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German Pages 385 [388] Year 1999
E I N S T E I N
B Ü C H E R
WISSENSBILDER STRATEGIEN Ö
a
DER
UBERLIEFERUNG Herausgegeben von Ulrich und Gary Smith
Akademie Verlag
Kaulff
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wissensbilder : Strategien der Überlieferung / hrsg. von Ulrich Raulff und Gary Smith Berlin : Akad. Verl., 1999 (Einstein-Bücher) ISBN 3-05-002529-8
Redaktion: Matthias Kroß, Barbara Naumann unter Mitarbeit von Elisabeth Wagner und Martin Schaad
©Akademie Verlag GmbH, Berlin 1999 Alle Rechte vorbehalten. Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Umschlaggestaltung: Carolyn Steinbeck Satz: Urte von Bremen Druck: GAM Media GmbH, Berlin Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer« GmbH, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
Inhaltsverzeichnis
Ulrich Raulff
Quis custodiet custodes? Über die Bewahrung und die Erforschung von Tradition 1
Jan Assmann
Fünf Wege zum Kanon. Tradition und Schriftkultur im alten Israel und frühen Judentum 13 Peter Goodrich
Salem und Byzanz. Eine kurze Geschichte der beiden Rechte 33 Moshe Idel
Der Begriff der Überlieferung in der Kabbala des 13. Jahrhunderts 61
Anthony Grafton
Astrologie, Philologie und prisca sapientia bei Pico della Mirandola 95
v
Moshe Barasch
Wissensvermittlung durch Bilder 117 David Biale
Blut und Glauben. Über jüdisch-christliche Symbiose 145
Horst Bredekamp
Kunsttheoretische Topoi in Thomas Hobbes' Definition des „Leviathan" 169
Henri Atlan
Wissenschaft und mystische Überlieferungen. Awatara der Rationalität 185
Arnos Funkenstein
Die Dialektik der Assimilation 203
Paul Mendes-Flohr
Wissensbilder im modernen jüdischen Denken 221
Kurt W. Forster
Gebäude als Archive und Verliese des Wissens 241
vi
Hans-Jörg Rheinberger
Alles, was überhaupt zu einer Inskription fuhren kann 265 Thomas Y. Levin
Vor dem Piepton. Eine kleine Geschichte des Voice Mail 279 Thomas W. Keenan
Live aus... 319 Caputher Gespräch. Über Formen der Wissensvermittlung 341 Zu den Autoren 363 Personenregister 372
VII
QUIS CUSTODIET CUSTODES? ÜBER DIE B E W A H R U N G U N D D I E E R F O R S C H U N G VON T R A D I T I O N #
von Ulrich Raulff
EHR als vier Jahrzehnte sind vergangen, seit Erwin Panofsky in einem Text über die Geistesart und die Wissenstypen der Renaissance das Wort von der decompartmentalization fand. 1 Der eher locker montierte und spielerisch gebrauchte Ausdruck steht für die Aufsprengung der mentalen compartments, also der Abteile oder fest begrenzten Bereiche des mittelalterlichen Geistes und seiner artes. Über diese Destruktion hinaus verweist er auf die konstruktive Leistung, welche die Renaissance im selben Zuge vollbrachte: die eigentümliche Artikulation und wechselseitige Durchdringung von künstlerischen Vermögen, technischen Fertigkeiten und theoretischem Wissen - eine Vervielfältigung und zugleich Vermittlung verschiedenster Wissensarten, wie sie nie zuvor und selten danach wieder gesehen ward. 1
Vgl. Erwin PANOFS KY: Artist, Scientist, Genius. Notes on the „Renaissance-Dämmerung". In: The Six Essays, N e w York, Evanston 1962, S. 121-182.
I
Renaissance.
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Herausforderung der Überlieferung
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Mag sein, daß sich Panofsky, als er diesen Prozeß der Verflüssigung und kreativen Hybridbildung beschrieb, an eigene biographische Situationen erinnerte - die naheliegende des Fellow am Institute for Advanced Study in Princeton etwa, wo er in unmittelbarer Nachbarschaft mit Leuten wie Einstein und Oppenheimer forschte, oder die ferne, aber spürbar nachlebende Zeit jener dritten Platonischen Akademie zu Hamburg, wie sie sich in den zwanziger Jahren um Aby Warburg gebildet hatte. Beide Male mochte ein Hauch von Renaissanceluft ihn selbst umweht haben; in Hamburg, wo die Zeichensprache der Lebensstilistik subtil entwickelt gewesen war, vielleicht sogar mehr als nur ein Hauch. Am Ende dieses Jahrhunderts dringen die Echos der Aufbruchsstimmung von einst nur noch schwach an unser Ohr. Oder richtiger, wir vernehmen wohl die Botschaft, allein uns fehlt das notwendige Quentchen Wissensoptimismus: Der futurische Überschuß, der die Ansätze der klassischen Moderne und der „zweiten Moderne" nach dem Zweiten Weltkrieg begleitete, scheint aufgezehrt. Die Vermehrung und Zersplitterung der Wissenstypen ist weiter fortgeschritten, und eine renaissancehafte Durchdringung und Befruchtung kommt kaum mehr in Sicht. Stattdessen erweist sich zunehmend die Sicherung, Speicherung und Übermittlung der vorhandenen Bestände als unsere Hauptsorge. Damit aber stellen sich (heuristisch und hermeneutisch durchaus fruchtbare) Fragen nach der „Ordnung der Tradition", das heißt nach den Wegen und Hütern der Überlieferung, und nach den Modi, diese zu denken und zu organisieren. Und damit bin ich bei der titelgebenden Frage meiner einleitenden, skizzenhaften Überlegungen: Wer soll, wenn denn tatsächlich Überlieferung unsere erste Sorge ist, deren Hüter hüten? Wer soll über die Wächter wachen? Den einen oder anderen mag diese Frage über Piaton hinaus bereits auf eine weitere Fährte geführt haben. Die lateinische Frage nach denen, die berufen sein sollen, die Kontrolleure zu kontrollieren, ist die Pointe, in die gewisse Überlegungen münden, die Arnaldo Momigliano einmal in Hinblick auf den bedeutenden Literaturhistoriker und vielleicht nicht ganz so bedeutenden Zeitkritiker Ernst Robert Curtius angestellt hat. 2 Curtius bildet für mich den nicht 2
Arnaldo D. MOMIGLIANO: Sesto contributo alla storia degli studi classic! (e del mondo antico), Rom 1980, Bd. 2, S. 750.
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unproblematischen Ausgangspunkt für eine Reihe von Fragen. Sie betreffen die Überlieferung von Wissen, ihre Wege und ihre Träger und schließlich die Bilder und Konzepte, in denen Überlieferung und Übertragung gedacht werden. Ich gebe zu, daß ich damit von vornherein eine Beschränkung Curtius' erkennen lasse, welche die nachstehenden Beiträge eines Symposiums des Einstein Forums im Jahr 1994 eigentlich vermeiden sollten, nämlich die Beschränkung auf die philologischen und historischen Fächer. Wissensbilder. Strategien der Überlieferung nämlich ist nicht nur ein wohlklingender Titel; er enthält auch ein Programmversprechen: Neben den berufenen Hütern der geisteswissenschaftlichen Tradition sollten sich hier Vertreter der Naturwissenschaften äußern und erläutern, wie in ihren Feldern die Übermittlung, die Selektion und die Speicherung von Information erforscht, abgebildet und simuliert wird. Eine Fragestellung aus dem Kernbereich kulturwissenschaftlicher Forschung sollte einen für beide Wissenschaftskulturen chancenreichen Erörterungszusammenhang stiften. Wenn ich gleichwohl diesen Band mit einigen Bemerkungen zu Ernst Robert Curtius eröffne, so ist darin nichts weiter als eine hartnäckige déformation professionelle und keineswegs eine Vorwegnahme der Resultate dieses Erörterungszusammenhangs zu sehen. Immerhin aber stand ein Gespräch über Ernst Robert Curtius auch am Ursprung der ersten gemeinsamen Überlegungen und Planungen zu diesem Kolloquium, dessen endgültige Konzeption und Ausrichtung freilich das alleinige Werk von Gary Smith gewesen ist. Insofern mag es schon aus überlieferungsgeschichtlichen Gründen gerechtfertigt sein, auf dieses Gespräch und seinen Gegenstand zu rekurrieren. Außerdem verdanken wir Ernst Robert Curtius bekanntlich nicht nur eine große Geschichte der Tradition antiker Literatur von der Spätantike durch das Mittelalter bis zu Goethe, sondern auch, und das ist hier von Bedeutung, Ansätze zu einer Theorie der Überlieferung. Im Zentrum dieser Theorie steht die Lehre von den topoi oder den rhetorischen Orten, in denen sich das geistige Leben der Antike fixierte, den Formen und Figuren, in denen es in der Spätantike zwar erstarrte, aber dank dieser Erstarrung auch, gleichsam verkapselt, in der Kopisten- und Schultradition des Mittelalters überliefert werden
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Traditionsforschung in Literatur und Ikonographie
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konnte - bis mit Dante und Petrarca ein neuer, schöpferischer Morgen anbrach, die Kapseln erbrochen und ihre Inhalte zu neuem literarischem Leben erweckt wurden. Im christlichen Lehrgedicht Dantes lief die gesamte lateinische Überlieferung zusammen; in ihm erblickte Curtius „die verwitterte Römerstraße von der antiken zur modernen Welt". Am Rande dieser Römerstraße, in einem modernen Bildungskloster nach Art des Cassiodorschen Vivarium, wollte Curtius selbst Quartier beziehen. Denn das große Werk, in dem er die Ergebnisse seiner Traditionsforschung nach anderthalb Jahrzehnten 1948 publizierte, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, enthielt neben vielem anderen auch dies: Legitimation und Vermächtnis der inneren Emigration. Die stärksten Anregungen zu seinem Werk hatte Curtius in Rom empfangen, wo er im Winter 1928/29 den Hamburger Kunsthistoriker Aby Warburg kennenlernte. Warburg arbeitete zu jener Zeit fieberhaft an einem „Atlas", der die Genese des Bildgedächtnisses der europäischen Menschheit zu entwickeln versprach. 3 Direkte Linien führen von Warburgs Erforschung der „Pathosformeln" der ikonischen Überlieferung zu Curtius' topoi und den rhetorischen Kapseln der literarischen Überlieferung. Ebenfalls „warburgisch" war die synthetische Idee einer immensen Ellipse der Literaturgeschichte, deren Pole Homer und Goethe hießen und die Curtius seiner „Schau" des geistigen Europa unterlegte. Doch die tatsächliche Ausarbeitung des Programms und seine Ausfüllung durch Hunderte von minutiösen, vergleichenden Untersuchungen fiel in die Zeit, als Warburg selbst nicht mehr am Leben und sein Institut nach London emigriert war. Sie fiel in die Jahre nach 1933. Curtius'Traum von einem Bildungskloster erhielt damals einen neuen Sinn. Ich betone die Verbindung zu Warburg deshalb, weil sie mir erlaubt, Curtius' Projekt der Traditionsforschung nicht nur, erstens, in den Rahmen der Literaturgeschichte zu stellen, in den es seiner fachlichen Herkunft nach gehört, und zweitens in den der NS-Zeit, mit dem es durch die Problematik der „inneren Emigration" verbunden ist, sondern auch, drittens, vor den Hintergrund kulturwissenschaftlicher und anthropologischer Theoriebildung in den zwanziger und 3
Vgl. Kosmopolis der Wissenschaft. E. R. Curtius und das Warburg Institut. Briefe 1928 bis 1953 und andere mente. Hrsg. von Dieter W u T T K E , Baden-Baden 1989.
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Doku-
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dreißiger Jahren. Vor diesem Fond nimmt sich Curtius' Programm zunächst eher fremd aus. Es ist in den letzten zehn oder sogar zwanzig Jahren viel vom sogenannten linguistic turn die Rede gewesen, also von der Entdeckung oder Wiederentdeckung der sprachlichen Vermitteltheit der Humanwissenschaften, vor allem aber der Philosophie. Viel Tinte ist geflossen über die Hinwendung zu den rhetorischen Formen und den narrativen Strukturen, in denen sich das Denken und die Forschung dieser Fächer organisiert haben. Darüber, so scheint es, hat man eine andere Wende wenn nicht übersehen, so doch zu wenig beachtet, eine Wende, die nicht weniger folgenreich gewesen ist - zumindest für eine Reihe von kulturwissenschaftlichen und historischen Fächern. Nach dem Ersten Weltkrieg, seit den zwanziger Jahren, haben diese Fächer eine tiefgreifende und folgenreiche Wendung zur Anthropologie vollzogen. Waren es vorher die Soziologie und die Psychologie, die ihren Horizont des Verstehens und Erklärens absteckten, so ist es von nun an die Anthropologie. Man kann noch einen Schritt weitergehen und behaupten, daß diese Wende symptomatischen Wert besitzt für gewisse tiefe Verschiebungen des Politischen in der westlichen Kultur. Hat das 19. Jahrhundert eine ungeheure Bewegung hin zur Politisierung des Sozialen erlebt - eine Bewegung, die ihren Theoretiker in Karl Marx und ihren Historiker in Fustel de Coulanges gefunden hat - , so zeichnet sich spätestens seit dem Ersten Weltkrieg eine neue, „tiefenpolitische" Tendenz ab: die einer Politisierung des Anthropologischen. Eine Politisierung nicht mehr der sozialen, sondern der humanen „Bestände". Da aber diese Bestände nicht anders denn als kulturelle faßbar sind, da sie sich nur in Gestalt von symbolischen Formen und kulturellen Prägungen dingfest machen lassen, werden die Kulturwissenschaften nicht nur zum Index, sondern auch zur Avantgarde dieser Bewegung. Und deshalb läßt sich die Auffassung vertreten, daß mit den Kulturwissenschaften nicht nur ein wissenschaftliches Projekt ersten Ranges in die Welt des 20. Jahrhunderts getreten ist, sondern auch eine umfassende Transformation des Politischen ihren intellektuellen Ausdruck gefunden hat. Was damit gemeint ist, will ich zumindest skizzenhaft konkretisieren, und zwar anhand von Entwicklungen, die seit den zwanziger
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Verstehen und Erklären
Die Transformation des Politischen
ULRICH
Anthropolo-
RAULFF
Jahren in einem Bereich stattgefunden haben, den ich teilweise übersehe, nämlich im Bereich der Kulturgeschichtsschreibung. Sowohl in Frankreich wie in Deutschland formieren sich in den zwanziger Jahren Gruppen von Historikern, von Sozial- und Humanwissenschaftlern, die den Deutungsrahmen der politischen Geschichte - die Nation - verlassen wollen. Diese Tendenz ist weder neu noch originell, es gibt sie - damals bereits - seit mindestens einem halben Jahrhundert, und seit ebenso langer Zeit existieren die begrifflichen und temporalen Schemata einer Geschichte des Sozialen. Die jungen Historiker der zwanziger Jahre aber finden nicht nur die Konzepte der politischen Geschichte verbraucht. Sie finden auch die der Sozialgeschichte politisch besetzt und insofern für die Forschung, die sie inaugurieren wollen und die sie keineswegs apolitisch oder unpolitisch denken, ebenfalls verbraucht. Dies ist der Augenblick, in dem sie die Anthropologie entdecken: als die via regia, auf der sie die Oppositionen des Politischen und Sozialen unterlaufen und eine neue, tiefere Einheit des Historischen begründen können. Wenn ich zwei Werke nennen sollte, in denen sich diese Wende am
der Gerüchts- augenfälligsten bekundet, so wären es für Frankreich Marc Blochs Schreibung Buch von 1924 über die wundertätigen Könige des Mittelalters 4 - und für Deutschland Hans Rothfels' Bismarck-Deutung, wie er sie auf dem Historikertag 1932 vorgetragen hat.5 Natürlich sind dies nicht die einzigen Höhepunkte der neuen, anthropologischen Geschichtsdeutung. Aber sie sind insofern signifikant, als beide Autoren mit sicherem Gespür für den strategisch entscheidenden Punkt ihre Subversion der herrschenden Historie dort ansetzen, wo die politische Geschichte einen ihrer Konstruktionspunkte, vielleicht sogar den wichtigsten hat: in Frankreich bei der Legitimation der Königsherrschaft und in Deutschland bei der Deutung der Bismarckschen Reichspolitik. Ohne den Nachweis im Detail führen zu können, kann ich jetzt nur behaupten, daß beide Male die grundlegende Umdeutung ihren Weg über eine anthropologische Neubegründung des Historischen nimmt.6
4
M a r c B L o c H : Les Rois thaumaturges. Etude sur le caractère surnaturel attribué à la puissance royale particulière-
5
V g l . H a n s ROTHFELS: B i s m a r c k u n d der O s t e n . T e i l a b d r u c k in: Historische Zeitschrift47 ( 1 9 3 3 ) , S. 8 9 - 1 0 5 ; voll-
6
Vgl. Ulrich
ment en France et en Angleterre, S t r a s b o u r g , O x f o r d 1 9 2 4 ; d t . : Die wundertätigen Könige, M ü n c h e n 1 9 9 8 .
ständige, aber revidierte Fassung in Hans RAULFF:
ROTHFELS:
Bismarck, der Osten und das Reich, Darmstadt 1960, S. 1-125.
Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Marc Bloch, Frankfurt a . M . 1995, Kap. 4 und 6.
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CUSTODES?
Aber auch der neue Herkules der anthropologisch vertieften Geschichte kommt an seinen Scheideweg. In der Folge trennen sich die Wege der Historischen Anthropologie, wie sie sich in Frankreich im Umkreis der Annales entwickelt hat, und der historischen Kulturforschung, die sich - ebenso interdisziplinär im Ansatz wie ihr französisches Pendant, aber politisch durchaus anders ausgerichtet - als Volksgeschichte in Deutschland ausgebildet hat. 7 Auf der einen Seite des Rheins, den wir als wissenschaftsgeschichtlichen Schicksalsstrom erkennen, werden jetzt die Menschen zum Subjekt der Geschichte, auf der anderen das Volk. Auf der einen Seite erhebt sich die Psychologie zur letzten Instanz des historischen Verstehens und Erklärens, auf der anderen die Biologie. Und folgerichtig ergeben sich die neuen Objekte der historiographischen Sorge: die Mentalität auf der einen und die Rasse auf der anderen Seite. Indem man den Menschen ins Zentrum und das Historische auf neue, anthropologische Grundlagen stellt, wechselt man nicht nur das Personal aus. Man gibt sozusagen der Historizität selbst einen neuen Anstrich. Die Folge ist, daß man erklären muß, wie der Mensch - all seiner Endlichkeit in der Zeit zum Trotz - die Zeit zugleich hervorbringt und überwindet. Auf diese Fragen nach der Begründung und der Überwindung der Zeit geben sämtliche Kulturwissenschaften und alle Spielarten der historischen Anthropologie dieselbe Antwort. Sie lautet: durch die Wirkung des Gedächtnisses, durch die Bildung von Tradition. Der Ursprung der Geschichte liegt nicht in der (kriegerischen) Tat, wie die politische Geschichte glaubte, nicht in der Arbeit, wie die Sozialgeschichte lehrte, sondern im Gedächtnis. Und was sie in Gang hält, sind nicht die Kriege und nicht die Geschäfte, sondern die Überlieferung. Der Mensch der neuen Geschichte, der Mensch der Kulturwissenschaften wird zum überliefernden Wesen schlechthin. Nach dem homo laborans der Sozialgeschichte jetzt also der homo tradens der Historischen Anthropologie. Und damit die Frage nach dem sozialen Rahmen und dem materiellen Substrat der Überlieferung. Wieder teilen sich die Wege, wieder fallen die Antworten ganz verschieden aus, je nachdem welche Theorieoptionen - und damit verbunden welche Politikoptionen - man getroffen hat. In Frankreich 7
Z u letzterer vgl. W i l l i O ß E R K R O M E : Volksgeschichte. Methodische deutschen
Geschichtswissenschaft
1918-1945,
G ö t t i n g e n 1993.
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Innovation
und völkische Ideologisierung
in der
Die zentrale
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Traditionsbestände und Metaphern
Überlieferungsgeschickte und Geldzirkulation
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macht sich die Historische Anthropologie zur Hüterin der Traditionsbestände der Republik, indem sie die Frage nach dem sozialen Rahmen mit der Gesellschaft und die nach ihrem Substrat mit der Psyche beantwortet: Mit seinen Schriften über das kollektive Gedächtnis hat Maurice Halbwachs diese Antworten gegeben. Auf die Frage nach dem sozialen Rahmen antwortet in Deutschland die Volksgeschichte. Sie tut es mit der Idee der Gemeinschaft. Nach dem Träger dieser Überlieferung gefragt, argumentiert sie mit dem Gedanken der Rasse und, je mehr sie sich an die Biologie als Leitwissenschaft anlehnt, mit dem des Blutes. Die Frage nach dem Schutz, welcher dem Substrat der Überlieferung zukommt, haben in Deutschland die Nürnberger Gesetze definitiv beantwortet. Aber zurück zu Ernst Robert Curtius. Bis heute ist die Theorie der Überlieferung das Herzstück der Kulturwissenschaften geblieben. Ansätze zu einer solche Theorie sind, wenn wir von Rothacker und den Begriffsgeschichtlern der Nachkriegszeit absehen, nirgendwo weiter entwickelt und materialiter erprobt worden als in jenem „Kreis" im weitesten Sinne, der sich Ende der zwanziger Jahre um Aby Warburg gebildet hatte und auch nach seinem Tode weiter existierte - auch wenn jetzt manche Planetenbahnen, wie diejenige Curtius' in Bonn, anderen Kräften unterlagen. Das Problem, von dem sich der Kreis um Warburg „kommandiert" wußte, war dasjenige des „Nachlebens der Antike": Auf welche Weise, vermittels welcher Techniken (inklusive Psychotechniken) waren die Traditionsbestände der Antike in den Bilder-, Text- und Seelenhaushalt, in die Wissensund Affektbestände der Moderne gelangt? Wobei, wie Warburg deutlich sah, die hier so bürokratisch benannten „Traditionsbestände" der Antike nichts anderes waren als ursprüngliche anthropologica, diamantharte Verdichtungen von ersten und letzten Möglichkeiten des Menschseins, gepreßt aus der Asche menschlichen Leidens. Wie waren diese Verdichtungen weitergegeben und immer wieder neu zum Leben erweckt worden? Durch welche Kanäle war jener Saft gestiegen? Nach welchen Modellen sollte man diese Geschichte denken und in welchen Metaphern von ihr sprechen? Der Kreis um Warburg antwortete mit zwei Bildern, die bis heute geläufig sind, dem Bild der Prägung - wie bei einer Münze oder einem Siegel -, zu dem auch das der Pathosformel noch zu rechnen ist. Und
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die Bewegung, die Dynamik dieser Prägungen wurde beschrieben mit der geographischen Metapher von den Wanderwegen der Tradition. Wenn man beides zusammennimmt, Prägungen und Wanderwege, und nach einem gemeinsamen semantischen Feld forscht, so findet man es in dem, was Marx die Zirkulationssphäre nannte, im Umlauf des Geldes, im Wandern der Münzen von Hand zu Hand und von Land zu Land. Die Kulturwissenschaftler des Warburg-Kreises haben die Dynamik der Überlieferungsgeschichte in Bilder und Metaphern gefaßt, die traditionell zur Beschreibung der Geldzirkulation dienten. Ebenfalls traditionell aber dienten sie auch, und das dürfte diesen Wissenschaftlern kaum verborgen gewesen sein, zur diffamierenden Beschreibung der jüdischen Seinsweise. Das unstete Wandern von Land zu Land, die Nähe zum Geld evozierte seit langem das Bild des Juden im Imaginären der Europäer. Darauf griffen vor allem die völkische und NS-Ideologie zurück, die den Entwurzelten das Gegenbild der bodenständigen, tief verwurzelten germanischen Völker entgegensetzten. Die Seßhaften gegen die Wandernden, die Produzenten gegen die Agenten der Zirkulation: eine andere Metaphorik, eine andere politische Semantik. Ernst Robert Curtius war von Warburg tief beeindruckt - geprägt, möchte man sagen - und hatte sich in den Jahren seit 1929 das Problem seines kulturwissenschaftlichen Kreises zu eigen gemacht. Auch nach der Emigration der Bibliothek Warburg nach England blieb er dem Institut, seinen Mitarbeitern und seinen Fragestellungen eng verbunden. 8 Anders als Percy Ernst Schramm opferte er nicht alte Freundschaften den neuen politischen Opportunitäten. Sein political record der NS-Zeit weist, so weit wir heute sehen, keinerlei braune Flecken auf. Und dennoch ereilte ihn das Schicksal des Emigranten, der die Emigration verweigerte. Der Schlag der Nemesis traf den sensibelsten Punkt seiner eigenen Theorie der literarisch-linguistischen Tradition: Sie traf die Metapher. Im Lauf der dreißiger Jahre nämlich verloren sich allmählich alle Reste der Zirkulations-Metaphorik aus Curtius' Wortschatz. Erst sprach er von „Verwurzelung" in der Tradition und zum Schluß gar, unter Berufung auf Ernst Troeltsch, von „Verwachsung" in dieser. 9 Über die organizistische Metaphorik des 8 Vgl. Fußn.3. 9 Vgl. Ernst Robert
CURTIUS:
Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen "1993, S. 29f.
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Wachstums hatte die linguistische Gemeinschaft des Volkes den Erforscher der topoi und Tropen wieder eingeholt. Vielleicht kann es gar nicht anders sein: Wer nicht wandern will, dem wächst Gemeinschaft zu, und die pflegt schlechte Gesellschaft zu sein. Sphinxfrage Ich berichte die Geschichte von den traurigen Tropen des Ernst Überlieferung j^Q^gj^ Curtius nicht deshalb, weil ich sie für ein hübsches Aperçu zum Problem der Tradition und ihrer Erforschung hielte. Ich bin vielmehr der Auffassung, daß sie Aufschluß darüber gibt, daß mit der Frage nach der Überlieferung, ihren Wegen, ihren Trägern und ihren Rahmen ein vermutlich ziemlich altes Problem dort wieder aufgetaucht ist, wo wir es nicht vermutet hätten: im Herzen unserer (anthropologischen) Moderne. Nicht weil wir so gute Antiquare sind, beschäftigt uns das Problem der Tradition wie kaum ein anderes, sondern weil die Kondition des modernen Wissens selbst uns mit diesem Problem als unserer Sphinxfrage konfrontiert. Und weil weiterhin, wie ich zu anzudeuten versuchte, die Metaphern und Konzepte, in denen wir dieses Problem denken und in denen wir unsere Antworten formulieren, ebenfalls nicht beliebig sind, sondern den Kraftlinien ideenpolitischer Traditionen folgen. Dies gilt freilich nicht nur für die Hüter der Überlieferung im 20. Jahrhundert. Und um zum Schluß meiner Einleitung doch noch einen winzigen Ausblick auf die Reichtümer der folgenden Texte zu geben, nenne ich Moshe Idel: Wenn er sich den Kabbalisten des 13. Jahrhunderts zuwendet, richtet er sein Augenmerk nicht nur auf die Praxis der Übermittlung, sondern ebenso auf die Rhetorik der Übermittlung, d.h. auf die „Bilder esoterischer Tradierung". Oder Jan Assmann, der sich um eine begrifflich präzise und zugleich operable Definition der Tradition zwischen Gedächtnis und Schriftkultur bemüht. Im Rahmen einer an Max Weber erinnernden historischen Typologie versucht er den Moment der Verschriftlichung der Tradition zwecks Kanonisierung im antiken Judentum, in Persien und im Hellenismus zu erfassen. Einen entscheidenden Moment im Prozeß der translatio studii der Renaissance beschreibt Anthony Grafton anhand der Wende Pico délia Mirandolas von der spekulativen Philosophie zur Philologie. Horst Bredekamp und Kurt W. Forster untersuchen die ungeheure Verdichtung von Traditionen - aber auch von Brüchen - , die ein rätsei -
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haftes Bild wie der Titelkupfer von Hobbes Leviathan oder ein Bauwerk wie Terragnis Casa del Fascio in Como bewirken können. Während Moshe Barasch anhand der malerischen Darstellung der Epilepsie durch einzelne Künstler der Renaissance, allen voran Raffael, die Übermittlung eines naturwissenschaftlichen Wissens durch die Bilder der Kunst beschreibt, umreißt Thomas Y. Levin die Geschichte der Tonaufzeichnung und Tonwiedergabe als eine Geschichte der Verschriftlichung der Stimme, der Übersetzung von phone in grapheme. Damit ist ganz direkt eines der Leitmotive sowohl der Tagung (und der sie begleitenden Diskussionen) als auch dieses Bandes angesprochen, die Frage nämlich nach den Konsequenzen der sogenannten „semiologischen Wende", die wir derzeit zu erleben scheinen: die Ablösung des Wortes durch das Bild, die Umkehrung der alten Hierarchie der Zeichen und die Brechung des Textprimats in der westlichen Kultur. Unter den Beiträgern dieses Bandes widerspricht dieser verbreiteten Zeitdiagnose niemand grundsätzlicher als der Biologe Hans-Jörg Rheinberger: Alles Sein, so Rheinberger, ist als Dasein geschriebenes Sein. Unsere Seinsmaschine ist eine Schreibmaschine. Der heitere Positivismus der in diesem Band dokumentierten Traditionsforschung ist freilich nur die eine, hellere Seite eines tragischen Pessimismus, der nicht nur im Text von Paul Mendes-Flohr spürbar wird, sondern auch in mancher Bemerkung von Moshe Barasch, dem Nestor dieser Tagung, durchklang: Wer von Überlieferung spricht, muß stets auch von unwiederbringlichen Verlusten sprechen, und was in den Archiven des Wissens, die wir täglich und stündlich vermehren, gerettet scheint, ist oft nur noch die Totenmaske einer ehedem lebendigen Wirklichkeit.
ii
Überlieferung und Verlast
FÜNF WEGE ZUM KANON T R A D I T I O N UND SCHRIFTKULTUR IM ALTEN UND FRÜHEN
ISRAEL
JUDENTUM
€> von Jan Assmann
VERSCHRIFTUNG
ER Begriff der Tradition hat zwei Bedeutungen. Wenn wir ihn vom Standpunkt von Gedächtnis und Erinnerung aus betrachten, wie es z.B. Maurice Halbwachs getan hat, dann erscheint er als der Gegensatz zum Gelebten, Verkörperten und Kommunizierten und als der Inbegriff des in symbolischen Formen ausgelagerten und von Institutionen verwalteten Wissens. 1 Wenn wir ihn dagegen vom Standpunkt der Schrift aus betrachten wie in der jüdischen und der katholischen Tradition, dann erscheint er als der Gegensatz des schriftlich Fixierten und der Inbegriff des an lebendige Träger gebundenen, inkarnierten Wissens. Der Begriff der Tradition changiert zwischen diesen beiden Extremen der Erinnerung und der Schrift. Er grenzt sich gegenüber der Erinnerung ab als das soziale, normative, wenn auch nicht unbedingt vollständig sprachlich ausformulierte Wissen, und gegenüber der Schrift als das in weiten Bereichen impli1
M a u r i c e H A L B W A C H S : Das kollektive Gedächtnis, S t u t t g a r t 1967.
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J A N
Verschriftung als
Zeichen
eines Traditionsbruchs
A S S M A N N
zite, außersprachliche, über mimetisches Vor- und Nachmachen weitergegebene und nichtschriftliche Wissen. Zwar gehört natürlich auch Schriftliches zur Tradition, aber die Tradition geht weit darüber hinaus. Zugespitzt könnte man sagen, daß lebendige, verkörperte Erinnerung und Kommunikation ihren Tod in der Tradition finden und die lebendige, verkörperte Tradition ihren Tod in der normativen Schriftlichkeit. Ein Beitrag über Gedächtnis und Tradition wird die Grenze zwischen dem gelebten und dem formulierten, dem individuellen und dem kulturellen, dem impliziten und dem expliziten Wissen thematisieren. Bei diesem Beitrag über Tradition und Schriftkultur geht es dagegen um die andere Grenze: zwischen der Tradition in ihren impliziten und mündlichen Aspekten auf der einen, der expliziten und normativen Schriftlichkeit auf der anderen Seite. So gesehen erscheinen Tradition und Schrift als Gegensätze bzw. als komplementäre Aspekte. Traditionen werden normalerweise nicht verschriftet. Geschieht das doch, verweist das auf einen Traditionsbruch, zumindest eine Krise. Die Tendenz zur Verschriftung ist in Traditionen nicht unbedingt im Sinne einer inneren Entwicklungslogik angelegt. Der natürliche Weg der Tradition führt nicht zur Schrift, sondern zur Gewohnheit, nicht zur Explikation, sondern zum Implizit-Werden, zur Habitualisierung und Unbewußtmachung. 2 Der Anstoß zur Verschriftung muß von außen kommen, und wo er kommt, verändert er die Tradition. Daher ist es sinnvoll, nach solchen äußeren Anstößen zur Verschriftung zu fragen. KANONISIERUNG
HochverbindhcheEndgesta.it
Kanonisierung ist eine besondere Form von Verschriftung. Die rpg^g w e r d e n nicht einfach niedergeschrieben, sondern in ihrer Verbindlichkeit gesteigert. Diese gesteigerte Verbindlichkeit bezieht sich auf ihre Gestalt (ihren Wortlaut) sowie auf ihre Autorität. Beides hängt eng zusammen. Autorität bedeutet, daß alles, was der Text sagt, schlechthin normative Geltung besitzt und daß alles, was normative 2
Z u m Prozeß der Habitualisierung vgl. Pierre B O U R D I E U : Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M. 1974, S. 125-158. Z u m Prozeß der Unbewußtwerdung siehe die Beiträge von M a r i o E R D H E1M : .DZF gesellschaftliche Produktion
von Unbewußtkeit,
Frankfurt a.M. 1984, sowie Die Psychoanalyse und das Unbewußte
Frankfurt a.M. 1988.
14
in der
Kultur,
F Ü N F
W E G E
ZUM
K A N O N
Geltung beansprucht, sich als Sinn dieses Textes muß ausweisen können. Damit ist zugleich gesagt, daß der Text weder fortgeschrieben noch um weitere Texte ergänzt werden kann, sondern daß fortan aller weiterer Sinn aus dem Text selbst gewonnen werden muß. Diese Schließung bedingt seine Gestalt, die nun in ihrem Wortlaut fixiert wird. Es handelt sich hier um eine wirkliche Endgestalt. Die Normativität des Textes, seine Autorität und Hochverbindlichkeit, bezieht sich ausschließlich auf diese Endgestalt, nicht auf irgendwelche Vorund Urstufen. Es gibt innerhalb dieser kanonischen Endgestalt kein Mehr oder Weniger an Verbindlichkeit, keine wichtigeren und unwichtigeren Sätze, keine ursprünglichen und sekundären Partien. Mit der Endgestalt ist das geschichtliche Werden des Textes vergessen. Der Prozeß der Kanonisierung stellt das normale Schicksal ge- Triebkräfte der schriebener und abgeschriebener Texte auf den Kopf. Denn der übli- Kanonisieruns che Weg ist der Weg bergab: Textgeschichte ist Verfallsgeschichte. Daher bemüht sich jede philologische Textarbeit um die Erschließung der ältesten und ursprünglichsten Fassung, des Archetyps. Die Quelle des Sinns ist die Intention des Autors, und je näher eine Fassung dieser Quelle steht, desto sinnvoller ist sie. Textkritik arbeitet sich von der Letztform zurück zur Urform, Kanonkritik arbeitet umgekehrt die Tendenzen heraus, die das Werden, Wachsen, Zusammenwachsen und Heiligwerden der Texte vorantreiben. Hier interessieren nicht die ursprünglichen Autoren und ihre Intentionen, sondern die Redaktoren und insbesondere die Letztredaktion, die das Ganze zum Kanon zusammenschließt. 3 In theologischer Hinsicht kann man Kanonisierung als einen inspirierten Prozeß verstehen, als eine Offenbarung, die sich in der Länge der Zeit entfaltet und vollendet, ja, nach rabbinischer Auffassung, sich in Form der mündlichen Tora sogar noch in die Auslegung des Textes hinein fortsetzt. 4 Ich möchte im folgenden jedoch nicht als Theologe, sondern als Historiker einen Blick auf den
3
Also die Textschicht „R" (Redaktor), die Martin B UB ER und Franz ROSENZWEIG als Rabbenu (unser Lehrer), also die verbindliche Lehrautorität im Sinne des „impliziten Autors" auffaßten.
4
Einer der Hauptvertreter dieser „Kanonhermeneutik" ist James A. SANDERS. Vgl. seine Bücher Torab and Canon, Philadelphia 1972, Canon and Community, Philadelphia 1984, und From Sacred Story to Sacred Text, Philadelphia 1987. Z u m Begriff der inspirierten Auslegung vgl. Peter SCHÄFER: Text, Auslegung und Kommentar im rabbinischen Judentum. In: Jan ASSMANN und Burkhard GLADIGOW (Hgg.): Text und Kommentar, München 1995, S. 163-186.
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JAN
A S S M A N N
Prozeß der Kanonisierung werfen und am Fallbeispiel Israels fünf Tendenzen oder Triebkräfte namhaft machen, die sich teilweise auch in anderen Kulturen wiederfinden lassen, teilweise aber auch ein Spezifikum der altisraelitisch-frühjüdischen Situation sind. F Ü N F IMPULSE DER KANONISIERUNG Die Exkarnation
der Gesetze und die Erfindung
Vergangenheit: die josuanische Situation
Schriftlichkeit und Geltung
einer
(Kanon von
normativen unten)
Der erste Schritt von der Tradition zur Schrift und darüber hinaus zum Kanon wird im Umkreis der Rechtskodifikation vollzogen. Im allgemeinen sieht man darin nicht viel anderes als die Übernahme mesopotamischer Formen der Rechtsverschriftung, die dort bis ins dritte Jahrtausend zurückreichen. 5 Das scheint mir jedoch verfehlt. In Mesopotamien haben wir es mit Rechtsbüchern zu tun. Die Tora dagegen ist ein Gesetzbuch. Der Unterschied ist fundamental. 6 Das Rechtsbuch ist eine Gattung der bürokratischen Wissensüteratur, die in Mesopotamien bekanntlich in einzigartiger Weise entwickelt ist. Das Rechtsbuch ist aber kein Kodex, das heißt kein Gesetzbuch. Es hat keinen präskriptiven, absolut bindenden Charakter. Wir haben es hier mit zwei ganz verschiedenen Funktionen von Schrift zu tun. Die eine Funktion der Schrift ist die der Speicherung, im Sinne einer Extension und Exteriorisierung des Gedächtnisses. 7 Die andere ist die der verbindlichen Veröffentlichung im Sinne einer Extension und „Exkarnation" - diesen Begriff übernehme ich von Aleida Assmann 8 - des höchstrichterlichen (legislativen oder judikativen) Machtworts. Im einen Fall unterstützt die Schrift das Gedächtnis, im anderen die Stimme. Im einen Fall wird ein Gesetz aufgeschrieben, weil es gilt (und überdauert als Schrifttext die Zeit seiner Geltung, während sonst mit der Geltung auch die Erinnerung daran
5
Hans G. KIPPENBERG: Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen in ihrem Zusammenhang mit der antiken Stadtherrschaft, Frankfurt a.M. 1991, S. 157fF., mit Hinweisen auf die einschlägige Literatur.
6
Zum Folgenden vgl. Hans J. G E H R K E (Hg.): Verschriftung sozialer Normen und Kodifizierung von Recht im interkulturellen Vergleich, Tübingen 1994.
7
Vgl. hierzu André LEROI-GOURHAN: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a.M. 1980.
8
Aleida A s s M A N N : Exkarnation: Über die Grenze zwischen Körper und Schrift. In: Alois M.MÜLLER und Jörg HUB ER (Hgg.): Raum und Verfahren, Basel 1993 (Interventionen 2), S. 159-181.
16
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verschwinden würde), im anderen Fall gilt ein Gesetz, weil es geschrieben steht. Die eine Funktion könnte man „informativ" nennen; sie dient zur Sicherung und Vermittlung relevanten juristischen Wissens. Die andere Funktion wäre demgegenüber als „performativ" zu bezeichnen. Hier wird mit den Mitteln der Schrift eine sprachliche Handlung vollzogen. 9 Ein Gesetzbuch als Kodifikation geltenden Rechts gehört zur performativen Schriftlichkeit. Es stellt den Sachverhalt einer Rechtsordnung her, den sie beschreibt. Das Rechtsbuch dagegen stellt die für die Formulierung von Gesetzen und Urteilen notwendige Wissenstradition bereit, aber gibt diese Gesetze und Urteile nicht in verbindlicher Weise vor. Es ist eine Hilfe, aber keine Vorschrift bei der Rechtsfindung. Die Legitimität der Gesetze entspringt nicht einer kodifizierten Tradition, sondern der jeweiligen königlichen Autorität. Die Gesetze müssen immer neu vom König in Kraft gesetzt oder verändert werden. Die Schriftlichkeit allein sichert ihnen weder Legitimität noch Autorität. Wo es einen König gibt, zu dessen Hauptaufgaben es gehört, Gesetze zu erlassen und in Kraft zu setzen, braucht man kein Gesetzbuch; im Gegenteil: Es würde die legislative Kompetenz des Königs in ungebührlicher Weise einschränken. Das Gesetzbuch ersetzt daher in gewisser Weise den König. Und genau dies ist der Punkt. Die Tora tritt an die Stelle des altorientalischen Rechtskönigtums. Sie verschriftet nicht das juristische Wissen, sondern das königliche Machtwort, das aufgrund dieses autoritativen Anspruchs als Wort Gottes kodifiziert wird. Dadurch wird man von einem Königtum unabhängig. Dieser Schritt hat in den altorientalischen Schriftkulturen aus guten Gründen keine Parallele, wohl aber in einigen Stadtstaaten des archaischen Griechenlands, vor allem in Kreta sowie in den unteritalischen Kolonien.10 Ich fasse diese Prozesse der Gesetzeskodifizierung unter dem Stichwort der josianischen Situation zusammen, aber weiß natürlich, daß sie sich über eine weitaus längere Epoche der israelitischen
9
Zum Phänomen performativer Schriftlichkeit vgl. Jan A s s M A N N: Altorientalische Fluchinschriften und das Problem performativer Schriftlichkeit. Vertrag und Monument als Allegorien des Lesens. In: Hans Ulrich GUMBRECHT und K. Ludwig PFEIFFER (Hgg.): Schrift, München 1993, S. 233-256.
10
Vgl. hierzu Karl J . H Ö L K E S K A M P : Written Law in Archaic Greece. In: Proceedings of the Cambridge Philological Society 38 (1992), S. 87-117.
r
7
Kodifizierung und nationale Erweckung
JAN
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Geschichte erstrecken. 11 Die Regierungszeit des Josua bedeutet hier lediglich einen Durchbruch und Höhepunkt. Hier werden die Gesetze und normativen Traditionen nicht nur gesammelt, sondern umfassend kodifiziert und in Kraft gesetzt, und zwar mit erheblicher revolutionärer Gewalt. 12 Die josuanische Reform hat nicht nur kultischen, sondern auch politischen Charakter: den Charakter einer revolutionären nationalen Erweckungsbewegung in der für solche Bewegungen typischen Semantik der Erinnerung an ein vergessenes Eigenes und der sich aus solcher Erinnerung speisenden Befreiung vom und Vertreibung des Fremden. Die Exkarnation der Tradition: Die Babylonische Situation Die gerissene Kette
Wenn wir hier den von Aleida Assmann eingeführten Begriff der Exkarnation auf „Tradition" anwenden, dann verstehen wir unter Tradition das gelebte, in Trägern verkörperte und in lebendigem Umgang sowohl durch sprachliche Unterweisung als auch und vor allem durch sprachloses Vormachen und Nachmachen weitergegebene und in weiten Bereichen selbstverständlich, unbewußt und implizit gewordene Wissen. Die typische Situation, in der solches Wissen aus der impliziten Sprachlosigkeit und der mündlichen Unterweisung herausgeholt und verschriftet wird, ist der Traditionsbruch, wenn die Kette des Vormachens und Nachmachens sowie der mündlichen Kommunikation abreißt. In solchen Situationen entstehen nicht nur Texte, sondern erhalten vor allem schon vorhandene Texte erhöhte Normativität. Wenn der Kontakt mit den lebendigen Vorbildern abreißt, beugt man sich über die Texte auf der Suche nach Orientierung. Das ist die Situation der babylonischen Gefangenschaft und der Diaspora. Viele Spielarten dessen, was heute als Fundamentalismus verbucht wird, erwuchsen aus den Traditionsbrüchen des Zweiten Weltkriegs, des Holocausts und der Kolonisierung.
11
Vgl. hierzu Frank
C R Ü S F . M A N N :
Die Tora. Theologie und Sozialgesehicbte
M ü n c h e n 1992. 12
Ebd., S. 235-322.
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des alttestamentlichen
Gesetzes,
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WEGE
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KANON
Das Deuteronomium beschreibt und kodifiziert diesen Übergang aUS der gelebten in die gelernte Tradition als Übergang von der Augenzeugenschaft und lebendigen Erinnerung der Wüstengeneration in das kulturelle Gedächtnis Israels, das auf eine äußerst elaborierte Mnemotechnik gegründet wird. In diesem Übergang konstituiert sich Israel als Lern- und Erinnerungsgemeinschaft. 13 Dieser bis heute absolut zentrale Aspekt der jüdischen Identität konstituiert sich, wie die deuteronomistischen Texte deutlich belegen, bereits in der Situation des Babylonischen Exils. Hier wird die Religion von einer Sache kultischer Reinheit zu einer Sache des Lernens und der Bildung. Dem priesterschriftlichen Ideal des goj kadosch, des „heiligen Volks" von Priestern (Ex. 19, 6), entspricht das deuteronomistische Ideal des „weisen und gebildeten Volkes".14 Das weise und gebildete Volk hat die verschriftete Tora gelernt, und zwar auswendig gelernt.15 Die verschriftete Tradition kann nicht mehr einfach nachgelebt, sie muß gelernt werden. Mit der Deportation ins Babylonische Exil verschwindet das selbstverständliche Vorbild der älteren Generationen. Die normative Tradition muß verschilftet werden, weil sie nicht mehr einfach nachgemacht werden kann. Die Normativität der Texte muß geprüft und festgelegt werden, um etwas zu haben, woran man sich halten kann. „In Augenblicken sozialer Desorganisation", schreibt Helmut Lethen mit Bezug auf die Situation zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg, „in denen die Gehäuse der Tradition zerfallen und Moral an Überzeugungskraft einbüßt, werden Verhaltenslehren gebraucht, die Eigenes und Fremdes, Innen und Außen unterscheiden
13
Vgl. hierzu Georg B R A U L J K OSB: Das Deuteronomium und die Gedächtniskultur Israels. Redaktionsgeschichtliche Beobachtungen zur Verwendung von lamad: In: Georg B R A U L 1 K , Walter G R O S S und Sean M C E V E N U E (Hgg.): Biblische Theologie und gesellschaftlicher Wandel. Festschrift Norbert Lohfink SJ, Freiburg 1993, S. 9-31, und im Anschluß daran Norbert LOHFINK: Der Glaube und die nächste Generation. Das Gottesvolk der Bibel als Lerngemeinschaft. In: ders.: Das Jüdische am Christentum, Freiburg 1987, S. 144-166, und das Kapitel „Religion als Erinnerung: Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik" meines Buches Das kulturelle Gedächtnis, München 1992, S. 212-228.
14
Von dem in Dtn. 4,6 die Rede ist.
15
Ahnliches gilt übrigens auch, einem Hinweis von Hans J. Gehrke zufolge, für die Gesetzeswerke im archaischen Kreta, die nach einer Notiz bei Aelian in Verbindung mit Melodien auswendig gelernt wurden. Der musische Lernstoffbestand an erster Stelle aus den Gesetzen, dann kamen Götterhymnen und zuletzt Loblieder auf verdiente Vorfahren. Der Doppelsinn des griechischen Wortes nomos „Gesetz" und „Lied" (davon „Neumen" fiir musikalische Notation) leitet sich von dieser Mnemotechnik ab.
19
Vom Nach-
JAN
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helfen. Sie ermöglichen, Vertrauenszonen von Gebieten des Mißtrauens abzugrenzen und Identität zu bestimmen". 16 Traditionsbrüche bedeuten Verschriftungsschübe. Das war im Ägypten des ausgehenden dritten Jahrtausends, nach dem Untergang des Alten Reichs, nicht anders. Die erste Zwischenzeit bedeutete nicht nur einen Traditionsbruch, sondern auch einen Verschriftungsschub, der sich in allererster Linie auf die Normen des sozialen Lebens bezog. Der zerfallene Vertrauenshorizont mußte im Raum der Schrift explizit kolonisiert und abgegrenzt werden. 17 Die Kodifizierung
der normativen
Die persische Situation
Überlieferung:
(Kanon von oben)
Das Perserreich befestigte seine Herrschaft in den Provinzen, indem es sich zum besonderen Anwalt und Hüter der lokalen Tradition, der patrioi nomoi machte. 1 8 In Ägypten wurde im J a h r e drei von Darius I. eine Kommission eingesetzt, die das frühere, bis zum 44. Lebensjahr des Amasis gültig gewesene Recht erfassen sollte. 1 9 Ein gewisser Udjahorresne wurde beauftragt, die „Lebenshäuser", die den Tempeln angeschlossenen Skriptorien, wiederherzustellen, welche die wichtigsten Überlieferungsinstitutionen waren. 2 0 Der Tempel, den Darius I. in El-Khargeh errichten ließ, kann als der erste
16
Helmut
17
Vgl. hierzu Jan A s S M A N N : Zur Verschriftung rechtlicher und sozialer Normen im Alten Ägypten. In: Hans J. GEHRKE unter Mitwirkung von Eckhard W l RBELAUER (Hgg.): Rechtskodifizierung und soziale Normen im interkulturellen Vergleich, Tübingen 1994, S. 61-86.
18
Dieses Verfahren formuliert Hans G. Kippenberg als ein allgemeines Prinzip imperialistischer Politik: „Wenn Kolonisatoren aus den von ihnen eroberten Territorien ein Imperium machen wollen, dann müssen sie sich zu Beschützern oder geradezu zu Erfindern der Traditionen der unterworfenen Ethnien machen." Hans G. K I P P E N B E R G : Die jüdischen Überlieferungen als patrioi nomoi. In: Richard F A B E R und Renate S c H L E S I E R (Hgg.): Die Restauration der Götter. Antike Religion und Neo-Paganismus, Würzburg 1986, S. 45-60, hier S. 51, mit Verweis aufjan H. G R E V E M E Y F . R (Hg.): Traditionale Gesellschaften und europäischer Kolonialismus, Frankfürt a.M. 1981, S. 16-46; Gérard L E C L E R C: Anthropologie und Kolonialismus, München 1973. Vgl. auch Peter F R E I und Klaus K o C H : Reichsidee und Reichsorganisation im Perserreich, Göttingen 1984 (Orbis Biblicus et Orientalis 55); Reinhard G. K R A T Z : Translatio imperii. Untersuchungen zu den aramäischen Daniel-Erzählungen und ihrem theologie-geschichtlichen Umfeld, Neukirchen 1991, S. 161ff., S. 225ff.
19
Wilhelm S P I E G E L B E R G : Die sogenannte Demotische Chronik, Leipzig 1914 (Demotische Studien 7), S. 30-32; Ernst MEYER -.Ägyptische Dokumente aus der Perserzeit, Berlin 1915 (Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1915. Philos.-hist. Klasse, H . XVI), S. 304ff.
20
Alan B. LLOYD:The Inscription ofUdjahorresnet. A Collaborator'sTestament. In: Journalof Egyptian Archaeology 68 (1982), S. 166-180.
LETHEN:
Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfürt a.M.
20
1 9 9 4 , S. 7.
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Vertreter des neuen Tempeltyps gelten, dessen Dekoration sich nicht nur auf das Kultgeschehen bezieht, sondern auch wichtige Wissensbestände aufzeichnet und den wir in Ägypten als den symbolischen Ausdruck einer Umzäunung und Verfestigung von Überlieferung und Identität verstehen können. 21 Die persische Herrschaft bedeutet für Ägypten eine Repristinierung und Kodifizierung der Traditionen. Esras Das jüdische Gegenstück zum Ägypter Udjahorresne ist Esra, der Gesetzbuch Schreiber, ein in Babylon verbliebener Angehöriger der israelitischen Priesteraristokratie, der um 400 v. Chr. mit einem entsprechenden Auftrag in die Satrapie Transeuphratene geschickt wird: „Denn du bist von dem König und seinen sieben Räten ausgesandt und sollst nach dem Gesetz deines Gottes, das in deiner Hand ist, untersuchen, wie es in Juda und Jerusalem steht." (Esra 7,14) 2 2 Mit Esra und seinem Gesetzbuch 23 erreicht die Verschriftung der normativen Traditionen Israels eine weitere Stufe in Richtung auf den Kanon der hebräischen Bibel. Am Wassertor von Jerusalem, an dem Esra, wie Nehemia im achten Kapitel seines Buches berichtet, die gesamte Tora vor allem Volk nicht nur vorlesen, sondern zugleich auch Abschnitt für Abschnitt auslegen ließ, schlägt, wie der jüdische Historiker Yosef Hayim Yerushalmi sich ausdrückt, nicht nur die Geburtsstunde der Schrift, sondern auch die der Exegese. „Esra öffnete das Buch auf vor aller Augen (...). Als er das Buch aufschlug, erhoben sich alle (...). Man las aus dem Buch, dem Gesetz Gottes, in Abschnitten vor und gab dazu Erklärungen, so daß die Leute das Vorgelesene verstehen konnten." (Neh. 8, 5-8) Heiliger Text und Gesetzbuch sind hier zum ersten Mal eins geworden. „Zum ersten Mal in der Geschichte", schreibt Yerushalmi, „hört ein heiliger Text auf,
21
Vgl. hierzu das Kapitel „Der Spätzeittempel als Kanon" in meinem Buch Das kulturelle Gedächtnis, S. 177-195.
22
Vgl. zur Mission des Esra: Herbert D O N N E R : Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen. Bd. 2: Grundrisse zum Alten Testament, Göttingen 1986 (Das alte Testament/Deutsch, Ergänzungsreihe 4/2), S. 416FF.; Frank C R Ü S E M A N N : Der Pentateuch als Tora. In: Evangelische Theologie 49 (1989), S. 250-267; Odil H . S T E c K: Der Abschluß der Prophetie im Alten Testament. Ein Versuch zur Vorgeschichte des Kanons, Neukirchen-Vluyn 1991, S. 13-21.
23
Esras persischer Titel lautete „Schreiber des Gesetzes des Himmelsgottes". Hans Heinrich S c H A E D E R : £ z r a der Schreiber, Tübingen 1930, wollte in Esra einen persischen Staatssekretär und Sonderbeauftragten für jüdische Angelegenheiten sehen.
21
JAN
Vom
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das exklusive Gut der Priester zu sein und wird Gemeinbesitz des Volkes. Hier haben wir die Geburtsstunde der Schrift und zugleich die GesetzGeburtsstunde der Exegese." 24 ^Kanon"1 So hatte schon Josua im Jahre 622 das im Tempel zufällig aufgefundene Sefer ha-Berit oder Sefer ha-Tora vor allem Volk verlesen lassen. Aber damals war die Situation anders. Es handelte sich um eine Revolution. Die Schrift sollte nicht einen status quo legitimieren, sondern im Gegenteil einen schwerwiegenden Traditionsbruch, eine Kulturrevolution von ungeheurer Radikalität und Härte. Allerdings ist auch die neuerliche Inkraftsetzung des Gesetzes unter Esra nicht frei von Gewalt, wovon der Bericht von der Auflösung der Mischehen zeugt. Aber die Figur des Königs ist verschwunden, und die Restitution des Gesetzes vollzieht sich in einem weitgehend entpolitisierten Raum. Das Gesetzbuch wurde jetzt zum Kanon ausgebaut. Vorbedingung des Kanons ist das Ende der Prophetie. 25 Prophetie hat in dem entpolitisierten Raum der Provinz Jehud keinen Ort mehr, die ein Teil der Satrapie Transeuphratene geworden ist. Die Propheten reden im Auftrage Jahwes zu König und Volk; jetzt ist schon der Satrap weit weg, wieviel weiter der König. An die Stelle des Propheten tritt der Schriftgelehrte, der die Überlieferung kodifiziert, kanonisiert und auslegt. Den entpolitisierten Charakter des geistigen Klimas, in dem diese Arbeit vor sich ging, bezeugt vor allem die als „Priesterschrift" bekannte Komponente der Tradition. Die Vorstellungen vom legitimen Königtum und die messianischen Erwartungen, die in den prophetischen und deuteronomistischen Traditionen eine so zentrale Rolle spielen, sind hier so gut wie ganz ausgeblendet. Die monotheistische
24
YosefHayim YF.RU SH ALM I: Reflexions sur l'oubli. In: Usages de l'oubli. Colloques de Royaumont, Paris 1988, S. 7-21, hier S. 15.
25
Joseph BLENKINSOPP: Propbecy and Canon, Notre Dame 1977; Bernhard LANG : Vom Propheten zum Schriftgelehrten. Charismatische Autorität im Frühjudentum. In: Heinrich VON ST1ETENCRON (Hg.): Theologen und Theologien in verschiedenen Kulturkreisen, Düsseldorf 1986, S. 89-114; vgl. auch Sid Z. LEIMAN: The Canonization of Hc.brew Scripture: The Talmudic andMidrasbic Evidence, Hamden 1976. Zum Ende der Prophetie vgl. Flavius JOSEPH US: Contra Apionem I, §§ 38-41: „Die Geschichte von Moses bis Artaxerxes schrieben die Propheten in 13 Büchern. Die restlichen 4 Bücher enthalten Hymnen an Gott und Vorschriften für die Führung des menschlichen Lebens. Von Artaxerxes bis in unsere Zeit existiert eine Uberlieferung, die aber nicht gleiche Wertschätzung genießt, weil die Folge der Propheten abriß. Nur was diese uns hinterließen, verehren wir als unsere Schriften."
22
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Religion der „Jahwe-allein-Bewegung", die sich vor dem Exil als eine Gegenkultur formiert hatte, 26 wird nun zur „Binnenkultur" im Großverband des persischen Reiches, die sich um die Reinheit des Lebens, der Lehre und der Auslegung kümmert und die Organisation der weltlichen Geschäfte an die persische Besatzungsmacht delegieren kann. Der Prozeß einer Entpolitisierung des öffentlichen Lebens beginnt sich in der Perserzeit allgemein durchzusetzen. In Ägypten und Babylonien beobachten wir die „Klerikalisierung" der Kultur, den Übergang vom Schreiber-Beamten zum Schreiber-Priester als dem repräsentativen Kulturträger, in Israel den Übergang vom Propheten zum Schriftgelehrten. Aber nur in Israel hatte sich die Religion zu einer wirklichen Alternative kollektiver Identitätsfundierung verfestigt und ausdifferenziert. Nur hier war ein „Volk" entstanden, das seine Abgrenzung nach außen und seinen Zusammenschluß nach innen vollkommen unabhängig von politischen und territorialen Bindungen definierte, nämlich allein durch die Bindung an „das Gesetz und die Propheten".27 Der Zaun um die Wahrheit: die hellenistische
Situation
Philologische
Brian Stock hat gezeigt, daß die häretischen Bewegungen des ^IdpltuLher Mittelalters sich auf hochverbindliche Texte stützten, deren Bestand Führungsund/oder deren Interpretation ihnen eigen war. Sie konnten ihren anspruch Bruch mit der offiziellen Tradition und ihren Sonderweg nur legitimieren, indem sie auf einen Text verwiesen, dessen Autorität und normative Ansprüche als allen traditionellen und institutionellen Ansprüchen übergeordnet dargestellt werden konnte. Dissidenz setzt Literalität voraus. Brian Stock hat daher für diesen Typ von Bewegungen den Begriff der „Textgemeinschaften" (textual communities) 26
Bernhard LANG: The Yahweh-Alone Movement and the Making of Jewish Monotheism. In: ders.: Monotheism and the Prophetic Minority, Sheffield 1983, S. 13-59.
27
Abgrenzung nach außen nicht durch territoriale Grenzen, sondern durch die limitische Symbolik der Lebensform und Handlungsweise, vor allem durch Gesetze, die den Kontakt mit Nichtmitgliedern erschweren (Sabbatruhe, Exogamieverbot, Kommensalitätsverbot usw.); Zusammenschluß nach innen: durch Betonung der Mitgliedschaft, wie sie aus der Fülle der neuen Selbstbezeichnungen spricht, z.B. „die Kinder des Exils" (bene ha-gola), „der Rest", „die Männer des Bundes", „die Versammlung" (kahal), „die Gemeinde" (jachad), synagoge usw. Vgl. Ed Parish
28
Brian STOCK: Textual Communities. In: ders. (Hg.): The Implications of Literacy. Written Language and Models
S A N D E R S : Jewish and Christian
of Interpretation
in the Eleventh
Self-Definition,
and Twelfth
Bd. 2, Philadelphia 1981.
Centuries,
Princeton 1983, S. 8 8 - 2 4 0 .
23
JAN
BibUotheka-
beschränkulg
A S S M A N N
geprägt. 28 Viele der von ihm herausgestellten Kennzeichen dieser Bewegungen des elften und zwölften Jahrhunderts n. Chr. gelten bereits für die Gemeinde von Qumran und für zahlreiche ähnliche Gruppierungen wie Orphiker, Pythagoräer, Gnostiker, Urchristen, Hermetiker usw., die sich im Hellenismus und in der Spätantike typischerweise auf der Basis eines Grundbestands normativer Literatur zusammenschlössen. 29 Kennzeichen einer textual Community ist einerseits die identitätsdefinierende Bedeutung eines solchen Grundtexts, zum anderen die Struktur von Autorität und Führerschaft, die sich aus der Kompetenz im Umgang mit Texten ergibt. Philologische und politische Kompetenz fallen hier zusammen. Die Führung gebührt dem, der die umfassendste Kenntnis und die einleuchtendste Deutung der Texte besitzt. Die Funde von Qumran und Nag Hammadi geben uns Einblicke in die Überreste solcher Bibliotheken, auf die sich Textgemeinschaften der Antike stützten. Trotz ihres fragmentarischen Zustands lassen sie darauf schließen, daß solche Bibliotheken nicht wie heutige Bibliotheken auf möglichste Fülle und Vielfalt angelegt waren, sondern sich auf die für die Gemeinschaft verbindliche Literatur beschränkten. Diesen Charakter einer Hand- und Arbeitsbibliothek haben sie mit den spätägyptischen Tempelbibliotheken gemeinsam, im Unterschied etwa zu den neuassyrischen Palastbibliotheken. Der Typus der neuassyrischen Palastbibliothek war in der Tat auf Vielfalt, Fülle und Vollständigkeit angelegt. Er war die auf die Bücherwelt übertragene Idee des Schatzhauses. In der Tradition dieses Bibliothekstyps stehen noch die Bibliothek von Alexandria und auch die heutige Institution von National-, Staats-, Landes- und Universitätsbibliotheken. Die ägyptische Tempelbibliothek dagegen enthielt nur das Notwendige und Wichtige. 30 Clemens von Alexandrien hat uns die Beschreibung einer solchen Bibliothek hinterlassen. Er spricht von zweiundvierzig hochnotwendigen (panu anagkaioi) Büchern, die den Grundbestand einer Tempelbibliothek ausmachten, von den Priestern in Prozes-
29
Vgl. hierzu die bereits erwähnten Arbeiten von SANDERS.
30
Bibliotheken (prmd3t „Haus der Schriftrollen", sakrale Spezialbibliothek, hiera bibliotheke nachDiodorus SICULUS: Bibl. hist., I, 49.3) waren den Tempeln angegliedert und enthielten die für die Durchführung der entsprechenden Aktivitäten notwendigen Schriften. Vgl. dazu Günter B U R K A R D: Bibliotheken im alten Ägypten. In: Bibliothek, Forschung und Praxis 4, H . 2 (1980) S. 79-115.
24
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sionen herumgetragen wurden und sämtlich von Thot-Hermes verfaßt sein sollten. Die Bücherprozession, von der uns Clemens von Alexandrien berichtet, gehört zu den typischen „Intellektuellen-Ritualen" (Bernhand Lang). 31 Die Gliederung dieses zweiundvierziger Kanons in verschiedene Abteilungen ergibt sich aus der Prozessionsordnung:32 Der Sänger trägt: 1 Buch mit Hymnen an die Götter; 1 Buch mit dem Bericht über das Leben des Königs. Der Horoskopos trägt: 4 Astrologische Bücher - über die Anordnung der Fixsterne; - über die Stellung von Sonne, Mond und den 5 Planeten; - über die Konjunktionen und Phasen von Sonne und Mond; - über die Aufgangszeiten der Sterne. Der Hierogrammateus trägt: 10 Hieroglyphische Bücher über Kosmographie und Geographie, Ägypten und den Nil, Tempelbau, Landbesitz der Tempel, Versorgung und Ausstattung der Tempel. Der Stolist trägt: 10 Bücher über Erziehung und Opferkunst, handelnd von Weisheit und Frömmigkeit, Opferriten, Erstlingsopfern, Hymnen, Gebete, Prozessionen und Festen. Der Prophet33 trägt: 10 Hieratische Bücher über Gesetze, Götter und das Ganze der priesterlichen Bildung.34 Bis hierher ist die Liste klimaktisch angeordnet. Der Prophet bekleidet den höchsten, der Stolist den zweiten, der Hierogrammateus
31
Bernhard LANG (Hg.): Das tanzende Wort. Intellektuelle Rituale im Religionsvergleicb, München 1984.
32
Clemens ALEXANDRINUS: Stromata, VI., Cap. IV, §§ 35.1-37. Vgl. Garth FOWDEN: Tie Egyptian Hermes. A HistoricalAfproach to the Laie Pagan Mind, Cambridge 1986, S. 58f.
33
Der griechische Titelprophetes überträgt den ägyptischen Titel hm-ntr („Gottesdiener", d.h. Hohepriester), hat also nichts mit dem hebräischen Begriff des Propheten zu tun.
34
Der ranghöchste Priester trägt die Bücher mit dem höchsten Verbindlichkeitsgrad, vermutlich weil er als einziger zu ihrer Auslegung befugt und berufen ist.
25
JAN
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den dritten Rang usw. Darüber hinaus gibt es nach Clemens: 6 Medizinische Bücher - über den Bau des Körpers; - über Krankheiten; - über Organe; - über Drogen; - über Augenkrankheiten; - über Frauenkrankheiten.
Die hebräische
Bibliothek
Die überlieferten Bücherkataloge der Tempelbibliotheken von Edfu und Tod sowie gelegentliche Funde bestätigen diese Gliederung. 35 Die Tendenz zur Abgrenzung und Verbindlichkeit ist in diesem Aufbau deutlich sichtbar, auch in der heiligen Zahl 42, die der Zahl der Gaue Ägyptens entspricht, sowie in Judäa die Zahl 22 bzw. 24 der Zahl der hebräischen bzw. aramäischen Buchstaben. Aus der Form und Struktur eines Kanons ist alle Beliebigkeit ausgeschlossen. Die 42 Gaue und die 22 bzw. 24 Buchstaben sind Symbole der Ganzheit, Weltformeln, wenn man so will. Indem der Kanon diese Weltformel verwirklicht, wird er zur Welt in Buchform. 36 hebräische Bibel zeigt alle Züge einer solchen „hochnotwendigen" Hand- und Arbeitsbibliothek. Sie ist viel eher eine Bibliothek als ein Buch. In der kanonischen Endgestalt beschränkt sie sich auf drei Abteilungen: Tora, Propheten und Schriften (in antiklimaktischer Folge). Man hat den Eindruck, daß sich mit der hebräischen Bibel die Bibliothek einer Textgemeinschaft gegen die Bibliotheken anderer Textgemeinschaften durchgesetzt hat. Diese Textgemeinschaften muß man sich nach Art der überlieferten Gruppierungen wie Sadduzäer,
35
Z u den Bücherkatalogen vgl. Alfred G R I M M : Altägyptische Tempelliteratur. Zur Gliederung und Funktion der Bücherkataloge von Edfu und et-Tod. In: Studien zur altägyptischen Kultur, Beih. 3 (1988), S. 168f. Donald B. REDFORD: Pbaraonic Kinglists, Annals and Daybooks: A Contribution to the Egyptian Sense of History, Mississauge 1986, S. 214fF. Aus Tebtunis stammen z. B. Rituale, Götterhymnen, kosmographische und geographische Bücher, Astronomie, Magie, Weisheitstexte, Traumbücher, Medizin, Bücher über die Tempelverwaltung, O n o masticau.a. Vgl. William J. T A I T : Papyri from Tebtunis in Egyptian and in Greek, London 1977; Eve Anne RE YM O N D: From tbe Contents of the Libraries of the Sue hos Temples in the Fayyum 2: From Ancient Hermetic Writings, W i e n 1977; Garth FOWDEN: The Egyptian Hermesy Princeton 1986.
36
Darauf machte mich Aleida Assmann aufmerksam.
26
Egyptian
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WEGE
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KANON
Pharisäer, Essener vorstellen. Zwar wird der ursprüngliche Umfang der Bibliothek von Qumran37 und der von Tebtunis auf ungefähr 1000 Schriftrollen geschätzt, was gewaltig anmutet, aber in inhaltlicher Hinsicht ist auch hier der Charakter der Arbeits- im Gegensatz zur Sammelbibliothek ziemlich deutlich. Das gemeinsame Element der mittelalterlichen und der hellenistisch-römischen Situation kann man vielleicht in der Verbindung von Textbesitz und Dissidenz erblicken. Ich möchte die These wagen, daß ohne normative Schriftlichkeit die Ausbildung solcher kollektiver Sonderwege und alternativer Lebensformen in Konfrontation zur allgemeinen und offiziellen Kultur nicht denkbar ist. Auch der ägyptische Tempel wird in der Spätzeit zum Gehäuse einer alternativen Lebensform, die durch Askese und Kontemplation gekennzeichnet ist. Die Priester sondern sich ab von der hellenisierten Kultur, aber auch von anderen Tempeln. Jeder Tempel entwickelt seine eigene Lehre und sogar sein eigenes Schriftsystem. Ungleich schärfer verlaufen jedoch die Konflikt- und Kontrastfronten in Judäa. Im antiken Judentum muß man zwischen inneren und äußeren Konfrontationen oder Kontrastfronten unterscheiden. Auf der einen Seite haben wir die inneren Konflikte zwischen Gruppierungen wie Hasmonäern, Sadduzäern, Pharisäern, Essenern usw., auf der anderen Seite die äußere Konfrontation zwischen Judaismos und Hellenismos (2 Makk. 2, 21) 38 oder zwischen Israel und den Völkern, Jews and Gentiles.39 Wenn sich das Judentum insgesamt als eine textual Community gegen den Rest der Welt konstituiert, dann hat eine solche Aufrüstung sowohl von Schriftlichkeit als auch von Identität einen Vorlauf in der jahrhundertelangen Geschichte innerer Konfrontationen, in der die israelitischen und frühjüdischen textual communities gegeneinander standen. Zwischen der ethnischen Identität und der religiösen Identität, d. h. zwischen „Israel" und dem „wahren Israel" wird scharf unterschieden. So wurden die Exodus-Überlieferungen in die Form einer Erinnerungsfigur gebracht, auf die hin alle geschichtlichen Kon-
37
Hartmut STEGEMANN: Die Essener; Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, Freiburg '1994, S. 12.
38
Vgl. dazu KLPPENBERG: Die jüdischen Überlieferungen als patrioi nomoi, S. 45-60.
39
Vgl. dazu Carsten C o L P E: Die Ausbildung des Heidenbegriffs von Israel zur Apologetik und das Zweideutigwerden des Christentums. In: FABER und SCHLESIER (Hgg.): Restauration, S. 61-87.
27
Schriftlichkeit
und Dlssldenz
JAN
A S S M A N N
frontationen, sowohl mit den wechselnden Fremdkulturen der Assyrer, Babylonier, Perser, Griechen, Römer usw. als auch mit der assimilationswilligen Mehrheit der eigenen Gruppe lesbar blieben bis heute. Die sprachliche
Engführung
und die Abwehr der
Idolatrie
Dieser, der f ü n f t e Punkt, ist der schwierigste. Was haben „Idolatrie" und Traditionsverschriftung bzw. Kanonbildung miteinander zu tun? Die These ist, daß die Abwehr der Idolatrie, d. h. die Vertreibung des Göttlichen aus allen ikonischen und sonstigen Formen innerweltlicher Inkarnation mit Ausnahme der Schrift, die Kanonbildung entscheidend gefördert hat. Um das zu verstehen, muß man sich klarmachen, was Idolatrie nicht bedeutet. Das Verbot, sich ein Bild zu machen, betrifft z.B. in keiner Weise die luxurierenden Anthropomorphismen der biblischen Texte, die Gott als Bräutigam, als König, als Vater und Richter, Hirten und Gärtner ausmalen. Solange die Bilder sprachlicher Art sind, ist nichts an ihnen auszusetzen. 40 Die Sprache ist koscher. Das aber bedeutet, das nun all das in die Sprache hineingenommen wird, was andere Völker in einem ganzen Spektrum kultureller Ausdrucksformen entfalten. Die schriftlich fixierte Sprache ersetzt jetzt nicht nur den König, sondern auch den Tempel. Der Kanon verwandelt den Tempel in Schrift. In den Synagogen vertritt, bis heute für jeden unmittelbar evident, die ToraRolle das Kultbild, das wie im alten Ägypten im verschlossenen Schrein ruht, bis es den Augen enthüllt wird. Ebenso wird die Form der meditativ-mystischen Betrachtung, die „Kontemplation", vom Kultbild auf die Schrift übertragen. Die meditative oder kontemplative Lektüre entgrenzt den Sinnhaushalt des Textes und führt zu einem unerschöpflichen Reichtum möglicher Auslegungen. Der „sprachlichen Engführung" korrespondiert die hermeneutische Ausweitung, die mit der „kontemplativen" Stillstellung des lesenden Blicks einhergeht. In letzter Konsequenz ersetzt die kanonisierte Schrift die Kunst,
40
Vgl. M o s h e HALBERTAL u n d Avishai MARGA LIT: Idolatry,
28
C a m b r i d g e , M a s s . 1992, S. 3 7 - 6 6 .
F Ü N F
W E G E
ZUM
K A N O N
das öffentliche Leben, tendenziell die Welt. Die Welt wird als solche zum Gegenstand der Idolatrie erklärt und diskreditiert. Die sich an den Schöpfer wendende Anbetung darf sich nicht im Geschaffenen verfangen. Der radikalen Außerweltlichkeit Gottes entspricht die radikale Schriftlichkeit seiner Offenbarung. Diesen Schritt hat das Christentum mit seiner Inkarnationstheologie rückgängig gemacht und damit den Weg zu den Bildern, zur Welt, zum Buch der Natur und letztlich auch - trotz des in diesem Punkt eher jüdisch denkenden Augustinus - zur Naturwissenschaft freigehalten. So gesehen erweist sich das Idolatrieverbot als die radikalste aller Exkarnationen. Idolatrie entwickelt sich im Hellenismus und in der Spätantike zu dem zentralen und definierenden religiösen Abscheu des Judentums. Aus der ursprünglich politischen Kategorie der Apostasie, des Abfalls zu fremden Göttern, wird jetzt die Verteufelung von Weltbeheimatung überhaupt. Die Welt verdient kein Interesse. Alles Interesse gehört der Schrift. „Mit fünf Jahren zur Bibel, mit zehn zur Mischna, mit dreizehn zur Gebotsbeobachtung, mit fünfzehn zum Talmud, mit achtzehn ins Brautgemach, mit zwanzig zum Erwerbsleben", so lautet im Traktat Pirke Abot der Mischna das jüdische Curriculum. Idolatrie als kultureller Abscheu vermag am besten zu erklären, warum Ägypten trotz mancher Parallelen zum Judentum in der Antike einen anderen Weg beschritt und letztlich unterging. Ägypten hat diesen Schritt in die Schrift nicht vollzogen, weil es an der symbolischen Präsenz des Göttlichen in der Welt festhielt. Im Horizont dieser vielfältigen kosmischen und kultischen Repräsentation ist die Sprache nur eines unter vielen Medien der Gottesnähe. In Ägypten hat sich das Göttliche nicht aus der Welt, den Bildern und Riten in die Schrift zurückgezogen. Deshalb konnte es auch nicht in der Schrift überdauern und ging zusammen mit den Bildern und Riten unter. In der ikonoklastischen Engführung, die alles auf die Schrift konzentriert, setzt sich ein monopolistischer Zug fort, der schon die josianische Reform kennzeichnete. Ein Gott, ein Volk, ein Buch, ein Tempel, ein Medium („Eine Gestalt habt ihr nicht gesehen. Ihr habt nur den Donner gehört." [Dtn. 4, 12]) Dieser Weg ist wohl der am spezifischsten jüdische. Aber er hat eine Parallele im sprachlichen Ikonoklasmus der beginnenden Wissenschaft im siebzehnten Jahrhundert, in den Versuchen, alle Bildlichkeit aus der Sprache zu ver-
29
Rückzug des
WeiT"
JAN
A S S M A N N
bannen und sie zu einem eindeutigen Medium wissenschaftlicher Verständigung zu machen. SCHLUSS
Es ist deutlich geworden, daß alle fünf Wege zum Kanon, die im Judentum zusammengekommen sind, typische Phänomene darstellen, die auch anderswo zu beobachten sind und die daher zum theoretischen Apparat einer historischen Phänomenologie der Schriftlichkeit gehören. Das gilt nicht nur für die Wege zum Kanon, das heißt die äußeren historischen Umstände oder „kanonogenen Situationen", sondern auch die inneren Funktionen und Auswirkungen der Kanonisierung. Davon war in meinem Beitrag bisher überhaupt nicht die Rede. Daher möchte ich mit einem Beispiel schließen, das diesen Aspekt der Kanonisierung beleuchtet. Der Kanon erzeugt Gleichzeitigkeit. Er schafft die Illusion einer zeitlosen Gesprächssituation, in der wir mit Homer und Aristoteles kommunizieren können. Der Kanon ist anachronistisch, er ist ein Ort eigener Zeitlichkeit, ein „Chronotop" im Sinne Michail Bachtins. 41 Im kanonischen Chronotop sind wir Zeitgenossen Homers und Piatons, Moses' und Jesaias. Ich möchte das mit einer vielzitierten, inzwischen schon geradezu abgedroschenen Geschichte aus dem Talmud illustrieren, die ich nach Yerushalmi zitiere: „In der Stunde, da Mose zur Höhe aufstieg (um die Tora in Empfang zu nehmen), fand er den Heiligen, gelobt sei er, wie er dasaß und tagin (kronenähnliche Schnörkel) anknüpfte. Er sagte vor ihm: Herr der Welt, wer hindert deine Hand? (D.h., fehlt in der Tora etwas, so daß derlei Ornamente nötig wären?) Er sprach zu ihm: Es ist ein Mensch, der zukünftig, am Ende vieler Generationen sein wird - Akiba, Josefs Sohn, ist sein Name - der zukünftig über jedes einzelne Strichlein ganze Berge von Lebensregeln auslegen wird. Er sagte zu ihm: Herr der Welt! Laß mich ihn sehen. Er sprach zu ihm: Wende dich nach hinten! Moses ging (in Rabbi Akibas Akademie) und setzte sich am Schluß von acht Reihen (von Akibas Schülern) hin. Er verstand aber nicht was sie sagten. Da verlor er seine Fassung. Als er zu einer bestimmten Sache kam, da sagten seine Schüler zu ihm: Meister, woher hast du das? Er sagte zu 41
Mikhail B A K H TIN: The Dialogic Imagination. Hrsg. u. übers, von Caryl EMERSON und Michael H O L QU I s T, Austin 1981, S. 84.
42
bMenachot 29b, zitiert nach Yosef Hayim YERUSHALMI: Zachor. Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin 1988, S. 32.
3°
FÜNF
WEGE
ZUM
KANON
ihnen: Es ist eine Lebensregel an Mose vom Sinai. Da beruhigte sich sein Sinn." 42 Moses im Bet Midrasch von Rabbi Akiba: das ist Nietzsches Geistergespräch more talmudico, die Stillstellung und Verräumlichung der Zeit in einer kanonisierten Tradition.
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SALEM UND BYZANZ E I N E KURZE G E S C H I C H T E DER B E I D E N
RECHTE
&
von Peter Goodrich
ACH einer der ältesten, in den Digesten überlieferten Definitionen geht es beim Studium der Jurisprudenz um „die Kenntnis göttlicher und menschlicher Dinge und die Wissenschaft von dem, was recht und was unrecht ist." 1 Andere, gleichwertige Definitionen beschrieben die Rechtswissenschaft als „wahre Philosophie" und als „Wissenschaft vom Guten und von der Billigkeit."2 Mit anderen Worten: Das Recht war nie eine rein weltliche oder säkulare Disziplin, und ebensowenig durfte man die Substanz des Rechts je von ihrem geistigen Wesen trennen. Positive Rechtsnormen waren, kurz gesagt, zwangsläufig und unumstößlich verknüpft mit den Methoden einer Wissenschaft und den Kriterien der Gerechtigkeit und der Wahrheit. Die Renaissance nahm mit ihrer Auffassung vom römischen Recht die klassische Tradition wieder auf, derzufolge städtische oder lokale Vorschriften stets der Vorstellung von einer uni-
1
„Iuris prudentia est divinarum atque h u m a n a r u m rerum notitia, iusti atque iniusti scientia." U L PIA N in: Corpus
2
„lus est ars boni et aequi (...) veram nisi fallor philosophiam, non simulatam affectantes." C E L s u s in: Corpus iuris
iuris civilis, Bd. 1, Berlin , r 1963, D 1.1.10.2.
civilis, D 1.1.1.
33
PETER
Historischer
Pluralismus
GOODRICH
verseilen und theokratischen Rechtsquelle untergeordnet waren. Die juristische Methodologie räumte daher den göttlichen Ursprüngen des Rechts Vorrang ein und erstellte aus den Instrumenten der weltlichen Gerechtigkeit eine Hierarchie verschiedener Rechtstitel. Die Rechtswissenschaft strebte nicht einfach nach Weisheit; vielmehr gründeten Lehre und Praxis des juristischen Urteilens auf einer Reihe von höheren Kategorien des Wissens. Selbst einem Elementarbuch des späten 16. Jahrhunderts, das der Vorbereitung auf das juristische Studium diente, lag die Vorstellung zugrunde, das Recht sei der Gerechtigkeit verpflichtet. Folglich durfte der Jurastudent sich mit der Substanz der Rechtssätze erst dann vertraut machen, wenn er Kenntnisse in jenen Bereichen erworben hatte, die dem Recht vorausgingen, also die Gesetze Gottes, der Natur, der Moralphilosophie, der Logik und der Grammatik, und wenn er diese Kodizes respektierte.3 Im Kontext der heutigen Jurisprudenz, die sich als modernistische, den klaren und autonomen Regeln der Rechtsmethodologie unterworfene Wissenschaft versteht, klingen die Ansprüche anderer Disziplinen und die Forderungen anderer Rechte seltsam. Daher verdient die historische Betrachtung besondere Aufmerksamkeit. Philosophisch ausgedrückt war das positive Recht von verschiedenen anderen Rechten abhängig, vor allem vom Recht der Theologie, des Gewissens und der Geschichte. In institutioneller Hinsicht war das säkulare Recht - in England das common law - lediglich eines von zahlreichen Gebieten der Jurisdiktion. Dieser Rechtspluralismus spiegelte die Hierarchie und die Vielfalt der Wissensquellen und der Darstellungen der Wahrheit wider. Die geistlichen Gerichte, die Gerichte des Gewissens und der Kirche, die Ehrengerichtshöfe und die Gerichte des Billigkeitsrechts sowie die Gerichte bestimmter Berufe, Regionen, Städte und Wälder, die Handels- und Ehegerichte, die Kriegs- und Seefahrtsgerichte stützten sich jeweils auf eigene Rechtssysteme, verschiedene Formen des Wissens und unterschiedliche Quellen der Gerechtigkeit. Die klassische Tradition, die alles andere
3
William F U L B E C K E : ^ Direction, or Preparative to the Study of the Lawe, London 1 6 0 0 , Kap. 1 . Interessante und vergleichbare Darstellungen der Disziplin finden sich bereits in dem Buch von Sir John F o RT F: S C I: F. : De Laudibus Legum Angliae, London 1 4 6 6 , später bei Christopher S A I N T G E R M A N : Doctor and Student, London 1 5 2 8 , bei John D O D E R I D G E : The English Lawyer, London 1 6 3 1 , sowie bei Sir Henry F I N C H : Law or a Discourse Thereof in Foure Books, London 1628.
34
SALEM
UND
BYZANZ
als „rein" war und die andere Disziplinen keineswegs ausschloß oder unterdrückte, integrierte das Recht in ein komplexes und pluralistisches, erkenntnistheoretisches System. In ihm waren die verschiedenen Disziplinen der speziellen Gerichte und Rechte letztlich den Geboten oder Kriterien eines absoluten Wissens unterworfen, zu dem der Mensch mit seinen wankelmütigen Anschauungen von der Vernunft und vom Glauben nur über einen beschränkten Zugang verfügt. In diesem Zusammenhang ist wichtig, daß die Wahrheit des Rechts und des Urteilens, hermeneutisch ausgedrückt, letztlich in jedem Einzelfall anhand ontologischer Kriterien und nicht etwa erkenntnistheoretischer Kriterien zu messen war. Ein Text, eine Tradition oder eine überlieferte Vorschrift mochten zwar einen bestimmten Aspekt der Natur oder der Wahrheit erhellen; doch die Maßstäbe und Methoden des menschlichen Rechts waren immer nur Abbild einer wiedergewonnenen oder nur teilweise verstandenen Wahrheit, die in ihrer Gesamtheit einer anderen Kategorie, dem Sein oder dem Wesen der Gottheit, angehörte. Der Text war daher der Bedeutung (mens legis) untergeordnet, das Wort dem Geist (anima legis), die Sprache des Rechts der Kraft, Macht oder Tugend, die ihrer Artikulation zugrunde lagen. 4 Im folgenden möchte ich die These vertreten, daß die moderne Jurisprudenz, vor allem die dogmatische Tradition des common law, die sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts entwickelte, auf einer historisch bedeutsamen Unterdrückung eben jener Disziplinen, Kenntnisse und Jurisdiktionen gründete, die nicht nur die Pluralität der Gesetze, sondern gleichermaßen den Geist, die Tugend und die Bedeutung des juristischen Urteilens ausmachten. Es ist hier nicht möglich, die Geschichte dieser Verschiebung der Jurisprudenz vom Göttlichen zum Menschlichen, von der Kunst zur Wissenschaft und von der Gerechtigkeit zum Recht vollständig nachzuzeichnen. Daher stütze ich meine These auf die beispielhafte Polemik zwischen den Sphären des Geistlichen und des Weltlichen. Ich möchte die These aufstellen, daß die Niederlage oder Annexion der kirchlichen Gerichtsbarkeit wesentlich zur Entstehung eines Phänomens beigetragen hat, 4
Vgl. die klassischen Texte im Corpus iuris civilis von CELSUS, D 1.3.17; PAULUS, D 1.3.29; ULPI AN, D 50.16.6.1. Eine ausgezeichnete Diskussion dieserTexte vor dem Hintergrund der Renaissance findet sich bei Ian MACLEAN : Interpretation andMeaning in tbe Renaissance, Cambridge 1992, S. 142-158.
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Vom
z
geistlichen
^hfeltllchen
PETER
G O O D R I C H
das wir, formelhaft ausgedrückt, als das positive Unbewußte der Rechtswissenschaft bezeichnen können. Zum Schluß meiner Ausführungen werde ich die Auffassung vertreten, daß das Unterdrückte zurückkehrt und daß die heutige Krise des formalen Rechts, seine moderne Geschichte der Positivierung, Irrationalität und Ungerechtigkeit symptomatisch sind für die Wiederkehr einer fernen und traumatischen Vergangenheit, in der die kirchliche Jurisdiktion unterdrückt wurde und das Recht sich den anderen Wissensfeldern zu verschließen begann. Jene anderen Felder stellten ihrer Natur und ihrer klassischen Bestimmung nach ebenfalls eine Form der Gerechtigkeit und eine Kunst dar, welche Spiritualität und Weltlichkeit, Körper und Seele miteinander verschmolz. Schließlich geht es mir auch um die Beziehung zwischen Wissen und Macht innerhalb der Rechtsprechung. Die Geschichte des utrumque ius5 - wir können es Vereinnahmung von Rechtsformen nennen unterdrückte nicht nur wirksam das Trauma, das die Auflösung der kirchlichen Gerichtsbarkeit zurückließ, sondern reproduzierte auch das „soziale Ich", eine symbolische oder dogmatische Subjektivität, die das Recht ihrer eigenen Subjektivität weder kennen noch unmittelbar gestalten konnte. In diesem Sinne ist es die Institution, die, um die klassische Formulierung des römischen Rechts zu benutzen, das „Leben instituiert", der also in ihren spezifischen Formen die Aufgabe des vitam instituere zufällt. 6 Das Studium der beiden Rechte enthält also Elemente einer Vorgeschichte des modernen Rechts und seiner Disziplinen, eines Rechts, dessen Identität und Konturen Foucault in seinen Werken Die Ordnung der Dinge und Überwachen und Strafen1 so gedankenreich und beschwörend gezeichnet hat. Man sollte allerdings auch erwähnen, daß die von Foucault untersuchte Periode, vor allem die Zeit des nachreformatorischen Rechts, seine These vom aus-
5
Dieses Thema analysiert Pierre LEGENDRE:Le droit romain, modèle et langage. In: ders.: Ecrits juridiques du Moyen Age occidental, Reprint London 1988. Eine ausführlichere und fachspezifischere Erörterung findet sich bei Pierre L F. G E N D R K : La pénétration du droit romain dans le droit canonique classique, Paris 1964. Einen kritischen Kommentar gibt Yifat HACHAMOVITOH: One Law on the Other. In: Revue internationale de semiotique juridique/International Journalfor the Semiotics of Law 3, H. 8 (1990), S. 187f£
6
M ARC I AN in: Corpus iuris civilis, D 1.3.2. Vgl. die Diskussion bei Pierre LEGENDRE: L'inestimable objet de la transmission: Etude sur le principe généalogique en Occident, Paris 1985, S. 349-375.
7
Michel FOUCAULT: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Human wissenschaften, Frankfurt a.M. 1974, und ders.: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1976.
36
SALEM
UND
B Y Z A N Z
gesprochen modernen Charakter der Disziplin sowohl bestätigt wie auch untergräbt. Die Institution eines disziplinierten Untertanen und seines Gewissensapparates, die Faszination oder Fixierung des Körpers durch oder an panoptische Erscheinungen war bereits Thema des Kirchenrechts und seines Nachfolgers, des doktrinären common law, also der anglikanischen Jurisprudenz. D E R M A N N , DER DAS G E S E T Z MIT EINEM H U T VERWECHSELTE
Der Konflikt der Jurisdiktionen, genauer: die Beziehung zwischen kanonischem, bürgerlichem und nicht-kodifiziertem altem Recht, war ein wichtiger Bestandteil der ersten Abhandlungen über das common law, obwohl dieser Konflikt erst während der Reformation seinen Höhepunkt erreichte. Statt über die polemische und apologetische Literatur im Detail zu berichten, will ich versuchen, mit Hilfe eines Beispiels eine Vorstellung vom Ausmaß und von den Problemen der Teilung zwischen den verschiedenen Rechtssystemen zu geben. Mein Beispiel stammt aus der Zeit unmittelbar nach der Wiedereinsetzung der anglikanischen Verfassung und ist dem Schriftwechsel zwischen dem anglikanischen Bischof Dr. Edward Stillingfleet und dem Theologen Thomas Godden entnommen. Letzterer weigerte sich, dem anglikanischen Gottesdienst beizuwohnen. In A Discourse concerning the Idolatry practised in the Church ofRome hatte Stillingfleet das anglikanische Verbot der Bilderverehrung (idolatria) verteidigt, jedoch die weltliche Verehrung davon unterschieden. Als Beispiel für eine erlaubte weltliche Verehrung nannte er die Ehre, die man dem Stuhl des Königs entgegenbrachte.8 Eben gegen dieses Beispiel wendet sich Godden, und am Ende seiner Abhandlung Catholicks no Idolators or a füll Refutation ofDr Stillingfleet's unjust charge of Idolatry against the Church ofRome dreht er die Argumente des Anglikaners gegen die Bilderverehrung um, indem er mit ihrer Hilfe jene Bürger lächerlich macht, die dem Staat auf anerkannte Weise ihre Reverenz erweisen.
8
Edward STILLING FLEET: A Discourse concerning the Idolatry practised in the Church of Rome, Cambridge 1671, S. 91f. Die gleiche Position und dasselbe Beispiel finden wir in William P e r k i n s : ^ Warning against the Idolatrie of the Last Times, London 1601, S. 96f. Das letztere Werk und seinen Kontext bespricht Margaret A s t o n in: England's Iconoclasts, Bd. 1: Laws against Images, Oxford 1988, S. 408-415.
37
PETER Des Königs stuhl
GOODRICH
Godden erzählt von einem Landmann oder Bauern, der vor Gericht geladen wird. Ein Herr, der am königlichen Gerichtshof vorbeigeht, beobachtet, wie die „Leibgardisten des Königs" diesen Bauern am Eingang des Gerichtsgebäudes festnehmen, weil „der Clown augenscheinlich den Gerichtshof bedeckten Hauptes betreten wollte. Sie zerrten ihn zurück und wiesen ihn an, seinen Hut abzunehmen, wenn er diesen Saal betrete."9 Er wehrte sich gegen diese Forderung mit der Begründung, er sehe nichts im Gerichtssaal außer einem Stuhl mit einem Baldachin. Als man ihn darüber informierte, daß es sich um den Stuhl des Königs handle und daß er „aus Respekt vor dem König barhäuptig vor den Stuhl zu treten habe", wollte der Landmann wissen, „ob dem Stuhl überhaupt Ehrerbietung gebühre oder nicht." Das scholastische Argument gegen St. Basilius 10 nachahmend, folgert der Landmann, die Reverenz oder Verehrung, die man dem Stuhl bezeuge, müsse entweder die gleiche sein, die man dem König entgegenbringe, oder sie müsse sich davon unterscheiden. Wenn sie die gleiche sei, erweise man königliche Verehrung einem Gegenstand neben dem König, „und das wäre Verrat." Handle es sich jedoch um eine davon zu unterscheidende Reverenz, würde man den Stuhl „als solchen verehren wie einen König, und das hieße für einen Mann, sich einem Stück Holz zu unterwerfen." Abgesehen von eher allgemeinen Erwägungen, die sich auf die Inkonsequenz der Anglikaner beziehen - so gestatteten diese es den Leuten beispielsweise, sich vor dem Namen Jesu zu verneigen und am Altar zu knien, - entspringt laut Godden die Weigerung des Landmannes einem typisch englischen Empirizismus, wenn nicht der Torheit. Das Argument, ein Stuhl sei nichts weiter als ein Stuhl, lasse jeden Sinn für Ästhetik, für die Geschichte und für das Symbolische vermissen. Es sei außerdem ein Indiz für das völlige Unvermögen oder den tief empfundenen Unwillen, zwischen der Erscheinungswelt dem „Schauspiel der Dinge" - und dem Unsichtbaren oder der Kraft,
9
Thomas G O D D E N : Catholicks no idolaters or a full Refutation ofDr Stillingfleet's unjust charge of Idolatry against the Church of Rome, London 1672, S. 179.
10
Der oft zitierte ikonophile topos, der St. Basilius zugeschrieben wird, ist die Maxime: Honos qui eis exhibetur, refertur ad prototypa.
3«
SALEM
UND
BYZANZ
die hinter diesem Schauspiel stecke, zu differenzieren.11 Godden stellt die protestantische Ablehnung des Bildes sowohl als Unterdrückung wie auch als Verunglimpfung des verehrenden Individuums dar: Die weltliche Verehrung schließt wie der Gebrauch von Bildern lediglich die Fähigkeit oder Intelligenz ein, diese „wie die angemessene Reverenz" von der Ehre zu unterscheiden, die Gott gebührt. Nach Auffassung der Scholastiker wohnt die Ehre in der Seele, die sie erweist (honor est in honorante). Mehr noch: Das Bild ist einfach nur eine Art Schrift, ein Erinnerungsmal, eine Spur, die die Farben der Seele berühren oder beschreiben oder widerspiegeln kann. „Wenn ein Ding mit einem anderen, obgleich unsichtbaren Ding verbunden oder ihm analog ist und wenn wir das erstere einem Menschen zeigen, der die Analogie oder den Zusammenhang versteht, dann kann es ihm das letztere in Erinnerung rufen. Daher kommt es, daß man die Seele des Menschen zwar nicht farbig malen kann, daß aber die Abbildung des Körpers, mit dem sie verbunden ist und den sie mit Leben erfüllt, uns eine Vorstellung von der Vollkommenheit oder Anmut der Seele verschafft. Die Abbildung dient nicht dem Zweck, diese Vollkommenheit in die Figur und die Züge eines Körpers zu verpflanzen, der geschnitzt oder auf eine Tafel gezeichnet wurde."12 So gesehen können wir latria und doulia anhand der Verschiedenheit ihres Objekts unterscheiden: Die eine endet in der göttlichen Substanz, die andere bezieht sich auf die Zeichen der göttlichen Herrschaft. 13 Nach demselben Grundsatz ist auch das Idol aufgrund seiner Transparenz erkennbar: idolum nihil representat. Es ist nichts, ein Trugbild (res mortua). Der Vollständigkeit halber will ich mich kurz mit Stillingfleets Antwort auf Godden befassen. Seine ursprüngliche Behauptung lautete ganz einfach, man müsse kategorisch unterscheiden zwischen der Verehrung Gottes und der weltlichen Ehrenbezeugung. „Die Verneigung vor dem Stuhl des Königs" oder vor dem Bild oder den Gewän-
11
Vgl. James C ALFHILL: An Ansiuere to the Treatise of the Cross, London 1565, Sig. 169": „Die Welt selbst ist in gewisser Weise ein Schauspiel der unsichtbaren Dinge, das heißt ihr System und Rahmen. Sie ist ein Glas, durch welches wir das geheime Wirken und die verborgene Gnade Gottes schauen können."
12
G o d d e n : Catholicks no Idolators, S. 84.
13
Den Unterschied zwischen latria und doulia erörtert z.B. Nicholas S A \ D F. K S: // Treatise of the Jmages of Christ, and of his Saints: and that it is unla-wful to breake them, and lawful to honour them, Lourain 1624, S. 78-90.
39
Goddens
Repllk
PETER
Indolatrie und mAe iS
reclf
G O O D R I C H
dern des Königs sei lediglich „das gleiche wie das Abnehmen des Hutes" vor Gericht oder in der Kirche, eine relative oder untergeordnete Ehre, die als natürlicher Akt des Respekts anzusehen sei, ähnlich wie J e n e Methoden, welche die alten Christen sehr wohl anwandten, um ihrer Verehrung eine Richtung zu geben." 14 Auf einer grundsätzlichen, dogmatischen Ebene ist das Argument, das sich auf den Stuhl des Königs bezog, mit der Unterscheidung zwischen zwei Arten des Rechts verknüpft. Gott müsse man verehren, ohne äußere oder innere Bilder zu benutzen, weil Gott es so vorgeschrieben habe. Das „Gesetz", nämlich das zweite Gebot, untersage es, Gott durch Bilder zu verehren. Was die Verehrung des Stuhls des Königs betraf, so galt ein anderes, weltliches Recht: „Jeder Ausdruck des Respekts richtet sich nach den Gebräuchen und nach dem Wunsche des Fürsten oder nach den höfischen Regeln. Ein Mann braucht sich also nur eine einzige Frage zu stellen: Ist es Sitte bei Hofe, oder ist es der Wille des Fürsten, daß Männer ihr Haupt entblößen." 15 Gewohnheitsrecht oder die bei Hofe übliche Etikette entscheiden über die materielle oder weltliche Verehrung. Sie schließt zwar ein symbolisches, indirektes Element mit ein, aber das Wissen um die weltlichen Angelegenheiten und Gesetze war zumindest für Stillingfleet etwas anderes als die Verehrung von Bildern, die, so Stillingfleet, angeblich etwas mit Gott zu tun hatten. Gottes Wesen bestehe nämlich in seiner Unsichtbarkeit; seine Substanz sei seine absolute Präsenz, die jede weitere Darstellung ausschließe; Göttlichkeit könne man weder malen noch durch eine „Kreatur, noch durch eine Vorstellung von Gott in unserem Kopf symbolisieren. 16 Die Verweise auf verschiedene Kategorien des Wissens und unterschiedliche Gesetzesarten sind nicht ohne Kohärenz. Die verschiedenen Erscheinungen, die beide Rechte gleichartig und doch wieder unterschiedlich regeln wollen, gehören separaten erkenntnistheroretischen Bereichen an und stellen klar begrenzte Realitäten dar. Das Objekt der Wahrnehmung - der äußeren oder inneren - existiert nur
14
STILLINGFLEET: A Discourse, S. 91-94.
15
Edward S T I L L I N G F L E E T : ^ Defence of the Discourse concerning the Idolatry practised in the Church of Rome in answer to a Book entituled
1 6
Catholicks no Idolaters, London 1676, S. 849f.
S T I L L I N G F L E E T ^ - D I J C M O T C , S. 79.
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SALEM
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B Y Z A N Z
dank eines Gesetzes, das nicht nur seine Erscheinung definiert, sondern auch jenen Bereich, innerhalb dessen der Blick des Subjekts (,honorariam adorationem) auf ein Objekt fällt, das für das bloße Auge weder vorhanden noch sichtbar ist. Die gemeinsamen Systeme der Erscheinungen und des Rechts, der Ikonen- und der Götzenverehrung haben ihre eigene Geschichte oder diskursive Archäologie, auf die ich hier nicht eingehen kann. Ich möchte vielmehr Goddens Erzählung vom Landmann vor Gericht mit dem Auge des Juristen neu lesen. In dieser Geschichte geht es auch um eine juristische Überleitung und Ablehnung, um eine uneingestandene Rechtsnachfolge oder Übertragung eines Rechts auf ein anderes. Es geht um eine Erbnachfolge, die man als Vereinnahmung von Rechtsformen bezeichnen kann. In dieser Vereinnahmung bilden und entfalten sich eine spezifische Jurisdiktion zusammen mit einer imaginären Einheit des Rechts, mit einer scheinbar klaren juristischen Logik für die moderne Tradition des anglikanischen Rechts oder common law. GESPENSTISCHE
MÄCHTE
Wir können die kurze Geschichte vom Landmann vor Gericht als Kontroverse über die Vorstellung von den zwei verschiedenen Rechtsordnungen oder Gerichtsbarkeiten rekonstruieren. Wichtig ist dabei Höhere jedoch nicht die Unterschiedlichkeit der theologischen Standpunkte, Rechtsiuellen J r 1 ° des common sondern ihre Ähnlichkeit. Der überzeugendste Aspekt der anglikani- law sehen Argumentation, weltliche Ehrenbezeugungen stünden im Einklang mit dem Gewohnheitsrecht oder mit dem lokalen Recht (ius commune), besteht nicht in der Unterschiedlichkeit der Orte oder Institutionen, sondern in dem Umstand, daß sie das Prinzip des geistlichen Rechts oder der geistlichen Gerichtsbarkeit von eben der Position übernimmt, die sie scheinbar verwirft. Wir finden also eine Identität vor, die durch Verneinung geleugnet wird und die doch das aufnimmt, was sie leugnet, und zwar in Form seiner Unterdrückung oder bestenfalls Verdrängung. Mit dieser sonderbaren Übertragung des Religiösen ins weltliche Recht müssen wir uns nun näher befassen. Die schönen Reden über das common law, über die anglikanische Verfassung und das englische Gewohnheitsrecht haben höheren Ordnungen oder Quellen der Gerechtigkeit und des Rechts immer
41
PETER
G O O D R I C H
einen gewissen Respekt gezollt. Diese Anerkennung bezog sich allerdings meist auf die ganz spezifische und unmittelbare Verbindung des common law - des einheimischen Gewohnheitsrechts und der leges terrae - mit einer Wissenschaft, einer Gottheit, einer Gerechtigkeit oder einer anderen „höheren" Rechtsquelle. In der klassischen Formulierung ist also regnum Angliae gleichbedeutend mit dem regnum dei, und es wird unverzüglich hinzugefügt, daß das common law der geeignete Maßstab für alle in England abgeurteilten Streitfragen sei und daß man es nicht mit dem kanonischen und dem bürgerlichen Recht belasten solle, die beide „nichts anderes als eine armselige Bürde und Thesen steitlustiger Gehirne" seien. 17 Selbst eine gemäßigte einführende Abhandlung aus späterer Zeit weist ziemlich ausführlich d a r a u f h i n , daß „vor allem das englische Recht die Kunst ist zu wissen, was in England Gerechtigkeit ist", und sie folgert daraus, daß „das common law die absolut vollkommene Vernunft" sei. 18 Wichtig an solchen Aussagen oder, genauer, Absagen ist nicht die formelhafte Übertreibung einer wenig stichhaltigen Identitätsaussage, sondern die Unterdrückung der Genealogie oder, einfacher gesagt, der Vielfalt des Wissens und des Gewohnheitsrechts, die das common law ausmacht. Wir müssen die bereits geschilderte Anekdote vom Landmann zunächst als Schilderung der Pluralität der Rechtssysteme und des Gewohnheitsrechts und dann als einen Streit über die Jurisdiktion und somit über den Ort der Artikulation des Rechts verstehen. Selbstverständlich handelt es sich hierbei um eine Frage der lokalen Rechtstradition; doch der Widerstand des Bauern gegen den Ort und die Anmaßung des säkularen Rechts kann darüber hinaus als eine Art Respektverweigerung oder aufkommende Kritik an dem Recht selbst angesehen werden. Insofern ist der robuste und simple Bauer ein Symbol nicht nur für den Skeptizismus in Hinsicht auf den Ort des
17
John L E S L I E : ^ Defence of the Honour of the Right Highe, Mightye
and Noble Princesse Marie Queens of Scotlande
and Dowager of France, L o n d o n 1569, Sig. 9 7V und 120 r . Der andere exemplarische Ausdruck dieses Arguments findet sich bei J o h n AYLM ER '.An Harborowe for Faithfull cerning the governement
and Trewe Subiectes agaynst the late blowne Blaste, con-
of women, Strasborowe 1559, fol. P I b - P IV a . Einen Uberblick über die Literatur über
Nationalismus und common law gibt Peter G O O D R I C H : History, Nationalism and C o m m o n Law. In: Social and Legal Studies 1 (1992), S. 7. Siehe auch John G . A. P O C O C K : The Ancient
Constitution
and the Feudal
Law,
Cambridge '1987. 18
T h o m a s W O O D : An Institute
of the Laws of England,
or: the laws of England
common use, Bd. 1, L o n d o n 1720, S. 6f.
42
in their natural order, according to
SALEM
UND
B Y Z A N Z
Rechts, sondern auch eine Gestalt oder ein „Omen" der künftigen Positivierung der weltlichen Form und Institution des Rechts. Indem der Bauer den Anspruch des königlichen Gerichtshofes mit genau den gleichen Worten lächerlich macht, welche die Protestanten benutzt hatten, um die römisch-katholische Rechtfertigung der Bilderverehrung zu entlarven, gibt er uns einen interessanten Hinweis auf den künftigen Charakter des Streits zwischen beiden Rechtssystemen. Der Angriff auf das Bild und die damit einhergehende Entwicklung hin zu einem Recht ohne Bilder wurden mit der Macht des Bildes und der von ihr ausgehenden Gefahr der Begrenzung des Dargestellten auf die Darstellung begründet. Als die Reformatoren den Anspruch des Bildes auf die Symbolisierung der Wahrheit oder der inneren Tugend zu leugnen begannen, mußten sie zugleich das Bild, den Bereich des Nichts und der Nicht-Darstellung durch zulässige, orientierende und sinnfällige Symbole ersetzen. Diese Nötigung führte, zumindest an der Oberfläche, zu einer Sichtweise, die sich auf den Text stützte und sowohl plastischen wie auch textlichen Bildern feindlich gesonnen war. Die Symbole für die Wahrheit und die Vorschriften des Rechts sollten einen identischen und einheitlichen Ausdruck in demonstrierbarer und prosaischer Form haben. Ein System der bildlichen Darstellung sollte durch ein anderes ersetzt werden. Doch bedeutete diese Ablösung auch eine Leugnung dessen, was mit der Form und der Macht des Rechts selbst überliefert, erworben oder angenommen worden war. Das neue System erbte die geistliche Jurisdiktion, wenn auch in Form einer Verneinung. Es führte ein inneres Recht ein, jedoch in Form einer Repression. Es stiftete eine Ordnung, eine Verfassung und eine Logik, aber in passiver Form. Dabei lassen sich im wesentlichen zwei separate, aber miteinander vergleichbare Rechtssysteme einander gegenüberstellen. Auf der einen Seite sehen wir die zerrüttete und immer stärker eingeschränkte Jurisdiktion des geistlichen Rechts. Besonders deutlich kommt im Streit zwischen Sir Thomas More und Christopher Saint German zu Beginn des 16. Jahrhunderts zum Ausdruck. Der Anwalt Saint German wehrt sich als erster gegen „Salem" und „Byzanz", gegen das kirchliche und weltliche Recht. Gegenüber dem Lordkanzler More beharrte Saint German darauf, die Macht der Ordinarien (der geistlichen Richter) zu beschränken und gegen sie Verbotsverfügungen zu
43
Das geleugnete Erbe
PETER
G O O D R I C H
erlassen, um weltliche Angelegenheiten dem arbitrium der kirchlichen Gerichte zu entziehen. Der Angriff auf die geistliche Jurisdiktion richtete sich gegen die ausufernde Autorität der kirchlichen Gerichtshöfe und gegen ihre unbilligen Verfahren. Maßnahmen ex officio wegen Häresie unter Berufung auf das Gesetz De haeretico comburendo wurden zu Beispielen für alles, was an den Verfahren und an der Substanz der Kirchengerichte falsch war. Saint German zählt die Details dieses Machtmißbrauchs ausführlich auf. 19 Der entscheidende Punkt ist jedoch weder die Aufzählung von Mißbräuchen noch die Rechtfertigung der zunehmend absolutistischen Jursidiktion der Gerichte des common law, sondern das Fortbestehen der geistlichen Gerichtsbarkeit an immer neuen Orten und in immer neuen Formen. Saint Germans Polemik gegen das Kirchliche ist insofern reformistisch, als er das common law als einen weit verläßlicheren Hüter der Volksseele ansieht als die willkürlichen und exzessiven römischkatholischen Rechtspraktiken. Man beachte, daß er mit seinen Argumenten hauptsächlich das Recht des common law verteidigte, die geistliche Rechtssphäre zu integrieren oder zu subsumieren. Er wollte die kirchliche Jurisdiktion nicht abschaffen oder aufgeben, sondern so transformieren, daß sie den „wahren Zustand des englischen Rechts" getreuer widerspiegelte. 20 In Doctor and Student, seinem klassischen Dialog zugunsten des common law, erkennt Saint German die geistliche Macht des Rechts und die Göttlichkeit allen Urteilens an. Das Recht ist, so Saint German, stets der Billigkeit und dem Gewissen unterworfen: „Das Gewissen (conscience), das sich von cum scientia, mit Wissen, ableitet, umfaßt sowohl das Wissen um sich selbst wie auch das Wissen um etwas anderes. Als Wissen um sich selbst ist es ein natürlicher Akt und ebenso kognitiv wie motivierend, und es macht die Seele geneigt, nach dem Guten zu streben und das Böse zu meiden. Darum steht es über der Vernunft und ist vereint mit jenem höheren Licht der Vernunft, das man syntheresis nennt. Als Wissen
19
Siehe Christopher SAINT G E R M A N : ^ Treatise Concerning the Division between the Spirituality and the Temporality, London 1533, und Salem and Bizance, London 1533. Thomas MORES Entgegnung ist enthalten in: The Apologye, London 1533, und The Deballacyon of Salem and Bizance, London 1533.
20
Daher schreibt SAINT G E R M A N : ^ Treatise, Sign. 28v: „Eine weitere Ursache der Teilung sind die verschiedenen Gesetze und Verfassungen, welche die Kirche erlassen hat (...). Darin haben sie ihre Autorität um ein Vielfaches überschritten und in vielen Dingen gegen die Gesetze des Königreichs verstoßen."
44
SALEM
UND
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um etwas anderes bedeutet es Wissen um ein besonderes Tun",21 und in dieser geringeren Form ordnet es die Anwendung des Wissens oder des Rechts dem Wunsch oder der Billigkeit unter, welche das Urteilen bestimmt. Kurz gesagt: Das geistliche ist und war immer Teil des weltlichen Rechts, seine Quelle und seine Autorität.22 Diejenigen, die an dieser Verbindung zwischen Quelle und Geist zweifelten, hatte Sir John Fortescue bereits früher daran erinnert, daß sogar das Wort ius (Recht) lediglich eine Abkürzung für den Ausdruck „Gestalt" und den Ausdruck iustitia (Gerechtigkeit) ist. 23 Die Klagen der kanonischen Rechtsgelehrten und die polemische Schärfe der Katholiken und Gegner der anglikanischen Kirche hatte wenig mit der Substanz der Rechtsprechung zu tun, und sie bezog sich auch nicht unmittelbar auf die Anwendung des Rechts, sondern auf Überführung die Politik der Institutionen. Richard Cosin behauptete in seiner wich- Aufhebung tigen Schrift zur Verteidigung der Kirchengerichte, daß die „gehässigen und unchristlichen" Sticheleien und Angriffe auf kirchliche Gerichte ebenso unnötig wie in sich widersprüchlich seien. Was die Widersprüchlichkeit betrifft, so weist er auf die Ironie hin, daß „die erklärten Befürworter einer Erneuerung der Kirche sich überaus gierig an die Ausnahmen vom common law klammern - gegen die kirchliche Jurisdiktion - und zudem verschiedene andere (Ausnahmen) behaupten. Dennoch geben sie vor, sich in beidem nicht allein auf die Gesetze des Königreichs (...), sondern auch auf Gottes Gesetz, auf das zivile, kanonische oder kirchliche Recht sowie auf die Billigkeit und Vernunft zu stützen." 24 Es ging also nicht darum, eine Jurisdiktion oder eine Vorgehensweise aufzugeben oder zu verlieren, sondern einfach um ihre Überführung in neue Institutionen. Daher schreibt John Godolphin kurze Zeit später im Vorwort zu seinen klassischen Aus-
21
S A I N T G E R M A N : Doctor and Student,
22
Vgl. Z.B.John PoYNET: A Short Treatise ofPolitike power, and of the obedience -which subjects Owe to kynges and other civile Governours, London 1556, fol. B III b : „Weltliche Herrscher wollen zuweilen für Götter gehalten werden, das heißt, für Priester und Bilder Gottes hier auf Erden, für Vorbilder und Spiegel aller Göttlichkeit, Gerechtigkeit, Billigkeit und anderer Tugenden, und sie beanspruchen absolute Macht und üben dieselbe aus (...) mit sie volo, sic iubeo. Eine solche Macht ist lächerlich. Gott hat die zivile und politische Macht eingesetzt, um Gerechtigkeit zu wahren."
S. 8 7 - 8 9 .
23
Sir John FORTESCUE: De Natura Legis Naturae, London (um 1466), S. 231.
24
Richard C OS IN : An Apologie for Sundrie Proceedings by Jurisdiction Ecclesiastical, of Late Times by some Challenged and also Diversely by them Impugned, o . 0 . 1 5 9 1 , fol. A 2 a .
45
PETER
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zügen aus den Kirchengesetzen: „Alles, was folgt, wäre nur eine Sammlung unwichtiger und entstellter Zahlen" für den, der die Bedeutung der Suprematsakte nicht verstehe; denn „als Heinrich VIII. hierdurch sowohl vom Parlament als auch von der Synode investiert wurde, wenngleich mit allen damit verbundenen Privilegien und Prärogativen, so erwuchs der Krone daraus nicht mehr, als ihr von Rechts wegen schon vorher zustand." 25 Legitimierende Wenn kirchliche und weltliche Rechtsgelehrte für die Pluralität der Traditionen Rechtssysteme eintraten - nicht zuletzt mit der Begründung, die „Zügellosigkeit" 26 der Welt rechtfertige beliebig viele Gesetze unabhängig von der Vielfalt der Quellen und Verfahrensvorschriften - , beteuerten die anglikanischen Verteidiger der englischen Verfassung sowohl den Vorrang wie auch die Besonderheit des common law. Diese Verteidigung einer imaginären Vergangenheit, eines uralten Rechts, das trotz aller ausländischen Einmischungen unauflöslich mit dem englischen Staatswesen verbunden sei, war lediglich eine kaum verhüllte Übertragung katholischer Argumente auf die neue Staatsform. Hookers „Liebe zu den alten Dingen" und sein Glaube an das „reife Verständnis (...) und die Tugend der alten Zeit" bezogen sich auf die Prinzipien der Einführung, der Tradition und der Bewahrung des Rechts, an denen auch die alten Römer Gefallen gefunden hätten. 2 7 Es ist denn auch diese Tradition des ungeschriebenes Rechts und perfektioniertes Wissens, welche Stillingfleet als wahre Quelle des common law und seiner verschiedenen Satzungen preist. In bezug auf die Diskussion über die Verbindlichkeit des Kirchenrechts und der Kanons innerhalb der Verfassung vertritt er daher den Standpunkt, die Zeit und die ununterbrochene Anwendung seien die wahren Fundamente für die Verbindlichkeit des Rechts: longa possessio parit
25
26
John G O D O L P H I N : Repertorium Canonicum or, an abridgement of the Ecclesiastical Laws of this Realm consistent •with the Temporal, London 1678, S. If. Dieses Argument war üblich. Weitere Beispiele bei Dr. William FULKE: T. Stapleton and Martiall (two Popish Heretics) Confuted and of their Particular Heresies Detected, London 1580; Dr. John FAVOUR: Antiquitie Triumphing over Noveltie: whereby it is proved that Antiquity is a true and certaine note of the Christian Catholike Church, London 1619. Henry CON s ETT: The Practice of the Spiritual or Ecclesiastical Courts, To which is added, a Brief Discourse of the Structure and Manner of forming the Libel or Declaration, London 1685, fol. A 2 b .
27
Richard H O O K E R : OftheLawes
of Ecclesiastical Politie, London 1593, S. 195f. Eine ausführliche Erörterung dieses
Themas findet sich bei Peter G O O D R I C H : Languages of Law. From Logics of Memory to Nomadic Masks, London 1990, Kapitel 2f.
46
SALEM
UND
BYZANZ
ius possidendi (lange währender Besitz überträgt Herrschaft). Gewohnheitsrecht erlangt Gesetzesrang, weil die Zeit es bestätigt und das Volk es anerkennt und praktiziert.28 Das Alter war die Grundlage dieses Rechts, und die Tradition war sowohl die Form seiner Legitimität und seiner Anerkennung wie auch der Weg seiner Überlieferung. Die Idee, daß die Zeit das Recht schreibt und daß dessen ununter- weltliches Recht brochene Anwendung zum Gesetz wird, entspringt einer im wesentli- im -Bllderkrieg chen phänomenologischen Rechtsauffassung. Was die anglikanischkatholische Einstellung zur Tradition und zum Gewohnheitsrecht von späteren, weniger kunstvollen oder weniger dynamischen Arten des positiven Rechts unterscheidet, ist genau jenes Gefühl der Innerlichkeit, das mit der Tradition als Gesetz einhergeht. Die klassische Vorstellung akzeptiert die geistliche Gerichtsbarkeit als ein Recht, das die Manifestationen oder Sitten und Gebräuche sowie die gute Ordnung der weltlichen Sphäre lediglich als beiläufige Ereignisse und als Ausdruck innerer Zustände regelt. Die Autorität des Ordinarius war eine geistliche Macht, die den Geist beherrschen und innere Vorgänge ordnen sollte; denn das Objekt oder das Ziel dieses Rechts war das Subjektive, die Seele. Die Verfassung galt als Ordnung sowohl des geistlichen wie auch des weltlichen Gemeinwesens; ebenso bildete das Individuum eine unwahrscheinliche Dualität, nämlich Körper und Seele zugleich. Der Streit um die Bilder und die damit verbundene Steigerung der Macht und Reichweite des common law bedeutete keine Auseinandersetzung über das Objekt des Rechts und seiner Macht, sondern über die Mittel und die Institutionen, welche für angemessene Disziplin zu sorgen hatten. Nach der apologetischen Definition war das natürliche Bild ein „inneres Bild, eine innere Vorstellung. Ein Bild kündet von alten Zeiten und Gefühlen, es wiederholt und ruft Erinnerungen wach (...). (Denn) der Geist liest seine ganze Geschichte rückwärts, gleichsam in seinem inneren Buch."29 In einer anderen Polemik gegen das Bild werden dieselben Zusammenhänge angesprochen, jedoch mit herabsetzenden Worten: Das Phan-
28
E d w a r d S T I L L I N G F L E E T : Ecdesiaitkal resolued according to Prtnciples
29
Cases relating to the duties and rights of the parochial
of Conscience and Law, L o n d o n 1698, S. 329 u n d 349.
S A N D E R S : , * T r e a t i s e , S. 159.
47
C/ergy, stated
and
PETER
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tasma oder die innere Vorstellung lenkt ab - esse vestitum imagine (das Sein ist mit einem Bild bekleidet). 30 Die Position des weltlichen Rechts, das mitten im „Bilderkrieg" eingeführt wurde, dem Wortlaut nach den Bilderstürmern verpflichtet und wirklich eine Weile im Dienst der Ikonoklasie, war in Wahrheit recht ambivalent und unklar. Für die bedeutenden Verfassungs- und Gesetzgeber der damaligen Zeit sowie für die Teilnehmer am modernen Verfassungs- und Rechtsdiskurs war das Zusammenspiel von Tradition und Text, von geistlicher Macht und positivem Recht, von ungeschriebener Wahrheit und sichtbarem Wort - kurz gesagt: von Geist und Bedeutung - ein komplexes Erbe eines Rechts der Bilder und ihres inneren Sinnes, ein Erbe geistlicher Gesetze und ihrer pastoralen Bezüge. Das kirchliche Auge oder speculum pastoralis,31 der Wachturm, der die Seele beaufsichtigte, wurde zum Bestandteil des vereinigten oder gespaltenen Gemeinwesens, in dem das common law das corpus mysticum des Staates in seine Obhut nehmen mußte. Wie Stillingfleet mit seiner Rechtfertigung der weltlichen Verehrung des Stuhls des Königs deutlich macht, durfte man das auf Gewohnheitsrecht gründende common law in seinem mystischen Alter, durfte man also die wesentlichen Rechtssätze der ungeschriebenen Tradition als Ausdruck der Seele eines Volkes und eines Landes betrachten, keinesfalls jedoch als die einzige Rechtsquelle. Dieses Recht mußte mit der sakralen Natur des Souveräns und mit den bestehenden Gesetzen in Verbindung gebracht werden. Letztlich war es also wirklich eine Frage der bestehenden Gesetze, ob man einen bestimmten Brauch in jedem Fall einhalten mußte, denn wichtig war allein, ob der Brauch dem Herrscher gefiel und dadurch in den Rang eines Gesetzes erhoben wurde. Herrscherwillen im common law
Die Beziehungen zwischen dem Gewohnheitsrecht und dem Recht ¿ e g Souveräns brauchen wir hier nicht zu erörtern. Erwähnt sei nur, daß das common law auf seine eigene, besondere Weise das römische Prinzip, wonach alles Recht in die Brust des Herrschers eingeschrie-
30
Robert PARKER:^ Scholasticall Discourse against Symbolizing with Antichrist in Ceremonies: especially in the signe of the Crosse, o.0.1607, Sign. 2'.
31
Thomas STAPLETON \ A Returne ofJJntruthes upon M.Jewell, Antwerpen 1566, Sign. 57r: „Specula pastoralis — der pastorale Wachturm - ist allen gemein, die das Bischofsamt ausüben."
48
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ben ist, 32 in einer leicht interpolierten Form übernahm. Bereits seit Glanvill und den Fleta akzeptierte das common law auch den Grundsatz der absoluten königlichen Macht und veränderte einfach den Anwendungsbereich und den Umfang seiner Jurisdiktion, indem es die Rechtsgelehrten des common law zu den wichtigsten Lehrern und Interpreten des Herrscherwillens erhob. Der Souverän verfügte stets über die Macht oder potestas eines Vaters und eines Gesetzgebers. 33 Da der Herrscher das Gemeinwesen und das Recht einte, wurde seine Person und mit ihm alles, was seine Herrschaft an Gewohnheitsrecht, Verfassungsrecht und gegebenen Gesetzen implizierte, ins positive common law integriert. Als sich das common law zur Wissenschaft entwickelte, wurde es mystisch. Die vocabula artis des Sir Edward Coke erschienen ebenso wie das berufliche Können des Gelehrten und seine Ehrwürdigkeit in den Augen der Menschen natürlich und insofern selbstverständlich und bedurften keines weiteren Beweises. Die Einführung der neuen Wissenschaft verursachte ein Trauma, das wiederum ein Wiederholungsmuster in Gang setzte, welches wohl bis heute nachwirkt. 34 Das Recht integrierte sowohl die patria potestas wie auch die regia potestas; es führte eine nicht vermittelbare und höchste Macht oder die iura sublimia ein, Rechte welche das ius pontificum und das ius divinum Apostolicum zu einer einzigen Jurisdiktion vereinten.35 Die Krone, so heißt es in einer äußerst bemerkenswerten Definition, ist ein „Nährvater", der seine geistliche Macht dazu benutzen muß, die innere Unterwerfung oder den geistlichen Gehorsam sowohl der Institutionen als auch der Individuen im Commonwealth zu bewerkstelligen.36 Das Recht, das sich von dieser Inbesitznahme oder 32
Die klassische Maxime wird in der Regel mit omnia iura habet in scrinio pectoris sui wiedergegeben. Dieses Thema erörtert Pierre L E C E N D R E : I I desir politique de Dieu, Paris 1990, S. 221-235.
33
Siehe H e n r y G . RICHARDSON und George O. SAYLES (Hgg.): Fleta, London 1955, S. 36: „Quod principi placuit legis habet vigorem." Alles Recht gehörte der Krone: sua iura est.
34
Vgl. Roger COKE: Thefirst part of the Institutes of the lawes of England, or a commentarie upon Littleton, not the name of a lawyer onely, but of law itself London 1629, Sign. 6R. Eine ähnliche Analyse bei Sir John DAVJES: Discourse of Law and Lawyers, Dublin 1615. Siehe auch Peter GOODRICH: Critical Legal Studies in England: Prospective Histories. In: Oxford Journal of Legal Studies 12 (1992), S. 195.
35
Calybute DOWNING -.A Discourse of the State Ecclesiastical of this Kingdome, in Relation to the Civill, Oxford
36
Roger COKE: Elements of Power and Subjection or the Causes of all Humane, Christian and Legal Society, London 1660, S. 98f.
1 6 3 2 , S. 6 6 - 6 8 .
49
PETER
G O O D R I C H
Vaterschaft und Herrschaft über alle Untertanen ableitete, hatte die Aufgabe, die äußeren Gesetze des Commonwealth zu erlassen, um das Wissen und dessen geistliches Ziel zu bewahren und zu fördern: Misera servitus, ubi ius est vagum aut incognitum (Welch erbärmliche Knechtschaft, wenn das Recht unklar und unbekannt ist). 37 Das Endziel - die ratio finalis - des Rechts bestand nicht in der Aufrechterhaltung der äußeren Sicherheit, sondern im „inneren Frieden" und einem Regiment in ordine ad bonum spirituale.38 Kurz gesagt: Die Gesetze der Menschen, die sich mit den äußeren Gegebenheiten des weltlichen Bereichs befaßten, waren bloße Akzidenzien oder Wirkungen einer höheren und vorrangigen Ursache, nämlich jenes Wesens, das die innere Natur und das höchste Gesetz des Ichs geschaffen hatte. Das menschliche Recht war nur indikativ, lediglich ein Hinweis auf jene Ursachen und Tugenden, welche das Gewissen banden. Es war nichts weiter als das Bild oder das legitime Symbol für eine unsichtbare Natur und deren göttliche Ursache, und in diesem Sinne oder in dieser Funktion war das common law seiner Substanz und seiner Wirkung nach ein Aspekt des Naturrechts, die Reflexion einer zeitlosen und unveränderlichen Essenz, also ex institutione naturae gegeben. D E R ENGLISCHE J A N U S
Das System der Rechtsquellen spiegelte eine Hierarchie der Unterordnungen wider. Ein Recht hing vom anderen ab und bezog seine Bedeutung und Rechtfertigung aus seiner höheren Quelle. Zwar verschmolzen diese Rechtsquellen bald mit den unterschiedlichen Jurisdiktionen zu einem einheitlichen Begriff des Rechtssystems, doch die genealogische Auslegung eines Rechts durch ein anderes utrumque ius - kann wichtige Aufschlüsse über die Vergangenheit und die Möglichkeiten mehrfacher Jurisdiktionen sowie über die Auswirkungen und Folgen der Rechtsvielfalt liefern. 39 VerinneHichung Zunächst einmal muß der Gegenstandsbereich des geistlichen des Wortes Rechts bestimmt werden. Dieses Recht bezog sich unmittelbar auf die inneren Sinne, das Gewissen und die Vorstellungskraft des „verborge37
Ebd., S. 42.
38
Ebd., S. 33f.
39
Z u r Idee des utrumque
ius siehe Pierre L K'i F. NI) ff F.: L? droit
5°
romain.
SALEM
UND
BYZANZ
nen Bürgers" oder „unsichtbaren Untertanen", welchen der Staat, der Herrscher und das Recht hegten und pflegten, auch wenn sie ihn nicht immer direkt anerkannten. Am deutlichsten kommt die Rolle des Kirchenrechts in einigen der ersten Verteidigungen des anglikanischen Gemeinwesens zum Ausdruck. Der Gegenstand des Rechts war nicht äußerlicher Gehorsam, auch nicht die bloße Konformität mit dem Text, sondern die Verinnerlichung des Wortes und eine „Bewahrung der Tradition" in ihrer ungeschriebenen und gelebten Form. Das Kirchenrecht ist in gewissem Sinne vortrefflich: „Trage nicht Bilder, sondern das Recht im Herzen." Zudem ist dieses Recht, durch Wort und Schrift vermittelt, kein bloßer Text und keine apostolische Predigt: „Jene Dinge, die gesprochen werden, (...) sind Bilder ihrer Seelen", und man sollte sie als solche hören und in sich aufnehmen. 40 Bischof Jewel bezeichnet selbst die wörtliche Deutung des Rechts anhand des Textes als eine Art „Prahlerei und Sophisterei", der man ein Recht entgegensetzen müsse, das „nicht in Stein, sondern ins Herz gekerbt" wäre, entsprechend der klassischen Maxime corde creditur ad iustitiam (wer mit dem Herzen glaubt, handelt gerecht). 41 Das Recht war als eine Allegorie zu verstehen, die dem Gewissen Anleitung und Schutz gab; es gründete in der Tagend und der gewohnheitsrechtlichen Ethik, welche den „inneren Untertan" des Königreichs, den unsterblichen Körper oder das corpus mysticum des Staates und seines Untertanen zur Wahrheit führten. Die Logik der Verinnerlichung wird durch die Metaphern des Das doppelte ged s Mundes und des Auges verdeutlicht. Man kann das Recht niemals an f" f ° Menschen sich sehen oder auslegen; man kann es weder mit dem Körper berühren noch mit dem Auge erblicken. Es gibt vielmehr „einen geistigen Mund des inneren Menschen, dem das Wort des Lebens (verbum vitae) Nahrung spendet", ebenso wie es Augen des Geistes (oculi spiritus) gibt, „die Unsichtbares und Nichtseiendes zu sehen vermögen (...), denn die oculi animae (Augen der Seele) durchdringen alle Hindernisse, wohingegen die oculi corporales (Augen des Körpers), die unsichtbaren Dinge nicht zu sehen fähig sind."42 Die inneren, geistigen 40
CALFHILL:yin Ansitiere,
Sign. 65 v .
Jewel
41
John : An Apologie orAnswere in Defence of the Churche of Englande, London 1562, fol. A VIII b . Zur M a x i m e siehe T h o m a s STAPLETON:vi Fortresse of the Faith firstplanted amonge us Englishmen, Antwerpen 1565, Sign. 162 r .
42
John J E w E L: A Defence of the Apologie of the Churche of England, London 1567, S. 272f.
5i
PETER
Das ätherische
Kreuz
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Augen sehen durch die Kraft der Vorstellung und durch das Mysterium, durch Substanz und Glauben, nicht durch irgendwelche trügerischen Phänomene oder manifeste Formen. Darum schreibt Saint German: „Der Mensch erhielt von Gott ein doppeltes Auge, das heißt ein äußeres und ein inneres (...). Das ist das Auge der Vernunft, das ihm Unsichtbares und Göttliches offenbart." 43 In diesem schöpferischen Sinne sollte man den Hinweis auf die Ethik und das Gewissen verstehen. Er verweist auf die Substanz des Ichs, auf eine unbewußte Disziplin oder juristische Seele. Und in genau diesem Sinne ist auch die Teilung der Rechte und Gerichte zu verstehen. Das positive Recht existierte, um in foro exteriori et contentioso, im Forum der äußeren Konflikte, zu urteilen und zu herrschen; doch diese Konflikte und ihre Lösung waren nur lebende Metaphern oder Allegorien für die Gerichtshöfe des Gewissens und des Geistes, durch die äußere Verpflichtungen der inneren Substanz unterworfen wurden. Die Seelsorge gehörte nicht nur zur Autorität und zum Recht in foro exteriori, sondern gleichermaßen zum Urteilen in foro interiori und, bei Bedarf, sogar zu beiden: in utroque simul.44 Solche Vorstellungen von der Tiefe des Rechts mögen heute ebenso unklar erscheinen wie die Sprache der Ethik und der Gesetze der Seele; aber die ihr eingeschriebene Logik des Fortschreitens bzw. der Integration des äußeren Rechts und der inneren Unterordnung, also der Übergang von einer Erscheinung zur anderen läßt die mit dem Recht verbundenen Macht greifbar werden. Auch dieser Aspekt ist als eine Frage der potentiell dynamischen 4 5 oder schöpferischen Natur des Rechts zu betrachten, eine Frage, die in den Debatten über das Recht der Bilder sehr wohl mitgestellt und -bedacht worden ist. Ich greife die Debatte um den Status flüchtiger oder „ätherischer Zeichen" als Beispiel heraus. Die Debatte kreiste um die Frage, ob ein „ätherisches" Zeichen, das „flüchtig ist und bald verschwindet" - zum Beispiel ein in die Luft oder mit Wasser auf die Stirn gezeichnetes Kreuz - vor dem Gesetz als Abgötterei zu gelten habe. Die Antwort
GERMAN:
Doctor and
Student,S.83.
43
SAINT
4 4
STILLINGFLEET:
45
Die Idee von der dynamischen Jurisprudenz stammt vom unerschütterlichen Arthur J A C O B S O N : T h e Idolatry of Rules: Writing Law According to Moses, with Reference to Other Jurisprudences. In: Cardozo Law Review 11 ( 1 9 9 0 ) , S.
Ecclesiastual Cases,
S.
24f.
1079.
52
SALEM
UND
B Y Z A N Z
lautet: „Das Bild ist und war stets ein flüchtiger, ätherischer Schatten wie der Geist oder Schatten (umbra) eines Toten, und wenn das wahr ist, kann die flüchtige, ätherische Natur des Kreuzes die Abgötterei weder fördern noch bewahren. Das ätherische Kreuz ist jedoch gefahrlicher (als das materielle Kreuz), denn in similitudinem umbrarum, transeunt et intereunt (sie entschwinden und vergehen - wie Schatten)."46 Das beiläufige oder flüchtige Kreuz ist eben deshalb gefahrlich, weil es die Bedeutung des Vergänglichen und der Substanz, auf die es sich bezieht, sowie deren Zusammenhang umkehrt. Es ist gefährlich, weil es unbestimmt ist und den Geist eine Zeitlang und unkontrolliert erregt und verwirrt: Je weniger materiell das Zeichen ist, desto schneller erfolgt der Übergang ab imagine ad rem significatam (vom Bild zum dargestellten Gegenstand).47 Das flüchtige Zeichen ist nicht zuletzt deshalb bedrohlich, weil eS an die Immaterialität des Rechts und an die Flüchtigkeit des Textes oder der juristischen literae erinnert. Die Flüchtigkeit der Disziplin und die Beiläufigkeit der Rechtswissenschaft werden augenscheinlich, wenn ein Zeichen verschwindet, sobald es Bedeutung erlangt hat. Mehr noch: Die Beiläufigkeit des Zeichens schmälert den Wert des positiven Rechts; sie erinnert an die Vielfalt der Jurisdiktionen, die den hohlen und konformistischen Glauben an die Einheit des positiven Rechts unmittelbar untergräbt. Das common law besaß, wie Seiden plastisch formuliert, „zwei Gesichter"; sein Symbol war Janus, sein Zeichen der Merkur. Das Janusgesicht des common law spielte nicht nur auf die unterdrückte Geschichte der kirchlichen Gerichtsbarkeit an, sondern erinnerte mehr noch an die Pluralität der Rechtssysteme, die innerhalb der Tradition existierten und die in ihrer Bruchstückhaftigkeit das Gemeine Englische Recht ausgemacht hatten.48 Die Positivierung des Rechts, so Seiden, verbirgt die Gerechtigkeit. Der sehr lokalen, temporären und den Menschen nicht bewußten Rechtsauffassung stellte er „das hintere Antlitz" des englischen Rechts entgegen, seine unterschiedlichen Quellen, Reste seiner vergessenen Bestandteile, seine verlorenen Bräuche und Mythen sowie andere Überbleibsel vernachlässigter, aber rechtlich bedeutsamer 46
P A R K E R : Scholasticall Discourse against Symbolizing, S . 1 7 f .
47
Ebd., S. 48.
48
J o h n S E L D E N: JaniAnglorum fades altera, L o n d o n 1 6 1 0 , V o r w o r t .
53
Ein doppeltes
Spiel
P E T E R Das „hintere Anthtz
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Regeln und halberloschener Beseeltheiten, welche die Konvention, die Zeit und die Blindheit dem Blick entzogen hatten. Das andere Gesicht des englischen Rechts ist in Seidens Augen die Pluralität und die Vielfalt seiner Gerichtsbarkeiten, Zeiten und Menschen. In seinen Arbeiten kommt er denn auch immer wieder auf die Geschichte jener Rechtsquellen zurück, welche wissenschaftlich ignorante Rechtsgelehrte nicht zur Kenntnis nahmen. 4 9 Noch heute können wir vom Janusgesicht des englischen Rechts sprechen, vor allem wegen seiner Doppelnatur, aber doch auch im Hinblick auf eine Unterdrückung oder ein doppeltes Spiel: Die englische Rechtslehre zeigt nur ein Gesicht und gibt vor, eine dogmatische Wissenschaft zu sein, die sich mit einem einzigen Recht befaßt. S C H L U S S
Unser Rückblick auf eine Jurisdiktion, die historisch und dem Wesen nach im common law verborgen oder verloren ist, gewährt uns Einblicke in die damaligen Formen der Jurisdiktion. Ein erster Einblick ist gleichsam topographischer Natur. An der Seite oder am Rand des common law finden wir die Rechtsprechung, Überreste und Spuren der geistlichen Gerichtsbarkeit und der Funktion des Gewissens. Die Kunst des Urteilens beruhte offenbar auf dem inneren Gericht und den imaginären regulae der Ethik, die allerdings weitgehend verdrängt worden waren. Die Disziplin, welche über die Seele herrschte oder den Bürger des kirchlichen Gemeinwesens iure divino und durch das positive Recht belehrte, hatte den Untertanen zu einer Art Fatalismus erzogen. Die Vorsehung hatte ein Rechtssystem geschaffen, das dem Untertanen seinen Platz, seinen Daseinszweck und sein Schicksal zuwies. Vor dem Hintergrund dieser christlichen Version des amor fati, der Schicksalsbejahung, nahmen das System des geistlichen Gesetzes sowie die Arbeit der kirchlichen Gerichte ihren Platz ein. Die Gerichte des Gewissens banden allein das Gewissen, und darum existierten und urteilten sie durch das Wort und durch den Geist. Die Abhängigkeit vom Gewissen schloß keine Rechtsfälle aus, trennte auch nicht die geistliche Vernunft von der Rechtspraxis ab. Zwar ver-
49
V g l . vor a l l e m J o h n S E L D E N : The Historie ofTithes,
L o n d o n 1618.
54
SALEM
UND
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loren die geistlichen Gerichte allmählich ihre Macht an das sich ausdehnende common law, aber wir dürfen die Reichweite ihrer spekulativen Gerechtigkeit nicht unterschätzen. Die geistlichen Gerichtshöfe waren dem common law hinsichtlich der Ethik und Hierarchie vorgeordnet; sie waren sogar für ein breites Spektrum spekulativer und institutioneller Rechtsfälle zuständig. Meineid, Gotteslästerung, Kirchenraub, Apostasie, Häresie und Schisma, Simonie, persönlicher Zehnt, Exkommunikation, Umwandlung von Bußen und ähnliche Delikte galten als öffentliche Angriffe auf die staatskirchliche Verfassung, während Verleumdung, Eheschließung und Ehestand, Scheidung, uneheliche Geburt, Testamentsangelegenheiten, Inzest, Unzucht (Zügellosigkeit), Ehebruch, Keuschheitsgelübde, Trunkenheit und unanständiges Reden viel eher mit der persönlichen Moral und der Selbsterziehung in Beziehung gesetzt wurden. Das galt erst recht für die Regeln „christlicher Lebensführung", also der häuslichen Gewalt, welche die Pflichten der Mitglieder der kleinsten christlichen Gemeinschaft, der Familie, regelten. 50 Die in der Domäne des Gewissens oder der inneren Sphäre des „anderen Königreichs" geltenden Regeln galten für ein Urteilen, das kein Teil dieser Welt ist. Von besonderem Interesse sind hier nicht die Einzelheiten der praktischen Anwendung, sondern daß hier die Vorschriften und Verfahrensregeln einer anderen Rechtsform galten. Das Gericht des Gewissens pflegte in archetypischer Weise nach Regeln des Gewissens zu verfahren und Normen einer Gerechtigkeit ° D
anzuwenden, die das weltliche Recht und seine positiven Verfahrensregeln transzendierten. Mehr noch: Die Gerichte der geistlichen Gerechtigkeit existierten nicht nur deshalb neben dem common law, um innerhalb der Gemeinschaft des geistlichen Standes im institutionellen Sinne - der Geistlichen selbst und all jener, welche die Privilegien der Geistlichkeit beanspruchen konnten - ein besonderes Recht anwenden zu können, sondern auch, um ein paralleles System 50
Vgl. William PF.RKINS: Christian Oeconomie or a Short Survey of the Right Manner of Erecting and Ordering a Family, Cambridge 1609. Zu den interessantesten Werken dieser Art gehören u.a. John D O D und Robert C L E A V E R : ^ Godlie Form of Householde Government, London 1612; William G O U G E : Of Domestical!Duties Eight Treatises, London 1622; Matthew GRIFFITH.- Bethel: or, a Forme for Families, in which all sorts of both sexes are so squared, andframed by the word of God, as they may best serve in their several places, for usefull pieces in God's building, London 1633; Daniel ROGERS: Matrimoniall Honour, or, the mutual crowne and comfort ofgodly, loyall, and chaste marriage, London 1642.
55
Die
Bedeutung
,
Versprechens
PETER Vertragspflichten
von
G O O D R I C H
Regeln für diejenigen bereitzustellen, die nach einer anderen
Gerechtigkeit als der des common law suchten. Ein einfaches Beispiel ist der Umgang der geistlichen Gerichte mit den Vertragspflichten. Um das Bestehen eines Vertrages zu beweisen, verlangte das common law nicht nur den Nachweis des Versprechens, sondern auch eines weltlichen Handelsgeschäftes als Gegenstand des abgegebenen Versprechens. Ohne diesen Beweis führte das Versprechen noch nicht zu einer Verpflichtung und galt als nudum pactum. Das christliche Gericht befaßte sich dagegen mit jedem Anspruch, der sich auf „Treu und Glauben" oder auf ein Versprechen stützte; es verhandelte auf der Grundlage geistlicher Rechtssätze über jede Klage wegen Vertrauensbruchs (pro laesione fidei), und sprach kirchliche Strafen aus. Ein freiwilliger Eid war eine Angelegenheit des Gewissens, und in einem Prozeß vor dem Kirchengericht wurde der Bruch eines Versprechens durch eine Verfügung geahndet, die eine Körperstrafe verhängte, unbeschadet aller Ansprüche aufgrund des common law.51 Oft legten die Vertragsparteien, der größeren Sicherheit wegen, privat oder vor dem Ordinarius einen Eid ab. Ein solches Versprechen wurde fidei praestatio genannt. Wenn eine Partei ihre Zusagen nicht erfüllte, wurde ihr nach dem Kirchenrecht vor dem Ordinarius der Prozeß gemacht und sie mußte Stellung nehmen. War jemand des Vertragsbruchs überführt, „wurde (er) zu einer schmerzhaften Strafe verurteilt und durch Richterspruch gezwungen, seinen Eid zu halten, indem er die andere Partei zufriedenstellte (...). Die Beachtung eines Eides ist praeceptum iuris divini und daher zwingend."52 Im späteren Recht versuchten die weltlichen Gerichte mehrfach, diese religiöse Verpflichtung in Form einer moralische Pflicht anzuerkennen, oder sie legten die positiven Gesetze einfach nach dem Prinzip der Billigkeit aus. Die Autorität und die Zuständigkeit der religiösen Gerichte ging jedoch immer mehr verloren. Die Ursache dafür lag in der immer engstirniger werdenden, positivistischen und andere Rechtsformen ausschließende Interpretation des common law. Das Band zwischen dem Recht und dem Wissen um göttliche und menschliche Dinge, die unterdrückte und nur noch in Resten erhaltene und
51
C O SIN: An Apologie for sundrieproceedings, S. 25£
52
Ebd., S. 51.
56
SALEM
UND
BYZANZ
intellektuell passive Jurisdiktion über die Seele des Untertanen, aber auch der Umstand, daß alle Bestimmungen des positiven Rechts den Kriterien einer philosophischen Gerechtigkeit untergeordnet sind, eröffnet neue und fruchtbare Möglichkeiten, bestehende positive Normen des common law abzubauen. Das anglikanische Recht verlangte vom Landmann, vor dem Betreten des Gerichts den Hut zu ziehen. Diese Forderung nach weitlicher Ehrenbezeugung war keine nebensächliche Folge eines Gewohnheitsrechts oder einer lokalen Praxis, sondern eine - vielleicht nur teilweise - Anerkennung der historischen Übertragung des geistlichen Rechts und der geistlichen Macht aus dem Naturrecht in das positive Recht. Dadurch wurde anerkannt oder durch Handeln ausgedrückt, daß die gesellschaftliche Vaterwürde oder regia potestas von geistlichen auf zivile Rechtsquellen übergegangen war. Dieser Übergang wurde von interessierter Seite als ein Prozeß der longue durée des common law dargestellt: „Wir haben kein Königreich umgestürzt, wie haben keines Menschen Macht oder Recht verderbt, wir haben kein Gemeinwesen zerstört. Die Könige unseres Landes England herrschen weiter in ihrem eigenen, gewohnten Rang und in ihrer alten Würde."53 Zu den Gerichtsbarkeiten, die auf diese Weise übertragen wurden, müssen wir nicht nur die Reste der göttlichen oder natürlichen Gerechtigkeit, die Gesetze des Gewissens und des geistlichen Handelns zählen, sondern auch die Sitten und Normen der häuslichen Gemeinschaft, des Funktionierens der Körper und der moralischen Integrität. Sprache und Verlangen, Glaube und subjektive Position in der Gemeinschaft waren nun dem common law unterworfen. Allerdings mußte innerhalb dieser anderen, ungeschriebenen Tradition das angenommen und weitergegeben werden, was Fortescue lange zuvor als „kindliche Furcht vor Gott" und dem Gesetz 54 bezeichnet hatte. Die Institution und das Gesetz mußten, kurz gesagt, stets die Untertanen - die Kinder der Herrschaft - hegen und schützen. Hierauf macht Michel Foucault aufmerksam, wenn er schreibt, daß der Ödipuskomplex, wenn es ihn in der westlichen Kultur wirklich
53
J E w E L : An Apologie, fol. G I b . Siehe auch C O SIN : An Apologie, S. 40: »Alle kirchliche Gerichtsbarkeit ist jetzt in der Praxis und gemäß dem Recht in der Krone vereint und von ihr abgeleitet."
54
F ORTESCUE: De Laudibus Legum Angliae, S. 3.
57
Des Königs
Vaterwurde
PETER
G O O D R I C H
gebe, „nichts mit unserem Unbewußten und mit unserem Verlangen zu tun habe. Er spielt nicht auf der individuellen, sondern auf der kollektiven Ebene und betrifft nicht das Verlangen und das Unbewußte, sondern die Macht und das Wissen." 55 Das Unbewußte ist, wie Legendre wiederholt bemerkt hat, ein Jurist, und es ist diese komplexe rechtliche Form der subjektiven gesellschaftlichen Positionsbestimmung, die wir mit Hilfe der Geschichte der beiden Rechtssysteme im Rahmen der modernen Theorien über das Urteilen und das Recht ins Gedächtnis zurückrufen können. Das common law mußte, nachdem es die Gerichtsbarkeit des Gewissens integriert hatte, ausdrücklich die Rolle eines „Nährvaters" spielen. Es mußte über das Wohlbefinden des geistlichen Bereichs wachen; es hatte darauf zu achten, daß seine Untertanen dem geistlichen Aspekt ihres Lebens sichtbaren Ausdruck verliehen. 56 Daß das common law diesen Bereich des Gewissens relativ mühelos aufnehmen oder integrieren konnte, verweist auf eine Tradition, die historisch und explizit auf einem geschriebenen Recht gründete. Es bestand nicht nur aus Texten, sondern war auch von einer ungeschriebenen Tradition und Auslegung, einer klassischen traditio sowie von der Idee des corpus mysticum eines dualen Reiches geprägt. 57 Daß das common law ein spéculum pastoralis war, also die innere Gerichtsbarkeit ausübte und den geistlichen Bereich regelte, war bereits ein Merkmal seines Bestrebens, über die inneren Untertanen der Krone zu herrschen, ihre Worte und Bilder zu überwachen und zu lenken. Als „Nährvater" übernahm das weltliche Recht die Herrschaft über das Verhalten der Untertanen und führte eine Gerichtsbarkeit ein, welche die Bestimmung und Regulierung des Subjektes organisierten - nicht nur als oikonomia (häusliches Leben), sondern auch als Stätte der Erziehung, der Moral, des Verhaltens und der bürgerlichen Tugenden. Während das heutige Rechtssystem das Recht als einen autonomen Bereich positivierter und geschriebener Texte begreift, hat 55
Michel FOUCAULT: La vérité et les formes juridiques. In: Chimères 10 (1990), S. 11. Z u r Idee vom common law als Nährvater siehe Roger C o KE : Justice Vindicated,from
the false fucus put upon it, by
Thomas White Gent., Mr Thomas Hobbs, and Hugo Grotius. As also Elements of Power and Subjection; ivherein is demonstrated 57
the cause of all Humane,
Christian and Legal Society, L o n d o n 1660.
Eine klassische Darstellung dieses T h e m a s aus historischer Sicht findet sich bei Ernst KANTOROWICZ: Die Körper des Königs. Eine Studie zur politischen
Theologie des Mittelalters,
M ü n c h e n 1990. Siehe auch Michel
F o u C A l i L T : O n Governmentality. In: G r a h a m Burchell (Hg.): The Foucault Effect, L o n d o n 1991.
58
zwei
SALEM
UND
B Y Z A N Z
die Unterdrückung der ungeschriebenen Gerichtsbarkeit sowie des „unsichtbaren Untertanen" und seiner geistlichen Kräfte das Subjekt des Rechts und der Herrschaft lediglich ins Unbewußte abgedrängt. Es ist erstaunlich, daß wir in dieser Dunkelheit, im unerleuchteten Bereich des Gebundenseins an ein sich ständig ausbreitendes Recht, die Irrationalität der formalen Gesetze und die Ungerechtigkeit juristischer Entscheidungen mittlerweile als rechtliche Attribute einer kritischen Zeit empfinden, die das Recht weder vollständig begreifen noch unmittelbar gestalten kann. Aus dem Englischen von Martin
59
Rometsch
DER BEGRIFF
DER
ÜBERLIEFERUNG IN DER KABBALA D E S 13.
JAHRHUNDERTS «>
von Moshe Idel D I E K E T T E DER ÜBERLIEFERUNG
ER Begriff der Überlieferung kann grundsätzlich von verschiedenen Seiten her angegangen werden. Ein möglicher Aspekt ist beispielsweise der regionale oder interkulturelle Transfer von Wissen, welchen man als translatio studii oder translatio scientiae bezeichnet. Ein weiterer möglicher Aspekt ist die Transposition von Mythen oder Mythemen, wobei entweder aus einer älteren eine neue Religion entsteht oder ein synkretistisches Gebilde konstruiert wird. Möglich ist schließlich auch die Fokussierung auf den Überlieferungsvorgang zwischen einzelnen Schulen. Solche Überlieferungsprozesse erstrecken sich einerseits über eine lange Periode zunehmender Adaption, Absorption und Eingliederung. Andererseits ereignen sie sich durch persönliche Kontakte, in denen sich die einzelnen Glieder der Überlieferungskette berühren. Denn meist sind es einige wenige Individuen, die die Überlieferung eines großen Literaturkorpus veranlassen. Dies ist etwa der Fall bei der Aneignung des arabischen Neoaristotelismus
61
MOSHE
IDEL
durch einige jüdische Philosophen des Mittelalters, allen voran Maimonides. Das gesamte Korpus der platonischen, neuplatonischen und hermetischen Schriften wurde im wesentlichen von einer einzelnen Person übersetzt, kommentiert und veröffentlicht, von Marsilius Ficino. Solche großangelegten intellektuellen Verschiebungen von Wissen und Denktypen können als Makroketten bezeichnet werden. Sie können durchaus auf historischen Tatsachen beruhen, wobei die Berichte den historisch wahren Kern meist mit kulturellen Bildern ausgeschmückt haben. Selten aber sind solche großangelegten Verschiebungen Übermittlungen von geheimen, mündlichen Lehren oder Initiationen in archaische Theologien. Vielmehr handelt es sich meist um Übersetzungen und Unterweisungen von schriftlich fixierten Inhalten. Meister
undAdept
Im folgenden wird es jedoch nicht um die Makroketten großer kultureller Durchbrüche gehen. Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind weder interregionale noch interkulturelle Übermittlungsvorgänge noch die Entwicklung von Denkschulen, sondern vielmehr Kategorien, die die Überlieferung innerhalb einer einzelnen Gruppe betreffen. Solche Überlieferungsvorgänge können entsprechend als Mikroketten bezeichnet werden. Im Unterschied zum Überlieferungsprozeß der Makroketten, der durch kulturelle Innovationen und Brüche gekennzeichnet ist, erweist sich der Übermittlungsprozeß der Mikroketten als ein weitaus komplexerer Vorgang als die Tradierung von Information, Übersetzung von Texten und Aneignung von neuen Ideen. Als eine Bedingung des esoterischen Wissens bedeutet Übermittlung hier die Prägung eines neuen Verständnisses des eigenen religiösen Lebens. Die Beziehung zwischen Meister und Adept wird folglich ein Brennpunkt der Analyse des Überlieferungsvorganges innerhalb esoterischer Gruppen sein, ein Sachverhalt, der in der Erforschung der Mystik bereits Gegenstand zahlreicher neuerer Studien geworden ist. 1
1
Vgl. hierzu die Arbeiten von Abba A RI c H A: Guides to Wholeness and Holiness East and West. Hrsg. von John R. SOMMERFELD, Kalamazoo, Mich. 1982; vgl. auch Jacques V I G N E : Le maitre et le therafeute, Beziehung zwischen Lehrer und Schüler in der Kabbala vgl. Moshe HALLAMISH: Introduction (hebr.), Jerusalem 1991, S. 34-61.
62
Paris 1991. Zur to
Kabbalah
ÜBERLIEFERUNG
IN
DER
KABBALA
In der vorliegenden Untersuchung geht es konkret um die Analyse des Überlieferungsbegriffs in der umfangreichen Literatur der spanischen Kabbalisten des 13. Jahrhunderts. 2 Bei der Übermittlung der kabbalistischen Tradition spielen persönliche Kontakte eine besonders große Rolle. Die vorliegende Untersuchung will daher zumindest einige vorläufige Unterscheidungskriterien für ein Gebiet erarbeiten, das in der Erforschung der jüdischen Esoterik nach wie vor eine terra incognita ist, nämlich die Begriffe der Esoterik, die Art und Weise der Übermittlung esoterischer Inhalte und die Reflexion dieser Übermittlung. An erster Stelle steht dabei die Untersuchung eines bestimmten Die Rhetorik Typus vorwiegend mündlicher Überlieferung in den ersten Gene- ^¿^f^ rationen der Kabbalisten. Das 13. Jahrhundert war der Zeitraum, in dem die Kabbala als ein historisches Phänomen mit einer großen Vielfalt von voluminösen Texten aufgetreten ist. Vor allem aber wurden in diesen frühen Dokumenten wiederholt verschiedene Konzepte der direkten Übermittlung explizit thematisiert. Die folgende Diskussion wird dabei die möglichen älteren kabbalistischen und esoterischen Konzepte oder Techniken nicht einbeziehen, so wichtig diese Frage auch für die Geschichte und die Vorgeschichte der Kabbala sein mag. Ebensowenig werden die Übermittlungsrituale analysiert.3 Das Interesse gilt dagegen der Funktion, welche die Kabbalisten selbst der Praxis der Übermittlung verliehen haben. Es geht mir also weniger um ihre Praxis als um die Rhetorik ihrer Übermittlung, d. h. um kulturelle Bilder esoterischer Tradierung. Ich werde dabei auch komparatistisch vorgehen und einzelne Aspekte der kabbalistischen Überlieferungsbegriffe mit verschiedenen Formen der Wissensübermittlung in den modernen Wissenschaften vergleichen. Über den strukturellen Ähnlichkeiten darf aber nicht vergessen werden, daß die beiden
2
Zur Vermittlung der esoterischen Literatur der Ascbkenasim vgl. Daniel AB RAMS :The Literary Emergence of Esotericism in German Pietism. In: Shofar 12 (1994), besonders S. 72f., und den von ihm herausgegebenen Band The Book Bahir (hebr.), Los Angeles 1994, S. 8 und 30; aber auch Elliot R. WOLFSON: Through a Shining Mirror, Princeton 1994, S. 234-247. Zur Überlieferung im Iyyun-Kieis vgl. Karl-Erich GRÖZI NC ER: Handling of Holy Traditions as a Path to Mystical Unity in the Kitiuai ha-Iyyun. Rashi 1040-1990. In: Gabrielle SF.D-RAJNA (Hg.): Hommage i Ephraim E. Urbach, Paris 1993, S. 251.
3
Vgl. hierzu Joseph DAN: The Esoteric Theology ofAshkenazi Hasidim (hebr.), Jerusalem 1968, S. 74f.; Moshe ID E L: Defining Kabbalah: The Kabbalah of the Divine Names. In: Robert A. HERRERA (Hg.): Mystics of the Book: Themes, Topics and Typologies, New York 1993, bes. S. lOOff.
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MOSHE
Kettenglieder
IDEL
Formen der Übermittlung verschiedene Wissenstypen repräsentieren. Doch können methodisch divergente Zugänge nur wirklich verstanden werden, wenn man sie einander kritisch gegenüberstellt. 4 Um das komplexe Phänomen der mündlichen Uberlieferung verständlich zu machen, werde ich analytisch zwischen den verschiedenen Faktoren unterscheiden, die die Kette der mündlichen Überlieferung konstituieren. Ich gehe davon aus, daß zu diesem Übermittlungsprozeß im allgemeinen ein gebildeter Informant, der Inhalt der übermittelten Information, der eigentliche Prozeß der Transmission, d. h. der Akt des Informierens, und schließlich auch die Eigenschaften des Empfängers gehören. 5 Diese Kriterien ergeben sich aus strukturellen Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Übermittlungsvorgängen, seien sie Teil einer religiösen Praxis oder eines wissenschaftlichen Projekts. In beiden Fällen kann man diese vier Faktoren erkennen. So mag der Akt, mit dem ein Kabbaiist seine Schüler über geheime Angelegenheiten in Kenntnis setzt, den Charakter eines Initiationsritus erhalten. Auf ähnliche Weise mag ein Gelehrter seine Schüler initiieren oder seine Kollegen über neueste Erkenntnisse informieren, etwa innerhalb einer spezifischen intellektuellen Umgebung wie einer Konferenz oder eines Symposiums, die ebenfalls stark ritualisierte Diskursformen darstellen. Trotz solcher Ähnlichkeiten sind die Differenzen zwischen Wissenschaft und Religion unübersehbar. Im religiösen Bereich bedeutet Übermittlung mehr als die Vermehrung eines bestehenden Wissens oder die Addition eines von einzelnen erworbenen Teilwissens. Vielmehr geht es um die Übermittlung eines heiligen Wissens. Dies geschieht in einem Akt der Initiation, wobei der einzelne Veränderungen durchläuft, die nicht nur auf kognitiver, sondern auch auf emotionaler und psychischer Ebene stattfinden und die folglich die Struktur der Persönlichkeit weit mehr tangieren als die Übermittlung wissenschaftlicher Information. Eine weitere Differenz besteht darin, daß in kabbalistischen Kreisen durch die Mitteilung der als Geheimnis ver-
4
So wie es etwa Henri ATLAN in seinem Buch Enlightenment to Enlightenment: Intercritique of Science andMyth, Albany 1994, gezeigt hat.
5
Darüber hinaus sollte man den gesamten Prozeß aber auch vor dem breiten Hintergrund einer Kultur betrachten, die Überlieferung anregt oder unterbindet. Unterschiedliche Kulturen veranlassen die Uberlieferung von Phänomenen gegebenenfalls auf sehr unterschiedliche Weise.
64
ÜBERLIEFERUNG
IN
DER
KABBALA
standenen heiligen Tradition eine Demarkationslinie zwischen Initiierten und Nichtinitiierten gezogen wird. Oft fiel diese Linie mit der Abgrenzung zwischen Juden und Nichtjuden zusammen. Tradierung bedeutet, wenn sie die Übermittlung von geheimer Information einschließt, also auch Restriktion und sogar, wie wir noch sehen werden, Partikularisierung. Wissenschaftliche Information dagegen ist im Prinzip einem universellen Wissenstyp verpflichtet. Wenn eine geheime religiöse Tradition bekannt gemacht wird, so handelt es sich um einen Fehler. Und wenn umgekehrt eine wissenschaftliche Information über längere Zeit auf eine kleine Elite beschränkt bleibt, dann geschieht dies aus nichtwissenschaftlichen Gründen, also wiederum aus einer fehlerhaften Anwendung der idealen Regeln eines Systems. Des weiteren beinhaltet die Transmission wissenschaftlicher Information per se für den Empfanger keine Gefahren. Anders ist es für den Empfanger der religiösen Übermittlung. Sie birgt etwa die Gefahr häretischer Mißverständnisse oder überwältigender Erfahrungen, welche eine bis zum Wahnsinn gehende Zersetzung der Persönlichkeit des Empfangers zur Folge haben können. Bei den Geheimnissen der Kabbala handelt es sich letztendlich immer um „Geheimnisse der Tora",' in welchen Formen sie auch er" scheinen mögen. Auch wenn es also in der Kabbala um Geheimnisse geht wie beispielsweise das Wesen Gottes, die Wirklichkeit, die Seele oder die eschatologische Dimension der Geschichte, werden diese als mystische Informationen zum besseren Verständnis des kanonischen Textes angesehen. Was für die Wissenschaften die unmittelbare Realität ist, deren innerste Natur in verschiedenen Disziplinen erforscht werden soll, das ist für die Kabbala der kanonische Text. Die Wissenschaften übertragen Sinnstrukturen auf eine rudimentäre, unstrukturierte Wirklichkeit. Die Tradition jedoch verleiht einer Lehre oder einer Handlungsweise Bedeutsamkeit, da sie bereits mit Bedeutung aufgeladen ist. Entscheidend für die Kabbala ist offensichtlich die mündlichen Form der Übermittlung, nicht die schriftliche, und dies ist im Judentum keienswegs neu. Tatsächlich finden sich bereits in der vorkabbalistischen Literatur zahlreiche Hinweise auf die Bedeutung der Mündlichkeit. Das Judentum in seiner rabbinischen Form verstand sich grundsätzlich als mündliche Tradition, waren doch seine konstitutiven
65
Die
Bedeutung
... ., Mündlichkeit
MOSHE
Informant und
I D E L
Texte, d.h. der Talmud und die verschiedenen Typen der Midraschim, Transkriptionen mündlicher Diskussionen (seien es kleine Kolloquien oder öffentliche Reden). Oder sie waren mündliche Kommentare zu „Texten", die ihrerseits nur in mündlicher Form existierten. Die kabbalistische Praxis des Lernens in Gruppen reflektiert darüber hinaus die restriktive Funktion der mündlichen Übermittlung. Aus historischer Sicht gehört zur mündlichen Uberlieferung, wie sie in den rabbinischen Quellen verstanden wird, nicht nur die hermeneutische Frage nach der Bedeutung der übermittelten Tradition, sondern auch die Fragen nach Autorität und Verläßlichkeit. Die Richtigkeit religiöser Traditionen jedoch kann im Gegensatz zu wissenschaftlicher Information, wenn überhaupt, nur mit größter Schwierigkeit verifiziert werden. Ebensowenig lassen sich ihre Ergebnisse in einem „Duplikat des Experiments" bestätigen. Deshalb ist in der religiösen Übermittlung, wie sie das rabbinische Judentum darstellte, die Identität des Informanten ebenso wichtig wie der Gehalt der übermittelten Tradition. Während aber eine kabbalistische Lehre, die auf mystischer Erfahrung gründet, mehr auf unabhängiger Handlung beruht als auf Erklärung, gründet religiöse Tradition auf Wiederholung. Nicht zuletzt ist die Auffassung von ausschließlich mündlich zu übermittelnden theologischen Konzepten bereits in früheren rabbinischen Texten explizit thematisiert. Diese Texte inspirierten nicht nur die Kabbalisten, sondern auch Maimonides in seinem Führer der Unschlüssigen (More Newuchim).6 KONZEPTUELLE Ü B E R M I T T L U N G
Zwei Typen der Überlieferung
Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, die grundlegende Differenz zwischen zwei Typen der Überlieferung aufzuzeigen, wie sie in der Literatur der Kabbala reflektiert sind. Auf der einen
6
Vgl. Chagigab, fol. 13 A ; G e r s h o m S c H O L E M : Jewish Gnosticism, Merkavah N e w York 1 9 6 0 , S. 58; G e r d A. W E W E R S : Geheimnis und Geheimhaltung York 1 9 7 5 ; M o r t o n S M I T H : Clement of Alexandria
Mysticism and Talmudic im rabbinischen Judentum,
Tradition, Berlin, N e w
and a Secret Gospel of Mark, Cambridge, Mass. 1 9 7 3 , besonders
die Stichworte „Secret" und „Secrecy"; Alexander A LT M A N N : A N o t e on the Rabbinic Doctrine o f Creation. In: Journal of Jewish Studies 6 / 7 ( 1 9 5 5 / 5 6 ) , S. 1 9 5 - 2 0 6 ; Sacha S T E R N : Jewish Identity in Early Rabbinic
Writings,
Leiden 1 9 9 4 , S. 2 2 1 - 2 3 2 ; M o s h e I D E L : Secrecy, Binah and Derishah. In: Hans G . K I P P E N B E R G und G u y G . STROUMSA (Hgg.): Secrecy and Concealment.
Studies in the History of Mediterranean
Leiden 1 9 9 5 , S. 3 1 1 - 3 4 3 .
66
and Near Eastern
Religions,
ÜBERLIEFERUNG
IN
DER
KABBALA
Seite steht die konzeptuelle Übermittlung, wobei begriffliche Inhalte von einem Meister an seine Schüler übergeben werden. Der esoterische Traditionsgehalt besteht also in den als Geheimnis verstandenen Konzepten. Auf der anderen Seite steht die technische Übermittlung, wobei weniger Inhalte, als vor allem Methoden den Gegenstand des Übermittlungsaktes ausmachen. Anders als wissenschaftliche Informationen bestehen religiöse Geheimnisse in der Perpetuierung einer uranfanglichen Offenbarung, die zudem in einer bestimmten Lebensform konkretisiert ist, innerhalb derer die Geheimnisse ihre volle Bedeutung erst entfalten. Während Übermittlung im engeren Sinn vor allem die Weitergabe von Information bedeutet, ist sie für eine religiöse Person viel mehr als eine bloße Aneignung von Wissen. Der unmittelbare Kontakt mit dem Informanten bedeutet für sie offensichtlich auch die Bekanntschaft mit einem umfassenden modus vivendi, der, wenn überhaupt, nur teilweise und vermittels kategorisierender Begriffe artikuliert wird. 7 Der Informant kann, über die geheime Information hinaus, Einzelheiten über Verhaltensweisen mitteilen, die das religiöse Umfeld der übermittelten Geheimnisse repräsentieren und durch Nachahmung übernommen werden können. Deshalb gilt bei der religiösen Übermittlung das Augenmerk auch der Autorität des Informanten, der religiösen und psychischen Konstitution des Rezipienten und dem Ritual der Übermittlung selbst, das den Charakter der Initiation erhalten kann. Im Gegensatz dazu ist bei der wissenschaftlichen Information die objektive Richtigkeit der Information Eingestrebt. Religiöse Information wird nur selten als bloß „korrekt" beurteilt. Sie muß sich vielmehr in Übereinstimmung mit dem umfassenden religiösen Erscheinungs- und Weltbild des Informanten befinden; zudem muß sie bedeutsam für den Rezipienten sein können. Die Übermittlung eines eigentümlichen religiösen modus vivendi Erhalt der urbeinhaltet in einer tiefen Bewußtseinsschicht andererseits die aOffenbarungen "-fänfhchen Erinnerung sin die urEinfanglichen Offenbarungen. Vermittelt über die Lebensformen stehen sie im weiteren Horizont der übermittelten 7
Die Existenz des berühmten rabbinischen Begriffs und der Praxis des Scbimmuscb Talmidei ha-Cbacbamin, d.h. eines Lebens in der Gegenwart der großen Gelehrten, ist fiir unsere Diskussion bedeutsam: Er bedeutet nicht nur, diese Gelehrten aufzusuchen, um von ihnen zu lernen, sondern auch, daß sich die Persönlichkeit des Lehrers auf den Schüler überträgt und ihn beeinflußt.
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MOSHE
IDEL
Geheimnisse. Solche Ursprünglichkeit, die ihrerseits nur einen Aspekt der Autorität darstellt, ist im wissenschaftlichen Weltbild weitgehend irrelevant. Dort verändert Neuheit und nicht das Alter einer bestimmten Information die Wahrnehmung von Realität. Die Autorität des religiösen Informanten leitet sich von derjenigen des religiösen Gründers her. In der Kabbala gibt es mehr als nur einen Kandidaten für die Rolle der Gründungsfigur in der Makrokette: Adam, Abraham und nicht zuletzt Moses. Moses vor allem ist es, der als Prototyp des Empfängers und des Übermittlers einer geheimen Überlieferung dargestellt wird. Entsprechend wird die Kabbala an einigen Stellen als „vom Berg Moses' stammend" charakterisiert. Die konzeptuelle Übermittlung beruht auf der Annahme, daß der Ursprungstext, das paradiesische Wissen oder die Offenbarung am Sinai, wegen seiner Bedeutsamkeit und Relevanz perpetuiert werden soll. Die religiöse Leistung des Empfängers ist dabei gering. Er soll Teil einer längeren Traditionskette werden und dient insofern als ein Instrument für die Erhaltung der Tradition als dem eigentlichen zentralen religiösen Wert. Er fungiert stärker als ein Gefäß denn als Schöpfer von Geheimnissen. Auf der anderen Seite ist in dem TyP u s der Mystik, der mit Techniken der Interpretation zur Herbeiführung von mystischer Erfahrung arbeitet, die Bedeutung der Autorität drastisch verringert. Diese Gegenüberstellung eines konzeptuellen und auf treue Wiedergabe beruhenden Typus der Überlieferung und eines auf mystische Erfahrung gründenden Typus wird ersichtlich in zwei Zitaten aus einem kabbalistischen Text des kastilischen Rabbi Isaak haKohen aus dem 13. Jahrhundert. Das eine Zitat thematisiert die Verläßlichkeit eines auf Erfahrung beruhenden Sachverhalts, nämlich die Wirksamkeit der Magie: „Nach der Kabbala, die durch die Meister dieser Weisheit vom Berg der alten Weisen übermittelt wurde: Wir wissen, daß Raw Scherira und Rabbi Chai, ihr Andenken soll gesegnet sein, befähigt waren und diese Wissenschaft empfangen haben, als eine Tradition, die in ihre Hände gelegt wurde, einem Rabbi durch den Mund eines anderen, einem alten Mann (Saken) durch den Mund eines anderen alten Mannes, einem Ga'on durch den Mund eines anderen Ga'on, alle haben die magische Praxis der Hechalot Sutarti benutzt, genauer die Schimmuscha de-Scheidin, um dadurch die
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ÜBERLIEFERUNG
IN
DER
KABBALA
Leiter der Prophetie und ihrer Kraft zu erklimmen."8 An einer anderen Stelle desselben Traktats heißt es, daß ein bestimmter Gegenstand „im Namen der alten Weisen überliefert ist, wobei sie die Magie der Schimmuscha de-Hechalei Sutarti (Benutzung der 'kleinen Hallen') und der Schimmuscha de-Scheidin (Benutzung der Dämonen) einsetzten, und dies ist die Leiter zum Aufstieg, um die Grade der Prophetie und ihre Kräfte zu erreichen."9 In diesen Passagen wird davon ausgegangen, daß die „alten Rabbiner" tatsächlich sowohl den magischen wie den mystischen oder prophetischen Überlieferungstyp praktizierten. Für unsere Fragestellung ist jedoch entscheidend, daß der Text trotz seines Insistierens auf der Kette der Überlieferung wenig oder gar nichts mit der tatsächlichen Praxis der Kabbalisten des 13. Jahrhunderts zu tun hat. Vielmehr wird allein die Größe der mythischen Alten und ihre unhinterfragbare Autorität beschrieben, die der Kabbala eine Aura der Heiligkeit verleihen. Die kabbalistischen Texte, in denen das Bild des autoritären Alters entworfen wird, ignorieren also die aktuelle Praxis der zeitgenössischen Kabbalisten. Ausschlaggebend für die Legitimation der im Mittelalter entstehenden Kabbala war die Berufung auf die zugleich mystischen und magischen Erfolge der Alten. Die beiden zitierten Passagen dokumentieren eben diese Suche nach einer Autorität und nach spezifischen Inhalten. Dies läßt sich an einem Zitat aus der Einleitung aus einem Parergon des mittelalterlichen Judentums von Rabbi Moses ben Nachman, besser bekannt als Nachmanides, verdeutlichen. Anders als seine jüngeren Zeitgenossen wollte er die Quelle der Kabbala nicht mit alten, mythischen und namenlosen Figuren identifizieren, sondern, wie ich später noch genauer zeigen werde, mit Moses selbst. Den Leser seines Kommentars zur Tora (Be 'ur al ha-Tora) warnt er mit folgenden Worten: „Ich ermögliche ein treues Bündnis und gebe sicheren Rat all denen, die in diesem Buch keinen Anlaß zum Grübeln und Räsonieren über die mystischen Anspielungen sehen, die ich in bezug
8
Rabbi Isaac ben Jacob HA-C0HEN:A1 ha-Azilut ha Semalit. In: Mada 'ei ha-Jahadut (hebr.). Hrsg. von Gershom S c H o L E M, Bd. 2, Jerusalem 1927, S. 90. - Das hebräische Chochma kann sowohl mit „Wissenschaft" als auch mit „Überlieferung" wiedergegeben werden. Ga'on ist die Bezeichnung für einen religiösen Führer des babylonischen Judentums im Mittelalter.
9
Ebd., S. 98.
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MOSHE
Zur Überlegenheit mündlicher Überlieferung
IDEL
auf die verborgenen Dinge der Tora gebe. Denn hiermit lasse ich ihn wissen, daß meine Worte durch Nachdenken oder Kontemplation nicht verstehbar oder begreifbar sind, sondern nur, wenn sie durch den Mund eines weisen Kabbalisten in das Ohr eines verständigen Empfangers gesprochen sind. Über sie nachzudenken ist eine Torheit; jeder abwegige Gedanke schadet und verhindert den Nutzen." 10 Für Nachmanides kann die Bedeutung der kabbalistischen Anspiei u n g e n j n s e inem Tora Kommentar nur in mündlicher Überlieferung °
°
und von einem erfahrenen Meister empfangen werden, ansonsten schade jede spekulative Reflexion über die mögliche Bedeutung den Geheimnissen. Zwar unterscheidet sich damit Nachmanides offensichtlich von Rabbi Isaak haKohen, der die Titel von alten Büchern ebenso wie extreme Praktiken wie Magie oder Prophetie anführte. Dennoch benutzt auch Nachmanides das hohe Alter der angeblich alten Praktiken, Konzepte und Bücher als ein Argument für sich, auch wenn er sie nicht einzeln benennt. Zur Legitimation seiner eigenen Position führt er dagegen als einzig verläßliche Quelle Moses an. Nur Moses allein könne die esoterische Überlieferung autorisieren und als authentisch bescheinigen. Die mündliche Überlieferung ist jedoch laut Nachmanides nicht das einzige Mittel zur Konstitution einer kabbalistischen Tradition. Für ihn ist keineswegs alles, was mündlich überliefert wird, automatisch Kabbala im Sinne einer Geheimwissenschaft. Im obigen Zitat findet sich zumindest noch eine weitere Charakterisierung der kabbalistischen Überlieferung: Sie muß anhand von Anspielungen auf verborgene Themen der Tora offenbart werden. Die mündliche Tradition muß also Themen aufnehmen, die bereits in den kanonischen Schriften vorhanden sind. Entsprechend schreibt Nachmanides in einer weiteren Passage: „Tatsächlich beinhaltet diese Sache große Geheimnisse der Geheimnisse der Tora, die nicht durch den Verstand eines Denkers verstanden werden können, sondern (nur) durch einen Mann, der sie verdient und sie durch den Mund eines Lehrers erlernt,
10
Commentary on the Torah/Kitvei ha-Ramban. Hrsg. von Charles B. C HAVEL, Bd. 1, Jerusalem 1961, S. 7f. Zur Esoterik des Nachmanides siehe auch Moshe ID E L: We have no Kabbalistic Tradition on This. In: Rabbi Moses Nakmanides (Ramban): Explorations in bis Religious and Literary Virtuosity. Hrsg. von Isadore T WERSKY, Cambridge, Mass. 1983, S. 51-73. Zur Tradition bei Nachmanides vgl. David NOVAK: The Theology of Nahmanides Systematically Presented, Atlanta 1993, S. 51-59.
7°
ÜBERLIEFERUNG
IN
DER
KABBALA
und so weiter zurück bis zu Moses, der (sie) durch den Mund des Heiligen, gelobt sei er, erfahren hat." 11 Anders als beim vorangehenden Text fallt das Augenmerk in dieser Passage auf den Informanten, während die Eigenschaften des Empfängers nicht genannt werden. In einem weiteren Text, einer Rede über den Prediger Salomon, erklärt Nachmanides: „Der Kern dieser Sache sowie anderer, ähnlicher ist durch die eigene Vernunft nicht vollauf verstehbar, sondern nur (vermittels) der Kabbala. Dieser Gegenstand ist in der Tora jedwedem erklärt, der das Grundprinzip der Gebote durch die Kabbala erfahren hat, so wie es sich gehört, ein Empfanger (Mekabbel) aus dem Mund eines (anderen) Empfangers, bis zu Moses unserem Lehrer, der aus dem Mund des Herrn (empfangen hat)." 12 Daraus läßt sich schließen, daß in Nachmanides' Rhetorik und meiner Meinung nach in Übereinstimmung mit seiner Praxis esoterische Themen, die als Kabbala verstanden werden, mündlich überliefert sein müssen. 13 Dennoch führt Nachmanides nur wenige theosophische Themen an, einschließlich der expliziten Nennung der Namen der Sefiroth, ohne den Eindruck zu hinterlassen, geheimes Wissen zu offenbaren. Mit anderen Worten: Es kann sehr wohl sein, daß der theosophische Inhalt, der gemäß der modernen Forschung als das wichtigste Definiens einer mystischen Überlieferung gilt, für Nachmanides nicht das Hauptkriterium der Kabbala war. Dennoch gibt es zumindest eine theosophische Thematik, die Nachmanides in Begriffen der esoterischen Tradition beschrieben hat. Ich meine das Konzept des Zimzum, des „Rückzugs".14 Die zentrale Rolle der Mündlichkeit für die Überlieferung der Kabbala scheint aus zwei Gründen so stark hervorgehoben zu werden. 11
12
The Commentary onJob/Kitvei ha-Ramban, Bd. 1. Hrsg. von Charles B. CHAVEL,Jerusalem 1964, S. 23. Uber Moses in den Schriften des Nachmanides siehe Chayim H E N O C H: Nachmanides. Philosopher andMystic (hebr.), Jerusalem 1978, S. 32f„ 182ff., 248-251 sowie 277-283. H E N o c H: Nachmanides, mischen Kreisläufe Schmita
S. 190. - Die zitierte Passage bezieht sich auf die esoterischen Traditionen über die kosundJowel.
13
Diese Vermutung hatte ihre Vorläufer in der rabbinischen Literatur früherer Epochen; vgl. hierzu W E W E R S : Geheimnis und Geheimhaltung.; SMITH : Clement ofAlexandria, und SCHOLEM : Jewish Gnosticism, S. 58.
14
Vgl. Nachmanides* Kommentar des Sefer Jezira, gedruckt von Gershom SCHOLEM: Nahmanides s Authentic Commentary on Sefer Yetzirah (hebr). In: Kiriat Sefer 6 (1930), S. 402. Vgl. auch Moshe ID E L über diese Passage: On the Concept of Zimzum in Kabbalah and in Research (hebr.). In: Rachel E L l o R und Yehuda LIEBES (Hgg.): Lurianic Kabbalah, Jerusalem 1992, S. 60-65.
71
MOSHE Mündlichkeit und Dominanz
IDEL
Der eine Grund kann in der tatsächlichen Praxis, wie sie in den obigen n% ¡_
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A 6 6 . 7: Klangfiguren EV. A u s : Ernst Florens
Friedrich Chladni: Die Akustik, Leipzig 1802, Tafel V.
scheidend - von den Tönen selbst „gezeichnet" wurden. Diese „Klangfiguren", wie Chladni sie nannte (Abb. 7), waren keineswegs arbiträr, sondern standen in „notwendiger", indexikalischer Beziehung zu den Tönen. In den graphischen Spuren dieser „schriftartigen Ur-Bilder des Tons" sah man das, was der Physiker Johann Wilhelm Ritter „seine von ihm selbst geschriebene Note"33 genannt hatte. Kaum eine Generation später wurden die ersten Versuche ange- Pioniere der stellt, um die Idee des sich selbst schreibenden Tones in eine anwend- graphit"'" bare Technik umzusetzten. Hierher gehört z. B. der Apparat zur Messung der von tönenden Körpern ausgehenden Schwingungen, den Thomas Young 1807 in seinem Course of Lectures on Natural Philosophy and Mechanical Arts beschrieb.34 Young brachte mittels eines Bogens eine Stimmgabel zum Tönen und verband sie mit einem Stift, welcher die der Tonhöhe entsprechende Wellenform auf einen rotierenden Zylinder zeichnete. 1830 experimentierte in ähnlicher Weise Wilhelm Weber, Professor an der Universität Göttingen, mit einem Gerät, das durch einen auf einer Stimmgabel befestigten Stahlstift die 33
Zitiert nach W ETZELS: Johann
34
Thomas Y o U N G : Course of Lectures on Natural Philosophy and Mechanical Arts, London 1807; Neudruck New
Wilhelm
Ritter,S.91.
York 1971.
299
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Abb. 8: Phonautograph von Edouard-Léon Scott de Martinville (1857). Aus: Le Magasin du Phonographe, Brüssel 1977, S. 16.
Schallschwingungen auf einer berußten Glasplatte notierte. Im Jahre 1843 ersetzte der Franzose Jean-Marie-Constant Duhamel bei seinem Vibrograph diese Glasplatte durch einen Glaszylinder.35 Auf dem gleichen Grundprinzip der Übersetzung von Tönen in graphische Spuren basierte auch der treffend als Phonautograph bezeichnete Apparat, den 1858 der Schriftsetzer Edourad-Leon Scott aus Martinville erfand (Abb. 8). 36 Scott ersetzte die Stimmgabel durch eine mit einem Trichter kombinierte, empfindliche Membran, die es ermöglichte, die von verschiedenen Arten von Tönen erzeugten Schallwellen einzufangen und sie als zitternde Linien auf Kohlepapier aufzuzeichnen, welches auf einen sich drehenden Zylinder gespannt worden war. 37 Dieser Apparat ist aber, wie schon sein Name verrät, nur ein akustischer Autograph. Die Töne schreiben zwar ihre eigene Spur, die Akustik wird also zur Schrift, aber diese kann noch nicht als solche „gelesen", d. h. wieder zum Tönen gebracht werden. Damit ist aber nur der erste Teil des Röhrenmodells des Voice Mail verwirklicht: das
35
A b g e b i l d e t b e i J Ü T T E M A N N : Phonographen, S. 2 0 .
36
I n seiner G e s c h i c h t e der Schallplatte b e r i c h t e t G ü n t e r G R O S S E : Von der Edisonwalze
zur Stereoplatte,
Berlin
1 9 7 9 , S. 7f., d a ß s c h o n W e b e r sein G e r ä t P h o n a u t o g r a p h nannte. 37
J ü T T E M A N N : Phonographen, S . 21, b e r i c h t e t , d a ß W e r t h e i m bereits 1844 eine A r t frühe Schalldose konstruierte, i n d e m er eine M e m b r a n m i t e i n e r B o r s t e als S c h r e i b i n s t r u m e n t k o m b i n i e r t e .
3OO
VOR
DEM
P I E P T O N
Einfangen der Töne in Form einer potentiell transportierbaren wie auch lesbaren Aufzeichnung. Mit der Erfindung der Photographie stiegen die Hoffnungen auf Akustische Verwirklichung der entscheidenden zweiten Stufe des Voice Mail: die Fotoerafie Wiederherstellung oder Rückübertragung dieser Spuren in Töne. Symptomatisch dafür ist die Fragestellung, die Thomas Hood in seinem Comic Annual 1839 formulierte: „In diesem Jahrhundert der Erfindungen, das ein selbsttätig wirkendes Kopierpapier für sichtbare Gegenstände entdeckt hat, kann niemand voraussagen, ob nicht ein künftiger Niépce oder Daguerre oder Herschel oder Fox Talbot eine Art Boswellsches Schreibpapier entwickeln wird, welches das Gehörte zu wiederholen vermag".38 Wichtig ist dabei, daß dieses akustische Papier - darin ähnelt es der Photographie - Töne nicht nur speichert, sondern auch „wiederholt", so wie die Photographie visuelle Informationen wiedergibt, d.h. repräsentiert. Es ist kein Zufall, daß gerade Nadar 1856 auf den Gedanken einer solchen daguerréotype acoustique kam, die in der Lage wäre, wie die Photographie Töne möglichst naturgetreu aufzuzeichnen und zu reproduzieren. Im Jahre 1864 beschrieb er einen solchen Apparat, der eine „zeitversetzte" Wiedergabe ermöglichen sollte und den er als einer der ersten Phonograph nannte. 39 In einer erstaunlich hellsichtigen Äußerung verknüpfte Nadar die Speicherung von Tönen mit deren perfekter Wiedergabe: „Eines Morgens erläuterte uns jemand das Daguerréotyp des Tons den Phonographen - eine Art Kasten, in dem Melodien festgehalten und gespeichert wurden, so wie die Camera obscura Bilder aufnimmt und fixiert. - Sehr gut. Ich nehme an, daß eine Familie, die nicht selbst der ersten Vorstellung einer 'Forza del destino' oder irgendeiner Oper oder einem Konzert beiwohnen kann, jetzt bloß jemanden, ausgerüstet mit dem fraglichen Phonographen, hinzuschicken braucht.
38
Zitiert nach Ronald W . CLARK: Edison. The Man Wbo Made the Future, New York 1977, S. 73f.
39
Anderswo wird behauptet, daß diese Ehre einem gewissen F. B. Fenby aus Worcester, Mass., gebührt, der schon 1863 ein Patent fur einen Elektro-Magnetischen Phonograph bekam, obwohl dieses Gerät, das die auf Klavierinstrumenten gespielten Noten registrierte, in der Entwicklungsgeschichte des Grammophons keine Rolle spielte. Vgl. Oliver READ und Walter L. W E L C H : From Tin Foil to Stereo: Evolution of the Phonograph, Indianapolis 1976, S. 6. In seinem Bericht fur die Pariser Académie des Sciences schreibt Fenby wiederum von einem Monsieur Carreye, der schon 1827 ein piano phonographe dem Comité des Beaux-Arts vorgelegt habe. S. M. F E N B Y : Phonographe électro-magnétique de M. Fenby, Paris 1863, zitiert nach der sehr emfehlenswerten Studie von Jacques PERRIAULT: Mémoires de l'ombre et du son. Une archéologie de l'audio-visuel, Paris 1981,S. 138.
30I
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Erfinderischer Wettlauf
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Und dann, wenn dieser Abgesandte wieder da ist: Und? Wie war die Ouverture? - Voilà! - Und das Quintett? - Hören wir! Zufrieden! Wunderbar. Aber der Tenor, war er nicht ein wenig schreiend?" 40 Doch nicht Nadar nahm Scotts Gedanken auf, sondern ein anderer Franzose namens Charles Cros, ein genialer Dichter, Künstler und Wissenschaftler, der unter anderem das erste Verfahren für die Zweifarbphotografie erfand. 41 In einem Dossier, das er am 30. April 1877 in der Pariser Akademie der Wissenschaften hinterlegte, regte er an, das Kohlepapier durch einen Wachszylinder zu ersetzen, auf den die von der empfindlichen Membran übertragenen Impulse mittels einer Nadel eingeritzt werden sollten. 42 Das war ein entscheidender Schritt, denn die in diese Walze eingeritzten Rillen konnten von einer zweiten Nadel später abgetastet und in ein akustisches Ereignis rückverwandelt werden. Damit war das Grundprinzip für eine Maschine gefunden, die sowohl Töne aufzeichnen als auch reproduzieren konnte. Leider besaß der arme Poet Cros, ein Freund von Verlaine und Liebling der Surrealisten, nicht genügend Geld, um sein Gerät, das er Parléophone getauft hatte, tatsächlich zu bauen. Und dann erschien zu seiner großen Bestürzung im Scientific American vom 17. November 1877 ein Bericht, in dem zu lesen war, man arbeite in Menlo Park an „der recht kühnen und originellen Idee, die menschliche Stimme auf einem Papierstreifen aufzunehmen, der sie zu jedem beliebigen späteren Zeitpunkt mit allen vokalen Eigenheiten des Sprechers präzise wieder(zu)geben vermag." Cros fürchtete nicht zu Unrecht, daß man ihn nicht als Urheber dieses Apparats anerkennen würde, und verlangte, daß sein Dossier in der Akademie öffentlich verlesen werden sollte. Dies geschah am 3. Dezember 1877. Nur zwei Wochen spä-
40
NADAR:£ÎÎ Mémoires du giant, Paris 1864, zitiert nach PERRI AU LT: Mémoires de l'ombre, S. 133f.
41
CROS' Gesammelten Schriften sind in der Bibliothèque de la Pléiade als Oewures complètes, Paris 1970, von Louis FORESTIER und Pierre-Olivier WA L Z E R herausgegeben worden. Vgl. auch De Fil en Aiguille: Les Pionniers de la Communication (Ausstellungskatalog), Paris 1989, und Dieter KRANZ : Zwischen Tradition und Moderne: Der Lyriker Charles Cros in seiner Zeit, Wiesbaden 1973.
42
Der Text mit dem Titel „Procédé d'Enregistrement et de Reproduction des Phénomènes perçus par l'Ouïe" ist nachgedruckt in Louis FORESTIER: Charles Cros, Paris 1972, S. 160f.; eine Englische Übersetzung findet sich bei Count D u MoNCEL: The Telephone, The Microphone and the Phonograph, New York 1879, S. 236. Die französische Originalausgabe dieses Buches war noch im Jahre der Patentierung des Grammophons 1878 erschienen. Für den medienhistorischen Kontext von Cros' Entdeckung vgl. auch De Fil en Aiguille.
3O2
V O R
DEM
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Abb. 9: Edison-Phonograph (1877). Aus: Count Du Moncel: The Telephone, the Microphone and the Phonograph, New York 1879, S. 243.
ter beantragte Edison ein entsprechendes Patent für sein funktionstüchtiges Modell eines Phonographen (Abb. 9).43 An dieser Stelle kann der Entwicklungsgeschichte des Phono- Das Grammophon graphen, etwa dem Schritt von der Walze zur flachen Scheibe der ¿^f^n«? Schallplatte oder den nahezu mythischen Anekdoten, die sich mit ihrer frühen Geschichte verbinden, nicht weiter nachgegangen werden. 44 Wichtig sind hier nur die Folgeerscheinungen, die sich bereits mit Scotts Phonautographen abzeichneten, einem Gerät, das letztlich, wie sein Name verdeutlicht, ein „Apparat zur Selbstaufzeichnung akustischer Schwingungen" sein sollte. Die daraus resultierende „natürliche Stenographie" sollte ihrerseits, wie der Titel von Scotts Buch zu diesem Thema verrät, „der sich selbst schreibende Ton" sein. 45 Entsprechend wurde die Phonographie, „ein von Isaac Pitman im Jahr 43
Ein Faksimile dieses Antrags vom 24. Dezember 1877 mit der Überschrift „Improvement in Phonograph or Speaking Machines" ist abgedruckt in READ und WELCH : From Tin Foilto Stereo, S. 8f.
44
Wie z.B. Edisons Demonstration seiner neuen Maschine vor der Pariser Akademie der Wissenschaften am 11. März 1878, wo man ihn allen Ernstes der Scharlatanerie mittels Bauchrednerei bezichtigte. - Die zugleich enthusiastisch und mißtrauische Reaktion auf Edisons Auftritt vor der Académie des Sciences am 11. März 1878 wird eingehend bei D u MONCEL: The Telephone, S. 244f., geschildert.
45
Edouard-Léon SCOTT DE WlhRUNVlLLZ: Le Problème de la parole s'e'crivant elle-même. La France, l'Amérique, Paris 1878. Fast dreißig Jahre früher hatte Scott eine Untersuchung über die Stenographie mit dem Titel Histoire de la Stenographie depuis les temps anciens jusqu'à nos jours. Hrsg. von Charles TONDEUR, Paris 1849, veröffentlicht.
3°3
-
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Dictaphone
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1837 erfundenes System der phonetischen Kurzschrift" (so das Oxford English Dictionary), in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eine „natürliche Methode des Schreibens" gepriesen und von Arbeitergruppen enthusiastisch als ein Mittel gefeiert, mit dem das Schreiben einem größerem Publikum möglich werden sollte. Das erklärt auch, warum das Thema „Phonographie" auf der Tagesordnung des IWAKongresses in Lausanne 1867 stand; es läßt zudem den Schlußsatz von Karl Faulmanns Buch Geschichte der Schrift verständlich werden, die er kurz nach der Erfindung des Grammophons vollendet hatte: „Der Stenographie gehört die Zukunft."46 Wie aber konnte das Grammophon als „natürliche Stenographie", als eine Art Phonographie im Sinne Pitmans fungieren? Oder, um es anders zu formulieren: wie konnte man behaupten, daß das neue Grammophon von Anfang an als Schreibinstrument konzipiert war? Um diese Fragen zu beantworten, muß man sich daran erinnern, daß eine der beliebtesten, aber merkwürdigerweise oft übersehenen Anwendungen der frühen Phonographen darin bestand, die eigene Stimme aufzunehmen. Da schon die erste Generation von Grammophonen nicht nur Sprache wiedergeben, sondern auch aufnehmen konnte - es handelte sich, um es in der heutigen Terminologie auszudrücken, um eine Read/ write-Technik -, hoffte man, mit Hilfe dieser Eigenschaft den Analphabetismus beseitigen zu können, indem lesen und schreiben durch hören und sprechen ersetzt wurden. Die Grammophonwalze konnte, nachdem sie für eine Aufnahme benutzt worden war, auch wieder „gelöscht" und für eine weitere Aufnahme verwendet werden. Ihre erfolgreichste kommerzielle Anwendung fand das Grammophon daher als Diktiergerät oder beim Sprachunterricht (Abb. 10). Erst viel später wurden Grammophone in Privathaushalten als Musikmaschinen eingesetzt. Von Anfang an aber gab es Versuche, die neuen „Sprechmaschinen" auch für andere Zwecke zu nutzen, etwa für den Postverkehr. Diese Einsatzmöglichkeit bezeichnete der Herausgeber des Scientific American in der Ausgabe vom 17. November 1877, in der Edisons neue 46
Z u r Diskussion von Phonographie auf dem I W A - K o n g r e ß vgl. Georges D U V E A U : La Pensée ouvrière sur l'éducation pendant
îa Seconde Republique
et le Second Empire, Paris 1948, S. 115f. Z u r historischen Einbettung der Steno-
graphie in die Geschichte der Schrift vgl. Karl F A U L M A N N : Geschichte der Schrift ( W i e n 1880), Faksimile-Nachdruck Nördlingen 1989, S. 587ff.
3°4
VOR
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Abb. 10: Aufnahme und Wiedergabe eines Textes beim Sprachunterricht auf einer Edison-M-Machine. Aus: La Nature (September 1893). Abbildung aus: Daniel Marty: The Illustrated History of Phonographs, New York 1981, S. 167.
3°5
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Pathepost
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Maschine vorgestellt wurde, als die vielversprechendste: „Wird Briefeschreiben der Vergangenheit angehören? Werden wir eine neue Art Bücher besitzen? Es gibt keinen Grund, warum nicht die Schöpfungen unserer modernen Ciceros aufgezeichnet und für sich gebunden werden sollten, so daß wir die gewünschten Abschnitte durch die Maschine laufen und den eloquenten Ausführungen in der Stille unserer Wohnung lauschen können, so oft wir immer wollen. Dabei müssen wir uns keineswegs mit dem gesprochenen Wort bescheiden. Ebenso gut kann man auch Musik konservieren." 47 Ungeachtet der Tatsache, daß der Phonograph später fast ausschließlich als Wiedergabegerät für Musikaufnahmen genutzt wurde, hatte Edison selbst ihn in erster Linie als ein Hilfsmittel für Geschäftskorrespondenz konzipiert. In seinem Aufsatz Das Grammophon und seine Zukunft aus dem J a h r 1878 beschrieb Edison insgesamt neun Anwendungsgebiete für seine neue Erfindung: „Diktieren ohne die Hilfe eines Stenographierers; phonographische Bücher für Blinde; Sprechunterricht; Musik- und Unterhaltungssendungen; Fremdsprachenunterricht; Aufzeichnung der Stimmen von Familienmitgliedern; Zeitansagedienste etc.; Aufbewahrung der Stimmen wichtiger historischer Persönlichkeiten; Hilfsfunktionen beim Telefonieren." 48 Er setzte das Diktieren nicht nur an die erste Stelle seiner Aufzählung, sondern fügte ausdrücklich noch hinzu: „Der Hauptnutzen des Phonographen besteht jedoch in seiner Funktion als Briefeschreiber und für andere Diktate. Sein Design richtet sich bewußt auf diese Nutzungsabsichten." Edison glaubte, daß PhonogrammBlätter mit jeweils bis zu viertausend Wörtern eines Tages zur wichtigsten Form der Korrespondenz werden würden. 4 9 Hier haben wir das erste Voice Mail im wörtlichen Sinne. Es handelt sich um die Geburtstunde der akustischen Post, die bald nach der Jahrhundertwende für eine kurze Zeit eine freilich begrenzte kommerzielle Verbreitung finden sollte (Abb. 11). Bereits im Jahre 1901 berichtete die Phonographische Zeitschrift, daß „die Ausbreitung der Phonographie speziell in Deutschland einen 47
Scientific American vom 17. November 1877, zitiert nach CLARK: Edison, S. 75.
48
Thomas EDISON: Tbe Phonograph and Its Future, zitiert nach Byron M. VA N D E R: Thomas Edison, Chemist, Washington, D.C. 1971, S. 105.
49
Siehe Robert C O N O T : ^ Streak ofLuck, New York 1979, S. 261.
306
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DEM
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Abb. 11: Pathepost-Phonograph zum A u f n e h m e n und Abhören von v e r s c h i c k b a r e r P l a t t e n ( a b 1908). Abbildung aus: Daniel Marty: The Illustrated History of Phonographs, New York 1981, S. 166.
Punkt erreicht hat, an welchem die phonographische Briefpost möglich und daher erwünscht ist." 50 Der Gebrauch des Phonographen als „Ersatz der Schreibmaschine bzw. der gewöhnlichen Schrift" 51 wurde kurz nach der Jahrhundertwende häufig als „neues Bethätigungsfeld" für den Phonographen gepriesen, da „eine solche Verwendung des Phonographen mit verhältnißmäßig geringen Kosten verknüpft ist, und ihm den Eintritt in Bevölkerungsschichten [verschafft], die ihm sonst sehr fern stehen." 52 Da sich aber der Versand der fragilen und klobigen Phonographenwalzen rasch als zu teuer und unpraktisch erwies, mußte die akustische Post auf die Entwicklung eines flachen Mediums warten, das dann in Form der sogenannten Schallplatten-
50
Georg ROTHGIESSER: Phonographische Briefe. In: Phonographische Zeitschrift 2, H. 21 (1901), S. 252.
51
Georg ROTHGIESSER: Phono-Postkarten.In: Phonographische Zeitschrift6,H.
52
Phonographische Familienpost. In: Phonographische Zeitschrift 2, H . 2 (1901), S. 13.
307
48 (1905), S. 1065.
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Postkarten etwa im J a h r e 1905 gefunden wurde. 5 3 Mit dieser Erfindung konnte man nicht nur die eigene Stimme (oder Musik usw.), sondern darüber hinaus auch noch ein Bild schicken - eine Urform des Multi-Medialen. Fast sofort erschloß man eine Vielzahl von Einsatzmöglichkeiten zur Benutzung dieser hybriden Ton- und Bildträger: „Illustrierte Karten mit Szenen aus Opern und Operetten erhalten gleichzeitig übereinstimmenden, musikalischen Inhalt, die Bilder unserer bedeutendsten Humoristen werden mit Platten ihrer besten musikalischen oder deklamatorischen Schlager ausgestattet, und die Männer der Wissenschaft werden ihre Vorträge in konzentrierter Form auf einer Postkarte den weitesten Kreisen zugänglich machen. Wappen- und Nationalflaggen-Postkarten werden die Hymnen der verschiedenen Länder reproduzieren. Politische Kandidaten kommen in die Lage, ihre Photographie mit einem Auszug ihrer Rede den Wählern zu übermitteln, und Herr und Frau Meier werden ihre Einladung zum Tee ihren Freunden per Postkarte mündlich übermitteln, ihre Neujahrs- und Geburtstagswünsche in eigener Stimme aussprechen können." 54 Die sprechende Postkarte
Schon 1905 wurden tönende Postkarten industriell hergestellt und waren, so ein Fachjournalist, „bereits ein Marktartikel". 55 In vielerlei Hinsicht die heutigen Cybercafés vorwegnehmend, träumte man damals in Paris davon, „Zigarrenläden, Cafés usw. mit AufnahmeApparaten auszurüsten, wo die Kunden Postkarten kaufen und besprechen können, um dieselben an ihre Freunde zu versenden. Diese können dann in einem nächstgelegenen Zigarrenladen oder Café die Postkarte abhören oder sich selbst einen Apparat kaufen, um zu erfahren, was man ihnen auf dieser geheimnisvollen Postkarte mitgeteilt hat." 56
53
I m U n t e r s c h i e d zu d e n W a l z e n p h o n o g r a p h e n , die als D i k t i e r g e r ä t e b e n u t z t w u r d e n , v e r w e n d e t e m a n bei den A p p a r a t e n f ü r g r a m m o p h o n i s c h e P o s t k a r t e n h ä u f i g viereckige P l a t t e n , also flache Tonträger, die auf das v o n E m i l Berliner 1887 in W a s h i n g t o n entwickelte G r a m m o p h o n m o d e l l z u r ü c k g i n g e n u n d besser geeignet erschienen weniger w e g e n ihrer Ä h n l i c h k e i t m i t h e r k ö m m l i c h e n S c h r i f t t r ä g e r n als v i e l m e h r w e g e n ihrer leichten Versendbarkeit. Z u Berliner u n d z u r E n t w i c k l u n g der Seitenschrift der G r a m m o p h o n p l a t t e vgl. R E A D u n d W E L C H : From Tin Foilto Stereo, Kapp. 10 u n d 12, s o w i e J Ü T T E M A N N : Phonographen., S. 75ff.
54
G e o r g R O T H G I E S S E R : Schallplatten-Postkarten. I n : Phonographische
55
G e o r g R O T H G I E S S E R : D i e Z u k u n f t der s p r e c h e n d e n Postkarte. In: Phonographische S. 3 6 7 .
56
R O T H G I E S S E R : P h o n o - P o s t k a r t e n , S. 1065.
308
Zeitschrift
6, H . 8 (1905), S. 39. Zeitschrift
6, H . 17 (1905),
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Abb. 12: Reklame für die französische Phonopostal Machine zur Aufnehmen und Abhören der Sonorine Sprechende Postkarten (um 1905). Aus: Le Magasin du Phonograpke, Brüssel 1977, S. 41.
Während die einen die rhetorischen Vorteile der Phonopost priesen, 57 waren andere in erster Linie davon fasziniert, daß diese Form der postalischen Korrespondenz „das Briefgeheimnis zu wahren" erlaubte, „was bisher bei geschriebenen, offenen Postkarten nicht möglich war."58 Der Reiz dieser neuen Art des postalischen Verkehrs war verständlicherweise groß. Die „sprechenden" Bildkarten sollten es ermöglichen, „die Sprechmaschine ganz direkt an Stelle der Feder oder Schreibmaschine zu setzen."59 In der Werbung wurde immer wieder erklärt, daß sie letztendlich das Schreiben überflüssig machten (Abb. 12). Potentielle Benutzer wurden aufgefordert, ihre Wörterbücher 57
Frappant ist die Ähnlichkeit der phonozentrischen Formulierungen, die u m die J a h r h u n d e r t w e n d e für die sprechende Postkarte, aber auch 9 0 Jahre später als Plädoyer für Voice E - m a i l benutzt werden. I m Jahre 1 9 0 1 schreibt ein enthusiastischer Kommentator in der Phonographischen
Zeitschrift:
„Kein M e n s c h kann daran zweifeln, d a ß eine
M i t t h e i l u n g durch den P h o n o g r a p h e n die G e d a n k e n des Briefschreibers weit besser wiedergibt, als der geschriebene Brief. E i n m a l ist die Niederschrift seitens des Schreibenden bei d e m phonographischen Brief einfacher und natürlicher, und weiterhin ist das Verständnis bei dem E m p f a n g e n d e n unmittelbarer u n d der N a t u r der A u f n a h m e viel besser entsprechend. E s ist g a n z fraglos, d a ß geschriebene Mittheilungen eine Fehlerquelle in sich tragen. D e r Ton macht die Musik, auch bei einem Brief. Sehr o f t sind kleine Interpunktionsfehler oder gar nur Betonungsfehler der G r u n d zu Mißverständnißen, deren Folgen unter U m s t ä n d e n sehr schwerwiegende sein können; der phonographische Brief vermeidet das vollständig." ( R O T H G I E S S E R : Phonographische
Briefe, S. 2 5 1 ) M a n vergleiche dazu fol-
gende Auflistung phonozentristischer Klischees, die ein unbefangen logozentristischer A u t o r im Jahre 1 9 9 0 in PC Magazine
veröffentlichte: „Warum sollte man S t i m m e n über seine Datenanlage hören? Weil wir M e n s c h e n verbale
Ä u ß e r u n g e n lange vor d e m Gebrauch der Schrift verwendet haben u n d weil den meisten M e n s c h e n das Verbalisieren leichter fällt und besser gefällt, als G e d a n k e n zu Papier zu bringen. D a s Sprechen vermag stärkere G e f ü h l e hervorzurufen, vermittelt größere Aufrichtigkeit und schafft eine höhere Vertrauensbasis als das Schreiben." (Frank J. D E R F L E R J R . : Voice E - M a i l : Building W o r k g r o u p Solutions. In: PC Magazine 58
D i e sprechende Postkarte. In: Speyerer Zeitung
59
R O T H G I E S S E R : Die Zukunft
vom Juli 1990, S. 313).
vom 2. D e z e m b e r 1905, abgedruckt in: Bröken Music, S. 38.
der sprechenden Postkarte, S. 367.
309
Geschlechtspolitische Konsequenzen des phonographischen Postverkehrs
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Abb. 13: Frau mit Diktiergerät und Grammophonwalzen.
wegzuwerfen: „Sprechen! Nicht mehr schreiben! Zuhören!" heißt es in dieser Anzeige. Auf die ambivalenten politischen Konsequenzen dieses Traums von der sofortigen, universellen Überwindung des Analphabetentums 60 deutet in der erwähnten Anzeige die Figur eines jungen Mädchens. Durch die Kontrastierung mit dem bebrillten, mit Wörterbüchern beladenen alten Mann wird das junge Mädchen zum Sinnbild für jene benachteiligte Klasse von Un- oder Halbgebildeten, deren Analphabetentum sie vom Privileg der Korrespondenz ausschloß. In der Tat waren es in erster Linie Frauen, die die neue Technik des Diktierens übernahmen. Damit vollzog sich, wie Friedrich Kittler gezeigt hat, ein dramatischer Wandel der Geschlechterrollen in der ehedem fast ausschließlich männlichen Klasse der Schreiber (Abb. 13). Dabei ist natürlich zu beachten, daß nunmehr Frauen zwar die materielle Produktion des Schreibens beherrschten, jedoch der Inhalt 60
In vieler Hinsicht sind sie vergleichbar mit dem Esperanto-ähnlichen Anspruch des frühen Films bei D . W . Griffith. Z u m T h e m a frühes Kino und Universalsprache vgl. Miriam H a n s e n : Universal Language and Democratic C u l ture: M y t h s of Origin in Early American Cinema. In: Dieter M EIN D L u.a. (Hgg.): Mythos und Aufklärung amerikanischen
Literatur.
Zu Ehren von Hans-Joachim
Lang, Erlangen 1985, S. 321-351.
3IO
in der
VOR
DEM
P I E P T O N
dessen, was sie schrieben, immer noch überwiegend von Männern bestimmt wurde. Sekretärinnen nahmen Diktate auf und übertrugen Stimme in Schrift, phone in grapheme. So ist es keine Überraschung, daß die Frau nicht nur mit der phonographischen Korrespondenz identifiziert, sondern in der Tat zum Sinnbild für die phonographische Technik selbst wurde. Wie im Signet der Phonographischen Zeitschrift verdeutlicht wird, ist das Medium, über welches das Akustische ins Geschriebene übertragen wird, nichts anderes als der weibliche Körper (Abb. 14). Zu den Geräten, die speziell für die sprechenden Postkarten ent- Der kurze wickelt wurden, gehören das „Phonopostal", eine kleine französische ^"""posi Maschine von minderer Qualität, und Pathes „Pathepost"-Apparat, der 1908 auf den Markt kam und nur in geringen Stückzahlen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges verkauft wurde.61 Leider zeigte die Phonopost im praktischen Einsatz eine Reihe von Schwächen. Nicht nur war der Tonträger selbst überaus zerbrechlich, sondern auch die Aufnahmen waren auf Grund der schlechten Qualität der Phonographen nur schwer verständlich (nur wenige Benutzer waren im61
Nach dem Krieg wurde dieser Apparat in Pathegraph
umbenannt, obwohl er nicht identisch war mit dem Pathe-
grapbe, einer Maschine für den Sprachunterricht vom selben Hersteller.
311
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Abb. 15: Grammophonische Postkarte (um 1950), Paris.
Multimediale
Mischformen
stände, korrekt in den Trichter zu sprechen, um größtmögliche Klarheit zu erzielen). Was zunächst als „der Beginn einer neuen Epoche in der phonographischen Industrie"62 bezeichnet worden war, ging, wie so oft in dieser atemberaubenden Entwicklungsphase, sehr schnell zu Ende. Erst mit der Perfektionierung von Poulsens Erfindung in Form des Tonbandgeräts in den fünfziger Jahren erfuhr das Voice Mail eine nennenswerte Weiterentwicklung. In den späten vierziger und in den frühen fünfziger Jahren kam j e ( j 0 ch eine spielerische Variante der ersten kommerzialisierten Phonopost wieder in Mode: die Grammophonpostkarte. Diese Ansichtskarten, die man verschicken und Zuhause auf einem Plattenspieler abspielen konnte, waren zwar nicht zum Selbstaufnehmen, sondern wurden meistens mit Aufnahmen populärer Schlagermelodien industriell vorgefertigt (Abb. 15). Es handelte sich also hierbei nicht um akustische Briefe im engeren Sinne, da nur die Rückseite der Karte für handgeschriebene Mitteilungen zur Verfügung stand. Trotzdem verwirklichten diese multimedialen Kuriositäten wenigstens einen Teilbereich des Traums von der Phonopost um die Jahrhundertwende: eine Fläche, auf der sich die beiden Arten ihrer Beschriftung - photographisch und grammophonisch - trotz der exponentiellen Zunahme der Informationsdichte nicht gegenseitig beein62
RoTHGIESSF.R: Die Zukunft
der sprechenden Postkarte, S. 367.
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VOR
DEM
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Abb.
16:
Titel- und Rückseite der ersten N u m m e r der grammophonischen Zeitschrift Sonorama vom Oktober 1 9 5 8 , mit Bedienunsanleitung.
trächtigten. Als transportable Materialisierung von Tönen gehören sie deswegen in die Tradition postalisch übermittelter akustischer Aufzeichnungen. Ende der fünfziger Jahre enstand eine noch komplexere Variante ähnlicher Art in Gestalt der ersten tönenden Zeitschrift Sonorama (Abb. 16). Wie in der ersten Ausgabe der Zeitschrift vom Oktober 1958 zu lesen war, erweiterte die multimediale Mischform aus Bild, Text und 33er-Platten („mit den Ohren zu lesen", wie es hieß) das gedruckte Medium um eine neue Dimension und verlieh Rundfunknachrichten eine Art Speicher, d. h. eine Existenz auch über die eigentliche Übertragung hinaus. Dies bedeutete eine Materialisierung des memotechnischen Traums von Poulsens Telegraphon, das einen GedächtnisApparat nicht nur für das Telefon, sondern schon seit 1923 auch für das Radio ermöglichte.63 Die Zeitschrift, spiralgeheftet und in der Mitte perforiert, konnte nicht nur wie üblich gelesen, sondern auch auf den Plattenspieler gelegt werden, um die tönenden Dokumente, d. h. die Musik und Interviews, hörbar zu machen, die sich auf den übrigen „Seiten" befanden. Das verschickbare Objekt verdankte seine Existenz der Entwicklung qualitativ hochwertiger Aufnahmen auf extrem dünnen Schallfolien aus PVC, den Flexidiscs. Es erschien regelmäßig bis Anfang der sechziger Jahre, ohne allerdings die von
63
Unter der Überschrift „Radio Registering Device to Be Tried on Coolidge" auf der ersten Seite der New York Times vom 5. Dezember 1923 wird davon berichtet, daß die Rede des Präsidenten Coolidge nicht nur vom Radio weltweit übertragen, sondern auch, dank einer Erfindung von Poulsen, als „dauerhafte, auf einem langen Klavierdraht aufgezeichnete Botschaft" der Ewigkeit übergeben werde.
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Abb. 17: Schallplattenrillen einer Geigenaufnahme bei 33.3 U/min. in 50facher Vergrößerung. Aus: Herbert Jüttemann: Phonographen und Grammophone, Braunschweig 1979, S. 213.
ihren Erfindern erwartete Revolution im Pressewesen bewirken zu können. Trotzdem verweist sie mit ihrer multimedialen Verbindung von Text, Bild und Ton - wobei dem Ton der gleiche Stellenwert zugeschrieben wird wie dem Text - auf eine entscheidende Voraussetzung für die Speicherung, Übertragung und Reproduktion von Tönen: Auch hier haben wir es in gewissem Sinne mit einer Form des Schreibens zu tun. Das Nebeneinander der photographischen, textuellen und grammophonischen Spuren in Sonorama scheint auf den ersten Blick ihre Heterogenität in den Vordergrund zu rücken. Anders als die Photos und Artikel, die die meisten Leute mit ihrem „eingebauten" Sinnesapparat lesen können, braucht man zum Lesen akustischer „Texte" normalerweise eine externe Schnittstelle, und zwar ein rotierendes Interface, welches die übrigen Texte vorübergehend unlesbar macht. Dennoch sind sie insofern ihrem Wesen nach ähnlich, als sie zu ihrer Entzifferung einen wie auch immer gearteten Dekodierungsapparat erfordern, sei es eine sozial gelernte, d.h. „interne" Technik (wie z.B. das Lese- und Erkennungsvermögen), und/oder eine maschinelle, d. h. „externe" Technik (z.B. eine Brille oder einen Plattenspieler). Daß diese beiden Techniken im Grunde nicht voneinander zu unterscheiden sind, belegen auf amüsante Weise die Auftritte des Engländers Tim Wilson, der 1985 in zahlreichen englischen und amerikanischen Talkshows seine Fähigkeit demonstrierte, Schallplatten auch ohne Etiketten korrekt zu identifizieren. Offenbar war er in der Lage, die
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MYSTERIOUS
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WAYS BY
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A66. IS: Werbeanzeige für die Philips Digital Compact Cassette. Aus: Zeitschrift SPIN vom November 1992, S. 46f.
schon 1922 von Laszlo Moholy-Nagy als „Rillenschrift" bezeichnete Gravur der Grammophonplatte zu „lesen".64 Für die meisten von uns dürften aber solche phonographischen „Texte" allerdings unlesbar bleiben oder nur als spiralförmige Spuren erkennbar sein (Abb. 17). Heute, im digitalen Zeitalter, sind sogar die Spuren als solche nicht mehr zu erkennen. Wie die Werbung für die neueste Generation von digitalen Tonbandgeräten verdeutlicht, werden Ton, Bild und Text allesamt in ein und derselben digitalen Sprache „geschrieben" - einer Sprache, deren Wiedergabetreue und Haltbarkeit eine Folge der „mysteriösen Art und Weise" ihrer Aufzeichnung ist (Abb. 18). „Was Sie hier sehen, sind nur die ersten 47 Sekunden des Stückes", verrät der Text, „aber sie versprechen ungetrübten Genuß lange Jahre hindurch. Alles digital. Keine Störungen, kein Rauschen." In diesem Feld der reinen Differenz, also unter der Bedingung der Schrift als solcher, wird der Ton als Schrift sichtbar, auch wenn es sich um eine entscheidend andersartige Art der Aufzeichnung handelt. Dieser digitale Code ist keine indexikalische Spur mehr. Er hat vielmehr die Struktur der Analogie, die sowohl für die Photographie als auch das Grammophon kennzeichnend war, hinter sich gelassen. Er verweist ex negativo damit auf die verborgene semiotische Solidarität zwischen den beiden Elementen der Grammophonpostkarten, nämlich ihre längst anachronistische Indexikalität. Laszlo MOHOLY-NAGY: Produktion - Reproduktion. In: De Stijl7 (1922), S. 97-101.
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Ende der Indexikalität
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Abb. 19: Paul DeMarinis: Fragments from J e r i c h o (1991). Installation für die Ausstellung The Edison Effect, Walter / McBean Gallery, San Francisco Art Institute 1993.
Von Analogie zu Information
Standen Photographie und Phonographie noch in einer gewissen e x i s t e nziellen semiotischen Beziehung zu der durch sie vermittelten Information, so ist der digitale Code eine Schrift, die vollständig auf diese Ökonomie verzichtet und eine zuverlässige Übermittlung dadurch gewährleistet, daß sie Analogie in Information verwandelt. Die akustischen Wellen werden rund 44.100 mal pro Sekunde gesampled und in 14-, 16- oder 18-stellige Ketten von Nullen und Einsen übersetzt. In semiotischer Hinsicht unterscheidet sich also die digitale Aufnahme grundsätzlich von allen vorherigen Aufnahmeverfahren, und das erklärt die verschiedenen, teils nostalgischen Formen der Faszination des Analogen - vom Scratch bis hin zu den Versuchen, mittels Laserstrahlen die „Rillen" von antiken Ton-Trägern (im akustischen und im töpferischen Sinn) abzulesen. Diese High-Tech-Verwirklichung von Rilkes „Ur-Geräusch" findet sich sowohl in Paul DeMarinis' Installation Fragments from Jericho aus dem Jahre 1991 als auch bei dem Physik-Nobelpreisträger Georges Charpak {Abb. 19). Dieselbe Dauerhaftigkeit des Indexikalischen steckt auch hine5
65
In seinem Text „Ur-Geräusche" aus dem Jahre 1919 spekuliert Rilke darüber, was für ein Ur-Geräusch entstehen würde, wenn man mit einer G r a m m o p h o n n a d e l die Rille der K r o n e n - N a h t von einem Schädel abspielen würde (Rainer Maria R I L K E : Ur-Geräusche. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 6. Hrsg. von Ernst Z I N N , Frankfurt a.M. 1987, S. 1088f.). Bei DeMarinis und C h a r p a k geht es auch u m Ur-Geräusche. Beide versuchen, T ö n e wieder hörbar zu machen, die bei der Herstellung antiker Vasen während des Drehens durch den T ö p f e r in den Rillen des Tons festgehalten wurden. In DeMarinis' Installation gibt der vom Besucher über die Fläche eines Tontopfes bewegte Laserstrahl T ö n e in einer Weise wieder, die auch Charpak wenigstens theoretisch für möglich hält. Vgl. dazu Alain R E M o N D : A la fortune du pot. In: Te'le'rama Nr. 2240 vom 16. Dezember 1992, S. 76.
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Abb. 20: Werbeanzeige f ü r die Philips Digital Compact Cassette. Abbildungsausschnitt aus: Zeitschrift SPIN vom November 1992, S.46f.
ter der Entscheidung, mit dem Raumschiff Voyager eine Grammophonplatte als Ton- und Bildträger ins All zu schießen, um „mit dem Kosmos" zu kommunizieren. 66 Aber mindestens eines haben digitale und analoge Aufnahmen gemein: Sie zeigen uns, daß Akustisches nur dann über geographische und zeitliche Distanzen hinweg übermittelt werden kann, wenn es zuvor in eine Art von Schrift übersetzt worden ist, welche die Möglichkeitsbedingung ihrer Übertragung bildet. Die Geschichte der Phonopost und des Anrufbeantworters sowie die auratische Indexikalität des Scratch in der heutigen Hip-Hop-Kultur zeigen, daß, je häufiger und umfangreicher Sprache und Ton ganz allgemein übertragen werden und je mehr die buchstäblich phono-graphische Aufzeichnung die Praxis des Schreibens ablöst, die Stimme, ehe sie verschickt werden kann, zunächst aufgezeichnet, geschrieben werden muß. Voice Mail zeigt uns also, daß sprechen nichts anderes ist als Aufzeichnung, Übersetzung, Schrift (Abb. 20).
66
So heißt es in dem unübersehbar ethnozentrischen Bericht über das Projekt: „Weil die akustische Information stofflich in die Rillen des Tonträgers eingeätzt wird, vermag sie eine sehr lange Zeit zu überdauern, verglichen mit der Zeit des Raumschiffs, das zu den Sternen aufgebrochen ist, oder sogar länger." Vgl. Carl S AG A N u.a.: Murmurs of the Eartb: The Voyager Interstellar Record, New York 1978, S. 12.
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LIVE AUS... # von Thomas W. Keenati
Wissen Sie, wenn ich mich entscheiden müßte zwischen, sagen wir mal, einer halben Million Touristen und fünftausend Soldaten, würde ich mich aus Sicherheitsgründen wohl für die halbe Million Touristen aussprechen, denn sie garantieren mehr Sicherheit, einfach weil sie eine völlig neue Umwelt bilden. Shimon Peres, CBS News „Face the Nation" vom 5. September 1993
Wo sich heute ein Ereignis vollzieht, ist es vom Kreise der Objektive und Mikrophone umringt und von flammenden Explosionen der Blitzlichter erhellt. In vielen Fällen tritt das Ereignis selbst ganz hinter der „ Übertragung" zurück; es wird also in hohem Maße zum Objekt. So kennen wir bereits politische Prozesse, Parlamentssitzungen, Wettkämpfe, deren eigentlicher Sinn darin besteht, Gegenstand einer planetarischen Übertragung zu sein. Das Ereignis ist weder an seinen besonderen Raum noch an seine besondere Zeit gebunden, da es an jeder Stelle widergespiegelt und beliebig oft wiederholt werden kann. Ernst Jünger, Uber den Schmerz
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M Sommer 1993 veröffentlichte eine unabhängige Mediengruppe in Sarajewo, die sich Fama (Gerücht) nennt, einen Reiseführer ihrer Stadt, die längst zu einem Synonym der Belagerung geworden ist. 1 Im Vorwort hieß es, dieser Reiseführer solle dazu dienen, „Besucher durch die Stadt zu geleiten und ihnen Verhaltensmaßregeln dafür zu geben, wie sie überleben können" - d.h., wie man am Leben bleibt, wenn einem die Heimat zum Fremdland geworden ist. Wer aber sollte die Stadt besuchen? In dem Reiseführer wird das Leben in der Stadt so beschrieben, als seien ihre Einwohner nur noch ihre Besucher. In einem Krieg gegen die Zivilbevölkerung verkehren sich die Rollen von Touristen und Einheimischen auf merkwürdige Weise: Der Tourist, der lernen möchte, wie ein Einheimischer zu leben, wird den Bewohnern der Stadt als Vorbild im täglichen Überlebenskampf dargestellt. Angesichts der totalen Zerstörung und einer militärischen Offensive, deren selbst für einen Soldaten außergewöhnliche Schrecken für die Zivilbevölkerung zu einer gewöhnlichen Tatsache geworden sind, ist der Alltag zu einem Kampf ums Überleben geraten; dieser Kampf wird dann von Rundfunk und Fernsehen aufgezeichnet und in exakter Übereinstimmung mit dem unnatürlichen Gezeitenrhythmus internationaler Nachrichtensendungen gesendet - ja, sogar live übertragen. Eine Gebrauchsanweisung für ein Leben nach dem Leben in einer Stadt der Überlebenden, der Bilder und Geister, einer Stadt, die es noch nicht gibt: „Dies ist eine Chronik des Überlebens, Teil eines Archivs, das die Stadt Sarajewo in der Zukunft nicht als Opfer, sondern als Schauplatz eines Experiments zeigen wird, in dem der Verstand noch immer die Chance hat, die Angst zu besiegen." Wer aber könnte diesen Reiseführer gegenwärtig benützen? In dem Kapitel „Unterhaltung und Unterbringung" heißt es dazu: „Die einzigen Touristen in Sarajewo sind ausländische Journalisten und Politiker. Die letzteren bleiben nur ein paar Stunden in der Stadt, ehe sie wieder flüchten. Soldaten und Journalisten bleiben länger, aber sie werden regelmäßig abgelöst." 1
Miroslav PRSTOJEVIC : Let's go Sarajevo! A Guide to Making Cogna... and Surviving. In: The Washington Post vom 15. August 1993, S. G3. Der Reiseführer wurde veröffentlicht: Maja RAZOVIC und Aleksandra WAGNER (Hgg.): Survival Guide Sarajevo, Sarajevo 1993.
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„ D E R W E T T B E W E R B UM P U B L I C I T Y "
Die Landung der Alliierten an den Stränden und Küsten der Normandie war geprägt von der Erfahrung von Chaos und Gewalt, die unter anderem auch Überleben bedeuten kann. Die Landung war gleichzeitig gekennzeichnet durch die Anwesenheit von Journalisten und Photographen, die für eine andere Art des Weiter- oder Überlebens sorgten. Allzu oft hatte es denn auch den Anschein, als würden die Schlachten vor allem für letztere geschlagen - eine Tatsache, die offenbar zumindest General Omar Bradley Anlaß zur Sorge war. Wie es später in einem Tagebuch der Armee hieß, hatte er „unmißverständliche Worte über Divisionen und Kommandeure zu sagen (...), die den Krieg ausschließlich für die Schlagzeilen zu führen schienen. Dieser Wettbewerb um gute Publicity, so meinte er zu General Collins, müsse unbedingt aufhören."2 Aber was wäre die Schlacht um die Normandie, was wäre die Invasion am D-Day ohne diesen Wettbewerb gewesen, dieses unpassende, ja parasitäre Verlangen, Menschenleben zu opfern oder für nichts anderes als Worte und Bilder zu überleben, für die unscharfen, überbelichteten Bilder einer Publicity, die immerhin einen Krieg mit der dazu notwendigen Herstellung eines allgemeinen Konsenses und kollektiver Erinnerung von rein privaten Auseinandersetzungen abgrenzen sollte? Was bedeutet es, wenn man nicht um einen Hügel oder eine Stadt kämpft, sondern für eine Schlagzeile oder ein Photo? - Nichts Geringeres als Krieg selbst; das Bemühen, nicht nur andere zu töten und gefangen zu nehmen, sondern ein Volk, eine Nation zu definieren und zu bestimmen, etwas zu markieren, einzuprägen, darzustellen, neue Grenzen zu ziehen und weiter zu leben, um im Lichte eines neuen Tages wieder zu kämpfen. Diese Gewalt die der Schlachten und die der Publicity - ist irreduzibel. Dabei ist es durchaus nicht so, daß man die Kriegsfiihrung einfach dafür kritisieren oder davor bewahren könnte, in eine Publicityfalle zu tappen. Paul Virilio verdanken wir die Erkenntnis, daß der Krieg nichts anderes als diese Logistik der Wahrnehmung ist: „Die MakroKinematographie der Luftaufklärung, das Kabelfernsehen des Rundsuch-Radars und die Zeitlupe sowie der Zeitraffer bei der Analyse einzelner Phasen einer militärischen Operation machten den 2
Max H A S T I N G S :
Overlord: D-Day
and the Battiefor
Normandy,
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New York 1984, S. 162.
Krieg als Wahrnehmun
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Schlachtplan zum Zeichentrickfilm, zu einem Flußdiagramm. Der Teppich von Bayeux, der an sich den modellhaften Charakter eines prä-cineastischen Feldzugs besitzt, nahm in der Darstellung der normannischen Landung den 'Längsten Tag7 am 6. Juni 1944 bereits vorweg."3 Unter den Soldaten, die die Invasion mit einer oft traumatisieren¿ e n Direktheit erlebten, breitete sich gleichzeitig ein irritierendes Gefühl von Distanz aus; sie machten eine nahezu touristische Erfahrung der Fremde aus der Perspektive eines Zuschauers. In seiner Zusammenfassung der Berichte britischer Soldaten, die am Morgen des sechsten Juni in der Normandie gelandet waren, berichtet Max Hastings von einem Soldaten, einem „von Tausenden (...), die die Luftlandung als Augenzeugen verfolgt hatten. Er und die anderen, die die letzten Meter bis zum Strand schwimmend hatten zurücklegen müssen, hatten sich um die Panzerabwehrgeschütze herum eingegraben und versuchten nun, ihre Stiefel zu trocknen (...). Es war das erste Mal, daß er und die anderen Männer den Fuß auf fremden Boden gesetzt hatten. Es war eine sehr merkwürdige Erfahrung."4 Bereits der Umstand, zum ersten Mal Füße und Stiefel auf französische Erde zu setzen, bedeutete, überlebt zu haben - nicht nur viele andere Soldaten, sondern auch alle Erwartungen. Er markierte einen neuen Anfang, ein neues Sehen von etwas Fremdem. Andere Soldaten, die gekämpft hatten und in den Landungsbooten an der Seite ihrer sterbenden Kameraden verletzt worden waren, hatten Sterben, Lärm und Verstümmelung in einem noch nie dagewesenen Ausmaß erlebt; sie sammelten sich später an ruhigen Treffpunkten im Landesinneren. Sie hatten Schreckliches durchgemacht, schreibt Hastings, „und doch konnte nichts die Heiterkeit der Überlebenden dämpfen, die nun wie staunende Touristen auf dem Boden saßen, der ihnen im Verlauf von vier langen Jahren so fremd und geheimnisvoll geworden war, wie die Rückseite des Mondes."5 Allein die Tatsache, daß sie überlebt hatten, war Grund zum Staunen und ließ das eroberte Territorium gleichsam qua definitionem fremd erscheinen. Die Erfahrung, dort angekommen zu sein, war für sie in höchstem Maße rätselhaft. 3
Paul VlRILlO: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung, Frankfurt a.M. 1994, S. 174.
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HASTINGS:
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Ebd.,S. llOf.
Overlord, S.
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Es gibt grundsätzlich zwei Kategorien von Menschen, die sich auf Schlachtfeldern aufhalten: Soldaten und Journalisten. Sie wissen um die Erfahrung des Unbekannten und Fremden als eine Erfahrung des erstaunten, starren Blickes - etwas, das man aufschreibt und für die Zukunft bewahrt. Wenn die Schlacht um diese Strände später als der „längste Tag* bezeichnet wurde, so war zumindest einer der Faktoren, die ihn so lange haben dauern lassen, das Licht eines anderen Tages: die Blitzlichter der Photographen und die riesigen Scheinwerfer, die den Kameras und den Fallschirmspringern den Weg wiesen. Sie bedeuten das glänzende Äußere eben jenes Konkurrenzkampfes um Publicity, der nie ein Ende findet. REISEN IST EIN VORGESCHMACK AUF DIE H Ö L L E (MITTELASIATISCHES SPRICHWORT)
„Tourisme de guerre" (Kriegstourismus) nannte es Le Monde Diplomatique.6 „Ferien in der Hölle" hieß eine Titelgeschichte in Time in der heißen Zeit Mitte August 1992.7 Beide Zeitschriften berichteten unter anderem über die Pläne eines italienischen Reiseveranstalters namens Massimo Beyerle, der seinen Kunden unter der Bezeichnung „October War Zone Tour" eine Reise in die „Randgebiete der Front" anbot. Für den Betrag von 25.000 US-Dollar sollten bis zu einem „Dutzend Verrückte", wie Beyerle sich ausdrückte, in der Begleitung von Ärzten und Sicherheitskräften zwei Wochen in einem Kriegsgebiet verbringen können, anstatt mit eigenen Schußwaffen jedoch ausschließlich mit Photoapparaten bewaffnet. Beyerle, der schon Reisen nach Somalia und in die frühere Sowjetunion geplant hatte, pries seine Kriegsreisen als eine besondere Art der Rückkehr an Orte an, die man schon mit fremden Augen bzw. durch fremde Objektive gesehen habe. Die Reisen sollten dorthin fuhren, „wo die Kämpfe gerade aufgehört haben, wie im südlichen Libanon, in Dubrovnik oder Vukovar; so nahe wie möglich an jene Schauplätze des Geschehens heran, die in den Nachrichtensendungen des Fernsehens gezeigt werden, damit unsere Kunden die Menschen dort sehen und sprechen
6
I(gnacio) R ( A M O N E T ) : Tourisme de guerre. In: Le Monde Diplomatique 473 vom August 1993, S. 9. Der Artikel basiert auf: Karmentxu M A R Í N : Estas vacaciones, a la guerra. In: El Pais vom 30. Januar 1993, S. 52.
7
Lisa BEYER: Holiday in Hell. In: Time Nr. 8 vom 23. August 1993, S. SOf.
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Todesgefahr als Gütesiegel der Authentizität
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und sich mit eigenen Augen ein Bild von der Zerstörung machen können, die der Krieg angerichtet hat." „So nahe wie möglich" schließt eine gewisse Unmittelbarkeit ein, die der Reiseführer mit dem Hinweis auf drohende Risiken auch bewußt unterstreicht: „Gefährliche Situationen können nicht ausgeschlossen werden." Das touristische Verlangen nach eben dieser Unmittelbarkeit, der Wunsch, nichts Geringerem als der Geschichte selbst zu begegnen - wenn schon nicht zeitlich, so doch zumindest räumlich - , wird durch das Risiko des eigenen Todes auf eine harte Probe gestellt und erhält dadurch zugleich das Gütesiegel der Authentizität. Dabei scheint es aber, als ob dieses Risiko seinen vollen Reiz nur vor dem Hintergrund einer alltäglichen Erfahrung mit den immer gleichen Bildern der täglichen und nächtlichen Nachrichtensendungen im Fernsehen entfaltet. In der Tat ging es um wahrhaft gefährliche Situationen, über die in den Medien genau berichtet worden war. Ein Besuch in Moskau oder Mogadischu am dritten Oktober 1993, dem im Reiseprogramm vorgesehenen D-Day, hätte alle diese Wünsche zweifellos in höchstem Maße befriedigt. Aber diejenigen, die an den Reisezielen des Kriegstourismus an diesem Tag wirklich sterben mußten, taten das unter „den wachsamen Blicken der Live-Kameras", wie ein Fernsehkritiker angesichts der „brutal-realistischen" CNN-Berichterstattung über die Kämpfe in Moskau äußerte. „Realistisch" nannte er sie, weil „es sich dabei um Fernsehen in Echtzeit handelte, das als solches viel reizvoller wirkt." Selbst wenn nur die „Ruhe vor dem Sturm" live übertragen wird, so wird durch das Warten garantiert, daß die Gewalt wirklich „in dem Augenblick, in dem sie losbricht" gezeigt wird. 8 Während die
8
Tom SHALES: Waiting and Watching: C N N in Moscow. In: The Washington
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Post vom 5. Oktober 1993, S. C l .
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zeitliche Dimension also „real" ist, bleibt die Wirklichkeit in sicherer Entfernung. Das Fernsehen ist stellvertretend für seine Zuschauer „vor Ort" und macht deren Abwesenheit wett, so daß es, wo es dem Zuschauer Wirklichkeit bieten sollte, offenbar ein immer stärkeres Bedürfnis nach Unmittelbarkeit erzeugt. Das Fernsehen wird vor allem bei den sogenannten Live-Übertragungen durch die Präsenz von Gewalt, Waffen und Tod gekennzeichnet und läßt sich die Authentizität seines Bezuges zur Realität durch die Leuchtspurgeschosse, die Flammen, das Blutvergießen und die Leichen des „echten Krieges" bestätigen. Indem es die Distanz zum Geschehen überbrückt und in der vermeintlichen Unmittelbarkeit des „Live-unddirekt-Dabeiseins" aufhebt, sollte das Fernsehen den Tourismus eigentlich zu einem Anachronismus werden lassen. Aber offenbar verlangt die Eigenheit des Mediums Fernsehen ihrerseits wieder nach einer Beglaubigung durch den tatsächlichen Besuch vor Ort, um nicht nur einfach etwas zu sehen, sondern um es mit eigenen Augen zu sehen, gewissermaßen um sich selbst sehen zu sehen. In der Tat möchte der Reiseveranstalter uns glauben machen, daß Fernsehen 7 R al das Fernsehen den Tourismus nicht wie einen Konkurrenten aus- "Z * f Thing sticht, sondern ihm im Gegenteil eine neue Daseinsberechtigung verleiht. Lisa Beyer schließt ihren Artikel in Time mit dem Versprechen: „Richtig aufgezogen, ist diese Art zu reisen kein 'Vorgeschmack auf die Hölle'. Sie ist die Sache an sich (the real thing)\a Zunächst bezeugt das Bild die Gewalt des Krieges, sodann bietet die Reise Gelegenheit zur Überprüfung dessen, was zunächst immer ein rückblickendes Bild geblieben war. Einmal vor Ort, am Schauplatz des Geschehens, läßt sich die Wirklichkeit ihrerseits erneut mit der Kamera oder dem Camcorder festhalten. Dazu CNN am 16. Oktober 1993: „Nach der politischen Krise sieht sich das russische Weiße Haus jetzt einem neuen Angriff ausgesetzt. Statt der Soldaten mit Gewehren sind es diesmal die Touristen mit ihren Photoapparaten, die das Schießen übernehmen." Mit unregelmäßigen Schwankungen verdrängen die beiden Diskurse der Präsentation dessen, was alles „live" und in „Echtzeit" von anderswo übertragen wird, einander in einem endlosen Konkurrenzkampf: der längste Tag, oder auch die längste Nacht des Realen. Im Geiste des Coca Cola-Werbeslogans (kein Abstand, keine Verzögerung, einfach nur die Echtheit der Sache [The Real Thing],
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und
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aber natürlich ohne Risiko) siedeln sich sich Tourismus und Fernsehen im Umkreis des Wirklichkeitstestes an, den der Krieg bedeutet - ein Krieg, der am Ende dieses Jahrhunderts nicht mehr ohne das blendende Licht des Laser-Zielsuchgeräts und der Videokamera auskommt. „ W I R SIND TAKTISCHE TRUPPEN!"
Wie berichtet wurde, soll einer der Marinesoldaten des amerikanischen muuZer^ SEAL-Teams9 bei der Landung am Strand von Mogadischu diesen Satz dem Berichterstatter des CBS und dessen Kamerateam immer wieder zugerufen haben, die in den frühen Morgenstunden des neunten Dezember 1992 dort auf die Soldaten warteten. Während dieser Satz vielleicht den gleichen Zweck wie die Aufforderung „Keine Blitzlichter!" verfolgte, die ein anderer SEAL-Soldat einem amerikanischen Reporter entgegenrief, der es geschafft hatte, in die unmittelbare Nähe des Geschehens vorzudringen, so erlaubt uns der bezeichnende Ausruf „Wir sind taktische Truppen!" hingegen, eine Hypothese über eine neue Form der Arbeitsteilung innerhalb des Militärs zu formulieren: Taktische Truppen und strategische Kameras. Die Zeitschrift Armed Forces Journal International berichtete im Januar 1993, der Einsatzleiter der amerikanischen Streitkräfte in Europa sei zu dem Schluß gekommen, „daß die umfassende Berichterstattung durch die Medien die Art und Weise verändert hat, mit der die Streitkräfte bei ihren Operationen vorgehen."10 Die moderne Militärstrategie zählte heute die Anwesenheit der Photo- und Fernsehkameras, das grelle Aufflammen der Blitzlichter und das grüne Schimmern der Nachtsichtgeräte zu den unverzichtbaren Bestandteilen bewaffneter Operationen. Das war während des sorgfältig geplanten Krieges gegen den Irak noch nicht deutlich erkennbar, am Strand von Somalia hingegen wurde es überdeutlich. Die Strategie des U.S.-Militärs in Somalia war von Anfang an darauf ausgerichtet, Bilder zu produzieren, und den massiven Bewegungen von Truppen und Waffen im Strategische
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SEAL steht fur Sea, AIT and Land-Teams. See- und Luftlandetruppen (Anm. d. Red.).
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Konteradmiral David E. Frost, sinngemäß zitiert nach John G. R o OS-.Joint Task Forces: Mix 'n Match Solutions to Crisis Response. In \ Armed Forces Journal International 6 (Januar 1993), S. 36.
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Dezember kam im Zusammenhang mit dieser Strategie taktische Bedeutung zu. Wenn es dem Fernsehen nun also keinesfalls gelungen ist, den Tourismus abzuschaffen, sondern im Gegenteil ihn als eine genauere und merkwürdigere Überprüfung der Wirklichkeit, die stets einen persönlichen Besuch erfordert, sogar noch provoziert, was passiert dann, wenn die Wirklichkeit des Krieges, den man vielleicht besuchen könnte, selbst schon wie eine Touristenreise geplant und organisiert wird? In dem Maße, wie das Fernsehen den Krieg selber bewirkt, scheint sich diese Struktur auf geradezu schwindelerregende Weise immer wieder sich selbst zu involvieren: Fernsehen, betrieben als Tourismus im Krieg, oder Krieg, betrieben als Tourismus im Fernsehen. Was gäbe es im Mogadischu nach der Operation Restore Hope, in dieser Stadt aus Bildern von Zerstörung und Überleben, noch mit eigenen Augen zu sehen? Von der Lieferung eines Vorwandes zur Intervention in Gestalt vorhersehbarer Bilder von Hunger und Bürgerkrieg, von technischen Beratern und khat11 - , über die bis zum Überdruß angebotene LiveBerichterstattung von der Landung sowie den regelmäßig inszenierten Foto-Terminen, deren Höhepunkte der Neujahrsbesuch von Präsident Bush und schließlich der Empfang der zurückgekehrten Truppen durch Präsident Clinton im Weißen Haus im Frühjahr darstellten, bis hin zur allmählichen Auflösung der UNO-Truppen im Sommer und Herbst - , immer standen Planung, Durchführung und Auswertung des Somalia-Einsatzes bei allen Beteiligten ganz im Zeichen der Überlegung, welchen Publicity-Wert die Bilder und Schlagzeilen haben würden. Die umfassende Berichterstattung durch die Medien hat also 11
Khat ist eine in Somalia beheimatete Pflanze, deren Saft eine dem Kaffee vegleichbare belebende Wirkung zeigt. Die Blätter und Stengel der Pflanze werden gekaut (Anm. d. Red.).
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Krieg als Fern-
sehtounsmus
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besten dezeit?
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nicht nur eine Veränderung im Hinblick auf die Durchführung militärischer Operationen bewirkt; Bilder und Publicity sind selbst zu militärischen Operationen geworden, und das militärische Resultat der Operation läßt sich auf den ersten Blick nicht von den Bildern unterscheiden, die bei dieser Operation geschossen •^MMHMI wurden. Bei der gesamten Mission in Somalia ging es letztlich um die Produktion von Bildern: Die Washington Post betitelte ihren Bericht von der Landung treffend mit „umfassend publizierte militärische Operation", wobei sich weder zwischen den einzelnen Adjektiven noch zwischen den Adjektiven und ihrem Substantiv ein Unterschied feststellen läßt. 12 Als das erste sechsköpfige SEAL-Team „beim Schein des Vollmonds ungehindert den feuchtheißen Strand des Indischen Ozeans erreichte", wurden die Soldaten nicht von bewaffneten Somalis erwartet, sondern „von einem amerikanischen Pressephotographen - einem von mehreren Dutzend, die dort am Strand in der Nähe des Flughafens von Mogadischu kampierten." Dies berichtete Jane Perlez, die selbst vor Ort war, am nächsten Morgen auf der Titelseite der New York Times. Zu diesem Zeitpunkt schien die Nachricht allerdings längst veraltet. 1 3 Bereits am Morgen zuvor war die Landung auf der Titelseite von USA Today angekündigt worden - mit dem Aufmacher „Landung per Fernseher" und der Überschrift „Landung in Somalia wird live übertragen." Gleichzeitig hatten mehr als 600 Angehörige des internationalen Pressekorps, darunter die Anchors der vier großen amerikanischen Fernsehgesellschaften, bereits in Mogadischu Position bezogen, um die ohne jeden Widerstand durchgeführte Operation in „Echtzeit" zu übertragen. 14 Die ersten Soldaten wateten 12
John L a n c a s t f . r : A Well-Publicized Military Operation. In: The Washington Post vom 9. Dezember 1992, S.A1.
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Jane P E R L E Z : U.S. Forces Arrive in Somalia on Mission to Aid the Starving. In: The New York Times vom 9. D e zember 1992, S. A I .
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ungefähr um 4.20 Uhr Eastern Time an Land, etwas früher als im Zeitplan vorgesehen (USA Today hatte angekündigt: „NBC und CNN werden die geplante Landung um 22.00 Uhr Eastern Time/19.00 Uhr Pacific Time live übertragen"), aber dieses Timing kam der Präsentation der laufenden Aktion in den Nachrichten und während des gesamten Abendprogramms zugute. Schließlich war es lange her, daß die amerikanischen Marines Gelegenheit gehabt hatten, bei einem ernsten militärischen Einsatz an einer fremden Küste zu landen. Vor allem bei den Aktionen in Kuwait und gegen den Irak hatte man ihnen diese Chance verwehrt. Michael Gordon von der New York Times berichtete also am Tag nach der Landung nur, was ohnehin offenkundig war, nämlich, daß Kameras und Scheinwerfer einfach deshalb schon am Strand postiert waren, weil das Pentagon die großen Networks dorthin bestellt hatte. „Die ganze Woche hindurch hatte das Pentagon für die Presseberichterstattung über die Landung der Marines geworben. Den Reportern wurde mitgeteilt, wann die Landung stattfinden würde, und einige Korrespondenten der großen Gesellschaften wurden diskret darüber informiert, wo genau die Marines landen würden, damit sie ihre Fernsehkameras in Stellung bringen konnten (...). Aber nachdem sie sich der flüchtigen Blitzlichter versichert hatten, ging den Marines auf, daß es doch wohl des Guten zuviel gewesen war."15 Das eigentliche Problem bestand weder in dem möglichen taktischen Nachteil der Nachtblindheit, noch in der angeblichen Gefahr, Live über. die militärischen Stellungen zu verraten, sondern darin, daß die trägem LiveÜbertragung
Bilder gerade durch den Einsatz der Scheinwerfer, der sie doch erst möglich machte, überbelichtet und zu grell wirkten. Die Marines waren gezielt dort gelandet, wo, wie sie sehr wohl wußten, die Fernsehkameras aufgebaut waren. Das bedeutete jedoch nicht, daß die Invasion nur ein Phototermin oder eine für das Fernsehen arrangierte Scheinaktion gewesen wäre. Die vom Fernsehen übertragene Landung wurde ja gerade erst im wahren Sinne eine militärische Operation, weil sie vom Fernsehen übertragen wurde. Der einzige Haken an 14
Jessica L E E : Somalia Landing Hours Away. In: USA Today vom 8. Dezember 1992, S. A I ; Brian DONLON: Somalia Landing Airs Live. In: Ebd., S. D3.
15
Michael R. G o R D o N: T V Army on the Beach Took U.S. by Surprise. In: The New York Times vom 10. Dezember 1992, S. A18.
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der Sache bestand darin, daß das Fernsehen das Fernsehen behinderte. „Des Guten zuviel" bedeutet in diesem Zusammenhang nichts anderes als „zuviel Licht", bedeutet, daß die Szene gerade durch die zu ihrer Realisierung notwendigen Voraussetzungen gestört wurde. Das grelle Licht der Scheinwerfer - die Times sprach von „too bright a light" - ließ den betriebenen Publicity-Aufwand offenbar werden, so daß es sich nicht mehr um die Live-Übertragung der Landung, sondern um die Live-Übertragung einer Live-Übertragung handelte. Wo also landeten die Marines wirklich? Am Strand von Mogadischu F e r n s e h e n und auf den Titelseiten der Zeitungen? Wer Q(jer besucht nun eigentlich wen? In ihrem Bericht vom Flughafen in Mogadischu - per Nachtsichtgerät immer in Sichtweite der Landenden - schilderte die CNN-Korrespondentin Christiane Amanpour an jenem Morgen mit knappen Worten die Geschehnisse: „Es war ein klassisches Medien-Ereignis - grelle Blitzlichter - Journalisten, die verzweifelt versuchten, den Marines ein paar Fragen zu stellen." Die Marines („Wir sind im Einsatz!") schienen durchaus bereit, sich photographieren zu lassen, wirkten aber weniger begeistert, als sie am Strand Interviews geben sollten. Deshalb kam wenige Minuten nach der ersten Landungswelle ein Sprecher der Marines „in einem Schlauchboot" - wie er auf Nachfrage erklärte - an Land, um sich den Medien zum Interview zu stellen. Die Reporter fragten Leutnant Kirk Coker viel weniger nach der Landung selbst als nach ihrem Schauplatz und danach, was sie denn im Augenblick hier alle gerade machten. Schon wenige Minuten später sendete CNN die folgende Aufzeichnung: Frage: Sir, finden Sie es nicht ziemlich bizarr, daß alle diese Journalisten hier herumstehen, während... Antwort: Ja, allerdings, und ihr Jungs habt uns den hübschen kleinen Sturmangriff ganz schön verdorben. Wir wollten landen, ohne daß jemand davon wußte.
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Frage: Es war doch keine Überraschung, daß wir hier waren... Antwort: Nun, das wußten wir natürlich schon. Frage: Und verläuft soweit alles nach Plan, Sir? Antwort: Im Augenblick scheint alles ganz gut zu laufen. Wir werden nicht angegriffen, und ich stehe hier ganz ruhig und spreche mit Ihnen.16 Die Operation Restore Hope - das war für niemanden eine Überraschung - geriet zu einer Schlacht um Bilder und blieb es auch. Die verpatzten Aufnahmen der SEAL- und MRU-Landungen17 im Mondlicht machten innerhalb weniger Stunden Bildern von eleganten Luftkissenbooten und Hubschraubern Platz und wurden später durch Bilder von Lebensmittelkonvois, dankbaren Kindern, dem amerikanischen Präsidenten, reichen Ernten, immer neuen eleganten Landungen an anderen Stränden und Waffensuchaktionen ersetzt - ja, sogar von Marines, die sich in Shorts und mit Sonnenöl auf denselben Stränden entspannten, bei deren siegreicher Eroberung sie gefilmt worden waren.18 Daß die Hungersnot zum Zeitpunkt ihrer Ankunft so gut wie überwunden war, daß die nachfolgenden Landungen taktisch nicht notwendig gewesen wären, daß bei den Waffensuchaktionen nur sehr wenige Waffen gefunden wurden und daß die politische Arbeit der nationalen Versöhnung gerade erst begonnen hatte - all dies ist wichtig, aber fast bedeutungslos für das entscheidende Merkmal dieser Aktion: Sie hatte keine Tiefe. Es war eine Aktion, die sich nur an 16
CNN am 8. Dezember 1992.
17
M R U steht für Marine Reconnaissance f/nit, Pionier- und Aufklärungseinheit (Anm. d. Red.).
18
Edward P i L KL N GTO N: Shots that Shook the World. In: The Guardian (Manchester) vom 11. Oktober 1993; Storer ROWLEY: Somalia Press Invasion Becomes Part of the Story. In: Africa News, 8.-21. März 1993, S. 4; Joshua HAMMER: Somalia: The G I Blues. In: Newsweek vom 15. März 1993, S. 51; Jane P E R L E Z: Gunmen, $ 150 a Day. In: The New York Times Magazine vom 24. Januar 1993, S. 54, und der Leserbrief von Eric OBER vom 14. Februar 1993, S. 10; James BARRON: Live, and in Great Numbers. Its Somalia Tonight with Tom, Ted, and Dan. In: The New York Times vom 9. Dezember 1992, S. A17; Diana Jean SCHEMO: U.S. Outfit Tries to Clean Out a Somali Town. In: The New York Times vom 31. Januar 1993, S. 14; Jane PERLEZ: Bush Sees Victims of Somali Famine. In: The New York Times vom 1. Januar 1993, S. A I ; GORDON: TV Army on the Beach; Tom SHALES: Televisions Beachhead in Somalia. In: The Washington Post vom 9. Dezember 1992, S. C I .
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der Oberfläche abspielte. Man braucht die Bilder, die die Aktion hervorbrachte, nicht zu betrachten, als verberge sich hinter ihnen irgendeine geheime geostrategische Absicht oder ein Plan. Die Tagesordnung und die Strategie waren Metaphorik: „Die Verbreitung und Dokumentation eines neuen Images für einen militärisch-ästhetischen Komplex, dem erst kürzlich das für ihn unerläßliche Feindbild abhanden gekommen war." In diesem Sinne konnte die Operation kaum fehlschlagen. So lange eine bewaffnete Konfrontation weitgehend vermieden wurde, sei es durch Verhandlungen, sei es durch das Aufgebot einer übermächtigen militärischen Feuerkraft (die sogenannte Powell-Doktrin), die dafür bürgte, daß es nur auf Seiten der Somalis Opfer geben würde - so lange war jede Publicity gute Publicity, und in jeder Nachrichtenmeldung konnte man immer wieder den Erfolg der Mission verkünden. Kämpfe und Verlockungen
Ein Kampf, der um Bilder und Schlagzeilen geführt wurde: das ist keine Kritik mehr, sondern schon eine Mission. Ging es um einen Krieg, der wie eine touristische Unternehmung durchgeführt wurde, oder um Tourismus, der wie ein Krieg organisiert war? Wir sollten zweimal überlegen, ob wir von den Soldaten verlangen sollen, sich auf „echte" Kämpfe zu beschränken und der Verlockung der Scheinwerfer zu widerstehen. Es wird immer schwieriger, zwischen dem Krieg und dem Fernsehen, das auf prekäre Weise stets dem Sightseeing verbunden bleibt, zu unterscheiden. Es genügt heutzutage wohl kaum, sich dem einen im Namen des anderen entgegenzustellen. Was aber ist schiefgelaufen? Es scheint, als ob jemand vergessen habe, daß es um Fernsehen ging; vielleicht wollten die Militärs oder die UN aber auch nur endlich eine neue Art von Bildern ausprobieren. Im Mai kehrten die amerikanischen Truppen aus Somalia zurück und wurden, angeführt von ihrem Kommandeur, auf dem Rasen des
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Weißen Hauses von Bill Clinton empfangen. So fand die Operation, die mit einem Fototermin begonnen hatte, ihren offiziellen Abschluß ebenfalls mit einem Medienereignis. Der entscheidende Indikator für den Übergang von der Operation Restore Hope zu der Aktion UNOSOM II, wie die Operation der nach Somalia entsandten UNO-Truppen hieß, war der Umfang der Medien-Kampagne in Mogadischu. „Anders als sein Vorgänger, Leutnant Fred Peck vom U.S. Marine Corps, der über ein dreißig Mann starkes Team verfügte, kommt Major (David) Stockwell, der für UNOSOM II zuständige Militärsprecher, mit einem einzigen Assistenten aus, der nicht ermächtigt ist, Informationen weiterzugeben." 19 Die Situation wurde erst problematisch, als die Mission zwar weniger von ihren sogenannten humanitären Ausgangsüberlegungen, jedoch mehr von ihrer angestrebten Publicity abkam und sich zu einer überbewaffneten und gleichzeitig unterverteidigten UNO-Operation gegen die SNA, die Somalische Nationale Abgesagte Allianz („des flüchtigen Warlords Aidid"), wandelte, also in einem Mo- Fototermine ment, als das Militär anfing, sich mehr um den Gebrauch seiner Schußwaffen als um das Schießen von Bildern zu kümmern. Die meisten westlichen Journalisten waren nach dem Ende der Operation Restore Hope abgereist, und schon wenig später mußten in Somalia wieder Hunderte von Zivilisten sterben; diesmal allerdings nicht vor Hunger, sondern von der Hand jener Truppen, die doch eigentlich zu ihrer Rettung geschickt worden waren. Aufgrund der zunehmend blutigeren Auseinandersetzungen zwischen den Streitkräften der SNA und der UNO kehrten die amerikanischen Reporter Mitte des Sommers wieder zurück - vor allem, nachdem die USA ihre Absicht verkündet hatten, modernste High-Tech-Kampfhubschrauber gegen Aidid einzusetzen, und dann deren Einsatz so lange hinauszögerten, 19
Donatella LORCH: Safety Concerns Limit the Ability of Reporters to Work in Somalia. In: The New York Times vom 7. Oktober 1993, S. A l l .
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bis die Fernsehkorrespondenten vor Ort waren und sich eingerichtet hatten. Trotzdem waren die beiden Stories von der erfolglosen Suche nach Aidid und der zunehmenden Zahl der Opfer unter der somalischen Zivilbevölkerung für das Fernsehen nur eine begrenzte Zeit von Interesse. Für die UNO bestand das Problem nicht darin, daß die Reporter abgereist waren, sondern darin, daß sie mit ihrem erklärten Ziel, Aidid zu ergreifen, die Erwartungen der Medien viel zu hoch geschraubt hatten und dann nicht in der Lage waren, die entsprechenden Phototermine zu bieten. Der verlorene PublicityKrieg
Als die amerikanischen Fernsehstars erneut abreisten und das Militär die Möglichkeit besaß, den Kampf auf eine weniger telegene/photogene Weise zu führen, wurden die Bilder, die dabei herauskamen, immer schlechter. Die Medienoffensive UNOSOM II verlor sich selbst aus dem Blickfeld. Die Logik der Strategie der UNO-Truppen wurde nicht länger vom Wettbewerb um Publicity beherrscht, und folgerichtig bestimmte nun die SNA die Bilder des Tages. Schließlich mußte der für die Somaliapolitik zuständige Koordinator des amerikanischen Außenministeriums einräumen, daß das, was er ganz offen und zutreffend als „Public Relations-Krieg" bezeichnete, verloren war und daß ,Aidid ihn wahrscheinlich gewonnen" hatte. 20 Die in Mogadischu verbliebenen Journalisten profitierten von der harten Arbeit der SNA-eigenen Presseleute und berichteten ausgiebig, besonders als sich im August die Feuergefechte zwischen UNO-Truppen und Somalis immer mehr häuften. 21 Schon bald kommentierte der UNU.S.Troops to Remain in Somalia. In: The Washington Post vom 11.
20
David Shinn, zitiert nach Daniel August 1993, S. A I und A16.
21
Keith B. R l C H B U R G : U.S. Patrol Clasheswith Somalis at Rally. In: The Washington Post vom 13. August 1993, S. A27. In seinem Artikel „Somalis Seek Trade for U.S. Captive" in der Washington Post vom 7. Oktober 1993, S. A39, zitiert Richburg die Erklärung des offiziellen Sprechers der SNA in Nairobi, Husein Dhimble. In ihr entschuldigte dieser sich fiir den Angriff auf Journalisten im Juli in Mogadischu: „Wir haben ein einziges M a l einen Fehler gemacht. W i r werden ihn nicht wiederholen." Er erklärte, die Anwesenheit von Journalisten in Mogadischu sei „unser Sprachrohr zur Welt".
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Pressesprecher in Mogadischu nur noch die Videoaufnahmen, die alle Beteiligten längst gesehen hatten. „Ich weiß, daß ihr Jungs das alles schon auf Band habt", soll er eines Tages „auf dem Weg zum Podium leise" geäußert haben, 22 und sprach von den Vorteilen, welche die Anwesenheit des Fernsehens seinen Gegnern verschaffe, und von deren erfolgreichen Versuchen, „die Ereignisse zu verdrehen." Stockwell erklärte einem Reporter gegenüber: „Wenn CNN 'live' oder zumindest so schnell über UNOSOM berichtete, daß wir mithalten konnten was dem Ganzen eine gewisse Unausgewogenheit des Blickwinkels verlieh, dann veranlaßte mich das zu der Frage: 'Ist das hier die Tet-Offensive?'" 23 Hinzu kam, daß die Soldaten und die zivilen Mitarbeiter offenbar jeden Sinn f ü r Kooperation verloren hatten, der doch für ihre anfanglichen Begegnungen mit den Journalisten so charakteristisch gewesen war. Wer etwa hätte voraussehen können, daß die amerikanischen Truppen eines Tages nicht auf Somalis schießen würden, sondern stattdessen auf Pressefotographen? Tatsächlich berichtete CNN Mitte September 1993 im Zusammenhang mit einem Einsatz gegen den flüchtigen General Aidid: „Soldaten schleuderten aus einem Hubschrauber Stun-Granaten auf drei Photographen und Reporter. Ein Militärsprecher sagte, die Soldaten hätten nur versucht, die Journalisten von der militärischen Operation fernzuhalten, um ihre Sicherheit zu gewährleisten, aber einer der Photographen behauptet, die Soldaten hätten ihn davon abhalten wollen zu photographieren, wie sie ihren Hubschrauber einsetzten, um die Menschen von der
22
Michael M A R E N : The Tale of the Tape. In -.The Village Voice vom 24. August 1993, S. 23.
23
Keith B. R1C H ß U RG : Aideed's Urban War, Propaganda Victories Echo Vietnam. In: The Washington Post vom 6. Oktober 1993, S. A12.
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Wiedererwachtes Interesse
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Straße zu jagen." 24 Zum Beweis für diese Behauptung wurde eine in der Tat gut belichtete Photographie vorgelegt - ein bemerkenswerter Schnappschuß aus einem Kampfgebiet! Als das Pentagon im September, noch ganz unter dem Schock der Aufnahmen von getöteten amerikanischen Soldaten in Mogadischu, seine Strategie und sein Image in Somalia zu verändern begann, liefen seine Maßnahmen letztlich darauf hinaus, sowohl General Aidid als auch den gegen ihn gerichteten militärischen Anstrengungen weniger Gewicht beizumessen und den politischen Prozeß wieder stärker in den Vordergrund zu rücken. Die New York Times formulierte dieses wiedererwachte Interesse an der Politik in einem Untertitel: „US wollen Kombattanten-Image loswerden - Gefangennahme Aidids nicht mehr oberstes Ziel", und der dazugehörige Artikel setzte auseinander, was genau unter dem Begriff „politischer Druck" zu verstehen sei: „Die Vereinigten Staaten sind der Meinung, daß die Vereinten Nationen ihre friedenssichernde Mission in Somalia in einem positiveren Licht darstellen sollten, und drängen darauf, daß die Vereinten Nationen ihren Umgang mit den Medien revidieren, unter anderem (...) durch die Einführung täglicher Pressekonferenzen in Mogadischu." 25 Der Vorschlag bzw. der Druck kam zu spät, um die Operation vor den schrecklichen Bildern am 3. Oktober zu bewahren: Gemeint sind hier nicht die Bilder von den rund dreihundert Somalis, die dem schlimmsten Feuergefecht im Lande seit dem Bürgerkrieg zum Opfer fielen (sehr viele Bilder scheint es von ihnen ohnehin nicht gegeben zu haben), sondern das Video von den toten Amerikanern, die durch die Straßen von Mogadischu geschleift wurden, und von dem einen in Gefangenschaft geratenen überlebenden Amerikaner. Generell fiel die Berichterstattung natürlich sehr karg aus, da mittlerweile nicht mehr sechhundert westliche Presseleute in Mogadischu anwesend waren, sondern nur noch sechs oder acht; auch wartete der Sprecher der UNOSOM mehrere Stunden, bis er offiziell bestätigte, was die ganze Welt bereits auf Video gesehen hatte. Dieses Video
24
25
C N N vom 18. September 1993,17.15 Uhr. Bei dem betreffenden Journalisten soll es sich nach Howard K U R T Z : N o American Journalist Reporting From the Scene. In: The Washington Post vom 6. Oktober 1993, S. A13, um Peter Northall gehandelt haben, einen englischen Photographen der Associated Press. Elaine S c i O L I N O : Pentagon Changes Its Somalia Goals As Effort Falters. In: The Neio York Times vom 28. September 1993, S. A I und A17.
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stammt von keinem westlichen Reporter, sondern ist von einem zurückgelassenen somalischen Fahrer mit einem Hi-8-Camcorder aufgenommen worden, und es wurde diesmal nicht per Satellit übertragen, sondern gelangte mit einem Militärflugzeug nach Nairobi. Das Video war von so brutaler Deutlichkeit, daß schließlich nur sehr wenige Ausschnitte daraus im amerikanischen Fernsehen gezeigt wurden;26 aber das, was CNN davon ausstrahlte, genügte für eine Intervention. Das Ergebnis bestand in einer neuen Aktion, einem neuen Äußeren, einer neuen militärischen Fernsehoperation. Schon eine Woche später befanden sich amerikanische Diplomaten und Tausende von frischen Truppen auf dem Weg nach Mogadischu, und wieder waren über dem Indischen Ozean die Vögel in der Luft. „Wir haben soeben eine Satellitenverbindung mit Christiane in Mogadischu bekommen und werden in wenigen Augenblicken ihre Eindrücke live erfahren."27 Unter Führung des Sonderbeauftragten des amerikanischen Präsidenten für Medienangelegenheiten und mit einer Fülle von Stories und Phototerminen versorgt, berichtete das amerikanische Fernsehen, allen voran CNN, wieder einmal LIVE AUS ... Mogadischu.28 „ D I E R I S I K E N EINER R E I S E IN EIN L A N D IM K R I E G S Z U S T A N D "
Im Oktober 1992, als das internationale Interesse an Somalia einen Höhepunkt erreicht hatte, erschien im Reiseführerprogramm des Verlags Lonely Planet die sechste Auflage des Reiseführers Africa on a Shoestring.29 Das Kapitel über Somalia - an sich schon eine Seltenheit in einem Reiseführer über Afrika und dabei auch noch ungewöhnlich scharfsinnig - enthält die folgenden Hinweise: „Nach der Unabhängigkeit des Landes kamen viele Jahre lang nur wenige Reisende nach Somalia, in erster Linie deshalb, weil Visa nur schwer 26
Richard DOWDOWN:TV Gives Americans Grim Message from Mogadischu. In: TheIndependent (London) vom 7. Oktober 1993.
27
CNN vom 10. Oktober 1993,13.00 Uhr.
28
Douglas J E H L: G.I.'s Pinned Down in Somalia, Not Able, for Most Part, to Patrol. In: The New York Times vom 13. Oktober 1993, S. A10. In diesem Bericht heißt es, der vom Pentagon organisierte Journalistenpool, dem auch Jehl angehörte, sei nach Mogadischu zurückgebracht worden, und zwar von „einem Beamten des Weißen Hauses namens Jeff Eller, Mr. Clintons Beauftragten für Medienangelegenheiten. Mr. Eller habe am Nachmittag dieses Tages gesagt, er sei von David Gergen, dem Berater des Präsidenten, und Mark Gearan, dem Leiter der Kommunikationsabteilung, nach Somalia geschickt worden, um die Entschlossenheit des Weißen Hauses unter Beweis zu stellen, der Presse ein klares Bild von der militärischen Operationen zu geben."
29
Dt. etwa: Billig reisen in Afrika (Anm. d. Red.).
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Business
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Die Nicht-
'de^übrig gebliebenen
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zu bekommen waren und kaum Kommunikationsverbindungen bestanden. Als jedoch nach der Vertreibung der Russen vor einigen Jahren Visa wieder leichter erhältlich wurden, begannen immer mehr Reisende, diese abgelegene Region Afrikas für sich zu entdecken. Seit Ende 1989 wird das Land wieder durch Stammesfehden zerrissen, und die Situation ist heute schlimmer als je zuvor. Es fallt schwer, dieses Land zu besuchen, ohne sich als 'Flüchtlingstourist' zu fühlen. Abgesehen davon sollte man sich ernsthaft die Risiken einer Reise in ein Land im Kriegszustand vor Augen führen."30 Und der Abschnitt über Mogadischu beginnt mit folgender „Warnung": „Infolge des Bürgerkrieges, der immer noch wütet, ist ein Großteil der Stadt zerstört, und viele der hier erwähnten Sehenswürdigkeiten, Hotels und Restaurants existieren vielleicht gar nicht mehr."31 Eine Allegorie für die Zerstörung, das Uberleben und die Auferstehung von Tourismus und Krieg gleichermaßen. Der Reisende begibt sich auf die Suche nach der Geschichte, aber er findet die Geschichte einer Zerstörung und ihrer Folgen. Damit fallen Gefahr und Wunsch zusammen: Man ist auf der Suche nach der Nichtexistenz des Übriggebliebenen, dessen, was es nicht mehr länger gibt, und was doch nicht vollkommen ausgelöscht ist. Aber man darf nicht vergessen, daß es immer mehr als nur eine Allegorie gibt. Mit den Soldaten und Journalisten - diesem besonderen Typus von Touristen, der länger bleibt und regelmäßig abgelöst wird - sind nicht nur erhebliche Mengen von Geld und Waren ins Land gekommen, sondern auch neue Bedürfnisse und ein ganz neuer Lebensstil. So beschrieb ein Reporter seine Rückkehr in die Stadt folgendermaßen: „Ich ging auf die Rückseite des Hangars, wo das grelle Sonnenlicht von den Rümpfen der ausgemusterten MIG-Düsenjäger reflektiert wurde, um mir eine Mitfahrgelegenheit zum Sahafi-Hotel zu suchen, wo die meisten ausländischen Journalisten in Mogadischu wohnen. Sahafi - das somalische Wort für „Journalist" - hatte es 1981, als ich zum letzten Mal hier war, noch nicht gegeben. Es existierte auch im letzten Jahr noch nicht, ehe die Marines kamen. Es ist ein Produkt des Krieges und ein Monument des somalischen Geschäftssinns."32 30
Geoff CROWTH ER u.a .-.Africa on a shoestring, Berkeley, London, Hawthorne *1992, S. 939.
31
Ebd., S. 944.
32
Michael MAREN :The Somalia Experiment. In: The Vtllage Voue vom 28. September 1993, S. 34.
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Wohin kehrte er zurück, wenn nicht an einen merkwürdigen Ort der Zerstörung, an einen Ort, der nicht so ganz existierte - diesmal in einem anderen Sinn? Aus dem Amerikanischen Hans-H. Harbort und Johanna
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von
Bodenstab
CAPUTHER GESPRÄCH ÜBER FORMEN DER
Prof. Prof. Prof. Prof. Prof.
Trabant:
*
Dr. Dr. Dr. Dr. Dr.
WISSENSVERMITTLUNG*
Moshe Barasch (Jerusalem) Kurt W. Forster (Zürich) Thomas Y. Levin (Princeton) Helga Nowotny (Wien) Jürgen Trabant (Berlin), Gesprächsleiter
Bei Kommunikationsvorgängen sind bekanntlich Kommunizierende - ein „Sender", ein „Empfanger" - vorhanden. Es wird etwas kommuniziert, dieses ist das „Wissen". Dieses Wissen wird natürlich mittels Zeichen übermittelt. Eine der grundlegenden Intuitionen der Organisatoren und Teilnehmer der Tagung „Formen der Wissensvermittlung" bestand in dem Gedanken, daß das Medium der Übertragung in unseren Tagen problematisch geworden ist, insbesondere weil das Buch vom Bild und überhaupt von neuen Medien in zunehmenden Maße ersetzt wird. Meine erste Frage soll daher an den Kunsthistoriker als einen Spezialisten des Bildes gehen. Wie sehen Sie, Herr
Auszüge aus einer Diskussion, die der Ostdeutsche Rundfunk Brandenburg Mitte Juli 1994 im Sommerhaus Albert Einsteins in Caputh bei Potsdam aufgezeichnet hat.
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Barasch, den Übergang von der Schrift zum Bild in unserer „Kultur der Wissensvermittlung"? Barasch:
Meines Erachtens muß jedes Studium der Kultur und Kulturgeschichte davon ausgehen, daß eine wichtige Komponente der Kultur die Überlieferung ist. Grob gesprochen besteht Kultur aus Überlieferung und deren kreativer Rezeption. Es gibt dabei keinen absoluten Anfang. Das ist eine sehr weitreichende Behauptung. Doch existiert für sie ein sehr schöner Beleg, nämlich die Aussage großer Kirchenlehrer des Mittelalters, daß die creatio ex nihilo nur für Gott gilt. Alles Menschenwerk ist Geschichte. Ein schlagender Beweis für den Überlieferungscharakter von Kultur ist die Sprache, die ja niemand ganz neu „erfinden" kann. Die Übersetzung von gesprochenen oder gelesenen Texten in Bilder ist so alt wie die Geschichte der Kunst überhaupt. Allerdings hat die Kunst mit Bildern begonnen. Während der Vorgeschichte war das Medium der Bilder sprachlich in dem Sinne, daß es etwas sagen wollte, bevor es die Schrift gab.
Trabant:
Sie sehen also keine neue Qualität in der gegenwärtigen Entwicklung?
Barasch:
Doch gewiß. Ich will nur daraufhinweisen, daß das Phänomen des Hin- und Hergehens vom Wort zum Bild und vom Bild zum Wort nicht nur ein chronologisch altes, sondern ein ganz grundlegendes Problem ist, vor dem keine Periode gefeit ist.
Nowotny: Sicherlich handelt es sich hierbei um sehr alte Kulturtechniken. Doch bin ich überzeugt, daß wir heute an einer neuen Schwelle in der Entwicklung in der Evolution dieser langen Kette von Kulturtechniken stehen, insofern als wir über den Einzug der Computer in Laboratorien und in unsere Alltagswelt mit einer neuen Qualität auch des Bildes als Träger von Wissen und von Informationen kon-
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frontiert werden. Dies führt beispielsweise innerhalb der Wissenschaften dazu, daß sie nicht länger ein Abbild der Natur herstellen wollen, sondern Natur ins Laboratorium hereinholen, sie mit Hilfe der Bilder konstruieren. Wir benützen die Bilder graphemisch, d.h. als Spuren, die bildlich darstellen, um aufzuzeigen, was wir mit Natur machen, wie wir sie im Laboratorium manipulieren. Und dann resultiert die wissenschaftlich-technische Arbeit des Laboratoriums in Form von neuen Artefakten, in Form von neuen Instrumenten, die dann in unser Alltagsleben zurückkehren, unsere Wahrnehmungsfähigkeit und die Weise unseres Lebens, unseres Denkens und natürlich auch unseren Umgang miteinander verändern. Forster:
Zweifellos sind Zeichen und Bilder Versuche, etwas zu fixieren, was seiner Intention nach bewahrt und weitergereicht werden kann und soll. Wenn man heute die Verwendung der Schrift im Vergleich mit den neuen Medien der bildlichen Wiedergabe betrachtet, dann erscheinen die alten Medien der Fixierung eigentümlich labil und kurzlebig. Sie können gelöscht werden, sie können in jeder Art und Weise vor den eigenen Augen verwandelt werden. Sie sind eigentlich aus ihrer statischen Funktion der Bewahrung und Überlieferung heraus- und weitgehend in den Funktionsbereich der Umgestaltung dessen, was bewahrt wird, hinübergezogen worden. Und das findet statt in einer Welt, die aus Dingen besteht - nicht zuletzt künstlich hergestellten Dingen. Zwischen der Welt der Schrift und der Welt des Bildes hat sich gleichsam eine dritte Bühne eröffnet, auf der die Objekte als Chiffren erscheinen können, auf der sie uns Bilder abgeben, die wir wiederum übersetzen und verwandeln können. Die ehedem festen Positionen erweisen sich als ein Ergebnis von Montagen, Manipulationen, Transformationen. Die Frage, wer mit welchen Methoden was überliefert, erhebt sich daher genau in dem Moment, in dem die bisherigen Träger der Überlieferung in einen rapiden Prozeß der eigenen
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technischen und objektiven Verwandlung hineingezogen werden. Man denke beispielsweise an die rapide Veränderung, der die Kommunikationsmedien unterliegen, deren wir uns täglich bedienen. Wer besitzt heute noch alte 78-er Schellackplatten? Die Langspielplatte ist ebenfalls von Tonbändern und CD's überholt worden. Wir beobachten innerhalb von eineinhalb Generationen zwei tiefgreifende Wechsel der Technologie. Nowotny:
Ein schönes Beispiel aus dem Alltagsleben ist natürlich der Fotoapparat. Die jetzt mögliche preiswerte Herstellung von Fotos hat die Wahrnehmung unserer eigenen Biographien verändert. Ein weiteres Beispiel aus dem wissenschaftlich-medizinischen Bereich: Es ist heute möglich, etwa das Gehirn und seine neuronalen Aktivitäten abzubilden. Mittels technischer Artefakte können wir jetzt dieses ansonsten ja abgeschlossene Organ beobachten und daran lernen.
Forster:
Der Fotoapparat ist sicherlich das beste Beispiel, nicht zuletzt deswegen, weil er alle kulturellen Grenzen überspringt. Er kann vor jedem Bauch bequem baumeln, gleichgültig, welchen ethnischen Ursprung dieser hat. Und das tun die Fotoapparate ja auf der ganzen Welt. Es gibt nunmehr eine Universalisierung in der Erzeugung von Informationsaustausch, der bisher von sprachlichen, ethnischen, kulturellen und psychologischen Grenzen durchzogen war.
Trabant:
Tom Levin ist wohl skeptischer gegenüber der gegenwärtig sich verändernden Rolle des Bildes in der Wissensvermittlung; er sieht das weniger dramatisch.
Levin:
Man sollte wie Moshe Barasch von der Sprachlichkeit oder von der Schriftlichkeit des Bildes ausgehen, gerade in einem Zeitalter, in dem Fotografie und andere bildhafte Medien so weit verbreitet sind und das einen Wahr-
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nehmungswandel, eine neue Sehweise hervorgebracht haben. Wir müssen diesen Bildern neue Qualitäten ablesen. Das bedeutet, daß sie trotz ihrer Bildhaftigkeit eine Schriftlichkeit besitzen. Die meisten Bildmedien, beispielsweise das Fernsehen oder das Kino, sind zudem mit dem Ton, d.h. mit Sprache verbunden sind. Man kann hier nicht von einem reinen bildlichen Medium sprechen, sondern muß von einer Beziehungsänderungen zwischen Bild und Ton ausgehen. Die Frage, ob hier nur neue Formen der Lesbarkeit, neue Konzepte oder neue Modelle der Schriftlichkeit entstehen, oder aber ob ein grundsätzlicher Wandel weg von der Schrift hin zum Bild stattfindet, würde ich anders stellen. Man könnte beispielsweise mit dem Begriffspaar analog-digital arbeiten. Die Grammophonplatte ist ein wunderbares Beispiel. Die Einführung des Grammophons bedeutete eine grundsätzliche Änderung der musikalischen Erfahrung. Informationen wurden in Analogform aufzeichenbar, d. h. wiederholbar, analysierbar, lesbar, kritischer Hörbarkeit zugänglich. Die CD hat diese Analogstruktur der 78-er oder 33-er Schallplatte geändert. Sie bedeutet immer noch eine Übertragung der analogen Wellenform, aber als digitale Information kann sie anders abgerufen und genutzt werden. Trabant:
Helga Nowotny hat demgegenüber von einer Veränderung des Denkens durch die größere Rolle des Bildes bei der Wissensvermittlung gesprochen. Es bleibt also die Frage offen, ob sich in den letzten Jahren durch die Vorherrschaft des Bildes nicht doch die geistige Ökonomie unseres Denkens verändert hat.
Nowotny:
Wir leben zweifellos in einer Welt, in der wir überflutet werden von Bildern. Der springende Punkt ist allerdings der, daß das Bild nicht für sich spricht. Wie Tom Levin völlig zurecht festgestellt hat, brauchen wir nach wie vor die Sprache, um über das Bild zu sprechen. Wenn ich vorhin
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die Möglichkeiten, das Gehirn und sein Funktionieren sichtbar zu machen, als eine der letzten Errungenschaften der Medizin genannt habe, dann ersetzt das nicht das Gespräch der Ärzte über die richtige Diagnose. Und genauso verhält es sich mit allen anderen Bildern. Wir sehen uns zurückgeworfen in die Sprache, weil wir untereinander nicht in Bildern kommunizieren können. Vielleicht ist das Träumen in Bildern die einzige Form sprachfreier Kommunikation. Allerdings können wir selbst Traumbilder nicht ohne Sprache kommunizieren. Diesen Aspekt darf man bei allen kulturkritischen Ansätzen gegenüber der Informationsüberflutung durch das Fernsehen usw. nicht vergessen. Dennoch fordert die Verbildlichung uns heraus, unsere Sprachgewohnheiten, unsere Denkgewohnheiten und auch unseren Umgang miteinander zu erweitern. Ich erblicke in der Verbildlichung eine Erweiterung. Barasch:
Ich muß wohl meine etwas altertümliche, traditionelle Einstellung noch einmal klarlegen. Was ist eigentlich in unserem Jahrhundert oder, genauer, in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts mit Bildern geschehen? Erstens hat sich die Zahl der Bilder in ungeheuerem Maße vergrößert. Diese quantitative Erweiterung hat gewiß auch Folgen für das Denken der Völker, wie hier bemerkt wurde. Die Strahlkraft elektronischer Bilder besitzt eine tiefere, unmittelbare Wirkung auf breite Schichten der Bevölkerung. Andererseits hat das Bild - ich sage das nicht kritisch, es wäre doch dumm, den Lauf der Geschichte zu kritisieren viel von seiner Autonomie verloren. Wie Tom Levin festgestellt hat, beruht das Bild heute in einem sehr viel größeren Maße auf Sprache als vor dem Jahre 1950 oder vor 1900. Während es damals ein ehrwürdiges Subjekt war, ist es heute eine flimmernde, magische, vergängliche Erscheinung.
Forster:
Moshe Barasch hat einen sehr wichtigen Punkt berührt. Der Zusammenhang zwischen der Autorität des Bildes
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und seiner technischen Herstellung, seinem Status in der Vielzahl von Objekten und, nicht zuletzt, der Unterschied zwischen der mit Autorität ausgestatteten Ikone und einem von einem Tomographen erzeugten Bild besteht darin, daß das tomographische Bild ein vollständig fabriziertes Bild ist. Es verdankt seine Existenz den Mitteln seiner Herstellung. Das, was es abbildet, ist eigentlich unsichtbar. In dem Maße, in dem das Bild ein Medium der Sichtbarmachung dessen wird, was man nicht sehen kann, wird es einer totalen Manipulation zugänglich. Es stellt die Voraussetzung dar, auf deren Grundlage der Chirurg möglicherweise beim Patienten intervenieren wird. Zwischen dem Bild und seinem Gegenstand, seinem Gegenüber, besteht kein mimetisches Verhältnis, sondern es wird zum Ausgangspunkt eines externen Versuches, das zu konstruieren, was in dem „Gegenstand", dem Bild, enthalten ist. Trabant:
Ein solches Bild bedarf dann natürlich stark verbaler Erläuterung. Es muß kommentiert werden, denn es ist keinesfalls selbstevident.
Forster:
Es ist das Produkt unzähliger digitaler Manipulationen des Materials, das durch die Apparatur aufgenommen wird. Es handelt sich sozusagen um ein geschriebenes Bild.
Nowotny:
Es handelt sich auch um ein gesprochenes Bild, insofern es neue Diskurse und Objekte „hervorruft". Es wurde völlig zurecht davon gesprochen, daß das statische Bild, das Bild, das wir vor Augen haben, ein seltenes Objekt war. Gegenwärtig beobachten wir ein Übermaß und einen raschen Wechsel der Bilder. Diese Dynamik des Bildes paßt zur Dynamik unserer Gesellschaft, zu der Beschleunigung, der wir ausgesetzt sind. Der Ereignisfülle steht unser gleichbleibendes Zeitbudget gegenüber: Wir haben nur 24 Stunden am Tag zur Verfügung, um die Ereignisse
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bewältigen zu können, um zu sehen, um zu sprechen, um zu lesen, um zu schreiben. Forster:
Die Abläufe, die automatische Kameras 24 Stunden am Tag festhalten, stellen sozusagen eine Parallelaktion auf der Seite der Bilder gegenüber dem Ablauf des Lebens selbst dar.
Trabant:
Wir haben in unserem Gespräch die Bilder zurückgebettet in die Sprache. Wird aber nicht durch die neue Art der Vermittlung die Sprache selbst, das Gespräch oder die mündliche Rede des Lehrers in den Hintergrund gedrängt?
Forster:
Wir haben uns kollektiv seit Generationen darin geübt, Bilder in den Prozeß eines sprachanalogen Verstehens einzubringen. Vereinfacht könnte man behaupten, daß die kunstwissenschaftliche Richtung der ikonographischen Entzifferung der Bilder nur die Fußspuren der Sprache durch die Bilder verfolgt. Eigentümlicherweise verändert sich nun gerade dann der Gegenstand, wenn wir die Methoden verstanden, wenn wir die Mittel erworben, wenn wir das Verständnis für die Erforschung des Gegenstandes geschult haben. Darauf sind wir dann nicht mehr vorbereitet. Der Status der Bilder in der gesamten Gesellschaft eignet sich derzeit kaum mehr für die ikonographische, sprachgebundene Untersuchung...
Levin:
...aber merkwürdig ist doch, daß wir jetzt miteinander sprechen!
Trabant:
Wir haben offensichtlich einen Punkt erreicht, wo das Gespräch wieder in seine Rechte gesetzt wird! Die letzte Vermittlungsinstanz ist doch wieder das gesprochene Wort.
Nowotny:
Wir sprechen über Bilder in einer Form, die wir verbalisieren müssen. Zugleich werden diese Gespräche übertragen
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durch das Medium Fernsehen, also mittels Bildern an Zuschauer, in deren Köpfen auch wiederum Bilder entstehen, die etwas zu tun haben mit dem, was wir zu vermitteln versuchen. Diese Übertragung kann konserviert werden. Damit ergibt sich wiederum eine qualitativ neue Dimension, denn man kann sich das Video ansehen, kann es schneiden, kann neue Dinge daraus fabrizieren. Das Gespräch wird eingebettet in einen weitaus größeren, komplexen Kontext. Levin:
Wenn man über das Gespräch und die Zukunft des Gesprächs spricht, sollte man jede Romantisierung des Akustischen vermeiden. Meint man mit „Gespräch" eine Art realzeitige Diskussion, so geschieht ein „Gespräch" heutzutage auch in einem Computernetzwerk ohne Akustik (obwohl diese immer mehr durch Voice E-mail eingeführt wird). Ein solches Gespräch kann radikal globalisiert werden, dennoch die Temporalität, die Zeitstruktur des Gesprächs behalten, ohne überhaupt eine positionierte Dimension zu haben. Das Gespräch selbst nimmt nicht erweiterte Formen an, ohne charakteristische Züge zu verlieren. Andererseits: Dank der Tatsache, daß wir hier in diesem herrlichen Raum zusammensitzen dürfen, werden neue Gesprächsmöglichkeiten für Partner eröffnet, die über die ganze Welt verstreut leben.
Trabant:
Dennoch möchte ich gerade auf dem „romantischen" Aspekt, den Sie benannt haben, insistieren und ihn als besonders kostbar bezeichnen wollen.
Forster:
Der „romantische Aspekt" zeigt sich freilich vor allem in Gesprächen zwischen Menschen mit einem gemeinsamen, intensiven, vielleicht auch professionellen Interesse an einer Sache. Sprechen sie mit Ihrem Schreinermeister Sie werden zum Papier greifen wollen, sie werden ganz kurz in einer Skizze das zeigen wollen, was Sie in Ermangelung der Fachausdrücke vielleicht gar nicht so
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leicht beschreiben können. Die Präsenz des graphischen Mediums ist ein ebenso integraler Bestandteil eines möglichen Gesprächs, ebenso wie Gebärden und Zeichen wie die erhobene Hand oder das zugekniffene Auge. Barasch:
Ohne Frage hat sich das Bild verändert, und durch die Intensität seiner Wirkung und die ungeheure quantitative Erweiterung hat es unsere ganze Lebenswelt stark verändert. Ich will aber dennoch auf der altertümlichen, sozusagen Old-Fashion-Anschauung beharren, daß die Komponenten, die grundlegenden Bausteine der Kommunikation sich nicht verändert haben. Es gibt Veränderungen an den Rändern der Bilder, es gibt vor allem Veränderungen in der Art des Umgangs mit ihnen. Aber das „romantische Gespräch", wie Tom Levin es nennt, das bleibt bestehen da kann man ganz beruhigt sein.
Trabant:
Ich möchte auf den Gegenstand der Übermittlung zu sprechen kommen, der nicht nur durch das Medium geprägt ist - darüber sprachen wir bisher - sondern ebenso durch die Vermittler. Wer bestimmt eigentlich, welches Wissen vermittelt wird?
Nowotny:
Ich möchte warnen vor der informationstheoretischen Vereinfachung, so von Sender und Empfänger zu sprechen, als wäre es eine Einbahnstraße, als ob eindeutig klar wäre, wer Sender und wer Empfänger ist und wie die Informationen zwischen beiden hin- und herlaufen. In Wirklichkeit geschieht viel mehr. Gegenwärtig haben wir durch die neuen technischen Möglichkeiten der Übertragung und des Wissenserwerbs eine enorme gesellschaftliche Verbreitung von Wissen und von neuen Möglichkeiten der Wissenserzeugung. Dadurch, daß sich jeder an einen Computer anhängen kann, sich Bilder, die in irgendeiner Galerie hängen, auf den Bildschirm holen oder die Partitur einer Symphonie ablesen oder selber komponieren kann - dadurch werden neue Formen der Wissenserzeu-
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gung in den Kontexten der Anwendung geschaffen. Heute haben sehr viele Menschen an den unterschiedlichsten Orten unserer Gesellschaft Zugang zum Wissen, der ihnen zuvor versperrt war. Das ist für mich erfreulich, ohne daß ich in eine Euphorie ausbrechen möchte. Denn aus der Gleichheit des Zugangs zu den Erkenntnissen und Resultaten von Wissenschaft und Technik entstehen zweifellos neue Probleme. Aber sicherlich wird in diesem Prozeß nicht nur Wissen von einem Sender zu einem Empfanger weitergegeben, sondern neues Wissen in vielen unterschiedlichen, nicht vorhersehbaren Kontexten der Anwendung erzeugt. Trabant:
Meine Frage zielte vor allem auf den „Kanon" einer Kultur, auf die Entscheidungsträger, die darüber befinden, welches Wissen beispielsweise an die zukünftige Generation übertragen werden soll. Gibt es solche Kanons überhaupt noch oder beginnen sie sich zu einer Multiplizität von übermittelten Wissensgehalten zu fraktionieren? Selbstverständlich gibt es Bereiche, wo dieses nicht der Fall ist - beispielsweise die Schule. Dort wird genau festgelegt, welches Wissen übermittelt werden soll.
Nowotny:
Auch die Schüler haben ihre Computer. Alle Monopole, auch die Wissensmonopole, brechen zusammen. Es entsteht eine Vielzahl von Wissensproduzenten, Wissensvermittlungsinstanzen. Es bleibt jedoch das Problem, wie man von dieser Vielzahl wieder zu einer Einheit zurückgelangen kann.
Forster:
Die Tatsache, daß man sich gleichsam wie ein gewiefter Skifahrer durch diese weiten Informationsschneewüsten oder gleißenden Informationsmassen hindurchmanövrieren kann, hat zu einer ganz eigentümlichen Lebensphilosophie geführt. Von den wirtschaftlichen Aspekten möchte ich gar nicht sprechen, aber die Ökonomie kommt doch ins Spiel. Die Art und Weise, wie man sich innerhalb
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dieser sich in jede Richtung ins scheinbar Grenzenlose erweiternden Welt bewegt, stellt allererst die Frage nach dem Wissen, nach dem, was eigentlich gewußt werden soll. Die Selektion von Wissen geschieht bereits beim Anklicken bestimmter Optionen auf dem Bildschirm. Die wichtige Frage aber lautet: Wie gehen wir über die reine Manipulation hinaus, nachdem diese Manipulation, die Montage, die Paraphrase usw. eigentlich selber zu Kommunikationsmitteln par exellence geworden sind? Nowotny:
Wahrscheinlich gibt es dafür eine einfache Regel. Weil es eine solche Fülle an Informationsmaterial gibt, wählen die meisten Menschen angesichts der Knappheit der Ressource „Zeit" aus der Überfülle an Wissen das aus, was sie für ihre unmittelbaren Zwecke glauben gebrauchen zu können. Die Vorstellung, daß hier die Experten und dort die Laien stehen, dürfte nicht so ohne Weiteres zutreffend sein. Die meisten Laien wissen sehr wohl, sich die nötigen Mittel zu beschaffen, um ein Problem zu lösen, etwa wenn etwas zu reparieren oder ihre Gesundheit betroffen ist.
Levin:
Die Tatsache, daß auch die ehemals sogenannten passiven Empfänger jetzt in diesem Kommunikationsmodell eine aktive Rolle spielen, ist sicher zu begrüßen. Dennoch muß ich die unangenehme Position des Antiromantikers einnehmen. Bei aller sicher erstaunlichen Verfügbarkeit von Informationen müssen wir uns immer gegenwärtig halten, daß die Vorteile der High-Tech-Entwicklung doch letztendlich einer kleinen Minderheit, der sogenannten Ersten Welt zugute kommt. Nur ungefähr zehn Prozent aller Menschen auf der Welt haben überhaupt Zugang zu Telefonen, d.h. zu Netzwerken. Man muß vorsichtig sein, wenn man von von einer Demokratisierung der Informationen spricht. Auch wenn viele, die weit von einem Zentrum entfernt wohnen, Zugang zu Büchern und Medien haben, so kann man doch von einer globalen Kultur noch lange nicht sprechen.
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Nowotny:
Doch gibt es zumindestens Wissenschaftler in der Dritten Welt, die es begrüßen, daß sie auf diese Weise die Möglichkeit haben, am wissenschaftlichen Leben teilzunehmen oder ihren Studenten etwas vorzuführen, was sie zuvor einfach nicht hätten machen können. Die neuen Ungleichheiten folgen auf dem Fuße, das ist nicht zu bestreiten. Und trotzdem würde ich sagen, daß das Kommunikationsnetz auch dort ausgebaut werden wird, wenn die Erste Welt gesättigt ist mit diesen Geräten. Denn die High-Tech-Industrie will langfristig ihre Dinge überall hin verkaufen. Diese Technologie wird billiger werden. So wie es Fernsehapparate mittlerweile in jeder Siedlung der Dritten Welt gibt, so wird es über kurz oder lang auch eine Diffusion dieser Technologie geben.
Trabant:
Um noch einmal auf die von Helga Nowotny angesprochene Abrufbarkeit von Wissen zurückzukommen: Liegt darin nicht aber eine Gefahr? Wenn jeder Benutzer das Wissen abrufen kann, das er gemäß seinen Interessen benötigt, zerbricht dann nicht die Vorstellung einer kulturellen Gemeinschaft? Gemeinschaft konstituiert sich wesentlich auch durch ein gemeinsames Wissen, durch eine gemeinsame Bildung. Wenn keine Selektoren des Wissens mehr existieren, ergibt sich dann nicht eine Gefährdung der Gesellschaft?
Nowotny:
Die Kultur pluralisiert sich ja auch. Darin besteht ja das Problem, vor dem wir gegenwärtig stehen. Es bilden sich neue Gemeinschaften heraus. Dieser Vorgang betrifft übrigens nicht nur das, was über Computer oder Internets entsteht. Wenn beispielsweise ein Sender 24 Stunden am Tag klassische Musik sendet, dann stiftet er auch eine Gemeinschaft von Leuten, die ihn hören, ebenso wie es die Gemeinschaft der Fußballfans gibt. Die entscheidende Frage lautet dann letzten Endes: Was hält eine Gesellschaft zusammen, die nur noch aus solchen Partikulargemeinschaften besteht? Das Problem ist für mich nicht,
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daß sich die alte Gemeinschaft aufgelöst hat - diese Gemeinschaft ist eine romantische Vorstellung, die wir bereits im neunzehnten Jahrhundert nicht mehr einlösen konnten. Was aber bleibt übrig, wenn wir zu viele Möglichkeiten besitzen, uns nach unseren Interessen zu organisieren? Diese Frage macht mir Sorgen. Forster:
Eigentümlicherweise führen die neuen Technologien zum Gegenteil des befürchteten Verschwindens des Kanons. Einerseits ist die erdrückende Informationsmasse das wirksamste Mittel gegen eine hierarchische Wahl von „goldenen" Gegenständen; andererseits bewirkt eben diese Flut die Flucht in einen neuen Kanon, d.h. in einen vielleicht noch viel enger gewählten Ausschnitt aus dem Ganzen, um dieser Informationsflut zu wehren. Die Computer können dabei durchaus in allen bekannten Funktionen der gemeinschaftsstiftenden Anwendung eingesetzt werden. Man kann sich beispielsweise per Computer kennenlernen und heiraten; man kann sich das Delikateste über Monate hinweg ansehen. Es handelt sich um ganz klare Interessengemeinschaften, bei denen man zumindest weiß, wie man sich in sie einlebt.
Nowotny:
Man kann nur an das doch erstaunlich große Potential von Kreativität bei den einzelnen Menschen wie auch in der Gesellschaften appellieren. Wir müssen daraufhinarbeiten, zwischen diesen unterschiedlichen Gemeinschaften, die nach dem Zerfall des Kanons entstehen, neue Schnittstellen entstehen zu lassen - neue Schnittstellen, in denen sich jetzt nicht nur in einer kommerziell vorprogrammierten Weise Interessen, Wissen, Informationen austauschen können, sondern in denen durch die neue Konfigurationen von Wissen und letzten Endes auch von Gemeinschaften und gemeinschaftsstiftenden Interessen zustande kommen.
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Levin:
Lange Zeit wurde von den Maschinenstürmern unter uns das Verschwinden des BriefVerkehrs aufgrund des Telefons und der damit verbundene Verlust an der Archivierung des persönlichen Austauschs beklagt. Dabei wird im Gegenteil gerade durch die Schriftlichkeit derjenigen, die mittels der Computer kommunizieren, ein neues Archiv begründet. Man kann von einer neuen archivierenden Tendenz der Medien sprechen. Das Fernsehen beispielsweise kann aufzeichnen. Diese Möglichkeiten zur Aufzeichnung, d.h. zur Archivierung und des späteren Studiums usw. ist von grundsätzlicher, wichtiger kultureller Bedeutung, wie jedes Archiv immer eine Urform der Vermittlung gewesen ist.
Forster:
Ein solches Archiv unterscheidet sich von anderen traditionellen Archiven dadurch, daß es nicht freiwillig oder unfreiwillig, passiv oder aktiv ein Filtrat darstellt, sondern seinen Gegenstand verdoppelt. Es enthält nicht nur die Stichworte, sagen wir, am Schluß eines Vortrags, sondern man wird mit jeder Minute und Sekunde des Vortrags, den man in seiner Gänze vor sich findet, nochmal konfrontiert. Daraus ergeben sich Probleme: Wenn man nicht über durchgreifendste organisatorische Mittel verfügt, ist jeder Gang in ein Ton- oder Fernsehstudio wie das Eindringen in einen Dschungel. Soviel Zeit hat gar kein Mensch, dort zu finden, was er sucht.
Barasch:
Ich stimme völlig mit Herrn Forster überein, daß es schließlich zu einer Auswahl aus diesen Informationen kommen wird. Man kann schon jetzt die Anfange beobachten, etwa daß gewisse Schichten der Gesellschaft gewisse Inhalte oder gewisse Programme ausschalten und andere sehr schätzen. Ich möchte das nicht werten. In der Philosophie gibt es so etwas wie eine Werttheorie, der zufolge man Werte überhaupt nicht „beweisen" kann. Man übernimmt sie oder übernimmt sie nicht. D. h. die Archivie-
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rung wird fraglos zu einem Kanon führen. Allerdings beruht der Kanon nicht nur auf einer einmaligen Auswahl, sondern er besteht in einer immer wieder, über die Zeit sich hinstreckenden dauernden Auswahl. Trabant:
Wird das Archiv also selber der Kanon, aus dem gerade keine Auswahl mehr stattfindet? Aus dem sich sozusagen jeder Stand innerhalb der größeren Gesellschaft bedient? Erleben wir eine Tribalisierung der Gesellschaft? Ist nicht die Sprache denn letztlich das einzige, was übrig bleibt?
Nowotny:
Die Sprache und neue Mischformen. So haben Anthropologen festgestellt, daß sich in einer Metropole wie London neue indische Subgemeinschaften bilden, die ihre eigene Musik und ihre eigene Musikindustrie haben. Es handelt sich um eine völlig neue Vermischung von englischen Popgruppen und indischer traditioneller und indischer moderner Musik. Dies ist nur ein Beispiel von vielen, die zeigen, wie es zu neuen Vermischungen kommt. Und da ist auch eine Kanon-, oder besser: „Minikanon"-Bildung möglich, freilich in einer temporären, von der Dynamik der Weiterentwicklung immer wieder bedrohten Form. Die uns von früher vertraute Stabilität gibt es nicht mehr. Allerdings sollten wir meines Erachtens den Anspruch zu werten nicht völlig aufgeben. Wie bei jedem Neuen gibt es manches, das ich zumindestens eher begrüße, und anderes, das ich eher ablehne.
Trabant:
Ich möchte auf ein Problem zu sprechen kommen, das wahrscheinlich eines der gesellschaftlich dramatischsten Probleme der Wissensvermittlung darstellt. Ich meine die Vermittlung wissenschaftlichen Wissens. Nehmen wir Stichworte wie „Gentechnologie" oder „Asbestentsorgung". Hier gibt es ganz offensichtlich Vermittlungsprobleme der Wissenschaft an die Öffentlichkeit. Es scheint so zu sein, daß die Wissenschaftler die Probleme, die sie mit ihrem Wissen haben, weniger dramatisch sehen als die Gesell-
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schaft, die dieses Wissen rezipiert. Aus welchen Gründen entsteht das, was man den „Vertrauensverlust" der Menschen gegenüber der Wissenschaft nennen könnte? Nowotny:
Man muß zwei Dinge unterscheiden. Es gibt wissenschaftliche Wissensfelder, auf denen die Wissenschaftler nach wie vor einen ziemlich hohen Vertrauensvorschuß haben. Ein Beispiel dafür ist das riesige Interesse vieler Menschen an den Ursprungsgeschichten. Wo kommen wir her? Was ist der Ursprung des Universums? Wie haben sich Galaxien herausgebildet? Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, die große Anzahl von Geschichtsbüchern, die von einem ganz breiten Publikum mit Begeisterung gelesen werden. Durch sie wird Wissen vermittelt, zwar in einer Form, die adäquat aufbereitet sein muß, aber doch bezeugen sie nach wie vor die Autorität der Wissenschaften. Zugleich gibt es die anderen Bereiche, die den Menschen Sorgen machen. Bei der Gentechnologie existieren und das wird jeder Gentechniker zugeben - Risiken, über die man sprechen muß. Es bestehen ethische Probleme, die völlig neu sind und mit denen sich eine Gesellschaft auseinandersetzen muß. Und hierüber haben auch die Wissenschaftler unterschiedliche Meinungen, denn es handelt sich um neue Probleme, die es vorher noch nicht gegeben hat. Aus diesem Grunde entsteht dann in der Öffentlichkeit der Eindruck, daß einige Experten dafür, andere dagegen sind, so daß man keinem glauben kann. Meines Erachtens handelt es sich um eine Entwicklung, die im Grunde genommen begrüßenswert ist - begrüßenswert deshalb, weil auf diese Weise eine Form der Demokratisierung stattfindet. Die Probleme, die ja die Gesellschaften betreffen, werden offen und in durchaus kontroverser Form diskutiert. Die Medien müssen diese Entwicklung in verantwortlicher Weise mittragen. Allerdings wollen sie ihre eigene Dramaturgie. Sie unterliegen Regeln, nach denen sie Ge-
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schichten präsentieren müssen. Die Wissenschaftler wiederum müssen lernen, wie sie das Wissen und die Botschaften, die sie der Öffentlichkeit weitergeben wollen, in Zusammenarbeit mit den Medien angemessen präsentieren. Die Öffentlichkeit ihrerseits muß in die Lage versetzt werden, daß sie diese Botschaften kritisch zu beurteilen vermag. Begrüßenswert ist jedenfalls, daß der Heiligenschein, den die Wissenschaft zu Unrecht manchmal in der Öffentlichkeit noch hatte, verschwindet. An seine Stelle muß eine sehr offene und auch sehr seriöse Form der Diskussion treten, an der die Medien beteiligt sind. Forster:
Vielleicht ist der zu beobachtende Vertrauensverlust auf seine Weise eine Anerkennung der hochgespannten Hoffnungen, die man doch in die wissenschaftliche Leistung setzte. Wohl h a t uns die Wissenschaft enttäuscht, aber wenn wir nach einer Lösung für verschiedene Krankheiten oder eine von Menschen verschuldete schwierige Lage suchen, dann wendet sich die Hoffnung doch eigentlich jedesmal wieder auf die wissenschaftlichen Fähigkeiten oder auf die wissenschaftlichen Versprechen, ein Pharmakon zu finden. Natürlich tun wir dann sehr oft den kurzen Griff nach einem technologischen Mittel. Aber wir brauchen die Wissenschaft ebenso, um täglich die Luftverschmutzung zu messen, wie wir allenfalls durch sie in die Lage versetzt werden, Maßnahmen gegen die Luftverschmutzung zu ergreifen.
Levin:
Wissenschaftler müssen heute die Vermittlung ihrer Forschungen und deren Konsequenzen in den Medien mitbedenken. Man könnte nun denken, daß dies aber etwas ganz Neues ist, das Konsequenzen f ü r die Struktur der Wissenschaft besitzt, andererseits aber wußte das bereits Galilei.
Nowotny:
Einzelne Wissenschaftler haben das immer schon gut gekonnt, aber heute geht es um die Wissenschaft als ganze.
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In den USA hat jede große Universität ein eigenes Büro, das ausschließlich Medienbetreuung betreibt. Galilei war vielleicht ein geborener Kommunikator, aber wenn es sich um eine Institution und alle in ihr arbeitenden Wissenschaftler handelt, ist eine gewisse Professionalisierung unverzichtbar. D.h. die Wissenschaftler müssen wissen, nach welchen Regeln die Medien ihre Geschichten aufbereiten und kommunizieren müssen. Barasch:
Mir erscheint die Rede von dem Mißtrauen gegen die Wissenschaft stark übertrieben. Auf sehr vielen Gebieten ist es unerschüttert, beispielsweise in der Medizin. Die Wissenschaftler haben aber ohne Frage die Verpflichtung, das allgemeine Publikum zu informieren, und zwar nicht nur Genforscher, sondern auch die Klassischen Philologen. Die größte Verantwortung aber tragen die Menschen, die in den Medien arbeiten. Daß man die Trommel gerührt hat gegen das Asbest, finde ich wunderbar. Das hat gewiß vielen Menschen die Gesundheit, wenn nicht das Leben gerettet. Aber die Übertreibung von Gefahren, wie z.B. in der Genforschung, scheint mir sehr groß zu sein. Es muß auf diesen Gebieten eine wirklich ernste und verantwortliche Diskussion in der Gesellschaft geben.
Nowotny:
Empirische Umfragen über mehrere Jahre in verschiedenen Ländern zeigen einen allgemeinen Vertrauensverlust der Menschen in die Institutionen. In erster Linie betrifft er natürlich die eigene Regierung, den eigenen Staat, das Gerichtswesen. Aber dann kommt erstaunlich schnell, über die Zeit betrachtet, der Vertrauensverlust in die Institution Wissenschaft. Hierfür gibt es sicher viele Ursachen. Meine Interpretation lautet, daß sich Wissenschaft anderen Institutionen in der Gesellschaft anzugleichen beginnt. Wissenschaft ist verflochten mit dem Markt - zwar auch ein altes Phänomen, aber die Verflechtung wird dichter. Wissenschaft ist verflochten mit den Medien
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- auch ein altes Phänomen, trotzdem wird die Verflechtung dichter. Levin:
Ich möchte ein Wort zur Rettung vor diesem Vertrauensverlust einlegen. Sicherlich hat die Informationsflut, die zunehmende Bilderflut mit diesem Vertrauensverlust zu tun. Doch gerade weil der Zuschauer von diesen Bildern überflutet und von mehr und mehr Informationen unterhalten wird, wird der einzelnen Information weniger vertraut. Es eröffnet sich hier eine Möglichkeit für eine neue Art kritisch-analytischen Zuschauertums. Gerade dank der Möglichkeit zur Aufnahme verschiedener Fernsehkanäle, die der Zuschauer gegeneinander setzen kann, haben die Medien, zumindest einzelne Kanäle, an Macht verloren.
Trabant:
Die Kritik des Konsumenten von Wissenschaft gibt uns den natürlichsten Begriff vom Vertrauensverlust in die Autorität. Daraus ergibt sich auch ein Druck auf die Wissenschaft, für eine gescheite Vermittlung zu sorgen eine Vermittlung, die sie nachvollziehbar werden läßt, die ihre Konsequenzen deutlich macht. Dennoch sprechen wir ja hier eigentlich nur über unsere eigene Kultur, wir sprechen über die Erste Welt. Ich würde gern noch einmal auf die verschiedenen Wissensvermittlungen in verschiedenen Kulturen zu sprechen kommen. Auch wenn, wie Frau Nowotny ausführte, Wissenschaftler in der Dritten Welt dankbar dafür sind, daß sie auch an neuen Transmissionstechnologien teilhaben können, ist doch nicht zu übersehen, daß andererseits autochthone, charakteristische Formen des Wissens und der Transmission verschwinden. Ist in unser Thema eine Multiplizierung von Welten und zugleich auch eine Vereinheitlichung von kulturellen Welten eingeschrieben?
Nowotny:
Es besteht die große Gefahr, daß wir sozusagen mit der westlichen elektronischen Walze über alles hinwegfahren.
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Dieser Prozeß geht leider sehr schnell. Wissenschaftler beeilen sich, im Amazonas in Gesprächen mit Eingeborenen zu erkunden, was an einheimischem Wissen über bestimmte Heilpflanzen noch vorhanden ist, weil man fürchtet, in fünf Jahren könnte dieses Wissen verloren sein. Die Art, wie wir aus der westlichen Welt die ganze Welt unter unsere Vorherrschaft stellen, trägt dramatische Züge. Trabant:
Müssen wir nicht angesichts dieser Situation Verfahren des Übersetzens aus der einen Kultur in die andere lernen, um der Zerstörung anderer Wissensformen Einhalt zu gebieten?
Barasch:
Ich habe eine solche Zerstörung innerhalb von einer Generation als Zeuge beobachtet. Die jemenitischen Juden brachten bei ihrer Einwanderung eine wunderbar hohe Kultur der Ziselierarbeit mit. Es gibt sie nicht mehr, weil sie einfach nicht mit den maschinell hergestellten Erzeugnissen konkurrieren konnte. Wir müssen ganz ruhig zur Kenntnis nehmen, daß die Erweiterung der Kommunikation und die Erweiterung der Bilder eine Universalisierung des Kanons der weißen Welt darstellt. Selbstverständlich kann man Archive einrichten - wir haben das vielfach getan - doch sie bleiben bloß ein Objekt für das kulturhistorische Studium.
Trabant:
Können wir jenseits seiner Folklorisierung dem alten Wissen praktische Funktionen bewahren?
Barasch:
Soweit ich aus eigener Erfahrung sprechen kann, muß ich einräumen, daß trotz der vielen großen Anstrengungen kaum etwas erreicht worden ist. Ich würde mich ungemein freuen und sehr viele Menschen wären glücklich, wenn so etwas gelänge. Doch bin ich sehr skeptisch, ob es gelingen kann.
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Forster:
Aber es ist daran zu erinnern, wie unglaublich groß der Friedhof der menschlichen Leistung ist. Es wird immer Menschen geben, die ihn pflegen. Mit anderen Worten: Eigentlich findet jedes verlorene Talent doch wieder einen anderen Bereich, andere Mittel und Instrumente und seine Stunde.
Trabant:
Ich möchte aber zum Schluß dem Optimismus der Multikulturalität eine Träne des Verlustes entgegensetzen. Dem Verlust von Wissen müssen wir offensichtlich ins Auge schauen, Herr Barasch scheint mir in dieser Hinsicht realistisch zu sein. Neben der traditions- und kanonstiftenden Form der Wissensvermittlung steht das endgültige Vergessen des Wissens.
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Jan
Assmann
geb. 1938, ist Professor für Ägyptologie an der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg; Er studierte Ägyptologie, Klassische Archäologie und Gräzistik in München, Heidelberg, Paris und Göttingen. Gastprofessuren führten ihn nach Paris, Yale und Jerusalem. Seit 1966 betreibt er regelmäßige archäologisch-epigraphische Feldarbeit in Ägypten, von 1978 an als Leiter des DFG-Projekts „Ramessidische Beamtengräber". 1984/85 war er Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, 1994/95 Scholar am J. Paul Getty Center for the History of Art and Humanities in Santa Monica. Seine Forschungsschwerpunkte sind Ägyptische Religion und Literatur in theoretischer und vergleichender Perspektive und die frühen Hochkulturen. Zu diesen Themen hat er zahlreiche Publikationen vorgelegt, u. a. Stein und Zeit. Mensch und Gesellschaft im Alten Ägypten, München u. a. 1991; Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München u.a. 1992; Ägypten. Eine Sinngeschichte, München u.a. 1996; Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München u. a. 1998). Er gab außerdem den Band Schuld, Gewissen und Person. Studien zur Geschichte des inneren Menschen, Gütersloh 1997 heraus. Henri
Atlan
geb. 1931 in Blida/Algerien, ist Professor für Biophysik am Institut für Biophysik des Hôpital de l'Hôtel-Dieu (Universität Paris VI) und an der Hebrew University in Jerusalem. Er ist Direktor des Human Biology Research Centers der Universitätsklinik Hadassah in Jerusalem und hat das Isaiah Horowitz Scholarship für Philosophie und Ethik der Biologie inne. Zu Atlans wichtigsten Arbeitsschwerpunkten gehören Theorien der Komplexität und der Selbstorganisation. Er verfaßte zahlreiche Arbeiten zur Zellbiologie und Immunologie, über künstliche Intelligenz und über die Philosophie der Biologie, u.a. L'organisation biologique et la théorie de l'information, Paris
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2
1992; Entre le cristal et la fumée, Paris 1979; A tort et à raison. Intercritique de la science et du mythe, Paris 1986; Tout, non, peut-être. Education et vérité, Paris 1991; Questions de vie. Entre le savoir et l'opinion, Paris 1994. Moshe Barasch
geb. 1920 in Czernowitz, ist Professor emeritus für Kunstgeschichte. Er führte die Kunstgeschichte als akademisches Fach in Israel ein und begründete das Kunsthistorische Institut der Hebrew University in Jerusalem. Seine Forschungen gelten der Geschichte der Gesten und Gebärden in der Kunstgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart. Zu diesem Thema veröffentlichte er zahlreiche Aufsätze und Monographien, darunter Gestures of Despair in Medieval Art, New York 1976; Giotto and the Language of Gesture, Cambridge 1987; Imago Hominis, Wien 1991; Icon. Studies in the History of an Idea, New York 1992; The Language of Art. Studies in Interpretation, New York 1997. David
Biale
ist Koret Professor of Jewish History an der University of California, Berkeley, und Direktor des Center for the Jewish Studies at the Graduate Theological Union in Berkeley. Er ist Autor zahlreicher Studien über die Geschichte und die Mystik des Judentums, u.a. Power and Powerlessness in Jewish History, New York 1986; Eros and the Jews. From Biblical Israel to Contemporary America, New York 1992; From Intercourse to Discourse. Control of Sexuality in Rabbinic Literature, San Anselmo, Cal. 1992, und Herausgeber (zusammen mit Michael Galchinsky und Susannah Heschel) von Insider I Outsider. American Jews and Multiculturalism, Berkeley u. a. 1998. Horst Bredekamp
geb. 1947 in Kiel; Professor für Kunstgeschichte an der HumboldtUniversität zu Berlin und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Er studierte Kunstgeschichte, Archäologie und Philosophie in Kiel, München, Berlin und Marburg. Er lehrte an der Universität Hamburg und erhielt dort 1982 den Aby-WarburgFörderpreis der Stadt. 1991/92 war er Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte gelten u.a. dem Bilder-
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sturm, der frühromanischen Skulptur, der Renaissancekunst und dem Manierismus, der Sammlungsgeschichte und der Kulturgeschichte der Spiele. Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen Kunst als Medium sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 1975; (gemeinsam mit Herbert Beck und Wolfgang Beeh) Kunst um 1400 am Mittelrhein, Frankfurt a.M. 1975; Vicino Orsini und der Heilige Wald von Bomarzo, Worms 1985; Botticelli. La Primavera, Frankfurt a.M. 1988; Antikensehnsucht und Maschinenglauben, Berlin 1993; Florentiner Fußball. Die Renaissance der Spiele, Frankfurt a.M. 1993. Thomas Hobbes'visuelle Strategien. Der Leviathan - Urbild des modernen Staates. Werkillustrationen und Portraits, Berlin 1999. Kurt W. Forster
geb. 1935 in Zürich, ist Kunst- und Architekturhistoriker. Er lehrte an den Universitäten in Yale, Stanford und am Massachusetts Institute of Technology (MIT), war von 1975-1978 Direktor des Schweizerischen Instituts in Rom, von 1984-1992 Gründungsdirektor des J. Paul Getty Center for the History of Art and Humanities in Santa Monica, von 1993 - 1999 Professor für Kunst- und Architekturgeschichte an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich und ist seit diesem Frühjahr am Canadian Centre for Architecture als Direktor tätig. Seine Publikationen sind hauptsächlich der Kunst der italienischen Renaissance, des Klassizismus und der Gegenwart gewidmet, u.a. Benedetto Antelami. Der große romanische Bildhauer Italiens, München 1961; Pontormo, München 1966. Er ist Herausgeber (zusammen mit Martin Kubelik) von Palladio. Ein Symposium, Rom 1980; Theorie der Praxis. Leon Battista Alberti als Theoretiker der bildenden Künste, Berlin 1996. Arnos
Funkenstein
1937-1995, war zuletzt Professor für Ideengeschichte des Mittelalters und für Wissenschaftgeschichte sowie Professor für Jüdische Geschichte an der University of California in Berkeley. Er studierte an der Hebrew University in Jerusalem und an der Freien Universität Berlin. Er lehrte an der University of California in Los Angeles und an der Stanford University, seit 1975 auch in Tel Aviv. Gastprofessuren führten ihn u. a. nach Berlin. Seit 1982 hatte Funkenstein den Mazer-
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Lehrstuhl für Geschichte und Philosophie der Wissenschaft an der Tel Aviv University inne. Seine wichtigsten Publikationen sind Heilsplan und natürliche Entwicklung. Formen der Gegenwartsbestimmung im Geschichtsdenken des Hohen Mittelalters, München 1965; Theology and the Scientific Imagination, Princeton 1986; Perceptions of Jewish History, Berkeley 1992 (dt: Jüdische Geschichte und ihre Deutungen, Frankfurt a. M. 1995). Peter Goodrich
geb. 1954, lehrte in Lancaster, Liverpool, Edinburgh und Newcastle upon Tyne; er hatte Gastprofessuren u. a. an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und an der Cardozo Law School in New York inne und ist gegenwärtig Professor of Law am Birkbeck College der Universität London. Er ist Herausgeber der Zeitschrift Law and Critique und Mitherausgeber des International Journal for the Semiotics of Law. Er veröffentlichte u.a. Reading the Law. A Critical Introduction to Legal Method and Techniques, Oxford, New York 1986; Languages of Law; From Logics of Memory to Nomadic Masks, London 1990; Oedipus Lex. Psychoanalysis, History, Law, Berkely 1994; Law in the Courts of Love, London 1996. Er ist Herausgeber (zusammen mit Costas Douzinas und Yifat Hachamovitch) von Politics, Postmodernity and Critical Legal studies. The Legality of the Contingent, London, New York 1994; Law and the Unconscious. A Legendre Reader, New York 1997; (zusammen mit David Gray Carlson) von Law and the Postmodern Mind. Essays on Psychoanalysis and Jurisprudence, Ann Arbor 1998. Anthony
Grafton
geb. 1950 in New Haven, Conn. Er studierte Geschichte, Klassische Philologie und Geschichte der Naturwissenschaften an der University of Chicago und am University College London. Er ist Dodge Professor of History der Princeton University. Gastprofessuren führten ihn an die Columbia University, das California Institute for Technology, das Collège de France und an die École des Hautes Études en Sciences Sociales. 1993/94 war er Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen Joseph Scaliger, 2 Bde., Oxford 1983-1993; Forgers and Critics, Princeton 1990 (dt.: Fälscher
366
und Kritiker, Berlin 1991); Defenders of the Text, Cambridge, Mass., London 1991; New Worlds, Ancient Texts, Cambridge, Mass., London 1992; Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote, Berlin 1995; Commerce with the Classics. Ancient Books and Renaissance Readers, Ann Arbor 1997, Cardanos Kosmos. Die Welten und Werke eines Renaissance-Astrologen, Berlin 1999. Moshe Idel
geb. 1947 in Tirgu Neamtz (Rumänien), studierte Hebräische und Englische Literatur sowie Jüdische Philosophie und Kabbala in Haifa. Er lehrte u. a. an den Universitäten von Haifa und Jerusalem, in Yale, Harvard und Princeton. Seit 1991 hat er den Max Cooper Lehrstuhl für Jüdisches Denken an der Hebrew University in Jerusalem inne. Er ist Mitglied des Institut for Advanced Studies in Jerusalem. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen The Mystical Experience in Abraham Abulafia, New York 1987; Studies in Ecstatic Kabbalah, New York 1988; Kabbalah. New Perspectives, New Haven 1988; Golem: Jewish Magical and Mystical Traditions on the Artificial Anthropoid, New York 1990; Hasidism. Between Ecstasy and Magic, New York 1994. Er ist Herausgeber (zusammen mit Bernard McGinn) von Mystical Union in Judaism, Christianity, and Islam. An Ecumenical Dialogue, New York 1996. Thomas W. Keenan
ist nach Lehrtätigkeiten an der Yale University und John Hopkins University seit 1997 Associate Professor of Comparative Literature an der State University of New York at Binghamton. Er ist Autor von Fables of Responsibility. Aberrations and Predicaments in Ethics and Politics, Stanford 1997, Verfasser zahlreicher Fachaufsätze sowie Herausgeber (zusammen mit Werner Hamacher und Neil Hertz) von Paul de Man. Wartime Journalism, 1939-1943, sowie Responses. On Paul de Man's Wartime Journalism, Lincoln 1988. Seine gegenwärtigen Forschungen gelten der Geschichte und Zielsetzung des Museums sowie dem Thema Krieg, Humanitarismus und Fernsehen.
367
Thomas Y. Levin
geb. 1957 in Cincinnati, ist Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Princeton University. Er studierte in Yale Kunstgeschichte und Philosophie. 1990 war er Fellow am Getty Center for the History of Art and the Humanities in Santa Monica; 1994 Fellow am Collegium Budapest; 1995 Fellow am Internationen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kritische Theorie, Ästhetik (insbesondere Film- und Musikästhetik). Er publizierte u.a. Siegfried Kracauer. Eine Bibliographie, Marbach 1989. Er ist Herausgeber von Siegfried Kracauer. Neue Interpretationen, Tübingen 1989; Siegfried Kracauer: Schriften Bd 6. Aufsätze zum Film, Frankfurt a. M. 1997. Er ist Übersetzer und Herausgeber von Siegfried Kracauer: The Mass Ornament. Essays, Princeton 1995. Paul
Mendes-Flohr
geb. 1941, ist Professor of Jewish Thought an der Hebrew University in Jerusalem. Er studierte Geschichte und Philosophie in New York und promovierte an der Brandeis University. Er lehrte Geschichte und Jüdische Studien an der McGill University und der Freien Universität Berlin. Gastprofessuren führten ihn u. a. nach Chicago und Harvard. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen Von der Mystik zum Dialog. Martin Bubers geistige Entwicklung bis hin zu „Ich und Du", Melsungen, 1978; Divided Passions. Jewish Intellectuals and the Experience of Modernity, Detroit 1990; er ist Herausgeber (zusammen mit Abraham Barkai) von Aufbruch und Zerstörung. 1918-1945, München u. a. 1997 (Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 3); (zusammen mit Steven M. Lowenstein, Peter Pulzer und Monika Richarz) Umstrittene Integration. 1871-1918, München u.a. 1997 (Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 4). Er ist Mitherausgeber der Werke Martin Bubers sowie Herausgeber von The Philosophy of Franz Rosenzweig, Hanover 1988, und Gershom Scholem. The Man and His Work, Albany und Jerusalem 1994; 1999 erscheint German Jews. A Dual Identity.
368
Helga Nowotny
geb. in Wien, ist Professorin für Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftsforschung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich und seit 1998 Direktorin des Collegium Helveticum der ETH Zürich. Sie ist seit 1992 Permanent Fellow am Collegium Budapest/Institute for Advanced Study. Sie war Gründungsdirektorin des Europäischen Zentrums in Wien. Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte führten sie an das King's College in Cambridge, nach Bielefeld, an das Wissenschaftskolleg zu Berlin, das Wissenschaftszentrum für Sozialwissenschaften Berlin und an die École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Ihre wichtigsten Buchpublikationen sind u. a. Eigenzeit, Frankfurt a. M. 1989; In Search of Usable Knowledge, Frankfurt a. M., Boulder, Col. 1990; (zusammen mit Wolfgang Krohn und Günter Küppers) Self-Organization. Portrait of a Scientific Revolution, Dordrecht 1990; (zusammen mit Michael Gibbons, Camille Limoges, Simon Schwartzman, Peter Scott und Martin Trow) The New Production of Knowledge. The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies, London 1994; (zusammen mit Ulrike Feit und Klaus Taschwer) Wissenschaftsforschung, Frankfurt a.M. 1995; (zusammen mit Klaus Taschwer) The Sociology of the Sciences, Cheltenham 1996; (zusammen mit Ulrike Feit) After the Breakthrough. The Emergence of High-temperature Superconductivity as a Research Field, Cambridge, Mass. u.a. 1997. Als Band III der „Erbschaft unserer Zeit" erscheint 1999 die Sammlung Es ist so. Es könnte auch anders sein. Über das veränderte Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft. Ulrich Raulff
geb. 1950 im Sauerland, studierte Philosophie und Geschichte in Marburg, Frankfurt a.M. und Paris. Er ist als Herausgeber (u.a. der Kleinen Kulturwissenschaftlichen Bibliothek und der Edition Büchse der Pandora), als Übersetzer (u. a. von Michel Foucault, Lucien Febvre und Jean Starobinski) und als Publizist (u.a. über Aby Warburg, Friedrich Gundolf, Marc Bloch) tätig. Seit 1996 leitet er das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Historische Anthropologie, Ideengeschichte und Geschichte der Histo-
369
riographie. Für sein Buch Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Marc Bloch, Frankfurt a. M. 1995, erhielt er 1996 den Anna-Krüger-Preis des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Hans-Jörg
Rheinberger
geb. 1946 in Grabs (Schweiz), lehrte als Universitätsdozent am Institut für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte der Medizinischen Universität Lübeck. 1993/1994 war er Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Rheinberger studierte zunächst Philosophie, Soziologie und Linguistik, danach Biologie und Chemie in Tübingen und Berlin. Noch während seines Studiums übersetzte er, gemeinsam mit Hanns Zischler, Jacques Derridas Hauptwerk De la grammatologie ins Deutsche. Er lehrte Wissenschaftsgeschichte an den Universitäten Innsbruck und Salzburg und arbeitete am Committee on the History and Philosophy of Science der University of Maryland, USA. Er ist seit 1997 Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin. Rheinberger publizierte zur Molekularbiologie und Wissenschaftsgeschichte, darunter Experiment, Differenz, Schrift. Zur Geschichte epistemischer Dinge, Marburg 1992; Toward a History of Epistemic Things. Synthesizing Proteins in the Test Tube, Stanford, Cal.1997. Er ist Herausgeber (zusammen mit Michael Hagner) von Die Experimentalisierung des Lebens, Berlin 1993, sowie Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997. Gary
Smith
geb. 1954 in New Orleans, war von 1992 -1998 Gründungsdirektor des Einstein Forum in Potsdam und ist seit 1997 Executive Director der American Academy in Berlin. Nach seiner Promotion 1989 in Philosophie an der Boston University übernahm er Lehraufträge an der Freien Universität Berlin und der University of Chicago. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Ästhetik, Kritische Theorie, deutsch-jüdische Denker der Moderne. Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen die Studie (zusammen mit Hans Puttnies) Benjaminiana. Eine biographische Recherche, Berlin, Gießen 1991, sowie die Herausgeberschaften von Walter Benjamin, Moskauer Tagebuch, Frankfurt a.M. 1980; On Walter Benjamin. Critical Essays and Recollections, Cambridge, Mass. 1988; (zusammen mit Peter Schäfer) Gershom Scholem.
37°
Zwischen den Disziplinen, Frankfurt a.M. 1995; (zusammen mit Hinderk M. Emrich) Vom Nutzen des Vergessens, Berlin 1996; (zusammen mit Matthias Kroß) Die ungewisse Evidenz. Für eine Kulturgeschichte des Beweises, Berlin 1998. Jürgen Trabant
geb. 1942 in Frankfurt a.M., ist Professor für Romanische Sprachwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Mitglied der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Er studierte Romanistik, Germanistik und Philosophie in Frankfurt a.M., Tübingen und Paris. Er lehrte in Paris, an der Stanford University und in Leipzig. Seine wichtigsten Arbeitsgebiete sind Sprachwissenschaft, Semiotik, Romanistik und Poetik. Zu diesen Themen publizierte er u.a. Zeichen des Menschen. Elemente der Semiotik, Frankfurt a.M. 1989 (3., ergänzte und durchgesehene Auflage 1996); Traditionen Humboldts, Frankfurt a.M. 1990; Neue Wissenschaft von alten Zeichen. Vicos Sematologie, Frankfurt a.M. 1994; Artikulationen. Historische Anthropologie der Sprache, Frankfurt a. M. 1998. Er ist zudem Herausgeber des Bandes Sprache denken. Positionen aktueller Sprachphilosophie, Frankfurt a.M. 1995.
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PERSONENREGISTER Abraham ben Adret ben Salomo Abraham von Granada Abulafia, Todros ben Josef Halevi Abulafia, Abraham Alberti, Leon Battista Alger von Luttich Aristo teles Ascher ben David Augustinus
73,81 89 73 72-87, 89-91, 206f. 252, 254 154 97, 103, 110f., 115, 210, 213 92 (Anm.) 29,107
Bachelard, Gaston Bachja ben Ascher Bachtin, Michail Bacon, Roger Barbaro, Ermolao Bate, Henry Becher, Johann Joachim Bell, Sir Charles Bellini, Giovanni Bergerac, Cyrano de Bernard, Claude Bewer, Max Bloch, Marc Bruno, Giordano
271 72 30 99 96 95, 99 294 132f. 134 297f. 274 165f. 6,217 187
Canguilhem, Georges Caravaggio Chai Charpak, Georges Chiang Shun-hsin Chladni, Ernst Florens Friedrich Cicero Clemens von Alexandrien Cohen, Hermann Coke, Sir Edward Corbin, Henri Cosin, Richard Crinito, Pietro Cros, Charles Curtius, Ernst Robert Cusanus (Nikolaus von Kues)
188 134 68 316 294 298f. 102 24-26 216, 233-235 49 190 45 114 302f. 2-5, 8-10 103
D'Aragon, Leonora D'Avenant, William Darius II. Darwin, Charles De Coulanges, Fustel Della Porta, Giovanni Battista
107 180 20f. 133 5 294
372
DeMarinis, Paul Derrida, Jacques Descartes, René Dewey, John Disraeli, Benjamin Donin, Nicolas Duhamel, Jean-Marie-Constant Duran, Profiat Dürer, Albrecht
282f., 3 1 6
Eck, Johann Edison, Thomas A. Eisenman, Peter D. Elisa ben Abuja (genannt Acher) Elia del Medigo Erasmus von Rotterdam Eratosthenes Esra Euklid
156f., 160 303f„ 306 244f. 207 96 99 209 21f., 102 179
Fackenheim, Emil Faulmann, Karl Favorinus Federigo von Montefeltre Ficino, Marsilio(us) Flaccus, Valerius Flaminio, Giovanni Antonio Fludd, Robert Foucault, Michel Freud, Sigmund Friederich, Cari Wilhelm Friedrich II. (von Hohenstaufen)
223 304 107 100 62, 96, 98,104,108f., 179 112 101 172,181f. 36, 58 258 205 106
Gerondi, Jona Gikatilla, Josef ben Abraham Giraldi, Lilio Gregorio Glanvill, Joseph Godden, Thomas Godolphin, John Goethe, Johann Wolfgang von Goldschmidt, Lazarus Graetz, Heinrich Grünewald, Matthias Guarini, Battista
92 (Anm.) 72, 80f., 85f., 91 101 49 37-39, 41 45f. 4 152 210 126f. 96
Ha'am, Achad haKohen, Isaak haKohen, Salomo ben Mose Halbwachs, Maurice Halevi, Juda Hazard, Paul
224 68, 70 84 13 152 (Anm.), 212 223
265f. 174f., 177,192 231 (Anm.) 222 157 300 164 125,128
373
Hegel, Georg Friedrich Wilhelm Heidegger, Martin Heine, Heinrich Hermes (Mercurius) Trismegistus (Trismegistos) Herzl, Theodor Hesiod Hipparchos Hippokrates Hobbes, Thomas Holbein, Hans (der Jüngere) Homer Hood, Thomas Hooker, Richard Horaz
218, 232 272f. 218f., 222
Innozenz III. Innozenz VIII. Isaak ben Samuel von Akko Isaak der Blinde Isaak ibn Latif
157 98 73 92 (Anm.) 72, 80f.
Jacob, François Jehuda ben Jakar Jehuda, genannt Salmon Jesaja Jeschajahu (Rabbi) Jewe, John Jochanan Alemanno Jomtow ben Asbillia Josef ben Akiba Josef von Hamadan Josia Josua ibn Schu'aib Jung, Carl G.
275, 277 81 85 30 84 51 96 81 30f., 86 73, 81 18,22 81 190
Kafka, Franz Kallimachos Kalonymus Kamanton, Jehuda Kant, Immanuel Kaplan, Mordechai Kepler, Johannes Kimchi, David Kimchi, Joseph Kopernikus, Nikolaus Koyré, Alexandre Krochmal, Nachman
221f., 224, 237-239 100 85 81 192,194, 229 231 99,181,189 159f. 152 179f. 191 213, 215
Latif, Isaak ibn LaMettrie, Julien (Offray de) Le Corbusier
72 177 246-248
97,103f., 108,114, 178, 180 211 113 109 128f. 11,169-171,173-183 127 4,30 301 46 105
374
Leibniz, Gottfried Wilhelm Leonardo da Vinci Leoniceno, Nicolò Leroi-Gourhan, André Lichtenberg, Georg Christoph Long, Anthony Lothar, Rudolf Luzzatto, Simone (Simcha)
210 119f., 125 100 267 298 108 286 (Anm.) 212
Machiavelli, Niccolò 174 Maestro di Pico 100 Maharal von Prag (Juda Löwe ben Bezalel, der „Hohe Rabbi Low") 213, 215 Maimonides, Moses 62, 66, 73, 77-80, 82-84,196, 228f. Mann, Heinrich 223 Mann, Thomas 223 Marinoni, Octave 286 (Anm.) Mantuanus, Baptista 99 Martini, Raimund 155 Marx, Karl 5, 9 de'Medici, Cosimo 100 de'Medici, Lorenzo 96, 98,106f. Me'ir ibn Sahulah 81 Mendelssohn, Moses 229 Mercurius Trismegistus s. Hermes Trismegistos Merian, Matthäus 172,181 Mersenne, Marin 105 Mithridates, Flavius G. R. 97 Moholy-Nagy, Laszlo 315 Momigliano, Arnaldo 2 More, Sir Thomas 43 Morgenstern, Christian 211 Morus, Thomas 96 Moses ben Simon 73, 85 Moses de Leon 73, 80f., 86 Mussolini, Benedetto 256,261 Nachmanides Nadar Nahor, Sagi Newton, Sir Isaac Nikolaus von Oresme Nietzsche, Friedrich Nordau, Max
69-76, 79-81, 84-86, 88f. 301f. 93 (Anm.) 180,189 108 31,193,195 231
Officiai, Nathan ben Josef Origines
159 130
Pagano, Guiseppe Palladio, Andrea Panofsky, Erwin Paracelsus
242f., 247 247f. lf. 187,190f.
375
Patrizi, Francesco Philo von Alexandrien Petrus Alfonsus Pico della Mirandola, Giovanni Platon Plinius Plotin Poliziano, Angelo Porphyrios Poulsen, Valdemar Pseudo-Orpheus Ptolemäus Pythagoras
99, 181 152 (Anm.) 153 95-116,179, 187 30, 97,101-103, 114,196 113 108 112-114 111 287-289, 291, 312 100, 103 109 114
Rabbi Low, s. Maharal von Prag Rabelais, François Raffael Raschi s. Salomo ben Isaak Reuchlin, Johannes Rilke, Rainer Maria Ripa, Cesare Ritter, Johann Wilhelm Rosenzweig, Franz Rothacker, Erich Rothfels, Hans Rowe, Colin Rubens, Peter Paul
295f. 121-124,132f., 135f., 138,141, 143f. 99 316 (Anm.) 138 299 166f., 213-215, 221, 235f. 8 6 244 130, 132
Saint Germain, Christopher Salisbury, Johannes Salomo ben Adret Salomo ben Isaak Salomon ben Simson Samuel der Prophet Savonarola, Girolamo Schemtow Schemtow ben Schemtow Schemtow ibn Ga'on Scherira Schiller, Friedrich Schmitt, Carl Scholem, Gershom Schopenhauer, Arthur Schramm, Percy Ernst Scott de Martinville, Edouard-Léon Seiden, John Serlio, Sebastiano Serres, Michel Simeon ben Jochai Simon, Ernst Simon von Burgos (Moses ben Chinfa) Sofer, Moses (Moses von Preßburg)
43f., 52 176 81 215f. 206 85 99, 113-115 85 89 81 68 204 180 209f„ 226 193 9 300, 303f. 53f. 248 269f., 272 86 237 73, 85 210, 229f.
37 6
Spinoza, Baruch Sprat, Thomas Steinschneider, Moritz Stille, Curt Stillingfleet, Edward
192,194,196, 229 105 232 (Anni.) 291 37, 39f„ 46
Terragni, Giuseppe Thomas von Aquin Thomas von Cantimpré Tizian Troeltsch, Ernst Tura, Cosimo Tyedakian
11, 242-245, 248f„ 251-254 256, 258, 261, 263 99,164 162f. 141 9 101 84
Udjahorresne
20f.
van der Rohe, Ludwig Mies Veronesi, Giulia
246 244
Warburg, Aby Weber, Wilhelm Weber, Max Wilkins, John Wittgenstein, Ludwig Wust, Peter
2, 4, 8f. 299f. 10, 223f., 227 105 275f. 237
Yerushalmi, Yosef Hayim Young, Thomas
21, 30 299
Zarathustra (Zoroaster) Zunz, Leopold
lOlf., 111, 114 232f.
Das Register enthält nur Namen von Personen, die im Text selbst Gegenstand der Erörterung werden. Referenzautoren bzw. in Zitaten erwähnte Personen werden nicht erwähnt.
3 77
ABBILDUNGSNACHWEISE S. 1, 13, 33, 61, 95, 145, 185, 203, 221, 241, 265, 279, 341: Archiv Akademie Verlag; S. 118f„ 125f., 140: Archiv Moshe Barasch; S. 117, 120, 122, 127, 129, 131, 134-137, 139, 142: Bildarchiv Foto Marburg; S. 170, 172: Archiv Horst Bredekamp; S. 243, 249-251, 253, 255, 257, 259f., 262: Archiv Kurt W. Forster; S. 280, 285, 288, 293, 296f., 299f., 303, 305, 307, 309317: Archiv Thomas Y. Levin; S. 319, 324,327f„ 330-335: Archiv Thomas W. Keenan.
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