruch gegenüber operativer Politik wie Grundsätzen der sozialliberalen Vorgängerregierung? 23 Im unmittelbaren Umfeld des Kanzlers - parteipolitische Kräftefelder wurden oben bereits am Beispiel der Auseinandersetzungen vor dem Wiesbadener Parteitag 1988 geschildert - waren nach Kortes Forschungen insbesondere drei Gruppen von Gewicht: Der Arbeitsstab Deutschlandpolitik im Bundeskanzleramt, der sich in hohem Maße der Kontinuität zur Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalitionen verpflichtet sah, diplomatische Sprachregelungen und Vorgehensweisen bevorzugte und das proklamierende und emotionalisierende Element möglichst zu vermeiden versuchte; zumindest zeitweise Einfluß vor allem auf die Formulierungen der Berichte zur Lage der Nation - im geteilten Deutschland, wie es nun wieder hieß - hatten Historiker und Politologen wie Werner Weidenfeld und Michael Stürmer. Hinzu kam der Redenschreiber- und „spin doctor"-Bereich, wie man damals noch nicht sagte, für den exemplarisch der Name Horst Teltschik steht. Die verschiedenen Einflüsse der beiden letzteren Gruppen hatten augenscheinlich vor allem zwei Konsequenzen, die sich zumindest auf den ersten Blick keinesfalls auf einen Nenner bringen lassen: Zum einen wurden in den schon genannten Berichten zur Lage der Nation im geteilten Deutschland wieder stärker klassische normative Essentials hervorgehoben, wie der Unrechtscharakter der DDR und das Einheitspostulat des Grundgesetzes, ohne daß dies die Fortsetzung einer pragmatischen do ut des-Politik beeinträchtigen sollte. Dabei sollte das Einheitspostulat freilich kein Selbstzweck sein, sondern auf die gemeinsame Umsetzung der Grundwerte Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung abzielen. In Verbindung damit wurde immer wieder aus dem Umfeld von Kohls wissenschaftlichen Beratern wohl testartig ventiliert, wie weit man bei der Europäisierung S. 16: „Das politische System der Bundesrepublik Deutschland kann als Mischform charakterisiert werden: eine Kombination von parlamentarischen Strukturen und Verhandlungssystemen. Mehrheitsdemokratische und konkordanzdemokratische Entscheidungsmodi haben nebeneinander ihre Gültigkeit. Konfliktregelungen und Problemlösungen erfolgen bei gegenseitiger Abhängigkeit der Betroffenen, was Verhandlungszwänge zur Folge hat. Die Ebenen Wettbewerb, Hierarchie, Verhandlung überlappen sich allerdings, woraus die Schlußfolgerung erwuchs, daß der sogenannte .verhandelnde Staat' durch einen deutlichen Verlust wieder .innerer Souveränität4 gekennzeichnet sei, aber dennoch effektiv das Entscheidungsmanagement betreiben kann." 23 Vgl. grundsätzlich Karl-Rudolf Körte: Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982-1989, Stuttgart 1998. 4*

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der deutschen Frage gehen könne: „Wozu hätte noch die Zwischenstufe eines deutschen Nationalstaates anvisiert werden sollen, wenn doch mittels der europäischen Einigung ,die Idee des demokratischen Verfassungsstaates auf einer neuen Ebene4 verwirklicht würde?" 24 Auch dann wären die Grundwerte ja auf deutschem Boden realisiert. Mit der Forcierung der europäischen Integration durch die Einheitliche Europäische Akte 1986/87 und die erkennbar werdenden Bemühungen um eine Europäische Wahrungsunion etwa vom gleichen Zeitpunkt an bekamen solche Aussagen zunehmendes Gewicht. Auch Wolfgang Schäuble hat zumindest in Frageform die Möglichkeit einer derartigen Europäisierung ins Auge gefaßt. Was Kohl persönlich anlangt, so prüfte er wohl im wesentlichen nur das Echo auf solche Überlegungen, nahm sich dann dabei zurück, wenn sie, wie im Zusammenhang mit dem Wiesbadener Parteitag 1988 geschildert, bei den gewissermaßen nationaleren Kräften im Unionsspektrum auf nachhaltigen Widerstand stießen. Jedenfalls, so viel wird man sagen können, hielt er sich bis 1988/Mitte 1989 die Option der verschiedenen, sich anbietenden Denkfiguren offen, wobei freilich für die Bonner Szenerie hinzuzufügen ist, daß man hier weitgehend ohnehin von einem sich noch lange hinziehenden Fortbestand des status quo ausging. Daß ohne nationalstaatliche Wiedervereinigung Grundwerte und Wohlfahrt für die Ostdeutschen eben doch nicht herzustellen wären, wurde damals zudem offenkundig wenig reflektiert. In der Rückschau ist es für diesen Zeitraum zu einer Kontroverse darüber gekommen, ob nun die Kohlsche Deutschlandpolitik bis 1989, verglichen mit der der Vorgänger, eher im Zeichen von Kontinuität oder Diskontinuität stehe. Die Positionen prallten wohl erstmals ausgiebig in der Enquête-Kommission der zwölften Wahlperiode des Deutschen Bundestages „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland"25 aufeinander. Heinrich Potthoff hat bekanntlich in einer Reihe von Veröffentlichungen, zuletzt seine im Herbst 1999 erschienene Gesamtdarstellung „Im Schatten der Mauer. Deutschlandpolitik 1961-1990", im wesentlichen die Kontinuitätsthese vertreten. Kontinuität meint hier vor allem, Kohl 24 So Werner Weidenfeld: Europa begreifen, 1984, S. 182 zit. nach Roos, Das Wiedervereinigungsangebot a. a. O., S. 282f. Zur Rolle der Sprache für politische Wendungen, insb. im Blick auf die hervorgehobene Wertorientierung von Politik, Manuel Fröhlich: Sprache als Instrument politischer Führung. Helmut Kohls Berichte zur Lage der Nation im geteilten Deutschland, München 1997, insb. S.217. 25 Vgl. für die Diskontinuitätsthese und die Betonung des normativen Abstandes zwischen den beiden Staaten in Deutschland Wolfgang Jäger: Die Deutschlandpolitik der Bundesregierung der CDU/CSU-FDP-Koalition (Kohl, Genscher). Die Diskussion in der Öffentlichkeit 1982-1989, in: Enquête-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Bd. V, 2, Frankfurt/Main 1995, S. 1572-1611 ; S. 1597: „Obgleich man in der Union zu diesem Zeitpunkt gewiß nicht an eine Wiedervereinigung in absehbarer Zeit dachte, waren CDU und CSU programmatisch und praktisch-politisch für die überraschende Entwicklung der folgenden zwei Jahre bestens gerüstet. Die operative Wiedervereinigungspolitik der Union konnte praktisch und normativ an die vorausgegangene Deutschlandpolitik ohne korrigierende Einschnitte nahtlos anknüpfen." Im Gegensatz dazu Heinrich Potthoff, a. a. O., Bd. V, 3: Die Deutschlandpolitik der Bundesregierung der CDU/CSU-FDP-Koalition (Kohl, Genscher). Die Diskussion in Partei und in der Öffentlichkeit 1982-1989, S. 2065-2113.

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habe nicht nur inhaltlich die Linie von Willy Brandt und Helmut Schmidt weitgehend fortgesetzt, der DDR bzw. ihrer Führungs-Nomenklatura gegenüber eine dezidiert kooperative Politik betrieben; die Fülle der von Potthoff veröffentlichten Telefonmitschnitte und Protokolle zahlreicher Besprechungen soll auch deutlich machen, daß der Bundeskanzler gegenüber Erich Honecker und dann nach dessen Absetzung für kurze Zeit Egon Krenz einen unnötig geradezu kumpelhaften Ton angeschlagen habe. Die Frage, inwiefern mit solchen Interpretationen „Geschichtspolitik" betrieben wird, um die Öffnung der SPD-Führung, gerade nachdem sie 1982 in die Opposition geraten war, gegenüber der SED zu überspielen, soll hier nicht weiter vertieft werden. Zugleich kann es keinen Zweifel daran geben, daß Kohls Art der Politikgestaltung durch Bonhomie gegenüber Kollegen auf der politischen Führungsebene solchen Interpretationen durchaus Nahrung liefert. Sorgsame Textinterpretationen, die auch Kohls Persönlichkeitsbild berücksichtigen müßten, hätten jedenfalls präzise zwischen seiner um eine aufgeschlossene kommunikative Situation bemühten Freundschaftlichkeit mitsamt ihren kulinarischen Aspekten einerseits und eindeutigen Sprachregelungen, Interessen und Positionen andererseits zu differenzieren. 26 Entgegen Potthoff vertritt Körte, gerade im Blick auf den Honecker-Besuch vom September 1987 in der Bundesrepublik und die unmittelbare Folgezeit, die These von einer auch verbal wachsenden Distanz Kohls gegenüber der SEDFührung. 27 Kohl hat vor allem zwei deutschlandpolitische Schlüsseltexte während seiner Kanzlerschaft unmittelbar gestaltet, redigiert, ja verfaßt: Die Tischrede beim Honecker gegebenen Abendessen am 7. September 1987 in der Godesberger Redoute und den 10-Punkte-Plan vom 28. November 1989 zur weiteren Entwicklung in Deutschland nach der Öffnung der Mauer (s. u.). Wie Körte detailliert belegt, wünschte Kohl für die Tischrede von vornherein einen Text von historischer Tragweite, der die Perpetuierung der Zweistaatlichkeit auf unabsehbare Zeit in Frage stellte.28 Kohl erklärte unzweideutig: „Die Bundesregierung hält fest an der Einheit der Nation, und wir wollen, daß alle Deutschen in gemeinsamer Freiheit zueinander finden können."29 Zum demonstrativen Charakter der Kohl-Rede in Bad Godesberg paßt im übrigen auch, daß der Kanzler selbst die Liveübertragung durch das Fernsehen in beiden deutschen Staaten erfolgreich durchgesetzt hatte. 26 Vgl. Heinrich Potthoff: Die Koalition der Vernunft. Deutschlandpolitik in den 80er Jahren, München 1995; ders.: Bonn und Ostberlin 1969-1982. Dialog auf höchster Ebene und vertrauliche Kanäle. Darstellung und Dokumente, Bonn, 1997; ders.: Das deutsch-deutsche Verhältnis in den 70er und 80er Jahren, in: Peter März (Hg.): 40 Jahre Zweistaatlichkeit in Deutschland. Eine Bilanz, München 1999, S.215-239; ders.: Im Schatten der Mauer. Deutschlandpolitik 1961-1990, Berlin 1999. 27 Körte: Deutschlandpolitik a.a.O., S.324ff. 28 Körte: Deutschlandpolitik a. a. O., S. 351 ff. Danach wurden die ursprünglich vom Arbeitsstab Deutschlandpolitik wie Staatssekretär Bräutigam vorgesehenen, an Honecker gerichteten eher warmherzigen Passagen wie indifferente Aussagen hinsichtlich der Position beider Staaten zueinander zugunsten eindeutiger Festlegungen in der Kontinuität der Rechtspositionen der Bundesrepublik eliminiert. 29 Rede in Peter März (Hg.): Dokumente zu Deutschland, München 1996, S. 174-176, hier S. 174.

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Ein Textvergleich zeigt, daß sich der Vorsitzende der anderen Unionspartei, Bayerns Ministerpräsident Franz Josef Strauß, bei seiner Rede im Antiquarium der Münchner Residenz am 11. September 1987 mit noch unmißverständlicheren Worten an den Staatsratsvorsitzenden und SED-Generalsekretär wandte. Dabei wucherte er mit dem bayerischen Pfund der vom Freistaat erstrittenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag vom 31. Juli 1973 (u.a. mit dem Festhalten an der gemeinsamen deutschen Staatsangehörigkeit) und nannte ausdrücklich - in der deutsch-deutschen Kommunikation mit Honecker zweifellos eine Rarität - den Schießbefehl beim Namen: „Die Mauer in Berlin, ein fast vollkommenes Netz an Sperrmaßnahmen, ein Rechtssystem, das den illegalen Grenzübertritt als Verbrechen einstuft - mit der juristischen Folge des Schießbefehls - , (...) all das paßt nicht mehr in die neue Phase weltpolitischer Entwicklung, in die wir hoffentlich eingetreten sind." 30 Diese dezidierten Aussagen decken eine Seite in Strauß* damaliger Deutschlandpolitik ab, die natürlich auch im Zusammenhang mit seiner Rolle als Parteivorsitzender sowohl intern als auch extern gegenüber der CDU und deren Vorsitzendem gewertet werden muß. Dabei ergibt sich eine durchaus komplizierte Gesamtkonstellation: Einerseits war Strauß durch die Vermittlung des „Milliardenkredits" 1983 für die DDR ins deutschlandpolitische Spiel gebracht worden, wobei bekanntlich die Koordination mit Helmut Kohl über Philipp Jenninger, den damaligen Kanzleramtsminister, lief. 31 Der Vorwurf, der Milliardenkredit habe die DDR stabilisiert und ihre Existenz unnötig prolongiert, geht insofern in die Irre, als ein Kollaps der DDR Anfang der 80er Jahre, also in der Vor-Gorbatschow-Phase, zweifellos sehr viel gefährlichere Konsequenzen gehabt hätte, als dies 1989 der Fall war. Strauß gelangte so in die Position, Verbesserungen an der innerdeutschen Grenze - unter anderem den Abbau der Selbstschußautomaten - auf seinem Haben-Konto verbuchen zu können, auf die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Bundesrepublik und DDR stärkeren Einfluß zu nehmen und insgesamt in die Rolle eines deutsch-deutschen Promotors zu gelangen. In seiner eigenen Partei, der CSU, war dieser Kurs aber nicht unumstritten, wie unter anderem die Gründung der „Republikaner" als Ausfluß des Milliardenkredits beweist. Umso mehr war Strauß naturgemäß veranlaßt, zugleich die Kontinuität der klassischen, gerade von Bayern immer wieder betonten Rechtspositionen hervorzuheben und die unterschiedliche Dignität zwischen den beiden Staaten in Deutschland deutlich zu machen. Im übrigen hat er in der zitierten Tischrede auch die kooperativen Aspekte gegenüber Honecker ausführlich dargelegt. Insgesamt ist die Spagat-Position, in der er sich damals befand, mit der Kohls durchaus vergleichbar. Beide Reden eignen sich aber naturgemäß nur sehr begrenzt dafür, Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten gegenüber der Ära Schmidt zu markieren. Denn eine ver30 Manuskript der Rede von Ministerpräsident Franz Josef Strauß, S. 15, Bayerische Staatskanzlei. 31 Potthoff: Im Schatten a.a.O., S.216ff.; Franz Josef Strauß: Die Erinnerungen, Berlin 1989, S. 470 ff.

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gleichbare öffentlichkeitswirksame, über die Medien vermittelte Begegnung hat es zwischen Schmidt und Honecker ja nicht gegeben. Diskrepanzen lassen sich aber dann markieren, wenn man einmal Schmidts funktionale Betrachtungsweisen heranzieht. Ausgehend von einer technokratischen, unterschiedliche Wertigkeiten ausblendenden Sicht kam er zu den bekannt positiven Urteilen über den polnischen KPChef Edvard Gierek wie über Günter Mittag, den Verantwortlichen für die DDRWirtschaft in der Ära Honecker. Bei Kohl wäre solch fachliches, heute ja vollkommen kompromittiertes Lob über derart vermeintliche Experten wohl gänzlich undenkbar gewesen. Selbst Potthoff sieht hier offenkundig Anlaß zu einer kritischen Sicht.32 Vergleicht man nun den Meinungsaustausch zwischen Schmidt und Honekker am Werbellinsee im Dezember 1981 und zwischen Kohl und Honecker in Bonn im September 1987, dann findet man bei Kohl auch auf der Ebene des nicht öffentlich geführten Meinungsaustausches eine dezidierte Festlegung auf das Ziel der nationalen Einheit, mag diese auch eine spezifische Funktion am Beginn des Gespräches gehabt haben: „Die Bundesrepublik hält fest an der Einheit der Nation, und wir wollen, daß alle Deutschen in gemeinsamer Freiheit zueinander finden können. Diese Haltung hat im Grundlagenvertrag und im Brief zur deutschen Einheit ihren Niederschlag gefunden." Die Protokolle über die Besprechungen am Werbellinsee 1981 enthalten hingegen über die situativ gegebenen Gesprächsstoffe - Abrüstungsfragen im Zusammenhang mit der Mittelstreckenproblematik und der sowjetischen SS 20-Vorrüstung, wirtschaftliche Zusammenarbeit, Elbe-Grenze - keine grundlegenden Festlegungen in der nationalen Frage.33 Im Ergebnis wird man jedenfalls festhalten können, daß Schmidt und Kohl zwar beide business as usual gegenüber dem anderen deutschen Staat betrieben, den grundlegenden Orientierungen, in die diese Politik eingebettet war, jedoch erkennbar unterschiedliches Gewicht beimaßen. Die Rolle von Sprache als Modus zur Markierung grundlegender Positionen, auch wenn diese operativ einstweilen nicht genutzt werden konnten, spielte dabei für Kohl eine bedeutsame Rolle. I I I . Kohl und die Dramaturgie der Wiedervereinigung Die vom Bundeskanzler seit Oktober 1989 in der nationalen Frage gestaltete Politik war kein politisch altruistisches Unternehmen. Hierflössen innen-, daß heißt in hohem Maße parteipolitische, außenpolitische und ökonomische Kalküls in oft ganz verschiedenen Konfigurationen und Entscheidungssituationen zusammen. Was 32 Vgl. Helmut Schmidt: Die Deutschen und ihre Nachbarn, Berlin 1990, S.480ff.; S.481: (Gierek) „war der Typus des zuverlässigen, selbst- und machtbewußten, instinktsicheren und charismatischen Arbeiterführers und erinnerte mich an meine Freunde Geoig Leber und Walter Arendt..." (sie!); zu Günter Mittag Potthof: Bonn a.a.O., S.79: In der Wahrnehmung Schmidts „der kompetente und aufgeschlossene Mann..." 33 Gespräche Kohl - Honecker am 07. u. 08.09.1987, in: Potthoff: Die Koalition a. a. O., S. 582-606, Zitat S.582; Besprechung Schmidt - Honecker am 11.12.1981, in Potthoff: Bonn und a.a.O., S.652-671.

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Körte für die Jahre davor konstatiert, nämlich daß es jeweils um die optimale Position im machtpolitischen Kräfteparallelogramm gegangen sei, läßt sich unter veränderten Umständen auch für die 15 Monate vom September 1989 bis zur Bundestagswahl im Dezember 1990 zeigen. Diese Phase begann für Kohl nicht gut. Die Bundestagswahl 1990 warf ihre Schatten voraus. Die demoskopischen Werte waren schlecht. In der CDU drohte eine Rebellion; zum Nebenbuhler wurde auch mit publizistischer Flankenhilfe, wie vor allem des Spiegels, der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth aufgebaut. Kohl ließ schließlich verlauten, er wolle den CDU-Generalsekretär Heiner Geißler entlassen, offenkundig weil letzterer das konservative Stammwählerpotential der Union zu vergraulen schien und Kohls Sanktuarium bedrohte, die de facto-Führungsfunktion in der CDU (s. o.). Geißler aber und seine Mannschaft im Adenauer-Haus wehrten sich, und es schien zur Rebellion zu kommen. Die Putschisten hatten aber Kohls nach wie vor gegebene innerparteiliche Handlungsmöglichkeiten unterschätzt. Auf dem Bremer Parteitag Mitte September 1989 verlor Späth sogar seine Position im Präsidium der CDU, Kohl machte Volker Rühe zum neuen Generalsekretär der Partei, und Wolfgang Schäuble gewann zusätzliches innenpolitisches Gewicht. Damit zeichnete sich schon eine personelle Konstellation ab, die das Zentrum der CDU-Politik in der Wiedervereinigungsphase wie auch in den Jahren danach darstellen sollte.34 Schon im April 1989 hatte Kohl durch eine Regierungsumbildung seine Position gleichfalls wieder gestärkt: Wolfgang Schäuble wurde vom Kanzleramts- zum Innenminister. Seine Kronprinzenfunktion wurde bereits absehbar. Entscheidend war aber noch ein anderer Coup: Mit Theo Waigel zog der CSU-Vorsitzende ins Schlüsselressort Finanzministerium ein. Damit hatte die CSU gezeigt, daß sie weiter auf Kohl, nicht seine CDU-internen Widersacher, setzte. Kohls folgende innerparteiliche Befreiungsschläge (s. o.) nach der Regierungsumbildung fielen schon in die Phase, als Flüchtlingsströme in die bundesdeutschen Botschaften in Prag und Warschau und nach der sommerlichen Urlaubszeit nach Budapest mit einem Mal gesteigerte Aufmerksamkeit auf die offenkundige Krise in der DDR konzentrierten. Insofern paßte auch das innerparteiliche Timing: Kohl ging nach der erfolgreich bestandenen Auseinandersetzung mit seinen Widersachern gestärkt an die große, sich nun von Woche zu Woche deutlicher abzeichnende Koordinationsaufgabe. Dabei gilt es nun, verschiedene Gestaltungsebenen in den Blick zu nehmen: Neben dem klassischen deutsch-deutschen und dem internationalen Spielfeld einschließlich der spezifischen Rolle der EG und des Europäischen Rates stehen insbesondere Fragen, wie der Parteimann Kohl mit dem Partei-Ressourcen in der DDR umging, wie er ökonomische Fragen, insbesondere die nach der Währungsunion, politisch instrumentalisierte, wie er Koalitionspartner und in Personalunion Konkurrenten, fokussiert in der Gestalt Hans-Dietrich Genschers, in das 34

Die hier geschilderten Abläufe nach Dreher: Helmut Kohl a. a. O., S. 388 ff.

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Spielfeld einbezog und umgekehrt. Und zugleich gilt es, sich mit der Frage zu befassen, ob und in welchem Maße Mythenbildungen für politisches Handeln und den Aufbau politischer Konstellationen in Anspruch genommen wurden. Eine einschlägige Rolle, die ganz Kohls Neigung für das persönliche, anekdoten- und beziehungsreiche Zwiegespräch entspricht, spielte möglicherweise auch die grundlegende Aussprache zwischen ihm und Michail Gorbatschow bei dessen Besuch im Juni 1989, eine Aussprache, die gewissermaßen schon die Weichen zu einer Lösung der deutschen Frage gestellt habe. Kohl berichtet, er habe dabei mit der Metapher vom Rhein operiert, auf den beide blickten, der sich wohl stauen lasse, dessen Drängen zum Meer hin sich so aber nicht verhindern lasse. Ebenso werde es mit der Deutschen Einheit kommen.35 In der Gorbatschowschen Wahrnehmung hingegen wird diese Episode gar nicht geschildert, hingegen auf den herzlichen Empfang durch die westdeutsche Bevölkerung und auf freundschaftliche Gespräche auch mit der SPDFührung hin abgestellt. Der Fortbestand der DDR, wenn auch unter anderen, kooperativeren Rahmenbedingungen, erscheint bei Gorbatschow in dieser Phase noch als Selbstverständlichkeit.36 Kohl selbst hat die Intensität, mit der er die DDR-Nomenklatura seit Oktober 1989 offensiv unter Druck setzte, vor allem in zwei Stufen gesteigert. Honeckers Nachfolger Krenz und dann Ministerpräsident Modrow haben dies auch von vornherein so wahrgenommen. Zwischen zwei unvereinbaren Positionen wurde hier zwischen Oktober 1989 und Januar 1990 ein zentraler Konflikt ausgetragen. Stellte Kohl mehr oder weniger unverblümt durch die Forderung nach freien Wahlen und Marktwirtschaft die Existenz der SED-Diktatur und, zunächst implizite, den Fortbestand der DDR als Staat, in Frage, so boten die neuen Verantwortlichen an der DDR- bzw. SED- und später SED/PDS-Spitze wie zunächst Krenz, dann Modrow und Gysi eine Milderung der Teilung und eine gewissermaßen partielle Demokratisierung der DDR („Modell Vertragsgemeinschaft") an, für die sie als Gegenleistung die notwendige Alimentation zur Weiterführung des DDR-Sozialismus erwarteten. Daß Kohl darauf nicht einging, führte zu Frustrationen, die heute noch in der Memoirenliteratur, wie zuletzt bei Egon Krenz, fortwirken. In der Wahrnehmung des politischen Führungspersonals in Ostberlin gab es für derlei Frustration natürlich vielerlei Anlaß. Denn der Kanzler und seine wesentlichen Mitarbeiter - in erster Linie der damalige Kanzleramtsminister Seiters und Horst Teltschik - veränderten nun tatsächlich substantiell ihre Politik gegenüber der DDR. Zu diesem Zeitpunkt wurde das Arrangement des Grundlagenvertrages von 1972 auf staatlicher Ebene (Respektierung der jeweils anderen Seite in ihren Eigenzuständigkeiten) von west35 Vgl. Helmut Kohl: Ich wollte Deutschlands Einheit, dargest. v. Kai Diekmann und Ralf Georg Reuth, Berlin 1996, S.41; vgl. auch die gemeinsame Erklärung von Kohl und Gorbatschow v. 13.06.1989 mit der grundsätzlichen Festlegung beider auf das Selbstbestimmungsrecht, in: März: Dokumente a.a.O., S. 182-185. 36 Vgl. Michail Gorbatschow: Erinnerungen, Berlin 1995, S. 706ff. u. ders.: Wie es war, die deutsche Wiedervereinigung, Berlin 1999, S.78ff.

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deutscher Seite de facto gekündigt (Die DDR mit ihren Agenturen in Westdeutschland, beginnend bei der DKP, hatte sich ohnehin nie daran gehalten), die Schraube an Erwartungen bzw. Zumutungen gegenüber der DDR-Führung kontinuierlich angezogen. Sprach Kohl im Telefongespräch mit Egon Krenz vom 26. Oktober 1989 zunächst noch von Reisefreiheit und Amnestie, so machte Seiters am 20. November 1989 - elf Tage nach dem Fall der Mauer - gegenüber Krenz und Ministerpräsident Modrow wirtschaftliche Unterstützung der Bundesrepublik von „bestimmten Voraussetzungen" abhängig. Nachdem die Grenzen jetzt offen waren, fielen nun Stichworte wie „freie Wahlen, Zulassung von neuen Parteien und Wählergemeinschaften, Änderung der Verfassung". Damit wurde das zentrale Konstituens der DDR, die Herrschaft der SED, prinzipiell in Frage gestellt. In einer an der Verfassungsordnung der Bundesrepublik orientierten Betrachtung waren dies alles freilich keine illegitimen Zumutungen, sondern unter veränderten Umständen realistisch gewordene Erwartungen, durch die jedoch die alten Arrangements zwischen beiden deutschen Staaten überholt wurden. 37 Weil Kohl nun offenkundig das „window of opportunity" geöffnet sah, um zunächst den Diktatur-Charakter und dann - mit dem 10-Punkte-Plan vom 28. November 1989 (s. u.) - auch die Eigenstaatlichkeit der DDR zu überwinden, zeigte und zeigt er sich bis heute besonders erbost gegenüber Stimmen im westdeutschen politischen Milieu, die die DDR entweder als sozialistisches Biotop erhalten und alimentieren oder die sich nun abzeichnende Chance zu einer Wiedervereinigung als im modernen Europa historisch überholt abtun wollten. Er konnte sich dabei auf eine Linie in der SPD berufen, die bis in den Oktober 1989 37 Vgl. Telefongespräch Kohls mit Krenz vom 26.10.1989, in: Potthoff: Die Koalition a. a. O., S. 975-981; Gespräch von Kanzleramtsminister Seiters mit Krenz und Modrow ebd., S. 995-1007; femer Kohls Telefongespräch mit Präsident Bush am Tag nach der Öffnung der Mauer (10.11.1989), jetzt in FAZ, 04.11.1999, S.52: „Krenz will zwar Reformen in Angriff nehmen, doch nur bis zu einer bestimmten Grenze. Eine dieser Grenzlinien dürfte die Ein-Pärteien-Herrschaft sein." Vgl. auch Alexander Schalck-Golodkowskis vergeblichen Vorstoß vom 24.10.1989 in Bonn bei Seiters und Schäuble, der auf erhebliche Finanzhilfen gegen begrenzte politische Lockerungen und Bonner Entgegenkommen in der Frage der Staatsbürgerschaft abzielte. Die Zeit für derartige Übereinkommen war aus Sicht der in Bonn Verantwortlichen vorbei; siehe auch Kohls Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland vom 08.11.1989, also einen Tag vor dem Fall der Mauer. Vgl. an grundlegender Lit. weiter Wolfgang Jäger: Die Überwindung der Teilung. Der innerdeutsche Prozeß der Vereinigung 1989/90, Stuttgart 1998; Werner Weidenfeld mit Peter M. Wagner und Elke Bruck: Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90, Stuttgart 1998; Dieter Grosser: Das Wagnis der Wahrungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln, Stuttgart 1998; Jens Knappe: Die USA und die deutsche Einheit. Amerikanische Deutschlandpolitik im Kontext von veröffentlichter und öffentlicher Meinung 1989/90, München 1996; Elke Bruck, Dieter M. Wagner (Hg.): Wege zum „2+4"-Vertrag. Die äußeren Aspekte der deutschen Einheit, München 1996; zur „Frustration" führender SED-Politiker in der Übergangszeit über das zunehmende Insistieren der bundesdeutschen Führung auf einem die Herrschaft der SED fundamental bedrohenden Wandel Egon Krenz: Herbst 4 89, Berlin 1999, vgl. hier S. 229 im Hinblick auf Kohl:„Im Klartext ist das die Anmaßung, über die DDR bestimmten zu wollen.", ähnlich Hans Modrow: Ich wollte ein neues Deutschland, TB-Ausgabe, München 1999.

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auf die Kooperation mit der SED, nicht mit oppositionellen Kräften, darunter die neue sozialdemokratische SDP, setzte und weiterhin an eine Reformfähigkeit der Führungs-Nomenklatura glaubte - im Gegensatz etwa zu Erhard Eppler, der hier am 17. Juni 1989 im Bundestag deutlich seine Enttäuschung über die eher bitteren Früchte des Gedankenaustausches zwischen SPD und SED in den letzten Jahren (unter anderem das berühmte Dialogpapier von 1987) erkennen ließ. Dabei fiel es Kohl und der Union in dieser Phase wie auch im historischen Rückblick nicht schwer, in Teilen der SPD Positionen und Äußerungen auszumachen, die in der Tat für nicht vorhandene Trennschärfe bei der Wahrnehmung von Demokratie und Diktatur sprechen.38 Dieses von Kohl geschickt aufgenommene und instrumentalisierte Konfliktpotential gegenüber Teilen der großen Oppositionspartei wurde vor allem im Umfeld der Kundgebung am Abend nach der Maueröffnung vor dem Schöneberger Rathaus in Westberlin erkennbar. Kohl hatte seinen Besuch in Polen unterbrochen, um an diesem historischen Wendepunkt in Berlin präsent sein zu können - das Fehlen Adenauers nach dem 13. August 1961 in der deutschen Hauptstadt und die Konsequenzen, wahrscheinlich auch für die Stimmenverluste der Union bei der Bundestagswahl 1961 wenige Wochen später, waren ihm nur zu bewußt. Bei der Kundgebung am 10. November vor dem Schöneberger Rathaus gab er sich nun bewußt patriotisch (zugleich nach einer telefonischen Intervention Gorbatschows freilich auch zurückhaltend im Hinblick auf eine schnelle Lösung der deutschen Frage), ging aber schon akustisch im Pfeifkonzert der hier konzentriert aufmarschierten West-Berliner Linken völlig unter. Die Schuld gab er vor allem dem Regierenden Bürgermeister Momper, der vom „Volk der DDR" und von „Wiedersehen" statt von Wiedervereinigung sprach - im Gegensatz zu Willy Brandt, für den an diesem Tag die Worte zum Signum wurden, wenn auch nicht direkt am 10. November 1989 vor dem Schöneberger Rathaus gesprochen: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört." (Kohl selbst verweist immer wieder auf den Gegensatz zur folgenden, von der CDU organisierten Kundgebung auf dem Kurfürstendamm mit einer völlig anderen Stimmungslage.) Hier wurde also schon die »patriotische Allianz 4 zwischen Kohl und Brandt erkennbar, die sich in den folgenden Monaten immer deutlicher 38

Siehe grundsätzlich Petra Schuh und Bianca M. von der Weiden: Die deutsche Sozialdemokratie 1989/90. SDP und SPD im Einigungsprozeß, München 1997; ein Faktor, der sich im nachhinein als besonders unrühmlich erwies, war die Einstellung derfinanziellen Unterstützung für die zentrale Erfassungsstelle von DDR-Unrecht in Salzgitter in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre durch SPD-regierte Länder. Diese Maßnahme wurde etwa vom stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Jürgen Schmude, am 13. März 1985 damit begründet, daß diese Einrichtung eine „institutionalisierte Drohung gegenüber Bürgern der DDR, die die Vorschriften und Befehle der DDR-Regierung befolgen" darstelle (zit. nach Klaus Schroeder: Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990, München, 1998, S.603, dort Fußnote 61); am Tag der Maueröffnung, am 09.11.1989, erklärte der SPD-Bundestagsabgeordnete Freimut Duve: „Die Mehrheit der Deutschen in der DDR und in der BRD wollen nicht zurück in einen Nationalstaat!... Wer populistisch die logische Entwicklung der europäischen Kultur zur europäischen Gesellschaft versperren möchte, durch die Wiederbeatmung des überholten deutschen Nationalstaats, der hat dafür aber keine Chance."; (zit. nach Roos: Das Wiedervereinigungsgebot a. a. O., S. 290).

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zeigte und sich gerade gegen die »Internationalisten4 in der SPD um den künftigen Kanzlerkandidaten Lafontaine formierte. Lafontaine setzte ja ganz auf grenzüberschreitende soziale, ökologische und kulturelle Fragestellungen, der spezifische Wert des Nationalstaates zur Verbürgung bzw. Wiederherstellung von Rechtspositionen und Wohlfahrt kam in diesem Argumentationszusammenhang kaum vor. 39 Deutlich komplexer und vielschichtiger erscheint das Verhältnis Kohls zum FDPAußenminister Hans Dietrich Genscher in der gesamten Entscheidungsphase vom September 1989 bis September 1990 (Unterzeichnung des 2+4-Vertrages am 12. September 1990 in Moskau). Es hatte bei Genscher Tradition, daß er durch eine Außenpolitik, die nach allen Richtungen konsensfähig erscheinen sollte, Wahlerschichten an die FDP zu binden versuchte, denen Konfrontation und Abgrenzung grundsätzlich zuwider war. Exemplarisch gelang ihm dies bei der Bundestagswahl 1980, als die FDP - noch in der sozialliberalen Koalition - nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 und im Zeichen der Auseinandersetzung um Mittelstreckenraketen und NATO-Doppelbeschluß dem bürgerlichen Publikum signalisierte, der Unions-Kanzlerkandidat Franz Josef Strauß stehe für gefährliche Konfrontationen, Hans Dietrich Genscher hingegen für Konsens und Ausgleich.40 Eine derartige Abgrenzung war in der gemeinsamen Bundesregierung mit der Union ab 1982 zwar nicht mehr möglich, dagegen kam es jetzt zu einer komplizierten Dialektik von Kooperation und Eigenprofilierung. Dabei spielte Genschers geschickter 39 Zur .Hermeneutik' von,Jetzt wächst zusammen..." Bernd Rother: Gilt das gesprochene Wort? Wann und wo sagte Willy Brandt »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört"? in Deutschland Archiv 33. Jg. H. 1/2000, S. 90-93. Der berühmte Satz Brandts fiel danach am 10.11.1989 in Äußerungen gegenüber den Medien, vor dem Schöneberger Rathaus aber nicht exakt in der „klassischen" Formulierung. Kohl läßt noch in seinen Erinnerungen sieben Jahre später der tiefen Verärgerung über Momper und den „linken Pöbel" am 10.11.1989 vor dem Schöneberger Rathaus freien Raum, vgl. Kohl: Ich wollte a.a.O., S. 131; vgl. auch Kohls Telefongespräch mit Präsident Bush am späten Abend des 10.11.1999, Abdruck in FAZ, 04.11.1999, S. 52: „Es hat zwei politische Kundgebungen in Berlin gegeben. Die erste fand vor dem Schöneberger Rathaus statt, wo es leider eine Reihe linksradikaler Rowdies gegeben hat. Dies werden die Bilder sein, die weltweit im Femsehen verbreitet werden dürften. Die zweite Veranstaltung wurde von meinen politischen Freunden auf dem Kurfürstendamm organisiert. Es war gegen 18.30 Uhr und die Schätzungen gehen von 120000 bis 200000 Teilnehmern aus. Die Stimmung war optimistisch und freundlich. Als ich den USA für Solidarität und Unterstützung dankte, gab es viel Applaus. Ohne die USA hätte es diesen Tag nie gegeben. Sagen Sie dies Ihrem Volke." Siehe auch Walter Momper: Grenzfall: Berlin im Brennpunkt deutscher Geschichte, München 1991, insb. S.73: „...Reformen (seien, P.M.) in der DDR nicht gegen, sondern nur mit der SED machbar..." Für die Phase ab Mitte November 1989 hält Momper, a. a. O., S. 193, fest, die Regierung Modrow sei durch Kohl „systematisch ausgebremst" worden-was wohl zutrifft. Entscheidend ist aber, ob dies legitim war. Für die Konflikte in der SPD zwischen den älteren, auf Ergreifen der Chance zur Wiedervereinigung bedachten Politiker und den jüngeren ,Universalisten4 vgl. u.a. Hans-Jochen Vogel: Kraftprobe mit den Kandidaten. Wie Oskar Lafontaine die SPD im Wahljahr 1990 in Turbulenzen stürzte, in: Die Zeit, 12.01.1996. 40 Nicht zuletzt als Resultat dieser Kampagne verbesserte die FDP ihr Ergebnis gegenüber der Bundestagswahl 1976 von 7,9% auf 10,6%, während die Unionsparteien von 48,6% auf 44,5 % sanken.

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Umgang mit den Medien eine zusätzliche Rolle. Typisch ist, wie er am 30. September 1989 in der Prager Botschaft der Bundesrepublik in gleißendem Scheinwerferlicht den „Landsleuten" aus der DDR ihre bevorstehende Ausreise mitteilte, während Kanzleramtsminister Seiters buchstäblich im Dunkeln blieb.41 Der Sowjetunion gegenüber hatte Genscher gerade 1989 seine Vertrauenswürdigkeit durch die Ablehnung einer Modernisierung nuklearer Kurzstreckenraketen in Westdeutschland gezeigt. Dies hatte zugleich naturgemäß die Konsequenz, daß er in Washington nicht in dem Maße persona grata war wie Helmut Kohl. Genschers innenpolitische Vermittelbarkeit nach allen Richtungen zeigte sich bei der schon geschilderten Szene am 10. November 1989 vor dem Schöneberger Rathaus. Der bürgerliche" Hans Dietrich Genscher hatte hier im Gegensatz zu Kohl keine Schwierigkeiten, sich akustisch durchzusetzen. Zur entscheidenden Schnittstelle in Kohls weiterem deutschlandpolitischen Drehbuch wurde zweifellos der 10-Punkte-Plan vom 28. November 1989. War bis dahin (s. o.) vor allem die innenpolitische Demokratisierung der DDR gefordert worden, so wurde nun eine Kooperationsperspektive mit der Zielvorstellung eines gesamtdeutschen Bundesstaates wenn auch eher noch mit langfristigen Zeitvorgaben entwickelt. Unmittelbarer Anlaß für den 10-Punkte-Plan war bekanntlich der Besuch des sowjetischen ZK-Mitglieds und Mitarbeiters des Abteilungsleiters für Internationale Beziehungen im ZK der KPdSU Valentin Falin Nikolai Portugalow am 21. November 1989 bei Kanzlerberater Horst Teltschik. Portugalow las Teltschik mehrere Papiere vor, in denen Überlegungen der sowjetischen Führungsspitze hinsichtlich der weiteren Entwicklung in Deutschland zusammengefaßt waren. Aus den mündlichen Erläuterungen glaubte Teltschik so etwas wie Zustimmung zur Einheit Deutschlands schließen zu können. Teltschik setzte sich nun mit aller Vehemenz im Kanzleramt für eine deutschlandpolitische Offensive mit klarer Zielvorstellung durch. Die Schlußredaktion unternahm der Kanzler dann am Wochenende vor der Erklärung im Bundestag persönlich in seinem Haus in Ludwigshafen-Oggersheim; informiert wurden unter dem Signum der Verschwiegenheit lediglich ausgewählte Journalisten, der Bundespräsident und die CDU-Spitze, weder hingegen der Koalitionspartner noch die westlichen Verbündeten. (Die - privilegierte - briefliche Unterrichtung von Präsident Bush erreichte diesen durch ein technisches Versehen zu spät.) So enthält ein Schreiben Kohls an Staatspräsident Mitterrand vom 27. November 1989 Vorschläge zur Ausgestaltung der Wirtschafts- und Währungsunion, schweigt sich zur Deutschlandpolitik aber gänzlich aus.42

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Genscher hat dieses Ereignis ganz bewußt dem chronologischen Ablauf vorgreifend an den Beginn seiner Memoiren gestellt, vgl. Hans Dietrich Genscher: Erinnerungen, Berlin 1995, S. 13 ff. 42 Zur Entstehung des 10-Punkte-Plans Jäger: Die Überwindung a. a. O., S. 58 ff. mit Faksimile der handschriftlichen Überarbeitungen Kohls; zu Teltschiks Wahrnehmung der von Portugalow tatsächlich oder vermeintlich signalisierten Konzessionsbereitschaft Horst Teltschik: 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Berlin 1991, S.42ff. Das Schreiben Kohls an Mitte-

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Kohl hatte offenkundig eine grundsätzliche Güterabwägung getroffen: Er wollte die Signale auf Deutsche Einheit stellen, was keineswegs Verzicht auf den Fortgang der europäischen Integration heißen sollte, wie sie seinem klassischen Glaubenskanon wie dem mainstream der Union seit Konrad Adenauer entsprach. Allerdings mußten die sich bietenden Möglichkeiten in der nationalen Frage zunächst einmal genutzt werden; das mochte zur Vertiefung der europäischen Integration, wie sich zeigen sollte, dann wiederum beitragen, um sie als komplementäres Element zum wiederhergestellten deutschen Nationalstaat weiterzuentwickeln. Für den Augenblick hieß dies allerdings, daß zunächst einmal um den Preis von Irritationen beim Koalitionspartner im Innern wie bei den Verbündeten nach außen operative Deutschlandpolitik den Vorrang hatte. Die Verstimmung im Kreis der EG-Partner schlug Kohl beim Europäischen Rat vom 8. Dezember 1989 in Straßburg gewissermaßen ungefiltert entgegen; er selbst spricht von der „eisigen Atmosphäre", die ihn hier umgab.43 Genscher kam nun sowohl gegenüber den EG-Partnern wie gegenüber der Sowjetunion eine klassische Libero-Funktion zu. Er konferierte schon am 29. November 1989 mit Premierministerin Thatcher in London, bei der für die Deutsche Einheit wenig zu erreichen war, unmittelbar danach in Paris mit Außenminister Dumas und Staatspräsident Mitterrand und am 5. Dezember 1989 mit Gorbatschow in Moskau. Überall suchte er die politische Kreditwürdigkeit der Bundesrepublik hervorzuheben und Kritik an Kohls Vorpreschen elastisch abzufangen, wie sie vor allem von Gorbatschow vorgetragen wurde. Diese moderierende Position bedeutete aber zugleich, daß Genscher als zweite deutsche Größe neben Kohl eigenes Gewicht hatte und auf dem europäischen Spielfeld, gegenüber Paris wie Moskau, ein spezifisches Profil gewann. Seine persönlichen Beziehungen zu den Außenministern Dumas und Schewardnadse - mit letzterem entwickelten sie sich im ersten Halbjahr 1990 dann immer deutlicher zu persönlicher Freundschaft hin - verschafften ihm eigenes Gewicht in der internationalen Arena. Das Pfund, mit dem Kohl dagegen wuchern konnten, waren die Beziehungen zu den USA und deren Insistieren auf gesamtdeutscher NATOMitgliedschaft nach vollzogener Einheit. Genscher suchte hier der Sowjetunion und ihren Sicherheitsinteressen möglichst weit entgegenzukommen. In seiner Tutzinger Rede vom 31. Januar 1990 beschrieb er seine Position so: „...Eine Ausdehnung des NATO-Territoriums nach Osten, d. h. näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, wird es nicht geben."44 In seinen Memoiren versichert Genscher zwar, er habe in Washington diese Position plausibel machen können45. In Wirklichkeit spricht hingegen alles dafür, daß am Potomac hier „Genscherismus" im Sinne mangelnder Bündnisgefolgschaft gesehen wurde, gewissermaßen in der Kontinuität von Genschers vehementer Ablehnung einer Kurzstreckenmodernisierung im nuklearen Bereich. rand vom 27.11.1989 in: Deutsche Einheit, Aktenedition, a.a.O., S.565f. Zum verspäteten Eintreffen des Kohl-Briefs bei Bush Weidenfeld: Außenpolitik für, a.a.O., S. 127. 43 Kohl: Ich wollte, a. a.O., S. 195. 44 Abdruck in Karl Kaiser (Hg.): Deutschlands Vereinigung. Die internationalen Aspekte. Mit den wichtigsten Dokumenten, Bergisch Gladbach 1991, S. 191. 45 Genscher: Erinnerungen a.a.O., S.715ff.

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Zwar hatte auch Kohl erkennen lassen, daß im Falle der Wiedervereinigung das Gebiet der dann früheren DDR einen reduzierten NATO-Status erhalten solle; gleichwohl war er bei Präsident Bush, Außenminister Baker und Sicherheitsberater Scowcroft eindeutig vertrauenswürdiger. Die Einladung zur umfassenden Aussprache am 24. und 25. Februar 1989 in Camp David, dem Landsitz der amerikanischen Präsidenten, ging bewußt nur an den Kanzler und sparte seinen Außenminister aus. Bush faßt das Programm dieser Besprechung in seinen Erinnerungen knapp und umfassend zugleich so zusammen: „Meine Ziele für die Treffen mit Kohl in Camp David waren einfach: Den Weg zur Vereinigung zu koordinieren, Deutschland in der Frage des NATO-Bündnis-Vorbehalts bei der Stange zu halten und eine Erklärung zur Oder-Neiße-Linie zu bekommen."46 Dies ist jedenfalls insoweit gelungen, als die Weichen dahin gestellt wurden, bei einer gesamtdeutschen NATO-Mitgliedschaft, die grundsätzlich als unabdingbar angesehen wurde, Abstriche beim Status für das DDR-Territorium, wenn überhaupt, nur auf einem Minimum zuzulassen. Der weitere Verlauf der Entwicklungen in dieser Frage ist hier nicht im Detail zu verfolgen. Am Ende stand nach der Einigung zwischen Kohl und Gorbatschow Mitte Juli 1990 in Kaukasus ein Ergebnis, das jedenfalls, was die westliche Interessenlage angeht, eindeutig über Genschers Tutzinger Formel hinausgeht: Denn das DDR-Territorium wurde politisch mit dem Vollzug der Wiedervereinigung Deutschlands in das NATO-Bündnis-Territorium integriert, militärisch nach dem Abzug der letzten russischen Truppen aus Ostdeutschland in Gestalt der Aufnahme der dort stationierten Bundeswehreinheiten in die NATO-Integration. Das Minus besteht bekanntlich nur darin, daß der Aufenthalt nichtdeutscher Truppen wie die Stationierung von ABC-Waffen in diesem Bereich nach dem 2+4-Vertrag dauerhaft untersagt sind. Gleichwohl wird man Genschers Tutzinger Formel nicht einfach nur als im westlichen Sinne kontraproduktiv ansehen dürfen. Denn sie half den Blick freizumachen auf das Spektrum an sicherheitspolitischen Kompromißmöglichkeiten zwischen NATO und Sowjetunion. Im außenpolitischen Bereich fand Genscher in diesen Monaten noch zwei weitere Felder, um gegenüber Kohl durch Eigenprofilierung Terrain zu gewinnen. Eine Achillesferse der Kohlschen Politik in dieser Phase, die gerade von den Verbündeten, zumal London und Paris, weidlich ausgenutzt wurde, war die Frage nach der endgültigen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie. Kohl weigerte sich mit guten völkerrechtlichen Gründen, hier vor dem Vollzug der Wiedervereinigung eine Verbriefung zu billigen. Denn erst Gesamtdeutschland könne im Rahmen einer Lösung mit Friedensvertragscharakter, wie es dann der 2+4-Vertrag war, endgültige Gebietsabtretungen aus dem Besitzstand des Deutschen Reiches vornehmen. Genscher, der es hier mit dem Umfeld der FDP naturgemäß auch mit einer anderen, weniger traditionellen Gesichtspunkten verhafteten Wählerklientel zu tun hatte, drückte dagegen aufs Tempo und warnte immer wieder davor, man dürfe hier weder in Polen noch bei 46 George Bush und Brand Scowcroft: Eine neue Welt. Amerikanische Außenpolitik in Zeiten des Umbruchs, Berlin 1999, S.232.

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den westlichen Verbündeten - auch die amerikanische Führung war hier mit Kohl nicht zufrieden - Irritationen aufkommen lassen. Der Kompromiß war, daß zwar die völkerrechtlich verbindliche Hinnahme der Oder-Neiße-Linie als deutsche Ostgrenze erst im Zusammenhang mit der 2+4-Vertragslösung und dem darauf aufbauenden Grenzvertrag mit Polen erfolgte - insofern setzte sich Kohl unter Inkaufnahme vielerlei internationaler Irritationen durch. Politisch aber war die Akzeptanz der territorialen Verhältnisse von 1945 verbindlich durch gleichlautende Resolutionen von Bundestag und Volkskammer, die am 21. Juni 1990 verabschiedet wurden, fixiert worden. 47 Abschließend sei im Zusammenhang mit Genschers Rolle auf sein Eintreten für eine niedrigere zulässige Gesamttruppenstärke der Bundeswehr hingewiesen, als Verteidigungsminister Stoltenberg und auch Kohl dies wollten und schließlich bei Gorbatschow im Juli 1990 durchzusetzen vermochten. Noch beim Flug nach Moskau kam es zwischen Kohl und Genscher zum Streit, weil der Außenminister sich hier schätzte er die Konzessionsbereitschaft Gorbatschows offenkundig falsch ein mit einer sehr viel geringeren Obergrenze als den von Kohl gewollten und schließlich durchgesetzten 370.000 Mann maximaler Friedensumfang abfinden wollte. Als sich die Möglichkeit einer Lösung der nationalen Frage ab Herbst 1989 abzuzeichnen begann, zögerte Kohl nicht, hier zuzugreifen und die Entwicklung zu forcieren. Es war ihm aber in der Tradition klassischer westdeutscher Integrationspolitik zugleich bewußt, daß er hier nicht beliebig und zu lange monoman vorauseilen durfte. Wenn es dazu noch Beweise gebraucht hätte, so lieferten die an ihm geübte Kritik beim Europäischen Gipfel vom Dezember 1989 in Straßburg und die in den nächsten Wochen folgenden Besuche von Präsident Mitterrand sowohl in der DDR als auch zu Konsultationen mit Gorbatschow in der Sowjetunion davon mehr als genug. Kohl wußte genau, daß er europäisch nachlegen mußte, wollte er entweder Störungen des Wiedervereinigungsprozesses durch ein klassisches Großmächtekartell Paris, London, Moskau oder die frühzeitige Isolierung des sich abzeichnenden deutschen Nationalstaates verhindern. Die Dreh- und Angelpunkte waren hier an erster Stelle der französische Staatspräsident Mitterrand und an zweiter EUKommissionspräsident Jacques Delors. Margaret Thatcher schied aus, da sie weder 47

Zu den vielen Schachzügen in dieser Frage, die hier nicht im Detail nachzuvollziehen sind, Weidenfeld: Außenpolitik a.a.O., S.479ff. Hier wird auch klar, daß Kohl schon Mitte Januar 1990 in Paris - der Ort war naturgemäß mit Bedacht gewählt - die politische Akzeptanz der Oder-Neiße-Linie ausdrückte, damit aber keineswegs schon Beruhigung eintrat. Auch seine später geäußerte Forderung, Polen solle im Gegenzug für die Anerkennung seiner Westgrenze einen definitiven Reparationsverzicht erklären - eine Position, die ihm sicherlich vor allem bei den Vertriebenen über die entscheidende Hürde in der Grenzfrage hinweghelfen sollte - führte zu weidlich ausgeschlachteten Irritationen in der Bundesrepublik wie im Ausland. Zur Haltung Margareth Thatchers vgl. ihre Memoiren: Downing Street No. 10. Die Erinnerungen, Düsseldorf u.a. 1993, S. 1063 ff.; zur Politik des britischen Foreign Office Klaus-Rainer Jackisch: Diplomatie hinter den Schlagzeilen. Britische Vereinigungsstrategien zwischen Verweigerung und Kooperation, in: Bruck/Wagner: Wege zum a. a. O., S. 126-135.

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gewonnen werden konnte noch mußte: Sie konnte nicht gewonnen werden, weil sie die deutsche Wiedervereinigung prinzipiell, das heißt auch unter Kopplung mit integrationspolitischen Fortschritten, ablehnte, und sie mußte es auch nicht, denn wenn nach Washington auch Paris und Moskau gewonnen waren, dann war dies nicht mehr nötig, zumal zunehmend das britische Foreign Office unterhalb der Regierungschef-Ebene gegenüber Bonn eine kooperative Rolle spielte. Kohl versuchte, die gestörten Beziehungen zu Mitterrand vor allem in der für ihn typischen Art langer persönlicher Gespräche und ostentativ an den Tag gelegter Bonhomie wieder ins Lot zu bringen. Eine Schlüsselfunktion hatte dazu die Begegnung ganz im privaten Rahmen mit dem französischen Staatspräsidenten auf dessen Landsitz Latché am Atlantik. 48 Legendenbildungen besagen, Kohl habe in diesen Monaten bei seinen kontinentaleuropäischen EG-Partnern die Wiedervereinigung gegen den Verzicht auf die nationale Währung erreicht. Es fällt nicht schwer, den Nachweis anzutreten, daß die Weichen in die Richtung einer Europäischen Währungsunion grundsätzlich schon seit längerem gestellt gewesen waren. Umgekehrt wäre es aber auch fatal, gewissermaßen ein Denkverbot über die hier liegenden Zusammenhänge zu verhängen. Daß das sich abzeichnende Ende der Teilung Deutschlands und die damit verbundene Gewichtsverlagerung in der Mitte des Kontinents beschleunigend auf die Wirtschafts- und Währungsunion gewirkt hat, ist schlechterdings nicht bestreitbar. So heißt es auch ganz unzweideutig in einer Vorlage von Legationsrat Bitterlich an Kohl vom 2./3. Dezember 1989: „Für Mitterrand geht es in den nächsten Jahren in erster Linie und vor allem um die Wirtschafts- und Währungsunion - sie ist für die verbleibenden Jahre seiner Amtszeit das Ziel schlechthin."49 Eine Gesamtbewertung der damals abgelaufenen Prozesse sollte vor diesem Hintergrund die Befassung mit den hier liegenden Wechselbeziehungen gar nicht scheuen, sondern vielmehr positiv gewendet fragen, ob nicht hier und damit auf dem Weg zum Maastricht-Vertrag über die Europäische Union bei allen Unzulänglichkeiten im Detail ein europäisches Netz geknüpft wurde, ohne das der deutsche Nationalstaat nicht stabil zu verankern gewesen wäre. Denn die Inakzeptanz einer nationalstaatlich gestützten deutschen währungspolitischen Hegemonie über Westeuropa, die sich ansonsten auf Dauer eingestellt hätte, ist schlechthin unbestreitbar. Kohl gelang es jedenfalls, auch wenn das Treffen von Latché noch nicht sämtliche Verstimmungen ausgeräumt haben mag, den deutsch-französischen Motor wieder so weit auf Touren zu bringen, daß Paris und Bonn in bewährter Manier am 48

Vgl. Protokoll in: Deutsche Einheit a. a. O., S. 682-690, S. 689: „Präsident Mitterrand bezeichnete als wichtigste Aufgabe die Stärkung der Gemeinschaft der Zwölf (...). Langfristig gesehen müssen alle einbezogen werden. Das deutsche Problem und das Problem Europa müßten zusammen gelöst werden." Aus Kohls Erwiderung: „Er stimme Präsident Mitterrand zu, es sei jetzt wichtig, auf dem Weg der europäischen Gemeinschaft voranzugehen und Perspektiven für die Länder Mittel- und Osteuropas zu finden." 49 Deutsche Einheit a. a. O., Text S. 596-598, hier S. 597. 5 Löw

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18. April 1990 gemeinsam den amtierenden Präsidenten des Europäischen Rates, den irischen Premier Charles Haughey, dazu aufforderten, die vorbereitenden Arbeiten für die Regierungskonferenz über die Wirtschafts- und Wahrungsunion zu intensivieren und so auch in jener Frage zu verfahren, die eher für die deutsche Seite im Vordergrund stand, der der Politischen Union. Neben der, wenn auch damals von der deutschen Öffentlichkeit noch wenig wahrgenommenen Perspektive einer Europäischen Währungsunion wurde sehr bald nach der Jahreswende 1989/90 die innerdeutsche Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zu einem erstrangigen Thema. Gerade an ihm läßt sich deutlich machen, wie Kohl bemüht war, verschiedene Aspekte einer Thematik so zu bündeln, daß sich für ihn ein optimales politisches Resultat ergab - optimales politisches Resultat heißt dabei, Sicherstellung der Wiedervereinigung auch in ihren staatlichen und internationalen Aspekten und Perpetuierung bzw. Stärkung der eigenen Machtposition durch Erringung der dazu notwendigen Wahlerfolge. Damit ergibt sich ein Timing auf die das Jahr 1990 beherrschenden Wahlen hin: Die erste freie Volkskammerwahl in der DDR am 18. März 1990 und die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl am 2. Dezember desselben Jahres. Das Konzept einer Wirtschafts- und Wahrungsunion war zunächst ein Konstrukt als Antwort auf den sich anbahnenden wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR und die damit verbundenen psychologischen Konsequenzen, vor allem die massenhafte Abwanderung nach Westdeutschland.50 Wie wir heute wissen, liefen die internen Vorbereitungen für eine deutsche Währungsunion seit Mitte Dezember 1989 im Bundesministerium der Finanzen.51 Politisch entscheidend aber war, daß Kohl sich das Konzept einer Währungsunion in den ersten Februartagen 1990 zu eigen machte, nachdem ihm enge Mitarbeiter am 2. Februar einen Vermerk vorgelegt hatten, der mit den Sätzen begann: „Durch das 10-Punkte-Programm vom 28. November 1989 haben Sie und die Unionsparteien sich einen deutlichen deutschlandpolitischen Kompetenzvorsprung erworben. Es gilt jetzt, diesen Vorsprung zu erhalten und nach Möglichkeit auszubauen."52 Hier wird klar, daß der Währungsunion eine Turbofunktion in mehrfacher Hinsicht zukommen sollte: Unmittelbar galt es natürlich, den kataraktartiken Absturz der sozialen und ökonomischen Verhältnisse in der DDR zu stoppen. Ob dies allerdings eine Währungsunion leisten konnte, oder ob nicht erst auf andere Weise Konkurrenzfähigkeit in der DDR hergestellt werden mußte, wie dies offenkundig 30 Vgl. grundsätzlich Dieter Grosser: Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Politische Zwänge in Konflikt mit ökonomischen Regeln, Stuttgart 1998; ders.: Zeit der Führung. Konsens und Konflikt um die Wiedervereinigungspolitik 1989/90, in: März: 40 Jahre a. a. O., S. 305-316; Jürgen Gros: Entscheidung ohne Alternativen? Die Wirtschafts-, Finanzund Sozialpolitik im deutschen Vereinigungsprozeß 1989/90, Mainz 1994. 51 Grosser: Das Wagnis a.a.O., S. 159ff. 32 Vorlage von Regierungsdirektor Mertes an Kohl vom 02.02.1990, in: Deutsche Einheit a.a.O., S.749f., hier: S.749.

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Bundesbankpräsident Pohl meinte, war allerdings die Frage. Ließ man jedoch nicht die Gesetzmäßigkeiten des ökonomischen Lehrbuches gelten, sondern baute in erster Linie auf die Psychologie, dann mochte ein solches Signal heilsame Wirkung ausüben. In der konkreten Situation aber noch wichtiger war, und das wird im schon genannten Vermerk ganz offen angesprochen, daß der Kanzler innen- und außenpolitisch in die Offensive kam. Innenpolitisch konnte so ein Trumpfas für die auf den 18. März 1990 anberaumten Volkskammerwahlen gezogen werden - schließlich ging man Anfang Februar allgemein noch von einem SPD-Wahlsieg aus, und das mußte nach Möglichkeit konterkariert werden. Am 5. Februar 1990 kam die „Allianz für Deutschland" als bürgerliches Sammelbecken zustande, ihre Geburt war schwierig genug gewesen (s. u.). Nun mußte der Wählerschaft deutlich gemacht werden können, daß die Allianz für den schnellsten Weg zur deutschen Einheit stand, und nichts schien dazu besser geeignet als die Währungsunion, die ein zentrales Stück jahrzehntelang erlebter Diskriminierung der DDR-Deutschen beseitigen würde: das Fehlen von echtem, im Westen buchstäblich vorzeigbarem Geld. Der zweite Aspekt hängt wohl eng mit Kohls und Genschers Besprechungen am 10./11. Februar 1990 mit Michail Gorbatschow in Moskau zusammen. Gorbatschow hatte sich ja vor allem in den Wochen zuvor grundsätzlich, wenn auch alles andere als euphorisch, auf das bevorstehende Ende der deutschen Zweistaatlichkeit eingestellt. Den letzten Ausschlag dürfte eine Besprechung im Kreis seiner Berater am 26. Januar 1990 gegeben haben, bei der auch die Linie festgelegt wurde, in Deutschland nicht auf die Sozialdemokraten, sondern auf Kohl und die Union zu setzen.53 Nun nutzte Kohl die Gelegenheit eines zweieinhalbstündigen Gesprächs mit Gorbatschow, um ausführlich und mit sehr dramatischen Wendungen den sich plötzlich beschleunigenden Zusammenbruch der DDR darzustellen. Er sei „innerhalb von wenigen Tagen in einen ungewöhnlichen Zugzwang geraten", „zusammenfassend wolle er sagen, daß er es drehen und wenden könne, wie er wolle: die Frage der Entscheidung stünde kurz bevor"; oder an anderer Stelle: „Die Ordnung löst sich auf, das Chaos nehme zu. Erforderlich seien für eine Währungsunion eine entsprechende Gesetzgebung und die notwendigen Rahmenbedingungen..."54. Gorbatschow hat die geschickt und offenkundig sehr suggestiv vorgetragenen Schilderungen Kohls in ihrer Intention wohl verstanden. In seinen Memoiren schreibt er lapidar zu diesem Gespräch: „Es war nur allzu deutlich, daß der Kanzler versuchte, den Wiedervereinigungsprozeß zu beschleunigen."55 Gleichwohl tat Kohls Timing seinen Dienst und die sowjetische Seite ließ sich weitgehend darauf ein. Der für Kohl und Genscher so positive Ausgang der Besprechungen in Moskau Anfang Februar 1990 - bekannt ist die Euphorie auf dem Rückflug in die Bundesrepublik 53

Vgl. Fred Oldenburg: Deutsche Einheit und Öffnung der NATO. Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, 52/1996, S. 11. 54 Deutsche Einheit a. a. O., Protokoll der Besprechung Kohls und Gorbatschows vom 10.02.1990, S. 795-807, ausgewählte Zitate S.796, 797,799. 55 Gorbatschow: Erinnerungen a.a.O., S.716. 5'

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und das glänzende Ergebnis der „Allianz für Deutschland" bei der Volkskammerwahl rund fünf Wochen später bestätigten Kohls Festlegung auf den Primat psychologisch-politischer Faktoren gegenüber rein fachlich-volkswirtschaftlich begründeten Sehweisen. In seinen einschlägigen Erinnerungen erklärt er ganz unverblümt: ,»Nach der reinen Lehre war ein solcher Weg (Wahrungsunion erst nach wirtschaftlicher Angleichung, PM) sicher besser, aber es war aus politischen Gründen praktisch unmöglich."56 Die hier gezeigten Mechanismen galten auch bei der dann im späten Frühjahr 1990 anstehenden Entscheidung für den Umtauschkurs bei Löhnen und Gehältern. Bundesbank und Bundeswirtschaftsminister Haussmann plädierten Ende März 1990 deutlich für die Relation 2:1, ein Vorschlag freilich, der in der DDR einen Proteststurm hervorrief. Die zum Fetisch erhobene DM schien sich plötzlich in hohem Maße wieder zu verflüchtigen. Die ökonomischen Konsequenzen für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen wurden damals bekanntlich wenig reflektiert. Am 22. April 1990 entschied sich dann das Bundeskabinett für die Umtauschrelation 1:1; es folgten die bereits zu Beginn dieses Beitrages kurz skizzierten, taktisch begründeten Auseinandersetzungen mit der SPD um die Ratifizierung des Vertrages über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Grundsätzlich kommt dem Ausgang der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 eine Schlüsselrolle für Kohls Machtkonfiguration in dieser Phase überhaupt zu. Dies erschließt sich schon aus einer gewissermaßen negativen Beweisführung, nämlich aus der Annahme, die sozialdemokratische Partei hätte die Volkskammerwahl zumindest mit einer relativen Mehrheit gewonnen und wäre in der dann gebildeten DDR-Regierung der dominierende Faktor gewesen. Dies hätte zugleich der SPD in Westdeutschland sehr viel stärkere Einflußmöglichkeiten auf den gesamten Wiedervereinigungsprozeß gegeben, und Kohl hätte möglicherweise die Bundestagswahl nicht mit einer Kampagne als Schlüsselfigur der Einheit gestalten können. In der weiteren Perspektive wäre es dann möglicherweise auch zu einer Gestaltung des Wiedervereinigungsprozesses nach Art. 146 GG (alt) - Verfassungsneuschöpfung mit entsprechenden Konsequenzen für die grundgesetzliche Ordnung (plebiszitäre Elemente) gekommen, eine Entwicklung, die den Intentionen des liberal-konservativen Spektrums in der Bundesrepublik völlig zuwidergelaufen wäre. Zugleich zeigt sich auch hier die enge Verknüpfung von innen- und außenpolitischen Faktoren. Die Memoirenliteratur der damals verantwortlichen Staatsmänner macht deutlich, wie erleichtert man in diesem Kreis über den Wahlsieg der Allianz für Deutschland war. George Bush schreibt in seinen Erinnerungen: „Die ostdeutschen Wahlen rückten nun näher, und wir waren alle über ihren Ausgang nervös. (...) Angesichts der »Sozialisierung* der DDR war es (...) vernünftig zu erwarten, daß die Masse der Stimmen sich bei den Sozialdemokraten sammeln würden." Daß dies nun nicht eintrat, hatte zu seiner Zufriedenheit folgende Konsequenz: „Die Auswirkungen der ost56

Kohl: Ich wollte, a.a.O., S.262.

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deutschen Wahlen auf die Diplomatie im Umfeld der auswärtigen Gesichtspunkte der Wiedervereinigung waren dramatisch. Sie beendeten definitiv jede sowjetische Hoffnung darauf, den Weg zur Vereinigung durch eine folgsame ostdeutsche Regierung verlangsamen zu können. Stattdessen war Moskau mit einer ostdeutschen Regierung konfrontiert, die sich enthusiastisch für die schnelle Aufnahme in die Bundesrepublik einsetzte."57 Kohl war nur zu bewußt, wie skeptisch man gerade in Washington eine DDR-Regierung gesehen hätte, die unter sozialdemokratischen Vorzeichen, von Sicherheitspolitikern wie Egon Bahr aus der westdeutschen SPD angeleitet, statt der NATO-Linie für das wiedervereinigte Deutschland eine KSZE-Linie verfochten hätte, eine Linie, die möglicherweise in Fortführung der SPD-SED-Gespräche aus der zweiten Hälfte der 80er Jahre auf einen mitteleuropäischen Sonderstatus für Deutschland in der Sicherheitspolitik hätte hinauslaufen sollen. Kohl hatte also Motivation genug, für ein möglichst optimales Wahlergebnis den äußersten Einsatz zu zeigen. Die Ausgangsbedingungen waren unter anderem deshalb ungünstig, weil die „Ost-CDU" nur zögernd ihr Blockparteiimage abzustreifen begann und daher für große Teile der West-CDU als Partner lange nicht in Frage kam.58 Zunächst tat sich auch Kohl schwer, die Ost-CDU als Partner zu akzeptieren. Während Wolfgang Schäuble, Heiner Geißler, Walter Wallmann und vor allem Eberhard Diepgen in Berlin-West hier schon auf Kooperation eingestellt waren, waren für CDU-Generalsekretär Rühe noch ganz die Kontaminierungen aus der Blockparteizeit bestimmend. Zum Kriterium für die Akzeptanz der Ost-CDU im Westen wurde schließlich, daß sie nach einigem Widerstreben ihres Vorsitzenden Lothar de Maizière die Regierung Modrow verließ und sich so als Opposition zur DDR-Vergangenheit zu positionieren suchte. Kohl selbst war in der dann gebildeten „Allianz für Deutschland" aus CDU, Deutscher Sozialer Union (DSU) und Demokratischem Aufbruch (DA) letzterer wohl der sympathischste Partner. Mit der CDU hatte er nun aber zugleich ein Potential von namhaftem Gewicht für die Formierung der „bürgerlichen" Kräfte in der DDR gewonnen. Das übrige tat sein persönlicher Einsatz mit in der Summe über einer Million Zuhörern; so wurde die Volkskammerwahl vom 18. März 1990 wohl mehr noch als die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl ein Dreivierteljahr später zur Kohl-Wahl schlechthin.

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Bush, Scowcroft: Eine neue Welt, a. a.O., S.244; vgl. auch Bushs spontane telefonische Gratulation an Kohl („Sie sind ein hervorragender Wahlkämpfer."), Abdruck in FAZ, 04.11.1999, S. 52. 58 Vgl. Michael Richter: Zur Entwicklung der CDU in der Wende, in: Historisch-Politische Mitteilungen. Archiv für christlich-demokratische Politik, 1. Jg., Köln, Weimar, Wien 1994, S. 115-133; ders.: zur Entwicklung der Ost-CDU vom Januar 1990 bis zum Vereinigungsparteitag am 01.10.1990 in: ders. und Martin Rießmann (Hg.): Die Ost-CDU. Beiträge zu ihrer Entstehung und Entwicklung, Weimar, Köln, Wien 1995, S. 231-251; ferner Richter: Die Entwicklung der Ost-CDU 1989/90, in: Deutschland Archiv, 27 (1994), S. 1015-1025.

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IV. Staatsmann und Historisierung Staatsmann sein, kann gewiß nicht heißen, über viele Jahre Vorhaben realisieren, die nach einem master plan exakt bestimmt worden sind. Politik gibt das nicht her. So wenig die zweite Deutsche Einigung beziehungsweise Vereinigung 1989/90 am Reißbrett vorgedacht worden war, weder von Kohl, noch von Egon Bahr, Herbert Wehner oder Konrad Adenauer, in dieser oder jener Richtung59, so wenig galt dies auch für die erste Einigung. Die 1867/1871 durchgesetzte Lösung eines um die süd59 Vgl. zu Wehners Ansätzen in der Zeit der Großen Koalition Dirk Kroegel: Einen Anfang finden! Kurt Georg Kiesinger in der Außen- und Deutschlandpolitik der Großen Koalition, München 1997, Teil Wehners Deutschlandkonzept S. 115 ff., S. 120: „Die Strategie Wehners unterschied sich (...) scharf von den Konzeptionen, die ihre Hoffnung auf einen inneren Wandel des Systems der DDR setzten. In strikter Abgrenzung zu Bahrs , Wandel durch Annäherung4, dem Wehner vorwarf, sein Ziel sei die , Unterminierung4 der DDR, warnte er einerseits davor, allwissend zu tun, als ob die innere Entwicklungsmöglichkeit eines Landes unter einem kommunistischen Regime im vorhinein leicht auszumachen sei. (...) ,Wenn wir das Regime so nehmen, wie es ist, so gibt es wohl kaum andere Möglichkeiten, als die, immer wieder zu versuchen (...), das erreichbare Höchstmaß innerdeutscher Regelungen zustandezubringen. 4 44 Zu Egon Bahrs „Urkonzeption44, die sich in Wirklichkeit so sehr wohl davon gar nicht unterschied, Andreas Vogtmeier: Egon Bahr und die Deutsche Frage. Zur Entwicklung der sozialdemokratischen Ost- und Deutschlandpolitik vom Kriegsende bis zur Vereinigung, Bonn 1996, S. 73: „Bahr zog (...) nach der .Großen Desillusion4 durch den Mauerbau für sich offensichtlich die Konsequenz, daß die .Magnettheorie4 endgültig gescheitert sei (...). .Eine Hoffnung zur Lösung der Deutschen Frage ist nur in einer Entwicklung der Entspannung noch vorstellbar444, so Bahr am 1. Juni 1964 in der Universität Hamburg. Die so vielfach untersuchten strategischen Ansätze Adenauers, zunächst westliche Geschlossenheit herzustellen und diese unter allen Umständen aufrechtzuerhalten, eine Wiedervereinigung zwar anzustreben, aber dafür die Westbindung nicht aufs Spiel zu setzen, sollen hier aus der Fülle der Literatur nicht weiter belegt werden. Bemerkenswert ist aber, daß nach der jüngsten Interpretation der u. a. von Rolf Steininger unter Bezug auf eine Auslassung des deutschen Botschafters von Herwarth im britischen Foreign Office erhobene Vorwurf, Adenauer habe gewissermaßen hinterrücks die Wiedervereinigung hintertrieben, nicht aufrecht zu halten ist, wie heute quellenkritisch gezeigt werden kann. Vgl. Rolf Steininger. Deutsche Geschichte seit 1945. Darstellung und Dokumente in vier Bänden. Bd. II: 1948-1955, Frankfurt/Main 1996, S.326; dagegen Matthias Pape: „Keine Sicherheit in Europa ohne die Wiedervereinigung Deutschlands44. Zur Diskussion über die Kirkpatrick-Notiz vom 16. Dezember 1955 und Adenauers Deutschlandpolitik, in: Historisch-Politische Mitteilungen, Archiv für christlich-demokratische Politik, 6/1999, S. 207-227 mit Abdruck eines Berichts des damaligen österreichischen Botschafters Schwarzenberg an das österreichische Außenministerium vom 31.01.1956, S. 225-227. Pape schreibt unter Bezug auf Schwarzenbergs Bericht: „Herwarth erklärt (...), warum der Bundeskanzler zu diesem Zeitpunkt Verhandlungen der Westmächte mit den Sowjets über die deutsche Frage ablehnt. Es sind taktische und nicht grundsätzliche Erwägungen, die es Adenauer geraten erscheinen lassen, die Frage jetzt nicht zum Thema internationaler Verhandlungen zu machen. Er fürchtet nicht nur, daß sich die Vier Mächte auf der Basis der Teilung Deutschlands einigen, sondern die Vier Mächte versuchen könnten, sich der deutschen Frage durch eine Neutralisierung Gesamtdeutschlands zu entledigen. Das hätte die Rückkehr nach Potsdam bedeutet, also Verhandlungen über Deutschland ohne deutsche Beteiligung - für Adenauer ein Albtraum, der ihn auch so bedrückte, da er die Kräfte in der Bundesrepublik, die bereit waren, sich auf die Politik einer Neutralisierung Gesamtdeutschlands einzulassen, für stark hielt,44 Pape, S. 222f.

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deutschen Länder vergrößerten Norddeutschen Bundes nach dem militärisch 1866 erzwungenen Ausschluß Österreichs stellte für Bismarck keineswegs die einzige Möglichkeit dar. So hat er offenkundig mehrfach ernsthaft auch mit dem Gedanken eines preußisch-österreichischen Kondominiums in Mitteleuropa gespielt, bei dem die Mainlinie die Grenze bilden würde. 60 Staatsmännische Leistung definiert sich somit eher durch das Vermögen, plötzliche, grundstürzende Wendungen der politischen Gesamtlage wahrzunehmen, eine aktive Rolle zu spielen, mit Mut und Augenmaß bisher verstellte Lösungsmöglichkeiten zu realisieren und dabei zugleich verschiedene Politikfelder und -ebenen sinnvoll zu koordinieren. Wenn dabei vom Staatsmann die Rede ist, muß dies zugleich heißen, dem Wirken ökonomischer Sachzwänge zugunsten grundlegender politischer Entscheidungen in den Arm zu fallen, wobei letzteres erfahrungsgemäß immer nur befristet und zu nicht unbeträchtlichen Kosten möglich sein kann. Eine derartige Gesamtleistung wird man Kohl für die Phase 1989/90 durchaus attestieren können. Vergleicht man sein Aktionsfeld mit dem der klassischen „Staatsmänner" des 19. Jahrhunderts, der Metternich, Bismarck oder auch Disraeli (unter den Bedingungen des britischen Westminster-Parlamentarismus), so kommen noch weitere, zu meisternde Belastungsfaktoren hinzu. Der Staatsmann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts muß mit mehr Bällen jonglieren als der des 19. Jahrhunderts. Unentwegt muß er auf das Meinungsbild rekurrieren und sich der parlamentarischen Mehrheit wie des Rückhalts in der eigenen Partei und Regierungskoalition versichern. Der Kommunikationsfluß mit den Partnern in den anderen Regierungszentralen - verwiesen sei nur auf Kohls unzählige Telefongespräche - macht sehr viel schnelleres Agieren nötig und möglich, als das Warten auf die per Kurierpost eingehenden Botschafterberichte erlaubt. Nicht nur die Methoden und Handlungsebenen sind komplexer, sondern auch die Zielvorgaben. Es geht um die Wahrung der zentralen Machtposition an der Spitze des politischen Systems, die nicht nur außen-, bzw. klassisch-staatspolitisch definiert ist, sondern als Ausdruck der Summe von Aktionsfeldern in einem sehr komplexen System. Insofern ist auch der Titel von Klaus Drehers Biographie „Helmut Kohl. Leben mit Macht" mit Bedacht und wohl zutreffend gewählt. Wenn Kohl Staatsmann war, dann war er das fokussiert 1989/90. Ohne die Implosion des Kommunismus in Europa und die sich daraus ergebenden Chancen wäre seine Kanzlerschaft - soweit erkennbar - mit größerer Wahrscheinlichkeit 1990 zu Ende gegangen, als daß sie fortbestanden hätte, trotz Kabinettsumbildung und erfolgreich bestandener Machtprobe mit innerparteilichen Gegnern bis zum Spätsommer 1989. Die Umstände müssen also auch auf den verantwortlichen Politiker zukommen; geschieht das nicht, dann mag es um seine Positionen geschehen sein, 60 Vgl. Otto Pflanze: Bismarck. Der Reichsgründer, München 1997; S.301: Danach gab es unmittelbar vor Ausbruch des Konflikts mit Österreich von Bismarck mit Wohlwollen gesehene Bemühungen der Brüder von Gablenz vom April 1866, ein derartiges Arrangement herbeizuführen.

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ohne daß er die Chance einer singulären Herausforderung besessen hätte. Der Begriff des Staatsmännischen, wir deuteten es schon an, paßt nach seiner Herkunft besser ins 19. als ins spätere 20. Jahrhundert. Er unterstellt den „General Doktor von Staat", vielleicht nicht allmächtig, aber allen gesellschaftlichen Faktoren doch weit überlegen. Im demokratisch-pluralen Staat verflüchtigen sich die Durchgriffs- und Handlungsmöglichkeiten der Staatsführung dann bereits beträchtlich. Ob Staaten in einer globalisierten, entgrenzten Welt mit flexibel gewählten Wohnsitzen, vagabundierendem Kapital und weltweiter Kommunikation noch den Rang besitzen, um staatsmännische Leistungen überhaupt tragen zu können, bleibt vorderhand abzuwarten. Kohls Zenit wurde mit dem Vollzug der Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 und der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 2. Dezember desselben Jahres überschritten. Aber er selbst bemühte sich offenkundig, diese Plateauphase seiner Tätigkeit auf eine ganz eigene, historisierende Weise zu perpetuieren: Memoiren pflegten früher erst mit zeitlichem Abstand nach dem aktiven Leben des jeweiligen Autobiographen zu erscheinen. Die vier Bände „Denkwürdigkeiten" des Reichskanzlers der wilhelminischen Ära (1990-1909) Fürst Bülow, der 1929 verstarb, erschienen 1930 und im Folgejahr. Bismarcks „Erinnerungen und Gedanke" erschien im Todesjahr 1898, der letzte Teil nach dem Ende des Ersten Weltkrieges 1921. Adenauers drei Bände „Erinnerungen" erschienen gleichfalls erst nach dem Ende seiner Kanzlerschaft: der erste Band für die Zeit von 1945-1963 im Jahr 1965, der Folgeband, der die Jahre bis 1955 abdeckt, war 1966 am Markt, der dritte Band mit der Phase von 1955-1959 im Todesjahr des ersten Bundeskanzlers 1967. Die Reihe ließe sich fortsetzen. Anders sieht es freilich im amerikanischen Bereich aus. Ausgeschiedene Präsidenten werden hier durch die Aussicht, nun endlich ordentlich Geld zu verdienen, verlockt, sehr schnell Autobiographien vorzulegen. Mehr als bei Präsidenten erinnern freilich die Memoiren Henry Kissingers an Kohls Öffnung zu Publizistik und Wissenschaft: Sie sind ungemein voluminös, beanspruchen ein hohes Maß an Wissenschaftlichkeit für sich und sind - jedenfalls die ersten beiden Bände - auffallend zeitnah erschienen: Band I für die Jahre 1968-1973 mit 1632 Seiten (!) im Jahre 1979, Band I I für die Folgejahre 1973/74, in denen Kissinger dann nicht mehr nur Sicherheitsberater war, sondern auch Außenminister wurde, mit 1503 Seiten im Jahre 1987. Erst Band ΠΙ für die verbleibende Zeit bis 1976 - Ende der Präsidentschaft von Gerald Ford - erschien 1999, mit noch einmal knapp 1000 Seiten (jeweils in der deutschen Übersetzung). Kohl hat bislang keine Memoiren im klassischen Sinne vorgelegt (wenn auch Anfang 2000 für die nächsten Jahre angekündigt), wohl aber sehr schnell ein dreifaches publizistisch-wissenschaftliches Angebot mitgefördert, das in Summe und Multiperspektivität ein beeindruckendes Volumen erreicht. Dabei handelt es sich zum einen um seinen mit den Journalisten Kai Diekmann und Ralf Geoig Reuth verfaßten Erinnerungsband „Ich wollte Deutschlands Einheit", zum zweiten um die durch die Akten des Bundeskanzleramtes wie durch die Auskunftsbereitschaft zahl-

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reicher Mitarbeiter und seiner Person selbst auf ein beeindruckend hohes Quellenniveau gebrachten vier Bände „Geschichte der Deutschen Einheit" von Karl-Rudolf Körte, Wolfgang Jäger, Dieter Grosser und Werner Weidenfeld, auf die in diesem Beitrag auch vielfach Bezug genommen wird. Das dritte „Angebot" ist die Sonderedition „Deutsche Einheit" aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90 mit gut 430 Dokumenten aus dem engsten Umfeld und einem Gesamtvolumen von rund 1670 Seiten. Addiert man einfach die Seitenzahlen, dann ergibt sich, daß von Kohl schon bislang je nach Œuvre mitgestaltet, gewünscht oder zumindest gefordert ein Volumen von rund 5000 Druckseiten über die Wiedervereinigungsphase 1989/90 vorliegt, überwiegend auf wissenschaftlichem Niveau und auf einer Quellengrundlage, die bis vor kurzem für so zeitnahe Arbeiten gänzlich undenkbar erschien. (In der Kohls Reputation belastenden Phase der Spendenkrise kamen schließlich noch sein Tagebuch 1998-2000 und öffentlichkeitswirksame Auftritte im Vorfeld des 3. Oktober 2000 hinzu - Signale, die die Singularität seiner Rolle 1989/90 trotz aller „Fehler" in kleineren Dimensionen festzurren sollten). Naturgemäß kann man dahin argumentieren, daß die nationale und internationale Öffentlichkeit Anspruch auf weitgehende Auskunft über ein Geschehen hatte, das singulär für die Nachkriegsgeschichte Deutschlands überhaupt ist. Zugleich aber wird man getrost behaupten dürfen, daß hier geschichts-politische Intentionen vorliegen. Das zentrale Ereignis der deutschen Nachkriegsgeschichte sollte und konnte in herausragender Weise gewürdigt werden, bevor der verantwortliche Amtsinhaber das Bundeskanzleramt verließ. 61 Das ist mit den genannten Werken, die alle vor dem Regierungswechsel vom Herbst 1998 erschienen, gelungen. Dabei ist insbesondere der Zugang zu bestimmten Aktenbeständen ohne die Möglichkeit einer umfassenden, vergleichenden Würdigung bzw. Interpretation auch durch andere Autoren vielfach als Problem empfunden worden: Wenn etwa für die hier genannten Titel die Akten des Bundeskanzleramtes und aus dem Bereich der ehemaligen DDR zur Verfügung standen, so galt dies nicht für die Bestände des Auswärtigen Amtes. Werner Weidenfeld weist ausdrücklich in einer entsprechenden Darlegung seines Bandes „Außenpolitik für die Deutsche Einheit" darauf hin: „Eine wissenschaftliche Auswertung der Bestände des Auswärtigen Amts war (...) nicht direkt möglich, da dort auf die Einhaltung der dreißigjährigen Frist bis zur Freigabe beharrt wurde." 62 Man kann die hier geschil61 Der Band von Weidenfeld: Außenpolitik für, a. a. O. erschien zwar erst zur Jahreswende 1989/90, war damals aber jedenfalls textlich schon abgeschlossen. Mit dieser zeitlichen Dramaturgie kann auch die bisherige Aufarbeitung der Ära Schmidt nicht .mithalten4, vgl. Helmut Schmidt: Menschen und Mächte, Berlin 1987; ders.: Die Deutschen und ihre Nachbarn, Berlin 1990; ders.: Weggefährten: Erinnerungen und Reflexionen, Berlin 1996; Wolf gang Jäger u. Werner Link: Republik im Wandel a. a. O.; vor allem auf der Grundlage von Materialien aus dem Bestand Schmidts Heinrich Potthoff: Bonn und Ost-Berlin a. a. O. - erschienen 1997. Alle diese Bände standen jedenfalls erst beträchtlich nach Schmidts Kanzlerschaft zur Verfügung. 62 Weidenfeld: Außenpolitik a. a. O., S. 645; der Autor schildert dann, wie es durch ,Kunstgriffe 4 gleichwohl gelang, auch die Meinungsbildung im Auswärtigen Amt auf indirekte Weise zumindest im Ansatz zu erschließen.

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derte Publikationspolitik und Quellenlage unter Verweis auf die Vorgaben klassischer Wissenschaftlichkeit kritisch bewerten. Man kann aber auch in einer durch Neugierde als Prinzip gekennzeichneten Kommunikationsgesellschaft die Teilhabe von Akteuren am historisch-politischen Diskurs positiv bewerten. Informationsdurst und Transparenz sind Kennzeichen der modernen Gesellschaft. Dadurch bilden sich naturgemäß Nachfragen. Sie zu bedienen und nicht ungestillt zu lassen, kann durchaus zur Attraktivität des politischen Systems beitragen, denn es setzt so Akzente in einer Medienwelt, die mit außerordentlich attraktiven Konkurrenzangeboten aufwartet. Insofern erscheint die sehr schnelle publizistisch-wissenschaftliche Aufarbeitung zeitgeschichtlichen Geschehens mit Hilfe der Akteure zulässig und sinnvoll. Wichtig ist allerdings, daß nach dem Grundsatz „audiatur et altera pars" auch alternative Angebote im Quellenbereich wie auf Autorenseite gemacht werden.63

V. Schon eine Bewertung Helmut Kohls? Zum achtzigsten Geburtstag Otto von Bismarcks 1895 schrieb Theodor Fontane an seine Tochter Martha: „Diese Mischung von Übermensch und Schlauberger, von Staatengründer und Pferdediebstahl-Steuerverweigerer (...), von Heros und Heulhuber, der nie ein Wasserchen getrübt hat, erfüllt mich mit gemischten Gefühlen und läßt eine reine helle Bewunderung in mir nicht aufkommen. Es fehlt ihm gerade das, was recht eigentlich die Größe leiht." 64 Der Vergleich zwischen Bismarck und den beiden langjährigen Kanzlern der Nachkriegszeit, Adenauer und Kohl, ist wohl schon deshalb häufig bemüht worden, weil die Zwischenkriegszeit der Weimarer Republik bis 1933 eine vergleichbar lang anhaltende und prägende Kanzlerschaft nicht aufwies; auch Gustav Stresemanns Agieren kurzfristig 1923 als Kanzler und in den Folgejahren bis 1929 als Reichsaußenminister mit enormem Einfluß hinter den Kulissen auf die parteipolitische Szenerie bleibt doch schon rein quantitativ in einer geringeren Dimensionierung 65. 63

Insofern erscheint es eher bedauerlich, daß Hans-Dietrich Genschers Erinnerungen oft einen eher summarischen Charakter haben und, wie geschildert, der Aktenbestand des Auswärtigen Amtes weiterhin nicht zugänglich ist, so daß auch Kontrollvergleiche mit dem zur Verfügung stehenden Archivmaterial aus dem Bereich der DDR hier nicht angestellt werden können. 64 Zit. nach Karlheinz Wagner: Das Geheimkonto. Über Bismarcks Reptilienfonds. Die Zahlungen an Bayern und das Bestechen der Journalisten, FAZ, Wochenendbeilage 11.03.2000. 65 Vgl. Gustav Stresemann, hg. v. Wolfgang Michalka und Marshall M. Lee, Darmstadt 1982 und zum Parteipolitiker Stresemann jüngst Eberhard Kolb: „Führungskrise in der DVP. Gustav Stresemann im Kampf um die Große Koalition", 1928/1929, in: Demokratie in Deutschland. Chancen und Gefährdungen im 19. und 20. Jh. hg. von Wolther von Kieseritzky und Klaus-Peter Sick, Festschrift für Heinrich August Winkler, München 1999, S. 202-227.

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Wer sich auf den Vergleich von Bismarck und Kohl einläßt, wird zwar nicht nur im Sinne von Fontane eine Fülle von Parallelen entdecken, gewiß aber auch Diskrepanzen, die ihnen mindestens gleichkommen dürften. Beginnen wir mit den Parallelen, so sehen wir, schon rein äußerlich, die Vorliebe für eine frugal-derbe Konsumtion, einen bemerkenswerten, von der politischen Karriere getragenen auch sozialen Aufstieg, im Falle Bismarcks vom halben „Krautjunker" und halben Bürgerlichen (mütterlicherseits) zum begüterten Fürsten und schließlich Herzog von Lauenburg (auch wenn er selbst diesen Titel nicht führte), im Falle Kohls unter ganz anderen Zeitläuften aus dem kleinbürgerlichen Milieu bis in die Champions League weltweiter Beachtung an der Schnittstelle von Politik und Medien, zumindest bis zum Aufbrechen des sogenannten „Spendenskandals" im November/Dezember 1999.66 Weitere Parallelen mag man darin sehen, daß beide sich entwickelnde Konstellationen an einem bestimmten Punkt für sich zu optimieren verstanden - der berühmte Zipfel am Mantel der Geschichte - und ihre persönliche Macht vor allem der Tatsache dankten, daß sie ihre Position in Schnittmengen innehatten, wo verschiedene Bereiche einander kreuzten. Schnittmengen freilich, die entsprechend den politischen Ordnungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einerseits wie des 20. Jahrhunderts andererseits ganz anders gelagert waren: Im Falle Bismarcks das Aufeinandertreffen von noch geradezu absolutistisch strukturiertem Staatsapparat mit einem sich entwickelnden Parlamentarismus wie einer sich entwickelnden politischen Öffentlichkeit, im Falle Kohls die Kombination von exponierter Machtposition in der eigenen Partei mit dem Staatsamt und das Zusammenführen von stark personalistisch verstandenen Aktionsfeldern in der Innen- und Außenpolitik. Hinzu kommt, daß beide außerhalb der Politik kein nennenswertes Berufsleben aufzuweisen hatten, sieht man von Bismarcks kurzfristiger Tätigkeit als Gutsherr nach dem Ausscheiden aus dem »gewöhnlichen4 Staatsdienst ab, der in seinem Fall über Anfänge nicht hinausgediehen war - eher wohl, weil Bismarck habituell nicht wollte, als daß er nicht gekonnt hätte. Bemerkenswert, wenn auch hier nur kurz zu streifen, sind freilich die Unterschiede: Im Falle Bismarcks offenkundig eine sehr komplexe, „hochnervöse" psychische Grundstruktur, ferner ein literarisch-intellektueller Anspruch, dem das europäische Bildungsgut seiner Zeit einschließlich der Beherrschung von Fremdsprachen wie selbstverständlich zur Verfügung stand, ein außerordentlicher Reichtum an Bildern, Analogien, auch treffend-lakonischen Bemerkungen. Deutlich sind bei ihm auch immer wieder die gegensätzlichen Prägungen von ländlich-feudaler und bürgerlich-leistungsorientierter Welt, ferner das Akzeptieren eines monarchischen Systems als gegeben und legitim, das zugleich schwer hinnehmbare Begrenzungen für Bismarcks persönliche Dynamik bedeuten mußte. Daß solche Diskrepanzen Kohl abgingen und abgehen, ist evident, kennzeichnend 66

Zu Bismarck hier nur die neueste und wahrscheinlich ergiebigste Biographie von Otto Pflanze: Bismarck. Der Reichsgründer a.a.O., ders.: Der Reichskanzler, München 1998; aus zeitgenössischen beobachtenden Aufzeichnungen von besonderer Qualität das Tagebuch der Baronin Spitzemberg. Aufzeichnungen aus der Gesellschaft des Hohenzollernreiches, hg. v. Rudolf Vierhaus, Göttingen51989.

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zugleich aber wohl eben auch für die Sozialisationsbedingungen der politischen Führungsschicht in der Bundesrepublik. 67 Rechtfertigen solche Beobachtungen aber eine dezidiert pejorative Bewertung Kohls, wie sie geradezu dankenswert exemplarisch Karl Heinz Bohrer nunmehr vorgenommen hat?68 Das Hauptverdienst dieses Beitrages besteht darin, daß er förmlich idealtypisch die stereotypen Vorbehalte von Teilen der akademischen und publizistischen Welt, die sich an einem abstrakt-idealen Staatsverständnis orientieren, gegenüber der politischen Verfaßtheit der Bundesrepublik zum Ausdruck bringt. Politik und Gesellschaft werden geradezu in Gestalt des 19. Jahrhunderts antagonistisch gesehen, wenn es heißt, Kohl sei „keine irgendwie ferne Symbolfigur des Staates (...), sondern eine Art Refrain auf den Durchschnittstypus einer westdeutschen Kleinstadt (gewesen) - und Westdeutschland bestand nur aus solchen Kleinstädten/"69 Kritisch wird weiter vermerkt, Kohl sei Ministerpräsident geworden, „ohne jemals im Bundestag geprüft worden zu sein." 70 Der „Augiasstall", den er hinterlasse, sei „buchstäblich der Stall der Provinz." 71 Wer so formuliert, kann sich nur am geradezu aristokratischen Bild eines abgehobenen Areopags oder Senats der ,3esten" orientieren, welcher allein nach Argument und ratio und gestützt auf den rhetorischen Schliff seiner Mitglieder ein absolutes Gemeinwohl herausdestilliert und durchsetzt. Daß derlei konstitutive Extrembilder am Beginn des 21. Jahrhunderts gezeichnet werden können, mag erstaunen oder belustigen, irritierend, ja atavistisch ist es in jedem Fall. Demokratie eben auch als politischer Massenmarkt, als Gewinnen von Anhang und Hausmacht, als Machtspiel und als konsensorientiertes Austarieren von Positionen - all dies wird hier völlig verfehlt. Lohnend ist die Auseinandersetzung damit allenfalls insofern, als sie helfen kann, den Phänotypus Kohl weiter zu konturieren. In besonderer Weise kennzeichnend erscheint dann für ihn eine dezidiert eben nicht negative, sondern positive Besetzung von „Provinz", die sich aus dem besonderen deutschen Hintergrund von Föderalismus, Territorienvielfalt und Hauptstadtschwäche ergibt. Insofern ist Provinz wesentlich der Wurzelboden politischer Kultur in Deutschland. Damit verbindet sich die Tatsache, daß Politik in Deutschland, auch wenn man die europäische Integration ausblendet, auf die der folgende Begriff vor allem angewandt wird, nur als „Mehrebenensystem" zu denken ist - und zwar sowohl in systematischer Hinsicht als auch im Blick auf die Rekrutierung des politischen Führungspersonals. Wenn die Abstimmung zwischen den Ebenen gestört ist, drohen Politikblockaden

67 In gewisser Weise treffen sich beide wieder in der Inanspruchnahme von historischem Arsenal und historischen Kontinuitäten für ihre jeweiligen Politikbegründungen. Als Referenzpunkt für Bismarck erscheint dabei mit besonderer Häufigkeit die Räson des preußischen Staates, wie sie sich vor allem im 18. Jahrhundert herausgebildet habe, für Kohl der Zusammenklang von Region, Nation und Europa in bewußter Abgrenzung zur vorausgegangenen Hybris des Nationalstaates - vgl. dazu die Ausführungen am Beginn dieses Beitrages. 68 Karl Heinz Bohrer: Kohl: System und Umwelt: in: Merkur 54. Jg. 2000, H. 3, S. 260-264. 69 Bohrer: Kohl a.a.O., S.261. 70 Bohrer: a.a.O., S.263. 71 Bohrer: a.a.O., S.264.

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wie im Fall einer nicht erreichten Steuerreform von 1996 bis 1998 . Kandidaten für das Bundeskanzleramt, ob erfolgreich oder nicht, weisen in aller Regel Kompetenz in der Führung einer Länderexekutive beziehungsweise, wie Adenauer als Kölner Oberbürgermeister mit Erfahrungen als führender rheinischer Politiker im Kontext des preußischen Staatsverbandes bis 1933, an herausgehobener kommunalpolitischer Stelle auf. Die unterlegenen SPD-Kanzlerkandidaten Vogel (1983), Rau (1987), Lafontaine (1990) und Scharping (1994) hatten Kompetenz als Oberbürgermeister (Vogel lange zurückliegend in München, hinzu kommt sein Zwischenspiel 1981 als Regierender Bürgermeister in Berlin-West) oder als amtierende Regierungschefs auf Länderebene73 gewonnen, Kohl selbst als Regierungschef in Mainz. Gerade der wohl erfolgloseste Kanzler, Ludwig Erhard, mit dem idealen Bild einer „formierten Gesellschaft" bei weitgehend zurückgedrängter partikularer Mitsprache von Interessengruppen, hatte als Landespolitiker nahezu keine positiven Erfahrungen sammeln können; sein Intermezzo als bayerischer Wirtschaftsminister von Oktober 1945 bis Dezember 1946 verriet vor allem ein erstaunliches Defizit an handwerklicher Qualifikation. Von Kiesinger bis Schröder haben hingegen alle bisherigen Bundeskanzler das Regieren vor allem in der „Provinz" als „Landesfürsten" oder -minister (wie Helmut Schmidt als Hamburger Innensenator) gelernt. Gewissermaßen in vorweggenommener Antwort auf Karl Heinz Bohrer heißt es bei Klaus Härtung: „Kohl war ein Politiker der deutschen Provinz und ihres Vereinswesens, das beherrscht ist von Loyalitäten, mündlichen Absprachen, Bargeld, Tele72 Vgl. Wolfgang Jäger: Konkurrenz- und Konkordanzdemokratie in Deutschland. Thesen zur Politik-Blockade vor der Bundestagswahl 1998, in: Macht und Zeitkritik. Festschrift für Hans-Peter Schwarz zum 65. Geburtstag, hg. v. Peter R. Weilemann, Hanns Jürgen Küsters und Günter Buchstab, Paderborn u.a. 1999, S.609-614. 73 Nicht von ungefähr hebt gerade Hans Maier auf diesen Zusammenhang ab. Geschult an der Territorienvielfalt des „Dritten Deutschland" vor allem im eher katholisch bestimmten Westen und Süden und ihrer spezifischen Rolle als Element von Ausgleich, Mäßigung und Vielfalt in der Zeit des Alten Reiches bis 1806 vermittelt er ein Bild, das weit abführt von der Verabsolutierung und Idealisierung der nationalen Ebene, wie sie bei Bohrer geradezu an die kleindeutsche Siegesgeschichtsschreibung des ausgehenden 19. Jahrhunderts erinnert. Hingegen läßt sich dahin argumentieren, daß die Bundesrepublik ein Element positiver Provinzialisierung wieder aufnahm, wie sie das mitteleuropäische Heilige Römische Reich gekennzeichnet hatte, freilich jetzt mit demokratischen Strukturen. Vgl. Hans Maier: Das Grundgesetz nach 50 Jahren - Versuch einer historischen Würdigung, in: Bewährung und Herausforderung. Die Verfassung vor der Zukunft, hg. v. Bundesministerium des Innern, Opladen 1999, S.21-38, hier S.31: „Deutschland war stets ein Reich, ein Bundesstaat oder Staatenbund, kurzum ein föderalistisches Gebilde. Zentralistische Perioden sind untypisch für unsere Geschichte. Andere Nationen erkennen und spiegeln sich in ihren Hauptstädten. In der deutschen Geschichte fehlt ein ähnliches, die politischen und kulturellen Kräfte sammelndes Zentrum, die Adressen der deutschen Hauptstädte wechseln durch die Geschichte hindurch (...). Nach 1949 hat das Parteiensystem dazu beigetragen, die föderalistische Ordnung zu stabilisieren. Bund, Länder und Gemeinden wurden zu gewichtigen, einander ergänzenden Rekrutierungs- und Aktionsfeldern der Parteien. Bis heute herrscht ein reger Austausch des politischen Personals hinüber und herüber: Ein Bundeskanzler (oder ein Kanzlerkandidat) kann ohne weiteres aus der Landespolitik kommen, ein erfolgreicher Kommunalpolitiker in die Landes- oder Bundespolitik wechseln - und umgekehrt."

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fonbeziehungen, Kameraderien, Hinterzimmern." 74 Was hier auf den ersten Blick genauso dezidiert kritisch- ablehnend klingen mag, gewiß zudem überzogen und gegenüber zahlreichen, wohl den meisten Akteuren auch ungerecht ist, gewinnt zugleich doch einen ganz anderen Akzent dadurch, daß Kohl dabei als Prototyp einer bundesdeutschen politischen Szene gezeichnet wird, die vielleicht nichts exzeptionell-glanzvolles an sich haben mochte und mag, die aber zugleich die Republik in einer Weise zu führen verstand, welche deren Koordinaten durchaus entsprach: „Auch wenn das vielleicht ein relativistisches oder apologetisches Argument ist: Parteien sind keine moralischen Lehranstalten und Politiker keine Missionare. Die politische Klasse als eine Elite der Guten, als peripatetische Aristokraten und die Parteien als Vereinigungen des herrschaftsfreien Diskurses - das wäre ein absoluter Machtanspruch." 75 Nimmt man die hier angestellten Überlegungen zusammen, dann macht „Provinz" bzw. Länder- und Regionsgebundenheit wohl zweierlei aus - und beides kennzeichnet offenkundig Sozialisation und Politikstil von Helmut Kohl in überdurchschnittlicher Weise: einmal die Vernetzung eher kleinräumiger Strukturen im Bundesstaat mit in der Folge sehr komplexer Willensbildung im Gesamtstaat, zum anderen ein besonderes Maß an persönlicher Chemie, vertraulicher Abstimmung in Kleingruppen und Hintanstellung abstrakter Zielvorgaben. Dabei mutet es durchaus überraschend an, dass Kohls langjähriger Mitarbeiter Wolfgang Schäuble im nachhinein - in seiner Bilanz der Jahre 1998/99 - den Kontrast zwischen seinem inhaltlich-problemorientierten Politikmodell und dem personalisierenden Kohls konstatiert 76, nachdem er doch längst wissen mußte, worauf er sich mit Kohl seit langem eingelassen hatte. Gewiß: Kohl hat in wohl auch für das Führungspersonal der Bundesrepublik besonders extensiver Weise, so jedenfalls der Erkenntnisstand des Frühjahrs 2000, rechtliche Festlegungen in ihrer Verbindlichkeit und Dignität durch sein eher einem feudalen Lehensmodell folgendes Verhalten relativiert bzw. verletzt. 77 Wenn Kohl 74

Klaus Härtung: Vitale Skandale. Die Empörung über das System ist unpolitisch, in: Die Zeit, 24.02.2000, S. 41 f. hier S. 42; vgl. auch Heribert Prantl: Lob der Provinz. Albumblatt für Bundeskanzler a.D. Dr. Helmut Kohl zum 70. Geburtstag, in: SZ, 01./02.04.2000, Wochenendbeilage. 75 Härtung a.a.O., S.41. 76 Wolfgang Schäuble: Mitten im Leben, München 2000, u. a. S. 274. Schäuble beschreibt hier eindrucksvoll die „Paradoxie, als Parteivorsitzender gescheitert zu sein, weil ich viel zu eng mit diesen 16 Jahren (der Kanzlerschaft Kohls, P. M.) verbunden war", andererseits aber ein anderes Politikbild als Kohl zu verkörpern: „Kohl hat jenem Verständnis von politischer Notwendigkeiten, den Erhalt eigener Macht eingeschlossen, immer den absoluten Vorrang eingeräumt- alles andere wäre im Prinzip auch mit politischer Führung und Verantwortung schwer vereinbar. Und ich habe der in diesem Verständnis unbedingt notwendigen Personalisierung von politischen Strukturen immer eher skeptisch gegenübergestanden." 77 Weitgehende Aussage zum unmittelbar rechtlichen Kontext insbesondere des „Spendenskandals" scheinen zum Zeitpunkt Frühjahr 2000 nicht möglich, da alle einschlägigen rechtlichen Überprüfungen noch nicht abgeschlossen sind. Die Verletzung des Parteiengesetzes in diesem Zusammenhang ist jedenfalls von Kohl selbst offen zugegeben worden.

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aber gerade als Prototyp eines Politikmodells erscheint, das vor dem Hintergrund der gegebenen Regelungen und Kräftekonstellationen vor allem konsensorientiert operieren muß, dann dürften sich im Hinblick auf eine mögliche Bilanzierung seiner Kanzlerschaft wohl eher andere Fragen stellen: „Den Deutschen schadete er (...) vor allem dadurch, daß er ihnen (...) auch die seelische Kraft nahm, die sie benötigten, um die tiefgreifenden Veränderungen ihrer Lebensverhältnisse annehmen und bejahen zu können, die sich aus der Vereinigung ergaben. (...) Dies, der Eindruck der zum Krisenmanagement gewordenen Regierung, die endlose politische Debatte über die Beseitigung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, der nach 16 Jahren Kanzlerschaft wohl unvermeidliche Überdruß an dem Mann selbst, haben seiner Regierungszeit schließlich den Endpunkt gesetzt."78 Wenn diese Analyse Karl Feldmeyers wenigstens in Teilen zutrifft, dann wird man Soll und Haben der Kanzlerschaft Helmut Kohls in weiterer Zukunft nur in enger Verbindung mit dem Blick auf das Politikmodell der Bundesrepublik bilanzieren können. Denn die hier aufgelisteten Faktoren gehen sicher nicht nur auf ein persönliches Konto, sondern sind in hohem Maß eben auch in diesem Politikmodell begründet, das nun einmal Besitzstandswahrung gegenüber Innovation und Veränderung bevorzugt, dabei freilich jedenfalls über lange Zeit politisch-psychologische Stabilität gewährleistete. Das bedeutet zugleich allerdings keineswegs, daß eine grundstürzende Überwindung des hier angedeuteten Politikgefüges im Sinne der skizzierten Auslassungen Karl Heinz Bohrers mit völlig neuem Personal eine realistische und auch vorbehaltlos positiv zu wertende Perspektive wäre. Die Alleinherrschaft des argumentativ siegreichen, rhetorisch geschliffenen, intellektuell überlegenen Diskurses gegenüber einem Elektorat mit Alltagssorgen, Alltagsinteressen, Alltagssprache, wie sie in der Konsequenz solcher Positionen liegt, brächte wohl nicht mehr Demokratie, sondern mehr Entfremdung zwischen „aufgeklärter" Führung und mediokrem Volk. Die demokratische Rückbindung scheint damit verglichen im Status quo sehr viel ausgeprägter. Neue Generationen beginnen zumeist mit der Verheißung einer problemorientierten, innovativen, von anderweitigen Bindungen freien Streitkultur und Lösungskompetenz - auch Kohl 1973 als CDU-Vorsitzender. Im Politikvollzug behaupten sich dann die Eigengewichte von Kräfteparallelogramm und Zumutbarkeit gegenüber Partnern und Wahlern. Bei Kohl wechselten einander offenkundig Phasen von langem, stagnierendem Verweilen und zügig durchgesetzten, tiefgreifenden Entwicklungsschüben, teilweise sogar gegen Mehrheiten, ab. Wiedervereinigung und Euro wie der Stationierungsbeschluß 1983 im Gefolge des NATO-Doppelbeschlusses waren die spektakulärsten von letzteren. 78 Karl Feldmeyer: Kohls Stärke war die Sicherung der Macht. Für die Würdigung ist Abstand nötig, in: FAZ, 20.01.2000, S. 3; vgl. auch mit sehr ähnlichem Tenor Josef Joffe: Deutschland- das Ende der Eiszeit, in Die Zeit, 06.04.2000, S. 3: „In der Ära Kohl begann die Eisdecke zu wachsen, und womöglich werden die Historiker dem Altkanzler dereinst nicht so sehr seine Spendenaffäre ankreiden als die Vereisung des Wandels, die in den 16 Jahren in die Winkel des .Systems Deutschland* kroch."

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Man wird - bei allem Problemdruck - auch künftig kein gänzlich anders sozialisiertes Führungspersonal und schon gar keine revolutionär veränderten Handlungsbedingungen erwarten können. Kooperation, Konsensorientierung und das Kriterium der Vermittelbarkeit und Mehrheitsfähigkeit werden im politischen Normalfall ihre Bedeutung behalten, wie zuletzt die Auseinandersetzungen um die Rentenreform in der rot-grünen Regierung Schröder zeigten. Die Gestaltung politischer Antworten auf wirtschaftliche, gesellschaftliche und staatliche Herausforderungen mag sich notgedrungen ändern, aber doch eher graduell. Man wird heute auch noch nicht bestimmen können, ob der Kairos von Kohls Kanzlerschaft 1989/90, der im Mittelpunkt dieses Beitrages steht, die langen Phasen des Agierens und zugleich Verweilens in der Führungsposition davor und danach überstrahlen wird oder nicht. Wie am Beginn dieses Beitrages gezeigt wurde, waren freilich auch in langen Strecken relativer Glanzlosigkeit dieser Kanzlerschaft ihre objektivierbaren Daten jedenfalls in wichtigen Teilen eher über- als unterdurchschnittlich. Nicht Fakten, sondern das immer wichtiger werdende Erscheinungsbild - von der Körperlichkeit bis zur Diktion - haben wahrscheinlich wesentlich zu ihrer Auszehrung geführt. Insofern läßt sich für die politische Kultur der Republik daraus der Schluß ziehen, daß Provinz und Provinzialität im Grundsatz zwar durchaus positiv besetzt sind, als Reflex für Publikum und Öffentlichkeit aber doch nicht zu konstant und dominant in Erscheinung treten sollten. Die Führungsfigur sollte somit etwas glanzvoller sein als das eigene Umfeld, aber doch nicht zu abgehoben. In diesem Spektrum wiederum haben sich bislang alle Kanzlerschaften der deutschen Nachkriegsdemokratie mit jeweils unterschiedlichen Akzentuierungen bewegt. Insofern bleiben auch die 16 Jahre Helmut Kohls im Gesamtrahmen der bisherigen Erfahrungen.

Die „deutsche Einheit" im Spiegel des „Historikerstreits" What's right? What's left? Von Steffen Kailitz I. Einleitung Im Juli 1986 kündigte Karl-Heinz Janßen auf dem Titelblatt der „Zeit" einen umfangreichen Artikel des Frankfurter Soziologen und Philosophen Jürgen Habermas als „Kampfansage" 1 an die Konservativen an. Die Streitschrift von Habermas richtete sich allgemein gegen vermeintlich „apologetische Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung"2 und konkret gegen drei angesehene Geschichtswissenschaftler: Andreas Hillgruber, Ernst Nolte und Michael Stürmer. Eher beiläufig wurde auch Klaus Hildebrand wegen der positiven Besprechung eines Beitrags von Nolte zu dem 1985 erschienenen englischen Sammelband „Aspects of the Third Reich"3 kritisiert. Habermas machte Hillgruber den Vorwurf, er heroisiere in seinem Werk „Zweierlei Untergang" 4 den Abwehrkampf des deutschen Ostheeres im Zweiten Weltkrieg und führe die Judenvernichtung allein auf die Person Hitlers zurück. Besonders verärgert war er über den Untertitel des Buches von Hillgruber. Der lautete: „Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums". Die Zerschlagung verlange einen aggressiven Gegner, ein Ende stelle sich dagegen gleichsam von selber ein. Heftig attackiert wurde auch Nolte. Der hatte einen Monat zuvor in einem Artikel mit dem Titel „Die Vergangenheit, die nicht vergehen will" 5 in der „Frank1

Vgl. Karl-Heinz Janßen, Kampfansage, in: Zeit vom 11. Juli 1986. Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung (Erstabdruck: Zeit vom 11. Juli 1986), in: „Historikerstreit". Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvemichtung, München/Zürich 1987, S.62. 3 Vgl. Emst Nolte, Between Myth and Revisionism, in: Hannsjoachim W. Koch, Aspects of the Third Reich, London 1985, S. 17-38. Der Beitrag Noltes geht auf einen Vortrag zurück, den er 1980 bei der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung hielt. Eine gekürzte Fassung erschien am 24. Juli 1980 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" unter dem Titel „Die negative Lebendigkeit des Dritten Reiches". Die ungekürzte deutsche Version ist: Ders., Zwischen Geschichtslegende und Revisionismus? Das Dritte Reich im Blickwinkel des Jahres 1980 (gekürzter Erstabdruck: FAZ vom 24. Juli 1980), in: „Historikerstreit" (Anm.2), S. 13-35. 4 Vgl. Andreas Hillgruber, Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums, Berlin 1986. 5 Vgl. Emst Nolte, Die Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte (Erstabdruck: FAZ vom 6. Juni 1986), in: „Historikerstreit" (Anm.2), S.39-47. 2

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furter Allgemeinen Zeitung" folgende in Frageform gekleidete These über die Ursache der Judenvernichtung der Öffentlichkeit vorgestellt: „War nicht der ,Klassenmord* der Bolschewiki das logische und faktische Prius des »Rassenmords4 der Nationalsozialisten?"6 Habermas sah durch den Beitrag von Nolte die Singularität der Judenvernichtung in Frage gestellt und damit die Verbrechen der Nationalsozialisten relativiert. Nolte geriet vor allem ins Blickfeld von Habermas, weil sich seine Theorie für Manipulationen von „Ideologieplanern" eigne. In erster Linie richtete sich die Kampfansage von Habermas wohl gegen Michael Stürmer, der zu dieser Zeit häufig Leitartikel für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" verfaßte und zeitweilig historischer Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl war. Stürmer hatte die Auffassung vertreten, daß „im geschichtslosen Land die Zukunft gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet".7 Habermas warf ihm deshalb vor, er plädiere für ein vereinheitlichtes Geschichtsbild. Als Alternative zu dem „von Regierungshistorikern verordneten Geschichtsbild" empfahl er die „vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens"8 und den Verfassungspatriotismus. Schon am Beispiel des Auftaktartikels von Habermas zeigt sich das Übergewicht der politischen Argumentation im „Historikerstreit". Er richtete sich weniger gegen die wissenschaftlichen Positionen der Angegriffenen - die recht unterschiedliche Forschungsansätze vertreten - als vielmehr gegen ihre tatsächliche oder vermeintliche politische Haltung. Der Beitrag von Habermas löste eine umfassende Kontroverse über das politische Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland aus. Sie wurde im Kern zwischen linken und rechten Demokraten ausgetragen. Der „Historikerstreit" ist der für die Ausgestaltung der politischen Deutungskultur bedeutendste Konflikt unter Intellektuellen in der Geschichte der Bundesrepublik. Drei Gründe sprechen für die politisch-kulturelle Bedeutsamkeit dieser Debatte: l . I m Mittelpunkt des Streits stand die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Für die einen markierte der „Historikerstreit" einen Einschnitt in die politische Kultur, weil ihrer Ansicht nach erstmals bedeutende Wissenschaftler versuchten, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu relativieren und zu bagatellisieren 9, für die anderen deshalb, weil nach ihrer Auffassung erstmals demo6

Ebd., S.45. Michael Stürmer, Geschichte in geschichtslosem Land (Erstabdruck: FAZ vom 25. April 1986), in: „Historikerstreit" (Anm.2), S.36. 8 Habermas (Anm.2), S.75. 9 Vgl. u. a. Micha Bnimlik, Neuer Staatsmythos Ostfront. Die neueste Entwicklung der Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik Deutschland (Erstabdruck: taz vom 12. Juli 1986), in: „Historikerstreit 44 (Anm. 2), S. 77; Jürgen Habermas, Vom öffentlichen Gebrauch der Historie. Das offizielle Selbstverständnis der Bundesrepublik bricht auf (Erstabdruck: Zeit vom 7. November 1986), in:· „Historikerstreit 44 (Anm.2), S.253; Henning Köhler, Abenteuerlicher Dreischritt, in: FAZ vom 26. Juni 1986. 7

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kratische Wissenschaftler in die geistige Nähe zum Nationalsozialismus gerückt wurden. 2. Ein bedeutender Teil der Kontrahenten steuerte, bewußt oder unbewußt, eine Verankerung der Deutungen in den Einstellungen der Bevölkerung an. Für Jürgen Habermas beispielsweise berühren Selbstverständigungsdiskurse zwar „immer wieder Fragen der politischen Gerechtigkeit; aber in erster Linie zielen sie auf einen Mentalitätswandel der Bevölkerung, aus dem eine liberale politische Kultur hervorgehen kann". 10 3. Politik nehmen die meisten Menschen kaum im Alltag wahr. Erst durch die Vermittlung der Massenmedien dringen politische Prozesse ins Bewußtsein der Gemeinschaftsmitglieder ein. Der „Historikerstreit" erfüllt die Voraussetzungen zur Veränderung der politischen Einstellungen in der Bevölkerung, denn er war vor allem in den Jahren 1986/87 ein Konflikt in den Massenmedien. Aus den vielen Mosaiksteinchen der Veröffentlichungen ergibt sich ein Bild, das aufzeigt, was auf der Ebene der Deutungskultur in der Bundesrepublik Deutschland als falsch und was als richtig angesehen wird. Anhand der Analyse der Kontroverse lassen sich auf dieser Grundlage Erkenntnisse über Strukturen und Elemente der politischen Deutungskultur in einem bestimmten Abschnitt der Geschichte der Bundesrepublik gewinnen. Diese Studie ist einem - kleinen - Ausschnitt aus der Themenpalette des „Historikerstreits" gewidmet, der deutschen Einheit.11 Die Fragestellung lautet: What's right? 12 What's left? 13 Im Mittelpunkt des Aufsatzes steht die Herausarbeitung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten der links- und rechtsdemokratischen Sichtweisen auf dem Deutungsfeld „deutsche Einheit". Die Positionen werden nicht nur Richtungen zugeordnet, sondern auch hinsichtlich ihrer Richtigkeit (besser: Nachvollziehbarkeit) bewertet. Es bleibt folgende Frage: Was blieb von den Haltungen der Kontrahenten zur deutschen Einheit übrig, als diese zustande kam? Geprüft werden auch die nachstehenden Punkte: Besteht auf dem Deutungsfeld „deutsche Einheit" eine inhaltliche Konfliktlinie zwi10

Jürgen Habermas, Bemerkungen zu einer verworrenen Diskussion. Was bedeutet .Aufarbeitung der Vergangenheit" heute?, in: Zeit vom 12. April 1992. 11 In meiner Dissertation untersuche ich acht Deutungsfelder: deutsche Einheit, ftitriotismus, Westbindung, Totalitarismus und Antitotalitarismus, deutscher Sonderweg, Historisierung des Nationalsozialismus, Einzigartigkeit des Genozids an den Juden, Wechselwirkungen zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus. Steffen Kailitz, Die politische Deutungskultur der Bundesrepublik Deutschland im Spiegel des „Historikerstreits". What's right? What's left?, Opladen 2001. 12 So der Titel einer Artikelserie der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in den Jahren 1994/95. 13 So der Titel einer Artikelserie der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in den Jahren 1992/93. Die Beiträge sind außerdem veröffentlicht in: What's left? Prognosen zur Linken, Berlin 1993. *

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sehen linken und rechten Demokraten? Versuchte die eine oder andere Streitpartei bestimmte Deutungen zu tabuisieren? Auf welche Weise geschah dies? Um die Fragen beantworten zu können, ist die Studie unterteilt in die Abschnitte linke und rechte Demokraten. Links- und rechtsextremistische Deutungen bleiben außen vor. 14 Das Ziel der Unterteilung ist es zu ermitteln, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten die Deutungen der politischen Lager im „Historikerstreit" aufweisen. Quer zur Gliederung nach politischer Herkunft der Deutungen ist die Untersuchung aufgefächert in die Zeit vor und nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Dies dient dem Zweck, Kontinuitäten und Brüche der Argumentationen nach diesem politischen Einschnitt ermitteln zu können. Ausführlich dargelegt werden in diesem Teil repräsentative Positionen der links- und rechtsdemokratischen Teilnehmer des „Historikerstreits". Im vergleichend angelegten Schlußteil wird die Fragestellung der Studie umfassend beantwortet. II. Positionen zur deutschen Einheit vor dem und im „Historikerstreit" 1. Linke Demokraten Wer die Entwicklung auf dem Deutungsfeld „deutsche Einheit" betrachtet, stößt auf einen bedeutsamen Wandel im linksdemokratischen Spektrum. In den fünfziger Jahren standen die Sozialdemokraten der politischen Einbindung in den Westen ablehnend gegenüber, weil sie befürchteten, dadurch werde die Tür zur deutschen Einheit verriegelt. Die deutsche Teilung galt als unnormal und schmerzhaft. Von der Mehrheit des linksdemokratischen Spektrums wurde in den achtziger Jahren die Teilung dagegen als normal, gar geschichtlich notwendig umgedeutet. Gemeingut linksdemokratischer Deutungen zur deutschen Einheit war es, die Teilung als „Erbe des NS-Regimes"15 und seiner Verbrechen anzusehen.16 Heinrich August Winkler folgerte aus der Schuld Deutschlands an der Entstehung der beiden Weltkriege, Europa könne und die Deutschen sollten ein neues Deutsches Reich, einen „souveränen Nationalstaat, nicht mehr wollen". 17 Das sei die „Logik der Geschichte".18 Diese 14

Einbezogen wurden die extremistischen Deutungen dagegen in: Ebd. Hans-Ulrich Wehler, Sozialdemokratie und deutscher Nationalstaat, in: Ders., Preußen ist wieder chic..., Frankfurt a. M. 1983, S. 75. 16 Vgl. Robert Leicht, Nur das Hinsehen macht uns frei. Wir und unsere Vergangenheit: Die deutsche Geschichte läßt sich nicht retuschieren (Erstabdruck: Zeit vom 26. Dezember 1986), in: „Historikerstreit' 4 (Anm. 2), S. 363; Rudolf von Thadden, Deutsches Geschichtsbewußtsein - ein Problem unserer Zeit, in: Karl Lamers, Suche nach Deutschland. Nationale Identität und Deutschlandpolitik. Mit einem Vorwort des Bundespräsidenten, Bonn 1983, S.73. 17 Heinrich August Winkler, Auf ewig in Hitlers Schatten? Zum Streit über das Geschichtsbild der Deutschen (Erstabdruck: FR vom 14. November 1986), in: „Historikerstreit" (Anm.2), S. 263. Vgl. ders., Wandlungen des deutschen Nationalismus, in: Merkur 33 (1979), S.973. 18 Ders., Hitlers Schatten (Anm. 17), S.263. 15

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Absage an den Nationalstaat wiederholte er mehrfach. Dem Urteil des Auslands schrieb Winkler eine hohe Bedeutung zu. Weil die Furcht vor einer neuen „Machtzusammenballung in der Mitte Europas" in Ost und West groß sei, sollten die Deutschen keinen „souveränen Nationalstaat" mehr wollen.19 Die linken Demokraten teilten das - vermutete - Mißtrauen der europäischen Nachbarn gegen das deutsche Volk. Eberhard Jäckel wie Hans-Ulrich Wehler erschien ein „Block von 80 Mill. Deutschen"20 als unberechenbar. 21 Für sozialdemokratische Intellektuelle wie Wolfgang J. Mommsen galt die Phase des konsolidierten Nationalstaats von 1871 bis 1933 als eine „Episode"22 deutscher Geschichte. Auch Imanuel Geiss stimmte in den Chor ein: „Keine Wiedervereinigung als neuer Nationalstaat, der nur zu einer neuen Runde deutscher MachtpolitikExpansion und Krieg - führen würde." 23 Als Optimum galt ihm statt dessen eine „europäisch-konföderale Lösung, blockübergreifend, sich an Formen des Deutschen Bundes von 1815 und der gegenwärtigen EG orientierend". 24 Habermas erklärte noch kurz vor dem Mauerfall, in beiden Teilen Deutschlands habe der Nationalismus ausgespielt. Er verzichtete „relativ leichten Herzens auf Wiedervereinigungsträume" 25, gleichwohl ging er von einem Fortleben der ,,kulturelle[n] Einheit der Nation" 26 aus. Im Unterschied zu anderen Deutungsfeldern hatte der Vordenker linksdemokratischer Intellektueller, Jürgen Habermas, auf diesem Deutungsfeld kaum Einfluß, weil er vor 1989 zur deutschen Frage weitgehend schwieg. Eine deutsche Vereinigung erschien ihm anscheinend als so unvorstellbar, daß er Stellungnahmen gegen sie für überflüssig hielt. 19

Vgl. ebd. Wehler (Anm. 15), S. 75. Vgl. ders., Deutsche Frage und europäische Antwort, in: FR vom 14. Oktober 1989. 21 Dies geht aus Eberhard Jäckels Rückblick von 1994 auf seine Position vor der Vereinigung hervor: Ders., in: Helmut Schmidt, im Gespräch mit ders. und Edzard Reuter, Was wird aus Deutschland, Stuttgart 1994, S.44. 22 Wolfgang J. Mommsen, Wandlungen der nationalen Identität, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Die Identität der Deutschen, München/Wien 1983, S. 185. 23 Imanuel Geiss, Mitte im Historikerstreit, in: Klaus Oesterle/Siegfried Schiele (Hrsg.), Historikerstreit und politische Bildung, Stuttgart 1989, S. 17. Vgl. ders., Der Hysterikerstreit. Ein unpolemischer Essay, Bonn/Berlin 1992, S. 173; ders., Was ist des Deutschen Vaterland?, in: Gustav-Heinemann-Initiative (Hrsg.), Die Bundesrepublik und die deutsche Geschichte, Stuttgart 1987, S.25. 24 Ebd., S. 17. 25 Jürgen Habermas, Interview mit Hans Peter Krüger (1989), in: Ders., Nachholende Revolution. Kleine politische Schriften VII, Frankfurt a. M. 1990, S. 97. Vgl. auch folgenden Nachdruck: Produktivkraft Kommunikation. Jürgen Habermas antwortet auf Fragen des Ostberliner Philosophen Hans-Peter Krüger, in: taz vom 17. Januar 1990. Die Veröffentlichung in der „tageszeitung" provozierte bei Ansgar Graw das Mißverständnis, Habermas habe noch 1990 den längst begonnenen Wiedervereinigunsprozeß ignoriert. Vgl. ders., (Historiker-)Streit unter Adenauers Enkeln, in: Rainer Zitelmann/Karlheinz Weißmann/Michael Großheim (Hrsg.), Westbindung. Chancen und Risiken für Deutschland, Berlin/Frankfurt a. M. 1993, S.374. 26 Habermas, Interview (Anm. 25), S.97. 20

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Die Absage an das Ziel der Einheit ging nicht zwangsläufig mit einem Desinteresse an der DDR einher. Die Westdeutschen hatten nach Auffassung Wehlers und Winklers eine Pflicht zur nationalen Solidarität mit den Ostdeutschen, denen die demokratische Selbstbestimmung vorenthalten werde. Auf die politische Tagesordnung gehöre nicht die „Restauration des Deutschen Reiches"27, wohl aber die „Demokratisierung der DDR". 28 Imanuel Geiss erschien es ebenfalls notwendig, berechtigte Wünsche der Deutschen in Ost und West zu erfüllen, z.B. freies Reisen zwischen beiden Staaten, Erhaltung der Gemeinsamkeit der Kultur. 29 Die Bundesrepublik sollte, so Jürgen Kocka, an ihrem spezifischen Verhältnis zur DDR festhalten und unauffällig zu dem Ziel beitragen, den Deutschen in der DDR „durch kleine und kleinste Schritte mehr Freiheit und bessere Lebensmöglichkeiten zu verschaffen" unter der Prämisse „voller Anerkennung ihrer autonomen staatlichen Existenz".30 Die eigenständige staatliche Existenz der DDR galt linken Demokraten als unantastbar. Nur wenige überlegten sich alternative Modelle zur nationalstaatlichen Einheit wie Hans Mommsen, der „eine Regionalisierung der deutschen Teilgebiete über die beiden deutschen Staaten hinaus"31 propagierte. Dieses - träumerische, die Realitäten des Kalten Krieges ausblendende - Modell galt ihm als realistische, wenn auch langfristige Antwort auf die deutschen Frage. Vehement vertrat Mommsen die These einer Bi-Nationalisierung Deutschlands, einer Herausbildung gesonderter nationaler Identitätsgefühle in der Bundesrepublik wie der DDR. 32 Mit dieser Auffassung stand Mommsen nicht allein; zu ihren Anhängern gehörte auch Lutz Niethammer. 33 Kurt Sontheimer hielt ebenfalls weder die gemeinsame Vergangenheit noch die gemeinsame Sprache für prägend genug, um weiterhin von einer gemeinsamen nationalen Identität zu sprechen.34 Den Gedanken einer besonderen Verpflichtung der Westdeutschen gegenüber den Ostdeutschen hielt Mommsen daher für überholt. 35 In der Negierung einer nationalstaatlichen Wiedervereinigung war sich Heinrich August Winkler zwar einig mit Mommsen, lehnte es jedoch ab, das kulturelle 27

Heinrich August Winkler, Bismarcks Schatten. Ursachen und Folgen der deutschen Katastrophe, in: NG/FH35 (1988), S. 121. 28 Ebd. Vgl. Wehler (Anm. 15), S. 76. 29 Vgl. Geiss (Anm. 23), Mitte, S. 17. 30 Jürgen Kocka, Nation und Gesellschaft. Historische Überlegungen zur „Deutschen Frage", in: Politik und Kultur 8 (1981), S.25. 31 Hans Mommsen, Die Nation ist tot. Es lebe die Region, in: Guido Knopp/Siegfried Quanch/Heibert Scheffler (Hrsg.), Nation Deutschland? I. Hambacher Disput, Paderborn 1984, S.37. 32 Vgl. ders., Aus Eins mach Zwei. Die Bi-Nationalisierung Rest-Deutschlands, in: Zeit vom 6. Februar 1981. 33 Vgl. Lutz Niethammer unter Mitarbeit von Ulrich Borsdorf, Traditionen und Perspektiven der Nationalstaatlichkeit, in: Außenpolitische Perspektiven des westdeutschen Staates, Bd. 2: Das Vordringen neuer Kräfte, München/Wien 1972, S.72. 34 Vgl. Kurt Sontheimer, Gibt es eine nationale Identität der Deutschen?, in: Barbara Baems (Hrsg.), Die DDR in Deutschland, Köln 1986, S. 16. 35 Vgl. H. Mommsen (Anm. 32).

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Band zu kappen, weil die Deutschen in West und Ost gleichermaßen verantwortlich für das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg zeichneten, aber die „Geschichtslast" ungleich verteilt sei.36 Mommsen war unter den sozialdemokratischen Teilnehmern des „Historikerstreits" in der Minderheit, Winkler gehörte in dieser Frage zur Mehrheit. Die Vorbehalte sozialdemokratischer Intellektueller waren weitgehend auf die Absage an das Prinzip der Nation zurückzuführen, Bedeutung kam aber auch der Auffassung zu, die Bundesrepublik Deutschland dürfe nicht länger als Provisorium angesehen werden. So hatten sich für Martin Broszat die Gründer der Bundesrepublik mit dem Provisoriumsvorbehalt des Grundgesetzes und der Verpflichtung der Westmächte auf die Wiedervereinigungspolitik im Deutschland-Vertrag darauf festgelegt, daß die Bundesrepublik „nur ein Interim auf dem Weg zur Wiederherstellung des Nationalstaates"37 sei. Das Wiedervereinigungspostulat habe dazu beigetragen, die „Identifikation der Staatsbürger mit dieser Republik zu schwächen oder zu verzögern". 38 Im grün-alternativen Spektrum war die Ablehnung einer deutschen Vereinigung, mit Ausnahme des nationalen, neutralistischen Rügeis, noch heftiger als bei sozialdemokratischen Intellektuellen. „Gäbe es eine historische Gerechtigkeit, so gäbe es kein Deutschland mehr" 39 , befand in repräsentativer Weise für die Mehrheit des grün-alternativen Spektrums Barbara Sichtermann. Die Geschichte sei insofern nicht ganz ungerecht, weil Deutschland tatsächlich nicht mehr existiere, sondern zwei Republiken auf deutschem Boden. Die Bundesrepublik könne man akzeptieren und die DDR anerkennen, mehr nicht. Die kleine Gruppierung der nationalen Linken aus den Reihen des griin-alternativen Spektrums stellte dagegen unter der Flagge „Blockfreiheit" Anfang der achtziger Jahre die deutsche Frage neu. Die Notwendigkeit einer „Paktfreiheit" begründete diese lose Gruppierung mit der Behauptung, der Dritte Weltkrieg werde ansonsten auf deutschem Boden ausgefochten. Zudem galt die Blockfreiheit als Mittel zum Erreichen der deutschen Einheit.40 Gegen den antinationalen Hauptstrom im 36 Vgl. Heinrich August Winkler, Zwei Nationen in Deutschland (Leserbrief)» in: Zeit vom 2. Januar 1982. 37 Martin Broszat, Was kann das heißen: Konservative Wende? (1986), in: Ders., Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, überarb. und erw. Neuausgabe, München 1988, S.302f. Vgl. ders., Die Ambivalenz der Forderung nach mehr Geschichtsbewußtsein (1986), in: Ebd., S.288. 38 Ebd. 39 Barbara Sichteimann, Eine Antwort auf die Frage: „Lieben Sie Deutschland", in: Die Grünen (Hrsg.), Wider die Entsorgung der Deutschen Geschichte. Streitschrift gegen die geplanten historischen Museen in Berlin (W) und Bonn, Bonn 1986, S.40. 40 Vgl. u. a. Alternative Liste Berlin - AG Berlin und Deutschlandpolitik (Hrsg.), Paktfreiheit für beide deutsche Staaten oder Bis daß der Tod uns eint?, 2. Aufl., Berlin 1985; Herbert Ammon, Plädoyer für die deutsche Einheit durch Blockfreiheit, in: Deutschland Archiv 16 (1983), S. 820-833; Theodor Schweisfurth, Das Ziel: Blockfreiheit, in: Wolfgang Venohr (Hrsg.), Die deutsche Einheit kommt bestimmt, Bergisch-Gladbach 1982, S. 81-102; ders., Die Perspektive Blockfreiheit, in: Guido Knopp (Hrsg.), Die deutsche Einheit. Hoffnung, Alptraum, Illusion?, Aschaffenburg 1981, S. 39-44.

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linken Lager konnte sich diese Position nicht durchsetzen und spielte nur eine untergeordnete Rolle. Der Neutralismus aus den Reihen der Friedensbewegung stieß bei sozialdemokratischen Intellektuellen aus zwei Gründen auf Ablehnung, zum einen wegen der Preisgabe der Westbindung, zum anderen wegen des Ziels der Vereinigung. Hans-Ulrich Wehler forderte gegenüber den Nationalneutralisten 41, den Deutschen in der DDR mit anderen Mitteln zu einem freieren Leben zu verhelfen „als mit der historisch überholten, papierenen Verheißung einer vereinigten Nation". 42 Kurz vor dem Ausbruch des „Historikerstreits" warf er in einem Beitrag über das Geschichtsbewußtsein der Deutschen neutralistischen Bestrebungen erneut den Fehdehandschuh hin. Hinter ihnen stehe eine „schon pathologische Mißachtung einer Grundtatsache der internationalen Politik". 43 Seine Argumentation war gerichtet gegen eine „Wiederbelebung der Erinnerung an den deutschen Nationalstaat" und gegen Versuche, „die Leiche des 1945 endgültig gescheiterten Bismarck-Reichs wiederzuerwecken". 44 Mißachtete Wehler mit der vehementen Ablehnung des Nationalen aber nicht ebenfalls eine „Grundtatsache" der internationalen Politik? Allein stand Wehler mit seiner Haltung keineswegs. Auch Robert Leicht warnte angesichts nationalneutralistischer Argumente in Werken von Herbert Ammon, Peter Brandt 45 und Wolfgang Venohr 46 vor einem Wiedererwachen nationaler Erwartungen. Nationalstaatliches und nationalneutralistisches Denken in einen Topf werfend, verkündete Leicht, das Denken in nationalstaatlichen Kategorien sei „anachronistisch" und „reaktionär". Die Deutschen hätten ihre nationalstaatliche Chance gehabt und verspielt. 47 In der neuzeitlichen Geschichte gebe es keinen Hinweis darauf, „daß ein deutscher Nationalstaat, eine Zusammenfassung des deutschen politischen Potentials in einem staatlichen Willensverband auf längere Sicht friedensverträglich wäre". 48 Eine Sonderstellung nahm Rudolf Augstein ein. Er war stets ein Befürworter der Vereinigung, mal zurückhaltend, mal polternd. In den fünfziger Jahren gehörte er zu 41

Vgl. zum kleinen, aber heterogenen Spektrum der Nationalneutralisten: Alexander Gallus, Die Nationalneutralisten 1945 bis 1990. Deutschlandpolitische Außenseiter zwischen drittem Weg und Westorientierung, in: Eckhard Jesse/Konrad Löw (Hrsg.), 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1999, S.29-63; ders., Nationalneutralismus im Westen Deutschlands von 1945 bis zur Wiedervereinigung, Düsseldorf 2001. 42 Hans-Ulrich Wehler, Wir brauchen keinen neuen deutschen Sonderweg. Antwort eines Historikers auf den Neutralismus der Friedensbewegung, in: FAZ vom 15. Februar 1982. 43 Ders., Den rationalen Argumenten standhalten. Geschichtsbewußtsein in Deutschland: Entstehung, Funktion, Ideologisierung, in: Parlament vom 17./24. Mai 1986. 44 Ebd. 45 Vgl. Peter Brandt/Herbert Ammon (Hrsg.), Die Linke und die nationale Frage. Dokumente zur deutschen Einheit seit 1945, Hamburg 1981. 46 Vgl. Venohr (Anm. 40). 47 Vgl. Robert Leicht, Die neue Welle alter Träume. Das Wiedererwachen nationaler Erwartungen aus dem deutschen Drang nach dem Unmöglichen, in: SZ vom 5./6. Juni 1982. 48 Leicht zitiert nach Rainer Zitelmann, Neutralitätsbestrebungen und Westorientierung, in: Ders ./Weißmann/Großheim (Anm. 25), S. 183.

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jenen, die die Stalin-Noten unzureichend geprüft fanden und ein neutrales Gesamtdeutschland für eine akzeptable Antwort auf die deutsche Frage hielten.49 Augstein plädierte für ein militärisch neutrales Gesamtdeutschland, obwohl er sich der Gefahr bewußt war, die hinter dieser Konzeption lauerte: „Natürlich haben die Sowjets den Hintergedanken, auf dem Weg über eine Neutralisierung ganz Deutschland einzusacken."50 Das Risiko erschien ihm tragbar angesichts des möglichen Gewinns: „Aber wir hätten unsere Leute aus der Ostzone bei uns, wir hätten eine Hauptstadt, die uns aus dem Provinzialismus herausreißen könnte."51 Augstein fand sich zunehmen damit ab, daß der von ihm gewünschte Weg zu einer Vereinigung nicht eingeschlagen wurde, ohne sich von den neutralistischen Vorstellungen explizit zu verabschieden. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Teilung legte er indes nicht zu den Akten. Sein Motto lautete auch in den achtziger Jahren: ,,[D]ie deutsche Frage fragt weiter". 52 2. Rechte Demokraten Michael Stürmer erklärte 1983, in der Verfassung sei nicht von Wiedervereinigung die Rede, sondern vom dem Auftrag, die deutsche Einheit zu vollenden. Dies sei eine „offene Formulierung". 53 Zwischen den Zeilen ließ sich aus diesen Worten eine Absage an das Ziel der deutschen Einheit ablesen. Im Jahre 1987 interpretierte Stürmer die Präambel des Grundgesetzes anders. Die Deutschen könnten sich dem Wiedervereinigungsauftrag des Grundgesetzes nicht entziehen, dürften aber auch nicht die weltpolitischen Bedingungen der deutschen Frage vergessen.54 Die Teilung Deutschlands sei nur durch die Entwicklung einer Rechts- und Friedensordnung für ganz Europa zu überwinden. 55 Auch wenn für ihn die „Wunde der Teilung" 56 blieb, plädierte Stürmer immer wieder gegen die Wahrnehmung der Bundesrepublik als „unvollständiges Fragment", als „Vorform" 57 eines vereinten Deutschland und für 49 Vgl. Ingolf Doler, Rudolf Augstein, die deutsche Frage und die Westbindung, in: Zitelmann/Weißmann/Großheim (Anm. 25), S. 195-214. 50 Jens Daniel (=Rudolf Augstein), Das Dilemma mit unserem Kanzler, in: Spiegel vom 26. September 1951, S. 23. 51 Ebd. 52 Rudolf Augstein, Wer brüllt, wer reckt, wer schläft?, in: Spiegel vom 2. Januar 1984, S.23. 53 Michael Stürmer, in: Körber-Stiftung (Hrsg.), Die deutsche Frage-neu gestellt, Hamburg 1983, S.51. 54 Vgl. ders., Änderung der Tagesordnung?, in: FAZ vom 28. März 1987. 55 Vgl. ders., Nation und Demokratie. Zur Substanz des deutschen Nationalbewußtseins, in: Politische Meinung 32 (1987), Nr. 230, S.27. Vgl. auch ders., Die deutsche Frage muß europäisiert bleiben. Vierzig Jahre nach Potsdam: Gibt es Lehren der Geschichte? (1985), in: Ders., Deutsche Fragen oder Die Suche nach der Staatsräson. Historisch-politische Kolumnen, München 1988, S. 171-175. 56 Ders., Nation (Anm. 165), S.27. 57 Ders., Die deutsche Frage stößt an harte Grenzen, in: Rheinischer Merkur vom 17. August 1985.

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ihre Anerkennung als „deutschen Kernstaat". 58 Das Zeitalter der Nationalstaaten war für ihn vorbei, und die Wiedererrichtung des „kleindeutschen Nationalstaats" könne nicht mehr das vorrangige Ziel sein. Die Westbindung sei wichtiger. 59 Deutschland könne einzig in „historischen Zeiträumen" wieder zur Einheit kommen. Über die Gestalt dieser Einheit lasse sich mit Sicherheit nur sagen, daß sie anders aussehen werde als die des verlorenen Nationalstaats und daß ihre Gestalt nicht allein und nicht einmal hauptsächlich von den Deutschen abhängen werde. 60 Auch Joachim Fest hielt eine „Wiedervereinigung im geschlossenen Staatsverband" für kaum vorstellbar und wollte „Phantasie und politischen Willen auf Zwischenformen" 61 gerichtet wissen. Ähnlich Stürmer galt ihm jede Bestrebung aussichtslos, „die nicht der Sicherung oder gar Verstärkung der Stabilität in den Weltverhältnissen" 62 diente. Eine Vereinigung beider deutscher Staaten hin zum Neutralismus lehnten Fest und Stürmer auf dieser Grundlage ebenso wie Hagen Schulze strikt ab. Die deutsche Einheit galt ihnen nur unter freiheitlich-westlichem Vorzeichen als wünschenswert.63 Auch Andreas Hillgruber forderte stets ein vereintes Deutschland, das eine freiheitlich-demokratische Grundordnung besitzen und in die europäische Gemeinschaft integriert sein sollte.64 Hillgrubers Position unterschied sich vor allem durch den Nachdruck der Forderungen nach deutscher Einheit, weniger durch ihren Inhalt von den Ausführungen Stürmers. Seiner Außenseiterposition bewußt stürzte er sich wiederholt auf Tagungen in Querelen mit Fachkollegen, die ihn zu Geduld und Vorsicht ermahnten.65 Doch auch Hillgruber war sich der Problematik der deutschen Situation bewußt. Die Verfechter eines geläuterten gesamtdeutschen „national-liberalen" Deutschlandkonzepts müßten sich stets der Last bewußt bleiben, die vom Deutschen Reich herrühre. Vor allem die Nachwirkungen des Nationalsozialismus seien 58

Ders., in: Klaus Weigelt (Hrsg.), Deutsche Frage und Westbindung, Melle 1986, S. 113. Vgl. ders., Mitten in Europa. Versuchung und Verdammnis der Deutschen (1985), in: Ders., Dissonanzen des Fortschritts. Essays über Geschichte und Politik in Deutschland, München/Zürich 1986, S.329f. 60 Vgl. ders., Die Erforderlichkeit des Unmöglichen: Aus der Geschichte lernen (1983), in: Ders. (Anm. 59), S.17. 61 Joachim Fest, Die deutsche Frage: Das offene Dilemma, in: Wolfgang Jäger/Werner Link (Hrsg.), Republik im Wandel 1974-1982. Die Ära Schmidt. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Bd.5/II, Stuttgart/Mannheim 1987, S.445. 62 Ebd. 63 Vgl. Hagen Schulze, Wir müssen eine neue glückliche Geschichte begründen (1986), in: Materialien zu Deutschlandfragen. Politiker und Wissenschaftler nehmen Stellung 1986/87, hrsg. von der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn 1988, S.379. 64 Vgl. Andreas Hillgruber, Westorientierung - Neutralitätsüberlegungen - gesamtdeutsches Bewußtsein, in: Henning Köhler (Hrsg.), Deutschland und der Westen, Berlin 1984, S. 162. 65 Vgl. u. a. die Tagungsbeschreibungen von Konrad Adam, Unruhige Deutsche. Eine Tagung zu Ehren Gordon Craigs in Berlin, in: FAZ vom 5. Dezember 1983; Peter Sobczyk, Zusammenfassung der Schlußdiskussion, in: Josef Becker/Andreas Hillgruber (Hrsg.), Die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert. Referate und Diskussionsbeiträge eines Augsburger Symposiums. 23. bis 25. September 1981, München 1983, S.443-457. 59

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bei den Nachbarn in Ost und West noch äußerst lebendig.66 Das Dilemma der deutschen Frage liege aber weder im Wollen oder Nichtwollen der Westdeutschen wie ihrer Nachbarn, sondern im nuklearen Patt der „Supermächte". Dies beruhte nach seiner Auffassung wesentlich auf der Teilung Europas und der Spaltung Deutschlands, „so daß eine größere Verschiebung der Machtsphären kaum möglich erscheint, ohne die große Kriegskatastrophe heraufzubeschwören, die alles vernichten würde". 67 Nur ein tiefgreifender Wandel einer der beiden „Supermächte" mache eine Veränderung vorstellbar. 68 Die Politik der Bundesrepublik müsse daher in einer Art „Doppelstrategie", vorerst ohne Erfolgschancen, auf die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts des ganzen deutschen Volkes und die Realisierung der Menschenrechte in der DDR drängen, ohne die Möglichkeiten zur Erreichung menschlicher Erleichterungen durch ein zu massives Auftreten gegenüber der DDR zu gefährden. 69 Das Fernziel sollte bei der Politik der kleinen Schritte nicht aus den Augen verloren werden. Für Bernhard Sutor war die deutsche Frage im Kern eine nach den Menschenrechten und nach Selbstbestimmung; sie gehe daher alle westlich-demokratischen Staaten an. Die deutsche Teilung sei Teil der Teilung Europas. Mit dieser Position schien Sutor die Nation in doppelter Weise relativiert: erstens durch das Ziel einer gemeinsamen europäischen Friedensordnung, zweitens durch das Ziel einer politischen Freiheitsordnung. Beide Werte hätten Vorrang vor der nationalen Einheit. 70 Für Joachim Fest bedeutete das Argument, die Idee eines vereinten Deutschlands sei angesichts des rasch verspielten deutschen Nationalstaats für immer verloren, 20 Millionen Ostdeutschen die Opferrolle zuzumuten. Es sei demgegenüber notwendig, am vermeintlich Unmöglichen festzuhalten. 71 Wolfgang Marienfeld hielt die Vertretung der Menschenrechte der Ostdeutschen und des Selbstbestimmungsrechts der Volker für eine zentrale Konsequenz aus der Vergangenheitsbewältigung. Wenn die Deutschen aus „negativem Nationalismus" heraus auf das Selbstbestimmungsrecht mit den Bestimmungsmerkmalen Liberalität, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verzichteten, bestehe die Gefahr, daß die Einheit Deutschlands ohne diese Merkmale verwirklicht würde. 72 66 Vgl. Andreas Hillgruber, Deutschland und die Deutschen - „Gescheiterte Großmacht" - gescheiterte Nation? (1984), in: Ders., Die Last der Nation. Fünf Beiträge über Deutschland und die Deutschen, Düsseldorf 1984, S.30. 67 Ebd., S.30f. 68 Vgl. ebd. 69 Vgl. ebd.; ders., Die deutsche Frage im Zeitalter der Weltkonflikte und der Ideologien (1917 bis 1986), in: Klaus Hildebrand (Hrsg.), Wem gehört die deutsche Geschichte? Deutschlands Weg vom alten Europa in die europäische Moderne, Köln 1987, S. 117 f. 70 Vgl. Bernhard Sutor, Der NS-Totalitarismus als Herausforderung für politische Bildung, in: Oesterle/Schiele (Anm.23), S. 113. 71 Vgl. Joachim Fest, Von der Unverlorenheit der deutschen Frage. Eine sechsbändige Geschichte der Deutschen und ihrer Nation weist auf ein altes Dilemma, in: FAZ vom 28. September 1982. 72 Vgl. Wolfgang Marienfeld, Der Historikerstreit, Hannover 1987, S.52.

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Angesichts einer „weltanschaulichen und nationalen Herausforderung durch die DDR, die als ,rotes Preußen4 immer vernehmlicher an die Tore der Bundesrepublik Deutschland" zu klopfen beginne, forderte auch Klaus Hildebrand „allein schon um des Überlebens willen" 73 , zwingend auf der Notwendigkeit einer Wiederherstellung des deutschen Nationalstaates im Zuge einer Lösung der europäischen Teilung zu bestehen. Wer Abschied von diesem Ziel nehme und der DDR die Initiative überlasse, opfere „erneut die Freiheit der Deutschen der Weltanschauung einer Diktatur". 74 Auch Andreas Hillgruber warnte vor Bemühungen der DDR, mittels eines positiveren Verhältnisses zur deutschen Nationalgeschichte den fortbestehenden gesamtdeutschen Anspruch geltend zu machen.75 Die DDR werde von ihren Historikern zu einer „»Durchgangsstation', zu einer Art deutschem ,Piémont', einem Kernstaat umgedeutet, der dereinst das Gesamterbe auch politisch übernehmen wird, wenn der »Sozialismus4 an die ,Tür' der Bundesrepublik »klopfen 4 werde". 76 Im Gegensatz zu Michael Stürmer wandte er sich daher gegen eine „Reduktion des Nationalbewußtseins der Westdeutschen auf die Bundesrepublik". 77 Dies hätte nach Einschätzung Hillgrubers nämlich die deutsche Frage langfristig der DDR zur Entscheidung überlassen, den Weg geöffnet, die Vereinigung der beiden deutschen Staaten im marxistisch-leninistischen Sinne voranzutreiben. 78 Aus dieser Sichtweise heraus forderte er, dieser Position eine vergleichbare der Bundesrepublik entgegenzustellen.79 Die deutsche Geschichte sollte nach seiner Auffassung als eine Entwicklung geschildert werden, die auf die „freiheitlich-demokratische Ordnung der Bundesrepublik hingelaufen ist, auf ein Gesamtdeutschland auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts, das es eines Tages zur Geltung zu bringen" 80 heiße. Diese Perspektive erschien Hillgruber keineswegs nur als historische, sondern auch als politisch notwendige.81 Dieser Blickwinkel wiederum wurde von Stürmer geteilt. Auch er hielt es nicht für eine Frage akademischen Interesses, sondern für eine Frage der geistigen Zukunft, ob die Prägung der politisch-sozialen Begriffe und die Identitätsstiftung der „leninistischen Parteidiktatur" überlassen bleibe.82 Es sei politisch höchst unklug, so Bernhard Sutor, den Wert der nationalen Einheit aufzugeben, weil die Nation dann künftig einem möglichen SED- oder DDR-Nationalismus überlassen würde. Die Folgen malte Sutor wie die anderen rechten Demokraten in

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Klaus Hildebrand, Umgang mit der Geschichte, in: trend vom 29. Dezember 1986, S.71. Ebd. 75 Vgl. Hillgruber (Anm. 69), S. 117. 76 Ebd. 77 Ebd. 78 Vgl. ebd., S. 118. 79 Vgl. ebd., S. 117. 80 Ebd. 81 Vgl. ders., Für die Forschung gibt es kein Frageverbot (Erstabdruck: Rheinischer Merkur vom 31. Oktober 1986), in: „Historikerstreit" (Anm.2), S.241. 82 Vgl. Michael Stürmer, Wem wird die deutsche Geschichte gehören? (1985), in: Ders. (Anm. 55), S.63. 74

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dunklen Farben.83 Für Hagen Schulze war in der Art der Geschichtsbemächtigung durch die DDR 1986 noch nicht die offensive Absicht erkennbar, auf lange Sicht die Legitimation für das ganze Deutschland zu beanspruchen. Versäume die Bundesrepublik es aber, sich eingehend mit der eigenen Geschichte zu beschäftigen, könne sie solchen, „im Augenblick noch hypothetischen Bestrebungen nichts Substantielles" 84 entgegensetzen. Die rechtsdemokratischen Forderungen nach einer Forcierung der Geschichtspolitik zielten gegen die DDR, nicht gegen linke Demokraten der Bundesrepublik. Nicht eingebunden in den Chor rechter Demokraten, der die Vereinigung forderte, waren Karl Dietrich Bracher und Ernst Nolte. Beide waren skeptisch, ob eine Vereinigung von Bundesrepublik und DDR angesichts der damit verbundenen Gefahren noch wünschenswert sei. Bezeichnenderweise wurden Bracher und Nolte auch deswegen lange der demokratischen Linken zugerechnet. Ende der sechziger Jahre hatte Karl Dietrich Bracher, der damals noch eher auf der demokratischen Linken als der demokratischen Rechten zu verorten war, gefordert, die illusionären, nationalstaatlichen Wiedervereinigungsthesen müßten hinter eine übernational orientierte Politik zurücktreten. 85 Der Grund für die „Hypothek der nationalen Teilung, unter der Deutschland - Ost und West - zu leben"86 habe, war für ihn der deutsche Sonderweg und die nationalsozialistische Katastrophe. Mitte der achtziger Jahre erschien Bracher dagegen eine nationalstaatliche Überwindung der Teilung „im Rahmen einer europäischen Lösung denkbar" 87, wenn sie der freiheitlich-demokratischen Verfassung den ersten Rang zuerkenne. Nolte bezeichnete die Teilung Deutschlands zwar als ein „Unrecht", aber eine Vereinigung, wenn sie auch nur die Möglichkeit einer gegen die Nachbarn gerichteten Entwicklung enthielte, galt ihm als ein noch größeres „Unrecht". 88 Die deutsche Nation geriete nach seiner Auffassung durch die Einheit erneut in eine tragische Lage. Sie sei dann wieder zu stark, um in Europa zu wohnen und zu schwach, um über Europa zu herrschen. 89 Selbst „Appelle an das Gewissen der Welt" zur Überwindung der Teilung Deutschlands erschienen ihm angesichts der „möglichen Selbstvernichtung der Menschheit im atomaren Zeitalter" als „unver83

Vgl. Sutor (Anm. 70), S. 113. Schulze (Anm. 63), S.376. 85 Vgl. Karl Dietrich Bracher, Die zweite Demokratie - Emanzipation vom gestern (1969), in: Ders., Das deutsche Dilemma. Leidenswege der politischen Emanzipation, München 1971, S.314. 86 Ders., Die deutsche Diktatur. Entstehung - Struktur und Folgen des Nationalsozialismus, Köln/Berlin 1976, S.544. 87 Ders., Betrachtungen zur Entwicklung des Staatsverständnisses in der Bundesrepublik Deutschland, in: Manfred Hättich (Hrsg.), Zum Staatsverständnis der Gegenwart, München 1987, S. 110. 88 Emst Nolte, Das geteilte Berlin und die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 32/87, S. 45. 89 Vgl. ebd. 84

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tretbar". Die Überwindung des ,,Schicksal[s] der Teilung" vermochte er sich nur als »Angliederung eines konsumhungrigen an einen konsumsatten Weltbezirk" 91 vorzustellen. Es sei gut, daß die deutsche Frage ruhe. 92 Riet Nolte mit diesen Worten zum Abfinden mit der deutschen Teilung, erklärte er im „Historikerstreit" in Abgrenzung zu Karl-Heinz Janßen, mit der Teilung des Vaterlands dürfe sich kein Deutscher abfinden, sofern er ein „Verfassungspatriot" sei.93 I I I . Positionen zur deutschen Einheit während des Zusammenbruchs des Kommunismus und danach 1. Linke Demokraten Jürgen Habermas wandte sich 1990 gegen eine auf die Vereinigung zusteuernde Politik, weil „eine kapitalistische Weichenbildung dem Experiment eines ,neuen Sozialismus', für das sich eine Mehrheit der Bevölkerung immerhin entscheiden könnte, das Wasser" 94 abgrabe. Er befürchtete, die Vereinigung könnte den „inneren Zustand der Bundesrepublik belasten" und eine „Polarisierung der Gefühle" 95 mit sich bringen. Es schien Habermas, als habe die Möglichkeit bestanden, „Schritte für eine Periode zu planen, in der die Eigenstaatlichkeit der DDR - auch nach einer vollzogenen Konföderation" - gewahrt geblieben wäre, „so daß sich der schwierige Prozeß der wirtschaftlichen Angleichung unter einem europäischen Dach" 96 vollzogen hätte. Schon die politische Klugheit lehre, daß eine „bloße Verschiebung des Wohlstandsgefälles von der Elbe an die Oder und Neiße den nationalistischen Argwohn der zurückbleibenden Nachbarstaaten auf das wiedervereinigte Deutschland lenken"97 müsse. Nur die europäische Alternative hätte nach seiner Auffassung eine „Bevormundung" der Ostdeutschen vermieden. Helmut Kohl habe sich dagegen zu einer „Strategie der unverhohlenen Destabilisierung und des schnellen Anschlusses der DDR" 98 entschlossen. Der wirtschaftliche „pausbäckige DM-Nationalismus" 90 Ders., Deutsche Identität nach Hitler (1985), in: Ders., Lehrstück oder Tragödie? Beiträge zur Interpretation des 20. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien 1991, S.210. 91 Ebd. 92 Vgl. ders., Europa und die deutsche Frage in historischer Perspektive, in: Jens Hacker/ Siegfried Mampel (Hrsg.), Europäische Integration und deutsche Frage, Berlin 1989, S.41. 93 Vgl. ders., Der sogenannte Historikerstreit: moralische Kampagne-politischer Konflikt wissenschaftliche Debatte, in: Ders., Das Vergehen der Vergangenheit. Antwort an meine Kritiker im sogenannten Historikerstreit, 2. erw. Auflage, Frankfurt a.M./Berlin 1988, S.43. 94 Jürgen Habermas, Die Stunde der nationalen Empfindung, in: Ders. (Anm. 25), S. 165. 95 Ebd., S. 162. 96 Ders., Nochmals: Zur Identität der Deutschen. Ein einig Volk von aufgebrachten Wirtschaftsbürgem?, in: Ders. (Anm. 25), S.211. Vgl. ders., Der DM-Nationalismus. Weshalb es richtig ist, die deutsche Einheit nach Artikel 146 zu vollziehen, also einen Volksentscheid über eine neue Verfassung anzustreben, in: Zeit vom 30. März 1990. 97 Ebd., S. 212. 98 Ebd.

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setzte nach Ansicht von Habermas den militärischen Nationalismus mit anderen Mitteln fort. Zwar sei die „Sprache der Stukas" schlimmer gewesen, aber obszön sei auch dieses deutsche „Muskelspiel".99 Forsch stellte der Sozialphilosoph damit die Vereinigungspolitik der demokratischen Regierung Kohl mit der Kriegsführung Hitlers auf eine Stufe. Weil auch Habermas einsehen mußte, daß der Gang zur nationalstaatlichen Einheit nicht mehr aufzuhalten war, widmete er sich der Frage, wie die Deutschen voranschreiten sollten. Eine Identifizierung mit den Grundsätzen und Institutionen der bundesdeutschen Verfassung verlangte seiner Auffassung nach eine Form des Vereinigungsprozesses, bei der das Selbstbestimmungsrecht der Bürger im Vordergrund stehe.100 Erforderlich sei eine demokratische Entscheidung über die Verfassung in beiden Teilen Deutschlands. Dieser Gründungsakt sei nicht auf dem Weg über Artikel 23 des Grundgesetzes mittels eines kollektiven Beitritts der ostdeutschen Länder herbeizuführen, sondern einzig über Artikel 146 mit einer neuen deutschen Staatsgründung.101 Auf dem Weg über Artikel 23 konnten nach Meinung von Habermas die ostdeutschen Bürger den Prozeß der Vereinigung nur „erleiden". 102 Noch 1991 klagte Habermas über „Defizite der deutschen Vereinigung". 103 Ähnlich wie der Sozialphilosoph bedauerte Hans Mommsen 1990, der starke Druck von westdeutscher Seite habe der DDR im Vereinigungsprozeß nicht genug Raum zur „Selbstklärung" gelassen. Er plädierte wie Habermas für eine Volksabstimmung über eine künftige Verfassung. Sie könne die Bestätigung der Verfassung durch das Volk nachholen, die 1949 bewußt unterlassen worden sei, um den Weg zur deutschen Einheit offenzuhalten. 104 War die Ansicht, die nationalsozialistischen Verbrechen stünden einer deutschen Vereinigung entgegen, vor 1989/90 Gemeingut linker Demokraten, so schmolz im Vereinigungsprozeß die Anhängerschaft dieser Deutung. Wenn die Karte auch nicht stach, so wurde sie doch von zahlreichen Einigungsgegnern ein letztes Mal gespielt. So forderte Günter Grass in einem Fernsehgespräch mit Rudolf Augstein, Auschwitz als die „große Schamschwelle"105 mitzudenken, wenn die Chance komme, 99

Ebd., S. 206. Vgl. ebd., S.216. 101 Vgl. ebd. 102 Ebd., S.218. 103 Ders., Die andere Zerstörung der Vernunft. Über die Defizite der deutschen Vereinigung und über die Rolle der intellektuellen Kritik, in: Zeit vom 10. Mai 1991. 104 Vgl. Weltmacht Deutschland? Gespräch mit Hans Mommsen über Nation, Nationalismus, die veränderte weltpolitische Rolle Deutschlands und die zukünftige Verfassung (Interview: Hans O. Hemmer), in: Gewerkschaftliche Monatshefte 41 (1990), S.662. 105 Günter Grass, in: Rudolf Augstein/ders., Deutschland einig Vaterland? Ein Streitgespräch, Göttingen 1990, S.55. Vgl. ders., Gegen meinen Willen setzt bei mir so eine Art Absonderung ein, in: NG/FH37 (1990), S. 702-710. Die Deutung vertrat auch Erich Kuby, Der Preis der Einheit. Ein deutsches Europa formt sein Gesicht, Hamburg 1990, S. 102. Noch 1991 bedauerte es Helmut Donat, daß die Appelle von Günter Grass wie Elie Wiesel, der noch schärfer als Grass die deutschen Verbrechen als Hindernis für eine deutsche Vereinigung deklarierte, 100

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Deutschland neu zu gestalten. Augstein erwiderte auf die Begründung der Notwendigkeit der Zweistaatlichkeit mit Auschwitz, das Argument habe in der praktischen Politik nichts mehr zu suchen, weil es „unsere Kinder gar nicht nachvollziehen"106 könnten. Die Position hatte auch bei sozialdemokratischen Intellektuellen stark an Boden verloren und konnte sich nicht mehr durchsetzen. Willy Brandt erklärte, die Schuld der deutschen Nation könne nicht durch eine zeitlos verordnete Spaltung getilgt werden. 107 Brandt warf sein gesamtes Renommee in die Waagschale, um die Partei auf den Kurs der Befürwortung einer Vereinigung zu bringen. Schwer tat sich mit diesem Weg u. a. der SPD-Kanzlerkandidat des Jahres 1990, Oskar Lafontaine. Die soziale Frage rangierte für ihn weit vor der nationalen, eine deutsche Vereinigung schien ihm überflüssig. 108 Ein anderes Argument von Günter Grass gegen die Vereinigung lautete: Wer bei Verstand sei, könne nicht zulassen, daß es durch die Deutschen abermals zu einer gefährlichen „Machtzusammenballung" in der Mitte Europas komme. Allen Beteuerungen der Deutschen zum Trotz wären sie wieder zum Fürchten. 109 Selbst das hysterischste Reagieren auf den deutschen Einheitswunsch habe seine Berechtigung. 110 Vorbehalte gegen die Größe des vereinigten Deutschlands hegte Eberhard Jäckel noch 1996. Es sei wie schon das Reich von 1871 bis 1945 der Staat mit der größten Bevölkerung in Europa. Er warnte vor dem Risiko eines neuen deutschen Vormachtstrebens. 111 Seine Befürchtung wurzelte in der Ansicht, die Deutschen hätten nichts aus der Geschichte gelernt. 112 Einzig die Einbindung Deutschlands in die Europäische Union erschien ihm geeignet, die Gefahr zu mindern. Jäckel stellte sich aber die Frage, ob die europäische Integration weitreichend genug sei.113 Eine Auflösung der Union erschien ihm möglich. Selbst wenn dies nicht eintrete, könne Deutschland der Versuchung erliegen, eigene Wege einzuschlagen oder eine Vormachtstellung in der Union anzustreben.114 auf taube Ohren gestoßen seien. Vgl. Helmut Donat, Vorbemerkung: Die Indienstnahme der Geschichte, in: Ders./Lothar Wieland (Hrsg.), »Auschwitz erst möglich gemacht?". Überlegungen zur jüngsten konservativen Geschichtsbewältigung, Bremen 1991, S. 14. 106 Rudolf Augstein, in: Ders./Grass (Anm. 105), S.55. 107 Willy Brandt paraphrasiert nach Gunter Hofmann, Deutsche Träume, deutsche Sorgen. SPD-Parteitag in Berlin. Die Sozialdemokratie zwischen Willy Brandt und Oskar Lafontaine, in: Zeit vom 22. Dezember 1989. 108

Vgl. Oskar Lafontaine, Deutsche Wahrheiten. Die nationale und die soziale Frage, Hamburg 1990. 109 Vgl. Günter Grass, Rede auf dem Parteitag der SPD in Berlin, 18. Dezember 1989, in: Ders., Deutscher Lastenausgleich. Wider das dumpfe Einheitsgebot - Reden und Gespräche, Frankfurt 1990, S . l l . 110 Vgl. Grass, in: Augstein/ders. (Anm. 105), S.57. 111 Vgl. Eberhard Jäckel, Das deutsche Jahrhundert. Eine historische Bilanz, Stuttgart 1996, S.351. 112 Vgl. ebd., S. 352. 113 Vgl. ebd., S. 353. 114 Vgl. ebd., S.354. Vgl. auch: ders. (Anm. 21), S.44.

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Winkler und Wehler, von denen vor der Vereinigung ähnliche Tone zu hören waren, hatten sich stillschweigend von dieser Position abgewandt. Hans Mommsen, der vor dem Zusammenbruch des Kommunismus in seiner Ablehnung des Wunsches nach deutscher Einheit noch weiter gegangen war als Jäckel, Winkler und Wehler, nannte es nun ein „Paradoxon", daß auf deutscher Seite häufig argumentiert werde, die Vereinigung und Vergrößerung Deutschlands rufe Aversionen der Westeuropäer und ehemaligen Gegner des Dritten Reiches hervor, während in allen Staaten Europas die Bevölkerung den Deutschen zur Wiedererlangung der Einheit gratuliere. Mommsen glaubte auch nicht, daß die Vereinigung die europäische Integration behindere, wenngleich sich das wirtschaftliche Gewicht der Bundesrepublik innerhalb der europäischen Gemeinschaft erhöhe und damit auch ihre Verantwortung. 115 Im Unterschied zu anderen sozialdemokratischen Intellektuellen begründete Mommsen seinen fundamentalen Meinungsumschwung von der Ablehnung zur Befürwortung der Vereinigung nicht. Im Lichte des Vereinigungsprozesses schwanden auch die düsteren Vorbehalte anderer demokratischer Linker gegen die deutsche Einheit und das Nationale. Am Beispiel Winklers zeigt sich paradetypisch der Prozeß des Umdenkens. Im August 1989 betonte Winkler noch einmal, am Beginn des Nachdenkens über die deutsche Frage müsse die Einsicht stehen, daß sich der „von Bismarck gegründete Nationalstaat selbst zerstört" 116 habe. Angesichts der labilen Lage der DDR forderte er „nicht mehr von der Wiedervereinigung Deutschlands [zu] reden, sondern etwas für die Freiheit der Deutschen in der DDR [zu] tun". 117 Wer die DDR als Staat in Frage stellte, bekam von Winkler den Vorwurf zu hören, er befestige das zu überwindende System.118 Anfang Februar 1990 sah er einen deutsch-deutschen Staatenbund als „Bewährungsprobe" an. Die Konföderation sollte sicherstellen, daß die DDR von der wirtschaftlich viel mächtigeren Bundesrepublik nicht überfahren werde. 119 Im September 1990 versuchte er seine Position der vorherigen Monate plausibel zu machen. Jene Leitartikel und Sonntagsreden, in denen die deutsche Einheit gefordert worden sei, hätten die Umwälzung in der DDR nicht gefördert, sondern eher verzögert. Bis zum Herbst 1989 hätte Honecker seine Reformblockade gegen Gorbatschow immer mit der Alternative „Wir oder die Wiedervereinigung" begründen können. Unter diesen Umständen habe alles dafür gesprochen, statt der Abschaffung der DDR die Schaffung demokratischer Verhältnisse in der DDR zu fordern. Seine frühere Argumentation erklärte er mit den Hoffnungen auf Reformkräfte in der DDR. Deren Rückhalt in der Bevölkerung sei jedoch geringer gewesen als an115

Vgl. Weltmacht Deutschland? (Anm. 214), S.656. Heinrich August Winkler, Die Mauer wegdenken. Was die Bundesrepublik für die Demokratisierung der DDR tun kann, in: Zeit vom 11. August 1989. 117 Ebd. 1,8 Vgl. ebd. 119 Vgl. ders., Der Staatenbund als Bewährungsprobe. Das erreichbare und angestrebte Maß an Einheit verträgt keinen Aufschub mehr, in: SZ vom 16. Februar 1990. 116

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genommen. Die Nichtintervention Moskaus in der DDR mache nun die Vereinigung der beiden deutschen Staaten möglich, der Wille der Deutschen in der DDR mache sie notwendig. Die deutsche Einheit käme jedoch nur zustande, weil die Weltmächte und Europa keine Wiederherstellung eines souveränen deutschen Nationalstaats traditioneller Art befürchten müßten. Das vereinte Deutschland werde genauso föderalistisch und multikulturell sein wie die Bundesrepublik. 120 Mit Blick auf seine früheren Deutungen zur deutschen Frage räumte Winkler 1992 ein: „Wahrscheinlich konnten wir mit der Teilung nur leben, weil wir uns immer wieder klargemacht haben, daß die Teilung auf deutsche Politik, auf deutsches Verschulden zurückgeht, jedenfalls in letzter Instanz."121 Skepsis gegenüber der Wiederherstellbarkeit eines souveränen deutschen Nationalstaats sei historisch legitimiert gewesen. Er und andere hätten das Konto aber überzogen, wenn sie daraus die Notwendigkeit einer immerwährenden Absage an den deutschen Nationalstaat abgeleitet hätten. Sein Fazit lautete nun: „Das war mit historischer Erfahrung so nicht zu begründen." 122 Auch die Bi-Nationalisierungsthese von Hans Mommsen, die dieser inzwischen freilich nicht mehr vertrat, erntete von ihm nun noch schärfere Kritik. Der Annahme habe eine falsche Sicht auf die DDR zugrunde gelegen. Der ostdeutsche Staat sei auch in Perioden relativer Entspannung der innenpolitischen Situation eine von der Bevölkerung nicht legitimierte Parteidiktatur geblieben.123 Nach Auffassung Jürgen Kockas sog die „Revolution" in der DDR ihre Kraft nicht aus dem Nationalen. Die Lage der DDR als einer von zwei deutschen Staaten und die Nichtakzeptanz der Zweistaatlichkeit durch die Bundesrepublik habe die ostdeutsche Revolution begünstigt. Ohne das bundesrepublikanische Staatsbürgerschaftsrecht, das die Aufnahme der DDR-Bürger vorschrieb, wären nach Kocka im Sommer 1989 die Massen nicht von Ost nach West gewandert. Die destabilisierende Wirkung nationaler Verbundenheit mit der Bundesrepublik habe die Schwäche der DDR-Opposition ausgeglichen.124 Im Juli 1990 sah Kocka die Vereinigung mit der Bundesrepublik und ihrem eingespielten parlamentarisch-demokratischen System als den besten Weg für die Bevölkerung der DDR, um die „zerstörerische Bürde von vielen Jahrzehnten Diktatur zu überwinden und wichtige demokratisch-liberale Errungenschaften ihrer Revolution zu sichern". 125 Die friedliche Ausdehnung des de120 Vgl. ders., Der unverhoffte Nationalstaat. Deutsche Einheit: Die Vorzeichen sind günstiger als 1871, in: Zeit vom 28. September 1990. 121 Ders., Abschied von einem deutschen Sonderweg. Wider die postnationale Nostalgie, in: NG/FH40 (1993), S.364. 122 Ebd. 123 Vgl. ders., Nationalismus, Nationalstaat und nationale Frage in Deutschland seit 1945, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 40/91, S. 17 f. 124 Vgl. Jürgen Kocka, Umbrüche - aber ohne utopische Ideen. Die Sogkraft des Nationalen und der Beitrag der Bundesrepublik zur Revolution in der DDR, in: FR vom 11. Juli 1990. 123 Ebd.

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mokratischen Systems auf den diktatorisch regierten Teil Deutschlands war für ihn viel wichtiger als die Wiederherstellung des deutschen Nationalstaats.126 Im Unterschied zu Habermas hielt Kocka eine selbständige DDR wegen des Fehlens eines praktikablen Modells des demokratischen Sozialismus für problematisch. 127 Schienen Habermas die Ostdeutschen vom Westen aus über den Tisch der Einheit gezogen zu werden, so ging für Kocka die Vereinigungsdynamik von den DDR-Bürgern aus.128 Das Zusammenbrechen der Vorbehalte gegen die Vereinigung bei westdeutschen demokratischen Linken begründete Kocka damit, daß zum ersten Mal in der deutschen Geschichte nationale Einheit, freiheitliche Demokratisierung und Friedenswahrung nicht mehr im Gegensatz zueinander stünden.129 Wolfgang J. Mommsen verneinte ebenfalls eine Kontinuität vom Kaiserreich über Weimar bis zum Vereinigungsprozeß. Das vereinte Deutschland sei im Grunde ein „neuer" deutscher Staat, der durch das Selbstbestimmungsrecht der Bürger in Ost und West zustandekomme. Es müsse sich als Produkt der Zeit nach 1945 verstehen und nicht als „Wiederherstellung des deutschen Nationalstaats".130 Pragmatisch erklärte Wehler im Rückblick, wo sich einmal eine Nation herausgebildet habe, sei eine Spaltung in der Tat anormal. Insofern sei die Überwindung der deutschen Spaltung ein Stück Wiedergewinnung von „Normalität". 131 Vage Gedanken über eine mögliche Vereinigung Deutschlands machte sich Rudolf Augstein bereits im September 1989. Er erinnerte an die Präambel des Grundgesetzes, die eine Rechtspflicht für die Verfassungsorgane beinhalte. Niemand wisse, wie es mit dem Ostblock weitergehe; breche dieser aber zusammen, so sei die Staatsräson der DDR hinfällig. 132 Bereits zwei Wochen später hielt er den Wettbewerb des östlichen und westlichen Systems für entschieden. Die DDR-Regierung sei unter demokratischen Bedingungen chancenlos.133 Im „Spiegel" war Augsteins frühe und vehemente Parteinahme für die Vereinigung von Bundesrepublik und DDR umstritten. So wollte der damalige Chefredakteur Erich Böhme „nicht wieder126 Vgl. ders., Nur keinen neuen Sonderweg. Jedes Stück Entwestlichung wäre als Preis für die deutsche Einheit zu hoch, in: Zeit vom 19. Oktober 1990. 127 Vgl. ders. (Anm. 124). 128 Vgl. ders. (Anm. 126). 129 Vgl. ders., Der neue Nationalstaat. Suche nach der neuen Identität, in: Wirtschaftswoche vom 12. Februar 1991, S.281. 130 „Die Deutschen haben einiges dazugelernt". Vor dem 38. Historikertag im Bochum: Der Vorsitzende Wolfgang J. Mommsen über die Zukunft seiner Zunft, in: Welt vom 25. September 1990. 131 Hans-Ulrich Wehler, Wider die falschen Apostel. Der Verfassungs- und Sozialstaat schafft Loyalität und Staatsbürgerstolz, in: Zeit vom 9. November 1990. 132 Vgl. Rudolf Augstein, Eine Löwin namens Einheit, in: Spiegel vom 18. September 1989, S. 15. 133 Vgl. ders., Lösung wie in Wien?, in: Spiegel vom 2. Oktober 1989, S.20. Augstein bekräftigte seine Auffassungen in folgendem Artikel. Vgl. ders., Die deutschen Probleme, in: Spiegel vom 16. Oktober 1989, S.20.

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vereinigt werden". In seiner Antwort an Böhme bezeichnete sich Augstein als Nationalist wie etwa François Mitterand und Margaret Thatcher. Von seiner Warte aus gab es keinen Grund, die Teilung aufrechtzuerhalten. 135 Das Ausland habe kein Mitbestimmungsrecht über die Organisation des künftigen Zusammenlebens der Ostund Westdeutschen. Dies sei eine ausschließlich deutsche Angelegenheit.136 Das grün-alternative Milieu tat sich schwer mit der Vereinigung. So entschloß sich der Bundeshauptausschuß der Grünen erst am 18. Februar 1990 zu einer Aktualisierung seiner deutschlandpolitischen Positionen hin zur Befürwortung einer Konföderation. Zuvor hatten grüne Intellektuelle - zuletzt sehr einsam - die ablehnende linksdemokratische Position aus der Zeit vor dem Vereinigungsprozeß beibehalten. Auch Joschka Fischer erkannte erst im Februar 1990 pragmatisch in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung" an, daß der Kurs der Vereinigung von Bundesrepublik und DDR nicht mehr aufzuhalten sei. 137 Noch bis weit ins Jahr 1990 stieß die Vereinigung unter alternativen Intellektuellen allerdings auf heftige Ablehnung. Joachim Perels sah im Zuge der Vereinigung einen „neuen großdeutschen Nationalismus"138 am Werk. Micha Brumlik hielt es wiederum für falsch, die Willensbekundungen der DDR-Bürger zu berücksichtigen. Wer mit guten Gründen der Auffassung sei, die Bürger der DDR würden ihre wahren Interessen verkennen, der müsse ihren Willen zur Einheit nicht respektieren. Unter ideologiekritischen, sozialund sicherheitspolitischen Kriterien spreche so gut wie alles dafür, an der deutschen Zweistaatlichkeit festzuhalten, denn die Einheit führe in der Bundesrepublik zu Inflationsschüben und in der DDR zu Arbeitslosigkeit. 139 Brumlik, Anhänger einer Partei, die das Prinzip der Basisdemokratie hochhielt, forderte somit das basisdemokratische Votum der DDR-Bürger für die deutsche Einheit zu mißachten, weil es nicht deren „wahren Interessen" entspreche. Diese Haltung zeigt ein problematisches Demokratieverständnis. 2. Rechte Demokraten Noch Ende 1989 hielt Michael Stürmer die Absicherung der Westbindung für vordringlicher als ein Vorantreiben der Vereinigung beider deutscher Staaten.140 Hinter der Unruhe jener Leute, die eine sofortige Herstellung deutscher Einheit for134

Erich Böhme, Die Gelegenheit ist günstig, in: Spiegel vom 30. Oktober 1989, S.20. Vgl. Rudolf Augstein, Meinungen, ein wenig verschieden, in: Spiegel vom 6. November 1989, S.22. 136 Vgl. Ders., 20 Millionen zuviel, in: Spiegel vom 27. November 1989, S. 16. 137 Vgl. Joschka Fischer, „Die Frage wird heißen: Welche Vereinigung?" SZ-Interview mit Joschka Fischer, in: SZ vom 24./25. Februar 1990. 138 Joachim Perels, Was tun gegen den neuen deutschen Nationalismus, in: Vorgänge 29 (1990), Heft 1, S.4f. 139 Vgl. Micha Brumlik, Verfassungsgebungspatriotismus. Grundsätzliches zu einer imaginären Debatte, in: Blätter für deutsche und internationale Politk 35 (1990), S. 702 f. 140 Vgl. Michael Stürmer, Die Deutschen in Europa, in: Europa-Archiv 44 (1989), S.732. 133

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derten, verberge sich in der Regel die Unkenntnis der Realitäten und ihrer Wirkungen. 141 Beklagte Stürmer die Erregtheit im eigenen Lager, so Joachim Fest das Schweigen der intellektuellen Wortführer auf der Linken. 142 Die Klage wirkt etwas ungerecht, weil der Vereinigungsprozeß für das gesamte politische Spektrum überraschend kam. Zudem hatten sich zum Zeitpunkt der Publikation des Artikels Winkler und andere linke Demokraten bereits mehrfach zu Wort gemeldet und zum Teil Bereitschaft zum Umdenken signalisiert. Umgekehrt taten sich einige rechte Demokraten wie Stürmer ebenfalls schwer, sich von ihrem Glauben an die Nichtrealisierbarkeit der deutschen Einheit zu verabschieden. Anfang 1990 sah Karl Dietrich Bracher die Entwicklung bereits an der Konföderation als Lösung der deutschen Frage vorbeigelaufen. Zwar habe der europäische Binnenmarkt und die politische Union weiterhin Priorität, aber die Lösung der deutschen Frage sei den Deutschen aus Gründen der Solidarität mit den Ostdeutschen wie der VerfassungsVerpflichtung zugewachsen.143 Ein Jahr später galt Bracher, der in früheren Jahren eine deutsche Vereinigung abgelehnt hatte, die deutsche Einheit als „Kernstück der Überwindung der Teilung Europas, auch in der weltpolitischen Auswirkung 4 '. 144 Es drohe keine Gefahr eines neuen deutschen Nationalismus durch die Vereinigung. Die Parolen bei den Demonstrationen im Osten seien menschenrechtlich und ökonomisch begründet gewesen.145 Die ausschlaggebende Lehre von 1989/90 war für Bracher nicht die Wiederherstellung des deutschen Nationalstaats, sondern die Beseitigung eines totalitären Regimes.146 Strikt gegen die Ansichten von Habermas und Grass stellte sich Thomas Nipperdey. Die Auffassung, die „Verbrechen Hitlers" hätten die Möglichkeit einer deutschen Nation für alle Zeiten verwirkt, sei eine unvernünftige „Weltgerichts-Mythologie". 147 Die Deutschen wollten und dürften eine Nation sein, dies mindere ihre Verantwortung für die Vergangenheit nicht. Das einige Deutschland werde außerdem durch seine Einbettung in das Netz eines geeinten Europas kein souveräner Nationalstaat.148 Für Christian Meier bot sich Anfang 1990 für die DDR die Vereinigung mit der Bundesrepublik nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch aus na141

Vgl. ebd. Vgl. Joachim Fest, Schweigende Wortführer. Überlegungen zu einer Revolution ohne Vorbild, in: FAZ vom 30. Dezember 1989. 143 Vgl. Karl Dietrich Bracher, Der deutsche Einheitsstaat: ein Imperativ der Geschichte? (Interview), in: Basler Zeitung vom 17. Februar 1990. 144 Ders., Zeitgeschichtliche Anmerkungen zum „Zeitenbruch" von 1989/90, in: NZZ vom 20. Januar 1991. 145 Vgl. ders. (Anm. 143). 146 Vgl. ders., in: Materialien der Enquete-Kommision .Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Bd. IX: Zwei Diktaturen in Deutschland, hrsg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden/ Frankfurt a.M. 1995, S. 689. 147 Thomas Nipperdey, Die Deutschen wollen und dürfen eine Nation sein, in: FAZ vom 13. Juli 1990. 148 Vgl. ebd. 142

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tionalen Gründen an. Gegen das Argument der Überlebtheit der Nationalstaatlichkeit spreche die weltweite Fortexistenz von Nationalstaaten. Auch eine geschichtliche Begründung, warum speziell den Deutschen der Nationalstaat versagt bleiben solle, trage nicht. Die Deutschen hätten inzwischen viel gelernt. Unter den Beschüß Meiers geriet vor allem Habermas mit seiner Befürchtung, ein „DM-Nationalismus" setze den militärischen mit anderen Mitteln fort. Wenn Habermas die wirtschaftliche Machtentfaltung Deutschlands für obszön halte, so zeuge das nicht nur von einem Mangel an ökonomischen Kenntnissen, sondern auch von der Verkennung der Bedürfnisse und Wünsche der Ostdeutschen. Für die Herstellung eines deutschen Nationalstaats spreche vor allem das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen. Aus der gemeinsamen Sprache, Geschichte und historischen Verantwortung ergebe sich ein „Gebot zur nationalen Solidarität" 149 mit den Ostdeutschen.

IV. Vergleich Auf dem Deutungsfeld „deutsche Einheit" zeigte sich vor dem Zusammenbruch des Kommunismus eine klare Frontstellung zwischen links- und rechtsdemokratischen Intellektuellen. Vereinfacht gesprochen: Linke Demokraten hielten die deutsche Einheit für nicht wünschenswert, während sie auf dem Wunschzettel rechter Demokraten - wenn auch selten an erster Stelle - zu finden war. Fühlte sich die Mehrheit rechtsdemokratischer Intellektueller an das Gebot der Präambel des Grundgesetzes zur Wiederherstellung der deutschen Einheit gebunden, haderte die Mehrheit linker Demokraten mit dieser Zielvorgabe. Karl Dietrich Brachers Aussagen gegen die Wünschbarkeit einer Vereinigung beider deutscher Staaten sind keine Widerlegung, sondern eine Bestätigung der (relativen) Eindeutigkeit der Frontlinie. Gegen die Vereinigung sprach er sich nämlich aus, als er noch dem linksdemokratischen Spektrum zuzuordnen war. Sein politischer Richtungswechsel ging einher mit einem Auffassungswandel in der deutschen Frage. Schwieriger zu bewerten ist der Fall Ernst Nolte. Wie ist es zu erklären, daß er noch 1985 die Forderung nach deutscher Einheit „unvertretbar" 150 nannte, während er sie im „Historikerstreit" zur Pflicht der deutschen Verfassungspatrioten ausrief 51? Wahrscheinlich trugen die Anfeindungen durch linke Demokraten wesentlich dazu bei, daß sich der vor der Kontroverse politisch nur schwer zu verortende Historiker die rechtsdemokratische Mehrheitsmeinung auf diesem Deutungsfeld aneignete. Das rechtsdemokratische Lager wies auf diesem Deutungsfeld trotz des Sonderfalls Nolte ein hohes Maß an Homogenität auf. Das Urteil gilt im Kern auch für das linksdemokratische Lager. Sowohl sozialdemokratische Intellektuelle als auch die Anhänger der antinationalen Mehrheitsströmung des grün-alternativen Spektrums lehnten das Ziel einer deut149

Christian Meier, Die deutsche Einheit als Herausforderung. Beide Seiten könnten und sollten voneinander lernen, in: FAZ vom 24. April 1990. 150 Nolte (Anm. 90), S.210. 151 Vgl. ders. (Anm. 93), S.43.

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sehen Vereinigung ab. Neben dem Querdenker Rudolf Augstein scherte auch die häufig in ihrer Bedeutung überschätzte - nationale Linke aus der Rechts-LinksFront aus. Die Kräfteverhältnisse fielen auf diesem Deutungsfeld zugunsten der Gegner einer deutschen Einheit aus. Die entgegengesetzte Ausgestaltung der vorherrschenden Meinung zur deutschen Frage im links- und rechtsdemokratischen Spektrum wurzelte zum Teil in einer unterschiedlichen Wahrnehmung der Gründe für die deutsche Teilung. Deuteten linke Demokraten die Teilung als Folge des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen, galt sie rechten Demokraten als Folge des Kalten Krieges. Die rechtsdemokratische Auffassung war in dieser Frage plausibler als die linksdemokratische. Der vom Nationalsozialismus vom Zaun gebrochene Zweite Weltkrieg war eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für die deutsche Teilung. Zu dieser kam es erst durch die wachsenden Spannungen zwischen den westlichen Alliierten und der Sowjetunion. Folgerten rechte Demokraten aus ihrer Beantwortung der Frage, wie es zur Teilung kam, die deutsche Teilung sei nur durch das - unabsehbare - Ende des Kalten Krieges zu überwinden, erschien linken Demokraten die deutsche Teilung als gerechte Strafe für das Führen zweier Weltkriege und die nationalsozialistischen Verbrechen. Ein Vorreiter dieser Ansicht war Heinrich August Winkler. Diese geschichtspolitische Argumentation 152 war insofern paradox, als Winkler forderte, die Deutschen sollten aus der Geschichte die Lehre ziehen, auf einen Nationalstaat zu verzichten, gleichzeitig aber unterstellte, die Deutschen seien unfähig, aus der Geschichte zu lernen, und ein deutscher Nationalstaat sei deswegen gefährlich. Erst nach der deutschen Einheit wurde Winkler dieser Bruch in der eigenen Argumentation bewußt. Linksdemokratische Gegner der deutschen Einheit suggerierten, ein vereintes Deutschland würde dem Bismarckschen Nationalstaat gleichen, obwohl die rechtsdemokratischen Befürworter der Einheit bis auf unbedeutende Ausnahmen stets auf ein in das westliche Bündnis eingebettetes, vereintes Deutschland zielten. Rechte Demokraten wie Stürmer betonten eigens, ein vereintes Deutschland dürfe nicht dem ehemaligen Nationalstaat gleichen.153 Linke Demokraten trugen in dieser Hinsicht einen Geisterkampf aus. Zudem ist kaum nachvollziehbar, wieso die deutsche Teilung als Strafe für »Auschwitz" angesehen wurde. Ware ein geeintes, dem Ostblock zugehöriges Deutschland nicht die größere „Strafe" gewesen? Der Geschichtsprozeß ist kein Gerichtsprozeß. Der „Kalte Krieg" teilte nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa. Das vom Dritten Reich Überfallene und geschundene 152

Vgl. zur Verbreitung dieses Arguments bis in die Parteispitze der SPD hinein: Sören Roos, Das Wiedervereinigungsgebot des deutschen Grundgesetzes in der deutschen Kritik zwischen 1982 und 1989, Berlin 1996, S.321-351. 153 Vgl. Stürmer (Anm. 59), S. 329 f. So stellte auch Ludolf Hertmann angesichts der linksdemokratischen Deutung die rhetorische Frage: „Wer will schon das 19. Jahrhundert restaurieren?" Ludolf Herrmann, Geschäfte im Wartesaal zur Einheit, in: Rheinischer Merkur vom 21. September 1985. Vgl. auch: Marienfeld (Anm.72), S.51.

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Polen hatte nach dem Zweiten Weltkrieg gewiß keine „Strafe" verdient. War das von Polen gezogene Los aber besser als jenes Deutschlands? Unterhalb der Oberfläche der Ablehnung der deutschen Einheit bestanden bedeutsame Unterschiede zwischen jenen sozialdemokratischen Intellektuellen, die wie Winkler eine besondere Verpflichtung der Bundesdeutschen gegenüber der DDR anerkannten, und jenen, seltener vorkommenden, die diese wie Hans Mommsen bestritten, weil inzwischen von zwei deutschen Nationen auszugehen sei. Hatte Mommsens These der Bi-Nationalisierung Deutschlands unter sozialdemokratischen Intellektuellen und Politikern einen geringeren Einfluß als die Haltung Winklers, so wirkte die Auffassung, beide deutsche Staaten seien unverbundene Nationen, ins grün-alternative Milieu hinein. Die Folgerung aus der These wirkt wie der Ausfluß eines westdeutschen Egoismus. Indem die DDR zu einer anderen Nation erklärt wurde, kündigten die Anhänger dieser Deutung die Solidaritätspflicht gegenüber den Bürgern der DDR, auf deren Schultern nach dem Zweiten Weltkrieg die schwerere Last ruhte. Die Vorbehalte gegen eine geeinte deutsche Nation waren so groß, daß selbst der sozialdemokratische Grundwert der Solidarität aufgegeben werden sollte. Der auf den ersten Blick fundamental anmutende Unterschied zwischen der vorherrschenden Deutung im links- und rechtsdemokratischen Lager relativiert sich insofern etwas, als rechte Demokraten zwar rhetorisch das (Fern-)Ziel einer deutschen Vereinigung beschworen, aber keine konkreten politischen Schritte in diese Richtung forderten oder förderten. Der Glaube an die Verwirklichungsmöglichkeit der deutschen Einheit unter demokratischer Flagge fiel in den achtziger Jahren unter rechten Demokraten deutlich geringer aus als in den vorangegangenen Jahrzehnten. Die Mehrheit des rechtsdemokratischen Spektrums scheint in den achtziger Jahren unweit der Schwelle zur Aufgabe des Einheitsziels gestanden zu haben. Die Vision war weniger ein vereinter deutscher Nationalstaat, sondern vielmehr ein geeintes West- und Osteuropa, unter dessen Dach sich auch die beiden deutschen Staaten finden sollten. Vor dem Hintergrund der Zweifel an den Chancen auf eine deutsche Vereinigung stuften rechte Demokraten wie Stürmer diesen Wert gegenüber der Westbindung ab. Ein wesentlicher Grund, warum das Pochen vieler rechter Demokraten auf die Zielbestimmung deutscher Einheit in den achtziger Jahren leiser wurde, lag in der Ansicht, die Bundesrepublik dürfe nicht länger als „Provisorium" verstanden werden. In der Bejahung der Selbstanerkennung der Bundesrepublik und der Absage an den Provisoriumscharakter der Bundesrepublik stimmten links- und rechtsdemokratische Intellektuelle überein. 154 Eine Ausnahme war Andreas Hillgruber. Im Mittelpunkt der rechtsdemokratischen Argumentation stand nicht das Beharren auf nationaler Einheit, sondern das Selbstbestimmungsrecht der DDR-Bürger, das Recht auf demokratische Freiheiten. Diese Forderung nach Demokratie für die DDR teilten auch linksdemokratische Intellektuelle (u.a. Wehler, Winkler). Ei154

Vgl. Wilfried von Bredow, Deutschland - ein Provisorium?, Berlin 1985.

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nig war sich die Mehrheit links- und rechtsdemokratischer Intellektueller auch in der Forderung nach einer Deutschlandpolitik, die menschliche Erleichterungen für die DDR-Bürger bringen sollte. Neben der grundlegenden Differenz gab es noch weitere bedeutsame Übereinstimmungen zwischen der Mehrheit der links- und rechtsdemokratischen Teilnehmer des „Historikerstreits" auf diesem Deutungsfeld. Beide Seiten waren sich einig, daß sich die deutsche Frage nur noch auf das Gebiet der Bundesrepublik und der DDR bezog. Die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze wurde von Demokraten nicht in Frage gestellt. Eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen linken und rechten Demokraten bestand auch darin, daß sie eine deutsche Vereinigung gleichermaßen für unrealistisch hielten. Auch die rechtsdemokratischen Intellektuellen waren dem ,,diskrete[n] Charme des Status quo" 155 erlegen. Gegenüber den fünfziger und sechziger Jahren hatte sowohl bei linksdemokratischen als auch bei rechtsdemokratischen Intellektuellen wie Politikern das Interesse an der deutschen Frage nachgelassen, darüber kann die (Pseudo-)Aktualisierung der deutschen Frage durch einige Publizisten wie Herbert Ammon, Peter Brandt und Wolfgang Venohr Anfang der achtziger Jahre nicht hinwegtäuschen.156 Die problematische Idee eines „dritten Weges", einer nationalneutralistischen Antwort auf die deutsche Frage, erfuhr zwar einen gewissen Aufschwung, fand aber unter Demokraten kaum Anhänger. 157 War das Nationale unter linksdemokratischen Intellektuellen verpönt, so war es auch keineswegs die Antriebskraft der rechtsdemokratischen. Die Werte Freiheit und Demokratie rangierten für rechte Demokraten ebenso wie für linke vor dem Wert Nation. Zum Konsens der Mehrheit des links- wie rechtsdemokratischen Spektrums zählte allerdings noch immer der Glaube an eine nationale und/oder kulturelle Zusammengehörigkeit der Ost- und Westdeutschen. Hätte die Teilung Deutschlands angedauert, wäre die Abkehr von diesem Konsens (u. a. von Hans Mommsen, Kurt Sontheimer) wohl auf zunehmend breiterer Front erfolgt. Die Entwicklung auf der Deutungsebene der politischen Kultur der Bundesrepublik hätte sich damit der von der SED propagierten Zwei-Nationen-These angenähert.158 155 Vgl. Klaus Schroeder/Jochen Staadt, Der diskrete Charme des Status quo. DDR-Forschung in der Ära der Entspannungspolitik, Berlin 1992. 156 Vgl. Eckhard Jesse, Die (Pseudo-) Aktualität der deutschen Frage - ein publizistisches, kein politisches Phänomen, in: Wolfgang Michalka (Hrsg.), Die deutsche Frage in der Weltpolitik, Wiesbaden 1986, S. 51-68. 157 Vgl. ders., Der „dritte Weg" in der deutschen Frage. Über die Aktualität, Problematik und Randständigkeit einer deutschlandpolitischen Position, in: Deutschland Archiv 22 (1989), S. 543-558; ders., Der „dritte Weg" vor und nach der Wiedervereinigung, in: Zitelmann/Weißmann/Großheim (Anm. 25), S. 215-241; Helmut L. Müller, Der „dritte Weg" als deutsche Gesellschaftsidee, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 27/84, S. 27-38. Mit Blick auf die Nationalneutralisten ist allerdings zwischen systemtreuen Neutralisten, die den demokratischen Verfassungsstaat befürworten, und „Dritte-Wegs-Neutralisten" zu unterscheiden. Vgl. zu dieser Unterscheidung: Gallus (Anm. 41), S. 630-635. 158 Vgl. Roland W. Schweizer, Die Zwei-Nationen-These der SED, in: Politik und Kultur 12 (1985), S. 24-33.

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Linke wie rechte Demokraten waren unter keinen Umständen bereit, Abstriche an der demokratischen Regierungsform der Bundesrepublik Deutschland als Preis für ein deutsche Vereinigung hinzunehmen. Auch die außenpolitische Westbindung stand nicht zur Disposition. Die große Mehrheit linker wie rechter Demokraten bekämpfte nationalneutralistische Pläne - von links und rechts - für eine deutschen Vereinigung. Rudolf Augstein und die Vertreter der nationalen Linken, die mit neutralistischen Antworten auf die deutsche Frage symphatisierten, hatten im demokratischen Spektrum eine Außenseiterposition inne. Rechte Demokraten sahen sich auf diesem Deutungsfeld im Unterschied zu linken Demokraten auch in einer Konkurrenzsituation zu den offiziellen Deutungen der DDR. Ihre kämpferische Frage „Wem gehört die deutsche Geschichte?" stand in auffallendem Gegensatz zu der sozialdemokratischen Deutung, welche die Bundesrepublik und die DDR gleichermaßen zu „Erben deutscher Geschichte"159 erklärte. Angesichts des „Griffs nach der deutschen Geschichte"160 durch die DDR sahen sich rechte Demokraten herausgefordert. Der Umfang und die Erfolgsmöglichkeit ostdeutscher Geschichtspolitik wurde von zahlreichen rechtsdemokratischen Intellektuellen überschätzt. Das Schreckgespenst eines vereinten Deutschlands unter kommunistischen Vorzeichen, u. a. von Hildebrand und Hillgruber an die Wand gemalt, war unrealistisch. Die DDR hatte auf die Bundesbürger nie eine sonderlich hohe Anziehungskraft. Von einigen rechten Demokraten wurde die Gefahr einer Vereinigung unter kommunistischem Vorzeichen wohl auch bewußt überzeichnet, um vor allem das eigene Lager zu einem verstärkten Engagement in der deutschen Frage zu bewegen. Das Schreckbild ostdeutscher Geschichtspolitik diente zugleich als Vorbild für die geforderte westdeutsche Geschichtspolitik. Sie sollte als Waffe im Kampf um eine Vereinigung unter demokratischer Flagge dienen. Die Strategie rechter Demokraten zielte vor allem auf die Bevölkerung der Bundesrepublik. Ziel war es, sie durch ein alternatives Identitätsangebot zur DDR resistent gegen deren Verlockungen zu machen. Von dem Versuch, DDR-Bürger mit diesem Identitätsangebot locken zu wollen, war nicht die Rede, obgleich dieses Ziel wegen der Perzeption einer Konkurrenzsituation zwischen Bundesrepublik und DDR naheliegend gewesen wäre. Anscheinend sahen rechte Demokraten die Möglichkeiten zur Beeinflussung der DDR-Bevölkerung vom Westen aus als gering an. Um der Erinnerung an die gemeinsame deutsche Nationalgeschichte willen hätte rechten Demokraten die Geschichtspolitik der DDR allerdings im Grunde durchaus lieb sein können. Die Berufung auf die deutsche Geschichte war - entgegen der Intention der SED - geeignet, das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl der Ostdeutschen mit den Westdeutschen zu stärken. Die Antwort auf die Frage rechter Demokraten „Wem gehört die deutsche Geschichte?" konnte nur lauten: den Deutschen in Ost und West. Ein 159 Vgl. Susanne Miller/Malte Ristau (Hrsg.), Erben deutscher Geschichte. DDR-BRD: Protokolle einer historischen Begegnung, Reinbek bei Hamburg 1988. 160 Vgl. Eberhard Kuhrt/Henning von Löwis, Griff nach der deutschen Geschichte. Erbaneignung und Traditionspflege in der DDR, Paderborn u. a. 1988.

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bundesrepublikanischer Exklusivanspruch auf die deutsche Geschichte war ebenso unangebracht wie einer der DDR. Die Interaktionen zwischen linken und rechten Demokraten auf dem Feld „deutsche Einheit" waren rege. Meist wurde das andere Lager attackiert, selten erfolgte eine sachliche Auseinandersetzung. Kritisierten linke Demokraten, die Betonung des Ziels der deutschen Einheit verunsichere die Nachbarn und belaste vor allem die Beziehungen zu den sozialistischen Staaten, so galt rechten Demokraten die Aufgabe des Ziels der deutschen Einheit als unverständlich und in gewisser Hinsicht als eine Art Verrat an den DDR-Bürgern. Beide Seiten versuchten ihre Position zu immunisieren, die gegnerische dagegen zu tabuisieren, indem sie als politisch gefährlich gebrandmarkt wurde. Die Aussagen rechter Demokraten waren nicht weniger alarmistisch als jene linker. So stilisierte Klaus Hildebrand die Befürwortung der deutschen Einheit zur Frage des „Überlebens". 161 Beide Seiten versuchten mittels Horrorszenarien die eigene Position als einzig legitime zu immunisieren, die gegnerische Deutung zu tabuisieren. Malten linke Demokraten das Schreckbild eines vereinten nationalistischen Deutschlands an die Wand, so rechte Demokraten jenes eines vereinten kommunistischen Deutschlands. Die Notwendigkeit einer Befürwortung der deutschen Einheit wurde von rechten Demokraten im „Historikerstreit" aus einer Konkurrenzsituation mit der DDR abgeleitet. Die Perzeption der Haltung der DDR zur deutschen Frage fiel unter linken und rechten Demokraten dabei unterschiedlich aus. Glaubten rechte Demokraten, die DDR hege noch das Ziel, Deutschland unter seiner Flagge zu einigen, sahen linke das Ziel der Einheit durch die DDR längst aufgegeben. Trotz ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit gelang es der Mehrheit linksdemokratischer Intellektueller nicht, die Befürwortung der deutschen Einheit als ein Tabu zu etablieren. Rechte Demokraten verschanzten sich keineswegs in der Defensive. So wurde Winkler wegen seiner Aussage, die deutsche Einheit liege in der „Logik der Geschichte"162, von rechten Demokraten (u. a. Wolfgang Marienfeld 163 , Ernst Nolte 164 , Konrad Repgen165 und Bernhard Sutor 166) heftig angegriffen. Die Mehrzahl linker Demokraten teilte die Ansicht Winklers, widersprach den rechtsdemokratischen Kritikern der Deutung aber nicht explizit. Ein Dialog über die Triftigkeit der Deutung Winklers kam so nur ansatzweise zustande. Der „Historikerstreit" brachte keine nachweisbare Veränderung der Lage auf diesem Deutungsfeld hinsichtlich der Kräfteverhältnisse und/oder der Argumentationslinien mit sich. Die Kontroverse spiegelte den status quo, ohne ihn zu verän161

Hildebrand (Anm.73), S.71. Winkler (Anm. 18), S. 263. 163 Vgl. Marienfeld (Anm. 72), S.51. 164 Vgl. Nolte (Anm. 93), S.42. 165 Vgl. Konrad Repgen, Das Böse braucht keine Vergleiche zu scheuen: Waren die Greueltaten der Nazis einzigartig? Der „Historikerstreit" und ein Wort zum vorläufigen Resümee, in: Rheinischer Merkur vom 2. Oktober 1987. 166 Vgl. Sutor (Anm. 70), S. 112. 162

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dem. Die deutsche Frage wurde von den meisten Kontrahenten ohnehin eher beiläufig behandelt. Die Randständigkeit des Themas ist erstaunlich: Wahrend sich die deutschen Professoren stritten, veränderten sich angesichts der Entwicklung der Sowjetunion unter Gorbatschow zusehends die Rahmenbedingungen der deutschen Frage. Erscheint es wenig überraschend, daß linke Demokraten den Umbruch in der Sowjetunion und die damit einhergehende Veränderung des Möglichkeitshorizonts zur Beantwortung der deutsche Fragen ignorierten, da dies nicht in ihr Deutungssystem paßte167, mutet es merkwürdig an, daß auch rechte Demokraten auf den Wandel kaum eingingen. Die meisten rechten Demokraten hielten die Möglichkeit einer Vereinigung unter freiheitlich-demokratischem Vorzeichen anscheinend für so wenig realistisch, daß sie nicht nach Perspektiven der Verwirklichung Ausschau hielten. Während die DDR zusammenbrach, zeigten zunächst linke Demokraten im Unterschied zu rechten Demokraten wenig Freude über den Untergang einer Diktatur, die ihren Bürgern elementare Grundrechte wie Wahl- und Reisefreiheit verweigerte. Die DDR galt einem Teil der linksdemokratischen Intellektuellen noch immer als Anker der Stabilität. Besonders ausgeprägt war diese Auffassung bei Jürgen Habermas. Hatte sich Habermas vor 1989 zu diesem Deutungsfeld kaum geäußert, sprach er sich nun noch energisch gegen die Vereinigung aus, als diese bereits unaufhaltsam war. Klagte der Sozialphilosoph vor 1989/90 nie über die „Bevormundung" der DDR-Bevölkerung durch die SED, sah er sie nun als Opfer westdeutscher „Bevormundung" 168 in den „Anschluß" getrieben. Das Etikett „Anschluß", das vor allem von Vertretern des grün-alternativen und linksextremistischen Spektrums zur Bezeichnung des Beitritts der DDR-Länder zur Bundesrepublik vergeben wurde, ist diffamierend und falsch. Der Vereinigungsprozeß ging nicht, wie von den Vertretern dieser Deutung suggeriert, von Westdeutschland aus, sondern die Forderung nach Einheit erklang zuerst auf Demonstrationen in der DDR. Wer sich Habermas* nachdrückliches Eintreten für Verfassungspatriotismus und Westbindung im „Historikerstreit" in Erinnerung ruft, der muß über sein Pochen auf eine eigenständige DDR staunen. Warum freute sich Habermas nicht wie andere linke Demokraten, etwa Kocka und Winkler, daß diese Werte nun auch im Osten Deutschlands Verbreitung finden würden? Im Unterschied zu Habermas war bei Geiss, Kocka und Winkler der Wille zum Umdenken vorhanden. Vor allem mit Blick auf Heinrich August Winkler ist in Rechnung zu stellen, daß der Vordenker der einflußreichsten Begründungslinie gegen die deutsche Einheit vom August 1989 an den Vereinigungsprozeß intensiv kommentierte und bereit war, pragmatisch seine Position zu ändern. Sein Argument, 167

Vgl. dazu aus der Sicht eines DDR-Bürgerrechtlers: Wolfgang Templin, Die Emanzipation der DDR und die hilflose westdeutsche Linke, in: Helga Grebing/Peter Brandt/Ulrich Schulze-Marmeling (Hrsg.), Sozialismus in Europa - Bilanz und Perspektiven. Festschrift für Willy Brandt, Essen 1989, S. 162-169. 168 Habermas (Anm. 96), S.211.

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er könne der Vereinigung nun zustimmen, weil es kein Bismarckscher Nationalstaat werde, ist eine schwache Erklärung für den Deutungswandel. Ein solcher Nationalstaat war nie zu erwarten, diente linken Demokraten nur als Schreckbild, um eine deutsche Vereinigung als gefährlich erscheinen zu lassen. Bezeichnenderweise wurde von keinem Anhänger dieser Deutung vor 1989/90 propagiert, eine Vereinigung sei wünschenswert, wenn sie nicht in Richtung des Bismarckschen Nationalstaats gehe. Im Vereinigungsprozeß wandelten linke Demokraten wie Kocka und Winkler wohl vor allem deshalb ihre Auffassung, weil sie das Recht der DDR-Bürger auf Selbstbestimmung und damit deren Entscheidung für die deutsche Einheit akzeptierten. Mit Blick auf die Frage des Vereinigungsmodus begrüßten rechtsdemokratische Intellektuelle den Weg des Beitritts der Länder der DDR zum Bundesgebiet gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes, während das linksdemokratische Spektrum in dieser Frage gespalten war. Wollten Habermas und Hans Mommsen den Weg über Artikel 146 einschlagen und plädierten für die Beratung einer neuen Verfassung mit anschließender Volksabstimmung, sperrten sich Kocka u. a. gegen diesen Weg. Einig war sich die Mehrheit linker und rechter Demokraten im Vereinigungsprozeß über die Notwendigkeit der Einbettung des vereintes Deutschlands in die Europäische Union, dies beinhaltete die Absage an einen souveränen Nationalstaat ohne supranationale Bindung. Inzwischen hat die Vereinigung auf dem Deutungsfeld „deutsche Einheit" die Konfliktlinie zwischen linken und rechten Demokraten verschüttet. Die linksdemokratischen Einheitsgegner wollten oder mußten sich der normativen Kraft des Faktischen beugen. Erleichtert wurde ihnen dies dadurch, daß mit der unbeliebten nationalen Einigung die gewünschte Demokratisierung des Gebiets der DDR einherging. Rechte Demokraten sahen sich auf diesem Deutungsfeld auf der Siegerseite, weil sie trotz der Anfeindungen des linksdemokratischen Spektrums an dem Ziel der deutschen Einheit festgehalten hatten. In der Tat wurden die Argumente linker Demokraten gegen eine deutsche Vereinigung durch den Einheitsprozeß widerlegt. Die erweiterte Bundesrepublik ist keine Gefahr für sich und ihre Nachbarn geworden. Wie ist die Lage auf diesem Deutungsfeld aus der Retrospektive zu bewerten? Ist die Aufgabe des Ziels der deutschen Einheit durch linke Demokraten zu beklagen? Auf politischer Ebene mußte die Ablehnung der deutschen Einheit durch linke Demokraten nicht unbedingt negative Folgen haben. So erschien Ernst Nolte im Vereinigungsprozeß eine „unstrategische Doppelstrategie" 169 von Befürwortern und Gegnern der deutschen Einheit zum Tragen gekommen zu sein. Diejenigen, die nachdrücklich für die Zweistaatlichkeit eingetreten seien, hätten „vermutlich, wenngleich gegen ihren Willen, einen wesentlichen Beitrag zur Wiedervereinigung" geleistet, „indem sie es den Verbündeten leichter machten, für das Prinzip der Selbstbestimmung einzutreten, da dessen Realisierung für die Gegenwart nicht zu erwar169 Ernst Nolte, Die unvollständige Revolution. Die Rehabilitierung des Büigertums und der defensive Nationalismus, in: FAZ vom 24. Januar 1991.

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tet werden brauchte". 170 Die Deutung wirkt plausibel. Auch im Prozeß der Vereinigung dürfte es im Ausland eher mit Erleichterung aufgenommen worden sein, daß das Ende der Teilung nicht mit ungeteilter Freude von allen Deutschen begrüßt wurde. Jener Teil der demokratischen Linken (u. a. Wehler, Winkler), der eine „Demokratisierung der DDR" 1 7 1 forderte, muß sich ohnehin nicht den Vorwurf gefallen lassen, „Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen"172 gewesen zu sein. Anders verhält es sich mit jenem Teil der linken Demokraten, der den diktatorischen Charakter der DDR unter den Teppich kehrte.

170

Ebd. Vgl. Wehler (Anm. 15), S. 76. 172 Vgl. Jens Hacker, Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen, 3. erw. Aufl., Frankfurt a.M./Berlin 1994. 171

Positionen deutscher Schriftsteller damals und jetzt Von Robert Grünbaum I. Einführende Überlegungen Das Verhältnis zwischen Literatur und Politik zählt zu den brisantesten Problemen des kulturellen Zeitgeschehens im vereinigten Deutschland. Es geht, gerade und vor allem seit 1989, um die politische Rolle der Intellektuellen im Staat ebenso wie um die literarische und politische Suche nach Identität im Spannungsfeld zwischen „Kulturnation" und „Staatsnation". Die Intellektuellen gelten als „die Architekten der nationalen Identität der Deutschen"1. Tatsächlich wurden die emanzipatorischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts getragen von der Hoffnung vieler Intellektueller auf einen einheitlichen deutschen Staat. Das Wartburgfest 1817, das Hambacher Fest 1832 oder die deutsche Revolution von 1848/49 mit der Paulskirchenverfassung sind herausragende Wegmarken dieser Entwicklung. Die deutsche Kulturnation sollte in eine Staatsnation umgewandelt werden. In der Folgezeit konstituierte sich die deutsche Nation in der Reichsgründung von 1871 allerdings durch einen Akt von oben. Sowohl in Zeiten des deutschen Kaiserreiches, der Weimarer Republik oder der Hitler-Diktatur haben sich viele deutsche Intellektuelle in ihrem Staat nie wirklich geborgen gefühlt. Die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland ließen später ein Bekenntnis zur deutschen Nation scheinbar unmöglich werden. Im Osten Deutschlands setzten sich nach 1945 viele Intellektuelle aus antifaschistischer oder sozialistischer Überzeugung aktiv für den Aufbau eines kommunistischen deutschen Staates ein. Die Einheit der Nation spielte für sie angesichts des Versuchs, eine „gerechte", „bessere" Gesellschaft als Alternative zur bürgerlich-kapitalitischen Bundesrepublik zu errichten, eine untergeordnete Rolle. In Westdeutschland war die deutsche Einheit bei vielen Intellektuellen ein weitgehend verdrängtes, wenn nicht tabuisiertes Thema. Nur von wenigen wurde die deutsche Frage überhaupt angeschnitten. Mit dem Epochenumbruch von 1989 standen die Intellektuellen in Ost und West vor einer neuen Herausforderung. Nach dem Sturz der SED-Herrschaft und der damit einhergehenden Frage nach der zukünftigen Gestalt Deutschlands dominierten 1 Bernhard Giesen, Die Intellektuellen und die Nation, in: Gerd Langguth (Hg.), Autor, Macht, Staat. Literatur und Politik in Deutschland. Ein notwendiger Dialog, Düsseldorf 1994, S. 13.

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im Gegensatz zur mehrheitlichen Stimmung in der Bevölkerung - die prominenten Anhänger eines erneuten sozialistischen Experiments in einer eigenständigen DDR (ζ. B. Christa Wolf, Stefan Heym, Günter Grass) die intellektuelle Debatte. Sie sahen zwar den realen Sozialismus gescheitert, nicht aber die Idee eines wirklich „demokratischen Sozialismus", die sie nun verwirklichen wollten. Die politische Entwicklung nahm jedoch eine andere Richtung. Am 3. Oktober 1990 wurde ein einheitliches Deutschland geschaffen. Doch die Diskussion aus dem letzten Jahr der DDR, welche Entwicklung der zweite deutsche Staat nach dem Sturz der SED-Herrschaft nehmen solle, wirkt bis heute nach undfindet ihren Widerhall in Argumenten gegen die Ausgestaltung der deutschen Einheit und in (n)ostalgischen Erinnerungen an die DDR. Nachfolgend soll diese Entwicklung nachgezeichnet werden. Im Mittelpunkt stehen dabei die DDR-Schriftsteller bzw. die ostdeutschen Schriftsteller, weil sie in dieser Diskussion eine besondere Rolle gespielt haben, und weil sie es sind, die auch heute noch in Ostdeutschland ein besonderes Wirkungsfeld haben. Dennoch sollen auch westdeutsche Positionen nicht außer acht gelassen werden. II. Einstellungen zur Zukunft der DDR 1989/90 Trotz schwieriger Rahmenbedingungen bereiteten DDR-Schriftsteller die politisch-gesellschaftlichen Veränderungen in ihrem Land, die schließlich zum Sturz der SED-Herrschaft führen sollten, mit vor und begleiteten sie. Indem sie auf ihre Weise und mit ihren Mitteln die Politik des Staates beanstandeten - allerdings zumeist, ohne dabei den Realsozialismus grundsätzlich in Frage zu stellen - halfen sie, das kritische Bewußtsein der DDR-Bevölkerung zu schärfen. Als dann das Volk im Herbst 1989 selbst die Initiative ergriff, standen die Literaten den Ereignissen weder sprach- noch tatenlos gegenüber. Indem etliche auf Demonstrationen sprachen, Aufrufe und Resolutionen verfaßten, in Untersuchungskommissionen und an den Runden Tischen mitarbeiteten, wurden viele von ihnen zu politischen Akteuren. Was die Richtung, die Intensität und die Ernsthaftigkeit ihres Engagements betrifft, muß allerdings deutlich unterschieden werden zwischen dem Verhalten der verschiedenen Autoren. Sie traten nicht als homogene Gruppe der „DDR-Schriftsteller" auf. In der ersten Phase der Revolution - von September bis November 1989 - bestimmte die Kritik an der SED und ihrer Politik das Verhalten der Schriftsteller. Im November kam es dann zu einem markanten Themen Wechsel. Nachdem die DDRBürger aufgrund der Maueröffnung massenhaft den Westen in eigener Erfahrung kennenlernen konnten, entwickelte sich das politische Geschehen schnell in Richtung auf die deutsche Einheit. Eine mögliche Vereinigung mit der Bundesrepublik wurde zum bestimmenden Thema der Debatten auch bei der künstlerischen Intelligenz.

Positionen deutscher Schriftsteller damals und jetzt

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Angesichts dieser Entwicklung setzte unter den DDR-Schriftstellern ein Differenzierungsprozeß ein, der sich im Verlauf des revolutionären Geschehens weiter fortsetzte und verstärkte. Ein wichtiges Band war zerrissen, nämlich die verbindende Kritik an den bestehenden Zuständen. Indem es nun nicht mehr gegen etwas ging, sondern für andere politische Lösungen, splitterte sich die Autorenschaft in verschiedene Richtungen auf. Dabei kristallisierten sich vor allem zwei Gruppen von Bedeutung heraus: auf der einen Seite die Sozialismusreformer (wie z.B. Christa Wolf, Christoph Hein, Stephan Heym), die sich für den Fortbestand einer demokratisch veränderten, aber sozialistischen DDR aussprachen, und auf der anderen Seite die Sozialismusgegner (wie ζ. B. Uwe Kolbe, Monika Maron, Lutz Rathenow, Rolf Schneider, Günter de Bruyn), denen ein geeintes Deutschland als parlamentarische Demokratie erstrebenswert war. Natürlich gab es auch etliche Schriftsteller, die in diesem Meinungsspektrum Zwischenpositionen einnahmen.

1. Positionen für einen reformierten

Sozialismus

Das Verhalten der sozialismusorientierten Autoren war im Herbst 1989 gekennzeichnet durch eine „bitter fröhliche Beharrlichkeit" 2 auf dem Weg in einen demokratischen Sozialismus. Nachdem die SED abdanken mußte, verfolgten sie die Option eines „dritten Weges" zwischen Sozialismus und Kapitalismus für die Entwicklung der DDR. Diese Idee beruhte auf der Überlegung, daß es in der DDR bisher noch keinen wirklichen Sozialismus gegeben habe. Unter dem Rückgriff auf den antifaschistischen Gründungsmythos und der Anmahnung einer Gesellschaft, die nicht durch eine kapitalismusorientierte Wirtschaftsweise bestimmt werden sollte, propagierten sie die demokratische Umgestaltung des Systems, verbunden mit einer umfassenden Wirtschaftsreform, um ihre Vision von einer wahrhaft demokratischen und sozialistischen Gesellschaftsordnung verwirklichen und damit eine Alternative zur bürgerlich-kapitalistischen Bundesrepublik schaffen zu können. Für sie galten die Betonung der Gleichheit, das Ablehnen des Gewinnstrebens, die Distanz gegenüber Hierarchien, die Solidarität zwischen den Volkern, das Bedürfnis, miteinander auskömmlich und friedlich zu leben, und die Annahme, man könne innergesellschaftliche Beziehungen durch die Entlastung von sozialem Druck verbessern, als vermittelbare Wertehaltungen des Sozialismus. So ist es kein Wunder, daß die Revolution diesen Literaten zunächst als eine große Chance zur Reformierung des Bestehenden erschien. Ausdruck dieser Haltung war im Herbst 1989 der Aufruf „Für unser Land" 3 an die Bürger der DDR, in dem sich prominente Schriftsteller ebenso wie Vertreter der 2 Fritz J. Raddatz, Das wehende Vakuum. Eindrücke von der DDR und der bitter fröhlichen Beharrlichkeit ihrer Intellektuellen, in: Die Zeit v. 15. Dezember 1989. 3 Neues Deutschland v.29. November 1989.

8 Löw

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Bürgerbewegung und andere Intellektuelle gegen eine Vereinigung mit der Bundesrepublik und für eine eigenständige und sozialistische DDR aussprachen. Die Erklärung, die Stefan Heym am 28. November auf einer Pressekonferenz vorstellte und die das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland" unter der Überschrift ,»Noch haben wir die Chance einer sozialistischen Alternative zur BRD" 4 abdruckte, wurde genau an dem Tag der Öffentlichkeit präsentiert, an dem Helmut Kohl im Deutschen Bundestag seinen Zehn-Punkte-Plan zum Abbau der deutschen Teilung und zur Entwicklung konföderativer Strukturen zwischen der DDR und der Bundesrepublik bekannt gab. Einige Intellektuelle fühlten sich von dem Programm der Bundesregierung überfahren und fürchteten um ihre Vision eines sozialistischen Staates auf deutschem Boden. Für sie war nicht der Sozialismus schlechthin, sondern nur der real existierende gescheitert. „Der andere, bessere, in dessen Namen so viele tapfere Menschen ihre Ideen gaben und ihr Blut, steht noch aus", meinte Stefan Heym, einer der Wortführer. Gemeinsam träumte man davon, „dem wirklichen Sozialismus, in dem die Menschen Brüder werden und Hand in Hand, in Freiheit und Gerechtigkeit ihr Leben gestalten, auch hier zum Durchbruch zu verhelfen und dem Staate DDR einen neuen Inhalt zu geben"5. Vor diesem Hintergrund unterstellte der Intellektuellen-Appell der Realität zwei mögliche Wege in die Zukunft: „entweder" eine Eigenständigkeit der DDR, „oder" die Übernahme durch die Bundesrepublik in absehbarer Zeit. Einerseits plädierten die Unterzeichner für den Versuch, „in unserem Land eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind". Andererseits warnten sie vor einer westlichen Annexion über kurz oder lang, bedingt „durch starke ökonomische Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflußreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen". Wer nicht länger an der Sozialismus-Utopie festhalte, der sei für den „Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte" und für „Vereinnahmung" durch die Bundesrepublik. Noch aber habe man die Gelegenheit, sich zu besinnen „auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind".6 Wer diese Ansichten teile, wurde zur Unterschriftsleistung aufgerufen. Der Appell erneuerte nicht nur einmal mehr die antifaschistisch-demokratische Gründungslegende der DDR. Indem darüber hinaus in grober Vereinfachung eine mögliche Vereinigung mit der Bundesrepublik als Gefahr dargestellt wurde, diskreditierten die Unterzeichner auch die in den Demonstrationen immer stärker werdenden Einheitsforderungen Hunderttausender als einen den inneren und äußeren Frieden gefährdenden Weg. So aufrichtig ihre Sorge um die politische und moralische Unabhängigkeit der DDR gewesen sein mag, mit dem gegensätzlichen „EntwederOder" bauten die Initiatoren ein schematisches Freund-Feind-Bild auf, das der kom4 5 6

Ebd. Stefan Heym, Ist die DDR noch zu retten?, in: Die Zeit v. 6. Oktober 1989. Alle Zitate in: Neues Deutschland v.29. November 1989.

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plexen Wirklichkeit nicht gerecht zu werden vermochte. Dabei spiegelte sich eine Befindlichkeit wider, die für die DDR-Gesellschaft in der Umbruchphase nicht untypisch war. Der Appell läßt ein dichotomisches Weltbild erkennen, das vom Denken in Systemen geprägt ist und dessen Erklärungsmuster viel mit der Ideologie des Marxismus-Leninismus gemein haben. Die Autoren hielten an den alten Denkmodellen der Gegensätzlichkeit, dem ständigen Dualismus mit seiner „Schwarz-WeißMalerei" fest. So einseitig einen reformierten Sozialismus als einzige Alternative für den Fortbestand des Landes darzustellen, konnte gar nicht im Sinne einer demokratischen Erneuerung der DDR sein. Viele Menschen fühlten sich schon wieder in eine bestimmte Richtung gedrängt, ohne andere Entwicklungsmöglichkeiten ausreichend diskutiert zu haben.7 Mit den Unterschriften von Egon Krenz, des Ministerpräsidenten Hans Modrow und weiterer Mitglieder des SED-Politbüros nur zwei Tage nach seiner Veröffentlichung verlor der Aufruf jede Glaubwürdigkeit. 8 Aus der Sicht der Bevölkerung erschien die geistige Avantgarde nun in engem Schulterschluß mit der politischen Kraft, die eine vierzigjährige Diktatur zu verantworten hatte. Paradoxerweise befanden sich manche derjenigen, die unter der SED-Herrschaft jahrelangen Schikanen und Repressalien gleich welcher Art für politischen und moralischen Widerstand ausgesetzt waren, für kurze Zeit wegen ihres Festhaltens an der Zweistaatlichkeit an der Seite eben jener SED, die nun verbissen um das Überleben einer eigenständigen DDR rang. Unterstützung kam auch aus dem Westen. Am 1. Dezember sagten namhafte westdeutsche und Schweizer Künstler, darunter die Autoren Günter Grass, Max Frisch und Günter Wallraff, in einer Solidaritätsadresse an Christa Wolf und Stefan Heym ihre Unterstützung für deren Aufruf zur Erhaltung der DDR als „sozialistische Alternative" zu und wandten sich nachdrücklich gegen „eine hemmungslose Vereinnahmung und einen Ausverkauf der DDR" 9 . 7 Vgl. die wohl schärfste Auseinandersetzung mit dem Aufruf von Widmann, Arno, Unter Linden. Unfreundliche Bemerkungen zum Aufruf „Für unser Land", den DDR-Autoren im November 1989 lancierten, in: tageszeitung v.7. April 1990. In seiner energischen Kritik bescheinigt Widmann den Verfassern des Aufrufs auch eine,.kriminelle Überheblichkeit", wenn sie die Erfahrung von siebzig Jahren Sozialismus mißachteten. 8 Es unterschrieben u.a. die Mitglieder bzw. Kandidaten des Politbüros Schabowski, Sieber, Lorenz, Eberlein. Zuvor verkündete im „Neuen Deutschland" SED-Generalsekretär Egon Krenz, er habe den Aufruf „mit tiefer Genugtuung zur Kenntnis genommen", und fügte hinzu: „Ich teile Ihre Einschätzung vom Emst der Lage und sehe wie Sie den Scheideweg, vor dem die Republik steht. Seien Sie versichert, daß ich alles mir Mögliche tun werde, um mitzuhelfen, ,in unserem Land eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind.' Wir haben die Verantwortung, dieses Land mit seinen antifaschistischen und humanistischen Idealen und Traditionen als sozialistische Alternative deutscher Entwicklung zu bewahren." Neues Deutschland v. 30. November 1989. 9 Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 2. Dezember 1989 u. Süddeutsche Zeitung v. 2. Dezember 1989.

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In der Erklärung „Für Euer Land, für unser Land" vom 4. Dezember 1989 sprachen sich dann 30 prominente westdeutsche Intellektuelle unterschiedlichster Provenienz10 gegen eine „Vereinnahmung der DDR durch die BRD" aus und bestärkten die Erstunterzeichner des Aufrufs, f ü r unser Land" ausdrücklich bei dem „Versuch, einen Weg sozialistischer Demokratie aus der Krise Eurer Gesellschaft zu finden" 11. Das von Helmut Kohl vorgelegte Zehn-Punkte-Programm wurde als nationalistisch abgelehnt, da es für die Reformbemühungen einen schweren Rückschlag bedeute und den Weg zur Einheit vorantreibe. Offenbar stimmten die Vorbehalte der ostdeutschen mit denen der westdeutschen Linksintellektuellen gegen eine mögliche deutsche Vereinigung weitgehend überein. 12 Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung verwarf die Idee einer „sozialistischen Alternative". Das reduzierte Vertrauen in eine Reformierbarkeit des Sozialismus ließ sie einen langwierigen, krisenhaften Änderungsprozeß, dessen Ende überdies noch ungewiß war, zugunsten einer schnellen und radikalen Umstülpung des Gesamtsystems ablehnen. Dies hatte neben dem plötzlich aufflammenden nationalen Zusammengehörigkeitsgefühl vor allem mit der ökonomisch-sozialen Situation und den damit verbundenen Ängsten, Hoffnungen und Zukunftserwartungen zu tun. „Bedenkt, wir Menschen haben nur ein Leben"13, hielten die Bürger den für ein neues Sozialismus-Experiment werbenden Autoren entgegen. Ein Volk, das sich die Lösung der Probleme gerade durch eine Vereinigung mit der Bundesrepublik erhoffte, konnte sich in den andersgearteten Aussagen einer führenden Gruppe von Schriftstellern, Intellektuellen und Oppositionellen nicht wiederfinden. Da die meisten DDR-Bürger die öffentlichkeitswirksame Aufrufaktion weitgehend ignorierten und die Opposition sich mehrheitlich wegen der Instrumentalisierung durch die alten Machthaber von ihr distanzierte, blieb sie letztlich ohne jede praktische Wirkung. Die historische Entwicklung ging rasch über diese Episode hinweg. Noch während die Erklärung propagiert wurde, nahmen die Forderungen nach der deutschen Einheit auf der Straße immer weiter zu. Das „Entweder" konnte angesichts des dramatischen Machtverfalls und des deutlich geäußerten Volkswillens nicht in Angriff genommen werden, das „Oder" trat in der beschriebenen Form nicht ein. In der Folge entwickelte sich eine Distanz zwischen den loyal-kritischen Literaten und der Bevölkerung, die auf dem voneinander abweichenden Verständnis der Situation und der Unterschiedlichkeit ihrer Erwartungen und Forderungen beruhte. Es sollte sich zeigen, daß zahlreiche Schriftsteller, in denen die Menschen noch kurz zuvor ihre legitime Interessenvertretung gesehen hatten, den Blick für die realen Lebens10

Zu den Unterzeichnern des Aufrufs gehören Pastor Heinrich Albertz, die Schriftsteller Luise Rinser und Dieter Lattmann, die Wissenschaftler Ossip K. Flechtheim und Robert Jungk, die Theologen Dorothee Solle und Helmut Gollwitzer sowie der ehemalige Bundesverfassungsrichter Martin Hirsch. 11 Neues Deutschland v.4. Dezember 1989. 12 Vgl. dazu Wolfgang Jäger/Ingeborg Villinger, Die Intellektuellen und die deutsche Einheit, Freiburg 1997, S. 201 f. 13 Zit. nach: Gerhart Maier, Die DDR in der Wende, Bonn 1990, S.55.

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Verhältnisse der breiten Masse, für deren Wünsche und Bedürfnisse, offenbar verloren hatten. Ihr öffentliches Ansehen sank in dieser Zeit rapide. 14 Der Aufruf „Für unser Land" ist nicht isoliert zu betrachten. Diese Aktion flankierend, gaben in den Wochen vor und nach Veröffentlichung der Resolution verschiedene Sozialismusreformer Stellungnahmen unterschiedlicher Art ab mit dem Ziel, ihre Sozialismus-Utopie in die Wirklichkeit zu retten. Dabei war es immer wieder Stefan Heym, der vor einem „Großdeutschland" warnte und sich mit aller Entschiedenheit für den Fortbestand der DDR einsetzte. Seine programmatische Frage lautete: „Und, dies aus tiefster Seele gesprochen, soll denn das noble Experiment des Sozialismus* hier im Herzen Europas, nur weil es so lange mit unzulänglichem Gerät und falschen Zutaten probiert wurde, so gänzlich aufgegeben werden?"

Eine eigenständige DDR sei allein schon notwendig, antwortete er selbst, als „Gegengewicht gegen die Daimler-Messerschmitt-Bölkow-Blohm-BASF-HoechstDeutsche-Bank-Republik auf der anderen Seite der Elbe." 15 Von einer möglichen Vereinigung mit dem „Freibeuterstaat mit dem harmlosen Namen Bundesrepublik" 1 6 wollte er nichts hören, das war für ihn nichts weiter als „Westpropaganda"17. Ernüchtert mußte er jedoch im Laufe der Zeit erkennen, daß sich die Utopie eines menschlichen Sozialismus auf deutschem Boden nicht verwirklichen lassen würde. Er fällte so über die Bürger der DDR, die ihm ihre Mithilfe bei der Realisierung seiner Idee versagten, ein Urteil, das von seiner Verbitterung, Desillusionierung und Frustration zeugt: „Aus dem Volk, das nach Jahrzehnten der Unterwürfigkeit und Flucht sich aufgerafft und sein Schicksal in die eigenen Hände genommen hatte und das soeben noch edlen Blicks einer verheißungsvollen Zukunft zuzustreben schien, wurde eine Horde von Wütigen, die, Rücken an Bauch gedrängt, Hertie und Bilka zustrebten auf der Jagd nach dem glitzernden Tinnef. Welche Gesichter, da sie mit kannibalischer Lust an den Grabbeitischen von westlichen Krämern, ihnen absichtsvoll in den Weg plaziert, wühlten; und welch geduldige Demut davor, da sie, ordentlich und folgsam, wie's ihnen beigebracht worden war zu Hause, Schlange standen um das Almosen, das mit List und Tücke Begrüßungsgeld geheißen war von den Strategen des Kalten Krieges."18 14 Siegmar Faust, 1976 nach Gefängnisstrafen wegen seiner oppositionellen Haltung aus der DDR ausgereister Autor, nannte diese „Kluft zwischen den demonstrierenden Massen und den Meistern des Wortes nicht allzu verwunderlich. Je mehr sich das Volk seine Freiheiten erstritt, umso mehr blamierten sich die Literaten mit ihren ideologischen Klischees und verstaubten Utopien." Siegmar Faust, Endlich hat die „DDR"-Bevölkerung die Regierung, die sie verdient hat, in: DDR heute 6 (1990), Nr. 30, S. 25. 15 Stefan Heym, Ist die DDR noch zu retten?, in: Die Zeit v. 6. Oktober 1989. 16 Stefan Heym, Aschermittwoch in der DDR, in: Der Spiegel 49/1989, S.56. 17 Zeit für Shakespeare. Interview (Oktober 1989), in: Stefan Heym, Einmischung. Gespräche, Reden, Essays, München 1990, S.247. 18 Stefan Heym, Aschermittwoch, S.55.

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Dezidiert sprach sich auch der Ostberliner Dramatiker Heiner Müller gegen eine wie auch immer geartete Wiedervereinigung aus, denn dann „würde eine Farbe fehlen in Europa". 19 Nicht die Einheit werde gebraucht, sondern „die DDR als basisdemokratische Alternative zu der von der Deutschen Bank unterhaltenen Demokratie der BRD", ohne die „Europa eine Filiale der USA" 2 0 sein würde. Auch Volker Braun warnte vor der Gefahr der westdeutschen Wirtschafts- und Verfassungsordnung. „Wir sind die politische Kette los", diagnostizierte er und fügte hinzu: „Halten wir uns nicht ans Gängelband eines falschen gesellschaftlichen Interesses, das im Kaufhaus des Westens zu haben ist. Wir kannten den Opportunismus der Macht: fürchten wir jetzt den Opportunismus der Freiheit". 21 Ebenso warnten Helga Königsdorf 22, Christa Wolf 23 oder Christoph Hein 24 vor der Übernahme des westdeutschen Systems und rief die Menschen zur Schaffung eines reformierten Sozialismus in der DDR auf. Das war eine Haltung, die ebenso von vielen weniger prominenten DDRSchriftstellern geteilt wurde. 25 Bei denjenigen, die sich für eine reformierte sozialistische DDR aussprachen, handelte es sich vor allem um Vertreter jener Schriftstellergeneration, die von ihren Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Deutschland geprägt waren. Bis zum Schluß und darüber hinaus glaubten sie an die Notwendigkeit eines Staates in der Mitte Europas, dessen proklamierte Grundlage der Antifaschismus war und der durch seine Existenz den weltpolitischen Status quo absicherte. Immer noch galt ein antifaschistischer und zugleich sozialistischer deutscher Staat als die einzig mögliche Antwort auf die Verbrechen Hitler-Deutschlands. Bei vielen Angehörigen der Nachkriegsgeneration verbanden sich Schuldgefühle, Antifaschismus und der Glaube an den Wiederaufbau einer friedlichen und ge19

Stefan Heym, Einmischungen, S.265. Neues Deutschland v. 14. Dezember 1989. 21 Volker Braun, Kommt Zeit, kommen Räte, in: Michael Naumann (Hg.), Die Geschichte ist offen. DDR 1990: Hoffnung auf eine neue Republik. Schriftsteller aus der DDR über die Zukunftschancen ihres Landes, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 18. 22 Vgl. Helga Königsdorf, Menschenwürde ist angesagt, in: Peter Neumann, (Hg.), Träumen verboten. Aktuelle Stellungnahmen aus der DDR, Göttingen 1990, S. 13 f. 23 Vgl. stellvertretend für zahlreiche gleich ausgerichtete Äußerungen Christa Wolf, Aufforderung zum Dialog. Gespräch mit Gerhard Rein, in: dies., Im Dialog. Aktuelle Texte, Frankfurt a.M. 1990, S. 85 f. 24 Vgl. u. a. „Die DDR ist nicht China". Gespräch mit Christoph Hein, in: Der Spiegel 43/1989, S. 31 und Christoph Hein, Laudatio für Max Frisch anläßlich der Verleihung des Heinrich-Heine-Preises der Stadt Düsseldorf am 13. Dezember 1989, in: Neue Deutsche Literatur 38(1990), Heft 4, S. 78. 25 Vgl. z.B. Heinz Knobloch, Zettel und Zitate, in: Stefan Heym/Werner Heiduczek, (Hg.), Die sanfte Revolution. Prosa, Lyrik, Protokolle, Erlebnisberichte, Reden, Leipzig/Weimar 1990, S. 264; ders., Wir als Entwicklungsland?, in: Neue Deutsche Literatur 38. Jg. (1990), Heft 4, S.93; Peter Grosse, Die Zukunft der beiden deutschen Staaten, in: ebd., S.71; Rainer Kirsch, Wertschätzung der Umfelder. Zum Begriff des Nationalen, in: ebd., S. 93; Joochen Laabs, Deutschland... Deutschland, in: ebd., S. 100f.; Andreas Montag, Keine Zeit für Utopien?, in: ebd., S. 110. 20

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rechten Welt im Sozialismus marxistisch-leninistischer Ausprägung zu einer untrennbaren Einheit. Mit dem Ende der SED-Herrschaft glaubten sie an die Möglichkeit, endlich ihre Hoffnungen aus der Nachkriegszeit verwirklichen und damit einen Beitrag zur Abarbeitung der deutschen Schuld leisten zu können. Die Proklamation der „humanistischen Ideale", auf denen die DDR beruhen würde, sollte deshalb den Weg ebnen, um die sozialistische Idee erneut als Zukunftsvision glaubhaft zu machen, trotz des Wissens um das völlige Fehlen der dazu notwendigen Voraussetzungen. Auf diese Weise verteidigten die Autoren gleichzeitig ihr literarisches und politisches Selbstverständnis. Denn mit dem Ende des DDR brach für viele Literaten eine Welt zusammen. Sie verloren ihren Staat, ihren Status und mußten ihre gesamte Biographie in Frage stellen. Für sie gingen nicht nur ein politisches System, sondern auch ihre bisherige Funktion und ihre politischen Hoffnungen unter. Deshalb war die Aufrechterhaltung ihrer biographischen Identität, die sich in ihrem Sozialismusengagement ausdrückte, eine wichtige Überlebenstaktik angesichts des radikalen Systemumbruchs. Das Verharren in alten Denkmustern wurde gerade damit gerechtfertigt, daß man am „aufrechten Gang" der eigenen Überzeugung festhalte und sich dadurch von den Opportunisten des Umbruchprozesses abgrenze, womit man allerdings die Debattenbeiträge derjenigen diskreditierte, die auf der Seite der Bevölkerungsmehrheit argumentierten. Die Literaten, die im Namen der sozialistischen Utopie den revolutionären Prozeß begleiteten, zeichneten sich nicht nur durch ein Ausblenden der konkreten Lebenswirklichkeit der Menschen aus. Sie hatten auch gesellschaftliche Strukturen sowie Wert- und Moralvorstellungen zum Ziel, die jenseits der Realitätserfahrungen der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung lagen. Ihre idealistische Denkweise ließ sie die Herausforderungen der Gegenwart und die Defizite der Gesellschaft, in der sie lebten, übersehen. Mit ihrer Forderung nach einer „sozialistischen Alternative zur Bundesrepublik" verkannten sie die Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen der Bevölkerung, die sich von ihnen abwandte. 2. Positionen für die deutsche Einheit Die Versuche der prominenten Reformliteraten, das Volk von einem neuen sozialistischen Experiment zu überzeugen, waren auch unter der künstlerischen Intelligenz nicht unumstritten. Gerade die Debatte um den Aufruf, f ü r unser Land" unter den Schriftstellern zeigt, wie sehr sich die politischen Einschätzungen und Positionen unter den DDR-Literaten nach dem Mauerfall ausdifferenziert hatten. Viele Autoren äußerten sich ablehnend zu den Sozialismus-Vorstellungen ihrer Kollegen. Rolf Schneider nannte den Aufruf „eine der albernsten Angelegenheiten, die mir je untergekommen ist" 26 . Helga Schubert bezeichnete ihn als ,Agit-Prop-Papier" 27, 26

Rolf Schneider, Die Einheit wird kommen, in: Deutschland Archiv 23 (1990), S.204.

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das die Realität vergewaltige und zur Ergebenheitsadresse an die alte Macht verkomme. Auch Günter de Bruyn distanzierte sich öffentlich von dem Aufruf, den er als „wirklichkeitsfremd" und „gefährlich" charakterisierte. 28 Zudem kritisierte er den pathetischen Ton und die Aufrichtung eines neuen, plakativen Feindbildes. Für de Bruyn war die Ansicht ein Widerspruch, „man könne ein diktatorisches Regime verfluchen und seine Spitze entmachten, das Produkt dieser Diktatur aber für erhaltens- und preisenswert halten"29. In Leipzig schließlich veröffentlichten Werner Heiduczek und Heinz Czechowski, die beide nicht der SED angehörten,30 zusammen mit 27 Leipziger Persönlichkeiten eine Gegenerklärung, in der sie sich für einen Zusammenschluß von Bundesrepublik und DDR als Föderation aussprachen.31 Gerade zur Problematik einer möglichen deutschen Vereinigung gab es unter den Schriftstellern verschiedene Positionen. Besonders deutlich äußerten sich hierbei Autoren, die den SED-Staat nur wenige Jahre vor seinem Zusammenbruch verlassen hatten, wie Monika Maron oder Uwe Kolbe.32 Maron zeigte sich befremdet von der Enttäuschung der Reformliteraten über das Volk, das trotz aller Appelle und Aufrufe einen anderen Weg wählte, als den von ihnen erhofften. Die verbalen Fehlleistungen Stefan Heyms wies Monika Maron als „die Arroganz des Satten, der sich vor den Tischmanieren des Ausgehungerten ekelt" 33 , zurück. Unter Bezug auf Brechts Gedicht „Die Lösung" konstatierte sie: „Diesmal ist nicht die Regierung vom Volk enttäuscht, diesmal sind es die Dichter. Kaum ist der heroische Akt der Revolution vorbei, müssen sie feststellen, daß das Volk für die Falschen, weil nicht ihre, der Dichter Ziele, auf die Straße gegangen ist."34

Nachdrücklich warnte sie vor einer neuen „Diktatur im Namen einer Idee, wie die Androhung des nächsten sozialistischen Experiments befürchten läßt" 35 . Das Bestreben, einen demokratischen Sozialismus in die Praxis umzusetzen, sei nichts weiter als „der wiederholte Labortest an unfreiwilligen Versuchspersonen" 36 und würde sechzehn Millionen Menschen „auch für die Zukunft zum Objekt einer Idee degra27

Neue Zeit v. 7. Dezember 1989. Günter de Bruyn, Fromme Wünsche, offene Fragen, in: Michael Naumann, Die Geschichte ist offen, S. 28f. 29 Günter de Bruyn, So viele Länder, Ströme, Sitten. Gedanken über die deutsche Kulturnation, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 3. Februar 1990. 30 Heiduczek war nie in der SED eingetreten, Czechowski war in der Folge der BiermannAusbürgerung 1977 aus der Partei ausgetreten. 31 Der Morgen v. 5. Dezember 1989. 32 Monika Maron übersiedelte im Juni 1988 mit einem Dreijahresvisum in die Bundesrepublik, Uwe Kolbe ebenfalls mit einem mehrjährigen Visum 1987. 33 Monika Maron, Das neue Elend der Intellektuellen (Februar 1990), in: dies., Nach Maßgabe meiner Begreifungskraft, Frankfurt a.M. 1993, S. 83. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 88. 36 Ebd. 28

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dieren" . Deshalb, so Maron, sollte sich das Volk wehren „gegen die neuen Ideologen aus den eigenen Reihen, die schon wieder bereit sind, dem Volk politische und geistige Unreife zu bescheinigen"38. Schon Anfang November warf Uwe Kolbe in einem Brief aus den USA, wo er gerade einen Lehrauftrag wahrnahm, den Sozialismusanhängern vor, sie würden die vierzigjährige Minderheitsherrschaft durch Reformen erhalten und durch ihre eigene Beteiligung noch vergrößern: „Es bahnt sich unter dem Banner der Toleranz, wiederbelebter Politik der Volksfront etwas an, was ich für Borniertheit einer Schicht, ja der zur Klasse gewordenen Intelligenz halte."39 Nach der Diktatur, an der er die Intelligenz beteiligt sieht, hielt er es für einen fatalen Fehler, sich wie „enttäuschte Eltern" 40 über den Willen des Volkes hinwegzusetzen, nur um die eigene Utopie zu retten. „Wir haben nicht das Recht, die Minderheitsherrschaft zu erhalten, indem wir sie reformieren, sie lediglich um unsere eigene Teilnahme vermehren und also weiterführen." 41 Den Sozialismus lehnte er aufgrund seiner geschichtlichen Entwicklung als zukünftiges Gesellschaftsmodell ebenso ab, wie er eine deutsche Vereinigung im Rahmen der europäischen Integration für unausweichlich erachtete. Da er den Intellektuellen das Recht absprach, im Namen des Volkes für das Volk Beschlüsse zu fassen, forderte er ein Referendum, in dem alle Fragen von grundsätzlicher Bedeutung der Bevölkerung zur Entscheidung vorgelegt werden sollten. Auch andere, bis zum Schluß in der DDR gebliebene Autoren sprachen sich gegen ein erneutes Sozialismus-Experiment und für die deutsche Einheit aus. Lutz Rathenow, der schon seit längerem als unabhängiger und unbequemer Kopf von sich reden gemacht hatte, sah angesichts des ökonomischen Niedergangs und der weltpolitischen Lage keine andere sinnvolle Lösung, um die vielfältigen Probleme zu beseitigen.42 „Wenn ein Staat sich friedlich auflöst, sollte das immer ein Grund zur Freude sein" 43 , verkündete er kurz und knapp. Und an seine sozialismusorientierten Schriftstellerkollegen gewandt, fragte er pointiert: „Wer wollte von einem Gefangenen nach 28 Jahren Landesarrest verlangen, nicht durch die urplötzlich aufgestoßene Tür hinauszudrängen, sondern sich um eine Totalsanierung seines Knastes mit Umbau in einen normalen Wohnblock zu kümmern?"44 37

Ebd., S. 86. Monika Maron, Ich war ein antifaschistisches Kind (Dezember 1989), in: Ebd., S.27. 39 Uwe Kolbe, Gebundene Zungen. Ein offener Brief, in: Michael Naumann, Die Geschichte ist offen, S.87. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Vgl. Lutz Rathenow, Nachdenken über Deutschland, in: Hubertus Knabe (Hg.), Aufbruch in eine andere DDR. Reformer und Oppositionelle zur Zukunft ihres Landes, Reinbek bei Hamburg 1990, S.290 sowie „Ich habe keine Angst vor der EinStaatlichkeit". Interview mit Lutz Rathenow, in: tageszeitung v.7. Dezember 1989. 43 Lutz Rathenows Antwort vom 16. Februar 1990 auf die Frage „Droht der deutsche Einheitsstaat?" in: europäische ideen 73/1990, S.3. 44 Ebd., S. 285. 38

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Helga Schubert zählte ebenfalls zu jenen, die keinen „Sozialismus-Testlauf 4 mehr absolvieren wollten und sich „ein einheitliches, friedliches und neutrales Deutschland" wünschten.45 Befürworter der staatlichen Einheit Deutschlands war auch der in Ostberlin lebende und im Westen arbeitende Schriftsteller Rolf Schneider, der wiederholt und dezidiert auf die Notwendigkeit der Beendigung der deutschen Zweistaatlichkeit hinwies und bekannte:„Ich bin ein unbedingter Anhänger der deutschen Einheit." 46 Und Günter de Bruyn warnte im November 1989 davor, die „wirklichkeitsfremde Tabuisierung der deutschen Frage" 47 auch jetzt noch weiterzuführen. Unmißverständlich stellte er fest: „Wie es scheint, haben die oppositionellen Akteure ein DDR-Staatsbewußtsein entwickelt, das stärker als das bisher verordnete ist. (...) Der alternative Traum vom wahren, nun aber wirklich vollkommenen (durch keinen Jagdhausbau der wenigen Schuldigen mehr verhinderten) Sozialismus wurde für viele schon zu lange geträumt/*48

Im August 1990 bekräftige de Bruyn seine Haltung noch einmal. Er hielt nichts davon, „die DDR als Nationalpark für ein gesellschaftspolitisches Engagement zu erhalten", und nannte die Warnungen der Einheitsgegner vor einem Großdeutschland „fahrlässig" und ein „Zeichen historischer Unbildung" 49 . Die deutsche Einheit war für ihn vielmehr ein Grund zur Freude.50 Auch einer Umfrage der Zeitschrift „europäische ideen" zum Thema „Droht der deutsche Einheitsstaat?" ist zu entnehmen, daß etliche Autoren ein Ende der Zweistaatlichkeit ausdrücklich begrüßten. Roger Loewig fürchtete nicht, sondern wünschte sich einen deutschen Einheitsstaat51, für Günter Kunert stellte die staatliche Auflösung der DDR ebensowenig einen Verlust dar 52 wie für Siegmar Faust.53 45

Helga Schubert, Was soll man anfangen?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 24. Januar 1990. 46 Rolf Schneider, Die Einheit wird kommen, in: Deutschland Archiv 23 (1990), S. 205. 47 Günter de Bruyn, Fromme Wünsche, offene Fragen, in: Michael Naumann, Die Geschichte ist offen, S. 28. Der im November 1989 geschriebene Essay wurde im Januar 1990 publiziert. 48 Ebd, S. 28 f. Vgl. zur Haltung de Bruyns zur deutschen Einheit auch Günter de Bruyn, Was ich noch schreiben will, Göttingen 1995, S. 19 und S. 62. Hier bekennt der Autor rückblickend: „Wenn ich fähig gewesen wäre, von den Realitäten, von dem, was ich für Realität hielt, abzusehen, dann hätte ich mir die Einheit Deutschlands gewünscht. Doch ich weiß genau, daß ich mir noch im November 1989 gesagt habe: Da es unsinnig ist, sich die Einheit zu wünschen, wünsche ich, daß die DDR anders wird. Denn die Einheit zu wünschen, schien zu fem von aller Realität zu sein." 49 Günter de Bruyn, Jubelschreie, Trauergesänge, in: Die Zeit v.6. September 1990. 50 So de Bruyn in einem Vortrag im Oktober 1990. Vgl. Günter de Bruyn, Deutsche Befindlichkeiten, in: ders., Jubelschreie, Trauergesänge. Deutsche Befindlichkeiten, Frankfurt a. M. 1994, S.27. 51 Roger Loewigs Antwort vom 7. November 1989 auf die Frage „Droht der deutsche Einheitsstaat?", in: europäische ideen 72/1990, S.7. Loewig war 1972 von der Bundesrepublik als politischer Häftling freigekauft worden. 52 Ebd., S. 18. 53 Ebd., S.40.

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An anderer Stelle unterstreicht Uwe Saeger, daß die sozialistisch-kommunistische Idee völlig diskreditiert sei, und es deshalb keinen Sinn mache, die DDR erneuern zu wollen. Für ihn ist es schlicht eine politische Realität, „eine neue deutsche Einheit von allen sie verantwortenden Partnern einzufordern und festzuschreiben" 54. Die jahrzehntelang verteufelte nationale Frage müsse, so forderte Saeger, „durch politisch bewußte, von der Mehrheit gewollte und akzeptierte Zusammengehörigkeit (...) zu einem demokratisch verfaßten Ganzen"55 in konsequenter Weise gelöst werden. Zu den Befürwortern einer deutschen Einheit zählten zum einen diejenigen Literaten, die andere Schlüsse aus der nationalsozialistischen Herrschaft gezogen hatten als ihre Kollegen, welche nur in einem betont antifaschistischen und sozialistischen deutschen Staat die angemessene Antwort auf die nationalsozialistische Vergangenheit und auf die Herausforderungen der Zukunft sahen. Sie begriffen das SED-Regime als eine Diktatur, hatten sich folglich nie mit dem sozialistischen System identifiziert oder aber sich von diesem losgelöst. Zum anderen äußerten sich hier oft Vertreter der jungen Schriftstellergeneration, die in die DDR hineingeboren worden waren und, frei von historischen Vorbelastungen, besonders in den achtziger Jahren zunehmend die Auseinandersetzung mit dem Staat gesucht hatten. Da sie kaum oder gar keine Rücksichten auf die literaturpolitischen Vorgaben der SED nahmen, waren sie vielfältigen Repressionsmaßnahmen ausgesetzt, die vom Publikationsverbot über die Kriminalisierung und Inhaftierung bis zur Ausbürgerung oder erzwungenen Ausreise in den Westen reichten. Diese Situation ließ sie eine andere, realistischere Sicht auf die Entwicklung in der DDR gewinnen als ihre etablierten Kollegen. So gab es neben den Sozialismusreformern eine ganze Reihe von Autoren, die sich sehr kritisch mit deren Positionen auseinandersetzten und andere Lösungswege für die Zukunft propagierten. Allerdings wurden diese Literaten in der Öffentlichkeit nur relativ wenig beachtet, handelte es sich bei ihnen doch zumeist um weniger bekannte oder jüngere Schriftsteller, deren Ansichten sich zudem in Übereinstimmung mit der eingeschlagenen politischen Richtung befanden. Die öffentliche Debatte wurde vielmehr von der Gruppe der reformsozialistischen Autoren bestimmt, die sich aus vielen prominenten, auch über die Grenzen der DDR hinaus bekannten Schriftstellern mit einer großen Medienpräsenz zusammensetzte.

54 Antwort Uwe Saegers vom 7. Januar 1990 auf eine Umfrage der Zeitschrift „Neue Deutsche Literatur" zur Zukunft der beiden deutschen Staaten, in: Neue Deutsche Literatur 38. (1990), Heft 4, S.134. « Ebd., S. 137.

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Positionen

westdeutscher

Schriftsteller

In der Zeit von 1949 bis 1989 war die Frage der deutschen Einheit unter westdeutschen Literaten nur ein Randthema.56 So veröffentlichte Hans Magnus Enzensberger 1966 im „Kursbuch" einen „Katechismus zur deutschen Frage". Darin schreibt er: „Die deutsche Frage wird oft beschworen, aber selten formuliert. Mancher führt sie im Mund und weiß ihren Wortlaut nicht anzugeben. Eine Regelung dieser Hinterlassenschaft steht bis heute aus."57 In seinem Text „Über Deutschland reden" nahm Martin Walser 1988 Bezug auf Enzensbergers „Katechismus zur deutschen Frage" von 1966. Walser fragt: „Wie soll man erklären, daß man sogar ein Wort wie Deutschland noch retten möchte?" Wenn sich das Gespräch um Deutschland drehe, wisse „man aus eigener Erfahrung, daß es ungut verlaufen" werde. Walser kritisiert, man habe sich „abgefunden mit dem Strafprodukt Teilung": „Teilung ist Eingriff, Machtausübung, Strafaktion. Daß ich Jalta, Teheran und die Folgen Strafaktion nenne, ruft Stirnrunzeln hervor. Ich beeile mich zu sagen, daß wir die verdient hatten. Aber doch nicht für immer." Walser verlangt, „daß die Teilung in unserer Empfindung keine Zukunftswürdigkeit hat" 58 . Das war am 30. Oktober 1988. Die Rede rief einen Sturm der Entrüstung hervor. Im Umbruchjahr 1989/90 war es in Westdeutschland Günter Grass, der sich so vehement und häufig wie kaum ein zweiter für den Fortbestand der deutschen Zweistaatlichkeit einsetzte.59 Auschwitz, so argumentierte Grass, sei das Produkt eines deutschen Einheitsstaates und vergleichbare Verbrechen seien in jedem deutschen Großstaat verborgen. Gerade auch im Blick auf die Nachbarländer müsse Deutschland die Folgen aus seiner Geschichte tragen.60 In der Ablehnung eines einheitlichen deutschen Staates verbanden sich bei Grass die historischen mit den europäischen Gründen. Er fürchtete die Machtbalance in Europa. Ein „Viertes Reich" war für Grass die logische Konsequenz des größeren Deutschland.61 Deshalb wollte er das Einheitsgebot auf dem „Müllhaufen unserer Geschichte"62 entsorgen. Mit dieser Haltung traf Grass auf relativ breite Zustimmung. 56

Vgl. Klaus Wagenbach u. a. (Hg.), Vaterland, Muttersprache. Deutsche Schriftsteller und ihr Staat seit 1945, Berlin 1994. 57 Hans Magnus Enzensberger, Katechismus zur deutschen Frage, in: Kursbuch 4 (1966), S.32. 58 Martin Walser, Über Deutschland reden. Ein Bericht, in: Die Zeit v. 3. November 1988. Äußerungen Walsers zur deutschen Problematik aus den letzten zehn Jahren vor der Revolution sind gesammelt in Martin Walser, Über Deutschland reden, Frankfurt a. M. 1990. 59 Vgl. dazu die gesammelten Aufsätze zur Thematik in Günter Grass, Deutscher Lastenausgleich. Wider das dumpfe Einheitsgebot, Frankfurt a.M. 1990 und ders., Ein Schnäppchen namens DDR. Letzte Reden vorm Glockengeläut, Frankfurt a.M 1990. 60 Ebd. 61 Günter Grass, Folgenreich, in: Frankfurter Rundschau v. 14. Oktober 1990. 62 Günter Grass, Der Zug ist abgefahren - aber wohin, in: tageszeitung v. 23. Februar 1990.

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Doch es gab auch im Westen einige wenige Autoren, die sich für ein Ende der deutschen Teilung aussprachen. Antipode von Günter Grass war in dieser Diskussion vor allem Martin Walser. Dieser weist Anfang Dezember 1989 den Verdacht als Unterstellung zurück, daß man vom deutschen Reich träume, wenn man für einen Bund der deutschen Länder eintrete. Die Revolution in der DDR habe der internationalen Öffentlichkeit ein anderes Deutschlandbild vermittelt, und deshalb sei eine Wiedervereinigung für die anderen Länder auch kein Alptraum mehr. Die endgültige Überwindung „der aus nichts als mißlungener Geschichte entstandenen deutschdeutschen Grenze" ist für Walser „das Selbstverständliche"63. Deshalb bedauerte er auch das lange Hinauszögern der staatlichen Vereinigung und gab seiner Hoffnung Ausdruck, daß keine weitere Chance auf diesem Weg vertan werde. In einer Zeit, in der Günter Grass zum wiederholten Male die deutsche Einheit ablehnte („Für Konföderation, gegen Wiedervereinigung" 64), gab auch der Autor Dieter Wellershoff sein „Votum für eine deutsche Vereinigung" 65 ab. Angesichts einer anhaltenden Wanderungsbewegung von Ost nach West sei ein Plädoyer für zwei deutsche Staaten „wenig realitätstüchtig" 66. Gleiches gelte für „diese emphatischen Programme für einen sogenannten Dritten Weg" 67 . „Wenn man nur an eine modifizierte Marktwirtschaft plus Sozialstaat und Ökologiebewußtsein dächte, wäre das ja keine grundsätzliche strukturelle Alternative zur Bundesrepublik, und das könnte die Forderung nach Zweistaatlichkeit nicht legitimieren." 68 Der Staat, zu dem sich beide deutschen Staaten vereinigen würden, sei, bei sachlicher Betrachtung, kein Monstrum, sondern eine pluralistische, rechtsstaatliche und föderale Demokratie. Weilershof weist die Auschwitz-These von Günter Grass entschieden zurück und nennt die Idee vom Fortbestand zweier deutscher Staaten „künstlich und abstrakt" 69, da derart Bundesrepublik und DDR bei den bestehenden Unterschieden zwangsläufig wieder in eine unzumutbare Polarisierung getrieben würden. I I I . Die Schriftsteller nach der deutschen Einheit Intellektuelle und Autoren blieben auch nach der Vollendung der deutschen Einheit aufmerksame und kritische Kommentatoren deutscher Zustände. Dabei findet 63 Martin Walser, Vom Stand der deutschen Dinge, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v.5. Dezember 1989. 64 Günter Grass, „Für Konföderation, gegen Wiedervereinigung". Gespräch mit Günter Grass, in: tageszeitung v.27. Februar 1990. 65 Dieter Wellershof, Gerade noch kreuzungsfähige Unterarten. Votum für die deutsche Vereinigung. Diskussionsvorlage für ein deutsch-deutsches Schriftstellertreffen zum Thema „Einheit oder Vielheit" am 24. Februar 1990 im Literarischen Colloquium Berlin, in: ders., Werke 4. Essays, Aufsätze, Marginalien, Köln 1997, S.57. 66 Ebd., S. 61. 67 Ebd. 68 Ebd., S. 62. 69 Ebd., S. 64.

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man scharfe Kritik beispielsweise bei Stefan Heym 70 oder Günter Grass 71, etwas moderater bei Christa Wolf 72 . Diese Literaten ließen kaum eine Gelegenheit aus, um ihre Kritik an der deutschen Einheit auch in den Folgejahren zu wiederholen - nunmehr verpackt als Kritik am Vereinigunsprozeß. Durch auftretende Schwierigkeiten und Probleme bei der Herstellung der sogenannten inneren Einheit fühlten sie sich bestätigt in ihrer ablehnenden Haltung gegenüber einem vereinigten Deutschland. Bei Stefan Heym mündete diese Haltung 1994 sogar im Engagement als Bundestagsabgeordneter für die PDS. Auch andere äußerten sich entsprechend. So stellt Daniela Dahn rückblickend fest: „Als Mitunterzeichnerin des Aufrufes ,Für unser Land4 hatte ich gegen alle Vernunft die Hoffnung, unsere düsteren Prognosen würden sich vielleicht doch nicht gänzlich verwirklichen. Heute zeigt sich, daß sie weit untertrieben waren."73

Neben den prominenteren Autoren sind es vor allem die eher unbekannten Autoren aus der zweiten Reihe, die die Entwicklungen seit 1990 beklagen. Ihre Haltung artikuliert sich dabei oft als Kritik am westdeutschen Kulturbetrieb. 74 Dies muß nicht verwundern: Mit dem Ende der Diktatur wurde die Literatur in Ostdeutschland wieder auf die Wahrnehmung ihrer ursprünglichen Aufgaben zurückgeworfen. Die Schriftsteller nahmen jetzt weder die ihnen bis 1989 von der SED zugewiesene Vermittlungsfunktion der Parteipolitik im Literaturbereich wahr, noch die ihnen von der Bevölkerung übertragene als „Ersatzöffentlichkeit". Der Autor war nun nur noch ein Autor - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Für die ostdeutschen Literaten kehrte die Normalität literarischen Schaffens ein, der Rückzug an den Schreibtisch, um 70 Vgl. u. a. Stefan Heym, Wege und Umwege. Streitbare Schriften aus fünf Jahrzehnten, München 1998 und ders., Zeugen des Jahrhunderts, München 1999. 71 Vgl. z.B. Günter Grass, Rede vom Verlust. Über den Niedergang der politischen Kultur im geeinten Deutschland, Göttingen 1992; ders., Dieser fatale Widerspruch von Geist und Macht. Über Neo-Faschismus, Solidarität, Reformanstöße, den Begriff der Nation und die Rolle der Intellektuellen, in: Frankfurter Rundschau v. 01. August 1994; ders., Ein weites Feld, Göttingen 1995, ders., Essays und Reden, Bd. 3, 1980-1997, Göttingen 1998, ders., Für- und Widerworte, Göttingen 1999. 72 Vgl. Christa Wolf, Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990-1994, Hamburg 1994 sowie dies., Hierzulande Andernorts. Erzählungen und andere Texte 1994-1998, Hamburg 1998. 73 Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (Hg.), Von Abraham bis Zwerenz. Eine Anthologie als Beitrag zur geistig-kulturellen Einheit in Deutschland, Bd. 1, Bonn 1995, S. 330. 74 Vgl. die Kritik vieler dieser Autoren an einer „Zensur des Marktes" in der Bundesrepublik Deutschland in: Richard Zipser, Fragebogen: Zensur. Zur Literatur vor und nach dem Ende der DDR, Leipzig 1995. Beispielhaft sei hier Peter Abraham wiedergegeben: „Ich habe Erfahrungen mit der Zensur von literarischen Werken und Filmen in der heutigen Bundesrepublik! Das ist zwar keine staatliche Zensur, aber sie wird durch die Verlage und Filmfirmen oder durch die Fernsehsender ausgeübt. Und diese Zensur erscheint mir weit entwürdigender als die staatliche in der DDR. Diese Art der Zensur, wie ich sie erlebt haben, zerstört die Menschenwürde, weil sie ohne Einspruchsrecht stattfindet und sich mit gröbsten Einmischungen und Inkompetenz verbindet." Ebd., S. 43.

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dort nunmehr unter den Bedingungen eines radikal veränderten, nach den weitgehend unbekannten Prinzipien der freien Marktwirtschaft organisierten Kultursektors künstlerisch tätig zu sein. 75 Das war ein schmerzhafter Prozeß, auch weil damit für so manchen die schriftstellerische Existenz in Frage gestellt war. Das galt besonders für die Parteiliteraten 76 sowie die Autoren aus der zweiten Reihe, die bisher kein Publikum außerhalb der D D R hatten. Jenseits stellenweise durchaus berechtigter K r i t i k an den Zwängen zu vermarktender Literatur dürfte hier eine Quelle für die vielfältig geäußerten Ängste und Unsicherheiten zahlreicher DDR-Schriftsteller liegen, die von Wolf Biermann weitsichtig schon 1990 in der ihm eigenen Polemik folgendermaßen kommentiert wurden: „Einige von diesen selbstlosen Kostgängern des Stalinismus kenne ich: halbherzige Aufrührer, die nun von Existenzängsten geschüttelt sind. Alles Luxusleiden. Parteipoeten, die gelähmt feststellen, daß ihre Villa ein Westgrundstück ist. Staatskünstler, die mitansehn müssen, wie ihr Staat untergeht. Wahrheitsfanatiker mit all ihren gehäkelten Lebenslügen. Wider-den-Stachel-Löcker mit storniertem Pensionsanspruch. Gleichheitsprediger mit bedrohten Privilegien. Untergrundkämpfer ohne lukrative Staatsaufträge, Freigeister, mühselig beladen mit Nationalpreisen. (...) Des Teufels Instrumente waren im Osten die Macht, die Privilegien, die Beziehungen. Heute wird dasselbe mit Geld geregelt. (...) Die paar Intellektuellen, Künstler, Schriftsteller weinen dem vertrauten Elend nach und geben ihm Kosenamen wie: das Bewahrenswerte, die DDR-Identität, die originären kulturellen Werte. Bei näherem Hinsehen können wir statt dessen auch hier getrost Geld sagen. (...) Es gibt für Künstler und Schriftsteller in der DDR im Moment kein edleres Thema."77 Bei genauem Hinsehen findet man aber auch die Hervorhebung der positiven Seiten der Entwicklung seit 1989/90, sei es bei Monika Maron 7 8 , U w e Kolbe 7 9 oder 75 Von der Enquête-Kommission .Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" befragt, was unter diesen Bedingungen von der DDR-Literatur Bestand haben werde, prognostizierte der früher in der DDR lebende Autor Siegmar Faust in polemischer Überzeichnung, von der Literatur der DDR bliebe nichts weiter als ein „Misthaufen" übrig. Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der Enquête-Kommission Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Baden-Baden 1995, Bd. III, 1, S.476. 76 Auch daraus dürfte die prinzipielle Kritik eines Erik Neutsch basieren. Gefragt, was er sich von der Vereinigung erhofft habe, antwortet er: „In dieser Beziehung hatte ich zu keiner Stunde Illusionen. Meine lagen woanders, sie umgaben bis dahin noch die DDR, trotz aller Kritik, und den von ihr staatlich praktizierten Sozialismus. Im Herbst 1989 aber war mir von Anfang an klar (...), daß die Restauration des Kapitalismus kommen würde, zwangsläufig im Osten. Was ich mir allerdings nicht so arg vorgestellt hatte, war, wie er sich nun mit einer kaum noch für möglich gehaltenen Brutalität über ganz Deutschland ausbreitet und alle Bereich des gesellschaftlichen Lebens zerfrißt." In: Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (Hg.), Von Abraham bis Zwerenz, Bd. 2, Bonn 1995, S. 1402. 77 Wolf Biermann, Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Der Streit um Christa Wolf, das Ende der DDR, das Elend der Intellektuellen: Das alles ist auch komisch, in: Die Zeit v. 24. August 1990. 78 Monika Maron, Nach Maßgabe meiner Begreifungskraft. Artikel und Essays, Frankfurt a.M. 1993. 79 Uwe Kolbe, Renegatentermine. 30 Versuche, die eigene Erfahrung zu behaupten, Frankfurt a.M. 1998.

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Günter de Bruyn . Bereits 1993 stellte der Leipziger Autor Werner Heiduczek rückblickend fest: „Ich hielt und halte auch heute noch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten für unabdingbar." 81 In gleichem Sinne bekannte Joachim Walter: „Für mich ist der Untergang der DDR nach wie vor ein begrüßenswertes Votum der Geschichte."82 Uwe Saeger resümiert, gefragt nach seinen Zukunftsperspektiven für die deutsche Einheit im Jahr 1989 und deren Realisierung: „Ein konkretes Bild des Zukünftigen hatte ich nicht, auch keine besondere Euphorie; ich war erleichtert, daß sich das deutsche Problem (und es war ja auch ein Welt-Problem!) auf so milde Art erledigte. Diesen Umstand in voller Erkenntnis würdigen zu können, wird erst den folgenden Generationen vergönnt sein - uns ist der objektive Blick viel zu sehr von Aufrechnungen und tagespolitischen Hickhack verstellt. - Es gibt ein einheitliches Deutschland! Unter diesem Faktum läßt sich vieles an persönlichen Ressentiments relativieren." 83

IV. Resümee Mit der Vereinigung von 1990 ist auch das Konstrukt einer deutschen Kulturnation überwunden. Wenn aber die Intellektuellen in den vergangenen Jahrhunderten Schrittmacher auf dem Weg zu einem einheitlichen deutschen Nationalstaat waren, dann gilt ebenso für die Gegenwart, daß der intellektuelle Diskurs über die Nation wichtig für das Gelingen der vielbeschworenen „inneren Einheit" Deutschlands ist. Man kann davon ausgehen, daß die Positionen der prominenten „Sozialismusreformer" von 1989/90 prägend für die heute oft eher skeptische Stimmung unter ostdeutschen Meinungsführern in intellektuellen Kreisen sind. Angesichts der fortdauernden Schwierigkeiten bei der Vollendung der „inneren Einheit" darf die Wirkung einer prinzipiellen Kritik an der Vereinigung, wie sie von diesen Intellektuellen in den vergangenen zehn Jahren immer wieder mit großem Nachdruck geäußert wurden, gerade auf die früheren DDR-Bürger nicht unterschätzt werden darf. Mit den einheitsbedingten Problemen wuchs bei ihnen die Bereitschaft, sich (n)ostalgische Positionen zu eigen zu machen, wodurch das Zusammenwachsen von Ost- und Westdeutschland behindert wird. Vor diesem Hintergrund können gerade ostdeutsche Intellektuelle wesentlich dazu beitragen, die früheren DDR-Bürger fester an das demokratische Staatswesen Bundesrepublik, in das diese sich 1990 in freier Entscheidung einfügten, zu binden. In einer Zeit noch unzureichender Akzeptanz der demokratischen Institutionen in den neuen Bundesländern muß es Aufgabe nicht nur der politischen Klasse, sondern auch der künstlerischen Intelligenz sein, die Loyalität gegenüber dem demokrati80

Günter de Bruyn, Was ich noch schreiben will, Göttingen 1995. Werner Heiduczek, Deutschland - kein Wintermärchen oder Draußen vor der Tür. Ein Vortrag, in: neue deutsche literatur 41 (1993), Heft 4, S. 164. 82 In: Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (Hg.), Von Abraham bis Zwerenz, Bd. 3, Bonn 1995, S.2128. 83 Ebd., S. 1744. 81

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sehen Staat zu stärken, ohne die notwendige Kritik an seinen Fehlleistungen aufzugeben. Die gewiß nicht einfach zu vollbringende Einheit der Deutschen als historische Chance erfahrbar zu machen, als Gelegenheit, an die positiven Traditionen der deutschen Geschichte und des literarischen Nationenverständnisses anzuknüpfen - dazu können die Intellektuellen im zehnten Jahr der deutschen Vereinigung einen wertvollen Beitrag leisten.

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Die Stellung der evangelischen Kirche zur deutschen Einheit Von Klaus Motschmann Die Haltung der evangelischen Kirche* zur deutschen Einheit im allgemeinen, zum Prozeß der deutschen Vereinigung im Jahre 1990 ist nur sehr schwer zu vermitteln, vor allem denjenigen, die mit der Entwicklung im deutschen Protestantismus nicht mehr vertraut sind bzw. noch immer sehr traditionelle Vorstellungen von der gesellschaftlichen Funktion der evangelischen Kirche haben. Von letzterem kann nur sehr bedingt die Rede sein, um eine vorsichtige Formulierung zu wählen. Zur Begründung dieser Feststellung und damit zum besseren Verständnis der wie gesagt nur sehr schwer verständlichen - Haltung der evangelischen Kirche zu dem angezeigten Thema sei ein kurzer Rückblick in die jüngere Kirchengeschichte des vorigen Jahrhunderts, wie man inzwischen sagen muß, gestattet. Die Entwicklung der evangelischen Kirche ist, in sehr deutlichem Unterschied zur katholischen Kirche, in prägendem Maße durch die großen geistigen, gesellschaftlichen und politischen Umbrüche in unserem Volk bestimmt worden. Die notwendige Aufgabe einer geistig-politischen Neuorientierung in der Weimarer Republik im Spannungsfeld der aufkommenden totalitären Ideologien und der parlamentarischen Demokratie ist nur unzureichend gelöst worden, so daß die evangelische Kirche zwar eine klare Position gegenüber dem Sozialismus bzw. Kommunismus, aber nicht gegenüber dem Nationalsozialismus einnahm. Nicht die evangelische Kirche in ihrer Gesamtheit, aber beachtliche Teile der Pfarrerschaft, der Landessynoden, der Kirchenführungen und des Kirchenvolkes nahmen zumindest in den Anfangsjahren eine positive Haltung zum Dritten Reich ein. Sie waren nicht bereit, die von der Bekennenden Kirche vertretene Haltung in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus einzunehmen oder auch nur zu unterstützen. Die alten politisch-ideologischen Frontlinien verliefen demzufolge nicht nur zwischen dem nationalsozialistischen Staat und den christlichen Kirchen, sondern auch quer durch die evangelische Kirche. Insofern kann von einer einheitlichen Haltung der evangelischen Kirche im und zum Dritten Reich nicht gesprochen werden. Diese Tatsache hat die geistig-politische Neuorientierung der evangelischen Kirche nach 1945 aber0 Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei an die Duden-Regel zur Groß- und Kleinschreibung von Adjektiven in fester Verbindung mit einem Substantiv erinnert. Adjektive werden kleingeschrieben, wenn sie sehr allgemein eine Begriffseinheit im Unterschied zu einer anderen Begriffseinheit kennzeichnen (z.B. evangelische und katholische Kirche). Sie werden groß geschrieben, wenn sie eine bestimmte Institution kennzeichnen (ζ. B. Evangelische Kirche in Deutschland oder Evangelische Kirche in der DDR).

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mais, ähnlich wie schon nach dem ersten Weltkrieg, erheblich belastet, ganz besonders auch im Blick auf unser Thema.

I. Das Stuttgarter Schuldbekenntnis Im Oktober 1945, also wenige Monate nach dem Zusammenbruch Deutschlands, kam es in Stuttgart zu einer ersten Begegnung der im August 1945 gebildeten Vorläufigen Leitung der Ev. Kirche in Deutschland mit einer Delegation des ebenfalls Vorläufigen Ökumenischen Rates der Kirchen unter der Leitung seines Generalsekretärs A. W. Visser't Hooft, einem niederländischen Theologen. Zur Vorbereitung auf dieses Treffen hatte Visser't Hooft an Bischof Dibelius geschrieben: „Sie dürfen darauf rechnen, daß wir von uns aus alles tun werden, um die Gemeinschaft wieder aufzunehmen. (...) Dieses Gespräch wird aber sehr viel leichter sein, wenn die Bekennende Kirche Deutschlands sehr offen spricht - nicht nur über die Missetaten der Nazis, sondern auch besonders über die Unterlassungssünden des deutschen Volkes, einschließlich der Kirche." 1 Tatsächlich hat die Vorläufige Kirchenleitung der EKD zum Abschluß dieser Begegnung eine Erklärung abgegeben, in der es u. a. heißt: „Wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben. (...) In unseren Kirchen soll ein neuer Anfang gemacht werden."2 Im Rahmen dieses Beitrages können die theologischen, juristischen, politischen und psychologischen Aspekte dieser Erklärung nicht erörtert werden; es soll nur erwähnt werden, daß diese Erklärung bis auf den heutigen Tag sehr umstritten ist, weil sie unterschiedliche Interpretationen gestattet. Dabei handelt es sich vor allem um die erheblich divergierenden Vorstellungen von einem „neuen Anfang". Die traditionell theologisch-kirchliche Vorstellung eines radikalen Sinneswandel durch eine „Umkehr zu Gott", über die man sich grundsätzlich einig war, sollte nach Meinung maßgebender Theologen konkretisiert werden durch Aussagen zur gesellschaftlichpolitischen Neuorientierung. Ein Beispiel dafür ist das „Darmstädter Wort" von 1947. Es wurde diktiert von der Sorge, daß die evangelische Kirche nicht zu einer „Revision ihres Nationalbewußtseins" und ihrer Einstellung zum Marxismus bereit sein könnte. „Wir sind in die Irre gegangen, als wir übersahen, daß der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag und die Verheißung der Gemeinde für das Leben und Zusammenleben der Menschen im Diesseits hätte gemahnen müssen."3 Wenn also im sog. Stuttgarter Schuldbekenntnis die Notwendigkeit eines „neuen Anfangs" proklamiert wurde, dann waren mit dieser For1 Theologisches Lexikon, hrsg. von H. H. Jenssen u. H. Trebs, Berlin (Ost) 1978, Stichwort Stuttgarter Erklärung, S. 387. 2 Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 3.Aufl. Tübingen 1962, Stichwort Stuttgarter Erklärung, VI.Band, Sp.445. 3 Vgl. Anm. 1, ebd., Stichwort Darmstädter Wort, Sp.94.

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derung für maßgebende Theologen bereits sehr konkrete Vorstellungen nicht nur der Neuordnung der evangelischen Kirche, sondern auch der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Deutschland verbunden: Einerseits radikale Abwehr nicht allein vom Nationalsozialismus, sondern von allen politischen, ökonomischen, kulturellen und sonstigen gesellschaftlichen Wurzeln, die nach diesem ideologischen Geschichtsverständnis bekanntlich sehr weit zurückreichen, ζ. T. bis in die Reformationszeit. Andererseits die Einsicht in die Notwendigkeit, daß man der Begegnung mit dem real existierenden Kommunismus in Deutschland und Europa nur dann gewachsen sein würde, wenn man ihm „ungehemmt durch überlieferte, ungehemmt auch durch gewisse neu aufgekommene Vorurteile jedenfalls aufgeschlossen und verständniswillig entgegengeht."4 Wer mit den Grundzügen kommunistischer Volksfrontpolitik auch nur oberflächlich vertraut ist, wird in derartigen Äußerungen idealtypische Ansatzpunkte einer Neuauflage dieser Politik nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges feststellen, womit keine politischen Unterstellungen hinsichtlich der genannten Theologen und Theologenkreise verbunden sein sollen. Man wird in diesem Zusammenhang aber auch nicht völlig von der Arbeit des „Nationalkomitees »Freies Deutschland4" während des Zweiten Weltkrieges in der Sowjetunion absehen können, in dem zahlreiche Geistliche mitarbeiteten. So sehr man auch vor einer Überbewertung dieser Aktivitäten unter den deutschen Krieggefangenen und später in der Heimat warnen muß, so beweisen sie überzeugend, welch beachtlichen Stellenwert die evangelische Kirche in der sowjetischen Deutschlandpolitik einnahm. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, daß die angedeuteten Grundpositionen nur von einem sehr kleinen, allerdings sehr einflußreichen Kreis von Theologen vertreten wurden und keineswegs, auch nicht einmal andeutungsweise, die Haltung der Pfarrerschaft, der Synoden, der Werke oder der Kirchengemeinden charakterisiertschon gar nicht im Blick auf die Stellung zur deutschen Einheit. Die allmähliche, aber zielstrebige Annäherung der kommunistischen Positionen zur deutschen Einheit und denen der erwähnten Theologenkreise vollzog sich zunächst von der Öffentlichkeit weithin unbemerkt, zumal sie der vorherrschenden politischen Stimmung entsprachen. II. Deutschlands Einheit - ein „unverbrüchliches Recht" Alle Siegermächte, sowohl die Sowjetunion als auch die Westmächte, alle nach Kriegsende wieder zugelassenen politischen Parteien, alle gesellschaftlich relevanten Gruppen, die Landtage und Landesregierungen, ab 1949 die Bundesregierungen 4 Karl Barth: Ein Wort an die Deutschen. 1945. In: „Der Götze wackelt", Zeitkritische Aufsätze, Reden und Briefe, hrsg. von Karl Kupisch, Berlin (West) 2. Aufl. 1964, S.95.

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und der Deutsche Bundestag im Westen, die DDR-Regierung und die Volkskammer der DDR im Osten bekannten sich über alle sonstigen politischen Differenzen hinweg zur Einheit Deutschlands, selbstverständlich immer zu einem Deutschland nach den eigenen politischen und gesellschaftlichen Prinzipien. In keiner politischen Erklärung der Siegermächte oder der deutschen Parteien fand sich ein Hinweis darauf, daß Deutschland wegen seiner Schuld am Zweiten Weltkrieg das Recht auf staatliche oder nationale Einheit verloren hätte. Auch in der evangelischen Kirche war davon, bei aller Kritik am deutschen Nationalismus und der nationalstaatlichen Einigung im 19. Jahrhundert, keine Rede. Ganz im Gegenteil! Als sich im Jahre 1949 mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik der weltweite Ost-Westkonflikt auch auf die Einheit Deutschlands auswirkte, gründete Gustav Heinemann, bis zu seinem Rücktritt 1950 Innenminister im ersten Kabinett Adenauer, die Gesamtdeutsche Volkspartei, „um einer weiteren unheilvollen Verhärtung der Gegensätze zwischen Ost- und Westdeutschland entgegenzutreten."5 In dieser Partei fanden vornehmlich Persönlichkeiten eine Plattform, „die sich der Bekennenden Kirche zugehörig fühlten" 6 und insofern von der Notwendigkeit eines „neuen Weges" überzeugt waren. Aber gerade dieser Überzeugung entsprang die Forderung des Parteiprogramms, das im Interesse einer friedlichen und demokratischen Neuordnung Deutschlands und Europas die Einheit Deutschlands eine unabdingbare Voraussetzung bleibe. Deshalb wurden von den Siegermächten „sofortige Schritte zur vollständigen Wiedervereinigung (erwartet), auf die wir ein unverbrüchliches Recht haben."7 Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, daß die Gesamtdeutsche Volkspartei mit dieser Forderung die damalige sowjetische Deutschlandpolitik sekundierte, sondern von einem „unverbrüchlichen Recht" auf Wiedervereinigung sprach. Von einer Verwirkung dieses Rechtes durch die Schuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg war 1952, immerhin sieben Jahre nach dem Zusammenbruch, noch keine Rede. Diese Feststellung soll im Blick auf die spätere Haltung zur deutschen Einheit ausdrücklich hervorgehoben und im Verlauf der weiteren Darstellung beachtet werden. Eine nennenswerte Rolle im Prozeß der Auseinandersetzungen um die Einheit Deutschlands hat die Gesamtdeutsche Volkspartei nicht gespielt. Sie löste sich im Jahre 1957 auf und empfahl ihren Mitgliedern den Übertritt zur SPD, in der die deutschlandpolitischen Vorstellungen Gustav Heinemanns und seiner Freunde (u.a. Erhard Eppler, Jürgen Schmude, Johannes Rau, Heinrich Albertz) zunehmenden Einfluß gewannen. 5

Die westdeutschen Parteien 1945-1965, hrsg. vom Deutschen Institut für Zeitgeschichte, Berlin (Ost) 1966, Stichwort Gesamtdeutsche Volkspartei, S. 338. 6 Ebd., S.333. 7 Ebd. S.339.

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Zunächst aber widersprachen die illusionistischen Vorstellungen von einem neutralen, friedlichen Deutschland zwischen den verfeindeten Machtblöcken eindeutig der Theorie und Praxis der sowjetischen Außenpolitik. Die Vorstellung, „daß alle Nachbarn aus ihren eigenen Lebensinteressen"8 den Bestand eines einheitlichen Deutschlands garantieren würden, widersprach ganz eindeutig den reichen zeitgeschichtlichen Erfahrungen und den ideologischen Prämissen der sowjetischen Expansionspolitik nach 1945. Sie bieten keinen Ansatzpunkt für die Annahme, daß es für Deutschland oder eine andere Nation ein „unverbrüchliches Recht" auf nationale Einheit geben könnte. Recht im allgemeinen, Völker-Recht im besonderen Sinne ist nach kommunistischem Selbstverständnis immer eine Variable ideologisch-politischer Konstanten, (eine Auffassung, die freilich nicht auf kommunistische Staaten beschränkt ist). I I I . Wandel in der Einstellung zur deutschen Einheit nach 1961 Mit dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 ist dieser Grundsatz eindrucksvoll demonstriert worden. Er bedeutete nach den offiziellen Erklärungen zwar keine Absage an die deutsche Einheit; ließ aber auch keine Zweifel an der Absicht, unter welchen Bedingungen die Einheit wiederherzustellen wäre. Von einem „unverbrüchlichen Recht" war jedenfalls von östlicher Seite nicht mehr die Rede. Um so deutlicher wurde dieses Recht von westlicher Seite gefordert, auch von der evangelischen Kirche in Deutschland. In seinen vielbeachteten „Reden an eine gespaltene Stadt" gab der Berliner Bischof Otto Dibelius dieser Einstellung Ausdruck: „Und wenn die Trennung einhundertfünfzig Jahre dauert - wir werden Mittel und Wege finden, daß diejenigen, die dieselbe deutsche Bibel lesen, die aus demselben deutschen Gesangbuch singen, die denselben Katechismus haben, die dieselbe Art des Gottesdienstes haben, daß die in Gemeinschaft miteinander bleiben! Richtet soviel Betonmauern und Stacheldrähte auf, wir ihr wollt: uns wird niemand aufspalten/*9

Die in der evangelischen Kirche noch immer vorherrschende Einstellung zur deutschen Einheit, wie sie in diesem Votum vertreten wurde, sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich in entscheidenden Gremien der EKD ein deutlicher Wandel abzuzeichnen begann: der später vielzitierte „Wandel durch Annäherung". Es ist gewiß kein Zufall, daß dieser Begriff ausgerechnet in einer evangelischen Akademie geprägt worden ist, und zwar von Egon Bahr in einem Vortrag vor der Ev. Akademie Tutzing im Juli 1963. In diesem Vortrag entwickelte Egon Bahr die Grundzüge einer neuen Ost- und Deutschlandpolitik, die er in maßgebenden Positionen der SPD und seit 1967 des Auswärtigen Amtes vorbereitet und mit zu verantworten hatte. 8 9

Ebd. Otto Dibelius: Reden an eine gespaltene Stadt, Stuttgart 1961, S.64.

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Bahrs damalige Rede ist bis heute heftig umstritten. Welchem Urteil man aber auch letztlich zustimmt, entscheidend für diesen thematischen Zusammenhang ist die Feststellung, daß auch Bahr in dieser Rede die Spaltung Deutschlands nicht aus der Schuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg erklärt, sondern aus dem OstWest-Konflikt. Aus realpolitischen Gründen halte die Sowjetunion „ihre harte Hand auf dem deutschen Glacis" und es sei nicht zu erwarten, daß sie sich „die Zone (gemeint ist die DDR. Κ. M.) zum Zwecke einer Verstärkung des westlichen Potentials entreißen" lasse.10 Deshalb sei die Wiedervereinigung, an der immerhin noch als Ziel deutscher Politik festgehalten wurde, nicht durch einen „einmaligen Akt", sondern nur durch einen „Prozeß mit vielen Schritten und vielen Stationen" zu erreichen. 11 Wir wissen heute, daß dieser Prozeß nachweislich nicht zu einer Annäherung auf dem Wege zur Einheit, sondern zur Vertiefung der Spaltung Deutschlands geführt hat - und damit allerdings zu einer Annäherung an die politisch-ideologischen Positionen kommunistischer Politik: das heißt einer Unterordnung der auf die Einheit Deutschlands abzielenden Politik unter die sog. Friedenspolitik. In diesem Sinne war sehr viel die Rede von einer „Verantwortungs-gemeinschaft", im Blick auf die Überwindung der Spaltung Deutschlands allerdings immer weniger, zuletzt überhaupt nicht mehr. Mit der Parole »Anerkennung der Realitäten" konnte jeder Ansatz einer auf die deutsche Einheit abzielenden Politik blockiert, als „unrealistisch" oder gar „friedensgefährdend" verdächtigt werden. Das war in zunehmendem Maße in der evangelischen Kirche der Fall. IV. Die Schrittmacherrolle der evangelischen Kirche Egon Bahr und mit ihm viele Akteure dieser neuen Ost- und Deutschlandpolitik haben in der Rückschau auf diese Phase der deutschen Nachkriegspolitik immer wieder ausdrücklich die Rolle der evangelischen Kirche in diesem Prozeß gewürdigt. Sie habe durch ihr Verhalten wesentliche geistige und massenpsychologische Voraussetzungen für die Einleitung und die Durchsetzung dieser Politik geschaffen. Dabei werden vor allem zwei wesentliche Entscheidungen der Evangelischen Kirche in Deutschland genannt, aus der sich viele kleine Entscheidungen ableiteten, die das geistig-geistliche Klima nicht nur in der evangelischen Kirche, sondern in der veröffentlichten und schließlich auch der öffentlichen Meinung unseres Volkes veränderten. Es handelt sich dabei um die sog. Ost-Denkschrift der EKD von 1965 und um die freiwillige Preisgabe der institutionellen Einheit der EKD im Jahre 1970.

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In: Die deutsche Ostpolitik 1961-1971 - Eine Dokumentation, hrsg. von Boris Meissner, Köln 1970, S.46. 11 Ebd.

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V. Die Ost-Denkschrift der EKD - Ein erster Schritt zur Preisgabe der nationalen Einheit Der Rat der EKD veröffentlichte im Oktober 1965 eine von der Kammer für öffentliche Verantwortung verfaßte Denkschrift: „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn". Mit dieser Denkschrift sollte ein Beitrag zur Versachlichung eines ungelösten innen- und außenpolitischen Problems geleistet werden, um damit „die Wege zum politischen Handeln zu ebnen".12 Zu Recht wird festgestellt, daß die 20 Jahre nach Kriegsende noch immer ungelösten Probleme der Zukunft von 12 Millionen Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten, aber auch der in diesen Gebieten angesiedelten Polen, die noch ausstehende völkerrechtliche Regelung der deutschen Ostgrenzen dringend erforderlich mache. Dabei wurde ausdrücklich darauf verwiesen, daß die Lösung dieser Probleme „in engem Zusammenhang mit der Aufgabe (stehe); die notvolle Spaltung Deutschlands zu überwinden," 13 und damit eine Ursache der Spannungen in Europa: „Solange dieser Zustand einer noch ausstehenden Versöhnung besteht, bildet er einen Herd der Unruhe, weil ohne Lösung der deutschen Frage alle Bemühungen um eine politische Entspannung in Mitteleuropa und um eine neue tragfähige Friedensordnung zwischen den Völkern erfolglos bleiben müssen."14 Einen vollauf berechtigten Denkansatz dieser Denkschrift wird man nicht bestreiten können. Er vermochte sich aber nicht in dem beabsichtigten Sinne zu entfalten, weil sie sowohl eine heftige innerkirchliche als auch politische Kontroverse auslöste und damit gerade nicht zu einer Versachlichung der Auseinandersetzungen im Interesse einer gemeinsamen »Lösung der deutschen Frage4 beitrug. Es ist deshalb nicht völlig unberechtigt, wenn in der Kritik an dieser Denkschrift von einer zusätzlichen, inneren Spaltung Deutschlands die Rede ist. Aus der deutlich erkennbaren Bemühung der Denkschrift, die sehr unterschiedlichen, teilweise widersprüchlichen Auffassungen zu diesem Thema darzustellen, erklären sich zahlreiche Aussagen, die in sehr unterschiedliche Richtungen bei der Lösung der deutschen Frage (unter Einschluß der Ostgebiete) weisen. Zunächst wird sehr deutlich festgestellt: „Man versperrt sich den Zugang zu einer rechtlich befriedigenden Antwort, wenn man die Frage mit den strafrechtlichen Kategorien von Schuld und Sühne angeht. Das Volkerrecht kennt kein Strafrecht der Art, daß die angebliche (! K.M.) Kollektivschuld eines Volkes oder die Schuld seiner Staatsführung, die einen Angriffskrieg begonnen und sich während dieses Krieges völkerrechtswidrig verhalten hat, den Angegriffenen berechtigte, zur Sühne nach 12

Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn. Eine evangelische Denkschrift. Hannover 1965. S.5 13 Ebd., S.6 14 Ebd., S. 8

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eigenem Ermessen Sanktionen zu eigreifen. Auch unter diesem Gesichtspunkt war es dem Angegriffenen nicht erlaubt, dem besiegten Angreifer einen Teil seines Gebietes wegzunehmen und die Bevölkerung daraus zu vertreiben. Die in der innerdeutschen Diskussion da und dort im Trotz erhobene Frage, ob denn Deutschland rechtlos geworden sei, kann also klar verneint werden. Vollends kann keine Rede davon sein, daß sich im Rechtssinn eine Schuld der vertriebenen Bevölkerung konstruieren lasse, die das gerade ihr auferlegt schwere Schicksal rechtfertige." 15

Derartige Grundsätze des Völkerrechts wußte man damals noch und konnte sie auch noch in Denkschriften der evangelischen Kirche veröffentlichen und damit zumindest zur Diskussion stellen, ohne sich des inzwischen üblichen Verdachtes rechtsextremistischer, revanchistischer Gesinnung auszusetzen. Insofern wäre es „kurzschlüssig", so die Verfasser der Denkschrift weiter, „eine neue deutsche Ostpolitik ausschließlich als Folge und Gestalt der Buße für deutsche Politik zu fordern. Eine Politik aus einseitigen Schuldkomplexen oder aus einseitiger Schuldzumessung würde keine haltbare Ordnung für morgen schaffen, sondern den Keim zu neuen Konflikten legen. Auf diese Weise bliebe die Schuld der anderen völlig außer acht, die Völker würden in Gerechte und Ungerechte aufgeteilt." 16 Allerdings dürfe dieser vornehmlich rechtlich begründete Standpunkt nicht von der Einsicht entbinden, „daß alle Schuld der anderen die deutsche Schuld nicht erklären oder auslöschen" könne und deshalb die Bereitschaft gefördert werden müsse, aus der „Anerkennung politischer und geschichtlicher Schuld Forderungen für das heutige politische Handeln" zu ziehen: „Man wird sicherlich so viel sagen müssen, daß die Bereitschaft, Folgen der Schuld zu tragen und Wiedergutmachung für begangenes Unrecht zu leisten, ein wichtiger Bestandteil deutscher Politik gegenüber unseren östlichen Nachbarn sein muß. Aus geschichtlicher Erfahrung und in sittlicher Einsicht müssen wir uns klar machen, daß begangenes Unrecht des hier vor Augen stehenden Ausmaßes nicht ohne geschichtliche und politische Folgen bleibt." 17 Im Klartext heißt das, den Verlust der deutschen Ostgebiete doch als Folge deutscher Schuld zu akzeptieren, gleichzeitig aber auch als die notwendige Voraussetzung für eine Lösung der deutschen Fragen im Rahmen einer gesamteuropäischen Friedensordnung zu verstehen. Wie immer man die Ost-Denkschrift der EKD auch beurteilen mag: von einer Verwirkung des Rechts auf nationale Einheit war auch zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede. Im Gegenteil: Die Wiedervereinigung wurde als ein notwendiger Schritt auf dem Wege zu einer europäischen Friedensordnung verstanden, zu dem man durch Anerkennung der Annexion der ostdeutschen Gebiete bereit war. Ein deutlicher Wandel in der Argumentation wird erkennbar, gewissermaßen als ein Ergebnis des „Wandels durch Annäherung." 15 16 17

Ebd., S. 28. Ebd., S.40. Ebd.

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Dennoch wurde diese Einstellung heftig kritisiert, weil damit unter Berücksichtigung der politischen Großwetterlage die Chancen für eine Lösung der deutschen Frage nicht wuchsen, sondern nachweislich sanken. Der Sowjetunion wurde deutlich genug signalisiert, wenn auch nicht in direkter Absicht, daß ein beachtlicher und wachsender Teil der westdeutschen Öffentlichkeit bereit war, im Interesse des Friedens in Europa die Interessen der deutschen Nation zurückzustellen und die vielzitierten „Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges" anzuerkennen, aus welchen Motiven auch immer. Warum dann nicht auch die Spaltung Deutschlands? Auch die energischsten Befürworter der Ost-Denkschrift mußten eingestehen, daß die sowjetische Seite nicht bereit war, diese Lösung der anstehenden Probleme auch nur andeutungsweise zu akzeptieren. Allerdings haben sie aus dieser Erkenntnis nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen und die Einschätzung der sowjetischen Politik nicht einer gründlichen Prüfung unterzogen. Das Schlagwort von der „Anerkennung der Realitäten" bezog sich fortan nur auf die von der Sowjetunion geschaffenen Realitäten und nicht auf die Realitäten des sowjetischen Expansionsstrebens bzw. der Sicherung des eigenen Machtbereichs. Die Hoffnung auf eine Überwindung der „notvollen Spaltung" konnte fortan nur noch in grober Verkennung der politischen Realitäten gehegt werden. VI. Die Preisgabe der institutionellen Einheit der E K D ein entscheidender Schritt zur Preisgabe der nationalen Einheit Im Jahre 1968 erklärte sich die DDR mit einer neuen Verfassung zu einem „sozialistischen Staat deutscher Nation" - „getragen von der Verantwortung, der ganzen deutschen Nation den Weg in eine Zukunft des Friedens und des Sozialismus zu weisen" , so die Einleitung der Präambel dieser Verfassung. Daraus folgte eine radikale Abgrenzung der DDR zur „imperialistischen BRD" und Absage an alle Gemeinsamkeiten mit der sog. bürgerlichen Nation. Von der allgemeinen „Abgrenzung" der DDR wurde in besonderem Maße die Ev. Kirche in Deutschland betroffen. Trotz der Spaltung Deutschlands, insbesondere seit dem 13. August 1961, bestand die EKD als die größte gesamtdeutsche Institution fort, so sehr auch ihre Funktionsfähigkeit durch Ausreiseverbote, Genehmigungspflichten für Besucher usw. beeinträchtigt war. An dem Willen zur Bewahrung der Einheit der EKD konnte angesichts zahlreicher Erklärungen der evangelischen Kirche in Ost und West kein Zweifel bestehen. Als ein Beispiel für viele andere sei an die „Fürstenwalder Erklärung" von 1967 erinnert. Zum Abschluß ihrer Synodaltagung erklärten die formal noch zur EKD gehörenden Synodalen der Gliedkirchen in der DDR: „Unser evangelisches Bekenntnis weist uns an, kirchliche Gemeinschaft nur dann aufzukündigen, wenn der Bruder in Irrlehre oder Ungehorsam gegen den Herrn der Kirche beharrt. Diese Gründe zu einer Trennung der Kirchen innerhalb der EKD liegen nicht vor." 18 18

In: Peter Fischer: Kirchen und Christen in der DDR, Berlin (West) 1978, S. 87.

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Diese eindeutige Haltung erklärt sich aus den Erfahrungen des Kirchenkampfes im Dritten Reich, in dem sich gerade die Bekennende Kirche geweigert hatte, „die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen Überzeugungen zu überlassen."19 Diese kirchenpolitische Linie ließ sich auf Dauer jedoch nur dann verfolgen, wenn die evangelische Kirche darum bemüht war, einen deutlichen Unterschied zwischen der kirchlichen und der nationalen Einheit zu betonen und durch eine möglichst kritische Haltung zur gesamtdeutschen Politik Bonns zu beweisen. Dafür gibt es ungezählte Beispiele seit den eingangs erwähnten Erklärungen namhafter Theologen und kirchlicher Kreise seit 1945. So erklärte der Nachfolger von Otto Dibelius im Vorsitz des Rates der EKD, Bischof Kurt Scharf, vor der EKD-Synode im Jahre 1965, also an hervorragender Stelle: „Die Evangelische Kirche in Deutschland ist nicht Restbestand alter nationaler Einheit noch ein Vorgriff auf die politische Wiedervereinigung, noch auch kann sie Sprecherin sein für eine bestimmte Zuordnung der beiden deutschen Teile zueinander. (...) Ihre Einheit ist auch - als solche und absolut - nicht ein Lehrsatz des Bekenntnisses, eine über alle Zeiten hin gültige Glaubensaussage."20

Scharf widersprach damit nicht nur wichtigen Aussagen der Bekennenden Kirche, sondern auch der Haltung der Gliedkirchen in der DDR, wie sie in der erwähnten Fürstenwalder Erklärung formuliert waren. Vor dem Hintergrund des „Wandels durch Annäherung" an die auf endgültige Spaltung der deutschen Nation abzielenden Politik der Sowjetunion bzw. der DDR war es keine Überraschung mehr, daß die Gliedkirchen der DDR ihre Haltung zur Einheit der EKD aufgaben. Sie schlossen sich 1969 zu einem „Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR" zusammen. Die EKD, die für diese Entwicklung im wesentlichen verantwortlich war, gab damit den Forderungen der DDR nach und vermittelte auf diese Weise den Eindruck einer Legitimation der neuen DDR-Verfassung. Der massive, erpresserische Druck der DDR bzw. SED auf die evangelischen Kirchen in der DDR sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Preisgabe der institutionellen Einheit der EKD letztlich freiwillig erfolgt ist - und zwar wider die bessere Einsicht aus den Erfahrungen des Kirchenkampfes im Dritten Reich, wie sie in der Fürstenwalder Erklärung zum Ausdruck kam. Die folgenden Sätze stammen nicht von einem SED-Funktionär oder DDR-Juristen, sondern von dem thüringischen Landesbischof Dr. Moritz Mitzenheim: 19

Barmer Theologische Erklärung von 1934, 3.These. Übernommen von Erwin Wilkens: Die Einheit der EKD und die politische Teilung Deutschlands. Volk, Nation und Vaterland in kirchenpolitischer Sicht. In: Volk-Nation-Vaterland. Der deutsche Protestantismus und der Nationalismus, hrsg. von H. Zilleßen. Gütersloh 1970, S.295. 20

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„Die Mitglieder der Kirchen sind Bürger unserer (! K.M.) Deutschen Demokratischen Republik. Die Gemeinden und Kirchen, die Anstalten und Werke der evangelischen Kirchen sind Organismen und Einrichtungen auf dem Boden der Deutschen Demokratischen Republik, und sie wissen sich zur Beachtung der Gesetze unseres Staates bei der Gestaltung ihrer eigenen Strukturen und Ordnungen verpflichtet. Die Staatsgrenzen der Deutschen Demokratischen Republik bilden auch die Grenze für die kirchlichen Oiganisationsmöglichkeiten."21

Noch deutlicher hat sich der Erfurter Propst Heino Falcke, einer der maßgebenden Theologen des DDR-Kirchenbundes, zu dieser Entwicklung geäußert, und zwar in einer Rückschau aus dem Jahre 1990, in der taktische Rücksichtnahmen nicht mehr erforderlich waren: „In der Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR haben wir die DDR als deutschen Teilstaat bejaht. Wir haben dies getan im Zeichen des Gerichtes Gottes über den nationalen Größenwahn des .Deutschland, Deutschland über alles4. Wir haben die Überhöhung des Nationalen zum religiösen Wert kritisiert, in dessen Namen nationalistische Politik, auch Eroberungs- und Unrechtspolitik gerechtfertigt wurde."22

Von einer erzwungenen Entscheidung unter dem Druck der SED kann nach diesen Voten jedenfalls keine Rede sein, zumal ausdrücklich auf das theologisch und rechtlich bedenkliche Motiv des „Gerichtes Gottes" über deutsche Schuld - im Unterschied zu früheren Erklärungen (s. o.) - zur Begründung hingewiesen wird. Daß es sich dabei nicht um Außenseiterpositionen in der evangelischen Kirche handelt, läßt sich an dem Selbstverständnis des DDR-Kirchenbundes nachweisen. Es wurde zusammengefaßt zu der Aussage: „Wir wollen nicht Kirche gegen, nicht Kirche neben, sondern Kirche im Sozialismus sein." Die peinliche und einer wissenschaftlich-politischen Auseinandersetzung nicht angemessene Interpretation, es handele sich lediglich um eine geographische, nicht um eine politisch-ideologische Standortbestimmung, ist durch das abgestimmte Verhalten der evangelischen Kirche in Ost und West zum Sozialismus ad absurdum geführt worden. Sie mag, falls überhaupt, für die Kirchen in der DDR zutreffen, auf gar keinen Fall aber (eben aus geographischen Gründen) für die Kirchen in der Bundesrepublik, die sich seit dem Ende der sechziger Jahre in zunehmendem Maße dem real existierenden Sozialismus „ungehemmt durch überlieferte, ungehemmte auch durch gewisse heute aufgekommene Vorurteile aufgeschlossen und verständniswillig" angenähert haben, ganz so wie es Karl Barth den Deutschen unmittelbar nach Kriegsende empfohlen hatte.23 Während die evangelischen Kirchen in der DDR lediglich erklärten, nicht gegen den Sozialismus zu sein, so erklärten sich in den evangelischen Kirchen der Bun21

Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik - Dokumente und Kommentar, hrsg. von K. Sorgenicht u. a., 2 Bde, Berlin (Ost) 1969, hier: Bd.2, S. 173 22 Heino Falcke: Zukunft der kleinen Herde. In: Ev.Kommentare, Heft 3/1990, S. 166 23 Vgl. Anm. 4, ebd.

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desrepublik maßgebende Repräsentanten ausdrücklich für den Sozialismus, bei allen Vorbehalten gegen bestimmte Erscheinungsformen. Von einem harten Widerspruch gegen den Sozialismus, sei es in der DDR oder im sozialistischen Lager, war seitdem nichts mehr zu vernehmen. VII. Verlust der Glaubwürdigkeit Als Konsequenz dieses Verhaltens der evangelischen Kirche sowohl zum Sozialismus als auch zur deutschen Einheit war ein zunehmender Verlust ihrer Glaubwürdigkeit zu beklagen. Viele Äußerungen zur deutschen Geschichte, zur deutschen Nation, zur kirchlichen Verantwortung, zum Sozialismus standen und stehen noch immer in krassem Widerspruch zu eigenen früheren Aussagen und vermitteln den Eindruck opportunistischer Anpassung an die jeweilige Generallinie der kommunistischen Deutschland- und Weltpolitik. Dabei ist insbesondere an die Unterstützung der kommunistisch organisierten sog. nationalen Befreiungsbewegungen in Afrika und Asien zu denken, deren Kampf um „nationale Selbstbestimmung" und Bewahrung ihrer „nationalen Identität" vom Weltrat der Kirchen und damit von der EKD theologisch legitimiert und kirchlich finanziert worden ist. In diesem Zusammenhang ist es immer wieder zu grotesken Ereignissen gekommen. So fanden ζ. Β. am 13. August 1989, dem Jahrestag des Berliner Mauerbaus, in verschiedenen europäischen Städten, auch in Berlin nahe der Sektorengrenze, Fürbittgottesdienste für die Wiedervereinigung statt - für die Wiedervereinigung Koreas! Die Anregung dazu ging von einem ökumenischen Arbeitskreis in der Schweiz aus, der mit dieser Aktion die südkoreanische Basisgruppenbewegung „Chonminnong" unterstützen wollte. Diese Bewegung wollte nicht nur Korea wiedervereinen, sondern ganz Korea „demokratisieren" - in Zusammenarbeit mit den Kommunisten. Zur gleichen Zeit, wenige Wochen vor dem Fall der Mauer, warnten aber maßgebende Theologen und Repräsentanten der evangelischen Kirchen in Ost und West angesichts der im Sommer 1989 anlaufenden Fluchtwelle nach Ungarn und Prag vor dem wieder aufkommenden Gerede der Wiedervereinigung. Manfred Stolpe, damals Leiter des Sekretariats des Bundes der Ev. Kirchen in der DDR, heute Ministerpräsident des Landes Brandenburg, nannte dieses Reden auf dem Berliner Kirchentag im Juni 1989 „objektiv friedensgefährdend". 24 Der Magdeburger Altbischof Werner Krusche stellte auf der gleichen Veranstaltung die rhetorische Frage, ob es nicht „verlogen (sei), von Wiedervereinigung zusprechen, solange die beiden Militärbündnisse bestehen und die Regierungen in bei24

Übernommen von Jens Hacker: Deutsche Irrtümer, Berlin 1992, S.257

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den deutschen Staaten nachdrücklich ihre Bündnistreue zur NATO und zum Warschauer Pakt beteuern...? Müßten die Kirchen nicht erklären, daß »Wiedervereinigung4 nicht heißen kann: Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaates durch Eingliederung der DDR in die BRD ..." 25 Sie haben dies wenige Monate später erklärt, wie weiter unten noch darzustellen ist. V I I I . Kirchliches Engagement für eine friedliche Revolution in der DDR - nicht für die Einheit Vor dem Hintergrund dieser Einstellung zur deutschen Frage sollten auch die Aktivitäten verstanden werden, die im Herbst 1989 im Raum der Evangelischen Kirche in der DDR stattgefunden haben und die entscheidenden Anteil am Ablauf der „friedlichen Revolution" gehabt haben. Dieses Engagement kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Zu denken ist an die Gründung und Treffen der neuen Parteien in der DDR in kirchlichen Einrichtungen, an die Mitarbeit zahlreicher Pfarrer und kirchlicher Mitarbeiter in den neuen Parteien und örtlichen Demonstrationen, an die Friedensgebete in bekannten Kirchen, an öffentliche Erklärungen usw. Dies alles ist nicht zu bestreiten. Es sollte jedoch deutlicher als bisher üblich auf die Motive dieses Engagements geachtet werden! Vorrangiges Ziel waren Reformen in der DDR, vor allem Reise- und Informationsfreiheit, aber nicht die Liquidierung der DDR und auch nicht des sozialistischen Gesellschaftssystems, sondern nur der „Verkrustungen" und „Entartungen". Von einer Wiedervereinigung mit der „kapitalistischen BRD" war in diesen Kreisen lange nichts zu hören, und wo es der Fall war, wurden erhebliche Bedenken angemeldet. Selbst nach dem Fall der Berliner Mauer fühlte sich Manfred Stolpe im Rahmen eines Festvortrages an der Universität Greifswald am 15. November 1989 noch zu der Feststellung veranlaßt, daß die „deutschen Regierungen die Zweistaatlichkeit der deutschen Nation im europäischen Friedensprozeß seit 1970 verbindlich festgeschrieben" hätten.26 In diesem Sinne setzten auch einige bekannte Theologen der DDR, so Bischof Christoph Demke, Generalsuperintendent Günter Krusche und Pfarrer Friedrich Schorlemmer, ihre Unterschrift unter einen vielbeachteten Aufruf „Für unser Land" mit dem sich namhafte Persönlichkeiten aus Gesellschaft und Politik der DDR (u. a. Christa Wolf, Stefan Heym, Egon Krenz, Hans Modrow und zahlreiche Mitglieder der Regierung bzw. des Politbüros der SED) gegen die Wiedervereinigung nach den inzwischen bekannten Plänen aussprachen. Sie erklärten: „Noch haben wir die Chancen, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozia25 26

Ebd. Ebd.

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listische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln."27 Es ist eine bedenkenswerte Fügung, daß am gleichen Tage Bundeskanzler Kohl seinen Zehn-Punkte-Plan zur Vereinigung Deutschlands veröffentlichte. IX. Für eine sozialistische Alternative zur „kapitalistischen" Bundesrepublik Diese Voten haben den Prozeß der Vereinigung Deutschlands bekanntlich nicht aufhalten können. Sie dokumentieren aber die Kontinuität einer sehr kritischen Einstellung der evangelischen Kirche zur Einheit der deutschen Nation, die von der sog. Wende im Kern unberührt geblieben ist. Es ist nichts unterlassen worden, um die in Jahrzehnten gewachsene Distanz zum „bürgerlichen Staat" auch während des Vereinigungsprozesses und danach zu dokumentieren. Dazu gehört auch der aufschlußreiche Streit um das Glockenläuten zum Tage der Vereinigung am 3. Oktober 1990 und die Abwesenheit des obersten Repräsentanten des Kirchenbundes der DDR, Bischof Demke (Magdeburg), beim ökumenischen Gottesdienst am Vormittag dieses denkwürdigen Tages der deutschen Volkes. Er hielt sich an diesem Tage aufgrund einer lange vereinbarten Einladung zu einem Gespräch im Kloster Sagorsk bei Moskau auf. In deutlichem Unterschied zum Engagement in der Wendezeit der DDR kann von einem wesentlichen, konstruktiven Beitrag der evangelischen Kirche im Prozeß der Vereinigung Deutschlands und der geistigen, gesellschaftlichen und politischen Neuorientierung unseres Volkes nur mit großem Vorbehalt gesprochen werden. Selbstverständlich hat auch die evangelische Kirche eine äußere Wende vollzogen, u. a. durch eine betont späte Wiedervereinigung der östlichen und westlichen Gliedkirchen zur alten EKD im Juni 1991; sie läßt aber keine Anzeichen eines inneren Wandels als Ergebnis einer kritischen Rückschau auf ihre Einstellung zur deutschen Frage und zur deutschen Geschichte seit 1945 erkennen. Die üblichen kritischen Äußerungen zum DDR-Sozialismus, die nun auch in der evangelischen Kirche vertreten werden können, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Sozialismus nach wie vor als das Modell einer gerechteren Gesellschaftsordnung in weiten Teilen der evangelischen Kirche angesehen wird. Namhafte Theologen und kirchliche Laien haben diesen Standpunkt in einem Sammelband vertreten, der ein erstaunliches Maß an Kontinuität des Denkens erkennen läßt. Er trägt den bemerkenswerten Titel „Der Traum aber bleibt" 28 . Dazu sollte jedoch bedacht werden, was Karl Barth dem deutschen Volke nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Herrschaftssystems zu sagen wußte. 27

Neues Deutschland vom 29.11.1989 Norbert Sommer (Hrsg.): Der Traum aber bleibt. Sozialismus und christliche Hoffnung. Eine Zwischenbilanz. Berlin 1992 28

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Warum sollten wir es uns nicht nach dem Zusammenbruch des realsozialistischen Herrschaftssystems der DDR auch sagen lassen, bedenken - und danach handeln?: „Wir sind verantwortlich auch für unsere Träume. Aber das deutsche Volk war nicht bei sich selbst in dieser Sache. Niemand ist bei sich selbst, der sich selbst fallen läßt. Was jetzt geschehen muß, ist dies, daß das deutsche Volk gänzlich zu sich selbst komme und dann auch gänzlich bei sich selbst bleibe. (...) Ein erwachtes deutsches Volk, ein deutsches Volk, das nun stehen und gehen will, wird ein Volk sein, das nüchtern werden und bleiben will. Es wird sich also auch die kleinen Illusionen, die sich ihm jetzt aufdrängen könnten, versagen. Es könnten ja auch die kleinen Illusionen von heute die Ritzen und Spalten sein, aus denen später irgendein neuer, alles gefährdender und verschlingender Abgrund werden könnte. Und es könnte das kleinste Nachgeben und Weichen vor diesen kleinen Illusionen dies bedeuten, daß man schon wieder auf dem Weg zu einem neuen Sichfallenlassen begriffen ist."29

29

Vgl. Anm. 4, ebd., S. 92f.

10 Löw

Wirtschaftsförderung und Industriepolitik in Ostdeutschland eine Zwischenbilanz nach 10 Jahren Von Roland Sturm I. Der Handlungsspielraum der ostdeutschen Landesregierungen Es ist eine unbestrittene und unbestreitbare Tatsache, daß der Sozialismus in der DDR den ostdeutschen Ländern eine ruinierte Volkswirtschaft hinterließ. 1 Die Umstrukturierung bzw. der Neuaufbau der Betriebe, ihre technische Modernisierung, die Weiterqualifizierung von Arbeitskräften und die Ausbildung des Managements, um nur einige der notwendigen Reformschritte zu nennen, waren zwingende Voraussetzungen für das Erreichen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft in Ostdeutschland. Wer aber sollte diese Aufgaben wahrnehmen? Längerfristig und im Idealfalle sogar schon als bestimmendes Element einer frühen Neuorientierung - so argumentierten ordoliberale Ökonomen - sollten diese Aufgaben den Selbstoptimierungskräften des Marktes überlassen werden. Allerdings, das räumten auch die schärfsten Kritiker staatlicher Strukturpolitik ein, bedürfe es in der Übergangsphase von der Staats- zur Martkwirtschaft noch staatlichen Handelns.2 Diese Grundüberzeugung fand nicht zuletzt in Artikel 14 des Staats Vertrages über die Schaffung einer Währungs- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom 18.5.1990 ihren Ausdruck. Hier heißt es: „Um die notwendige Strukturanpassung der Unternehmen in der Deutschen Demokratischen Republik zu fördern, wird die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik im Rahmen der haushaltspolitischen Möglichkeiten während einer Übergangszeit Maßnahmen ergreifen, die eine rasche strukturelle Anpassung der Unternehmen an die neuen Marktbedingungen erleichtern." Mit der deutschen Einheit stellte sich die Frage nach Staatseingriffen in die Wirtschaftsentwicklung der ostdeutschen Länder neu. Die Regierung der DDR war als 1

„Ende 1989 stand die DDR-Wirtschaft nach eigenen Erkenntnissen der Zentralen Plankommission und des DDR-Finanzministeriums vor dem ökonomischen Bankrott." Jahresbericht 1999 der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit, BTagDrs. 14/1825, S. 12. 2 Heute warnen jedoch ordoliberale Ökonomen: „Vor allem in der Bevölkerung, mehr und mehr aber auch auf politischer Ebene herrscht vielfach die Vorstellung vor, jetzt sei es am Staate, den Strukturwandel zu lenken, «industrielle Kerne1 zu erhalten, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Hiervon ist aus bekannten Gründen abzuraten." Joachim Ragnitz: Strukturwandel und Beschäftigung in Ostdeutschland, in: List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik 21 (1), 1995, S. 124-141. 10*

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Akteur in der Wirtschaftsförderung und Industriepolitik verschwunden. Dies bedeutete aber nicht, daß nun die neuen ostdeutschen Landesregierungen in gleicher Weise gestaltend für die Wirtschaftsentwicklung ihrer Länder Verantwortung übernehmen konnten. Sie fanden sich und finden sich bis heute vielmehr in einem Netzwerk von Akteuren wieder, das ihre wirtschaftlichen Eingriffsmöglichkeiten deutlich begrenzt. Die Wirtschaftsstrukturen der neuen Länder konnten und können von den ostdeutschen Landesregierungen nicht autonom gestaltet werden. Es wäre deshalb unredlich, das in zehn Jahren im wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozeß des Beitrittsgebiets Erreichte bzw. nicht Erreichte, ausschließlich mit den wirtschaftspolitischen Aktivitäten der ostdeutschen Landesregierungen in Verbindung zu bringen, selbst wenn unbestreitbar diesen Regierungen von ihren Bürgern entsprechende Erfolge oder Mißerfolge in der Regel zugeschrieben werden. Mindestens vier weitere Prozesse der ständigen Einflußnahme und Formgebung der Wirtschaftsentwicklung in Ostdeutschland finden bzw. fanden neben der Landespolitik statt3: 1. Die Privatisierungs- und Sanierungsstrategien der Treuhandanstalt veränderten die gesamte Wirtschaftsstruktur Ostdeutschlands. Hier hatten die ostdeutschen Länder weder ein Vetorecht noch einen Gestaltungsauftrag. Sie entsandten nur fünf Vertreter in den Verwaltungsrat der Treuhand (von 24 Mitgliedern) und waren in den Beiräten der fünfzehn Außenstellen der Anstalt vertreten, die bei Entscheidungen über die Zukunft von Betrieben bis zu einer Größenordnung von 1500 Beschäftigten mit einer gewissen Handlungsautonomie ausgestattet waren. Die Länder wurden so informiert, und im Herbst 1991 wurde sogar ein „Frühwarnsystem" für bevorstehende Abwicklungsfälle eingeführt. Eines stand aber immer fest: Die Treuhandanstalt würde die Letztentscheidung im Einzelfall nicht aufgeben. 4 Das Gewicht der Treuhandtätigkeit für die Umstrukturierung der ostdeutschen Wirtschaft verdeutlicht schon die einfache Tatsache, daß zu Beginn ihrer Tätigkeit knapp zwei Fünftel der gesamten ostdeutschen Erwerbstätigen in Treuhandbetrieben beschäftigt waren. Die Übernahme sämtlicher Großbetriebe der DDR machte die Treuhand zur größten Industrie-Holding der Welt. Für die politischen Entscheidungsträger, zumindest jenen in Bonn, schienen die Entscheidungen der Treuhandanstalt durchaus kompatibel mit autonomem Handeln der Landesregierungen. Die Treuhand lehnte für sich jeglichen struktur- oder industriepolitischen Auftrag ab. Der erste Präsident der Treuhandanstalt, Detlev 3 Eine knappe Bilanz der Jahre 1991-95findet sich bei Kathleen Toepel: Regionale Strukturpolitik in den neuen Bundesländern unter Berücksichtigung des EU-Engagements, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 49 (1995), S. 31-37. 4 Christopher Freese: Die Privatisierungstätigkeit der Treuhandanstalt, Frankfurt am Main/ New York 1995, S. 63 f. Diese Tatsache wird von der policy-orientierten Netzwerkanalyse unterschätzt. Vgl. Jeffrey J. Anderson: Germany and the Structural Funds: Unification Leads to Bifurcation, in: Lisbet Hooghe (Hrsg.): Cohesion Policy and European Integration: Building Multi-Level Governance, Oxford 1996, S. 178.

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Karsten Rohwedder, sagte über die Arbeitsteilung von Politik und Treuhand: „Wir arbeiten betriebswirtschaftlich undfirmenbezogen, die Politik arbeitet wirtschaftspolitisch und regionalbezogen... Die Verantwortung für die Entwicklung der Regionen, den Strukturwandel und die Ansiedelungspolitik liegt in erster Linie bei den Landespolitikern." 5 Faktisch ist aber diese Trennung weder vorstellbar, noch entsprach sie den Realitäten. In der Frühphase der Treuhandtätigkeit schienen die neuen Landesregierungen aber noch auf der Suche nach ihrer industriepolitischen Rolle, was es der Treuhand erleichterte, ihre tatsächlich hochwirksame industriepolitische Einflußnahme herunterzuspielen. Beobachter bemerkten: „Keine der eigentlich zuständigen Landesregierungen hat ein industriepolitisches Konzept, in dem halbwegs verbindlich erklärt wird, wo welche Standorte, Branchen und Unternehmen auch künftig erhalten bleiben sollen, und in dem überdies nachzulesen ist, wie dies geschehen soll." 6 Die Folge war, daß aus der frühen industriepolitischen Strategie der Treuhand eine fixe und - vorsichtig formuliert - restriktive Rahmenbedingung7 für das spätere Handeln der ostdeutschen Regierungen wurde und dies nicht nur weil wirtschaftliche Strukturentscheidungen ein „Nebenprodukt" ihrer Privatisierungstätigkeit waren, sondern auch weil sie in einigen Fällen, wie bei der Privatisierung der ostdeutschen Werften und bei der Sicherung des EKOStahlwerkes sowie des Chemiestandortes um Bitterfeld und Merseburg, strukturpolitische Prioritäten der Bundesregierung durchsetzte.8 Die Treuhandkritiker sahen in der Treuhand gar „eine Art Nebenregierung, die die wirtschaftliche Entwicklung der neuen Länder weitgehend bestimmt und den neuen Landesregierungen nur das Abarbeiten der Folgeprobleme zuordnet." 9 2. Bereits am 3. Oktober 1990 wurde mit dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages (Artikel 28) auch das Gesetz über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" in Ostdeutschland gültig. Damit wurde das wichtigste Instrument für den wirtschaftlichen Aufbau Ost bereits zu einem Zeitpunkt übertragen als die neuen Länder noch gar nicht existierten. Die ostdeutschen Bezirksverwaltungsbehörden erließen Bewilligungsbescheide für nun mögliche Förderanträge nach Zeichnung durch „Westberater". Erst Anfang 1991, also in 5

Spiegel, 28.1.1991, S.55ff. Peter Christ/Ralf Neubauer: Kolonie im eigenen Land. Die Treuhand, Bonn und die Wirtschaftskatastrophe der fünf neuen Länder, Berlin 1991, S. 149. 7 Esfinden sich in der Literatur auch weit negativere Urteile, wie: „Die Aufgaben, die der Regionalpolitik für die ostdeutschen Bundesländer nach dem weitgehenden Kahlschlag in der industriellen Basis aufgebürdet wurde, sind nahezu unlösbar." Jan Priewe/Rudolf Hickel: Der Preis der Einheit. Bilanz und Perspektiven der deutschen Vereinigung, Frankfurt am Main 1991, S.218. 8 Frank Nägele: Strukturpolitik wider Willen? Die regionalpolitische Dimension der Treuhandpolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 43-44 (1994), S.43ff. 9 Jan Priewe: Die Treuhandanstalt - die größte Staatsholding der Welt, in: Frankfurter Rundschau, 14.11. 1990, S.27. 6

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etwa zeitgleich mit der Verabschiedung des 20. Rahmenplans der Gemeinschaftsaufgabe, konnten die Wirtschaftsministerien in den ostdeutschen Ländern diese neue Aufgabe wahrnehmen. Die Alternative zur Gemeinschaftsaufgabe, nämlich ein eigenes Programm für die neuen Länder zu konzipieren - oder gar der Entwurf eines solchen Programmes auf Initiative dieser Länder - wurde nie ernsthaft erwogen. 10 Die Einbindung ihrer Wirtschaftspolitik in die Gemeinschaftsaufgabe bedeutet für die neuen Länder die Einbindung in einen Planungsausschuß, dem der Bundesminister für Wirtschaft als Vorsitzender, sowie der Bundesminister der Finanzen und die Wirtschaftsminister bzw. -Senatoren aller 16 Länder angehören. Der Planungsausschuß hat sich der „aktiven Regionalpolitik" zur Verbesserung der Standortbedingungen und dem Ziel der „Schaffung neuer wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze in den neuen Ländern" verschrieben. Er hat sogar die Erwartung mit Hilfe der Regionalpolitik „einen sich selbst tragenden Aufschwung" erzeugen zu können.11 Zentral wird inzwischen relativ detailgenau die Ausgestaltung der Fördergebiete in Ostdeutschland mit Hilfe der Regionalindikatoren Unterbeschäftigung, Einkommen und Infrastruktur geplant. Diese Planung ermöglicht seit 1997 sogar eine Differenzierung von Förderleistungen für Ostdeutschland aufgrund der Unterscheidung von strukturstärkeren und strukturschwächeren Regionen. Im Hinblick auf die Optionen von Landesregierungen in den neuen Ländern bedeutet dies zum einen, daß sie sich einem Entwicklungsmodell gegenüber sehen, das vor allem gesamtstaatlich gesteuert wird. Die Mitwirkung der fünf Länder und heute wäre Berlin hinzuzählen, da seit dem 1.1.1997 zum ostdeutschen Fördergebiet auch ganz West-Berlin gehört - im Planungsausschuß gibt ihnen keine Vetoposition, obwohl Entscheidungen im Planungsausschuß mit einer Mehrheit von drei Vierteln (also 24 von 32 Stimmen)12 getroffen werden. Die sechs ostdeutschen Stimmen können ohne Unterstützung des Bundes keine verläßliche Position der Stärke in diesem Entscheidungsprozeß13 aufbauen. 3. Für die Wirtschaftsförderung Ostdeutschlands von überragender Bedeutung ist auch die Einbeziehung der Region in die EU-Strukturfonds und hier in erster Linie in die Ziel 1-Gebiete. Der Europäische Rat beschloß bereits am 4. Dezember 1990 die EG-Regionalförderung auf die neuen Länder zu übertragen. Das Problem der 10

Frank Nägele: Regionale Wirtschaftspolitik im kooperativen Bundesstaat. Ein Politikfeld im Prozeß der deutschen Vereinigung, Opladen 1996, S.200f. 11 Achtundzwanzigster Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" für den Zeitraum 1999 bis 2002 (2003), BTagDrs. 14/776, S.7. 12 Im Planungsausschuß hat der Bund 16 Stimmen und jedes Land eine. Das Gesetz über die Gemeinschaftsaufgabe ist im Bundesrat zustimmungspflichtig. Hier verfügen die sechs ostdeutschen Länder über 23 der 69 Stimmen. 13 Ausführlicher zu dessen Rationalität die noch immer hilfreiche Darstellung in: Fritz W. Scharpf/Bemd Reissert/Fritz Schnabel: Politikverflechtung. Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, Kronbeig/Ts. 1976, S.76ff.

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fehlenden Wirtschaftsdaten zur Berechnung von Mittelzuweisungen wurde durch das Gewähren eines Pauschalbetrages für eine Übergangsperiode bis 1993 gelöst. Zunächst waren die Landesregierungen in Ostdeutschland von der Erstellung der Pläne für die Mittelverwendung völlig ausgeschlossen. Diese wurden alleine von den zuständigen Bundesministerien, dem Wirtschafts- und dem Sozialministerium, formuliert. Am Anfang bedeutete dies eine völlige Bindung der Mittel des Europäischen Regionalfonds (EFRE) an die Schwerpunktsetzungen der Gemeinschaftsaufgabe (GRW). Hierfür hatte sich die Bundesregierung nicht mehr als formal der Zustimmung der neuen Länder versichert, dadurch daß sie deren Wirtschaftsminister aufforderte, „sich innerhalb einer Frist von vier Tagen zu der Bindung der EFRE-Mittel an die GRW zu äußern" 14. Als es 1993 im Zuge der Reform der Strukturfonds zu einem Konflikt zwischen der EU-Kommission und der Bundesregierung wegen der Bindung der EU-Fördermittel an die GRW-Förderung kam, nahmen Sachsen und Berlin die Chance war, sich für eine Entkoppelung der beiden Fördersysteme einzusetzen, um damit den ostdeutschen Ländern die Chance einer stärkeren Prioritätensetzung in der Wirtschaftsförderung im Eigeninteresse und auf Eigeninitiative zu geben.15 Diese Initiative kam zumindest zu einem gewissen Grade auch den Interessen der EUKommission entgegen, die so unter Umgehung des Bundes ihren Einfluß auf die Regionalpolitik der Länder verstärken konnte. Das Entkoppelungsmodell wird heute auch von denjenigen ostdeutschen Ländern, die vorwiegend aus parteipolitischer Rücksichtnahme 1993 den Konflikt mit dem Bund scheuten, als Chance für eigenständige Initiativen in der Wirtschaftsförderung begriffen und in unterschiedlichem Maße wahrgenommen. Zunehmend zeigt sich, „daß trotz der insgesamt kooperativen Zusammenarbeit mit dem Bund und anderen deutschen Ländern jedes Land seine spezifischen Interessen in Brüssel zu vertreten hat, so MecklenburgVorpommern hinsichtlich des Erhalts der Werften, Brandenburg hinsichtlich der Sicherung des Stahlstandortes Eisenhüttenstadt und alle fünf ostdeutschen Länder bei der Unterstützung der landwirtschaftlichen Großbetriebe." 16 Allerdings hat die Einbindung der ostdeutschen Wirtschaftsförderpolitik in die EU auch eine Kehrseite, die v. a. durch den Fall der VW-Werke Mosel und Chemnitz in Sachsen deutlich in Erinnerung gebracht wurde. Die Auszahlung der sächsischen Fördermittel an VW im Sommer 1996 verstieß gegen die Art. 87 und 88 des EGVertrages und war deshalb rechtswidrig. Im Prinzip geht es hier um die Beihilfenkontrolle der EU, die einer Verzerrung der Wettbewerbsbedingungen auf dem Europäischen Binnenmarkt entgegenwirken soll. Diese Subventionskontrolle gilt auch für die ostdeutschen Länder, auch wenn von Rechtsvertretern der sächsischen Landesregierung vorgebracht wurde, daß die Ausnahmeregelung des Art. 87 hätte 14

Nägele, a.a.O., S.210. Anderson, a. a. O., S. 178ff. 16 Raimund Krämer: Von Interessen, östlicher Eigenart und karolingischem Europa, in: Othmar Nikola Haberl/Tobias Korenke (Hrsg.): Politische Deutungskulturen. Festschrift für Karl Rohe, Baden-Baden 1999, S.328. 15

152

Roland Sturm

Anwendung finden sollen, die „Beihilfen für die Wirtschaft bestimmter, durch die Teilung Deutschlands betroffener Gebiete... zum Ausgleich der durch die Teilung verursachten wirtschaftlichen Nachteile" erlaubt. Nicht nur hat die EU-Kommission die Förderung der ostdeutschen Wirtschaft von sich aus nie in diesen Zusammenhang gebracht17 und sich damit für alle Zukunft einen weitgehenden Ermessensspielraum bei der Beurteilung von Subventionsleistungen der Landesregierungen gesichert, es ist auch unumstritten, daß die erwähnte Sonderregelung des Art. 87 nicht darauf zielt, wirtschaftliche Nachteile Ostdeutschlands abzugleichen, die in der mangelhaften Wirtschaftsentwicklung der DDR begründet sind.18 4. Weniger klar zu bestimmen ist der Einfluß westdeutscher Experten und Vorbilder auf die Wirtschaftsförderungspolitik in den neuen Ländern. Daß diese Faktoren eine Rolle und sofort nach der Wende wohl auch notwendigerweise eine große Rolle spielten und spielen, dürfte unbestritten sein. Die Interpretation von Einfluß als Kategorie zwischen Hilfestellung und Bevormundung variiert je nach Perspektive des Betrachters. Vor allem west- und süddeutsche Funktionseliten beherrschen noch heute die für die Definition der Prioritäten der Wirtschaftsförderung zentralen Stellen in der öffentlichen Verwaltung der ostdeutschen Länder. Das in NordrheinWestfalen entwickelte Modell der Regionalplanung von unten19 mit Hilfe des Instrumentes der Regionalkonferenzen, der sogenannte „inszenierte Korporatismus" 20 , wurde in einigen ostdeutschen Ländern (Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen) zumindest in Ansätzen umgesetzt. Nägele argumentiert allerdings, daß in Sachsen-Anhalt dieses Modell nur symbolische Bedeutung habe: „Obwohl das Konzept den Titel ,regionalisierte Strukturpolitik 4 trägt und damit suggeriert, daß auch wesentliche strukturpolitische Kompetenzen vom Land auf die Regionen übertragen werden sollen, soll in diesem Bereich alles weitgehend beim Alten bleiben." 21 Ähnlich lautet sein Befund für Thüringen und Brandenburg. 22 17 Volkmar Götz: Europäische Beihilfenaufsicht über staatliche Finanzhilfen für die Wirtschaft im Beitrittsgebiet, in: Jörn Ipsen u.a. (Hrsg.): Verfassungsrecht im Wandel, Köln etc. 1995, S. 322. 18 Uerpmann, Robert: Der europarechtliche Rahmen für staatliche Subventionen in Ostdeutschland, in: Die Öffentliche Verwaltung, Heft 6, März 1998, S. 226-233; Frank Nägele: Die,graue Eminenz4 der regionalen Wirtschaftspolitik. Zur regionalpolitischen Bedeutung der EG-Beihilfenkontrolle in der Bundesrepublik Deutschland, in: Staatswissenschaft und Staatspraxis 8(1), 1997, S. 109-130. 19 Vgl. ζ. B. Heinz Kruse: Reform durch Regionalisierung. Eine politische Antwort auf die Umstrukturierung der Wirtschaft, Frankfurt am Main/New York 1990; Helmut Voelzkow: Mehr Technik in die Region. Neue Ansätze zur regionalen Technikförderung in NordrheinWestfalen, Wiesbaden 1990; Rolf G. Heinze u.a.: Innovative Standortpolitik auf Länderebene-das Beispiel Nordrhein-Westfalen, in: Udo Bullmann/Rolf G. Heinze (Hrsg.): Regionale Modernisierungspolitik und internationale Perspektiven, Opladen 1997, S. 251-268. 20 Rolf G. Heinze/Josef Schmid: Mesokorporatistische Strategien im Vergleich: Industrieller Strukturwandel und die Kontingenz politischer Steuerung in drei Bundesländern, in: Wolfgang Streeck (Hrsg.): Staat und Verbände, Opladen 1994, S.75ff. 21 Nägele, a.a.O., S.246. 22 Ebda. S. 261 und 269.

Wirtschaftsförderung und Industriepolitik in Ostdeutschland

153

Die Vielzahl der hier skizziertem Restriktionen eigenständiger Landespolitik im Felde der regionalen Wirtschaftsförderung lassen heute den eigenständigen Beitrag von Landesregierungen zum regionalen Strukturwandel schwer erkennen. Wichtig für die Bilanz ostdeutscher Wirtschaftsförderung ist sicherlich beides: Zum einen der Umgang der Landesregierungen mit Ressourcen, die notgedrungen vorwiegend nicht eigene sein mußten, und zum anderen das Einbringen von Ideen durch die Landesregierungen, das Experimentieren mit Modellen, sowie die Suche nach regional angepaßten Lösungen für die wirtschaftlichen Probleme der ostdeutschen Länder. II. Die Ressourcen für den wirtschaftlichen Umbau der neuen Länder und die makroökonomischen Resultate 1. Die Ressourcen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" Die Ressourcen der Gemeinschaftsaufgabe sind nur ein Teil der Finanzhilfen und Steuervergünstigungen, die vom Bund bisher für die Wirtschaftsförderung in Ostdeutschland zur Verfügung gestellt wurden. Bezogen auf alle Wirtschaftsbereiche standen den neuen Länder im Zeitraum 1991-98 insgesamt entsprechende Unterstützungsleistungen in Höhe von DM 15.840 je erwerbstätiger Person (alte Länder: DM7.233) zur Verfügung. 23 Unter anderem erhielten die neuen Länder (einschließlich Ostteil Berlins) für die Städtebauförderung beispielsweise Bundesfinanzhilfen in Höhe von 3,4 Milliarden DM im Zeitraum 1994-9924, sowie im Zeitraum 1991-1998 (1. Halbjahr) Investitionszulagen für Ausrüstungsinvestitionen in Höhe von 23,65 Mrd. DM. In diesem Zeitraum wurden Sonderabschreibungen in Höhe von 57,52 Mrd. DM in Anspruch genommen und Kreditprogramme des ERP, der Kreditanstalt für Wiederaufbau und der Deutschen Ausgleichsbank in Höhe von 114,98 Mrd. DM mobilisiert. 25 Die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe werden vom Bund und den ostdeutschen Ländern (nach 1997 zählt zu diesen auch Berlin) gemeinsam aufgebracht. In der Zeit von 1991 bis 1998 wurden in den neuen Ländern für 41.313 Investitionsprojekte der gewerblichen Wirtschaft bei einem Investitionsvolumen von 199,129 Mrd. D M GRW-Mittel in Höhe von 43,611 Mrd. DM aufgewendet. 26 23

Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Finanzhilfen des Bundes und der Steuervergünstigungen gemäß § 12 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (StWG) vom 8. Juni 1967 für die Jahre 1997 bis 2000 (17. Subventionsbericht), BTagDrs. 14/1500, S. 16. 24 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Christine Ostrowski, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS, BTagDrs. 14/1586, S. 3. 25 Jahresgutachten 1998/99 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, BTagDrs. 14/73, S. 103. 26 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert und der Fraktion der PDS, BTagDrs. 14/379, S. 3.

154

Roland Sturm Tabelle 1 : Bewilligte Mittel und Investitionsvolumen der GRW 1991-1996 in Mio D M

Land

GRW-Mittel (bewilligt)

Berlin

Investitionsvolumen (Soll)

844,2

4.857,6

Brandenburg

2.382,6

12.409,4

Mecklenburg-Vorpommern

1.038,1

5.961,7

Sachsen-Anhalt

2.327,4

12.258,5

Sachsen

3.475,1

20.729,3

Thüringen

3.027,7

15.341

Quelle: Eigene Berechnungen nach BTagDrs. 14/776, S.21ff.

Tabelle 2: Bewilligte Mittel und Investitionsvolumen der GRW 1996-1998 in Mio D M Land

GRW-Mittel Investitionsvolumen (gewerbliche (gewerbl. Wirtschaft) Wirtschaft)

GRW-Mittel (Infrastruktur)

Investitionsvolumen (Infrastruktur)

840,7

3.688,3

680,4

891,4

Brandenburg

2.566,1

9.381,7

899,6

1.392,9

MecklenburgVorpommern

2.028,1

6.685,0

622,1

1.012,7

SachsenAnhalt

4.580,3

15.671,5

1.308,9

2.089,3

Sachsen

3.818,5

12.614,3

1.008,0

1.490,9

Thüringen

3.175,2

9.603,9

1.206,0

1.888,1

Berlin

Quelle: BTagDrs. 14/776. S.20.

Die Ergebnisse der wirtschaftlichen Entwicklung Ostdeutschlands erlauben heute neben der Förderung in der Fläche, die das Investitionsvolumen insgesamt vergrößern soll, eine differenziertere Förderung aufgrund der Identifikation regionaler Entwicklungsunterschiede in Ostdeutschland. Der Planungsausschuß der Gemeinschaftsaufgabe hat acht Arbeitsmarktregionen identifiziert, in denen die wirtschaftliche Entwicklung am weitesten fortgeschritten ist, nämlich: Berlin, Dresden, Leipzig, Jena, Erfurt, Weimar, Schwerin und Halle. I n den ökonomisch fortgeschrittene-

Wirtschaftsförderung und Industriepolitik in Ostdeutschland

155

ren Regionen leben ca. 40% der ostdeutschen Bevölkerung. Der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entsprechend werden seit 1997 die Förderhöchstsätze modifiziert. Für strukturstärkere Regionen gelten Förderhöchstsätze von 43 % des Investitionsvolumens für kleine und mittlere Unternehmen und 28% für große, in den strukturschwächeren betragen diese 50% bzw. 35 %. 27 2. Wirtschaftsförderung

durch die EU-Strukturfonds

Für die neuen Länder (einschließlich des Ostteils Berlins) stellte die EU für die Jahre 1994 bis 1999 im Rahmen ihrer Ziel 1-Förderung (Regionen mit Entwicklungsrückstand) insgesamt 13,64 Milliarden ECU zu Preisen von 1994 zur Verfügung. Die neuen Länder hatten anfangs sogar noch mit einer größeren Summe gerechnet. 28 Nach der im März 1999 beschlossenen Agenda 2000 der EU bleiben die neuen Länder bis 2006 vollständig Ziel-1-Fördergebiet. Ostberlin als ausscheidenTabelle 3: Strukturfondsmittel in Mio ECU, Preise von 1994 Mittel insgesamt

pro Jahr

3.121,8

1.040,3

13.640,0

2.273.3

Verteilung nach Ländern: Berlin (Ost) Brandenburg Mecklenburg-Vorpommern Sachsen-Anhalt Sachsen Thüringen

745.0 2.169,0 1.829,0 2.367,0 3.366,0 2.003,0

124,2 361,5 304,8 394,5 561,0 333,8

nicht regionalisiert: Bundesprogramm des ESF (Sozialfonds) R A F (Fischerei)

1.077,0 83,0

179,5 13,8

Gemeinschaftsinitiativen 1991-1993 1994-1999

1.044,0

174,0

Gemeinschaftliches Förderkonzept 1991-1993 1994-1999 (ohne Gemeinschaftsinitiativen)

Quelle: Ludwig Schuster Einsatz der EU-Strukturfonds in den neuen Ländern und Berlin (Ost), in: Emst Pichl (Hrsg.): Europa in Ostdeutschland, Bonn 1996, S. 185. 27 M

Achtundzwanzigster Rahmenplan, a.a. O., S. 12. Krämer, Von Interessen..., a. a. O., S. 328.

156

Roland Sturm

des Ziel-l-Gebiet erhält eine Übergangsunterstützung von 729 Mio. Euro. Den neuen Ländern (und Ost-Berlin) stehen insgesamt ca. 2,85 Mrd. Euro pro Jahr zu, was einem jährlichen Zuwachs an Mitteln von ca. 370 Mio. Euro im Vergleich zur Förderperiode 1994-99 entspricht. 29

3. Die wirtschaftliche

Bilanz der Förderpolitik

Die Bilanz der Wirtschaftsförderungspolitik in den ersten zehn Jahren der Bemühungen um eine Integration des ostdeutschen Wirtschaftsraumes läßt erkennen, welch große Wegstrecke für eine Heranführung der ostdeutschen Wirtschaft an das EU-Durchschnittsniveau noch zu gehen ist. Zwar lösten seit 1995, nach dem Auslaufen des Fonds „Deutsche Einheit" und der Einbeziehung der neuen Länder in den Finanzausgleichsmechanismus, die Steuereinnahmen der ostdeutschen Länder die Überweisungen des Bundes als wichtigste Finanzierungsquelle ab. Aber hinsichtlich der Aufgabenfinanzierung blieben die ostdeutschen Länderhaushalte stark defizitär. Die Steuerfinanzierungsquote, also der Anteil der Steuereinnahmen an den Ausgaben, erreichte nach einem kontinuierlichen Anstieg 1998 42% (alte Länder 68%). Damit blieben die neuen Länder weiterhin de facto in ihrer Haushaltsführung weitgehend von Fremdleistungen abhängig. Der Grund hierfür ist nicht zuletzt in den Defiziten der Wirtschaftsentwicklung zu suchen. Die Bundesregierung 30 sieht deshalb auch kein rasches Ende der Wirtschaftsförderungspolitik: „Ein vorfristiger Abbau der Hilfeleistungen zum jetzigen Zeitpunkt hätte schwere wirtschaftliche Entwicklungsverzögerungen und -abbrüche zur Folge. Hierauf weisen alle seriösen Analysen zur wirtschaftlichen Lage in den neuen Ländern hin. Bislang konnte noch kein selbsttragendes Wachstum erreicht werden." 31 Der gesamtwirtschaftliche Aufholprozeß der neuen Länder hat sich seit rund vier Jahren nicht mehr fortgesetzt. 1997 und 1998 hat sich die wirtschaftliche Leistung der alten und der neuen Länder wieder stärker auseinanderentwickelt.32 29

Jahresbericht 1999, a.a.O., S.9. Ähnliches war auch von den Landesregierungen der neuen Länder zu hören. So bemerkte der damalige Staatssekretär im Thüringer Ministerium für Justiz und Europaangelegenheiten Volker Schlemmel: „Es ist unrealistisch anzunehmen, daß um die Jahrhundertwende hier flächendeckend eine wettbewerbsfähige und leistungsstarke Wirtschaft entstanden sein wird. Die neuen Bundesländer sind darum immer noch eine,Region am Tropf 4". Volker Schlemmel: Perspektiven der europäischen Strukturförderung in: Emst Piehl (Hrsg.): Europa in Ostdeutschland, Bonn 1996, S. 61. Ähnlich Günter Ermisch, Staatssekretär und Bevollmächtigter für Bundes- und Europaangelegenheiten des Freistaates Sachsen, in: Piehl, a. a. O., S. 65. 31 Jahresbericht 1999, a.a.O., S.9ff. 32 Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung stellte in seinem Jahresgutachten 1998/99 (BTagDrs. 14/73, S.90) u.a. fest: „Im Jahre 1998 kam der Aufbauprozeß in den neuen Bundesländern zwar voran, allerdings war das Tempo weiterhin verhalten, die Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts (2 vH) lag wie im Vorjahr unter der im früheren Bundesgebiet. Auch der Abstand der Wirtschaftskraft zwischen den neuen 30

Wirtschaftsförderung und Industriepolitik in Ostdeutschland

157

Tabelle 4: Die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts in jeweiligen Preisen je Einwohner in Tsd. D M Land

1991

1992

1993

1994

1995

1996

1997

Berlin

35,0

37,9

40,4

42,0

43,9

44,4

45,3

Brandenburg

14,0

17,9

21,7

24,8

26,9

28,2

28,9

MecklenburgVorpommern

12,7

16,4

19,4

22,5

25,1

26,2

27,1

SachsenAnhalt

12,4

16,1

20,0

22,6

24,5

25,4

25,9

Sachsen

12,7

16,3

20,1

23,2

25,3

26,5

27,2

Thüringen

11,1

15,5

19,3

22,3

24,2

25,5

26,3

Deutschland (insges.)

35,7

38,2

39,0

40,9

42,4

43,2

44,4

Quelle: BTagDrs. 14/73, S. 100.

Gerade die Entwicklung in den Bereichen Forschung und Entwicklung läßt zu wünschen übrig. Der forschungsintensive Sektor der Industrieproduktion hat in den neuen Bundesländern nur einen Anteil von einem Drittel (alte Bundesländer: 49 %). Die Bundesregierung geht davon aus, daß „von einer Zugpferdfunktion des FuE-intensiven Sektors" aus ostdeutscher Perspektive bislang noch nicht gesprochen werden kann. Die Hoffnungen in dieser Hinsicht richten sich auf Automobilbau, Optik, Teile des Maschinenbaus, Kunststoffe, EDV, Bauelemente und Luft- und Raumfahrzeuge.33 Im Augenblick überwiegt aber nach zehn Jahren weitgehend noch der Stillstand im Modernisierungsprozeß: „Die wirtschaftliche Neustrukturierung im Osten ist seit 1990 durch punktuelle Entwicklungspole, einen massiven Ausbau des tertiären Sektors, und eine fortschreitende Deindustrialisierung gekennzeichnet."34 Alle Wirtschaftsbereiche der neuen Länder weisen noch erhebliche Produktivitätsrückstände gegenüber den alten Ländern auf. 35

und den alten Ländern war unvermindert groß, die Ost-West-Relation beim Bruttoinlandsprodukt je Einwohner betrug 51% v. H." 33 Antwort der Bundesregierung auf die Kieme Anfrage der Abgeordneten Dr. Heidi Knake-Werner, Rolf Kutzmutz, Maritta Bötcher, Gerhard Jüttemann und der Fraktion der PDS, BTagDrs. 14/1440, S. 9. 34 Raimund Krämer: Vom Newcomer zum Trendsetter? Die ostdeutschen Länder in der Europäischen Union, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 26(1) 1997, S.58. 35 Steffen Maretzke/Eleonore Irmen: Die ostdeutschen Regionen im Wandel. Regionale Aspekte des Transformationsprozesses, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 5 (1999), S.6.

158

Roland Sturm

I I I . Strategien der ostdeutschen Länder Die ostdeutschen Länder waren nicht untätig und haben teils zur Korrektur der Wirkungen nicht von ihnen verantworteter Programme bzw. von Entscheidungen der Treuhand, teils zur Durchsetzung eigener Prioritätensetzungen ihren begrenzten Handlungsspielraum genutzt. Zu beobachten sind: • Bemühungen um das Schließen der technologischen „Lücke", also den Ausbau der landeseigenen Forschungs- und Entwicklungskapazitäten. In Ostdeutschland arbeiteten 1999 83 Innovations- und Gründerzentren. Das waren doppelt so viele wie in den alten Ländern bezogen auf die Zahl der Erwerbstätigen bzw. der Einwohner. Die Arbeitsschwerpunkte dieser Zentren konzentrierten sich auf die Branchen Informations- und Kommunikationstechnik, Multimedia, Mikroelektronik, Automatisierung, Verfahrenstechnik, Neue Materialien, Lasertechnik, Meß- und Prüftechnik, Biotechnologie, Medizintechnik und Umwelttechnik.36 Von Beobachtern wird allerdings die Frage gestellt, wieviele dieser Zentren tatsächlich im angestrebten Sinne arbeiten und vor allem, welchen industriellen Abnehmern sie zuarbeiten können. Für den lokalen Entwicklungsbezug fehlen häufig auch die industrielle Infrastruktur und potentielle Finanzquellen für aussichtsreiche Projekte. • das Erarbeiten und Implementieren bestimmter Schwerpunkte der Landesförderung, die den speziellen Bedürfnissen der einzelnen Länder in besonderer Weise entsprechen. Fördermittel für solche Schwerpunkte stehen auch im Rahmen der GRW und EU-Förderung zur Verfügung. • Als zusätzliche im besonderen Maße länderspezifische Wirtschaftsfördermaßnahmen37 sind zu nennen für Sachsen38 u. a. das ATLAS (Ausgesuchte Treuhandunternehmen vom Land Angemeldet zur Sanierung)-Projekt, sowie unterschiedliche Versuche, Modelle für Sanierungsholdings zu entwickeln (Sachsenfonds, Sächsische Industrie AG, Management Holding Sachsen GmbH). Diese Initiativen begleiteten den von der Treuhandanstalt initiierten industriellen Umgestaltungsprozeß und versuchten ihm eine landespolitische Komponente zu geben. Sachsen-Anhalt hatte mit dem Programm „Impuls 2000" eine gewisse Vorreiterrolle bei dem Versuch der Unterstützung der Sanierung kleiner und mittlerer Unternehmen. In Mecklenburg-Vorpommern ist aus der Begleitung des Umstrukturierungsprozesses der regionalen (d. h. in erster Linie der Werften-) Industrie das Beratungsinstrument ,Anker" für Unternehmen in wirtschaftlichen Schwierigkeiten hervorgegangen. Brandenburg hat seine Begleitmaßnahmen zur industriellen Umstrukturierung in dem Konzept ZEUS (Zukunftsorientierte Entwicklung 36

Ebda. S. 15. Zum folgenden vgl. Nägele, a. a. O., S. 228ff. 38 Dirk Nolte: Industriepolitik in Ostdeutschland am Beispiel des Bundeslandes Sachsen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 17 (1994), S. 34ff. 37

Wirtschaftsförderung und Industriepolitik in Ostdeutschland

159

und Standortsanierung) konkretisiert, das den Versuch unternimmt, Sanierung und Fördermaßnahmen zur Ansiedelung neuer Industrien zu verbinden, v. a. auch i m Hinblick auf den Erhalt von ganzen Industrieregionen.

Tabelle 5: Regionale Schwerpunktprojekte der Landeswirtschaftspolitik, gefördert von GRW und EU Berlin

Errichtung von Gewerbezentren, Technologiepark Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort Adlershof (WISTA), Ausbau und Modernisierung von Verkehrsverbindungen, Umwelt- und Mittelstandsförderprogramme

Brandenburg

Wirtschaftsnahe Infrastruktur, Tourismus, Technologieförderung, Kulturinvestitionsprogramm, Umweltschutz, Mittelstandsförderung u. a. Liquiditätssicherung (LISI), Konsolidierungsfonds (KONSI) und KBB (KapitalBeteiligungsgesellschaft Brandenburg)

MecklenburgVorpommern

Mittelstandsförderung, Förderung von Unternehmen mit innovativem Potential (Technologiezentren), Landesaufbauprogramm(LAP), Existenzgründerinitiative, Wiedernutzbarmachung von Industriebrachen, Tourismus

Sachsen-Anhalt

Technologiezentren (u. a. Technologiepark Ostfalen, Wissenschaftsund Innovationspark Heide-Süd in Halle, Erfinderzentrum SachsenAnhalt in Magdeburg), Verkehrsinfrastruktur, Mittelstandsförderung

Sachsen

Mittelstandsförderung, Tourismus, wirtschaftsnahe Forschung und Technologietransfer, Programm »Arbeit und Qualifizierung für Sachsen", Verkehrsinfrastruktur

Thüringen

Wirtschaftsnahe Infrastruktur, Wiedernutzbarmachung von Industriebrachen, Technologie- und Gewerbezentren (u. a. Thüringer Technologiedreieck Erfurt-Jena-Ilmenau, Bioregion Jena), Mittelstandsförderung, Verkehrsinfrastruktur

QueUe: BTagDrs. 14/776, S.48ff.

• I n Thüringen wurde versucht, mit der T I B , der Thüringer Industriebeteiligungsgesellschaft, privatisierten Unternehmen, die in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerieten, zu helfen, z.T. auch durch eigenes wirtschaftliches Engagement. Prominentestes Beispiel hierfür ist Jenoptik in Jena. Innovativ ist auch die Verbundausbildung in Thüringen, die das Land mit dem „Förderprogramm zur Unterstützung betrieblicher Ausbildungsverbünde" unterstützt. Betriebe, die alleine den Anforderungen der Ausbildungsordnungen der Berufsausbildung nicht entsprechen

160

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können, können sich zu Ausbildungsverbünden zusammenschließen. 1998 gab es 18 solcher Verbünde, in denen 1.932 Unternehmen als Mitglieder registriert waren. Das Land Thüringen förderte diese mit rund 7 Mio. DM. 3 9 • Initiativen zum Ausbau grenzüberschreitender Zusammenarbeit unter Einsatz auch von Mitteln der GRW und EU-Mitteln aus den Programmen INTERREG und Phare/Cross Border Cooperation, wie z.B. in den Euro-Regionen: Pro Europa Viadrina, Spree-Neiße-Bober, Pommerania, Neiße, Elbe-Labe, Erzgebirge und Neiße. Allerdings werden diese Landesinitiativen häufig skeptisch beurteilt. „Die bisherige Entwicklung", so z.B. Krämer 40, „offenbart jedoch einen schier unüberwindbaren Berg politischer, administrativer, ökonomischer und sprachlicher Probleme". IV. Fazit Lehnt man die Wirtschaftsförderung in Ostdeutschland nicht ohnehin als unzulässigen Staatseingriff in die Wirtschaft ab, so lohnt es sich nach zehn Jahren Bilanz zu ziehen, nicht zuletzt um eventuell auch strukturelle Probleme zu erkennen und nach Alternativen zu fragen. Die wichtigsten Schlußfolgerungen im Hinblick auf das bisher erreichte Ausmaß an wirtschaftlichem Strukturwandel sind: • Die Wirtschaftsförderung in Ostdeutschland hatte41 und hat weiterhin Schwierigkeiten, das ihr zur Verfügung stehende breitgefächerte Förderinstrumentarium finanziert durch EU-, Bundes- und Landesmittel zielgerichtet einzusetzen und Parallelförderung sowie das Verfolgen sich widersprechender Förderziele zu vermeiden. Erschwerend kommt die Schwierigkeit hinzu, unproduktive Konkurrenz um Investoren zu vermeiden. Der Wettbewerb um Investoren findet dabei nicht nur zwischen den Ländern im Osten bzw. im Osten und Westen oder den ostdeutschen Ländern und anderen Regionen statt. Vielmehr ist von einer heftigen kommunalen Konkurrenzsituation in jedem der neuen Länder auszugehen mit wenig vorteilhaften Ergebnissen, wie empirische Studien zeigen: „In Anbetracht des großen Umfanges nicht verkaufter Gewerbeflächen in den neuen Ländern kann unterstellt werden, daß die Verhandlungsergebnisse der Unternehmensansiedlungen nur wenig den kommunalen Mindestnutzen überschreiten werden." 42 Aber selbst wenn es gelänge, die Förderkulisse zu optimieren, wäre damit nicht auto39 Beschäftigungspolitischer Aktionsplan der Bundesrepublik Deutschland (April 1999), BTagDrs. 24/1000, S. 32. 40 Krämer, a. a.O.,S.322. 41 Für Thüringen, ζ. B., wird dies ausführlicher diskutiert in: Alexander E. Meyer: Landespolitische Handlungsstrategien zur Wirtschaftsentwicklung und Beschäftigungssicherung in Thüringen, in: Susanne Benzler u. a. (Hrsg.): Deutschland-Ost vor Ort, Opladen 1995, S.225-247. 42 Steffen Lindemann: Theorie und Empirie kommunalen Wirtschaftsförderwettbewerbs. Eine Konkurrenzanalyse in den neuen Ländern, Baden-Baden 1999, S.379.

Wirtschaftsförderung und Industriepolitik in Ostdeutschland

161

matisch das Problem der geeigneten Adressaten von Fördermitteln gelöst. Wie Hilpert zutreffend ausführt, können Landesregierungen nur dann erfolgreiche Wirtschaftsförderung betreiben, wenn ihre Anreize für den Aufbau moderner Industriestandorte von den Betrieben aufgenommen werden bzw. werden können, aber so Hilpert: „Diese Rahmenbedingungen sind in zweierlei Hinsicht erschwert: Erstens haben der Zusammenbruch des Wirtschaftssystems der DDR und die rigorose Privatisierungspolitik der Treuhandanstalt mögliche industrielle Adressaten und Träger solcher Entwicklungen substantiell getroffen, und zweitens ist der Zugang zum Markt für die derzeit hergestellten Produkte nachhaltig erschwert." 43 • Ziel der Wirtschaftsförderung müßte es auch sein, zum einen Mitnahmeeffekte zu reduzieren 44 und zum anderen der Gefahr einer entstehenden „Subventionsmentalität" entgegenzuwirken. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat darauf aufmerksam gemacht: „Die wirtschaftspolitischen Instrumente, die bisher zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern eingesetzt werden, bedürfen der kritischen Überprüfung. Dies gilt vor allem für die steuerliche Förderung unternehmerischer Investitionen.... Von Anfang an durfte bei den Unternehmen nicht die Erwartung aufkommen, die Förderung könne auf unbestimmte Zeit fortgesetzt werden. Wenn solche Erwartungen genährt werden, entstehen leicht regionale Wirtschaftsstrukturen, die auf Dauer von Subventionen abhängig sind, nach aller Erfahrung sogar mit der Zeit in zunehmendem Maße."45 • Die Förderpolitik von unten, also eine Regionalisierung der Wirtschaftsförderung, die den Sachverstand und den regionalen Konsens über Entwicklungsprojekte nutzt, hat bisher trotz anderslautender programmatischer Ansätze keine große Rolle gespielt. Unter Umständen wird hier die neue Initiative „Inno Regio - Innovative Impulse für die Regionen" begrenzt Abhilfe schaffen können. Ziel der Initiative ist es, die Innovationspotentiale und Innovationskompetenzen von sich selbst organisierenden Regionen verstärkt für die nachhaltige Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Länder zu nutzen. Skepsis ist allerdings angebracht solange Politiker ihre Erfolge in der Wirtschaftsförderpolitik weiterhin eher an der sicherlich quantitativ bedeutsameren Höhe der West-Ost-Transfers aus deutschen und EU-Quellen messen als an den qualitativ mittelfristig vielleicht attraktiveren Eigenbeiträgen ihrer regionalen Ökonomien zur Selbstbehauptung der ostdeutschen Länder und zum Aufbau selbsttragender Wirtschaftsstrukturen. 46 43

Ulrich Hilpert: Industriepolitik und soziale Restrukturierung in den neuen Bundesländern, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 46 (9), 1995, S.539. 44 Michael Heise: Wirtschaftspolitik zur Verbesserung der Standortbedingungen in den neuen Bundesländern, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 17 (1994), S. 28. 45 Jahresgutachten 1999/2000, BTagsDrs. 14/2223, S. 140. 46 Roland Sturm: Integration ohne Dezentralisierung: Die ökonomische Modernisierung der ostdeutschen Länder, in: Udo Bullmann (Hrsg.): Die Politik der dritten Ebene. Regionen im Europa der Union, Baden-Baden 1994, S.381 f. 11 Löw

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Roland Sturm

• Ein ständiges Problem, das oft nicht offen ausgesprochen wird, scheint die „Koalitionsbildung" mit den alten Ländern in Fragen der Wirtschaftsförderpolitik zu sein. Das ökonomische Entwicklungsgefälle produziert nachhaltige Interessendivergenzen sowohl national als auch im europäischen Kontext. Die ostdeutschen Länder reagieren auf diese Situation durch Konsultationen im eigenen Kreise. Ein aktuelles Beispiel für die Schwierigkeiten der Koalitionsbildung ist die Tatsache, daß - wie berichtet wurde - nur ein „Formelkompromiß der deutschen Länder hinsichtlich ihrer Position zur Agenda 2000" 47 möglich war. • Trotz aller Kritik nach zehn Jahren Wirtschaftsförderungspolitik in und für Ostdeutschland bleibt diese aus legitimatorischen und ökonomischen Gründen alternativlos. Auch wenn es aufgrund der Erfahrungen mit der Regionalpolitik in den alten Ländern gute Gründe für die Skepsis gegenüber der Regionalpolitik als „Patentrezept" zur Lösung ökonomischer Probleme gibt, ist Passivität (so gut sie sich ordoliberal begründen läßt) keine Option. Vielleicht sollten aber die Erwartungen an die „Erfolgsmechanik" von Regionalpolitik heruntergeschraubt werden, wie Heine vorschlägt: „Möglicherweise kann eine Politik bereits dann als relativ erfolgreich charakterisiert werden, wenn sie die Tendenzen zur räumlichen Polarisierung zu begrenzen oder auch nur die sozialen Folgen abzufedern vermag." 48 • Fest steht jedoch, daß wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland nicht ohne Mobilisierung der Betroffenen, ohne jene motivationelle „Kulturrevolution", die in Dependenzökonomien Freiräume für Schumpetersche Unternehmer schafft, möglich ist. Motivationelle Ressourcen sind zentral für die Mobilisierung des endogenen Potentials der ostdeutschen Wirtschaft. 49 Selbst Kritiker der Politik der Bundesregierung für den Aufbau Ost räumen ein: „Nur durch eine sehr energische und beharrliche Regionalpolitik mit dem Einsatz von viel staatlichen Finanzen und der vollen Mobilisierung des »endogenen Entwicklungspotentials4 der Regionen, soweit vorhanden, läßt sich der Niedergang aufhalten." 50 Hier treffen sich die Standpunkte der Kritiker und Befürworter der Weichenstellungen der Wirtschaftsförderpolitik der neunziger Jahre, wie exemplarisch die Ausführungen von Johannes Ludewig, Staatssekretär im Wirtschaftsministerium und in der Regierung Helmut Kohl Beauftragter der Bundesregierung für die neuen Länder, 47

Krämer, Von Interessen..., a. a. O., S. 329. Michael Heine: Zur Quadratur eines Kreises: Regionalpolitik in den neuen Bundesländern, in: Andreas Westphal u. a. (Hrsg.): Wirtschaftspolitische Konsequenzen der deutschen Vereinigung, Frankfurt am Main/New York 1991, S.210. 49 „Das endogene, also in den neuen Ländern vorhandene Potential an unternehmerischen Kräften und marktorientierten Fertigkeiten ist stark begrenzt; bei objektiv gegebenen Privatisierungschancen fehlt es subjektiv häufig an den entsprechenden Einstellungen und Erfahrungen, d.h. am sozialkulturellen Unterbau." Fred Klinger: Aufbau und Erneuerung. Über die institutionellen Bedingungen der Standortentwicklung in Ostdeutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 17 (1994), S.5. 50 Rudolf Hickel/Jan Priewe: Nach dem Fehlstart. Ökonomische Perspektiven der deutschen Einigung, Frankfurt am Main 1994, S.295. 48

Wirtschaftsförderung und Industriepolitik in Ostdeutschland

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zum europäischen und nationalen Beihilfesystem verdeutlichen: Beihilfen „können und sollen Anreize und temporäre Unterstützung geben. Sie können aber immer nur Hilfe zur Selbsthilfe sein, denn Erfolge lassen sich immer nur dann ernten, wenn in der Region selbst unternehmerische Initiative entwickelt und das vorhandene wirtschaftliche Potential durch Eigeninitiative mobilisiert und eingesetzt wird." 51

51 Johannes Ludewig: Bilanz und Perspektiven der wirtschaftlichen Entwicklung in Ostdeutschland, in: Emst Piehl (Hrsg.): Europa in Ostdeutschland, Bonn 1996, S.49.

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Die Verfasser Grünbaum, Dr. Robert, Rolandstr. 22, 13156 Berlin Hilsberg, Stephan, MdB, Deutscher Bundestag, Platz der Republik, 11011 Berlin Kailitz, Dr. Steffen, Straße der Nationen 32, 09111 Chemnitz Lengsfeld, Vera, MdB, Deutscher Bundestag, Platz der Republik, 11011 Berlin Löw, Dr. Konrad, Universitätsprofessor, Kirchenstr. 17, 82065 Baierbrunn März, Dr. Peter, Leitender Regierungsdirektor, Briennerstr. 41, 80333 München Motschmann, Dr. Klaus, Hochschulprofessor, Ahrweilerstr. 12, 14197 Berlin Sturm, Dr. Roland, Universitätsprofessor, Kochstr. 4, 91054 Erlangen