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German Pages 250 [252] Year 1994
Überredung in der Presse
Sprache Politik Öffentlichkeit Herausgegeben von Armin Burkhardt · Walther Dieckmann K. Peter Fritzsche · Ralf Rytlewski
Band 3
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G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1994
Überredung in der Presse Texte, Strategien, Analysen Herausgegeben von Markku Moilanen · Liisa Tiittula
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G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1994
® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt
Die Deutsche Bibliothek
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ClP-Einheitsaufnahme
Überredung in der Presse : Texte, Strategien, Analysen / hrsg. von Markku Moilanen ; Liisa Tiittula. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1994 (Sprache, Politik, Öffentlichkeit ; Bd. 3) ISBN 3-11-014346-1 NE: Moilanen, Markku [Hrsg.]; G T
© Copyright 1994 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz &c Bauer-GmbH, Berlin
Vorwort Die Mittel und Strategien sowohl der Überzeugung als auch der sprachlichen Manipulation sind sehr vielfältig. Um sich im heutigen Informationsfluß gegen sprachliche Manipulation durchsetzen zu können, braucht der Sachverständige, erst recht aber der Laiensprecher immer mehr Wissen. Zu diesem Zweck wurde am Germanistischen Institut der Universität Helsinki vom 17. bis 18. Mai 1993 das Kolloquium Persuasive Texte in der Presse veranstaltet. Dabei wurden verschiedene Methoden und Ergebnisse der Analyse bewertender Texte in der Massenkommunikation vorgestellt, miteinander verglichen und deren methodologische Grundlagen kritisch besprochen. Im Zentrum standen kommunikationsorientierte linguistische Analyseverfahren. Mit dem vorliegenden Konferenzband, der eine Auswahl aus den Vorträgen der Konferenz darstellt, wollen wir nicht nur den Eingeweihten einen Einblick in den heutigen Stand der Forschung von bewertenden Texten geben. Wir wollen uns damit auch an einen größeren Leserkreis wenden. Die Themenpalette der Beiträge reicht von der methodischen Grundlagenforschung in bezug auf persuasive Texte über empirische und historische Analysen bis zum interkulturellen Vergleich. Das Buch gliedert sich in fünf Abschnitte. Im ersten Abschnitt Medientheorie - Medienpraxis behandelt JOSEF KLEIN Unterschiede zwischen konklusiven, d.h. auf einer Schlußregel (regelhafte Beziehung) basierenden, und nicht konklusiven (suggestiven) Formen der Absicherung von Bewertungen in den Medien Presse und Fernsehen. Er kommt u.a. zu dem Schluß, daß es schon aus epistemologischen Gründen problematisch sei, dem Fernsehen im Vergleich zu den Schriftmedien höhere Glaubwürdigkeitswerte zuzusprechen. ERICH STRASSNER zeigt in seinem Beitrag, wie die Pressejournalisten heutzutage ihre Berichte mit deren Bewertungen in einer von den Pressestellen und Nachrichtenagenturen schon aufbereiteten und gestalteten Form einfach übernehmen. Dies bedeutet, daß die Urteils- und Meinungsbildung im zunehmenden Maß den Informatoren, den Pressestellen oder Sprechern politischer und gesellschaftlicher Institutionen zukommt. Im zweiten Abschnitt Texttheorie - Persuasion stellt KLAUS BRINKER zunächst ein Analysekonzept vor, in dessen Rahmen man die Funktionen der auf allen Beschreibungsebenen des Textes vorkommenden Bewertungen bei
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Vorwort
der Festlegung der kommunikativen Gesamtfunktion des Textes systematischer als bisher bestimmen kann. Die theoretisch-methodischen Ausführungen werden anschließend an verschiedenen Zeitungskommentaren verdeutlicht. MARKKUMOILANEN diskutiert zunächst die Frage, welche Rolle die argumentative Themenführung bei der Beeinflussung der Meinung und des Verhaltens der Kommunikanten spielt. Dann legt er anhand eines natürlichsprachlichen Argumentationsmodells fest, was man unter dem Begriff 'Scheinargumentation' verstehen soll. Anschließend zeigt er anhand eines konkreten Textbeispiels, wie die Scheinargumentation als persuasives Mittel eingesetzt wird. ALBERT HERBIG und BARBARA SANDIG arbeiten mit einem Korpus von Leseibriefen, die zu ökologischen Themen Stellung nehmen. Da sich die Leseibriefschreiber hier als Betroffene fühlen, kommt es zu emotional bewertenden Argumentationen. Im Beitrag wird gezeigt, wie die differierenden Werte als Ausdruck der zugrundeliegenden Bewertungsmaßstäbe im Text etabliert und sequenziert und wie die Bewertungen über die argumentative Textstruktur organisiert werden. Im dritten Abschnitt Textmuster diskutiert HANS RAMGE die Frage, ob Bewertungen eine einheitliche Komponente im Strukturschema von Kommentaren darstellen. Er kommt zu dem Ergebnis, daß sie dort an zwei verschiedenen Stellen anzusetzen sind. Dem Kommentar liegt ein Schema zugrunde, als dessen funktionale Elemente das Thematisieren und das Reflektieren fungieren und dessen Bewertungskomponente von inhärenten Prinzipien der Textorganisation abgeleitet ist. RÜDIGER LÄZERS Beitrag befaßt sich mit Veränderungen in den bevorzugten Strategien zur Meinungsbildung in der DDR-Presse zur Zeit der Wende. Über ein Konzept von Bewertungshandlungen kommt er zunächst zu sechs Arten der Realisierung von Bewertungen in Texten. In einem zweiten Schritt geht er dann anhand ausgewählter Beispiele von Kommentaren aus der JUNGEN WELT und dem NEUEN DEUTSCHLAND auf sein Thema ein. REGINE WEBER-KNAPP geht von einem rekonstruierten kognitiven Textschema aus und fragt, ob für Rezensionen als Texttyp ein obligatorisch bewertendes Schemaelement nachzuweisen ist. Ihr Ziel besteht darin, Bewertungen in Rezensionen nach ihrer Funktion und ihrem Stellenwert im diskursiven Handlungszusammenhang zu differenzieren und ihre jeweilige spezifische Leistung zu beschreiben. Im vierten Abschnitt Historische Analysen beschäftigt sich ULRICH PÜSCHEL mit der Frage, welche zeitungsspezifischen Anverwandlungen mit der Übernahme des Redeschemas der Schulrhetorik verbunden waren, als aus der deutschen Nachrichtenpresse gegen Mitte des 19. Jahrhunderts eine Meinungspresse wurde. Zuerst untersucht er die Textmuster, derer sich die Zeitungsschreiber bedienten, im zweiten Schritt die Stilmuster, die für diese
Vorwort
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Texte typisch sind. FRANK LIEDTKE skizziert einen theoretischen Ansatz, der u.a. die persuasive Kraft von politischen Hochwertausdrücken wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit etc. zu erklären vermag, und zwar dadurch, daß die semantische Explikation dieser Ausdrücke auf der Basis der Stereotypensemantik verbunden wird mit einer sprechakttheoretisch fundierten Explikation politischen Sprachhandelns. CHRISTOPH SAUER untersucht in seinem Beitrag Artikel in einer NS-Besatzungszeitung und kommt zu dem Ergebnis, daß die Journalisten die vorgefertigten Texte, die über Pressekonferenzen oder Nachrichtendienste in die Redaktion gelangten, trotz der angestrebten Gleichschaltung vielfältig individuell ausgestalten konnten. Im fünften Abschnitt Interkultureller Vergleich geht LIISA TUTTULA zunächst der Frage nach, ob es kulturbedingte Unterschiede in den Argumentationen der finnischen und deutschen Leitartikel bzw. Pressekommentare in bezug auf die Explizitheit vs. Implizitheit von Bewertungen gibt. Anschließend beleuchtet sie verschiedene Techniken und Mittel des impliziten Bewertens in den analysierten Texten. Dem finnischen Unterrichtsministerium und der Finnischen Akademie gebührt Dank für die finanzielle Unterstützung, ohne die das Kolloquium in dieser Form nicht möglich gewesen wäre.
Helsinki, im Februar 1994
Markku Moilanen Liisa Tiittula
Inhalt Vorwort
Medientheorie - Medienpraxis Josef Klein Medienneutrale und medienspezifische Verfahren der Absicherung von Bewertungen in Presse und Fernsehen. Typologie und semiotische Distribution Erich Straßner Vom Pressestellen- zum Pressetext Wer wertet wie und wo im Informationsfluß
Texttheorie - Persuasion Klaus Brinker Zum Zusammenhang von Textfunktion und thematischer Einstellung am Beispiel eines Zeitungskommentars Markku Moilanen Scheinargumentation als persuasives Mittel Albert Herbig, Barbara Sandig Das kann doch wohl nur ein Witz sein! Argumentieren, Bewerten und Emotionalisieren im Rahmen persuasiver Strategien
Textmuster HansRamge Auf der Suche nach der Evaluation in Zeitungskommentaren
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Inhah
Rüdiger Läzer
Persuasionsstrategien im Wandel Wertewandel und Textstrukturen in Kommentaren der DDR-Presse zur Zeit der'Wende'
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Regine Weber-Knapp
Bewertungen in literarischen Zeitungsrezensionen
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Historische Analysen Ulrich Paschel Räsonnement und Schulrhetorik im öffentlichen Diskurs. Zum Zeitungsdeutsch vor der Märzrevolution 1848
163
Frank Liedtke
Zum Beispiel "Gerechtigkeit": Über politische Leitvokabeln in persuasiver Funktion
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Christoph Sauer
Über die Inszenierung journalistischer Kommentare in einer NSBesatzungszeitung
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Interkultureller Vergleich Liisa Tiittula
Implizites Bewerten in finnischen und deutschen Leitartikeln
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Medientheorie - Medienpraxis
Medienneutrale und medienspezifische Verfahren der Absicherung von Bewertungen in Presse und Fernsehen. Typologie und semiotische Distribution JOSEF KLEIN
Bewertungen sind positive oder negative Stellungnahmen zu Sachverhalten oder Personen, zu Dingen oder zu Handlungen. Bewertungen können unter sehr verschiedenen Aspekten vorgenommen werden - von der moralischen Richtigkeit über die Zweckdienlichkeit bis zur Schönheit und zur Amüsanz usw. Bewertungen können explizit formuliert oder implizit nahe gelegt werden. In den Medien - Presse wie Fernsehen - finden wir Wertungen des journalistischen Personals selber ebenso wie Wertungen dritter, die berichtet oder die zitiert werden. Das Fernsehen läßt zu Häuf bewertende Personen auftreten, die nicht zum journalistischen Personal gehören, z.B. in TalkShows oder Fernsehdiskussionen. Bewertungen werden in der Regel sprachlich realisiert. Das gilt vor allem in Medien, auch im Fernsehen. Gleiches gilt allerdings nicht für das Absichern von Bewertungen. Das Fernsehen kennt neben sprachlichen eine Anzahl nicht-sprachliche Verfahren, um Bewertungen abzusichern, d.h. um ihre Akzeptanz bei den Rezipienten zu fördern. Wie soll man vorgehen, wenn es eine Typologie der Absicherung von Bewertungen vor allem im Hinblick auf verschiedene Medien bisher noch nicht gibt? Ich gehe dabei von der Erfahrung aus, daß man eine Bewertung sowohl mit argumentativen Mitteln als auch mit suggestiven Mitteln abzusichern vermag - absichern verstanden als Verfahren, die Akzeptanz der Bewertung bei Rezipienten zu fördern. Als Linguist fange ich dabei mit sprachlichen Verfahren an, zumal, wie erwähnt, die abzusichernden Bewertungen ja in der Regel sprachliche Äußerungen sind. Ich nehme an, daß Argumentativität und Suggestivität nicht einfach Oppositionsbegriffe sind, sondern daß die Verfahren mehr oder weniger argumentativ bzw. suggestiv sind - und daß es Verfahren im Grenzbereich zwischen beiden gibt. Diese Annahme wird gestützt durch die traditionelle
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Josef Klein
Logik, die strengere und weniger strenge Arten des Schließens (Deduktion, Induktion, Analogie) unterscheidet. Zunächst die Liste der "argumentativ" genannten Verfahren. Argumentative Verfahren der Absicherung von Bewertungen sind: auf regelhafte Beziehung referieren auf kausalen Faktor referieren auf Teil als Symptom ftir Ganzes referieren Induktion Analogie auf Autorität berufen Jede Argumentation ist konklusiv oder prätendiert zumindest, konklusiv zu sein, d.h. auf einem stringenten oder wenigstens plausiblen Schluß zu beruhen. Es läßt sich zeigen, daß jeder natürlichsprachliche Schluß implizit oder explizit auf einer generellen, regelhaften Beziehung beruht. In den Schemata der klassischen Logik erscheint die regelhañe Beziehung - grob ausgesprochen - in der Oberprämisse. Aus Gründen, die ich hier nicht ausführen kann, lassen sich diese zugrundeliegenden regelhañen Beziehungen am adäquatesten in der Form von Konditionalen repräsentieren. Wegen seines schlußfundierenden Charakters nenne ich ein solches Konditional Basis-Konditional. Bezogen auf den Parade-Syllogismus der alten Schullogik würde das bedeuten: Die Argumentation "Sokrates ist steiblich, denn er ist ein Mensch" impliziert, oder genauer: präsupponiert die Geltung des generellen, regelhañen Sachverhaltes "Alle Menschen sind sterblich" oder als Basis-Konditional formuliert: "Wenn etwas ein Mensch ist, dann ist es steiblich". In natürlichsprachlicher Argumentation bleibt die regelhañe Beziehimg meist als Präsupposition und damit als ungesagte Selbstverständlichkeit sozusagen im Hintergrund der Äußerung. Manchmal ist es allerdings umgekehrt, wenn nämlich das singulare Faktum, auf das die Argumentation sich stützt, als Selbstverständlichkeit unterstellt wird und die regelhafte Beziehung als relevant herausgehoben werden soll. Wenn z.B. als akzeptiert gilt, daß Sokrates ein Mensch ist, aber irgendjemand dennoch eine Unsterblichkeit des Sokrates in Erwägung zieht, dann könnte die Argumentation so lauten: "Sokrates ist steiblich, denn: Wenn ein Wesen ein Mensch ist, dann muß es unweigerlich sterben." D.h. es wird die regelhañe, hier sogar naturgesetzliche Beziehung zwischen Mensch-Sein und Tod als explizites Argument verwendet und nicht der singulare Sachverhalt, daß Sokrates Mensch ist.
Verfahren zur Absicherung von Bewertungen in Presse und Fernsehen
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Regelhafte Beziehungen, die Argumentationen zugrunde liegen, können solche sein, die aus logischen oder aus naturgesetzlich-empirischen Gründen ausnahmslos gelten, sie können aber auch sozusagen windelweich sein, so daß ein Zusammenhang nur wahrscheinlich ist oder naheliegend ist. Das gilt vor allem im Bereich menschlichen Handelns: Kürzlich las ich in meiner Heimat-Zeitung folgende sarkastische, mittlerweile allerdings veraltete Argumentation: "Schon die x-te Affäre. Aber Minister Krause tritt nicht zurück; denn er ist ein deutscher Minister." Präsupponiert ist hier die regelhafte Beziehung: Wenn jemand in Deutschland Minister ist, dann ist es meist so, daß er auch bei starker Affärenbelastung nicht zurücktritt. Im vollen Sinne begriffen hat man die Argumentation aber erst, wenn man die implizite Anspielung auf eine Art Oberregel mitversteht, die man etwa so formulieren könnte: "Wenn ein Minister affärenbelastet ist, dann liegt es nahe, daß er zurücktritt." Gemessen an dieser (Ober-)Regel stellen dann die deutschen Usancen eine Ausnahmeregel dar, sofern man die Oberregel deskriptiv liest. Man kann - und soll hier offensichtlich auch - die Regel präskriptiv, als Handlungsnorm lesen: "Wenn ein Minister affärenbelastet ist, dann liegt es nahe (im Sinne von: 'dann ist es geboten') zurückzutreten." Handlungsnormen als explizite Stützargumente für politische Bewertungen zu verwenden, wird in unseren Medien - gleichgültig ob in Presse, Hörfunk oder Fernsehen - immer dann besonders häufig zur Absicherung von kritischen oder affirmativen Werturteilen verwendet, wenn das Gefühl verbreitet ist, daß bestimmte Normen vor allem für die Kritisierten keine Selbstverständlichkeit mehr - oder noch nicht - sind. Eine solche Zeit haben wir im Moment (Frühjahr 1993): Es ist geradezu eine Zeit normexplizierender Argumentation. Dazu zwei Beispiele, wie wir sie derzeit häufiger treffen, das erste aus einem Zeitungskommentar. Da heißt es zunächst abwertend: "Hatten Krause und Streibl verdrängt, worauf sie vereidigt sind?" Und dann schließt sich die Norm-Explikation an: "Regierungsämter verpflichten zur Mehrung des Allgemeinwohls - von Eigennutz ist nicht die Rede im Amtseid." Oder ein anderes Beispiel aus einem Fernsehkommentar im Vorfeld der Petersberger SPD-Beschlüsse: Zunächst die Norm-Formulierung: "Staaten, die für vielfaltige Entwicklungen auf der Welt Verantwortung tragen, tragen sie auch, wenn es gilt Frieden zu schaffen" und dann die bewertende Schlußfolgerung: "Darum ist es nur zu begrüßen, wenn in der SPD Bewegung in die Ablehnungsfront in Sachen 'deutsche Beteiligung an UNO-Einsätzen' kommt." Der argumentative Standardfall ist allerdings - auch derzeit - der umgekehrte Fall: Expliziert werden als Argumente die Sachverhalte, die mit der
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Josef Klein
Konklusion regelhaft verbunden sind, und nicht die regelhafte Beziehung d.h. im Fall von Wertungen: nicht die zugrundeliegende Norm. Ich unterscheide 4 Prototypen einer derartigen argumentativen Verwendung von Sachverhalten. Sie entsprechen im wesentlichen den Schlußarten, die die klassische Logik unterscheidet: Den ersten Typ nenne ich - in einem weiten, nicht auf dem Kausal-Begriff der Naturwissenschaften eingeschränkten Sinne - "Bezug auf einen kausalen Faktor". Um ein Beispiel für den Kausalbezug aus einer Fernseh-Diskussion zu nennen: Die Bewertung war: "Streibl ist meiner Meinung nach als Ministerpräsident untragbar." Die argumentative Absicherung erfolgte dann über die Angabe eines Sachverhaltes, der für diese Bewertung das auslösende kausale Moment bildet. Es heißt da: "Streibl ist weder als Ministerpräsident auf Staatskosten gereist, noch hat er die Reise als Privatmann aus eigener Tasche bezahlt." Die beiden bisher erläuterten Verfahrenstypen gehören - nach den Unterscheidungen der klassischen Logik, etwas vereinfacht gesprochen, zu den enthymemischen, d.h. abgekürzten Formen des sog. "deduktiven Schließens". Von den drei weiteren hier als argumentativ bezeichneten Verfahren ist seit Zeiten des Aristoteles umstritten, wie weit es sich bei ihnen um Schlüsse in einem strengen logischen oder auch nur seriösen Sinne handelt oder ob es sich nicht eo ipso um Pseudo-Formen von Schlüssen handelt - ich kann hier auf diese Diskussion allerdings nicht näher eingehen. Sowohl der Schluß von Teil auf das Ganze als auch der Schluß von einzelnen Elementen auf die Gesamtmenge bzw. vom Einzelfall auf das generelle Prinzip wird in der klassischen Logik unter den Begriff der Induktion (bei Aristoteles "epagôgè") gefaßt. Wir trennen dies heute in zwei eigene Typen. Um Teil-Ganzes-Bezug handelt es sich etwa, wenn aus der Tatsache, daß marktwirtschaftliche Systeme Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen, auf einen generell ausbeuterischen Charakter dieser Systeme geschlossen wird. Ein Pars-pro-toto-Argument ist das. Und um eine induktive Argumentation handelt es sich, wenn die generelle Aussage - auch das ein Zitat aus einer TV-Diskussion - lautet: "Die Politiker sind ein unglaubwürdiger Berufsstand geworden" und das dann abgesichert wird mit drei Beispielen: "Schauen Sie sich Möllemann an, schauen Sie sich Krause an und dann noch den Streibl." (Engholm war da noch nicht zurückgetreten, als diese Generalisierung gemacht wurde.) Der nächste Typ ist das Analogie-Argument. So wurde der Vergleich von Saddam Hussein mit Hitler medienübergreifend als ein Rechtfertigungsargument für den Golfkrieg verwendet. Zu den argumentativen Formen wird traditionell auch der sogenannte "Autoritätsbeweis" gezählt. Wir Linguisten kennen das ja auch: "Es muß stimmen! Denn Chomsky hat es gesagt." Aber spätestens hier beim Autori-
Verfahren zur Absicherung von Bewertungen in Presse und Femsehen
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tätsbeweis wird der Übergang fließend zu den suggestiven Formen der Absicherung von Bewertungen, zu denen ich jetzt komme. So nenne ich alle Verfahren, die eine Bewertung für die Rezipienten akzeptabler - u.U. auch nur eindrucksvoller - machen sollen, ohne daß die Sachverhalte, die in diesen Verfahren angeführt oder arrangiert werden, in einer konklusiven, d.h. auf Regelhafligkeit basierenden Fundierungsbeziehung zu der Bewertung stehen. Suggestive Verfahren der Absicherung von Bewertungen sind: Sympathieträger präsentieren Atmosphäre präsentieren Kontrastieren Hervorheben Evidenz vermitteln Wenn die Autoritätsperson, die eine Bewertung vertritt, kein Wissenschaftsheroe ist, sondern ein prominenter Sympathieträger ohne besondere Sachkenntnis im Bereich des bewerteten Sachverhalts, dann handelt es sich auf alle Fälle um Suggestion. In Reinkultur finden wir das bei der Testimonial-Weibung. Die Bewertung, daß Haribo-Lakritz etwas Tolles ist oder McDonalds Fast food besonders lecker schmeckt, sichert der Show-Master Thomas Gottschalk in der deutschen Fernsehwerbung nicht durch Expertentum ab, sondern als Sympathie-Träger. Zu den suggestiven Verfahren, die sich in Medien beobachten lassen, gehört zweitens, Atmosphäre zu präsentieren. Bei der Darstellung eines Politikers oder eines Stars in sogenannten "positiv besetzten Kontexten" verspricht man sich von solchen Stimmungsberichten offensichtlich suggestive Auswirkungen auf die Akzeptanz nicht nur der Person, sondern auch der Positionen und Bewertungen, die sie vertritt. Drittens: Kontrastieren. Als Beispiel der antithetische Untertitel eines Zeitungsberichts: "Massaker der Seiben - Verzweiflung der Bosnier". Hier bekommt die Negativ-Bewertung, die der serbischen Seite mit dem Wort "Massaker" zugesprochen wird, dadurch einen verstärkten Rückhalt, daß das Handeln der Seiben kontrastiert wird mit der Perspektive der von Massakern bedrohten Bosnier. Im Hinblick auf den nächsten Typ, das Hervorheben, habe ich lange überlegt, ob das Hervorheben sich lediglich im Relevant-Setzen einer Bewertung erschöpft oder ob es auch ein Verfahren der Absicherung ist. Ich habe es unter die Verfahren der Absicherung aufgenommen, nicht zuletzt, weil ich von einigen Journalisten weiß, daß sie davon ausgehen, daß zumindest ihre Stammleser von den Meinungen und Positionen besonders
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beeindruckt sind, die sie an hervorgehobener Stelle oder in hervorgehobenem Drucktyp lesen - besonders als Überschriften. Letzter Verfahrenstyp: Evidenz vermitteln. In der klassischen Logik und Wissenschaftstheorie wird der "Evidenz-Beweis" manchmal als besonders starke Form des Schließens kategorisiert. Muß "Evidenz (vermitteln)" dann nicht unter die argumentativen Verfahren gezählt werden? Ich bin ziemlich sicher, daß dies falsch wäre. Denn "Evidenz" markiert einen Erkenntniszustand, der einer Argumentation gerade nicht mehr bedarf. Und es ist ein routinemäßig angewandter Kniff medienerfahrener Polit-Profis, eine Position dadurch gegen Argumentation zu immunisieren, daß man sie fur "evident" erklärt, für "selbstverständlich" oder "ganz und gar selbstverständlich", wie Helmut Kohl manchmal sagt. "Evidenz" für die eigene Position - das ist etwas, das man den Leuten zu suggerieren versucht. Wir haben die Verfahrenstypen exemplifiziert an Formen sprachlicher Realisierung. Prinzipiell sind sie literal wie oral realisierbar, - bei allen Stilunterschieden im Einzelnen, auf die ich hier nicht näher eingehe - und wir fanden sie sowohl in der Presse als auch in mündlicher Realisierung im Fernsehen. Das gibt mir übrigens die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß Fernsehen ja keineswegs nur - und vielleicht nicht einmal in erster Linie ein visuelles Medium ist. Es ist vor allem auch ein Medium der Mündlichkeit, und es teilt im Hinblick auf die Sprachverwendung im Verhältnis zur Schriftlichkeit alle Verzüge und Nachteile der Mündlichkeit - mit einer wichtigen Ausnahme: der unmittelbaren dialogischen Rückkopplungsmöglichkeit des Fernsehpersonals mit den Zuschauern. Das Bezugsobjekt unseres Themas, Bewertungen, werden auch im Fernsehen durchweg sprachlich vollzogen. Deswegen ist es nicht verwunderlich, daß wir auch im Medium Fernsehen den kompletten Katalog unserer Verfahrenstypen in sprachlicher Realisierung finden. Die Frage, die sich nun stellt, heißt: Inwieweit stehen auch in den nicht-sprachlichen semiotischen Dimensionen diese oder andere Mittel der Absicherung von Bewertungen zur Verfügung?
Verfahren zur Absicherung von Bewertungen in Presse und Fernsehen
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Medienrelevante semiotische Dimensionen sind:
Motivik BildTechnik
Das Fernsehen ist wie der Tonfilm ein semiotischer Mix aus Sprache, Bild und nicht-sprachlichem Ton. Dabei ist die Bildmotivik von der Bildtechnik (z.B. Zeitlupe, Großaufnahme, Schwenk, Zoom usw.) zu unterscheiden und beim Ton (abzüglich Sprache) zwischen Musik als Hintergrund und den Geräuschen des dargestellten Geschehens. Die Suche nach Absicherungsverfahren zu Bewertungen in den verschiedenen Dimensionen bringt folgende Ergebnisse:
Josef Klein
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-^emiot. Dimension Sprache
Γ C
h
Musik
-
-
-
visuell darstellbarer Kausal faktor
-
-
-
Teil-Ganzes- Pars pro toto Bezug
Symptomat. Phänomen, Symbolfigur
-
-
-
Induktion
Generalisieren
Demonstratlonsbelsplel
-
-
-
Analogie
Vergleich
BildMetapher
Kamerabewegung
Tonmalerei
Person (Mimik, Gestik, Outfit)
Kamerawinkel
Klangfarbe
Beifall, Lachen
Atmosphäre
Stimmungsbericht
Atmosphärische Bilder
Einstellung, Schnittgeschwindigkeit
Klangfarbe
Sit.charakterisier. Geräusche
Kontrast
Antithese
MotivKontrast
Hervorhebung
graph./pros. Markierung Piazier ung
Evidenzeindruck vermitteln
Selbstverständlich^ unterstellg.
RegelBezug
NormAngabe
KausalBezug
KausalAngabe
Autorität
Zitat
Sympathieträger d U
Γ C
'Tor Technik
fahrenstyp
d
Bild Motivik -
Geräusch
-
Schnitt
Tempo-, Dynamik-, Klangkontrast
Geräuschkontrast
Platzierung, Vordergrund
Zeitlupe, Großauf n., Zoom
(plötzl.) Lautstärke/ Stille
(plötzl.) markantes Geräusch/Stille
Dabei-seinUlusion
(fast) alle Bildtechniken
h
-
Originalgeräusche
Verfahren zur Absicherung von Bewertungen in Presse und Fernsehen
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Die Spalte links außen enthält die erläuterten Verfahrenstypen. (Argumentation durch - Suggestion durch) Die Kopfzeile enthält die semiotischen Dimensionen Sprache, Bild, und zwar Bildmotiv und Bildtechnik, sowie Ton als Musik und als Geräusch. Im Schnittpunkt der Kategorien wird jeweils ein Verfahren (oder mehrere) genannt, in denen die Verfahrenstypen aus der linken Spalte in der jeweiligen semiotischen Dimension ausgeprägt sind. Es handelt sich dabei um besonders wichtige oder prototypische Verfahrens-Ausprägungen, neben denen es im Einzelfalle auch noch andere, weniger typische geben mag. Für die Ausprägungen der Verfahrenstypen in der Dimension Sprache haben wir ja sämtliche Beispiele behandelt (Regelbezug als Angabe einer Norm usw.). In der Bild-Dimension stellt sich zunächst die Frage: Können Bildmotive die Funktion von Argumenten haben? Die Antwort ist eindeutig: Ja, allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: In allen nicht-sprachlichen semiotischen Dimensionen, auch der Bilddimension sind Normen nicht unmittelbar repräsentieibar. Bilder können Symbole für Normen darstellen; aber es gelingt nicht, Nonnen als Bilder zu formulieren. Fernsehbilder sind immer nur Abbilder von konkreten singulären Sachverhalten, was zum Wesen von Handlungs- und Bewertungsnormen gehört. Und auch bei der Absicherung einer Bewertung durch Verweis auf Kausalfaktoren sind der Fernsehkamera nur solche Kausalfaktoren zugänglich, die visuell wahrnehmbar sind, z.B. in einer Fernsehsendung der End-60er Jahre, wo voller Verbitterung die Sorge ausgesprochen wurde, daß die Deutschen die Zugehörigkeit zueinander verlieren könnten - und dabei wurde in einer langen Einstellung die Berliner Mauer als kausaler Faktor gezeigt. Andere, vor allem psychische Faktoren, die bei Prozessen des Auseinanderlebens eine Rolle spielen, wären dagegen mit der Kamera nicht unmittelbar abbildbar gewesen. Reichlich Gebrauch machen Fernsehjournalisten und Filmregisseure von der Teil-Ganzes-Beziehung bei der Wahl von Bildmotiven. Das Bild eines bewertungsrelevanten Teilphänomens muß herhalten, um als symptomatisch für den Zustand des Ganzen genommen zu werden: So versuchte das ehemalige DDR-Fernsehen manchmal mit Bildern von heruntergekommenen Vierteln in Duisburg oder Gelsenkirchen zu belegen, daß die Bundesrepublik in Wahrheit in einem elenden Zustand sei. Bei der personenbezogenen Variante des Verfahrens werden bekannte Symbolfiguren für das Ganze genommen. Spiegel-TV hat einen Dokumentarfilm "5 Wochen im Herbst" über die Wende in der DDR gedreht. Da sagt Stephan Aust als Redakteur im Off: "40 Jahre jung und doch steinalt". Gezeigt wird dabei ein Bild, wie der greise Erich Honecker während der 40-Jahr-Feier mit einer Gruppe von greisen Antifaschisten anstößt. Die Bewertung der DDR als "steinalt" wird hier getragen
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von dem als symbolisch genommenen Bild. Die Bewertung "steinalt" wäre mit Sicherheit unterlassen worden, wenn der Redaktion von Spiegel-TV nur Bilder von Honecker-Toasts mit jüngeren Leuten, z.B. mit FDJ-Gruppen, vorgelegen hätten. Ähnlich gerne und ähnlich tendenziell manipulativ wird mit der Kamera Gebrauch gemacht vom Prinzip der Induktion. Ein beklemmendes Zeugnis von haßfördernder Generalisierung auf der Basis von Bildern als Demonstrationsbeispielen war im vergangenen Jahr der Umgang des kroatischen Fernsehens einerseits und des seibischen Fernsehens andererseits mit drei malträtierten Kinderleichen aus Vukovar. Im seibischen Fernsehen hieß es so wurde in einem ARD-Bericht über die damaligen seibisch-kroatischen Kämpfe berichtet - "Schaut euch diese seibischen Kinderleichen an. So morden die kroatischen Bestien!" Und im kroatischen Fernsehen geschah mit den selben Bildern die gleiche Generalisierung - nur mit umgekehrtem Vorzeichen: Dort wurde behauptet, die Kinder seien kroatische Kinder und die Mörder seien Seiben - mit der nahegelegten Schlußfolgerung, daß die Seiben (sozusagen alle) Mordungeheuer seien. Nächster Typ: Bild-Metapher als optische Ausprägung der Analogie. Spektakuläres Beispiel: Die Video-Aufiiahmen aus den Zielkameras der amerikanischen Bomber während des Golfkrieges lieferten die verharmlosende visuelle Metapher vom Krieg als einem Video-Spiel, in dem saubere technische Geräte der ersten Güteklasse andere technische Geräte der zweiten Güteklasse problemlos ausschalten. Daß dabei Menschen steiben, sollte möglichst im Hintergrund bleiben. Autoritäten, Experten und Sympathieträger werden nicht nur durch Zitat benutzt, um Bewertungen für Rezipienten akzeptabler zu machen - Fernsehen setzt auf die Ausstrahlung ihrer ganzen Person, und das heißt vor allem auch auf die Wirkung von Mimik, Gestik und Outfit. Daß Atmosphäre-einfangende Bilder oft geneigter machen, eine positive oder negative Bewertung zu übernehmen, braucht nicht eigens vertieft zu werden. Die harte Kontrastierung divergierender Bild-Motive benutzen TVRedakteure gerne dazu, Negativ-Wertungen durch eine Art Entlarvungsefiekt abzusichern und zu verstärken. So werden in dem oben genannten SpiegelTV-Film die Bilder von der offiziellen pathetischen FDJ-Abendkundgebung zum 40. Jahrestag der DDR unmittelbar konfrontiert mit Aufnahmen von zwei DDR-Jugendlichen, die über die Oder nach Polen geflüchtet waren, die dort aber festgenommen wurden und nun in einer Zelle voller Angst darauf warten, in die DDR abgeschoben zu werden und dort für 1-2 Jahre wegen Republikflucht ins Gefängnis zu kommen - ein Bild des Jammers und der Not zweier junger DDR-Flüchtlinge. Und im scharfen Kontrastschritt: Die FDJ
Verfahren zur Absicherung von Bewertungen in Presse und Fernsehen
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feiert und ruft im Staccato-Chor: "DDR-unser Vaterland. DDR-unser Vaterland". Nächster Typ: Hervorhebung. Auf der Ebene der Bildmotive geschieht das in der zeitlichen Dimension vor allem durch Plazierung an strukturell wichtigen Stellen innerhalb einer Sequenz, z.B. unmittelbar vor einem sog. "harten Bildschnitt" - sozusagen als Ausrufezeichen am Ende der Passage. In der räumlichen Dimension geschieht Hervorhebung vor allem durch Plazierung des bewertungsrelevanten Geschehens im Bild-Vordergrund. "Evidenz": Die Suggestion der Evidenz ist in der Bilddimension nicht einfach ein Verfahren zur Abstützung von Bewertungen unter anderen. Sie ist geradezu das Wesensmerkmal des Fernsehens. "Überall und nirgendwo dabei" ist der Titel eines der beiden berühmten Bände von Joshua Meyrowitz' Klassiker "Die Fernsehgesellschaft". Das zielt auf den illusionären Charakter des Fernsehens, das uns suggeriert, wir wären überall dabei - aber in Wahrheit sitzen wir in unserem Wohnzimmer und nehmen fremdselektierte, oft perspektivisch verzerrte Fragmente vom Zustand der Welt wahr, Inszenierungen und fiktionale Artefakte. Aber diese Illusion des Dabei-Seins, dieses Scheinbar-mit-eigenen-Augen-Sehens - das ist das suggerierte Erlebnis von Evidenz des Gesehenen. Die Gewißheit, die von Evidenz ausgeht - auch von scheinhafter - ist es, die dem Fernsehen seit Jahrzehnten den Status als das Medium mit der höchsten Glaubwürdigkeit sichert. Ist die abgegebene Bewertung eng mit einem solchen Evidenz-Erlebnis verknüpft, so ist die Wirkung, vor allem die emotionale, deutlich stärker, - im Durchschnitt jedenfalls - als wenn man nur davon liest oder hört. In der Zeitung zu lesen, in Vukovar habe der Feind drei Kinder umgebracht, stachelt den Haß weniger an, als die drei massakrierten kleinen Körper im Fernsehen scheinbar mit eigenen Augen zu sehen. Wenn man nun die Reihe der Verfahren bei der Bild-Motivik mit den sprachlichen Verfahren vergleicht, zeigte sich, daß auch Bilder erhebliche argumentative Kraft entfalten können, daß diese aber gerade nicht bei den logisch strengeren Argumentationsverfahren liegt, sondern bei den logisch schwächeren, die den suggestiven Verfahren näher stehen und die der Pseudoargumentation besonders günstig sind. Hier und erst recht in den nichtargumentativen Verfahrenstypen wird von den Fernsehmachern die suggestive Kraft von Bildern voll ausgespielt. Dabei hilft vor allem die Bild-Technik. Die Bild-Techniken haben für sich selbst keine argumentative Potenz, aber eine nicht zu unterschätzende suggestive. Diese Techniken sind sämtlich polyfunktional. Ich habe hier in der Übersicht die Zuordnungen bei der Bildtechnik so vorgenommen, daß nur die Techniken aufgeführt sind, die sich für den jeweiligen Verfahrenstyp besonders gut eignen. Das ist für die Analogie die Kamera-Bewegung. So
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kann die Bewertung, die eine drängende, in Panik befindliche Menge von einer bedrohlichen Situation hat, dadurch verstärkt werden, daß der KameraMann mitdrängt und die Kamera mitschwankt analog zu der Bewegung der Menge. Sympathiewerte für Personen sind nicht unabhängig von dem KameraWinkel, aus dem Kopf und Oberkörper aufgenommen werden. Ein großes Kinn wirkt von unten aufgenommen besonders 'brutal'. Die CDU hat Mitte der 70er Jahre eine vielbeachtete Auseinandersetzung mit der ARD über die Frage der Manipulation durch Kamera-Winkel gefuhrt. Daß harte Schnitte Kontrastbildung fördern, ist offensichtlich, und daß Zeitlupe, Großaufnahme und Zoom oder auch die Beleuchtung bildtechnische Mittel der Hervorhebung sind, und daß - vielleicht mit Ausnahme des Zeitraffers - alle Bildtechniken dabei mithelfen, die Illusion des Dabei-Seins und den Eindruck der Evidenz des Gezeigten zu vermitteln, ist ebenfalls unmittelbar einzusehen. Auf die Dimension Musik und Geräusch kann ich an dieser Stelle nur noch kurz eingehen. Musik und Geräusch haben im Fernsehen - zumindest im Normfall - keine argumentative Funktion. Sie unterstreichen auf suggestive Weise das Gesagte und das Gezeigte. Tonmalerei wird als musikalische Analogie zur Handlung verwendet. Vor allem durch Klangfarbe werden Sympathiewerte und Atmosphäre unterstrichen, Kontraste und Hervorhebungen gerne durch dynamische, die Lautstärke betreffende Effekte markiert. Nur zur Illusion, bei einem Geschehen dabei zu sein, und damit zur Vermittlung von Evidenz trägt untermalende Musik - und nur die ist hier gemeint, nicht die Fernsehübertragung eines Symphonie-Konzerts - nichts bei. (Bei der Übertragung eines Konzerts oder der Musiknummer in einer Unterhaltungsshow handelt es sich natürlich um Originalgeräusche, und als solche trägt die Musik dann bei zur Illusion, dabei zu sein.) Von bewertungsabsichernden Funktionen non-veibaler Geräusche will ich abschließend nur noch eine nennen: den Beifall·. Beifall, der einfach nur gespendet und nicht übertragen wird, bedeutet nicht Absicherung einer Bewertung, sondern Zustimmimg zu etwas; d.h. Beifall ist selbst eine nonverbale Form der Bewertung - u.U. der Bewertung von denjenigen Bewertungen, die ein Redner von sich gibt. Wie aus Beifall, der übertragen wird, nun ein Verfahren der Absicherung von Bewertungen wird, will ich an einem kurzen Beispiel aus der oben genannten Spiegel-TV-Dokumentation über die Wendewochen in der DDR vorführen: Situation: Eine Predigt in der Ostberliner Gethsemane-Kirche am 4. Oktober 1989.
Verfahren zur Absicherung von Bewertungen in Presse und Fernsehen
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Die Passage zwischen zwei Schnitten umfaßt folgende Text-Bild-TonSequenz: Prediger (in Nah-Aufiiahme): "Wer heute die Hoffnung der Menschen im Polizei-Einsatz ersticken will, der ist nicht mehr als Sozialist zu verstehen, sondern der ist ein Konterrevolutionär. Er betreibt eine reaktionäre Gewaltpolitik. - " (Während des letzten Satzes kommt Beifall auf, schwillt an und dauert fort, während der Prediger schweigt. Nach Einsatz des Beifalls schwenkt die Kamera auf die beifallspendende Zuhörermenge und bleibt dort bis zum Schnitt.) Im Kontext des Films gehören die Zuschauer in der Gethsemane-Kirche zu den Sympathieträgern, mit denen sich der Zuschauer weitgehend identifizieren soll. Sie werden in Sachen politischer Moral zu einer Art kollektiver Autorität. Ihre Zustimmung bedeutet damit eine suggestive Hilfe für Rezipienten, sich mit der Prediger-Äußerung einverstanden zu erklären - obwohl ihnen wie manchem Westdeutschen, vielleicht gar nicht so richtig klar ist, was der Begriff "Konterrevolutionär" bedeutet. Wenn wir uns abschließend die Übersicht als ganze anschauen, dann scheinen mir die Hauptergebnisse folgende zu sein: 1. Nur in Sprache sind sämtliche Absicherungsverfahren fur Bewertungen realisierbar. 2. Nur die suggestiven Verfahren sind in allen semiotischen Dimensionen realisierbar. 3. Obwohl die Bild-Motivik argumentative Funktionen erfüllt, weist sie bei den logisch stärkeren Verfahrenstypen gegenüber der Sprache deutlich Defizite auf. Es ist deshalb 4. schon aus epistemologischen Gründen problematisch, daß dem Fernsehen im Vergleich zu den Schriftmedien immer wieder höhere Glaubwürdigkeitsweite zugesprochen werden. 5. Die Unterschiede zwischen den Medien Presse und Fernsehen gründen im Hinblick auf unser Thema "Verfahren zur Absicherung von Bewertungen" vor allem darin, daß das Fernsehen neben der sprachlichen Dimension die Bild- und die Ton-Dimension umfaßt. 6. Gemessen an den so bedingten Unterschieden, sind die Unterschiede zwischen den sprachlichen Verfahren in beiden Medien eher gering.
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Unterschiede zwischen der Handhabung der sprachlichen Verfahren in der Presse und Handhabung im Fernsehen gründen vornehmlich in der Differenz von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Die Mündlichkeit des Fernsehens fördert vor allem bei dialogischen oder - besser gesagt: trialogischen Formen von Auseinandersetzung die Tendenz, die Flüchtigkeit der gesprochenen Sprache zu nutzen, um risikoloser als in Schriftmedien die argumentativen Verfahrenstypen so einzusetzen, daß Argumentativität prätendiert, aber Pseudo-Argumentativität realisiert wird.
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LITERATUR Bürger, Harald: Sprache der Massenmedien. Berlin/New York 1984. Eco, Umberto: Semiotik und Philosophie der Sprache. München 198S. Klein, Josef: Die konklusiven Sprechhandlungen. Tübingen 1987. Ders.: Elefantemunden 'Drei Tage vorder Wahl'. Die ARD-ZDF-Gemeinschaftssendung 1972 bis 1987. Baden-Baden 1990. Meyrowitz, Joshua: Die Femseh-Gesellschaft Bd.1: Überall und nirgendwo dabei. Weinheim/ Basel 1990. Monaco, James: Film verstehen. Reinbek 1980. Ronneberger, Franz: Musik als Information. In: Publizistik 24 (1979) S. 5-28. Strafiner, Erich: Sprache in Massenmedien - ein ForschungsQberblick. In: Bentele, Günter (Hrsg.): Semiotik und Massenmedien. Manchen 1981, S. 57-74. Zillig, Werner: Bewerten. Tübingen 1982.
Vom Pressestellen- zum Pressetext Wer wertet wie und wo im Informationsfluß ERICH STRASSNER
Der größte Teil des Inhalts, der im überlokalen aktuellen Bereich die Zeitungen füllt, stammt von den Nachrichtenagenturen. Diese übernehmen primär von anderen Agenturen, von ausländischen oder spezialisierten - die Deutsche Presse-Agentur (dpa) etwa hat Austauschverträge mit 70 Partnern - , weiter aus Telex- und Telefax-, aber auch Postsendungen, die von Pressestellen eingehen, aus den Berichten der Korrespondenten und freien Mitarbeiter, die ihrerseits wieder auf Materialien anderer Agenturen, im Inland vor allem aber auf Pressestellenunterlagen zurückgreifen. Ausgangsmaterial ist in den meisten Fällen nicht das beobachtete Ereignis, sondern das bereits berichtete, daneben vor allem die Meinimg, die von politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich relevanten Persönlichkeiten geäußert und übermittelt wird. In der Bundesrepublik Deutschland haben in den letzten Jahrzehnten alle wichtigen Institutionen, die sog. öffentliche Hand, also Parlamente, Regierungen, Verwaltungen, die Justiz, staatliche und kommunale Einrichtungen, weiter Organisationen wie Parteien, Gewerkschaften, Religionsgemeinschaften, Verbände, Vereine, Kammern und selbstverständlich die Wirtschaftsunternehmen Pressestellen eingerichtet. Sie dienen als öffentlichkeitswirksame Vermittler zur Selbstdarstellung, zur Stellungnahme und auch für Angebote an die Massen- und Fachmedien. "Die a l l g e m e i n e Bedeutung der Pressearbeit zeigt sich im großen - und offenbar wachsenden Anteil der aus Pressemitteilungen und Pressegesprächen stammenden Formulierungen an der Berichterstattung der Print- und Funkmedien", so Frank Böckelmann, der mit einem Team der 'Arbeitsgruppe Kommunikationsforschung München (AKM)' im Auftrag des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung zwischen 1985 und 1991 eine umfangreiche Analyse der Pressestellenaibeit vorlegte.1 Aufgabe der in den Pressestellen Tätigen ist es also, Tormulierungen1 zu produzieren, die möglichst unverändert über die Massenmedien an ein breites, über die Fachmedien an ein Zielpublikum herangebracht werden 1 Böckelmann (1991); Ders. (2), (21991); Deis. (19913)
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sollen. Das ist für die meisten der in den Pressestellen Arbeitenden kein Problem, denn sie waren überwiegend zuvor in einer Presse- oder Funkredaktion beschäftigt. "Für die meisten von ihnen bedeutet der Wechsel zur Presseaxbeit keine Abkehr vom 'eigentlichen* Journalismus, sondern lediglich eine Richtungsänderung im Journalistenbemf."2 Nach Böckelmann zeigen die Medien "große Au&ahmebereitschaft gegenüber den - häufig abdruckfertigen - Pressetexten der Kontaktstellen". "91 Prozent" der Pressestellenjournalisten äußern sich auf Beiragen "zufrieden über die Resonanz der Medien auf Pressemitteilungen und ähnliches; 94 Prozent bestätigen, daß diese Stellungnahmen 'überwiegend' angemessen wiedergegeben werden".3 Das ist subjektiv. Objektive Untersuchungen zur Frage einer Übernahme der Texte sind bislang selten. 1976 ermittelte eine Analyse der drei größten schleswigholsteinischen Tageszeitungen eine überdurchschnittlich große Abdruckquote der Pressemitteilungen der schleswig-holsteinischen Landesregierung, des Landtags, der Fraktionen und der Parteien. Die Texte wurden überwiegend unkommentiert und unverändert übernommen.4 1978 ergab eine Untersuchung der Gesamtberichterstattung in den Tageszeitungen NordrheinWestfalens, daß 58 Prozent der Texte Reproduktionen von Pressemitteilungen waren. Beim Hörfunk belief sich der Anteil auf 46, beim Fernsehen auf 40 Prozent.5 Diese Analysen sind verhältnismäßig alt. Wir müssen aber mit Böckelmann davon ausgehen, daß, bedingt durch wachsenden Selektions- und Zeitdruck, vor allem aber durch die Elektronisierung der Redaktionsaibeit, die Standardisierung der aktuellen Berichterstattung zugenommen hat. Das ist verbunden mit der gestiegenen Bereitschaft, "ausformulierte Texte mit 'distanzierter' Diktion zu übernehmen", zumal dann, wenn die Medienexperten der Pressestellen sich auf die Redaktionsschlußzeiten, die Sendetermine, die Platz- bzw. Zeitknappheit und die Püblikumsinteressen einstellen.6 Pressestellenjournalisten versuchen vor allem, Informationen über die Aktivitäten ihrer Institutionen in die Berichterstattung der Medien zu bringen, deren partikulare Interessen deutlich zu machen. Die Aktivitäten, seien es ereignis- oder meinungsbezogene, müssen deshalb empfohlen werden, wobei die Empfehlungsäußerungen einzuordnen sind in gängige, von anderen Journalisten und dem Publikum akzeptierte Standards. 2 3 4 5
Böckelmann (1991) Böckelmann (1991) Nissen/Menningen (1977) Baems (1982). - Für den lokalen Bereich wurde nachgewiesen, daß die Informationsquellen, etwa die Funktionseliten der Gemeinden, weitgehend die Themen und die Texte der Berichterstattung bestimmen: Rombach (1983); Rager (1982); Rohr (1980); Wolz (1979) 6 Böckelmann (1991 3 )
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Empfehlungen werden sprechakttheoretisch als Untermuster von Ratschlägen betrachtet, wobei letztere wiederum zu den Aufforderungen gehören. Pressejournalisten fordern also ihre Adressaten auf, ihre Texte zu übernehmen, sie weiterzugeben an ein Massen- oder Fachpublikum. Sie fordern auf, indem sie diesen empfehlen, ihre Sichtweise zu akzeptieren und sie möglichst unverändert zu belassen. Mit Empfehlungen sind immer Bewertungen verbunden,7 Angebote oder Implikationen von Sichtweisen, wonach der Endabnehmer nach Ansicht der Absender am besten fährt, wenn er sie zur Grundlage seines Handelns macht. Ich versuche solche empfehlende Weitungen an einem Beispiel offenzulegen: Pressemitteihmg: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 21. März 1993 Nr. 92/93 Der Sprecher der Bundesregierung, Dieter Vogel, erklärt: Die Bundesregierung verbindet mit den gestern abend von Präsident Jelzin verkündeten Maßnahmen zur Lösung der Verfassungskrise in Russland die Hoffnung auf einen friedlichen Ausweg aus dieser Krise. Die Bundesregierung hat in letzter Zeit wiederholt das vitale Interesse Deutschlands am ungehinderten Fortgang der demokratischen und marktwirtschaftlichen Reformen, wie sie von PrSsident Jelzin verkörpert werden, herausgestellt. Durch den letzten KongreB der Volksdeputierten wurde der Grundsatz der Gewaltenteilung, ein tragendes Prinzip jeder demokratischen Verfassung, einseitig zu Lasten des frei gewählten Präsidenten Russlands in Frage gestellt. Vor diesem Hintergrund, und weil damit die Chance erhalten bleibt, den Reformprozeß in Russland fortzufahren, hat die Bundesregierung Verständnis für das Vorgehen von Präsident Jelzin, der eine Lesung des Verfassungskonflikts durch einen Volksentscheid anstrebt. Die Bundesregierung wird deshalb weiterhin die Politik Präsident Jelzins und seiner Regierung nachdrücklich unterstützen. Sie fühlt sich in dieser Haltung bestärkt durch die Ankündigung des rassischen Präsidenten, daB die von ihm angeordnete Sonderverwaltung vorübergehend sein wird, daß die rechtsstaatlichen Grand- und Freiheitsrechte nicht eingeschränkt werden, und daß baldige Neuwahlen auf der Grundlage einer neuen Verfassung stattfinden sollen.8
Mit diesem Text greift die Bundesregierung in die Geschehnisse in Moskau ein, wo dem Präsidenten Jelzin im politischen Machtkampf die Amtsenthebung droht. Die Stellungnahme zur Entscheidung des russischen Präsidenten, sein Land vorerst mit Notstandsmaßnahmen zu regieren, ist offensichtlich von der Bundesregierung mit den westlichen Partnern, vor allem mit 7 Hindelang (1983); Zillig (1982) 8 Ich bedanke mich beim Presse- und Informationsamt der Bundesregierung für die Zusendung der Unterlagen.
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Washington, London und Paris abgestimmt, denn von dort gehen den Agenturen und Medien ähnliche Stellungnahmen zu.9 Es handelt sich deshalb primär um den Versuch, über die Medien Außenpolitik zu betreiben. Zum anderen soll das eigene Volk informiert werden über die Sichtweise seiner Regierung, soll geworben werden für diese. Durch die Art der Darstellung, der durchgängig positiven Stellungnahme zu den Maßnahmen Jelzins, ist der gesamte Text inhaltlich wertend. Er schließt direkt an an die Presseerklärung, die Bundeskanzler Kohl bereits am 15. März 1993 "zur aktuellen politischen Entwicklung in Rußland" gegeben hatte,10 und andere Regierungsäußerungen, worauf sich die zweite Passage im 9 Vgl. die auf dpa zurückgehende Zusammenstellung der ausländischen Stellungnahmen im Reutlinger Generalanzeiger 67 vom 22.3.1993: Westen stellt sich an die Seite von Jelzin Washington/London/Paris, (dpa) Die Entscheidung des russischen Präsidenten Boris Jelzin, sein Land vorerst mit Notstandsmaßnahmen zu regieren, hat im Westen Verständnis und Unterstatzung gefunden. US-Präsident Bill Clinton, die Regierung in London und die Europäische Gemeinschaft in Brüssel kündigten am Wochenende die weitere Stützung des Reformprozesses in Rußland an. Frankreichs Außenminister Roland Dumas sagte, die internationale Gemeinschaft sei es sich schuldig, dem russischen Volk in der schweren Phase zu helfen, die es jetzt durchmache. Clinton bezeichnete Jelzin in einer Erklärung als den "Führer" der historischen Refoimbewegung zu Demokratie und freien Märkten. Jelzin wolle den politischen Engpaß dadurch überwinden, daß er das nissische Volk über die Zukunft entscheiden lasse. Seine Zusage, die Bürgerrechte zu respektieren, sei ermutigend. "Was am meisten zählt, ist, daß Rußland ein demokratisches Land ist und bleibt, das sich zur Marktwirtschaft bewegt Das ist die Grundlage für eine anhaltende amerikanisch-russische Partnerschaft", erklärte Clinton. Er begrüße auch die Zusicherung Jelzins auf Kontinuität in der Außenpolitik. Er sehe dem geplanten Gipfeltreffen mit Jelzin am 3. und 4. April in der kanadischen Stadt Vancouver entgegen. Der rassische Außenminister Andrej Kosyrew hatte die US-Regierung am Samstag über die Maßnahmen Jelzins unterrichtet Auch der englische Premierminister John Major und Außenminister Douglas Hurd standen nach seinen Worten in engem Kontakt mit Jelzin und Kosyrew. "Die britische Regierung hat stets den Reformprozeß in Rußland unterstützt, und wir werden dies auch weiterhin tun", hieß es. "Wir begrüßen es, daß sich die rassische Regierung weiterhin zur Demokratie und zu den Menschenrechten bekennt." Frankreich ist von dem Schritt Jelzins ebenfalls nicht überrascht worden. Der russische Präsident habe Präsident Francois Mitterrand bei dessen Moskau-Besuch am vergangenen Dienstag informiert, sagte Dumas am Sonntag bei der Stimmabgabe zur Pariamentswahl in Saint-Laurent du Manoire (Südwestfrankreich). Nach Ansicht Dumas' ist ein Treffen der Groppe der sieben grüßten westlichen Industrieländer (G7) wegen der Entwicklung in Moskau "nötiger denn je". Die USA, Großbritannien, Frankreich, Japan, Italien, Kanada und Deutschland werden sich Anfang Juli in Tokio treffen, um neben globalen Themen auch Uber eine Rußlandhilfe zu sprechen. 10 Pressemitteilung des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom IS. März 1993, Nr. 78/93: Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl erklärt zur aktuellen politischen Entwicklung in Rußland: Der Pro zeß der politischen und wirtschaftlichen Reformen in Rußland befindet sich in einer äußerst schwierigen Phase.
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Text bezieht. Auch dort ging es insgesamt um eine positive Wertung der Handlungen Jelzins. Sie sind maßgeblich für den "ungehinderten Fortgang der demokratischen und marktwirtschaftlichen Reformen" in Rußland, an denen Deutschland ein "vitale(s) Interesse" hat. Die Bundesregierung zeigt ihr "Verständnis für das Vorgehen von Präsident Jelzin", "weil damit die Chance erhalten bleibt, den Reformprozeß in Rußland fortzufuhren". Die Bundesregierung sieht in den Maßnahmen Jelzins solche "zur Lösung der Verfassungskrise in Russland". Das ist eine klare Parteinahme für den Präsidenten und gegen dessen Kontrahenten, obwohl auch der Bundesregierung bekannt ist, daß Jelzin mehrfach gegen die Verfassung verstieß. Die Maßnahmen seiner Gegner werden aber als "einseitig zu Lasten des frei gewählten Präsidenten Russlands" gewertet. Im Text ist ein Wort unterstrichen, das durch die deutliche Hervorhebung Signalwirkung für die Adressaten erhalten soll. Mit der eindeutigen Stellungnahme für Jelzin verbindet die Bundesregierung "die Hoffnung auf einen friedlichen Ausweg aus der Krise". An den Wertbegriff 'friedlich' koppelt sich nicht nur Hoffnung, sondern auch die Beschwörung der durchaus gegebenen Gefahr der 'unfriedlichen' Lösung. Eindeutig sind auch die weiteren WertunPrSsident Jelzin und die ihn unterstützenden politischen Kräfte, die Demokratie und Rechtsstaat, Marktwirtschaft und nicht zuletzt eine Politik friedlicher Zusammenarbeit mit der Völkergemeinschaft anstreben, geraten zunehmend in Bedrängnis durch Kräfte, die den inneren Reformprozeß in RuBland anhalten wollen. Der von Präsident Jelzin und seiner Regierung verfolgte Reformkurs liegt sowohl im Interesse Rußlands und seiner Menschen, als auch im Interesse aller anderen Länder. Dies gilt vor allem auch für Deutschland. Ich unterstütze daher diesen Kurs nachdrücklich. Die inneren Reformen und die konstruktive Außenpolitik der Regierung von Präsident Jelzin haben weltweit das Vertrauen in die russische Politik gestärkt und so entscheidend zu größerer internationaler Sicherheit beigetragen. Rußland genießt heute als Mitglied der internationalen Gemeinschaft weltweit Achtung und Sympathie. Der Westen und insbesondere die G-7 haben ihr vitales Interesse am Reformkurs in Rußland wiederholt unterstrichen und in beträchtlichem Maße Unterstützung hierfür geleistet. Deutschland ist dabei bis an die Grenzen seiner finanziellen Leistungsfähigkeit gegangen. Angesichts der fortdauernden Wirtschaftskrise in Rußland beraten die G-7 zur Zeit über weitere Möglichkeiten zur Abstützung der nissischen Wirtschaftsreformen. Dieses Engagement der G-7 für Rußland unterstreicht die Bedeutung, die die westlichen Länder der Fortsetzung des Reformprozesses, wie ihn Präsident Jelzin in den vergangenen Jahren repräsentiert hat, beimessen. Die Bundesregierung mißt darüber hinaus den deutsch-russischen Beziehungen weiterhin zentrale Bedeutung bei. Ich weiß, daß Präsident Jelzin diese Einschätzung teilt. Die Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland sind heute spannungsfrei, vertrauensvoll und freundschaftlich. Dies ist nicht zuletzt ein Verdienst von Boris Jelzin. Wir wollen diese Beziehungen im beiderseitigen Interesse und im Vertrauen darauf ausbauen, daß ein freies, demokratisches und marktwirtschaftlich orientiertes Rußland für Deutschland - wie auch für unsere Nachbarn - ein friedlicher, berechenbarer und stabiler Partner bleibt.
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gen, die in den Adjektiven bzw. Attributen stecken: Es geht um "das vitale Interesse Deutschlands", um den "ungehinderten Fortgang der demokratischen und marktwirtschaftlichen Reformen", um "ein tragendes Prinzip jeder demokratischen Verfassung", um den "frei gewählten Präsidenten Rußlands", um die "rechtsstaatlichen Grund- und Freiheitsrechte". Substantiell setzt die Bundesregierung auf die "Lösung der Verfassungskrise", auf den "Ausweg aus dieser Krise", auf das "vitale Interesse", auf den "ungehinderten Fortgang", auf den "Grundsatz der Gewaltenteilung", auf das "tragende Prinzip jeder demokratischen Verfassung", auf den Erhalt einer "Chance", auf das "Verständnis für das Vorgehen des Präsidenten", auf die "Lösung des Verfassungskonflikts", auf die baldigen Neuwahlen auf der Grundlage einer neuen Verfassung", alles eindeutig wertende, zugleich aber vor allem euphemistisch beschönigende Vokabeln. Verbal hat die Bundesregierung "wiederholt ... herausgestellt", "eine Lösung ... angestrebt", "wird ... nachdrücklich unterstützen", "föhlt sich ... bestärkt", während die Gegenseite "einseitig ... in Frage gestellt" hat, was eindeutig als negativ bewertend wirkt. Stilistisch ist zu vermerken, daß der Text eine gewisse Dramatik besitzt, zugleich aber auch eine große Portion an Pathos enthält, das ein wenig an die Beschwörung preußischer bzw. deutscher Nibelungentreue erinnert, die starke Bindung an einen Partner selbst bei einer immerhin drohenden Gefahr, daß man bei dessen Scheitern mit in den Sog der dann folgenden Gefahren gerät. Selbstverständlich sind nicht alle Pressemitteilungen der Bundesregierung von dieser stark wertenden Qualität, aber so ausgerichtete Texte machen doch einen großen Anteil aus. Bei Agenturtexten sind wir durch neuere Erhebungsdaten besser als bei Pressestellentexten unterrichtet von einer Übernahme in Zeitungen. Nach einer publizistikwissenschaftlichen Untersuchung in Mainz aus dem Jahre 1 9 8 4 wissen wir, daß FRANKFURTER ALLGEMEINE, DIE WELT, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG und FRANKFURTER RUNDSCHAU 6 0 , 4 Prozent der Agenturmeldungen unverändert abdruckten. Wurden Veränderungen vorgenommen, so erfolgte die bekannte Kürzung vom Ende der Meldung oder des Berichts her. In nur 9 Prozent der Fälle wurde der Agenturtext ergänzt." In einer bei mir angefertigten Untersuchung wurden im November 1977 die Pressemitteilungen der im Landtag von Baden-Württemberg vertretenen Parteien analysiert und auf ihre Übernahme in Agenturen und Zeitungen überprüft. 71 Prozent der ausgehenden Meldungen wurden von den Agenturen übernommen, 86 Prozent gerieten von dort in die Zeitungen, wobei häufig die wörtliche Übernahme als Eigenbericht, d.h. als Eigenleistung der Zeitungsjournalisten ausgegeben wurde.12 Erweitert werden diese Untersuchungen der überregionalen und 11 Wilke/Rosenberger (1991) 12 Lang (1980)
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regionalen Tageszeitungen durch solche bei kleineren Redaktionen, bei denen die Übernahmequoten noch wesentlich höher sind.13 Die aus den Agenturen übermittelten Texte gehen deshalb weitestgehend unüberprüft und unverändert in die Zeitungen ein, weshalb den bei den Agenturen tätigen Journalisten ein "erhebliche(r) Einfluß auf die Medieninhalte" zukommt.14 Daß dieser Einfluß bei den Agenturen auch so gesehen wird, bestätigt der frühere Chefredakteur der dpa Hans Benirschke: "Unsere Dienste wären ihr Geld nicht wert, wenn sie nach Inhalt, Form und redaktionellem Service nicht in höchstem Maße kundengerecht und benutzerfreundlich wären und wenn sie den ganzen journalistischen Aufbereitungs- und Formgebungsprozeß den Kunden überlassen wollten."15 Ich möchte auch an Agenturtexten herauszustellen versuchen, inwieweit hier mit der Information Wertungen verknüpft sind:
bwt280 4 pl 257 w w b dpa 271 Liechtenstein/ (Zusammenfassung) Unerhörtes in Liechtenstein - Der Fürst ausgepfiffen = Vaduz (dpa) - Unerhörtes hat sich am Mittwoch in Liechtenstein zugetragen. Fürst Hans Adam Π. wurde bei einer Demonstration, an der 2 000 Menschen teilnahmen, ausgebuht und ausgepfiffen. Dennoch wurde am selben Tag in letzter Minute eine politische Krise beigelegt, die den Zweigstaat in seinen Grundfesten zu erschauern drohte. Anlaß des Streits zwischen FQist Hans Adam II. und der Regieiung war die Frage eines Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Zwar waren sich der Landesherr und die Regieiung im Prinzip darüber einig, daß sich das "Ländle" mit seinen rund 30000 Einwohnern dem EWR anschließen sollte. Der Fürst und die Regieiung gerieten sich jedoch wegen des Termins für die Volksabstimmung zum EWR in die Haare. Während Hans Adam das Referendum vor jenem in der Schweiz (6. Dezember) ansetzen wollte, versteifte sich die Regieiung auf ein Datum danach (13. Dezember). Hans Adam stellte der Regieiung daraufhin ein Ultimatum: Falls sie nicht auf seine Linie einschwenke, müsse sie zurücktreten oder er werde den Landtag auflösen und sie entlassen. Der Fürst berief sich dabei auf seine außenpolitische Richtlinien-Kompetenz. Die Regieiung argumentierte dagegen, es handele sich bei der ganzen Angelegenheit lediglich um ein Detail zu einem Landtagsbeschluß. Das Parlament hatte sich vor kurzem für einen EWR-Beitritt ausgesprochen. Am Mittwoch erarbeitete schließlich ein überparteiliches Komitee in hektischen Verhandlungen einen Kompromiß. Danach bleibt es bei der Volksabstimmung nach jener in der Schweiz. Dafür erklären sich Regierung und Landtag dazu bereit, im Falle eines "Nein" zum EWR - dem Wunsch Hans Adams gemäß - einen Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft zu beantragen.
13 Wilke/Rosenberger (1991) 14 Donsbach (1989). - Vgl. auch Muckenhaupt (1990) u. Fischer (1990) 15 Benirschke (1990)
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Der Fürst zeigte sich am Mittwoch abend über den KompromiB "sehr glücklich". Beobachter sind jedoch der Meinung, daß er bei seiner Kraftprobe mit der Regierung und dem Landtag politisch angeschlagen worden ist. dpa st re 291236 Okt 92 nnnn
Der Artikel beschäftigt sich mit einer "politischen Krise", "die den Zwergstaat (Liechtenstein) in seinen Grundfesten zu erschüttern drohte". Mit "Krise" wird ein Anti-Mirandum als Leitbegriff eingeführt, damit eine emotive Steuerung des gesamten Textes impliziert. Mit "Krise" gekoppelt sind weitere Anti-Miranda: "Demonstration", "in letzter Minute", "erschüttern", "Streit", "Ultimatum", "zurücktreten", "auflösen", "entlassen", "hektische Verhandlungen", "Kraftprobe", die, über den ganzen Text verstreut, die emotionale Aufladung bis zum Schluß durchhalten lassen. Weiter tragen zu dieser Emotionalisierungbei im Lead die Wendungen: "Unerhörtes" habe sich zugetragen, und "ausgebuht und ausgepfiffen", die zum Teil auch für die Titulatur Verwendung finden. Der Sachverhalt wird vom Lead her zentralisiert auf den Fürsten, gegen den die Bürger seines Landes demonstrieren und den sie dabei angreifen und beleidigen. Die Lösung des Konflikts wird im letzten Lead-Satz jedoch angedeutet, wenn auch mit der bereits aufgezeigten emotionalisierenden Komponente der Staatskrise, der Erschütterung des Staates "in seinen Grundfesten". Im Bericht selbst werden die konträren Positionen, hier Fürst, dort Regierung, weitgehend sachlich dargestellt. Es geht um den Termin des Referendums, mit dem die Liechtensteiner über den Beschluß des Parlaments, dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) beizutreten, abstimmen sollen. Der erzielte Kompromiß sieht eine Lösung auch für den Fall vor, daß die Abstimmung negativ ausginge. Im Schlußabschnitt, der eigentlich ein Angebot an die Zeitungsredaktionen zum Weglassen darstellen sollte, wird kräftig gewertet, wenn diese Wertung auch "Beobachtern" zugeschoben wird. Daß der Fürst politisch angeschlagen sei, ist politisch wichtig, und sollte eigentlich an vorderer Stelle stehen. Vermutlich ist nur das Absicherungsproblem Ursache dafür, dieses Urteil an den Schluß zu rücken. Insgesamt ist der Artikel nicht nur stark emotionalisiert, sondern er weist auch Elemente der Ironisierung auf. Schon die Überschrift signalisiert: "Unerhörtes in Liechtenstein", also Unerwartetes, gegen die Gewohnheit oder Norm Gerichtetes. Der erste Lead-Satz wiederholt und ironisiert noch deutlicher, denn "Unerhörtes" habe sich "zugetragen". Im "Ländle", mit seinen rund 30 000 Einwohner, waren sich Fürst und Regierung "in die Haare" geraten, eine Alisdrucksweise, die sonst im hochpolitischen Tagesgeschäft unüblich ist.
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Daß es sich um einen 'Sturm im Wasserglas' handelte angesichts der sonstigen politischen Weltereignisse, erweist der "Kompromiß", über den sich der Fürst "sehr glücklich" zeigte. Aus der Sicht der Welt bzw. aus der deutschen Sicht auf den kleinen Nachbarn ergibt das eine Entwarnung. Die Welt ist in Ordnimg, auch wenn im verschlafenen Liechtenstein kurzzeitig die Wogen hochgingen. Während der Liechtenstein-Text aus einem Guß gestaltet und in seiner Tendenz eindeutig ist, vermutlich von einem Korrespondenten oder freien Mitarbeiter stammt und in der Agentur nicht verändert zu werden brauchte, sieht das bei Texten anders aus, die in der Redaktion aus mehreren Quellen zusammengestellt werden müssen. Ich möchte hier einen Text der Agentur Reuter heranziehen; bei dem es nochmals um Jelzin geht:
GUS/RUSSLAND ZF Machtkampf in Moskau dauert an = Moskau (Reuter) - Der Machtkampf zwischen dem nissischen Präsidenten Boris Jelzin und seinen konservativen Gegnern dauert an. Jelzin warf dem von Konservativen dominierten Parlament am Donnerstag vor, die Wirtschaftsreformen zu behindern. Radikale Reformen seien vom Obersten Sowjet nicht zu erwarten. Der Vorsitzende des einfluBreichen russischen Unternehmerverbandes, Aikadi Wolski, forderte Jelzin auf, die Regierung umzubilden. Die von Altkommunisten und Nationalisten gegründete Nationale Rettungsfront setzte ihre Arbeit trotz ihres Verbotes durch Jelzin fort. Jelzin warf dem 1990 noch zu Zeiten der Sowjetunion gewählten Obersten Sowjet seine zunehmend konservative Haltung vor. In einem Interview der Wochenzeitung "Argumenti i Fakti" sagte er, jetzt wolle der Oberste Sowjet das erweiterte Parlament, den Kongreß der Volksdeputierten, einberufen, um den Rücktritt der Regiening zu erzwingen. Dies wäre aber ein schwerer Rückschlag für die Refoimen. Jelzin war vergangene Woche mit dem Versuch gescheitert, den Obersten Sowjet zur Verschiebung der Kongreßsitzung zu bewegen. Diese soll nach dem Willen des Obersten Sowjets am 1. Dezember beginnen. Die Reformgegner im Volksdeputiertenkongreß fordern die Abwahl von Ministerpräsident Jegor Gaidar, der die Verantwortung für die Wirtschaftsrefoimen trägt Der stellvertretende Ministerpräsident Alexander Schochin deutete am Donnerstag in einem Interview an, Jelzin könne eine Volksabstimmung ansetzen, bei der über die Auflösung des Parlaments und die völlige Abschaffung des Volksdeputiertenkongresses entschieden werden könnte. Jelzin, der sich mit dem Verlauf der Reformen unzufrieden zeigte, erklärte weiter, die Weigerung des Parlaments, privaten Landbesitz zuzulassen, sei ein Haupthindernis für die Reformen. Über diese Frage sowie über eine neue Verfassung müsse deshalb Anfang nächsten Jahres per Referendum entschieden werden. Der Oberste Sowjet ist gegen den Verfassungsentwurf der Regierung, weil er voraussichtlich zu Neuwahlen führen würde. Der Chef des russischen Untemehmerverbandes, Wolski, machte seine Unterstützung für Jelzin in einem Interview der "Financial Times" von einer Kabinettsumbildung noch im November abhängig. Gaidar solle im Kabinett bleiben, aber sein Amt als Regierungschef abgeben, erklärte Wolski. Die Wirtschaftspolitik müsse nach den Vorschlägen des Verbandes "korrigiert" werden.
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Sonst werde er "in Opposition" zur Regierung gehen. In dem Verband sind zwei Drittel der russischen Unternehmen organisiert. Unterdessen kündigte die am Mittwoch von Jelzin verbotene Rettungsfront an, sie werde ihren Kampf gegen die Regierung fortsetzen. Ihr FQhningsmitglied Ilja Konstantinow erklärte am Donnerstag auf einer Pressekonferenz in Moskau, Jelzins Verbotsdekret bedeute nicht das Ende der Front Jelzin stuft die Bewegung, der eine Reihe von Abgeordneten und Militärs angehört, als verfassungswidrig ein. Ein Präsidentensprecher erklärte, man werde das Dekret durchsetzen und die weitere Arbeit der Front unterbinden. Die Pressekonferenz der Front fand in Räumen des von Konservativen dominierten Parlaments statt. Ein Parlamentssprecher erklärte, die Räume seien von einer Oppositionsfraktion, Einheit Rußlands, angemietet worden. "Das ist ihr gutes Recht", sagte der Sprecher. Die Bewachung des Pariamentsgebäudes übernahm unterdessen die Moskauer Polizei, nachdem Jelzin am Mittwoch die Auflösung einer von Parlamentspräsident Ruslan Chasbulatow ins Leben gerufenen 5000 Mann starken Sondertruppe verfügt hatte. jup/far REUTER 291353 ort 92
Liest man diesen Text, so erscheint er auf den ersten Blick objektiver als der vorherige. Trotzdem enthält er wie dieser zahlreiche Anti-Miranda: "Machtkampf, "behindern", "Verbot", "vorwerfen", "Rücktritt", "erzwingen", "Rückschlag", "gescheitert", "Reformgegner", "Abwahl", "Auflösung", "Abschaffung", "Weigerung", "Haupthindernis"Kampf. Die zum Teil identischen Begriffe aus dem militärischen Wortschatz wie "Kampf, "Front", "Bewachung", "Sondertruppe" signalisieren die gewaltsame Auseinandersetzung und drohende Gefahren. Miranda, also positiv besetzte Reizwörter, sind selten: Ich würde nur "Reform" und "Unterstützung" anfuhren, wobei diese nach Pörksen auch als Tlastikwörter' einzustufen wären.16 Negativ besetzt sind auch, zumindest aus deutscher Sicht für die russischen Verhältnisse die Begriffe "Konservative", "Altkommunisten", "Nationalisten", "Nationale Rettungsfront", "konservative Haltung", "Reformgegner", "Weigerung des Parlaments, privaten Landbesitz zuzulassen", "Kabinettsumbildung" (hier auf Druck des Unternehmerverbandes), "korrigieren" der Wirtschaftspolitik, "in Opposition zur Regierung gehen", "Kampf gegen die Regierung fortsetzen" (die verbotene Nationale Rettungsfront), "Bewegung, der eine Reihe von Abgeordneten und Militärs angehört" und die "als verfassungswidrig" eingestuft wird, "Oppositionsfraktion Einheit Rußlands", "von Parlamentspräsident Ruslan Chasbulatow ins Leben gerufene 5000 Mann starke Sondertruppe". So entsteht ein Gesamtbild, das Jelzin als denjenigen zeigt, der mit einer Fülle von Gegnern und Problemen zu kämpfen hat, der auf "radikale Refor16 Pöiksen (1988)
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men" setzt im Sinne der westlichen Staaten. Seine Hauptkontrahenten sind konservativ, aitkommunistisch und national. Sie sind nicht legitimiert wie er, sondern beziehen ihre Position aus der Vergangenheit. Sie behindern die Regierung, fordern Umbildung bzw. Absetzung. Zudem verhindern sie die "neue Verfassungweshalb ein "Referendum" notwendig wird. Daß Jelzins Möglichkeiten begrenzt sind, zeigt, daß er das Verbot der "Nationalen Front" nicht durchsetzen kann. Sein Bild als der starke Mann der Reformen wird zwar beschworen, kann aber nicht voll propagiert werden. Der Agenturtext wird in deutschen Zeitungen wörtlich übernommen. Als Beispiel seien die Stuttgarter Nachrichten vom 30.10.1992 angeführt: Kampf um die Macht in RuBland dauert an Konservative wollen sich Veibot durch Jelzin nicht fügen - Internationale Hilfe für GUS-Staaten MOSKAU/TOKIO (rtr) - Der Machtkampf zwischen dem russischen Präsidenten Boris Jelzin und seinen konservativen Gegnern im Parlament dauert an. Jelzin warf dem 1990 noch zu Zeiten der Sowjetunion gewählten Obersten Sowjet dessen zunehmend konservative Haltung vor. Der vom Parlament angestrebte Rücktritt der Regierung wäre ein schwerer Rückschlag für die Refoimen. Die Refoimgegner im VolksdeputieitenkongreB fordern die Abwahl von Ministerpräsident Jegor Gaidar, der die Verantwortung für die Wirtschaft«reformen trägt. Jelzin erklärte weiter, die Weigerung des Parlaments, privaten Landbesitz zuzulassen, sei ein Haupthindernis für die Reformen. Über diese Frage sowie Ober eine neue Verfassung müsse deshalb Anfang nächsten Jahres per Referendum entschieden werden. Der Chef des russischen Untemehmerverbands, Arkadi Wolski, machte seine Unterstützung für Jelzin in einem Interview von einer Kabinettsumbildung noch im November abhängig. Gaidar solle im Kabinett bleiben, aber sein Amt als Regieiungschef abgeben. Die Wirtschaftspolitik müsse nach den Vorschlägen des Verbandes "korrigiert" werden. Sonst werde er "in Opposition" zur Regierung gehen. Unterdessen kündigte die am Mittwoch von Jelzin verbotene Rettungsfront an, sie werde ihren Kampf gegen die Regieiung fortsetzen. Ihr Fühlungsmitglied Ilja Konstantinow erklärte, Jelzins Verbotsdekret bedeute nicht das Ende der Front Jelzin stuft die Bewegung, der eine Reihe von Abgeordneten und Militärs angehört, als verfassungswidrig ein. Ein Präsidentensprecher erklärte, man werde das Dekret durchsetzen und die weitere Arbeit der Front unterbinden. Die USA und Japan haben der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) zum Auftakt einer internationalen Konferenz in Tokio Winteihilfe im Wert von mehreren hundert Millionen Dollar zugesagt Der amtierende amerikanische Außenminister Lawrence Eagleburger erklärte, das Schicksal der früheren Sowjetunion gehe die ganze Welt an. Die Tokioter Konferenz über GUSHilfe ist die dritte und letzte nach den Treffen in Washington und Lissabon. Die USA sagten Nahrungsmittel im Weit von 260 Millionen Dollar und Medikamente im Wert von 14 Millionen Dollar für den Winter zu. Japan will für die Winterhilfe rund 100 Millionen Dollar bereitstellen. Moskau räumte der Weltbank ein Mitwirkungsiecht bei der Aufsicht über die langfristigen Hilfsprojekte ein.
Der dreispaltige Artikel wird in das Zentrum der zweiten Seite, der PolitikSeite gerückt und mit einem Kasten umrandet herausgehoben. Die Titelzeile modifiziert die von der Agentur angebotene Überschrift leicht. In der Unterzeile verweist der Satz "Konservative wollen sich Verbot durch Jelzin nicht
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Erich Straßner
fügen" auf eine zentrale Aussage des Artikels, die andere "Internationale Hilfe für GUS-Staaten" auf eine Ergänzung, die aus anderen Agenturen übernommen und angefügt wird. Im Lead ist nur ein Themenbereich angesprochen: Der Machtkampf zwischen Präsidenten und den konservativen Gegnern im Parlament. Die Spitzmarke "Moskau/Tokio (rtr)" verweist auf die Herkunft der Information aus den beiden genannten Städten, außerdem auf die Informationsquelle Reuter. Als Lead wird in der Zeitung der erste Satz des Agenturtextes übernommen, wobei zur Verdeutlichung der Gegner "im Parlament" eingefügt ist. Die weiteren Ausführungen im Bericht sind zwar verkürzt, entfernen sich aber kaum vom Wortlaut. Eigene Wertungen fließen nicht ein, so daß als Fazit übrigbleibt, daß das, was in Moskau von den Pressestellen oder von Beteiligten in Interviews geäußert wurde, in Deutschland direkt an die Adressaten herangebracht wird. Übersieht man das gesamte bisher untersuchte Material, und untersucht wurden von mir die Zeiträume 26. - 30.10.1992 und 15. - 20. März 1993, so verdichtet sich der Eindruck, daß die Weitungen bei Meinungsäußerungen immer von denen ausgehen, die sich äußerten, bei Ereignissen von denen, die als erste diese aus ihrer Sicht schilderten. Das bedeutet, daß heute den Informatoren, den Pressestellen oder Sprechern politischer und gesellschaftlicher Institutionen die Urteils- und Meinungsbildung zukommt. Das erklärt wiederum den vehementen Drang, solche Pressestellen aufzubauen, um sich am Ursprungsort relevant und medienökonomisch artikulieren zu können. Journalisten drängen deshalb auch nicht grundlos in solche Arbeitsstellen, denn sie bieten neben einer angemessenen, häufig besseren Bezahlung als in den Redaktionen, ein verbessertes Wirkungspotential. Auf der Strecke bleiben nicht nur die Journalisten in den Agenturen, denen das Selektieren und Komprimieren zukommt, sondern vor allem die Journalisten vor Ort, denen als einzige Aufgabe bleibt die nochmalige Selektion, die Platzierung des Themas bzw. des Artikels, die Aufmachung, die Bebilderung und die übliche Kürzung vom Schluß her. Inhaltliche und wertende, damit journalistisch relevante und kritische Aufgaben entfallen. Der normale Journalist wird zum Handlanger deijenigen, die sich den Pressestellenjournalisten leisten können.17
17 Damit weiden die Thesen von Barbara Baems (1985) bestätigt, wonach Öffentlichkeitsarbeit die Themen der Medienberichterstattung unter Kontrolle hat Informatoren und nicht Journalisten piazieren die Informationen, initiieren die Nachrichten, forcieren Themen und konturieren publizierte Wirklichkeit.
Vom Pressestellen- zum Pressetext Wer wertet wie und wo im Informationsfluß
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Texttheorie - Persuasion
Zum Zusammenhang von Textfunktion und thematischer Einstellung am Beispiel eines Zeitungskommentars KLAUS BRINKER
1. Einleitung Ziel meines Beitrag ist es, ein textanalytisches Konzept vorzustellen, das eine integrative Beschreibung des Bewertungsaspekts von Texten ermöglicht. Dadurch soll die häufig anzutreffende unsystematische und textanalytisch unbefriedigende Auflistung von sog. wertenden Elementen (meist lexikalischsemantischer Art) überwunden werden. Zuerst werde ich die für diese Fragestellung grundlegenden textanalytischen Kategorien in ihren Relationen zueinander kurz explizieren. Es geht dabei also um das relationale kategoriale Gerüst, auf das die Analyse von Texten, insbesondere auch von wertenden Texten, meiner Auffassung nach bezogen sein sollte. Anschließend werden die theoretisch-begrifflichen Bestimmungen an einem Zeitungskommentar verdeutlicht. 2. Begriffliche Bestimmungen Die zentralen textanalytischen Kategorien sind bereits im Titel genannt: "Textfunktion" und "thematische Einstellung"; außerdem sind für unsere Fragestellung noch die Begriffe "Textthema" und "thematisches Muster" von Bedeutung. Wie stellt sich nun der Zusammenhang zwischen diesen Analysekategorien im einzelnen dar? Das textfunktionale Konzept - wie ich es vertrete (vgl. Brinker 1992) betrachtet (wie andere Richtungen der pragmatisch bzw. handlungstheoretisch orientierten Textanalyse auch) den Text als eine komplexe sprachliche Handlung. Allerdings wird der Begriff der Komplexität weniger auf der Handlungsebene als vielmehr auf der propositionalen oder thematischen Ebene expliziert (vgl. auch Brinker 1991,8 f.). Darin besteht ein wesentlicher Unterschied zum Illokutionsstrukturkonzept.
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Klaus Brinker
Das niokutionsstrukturkonzept (vgl. etwa Mötsch 1987 u.a.) definiert den Text als hierarchisch strukturierte Abfolge von elementaren sprachlichen Handlungen ("illokutive Handlungen" genannt); es wird also eine dominierende Handlung angenommen, die durch subsidiäre Handlungen gestützt wird. Das Illokutionsstrukturkonzept wirft eine Reihe von kritischen Fragen auf, etwa zum Zusammenhang von Illokutionsstruktur und syntaktischer wie thematischer Struktur des Textes, aber auch zur Beziehung zwischen Illokutionsstruktur und textueller Gesamtfunktion (zur Kritik im einzelnen vgl. Brinker 1992, 90 ff.). Mein Haupteinwand besteht darin, daß man Sätzen im Grunde nur bei einer isolierten Betrachtung eine illokutive Rolle zuordnen kann. Sind sie in die Ganzheit "Text" integriert, besitzen sie in der Regel keine unmittelbare Handlungsqualität; sie erfüllen vielmehr bestimmte textinterne Funktionen, vor allem im Hinblick auf den thematischen Aufbau des Textes (Situierungsoder Spezifizierungsfunktion oder Begründungsfunktion usw.). Der Handlungscharakter kommt dem Text als Ganzem zu und wird durch die Textfunktion bezeichnet. Unter Anknüpfung an die Arbeit von Große (1976) definiere ich die Textfunktion als die im Text mit bestimmten konventionell geltenden, d.h. in der Sprachgemeinschaft verbindlich festgelegten Mitteln ausgedrückte Kommunikationsabsicht des Emittenten. Es handelt sich also um die Absicht des Emittenten, die der Rezipient erkennen soll, sozusagen um die Anweisung des Emittenten an den Adressaten, als was dieser den Text insgesamt auffassen soll. Die von mir vorgeschlagene Klassifikation von Textfunktionen (vgl. Brinker 1983 und 1992, 99 ff.) geht zwar von der Illokutionstypologie Searles aus (vgl. Searle 1979), beruht aber (im Unterschied zu Searle) auf einem einheitlichen Kriterium, und zwar auf der Art des kommunikativen Kontakts, den der Emittent mit dem Text dem Rezipienten gegenüber zum Ausdruck bringt. So läßt sich eine homogene Klassifikation erreichen. Unter dem Aspekt der interpersonalen Beziehung komme ich dann zur Unterscheidung von fünf textuellen Grundfunktionen: der informativen, der appellativen, der obligatorischen (selbstverpflichtenden), der kontaktiven und der deklarativen Textfunktion. Die Textfunktion kann entweder durch bestimmte sprachliche Formen und Strukturen (z.B. durch explizit performative Formeln und äquivalente Satzmuster) direkt im Text signalisiert werden oder auch nur indirekt zum Ausdruck kommen und ist dann aus anderen innertextlichen (sprachlichen und nichtsprachlichen) sowie aus außertextlichen (kontextuellen) Merkmalen zu erschließen (ich spreche hier von "Indikatoren der Textfunktion" - s. dazu unten).
Zum Zusammenhang von Textfunktion und thematischer Einstellung
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Ich gehe davon aus, daß der Kommunikationsmodus des Textes insgesamt in der Regel zwar durch e i n e Funktion bestimmt wird (dominierende Kommunikationsfunktion oder Textfiinktion), daß für einen Text aber durchaus mehrere Funktionen (sog. Zusatzfunktionen) charakteristisch sein können, z.B. die Kontaktfunktion im Geschäftsbrief mit dominanter Obligationsfunktion (Auftragsbestätigung mit Dank für den Auftrag - vgl. Brinker 1992, 98 f.). Die Textfiinktion als die mit konventionellen Mitteln im Text ausgedrückte (dominierende) Handlungsabsicht des Emittenten ist in texttheoretischer Hinsicht von der Intention des Emittenten zu unterscheiden, die zwar der Textfunktion entsprechen kann, nicht aber unbedingt mit ihr übereinstimmen muß. Ich komme nun zu den thematischen Kategorien und behandele zuerst die thematische Einstellung, d.h. die Einstellung des Emittenten zum Textinhalt, insbesondere zum Textthema. Der Emittent kann sich z.B. über die Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit des Textinhalts äußern (wissen, glauben, zweifeln) und den Sicherheitsgrad seines Wissens angeben (tatsächlich, bestimmt, vielleicht - epistemische / doxastische Einstellung); er kann seine (positive und negative) Weitung (für gut halten, schlecht finden - evaluative Einstellung), den Grad seines Interesses (wünschen, wollen, vorziehen, hoffen, für notwendig halten - motivational / präferentielle / intentionale / exspektative / normative Einstellung) oder seine psychische Haltung gegenüber dem Textinhalt bzw. dem Textthema signalisieren (bedauern, erfreut sein emotive Einstellung). Unter Anknüpfung an den Begriff der propositionalen Einstellung in der Sprechakttheorie (vgl. etwa Wunderlich 1976, 73 f.; v. Polenz 1985, 212 ff.) spreche ich von "thematischen Einstellungen". Besondere Bedeutung hat in unserem Zusammenhang die evaluative Einstellung; sie ist implizit auch in anderen thematischen Einstellungen enthalten (z.B. in den verschiedenen Formen der interessebezogenen Einstellung oder in der emotiven Einstellung). Ich betrachte die evaluative Einstellung als die zentrale Kategorie für die Analyse von textuellen Bewertungen. Was nun den Zusammenhang von Textfunktion und thematischer Einstellung betrifft, nehme ich an, daß Textfunktionen und thematische Einstellungen insofern aufeinander bezogen sind, als sich bestimmte Einstellungen mit bestimmten Textfunktionen leichter (oder schwerer) verbinden lassen als mit anderen. Diese Zusammenhänge sind im einzelnen noch nicht erforscht. Man darf aber n i c h t davon ausgehen, daß zwischen Textfunktionen und thematischen Einstellungen prinzipiell ein Ι.Ί-Verhältnis besteht. Die thematische Einstellung ist also kein eindeutiger Indikator der Textfiinktion, sie beeinflußt aber die Ausprägung der Textfunktion (man kann sie einen
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Klaus Brinker
funktionspräzisierenden bzw. ñinktionsmodifizierenden Indikator nennen). Ich komme darauf später zurück. Schließlich sollen noch in aller Kürze die beiden thematischen Kategorien "Thema" und "thematisches Muster" erwähnt werden (vgl. im einzelnen Brinker 1992, 54 ff.). Unter "Textthema" verstehe ich den "Kern des Textinhalts". Ich nehme an, daß sich der Textinhalt (also der auf einen oder mehrere Gegenstände, Personen, Sachverhalte usw. bezogene Gedankengang eines Textes) als Ergebnis eines Ableitungsprozesses (nicht im streng logischdeduktiven Sinn) beschreiben läßt, nämlich als Resultat der Entfaltung eines Inhaltskerns. Das Textthema (als Hauptthema eines Textes) bildet mit den anderen Themen eines Textes (den sog. Teilthemen) in der Regel eine Art Themenhierarchie. Die Relationen zwischen dem Textthema und den Teilthemen werden durch die Grundformen der thematischen Entfaltung (ich nenne sie auch "thematische Muster") bestimmt, wie sie sich im Laufe der Zeit in der Sprachgemeinschaft herausgebildet haben (z.B. das deskriptive, das narrative, das explikative, das argumentative Muster). Die thematische Einstellung dominiert die Themen und die thematischen Muster. Schematisch kann der kategoriale Zusammenhang folgendermaßen dargestellt werden: THEMA TEXTFUNKTON £ _
EINGESTELLT.zu
Ρ h
[SPi, Ρ h
]]
Mit formalgrammatischen Merkmalen (Satzmodus, Satzintonation) und/oder lexikalischen Mitteln (Satzadverbialen, explizit performativen Sätzen, Einstellungssätzen, Partikeln) zeigt der Sprecher/Schreiber (SPj) implizit oder explizit, worin seine Wirkungsabsicht in bezug auf den Hörer/Leser (SP2) besteht. Auf gleiche Weise erwägt der Empfänger, welchen "Zugang", welches "Recht", welche Einstellung der Sender dazu hat. Je nachdem, welchen Einstellungstyp des Senders zu ρ der Empfänger tatsächlich problematisiert oder nach der Meinung des Sprechers in der Folge problematisieren könnte, kommt es zu konklusiven Sprachhandlungen (stützenden Illokutionen) entweder in der Wahrheitsdimension (kognitive Schlüsse) oder in der Weitedimension (praktische Schlüsse). Bei allen Sprachhandlungen, in denen
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Markku Moilanen
der Sender die Meinung oder das Verhalten des Adressaten zu beeinflussen beabsichtigt, kommt es letztendlich zum kognitiven oder praktischen Schließen. Dies erfolgt nach Klein (1987) gemäß dem folgenden, hier stark vereinfachten Schluß-Schema:
ANTECEDENS: Vop/il. FALLS
I
(A,
r
{ LIEGT NAHE } C) descript/norm { NOTWENDIG } I IST ÜBLICH/SOLL MAN ^prop/ill
Die konklusive Verknüpfung zwischen Antecedens a und Consequens c wird geleistet durch die zwischen ihnen bestehende, im Basiskonditional repräsentierte regelhafte Beziehimg zwischen den Sachverhaltsklassen A und C, "deren Vorkommen miteinander meist oder immer kovariieren" (S. 91). Beim Alltagsschließen, worum es sich bei der zwischenmenschlichen Kommunikation meistens handelt, muß es einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen Antecedens und Consequens geben. Dieser wird bei Klein durch den Begriff 'regelhafte Beziehung', repräsentiert durch das Basiskonditional, gefaßt (Abschnitt 4.12). Das Basiskonditional, ein natürlichsprachliches hypothetisches Konditional, ist eine Operation über den Propositionen A und C, wobei als Operator FALLS fungiert. Die Modalisierung des Basiskonditionals erfolgt mit den Ausdrücken LIEGT NAHE oder NOTWENDIG. Beim natürlichsprachlichen Schließen verwenden wir meistens das LIEGT-NAHE-Konditional. "Wie nahe C liegt, falls A gilt, bleibt zwischen den Kommunikationspartnern vielfach vage und unspezifiziert. Hier haben sie, sofern sie an einer Spezifizierung überhaupt interessiert sind, einen wissens- und einschätzungsabhängigen Deutungsspielraum. Unspezifisch ist LIEGT NAHE auch hinsichtlich der Geltungsdimension: Es kann sowohl einen deskriptiven Sinn (in der Wahrheitsdimension) als auch einen normativen (in der Wertedimension) haben." (S. 118) Das kognitive wie auch das praktische Schließen können dank eines auf diese Weise formulierten Basis-Konditionals in demselben Schluß-Schema erklärt werden. Bei der Einschätzung der Situation (Situationsdeutung und Situationsbewertung), beim erkennenden Verhalten des Menschen zu seiner Umwelt, handelt es sich um kognitive Schlüsse, wobei als generelle Prämisse durch gespeicherte Erfahrung entstandene Faktenverallgemeinerungen oder
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Scheinargumentation als persuasives Mittel
induzierte empirische Gesetzesaussagen vorkommen. Die LIEGT NAHE/ NOTWENDIG-Modalisierung wird als deskriptiv interpretiert. Die Wahl des Handlungsprogramms/-ziels sowie die Wahl der Verfahrensweise setzen praktisches Schließen voraus, wobei als generelle Prämissen Maximen oder allgemeine (moralische, juristische, methodische) Handlungsnormen und Werturteile oder allgemeine technische oder soziale Verfahrensweiseregeln fungieren. Beide sind Ausdruck des Zweck- und Entscheidungsverhaltens des Menschen zu seiner Umwelt. Die LIEGT NAHE/NOTWENDIG-Modalisierung wird dabei normativ interpretiert. Vor der Überprüfung der Akzeptabilität der These(n) muß der Empfänger herausfinden, welches Geltungskriterium, resp. Basiskonditional der Sprecher explizit oder implizit angewandt hat. Dies wiederum hängt vom Argumentationsbereich (AB) ab, wenn man die Argumentation als ein Beziehungsgefuge zwischen folgenden Variablen betrachtet:
p, I THESE
weil
q
gemäß
BK
in
AB
auf
BB
I ARGUMENT(E) BASISKONDITIONAL GELTUNGSKRITERIUM ARGUMENTATIONSBEREICH BEWERTUNGSBASIS
Beim praktischen Schließen, beim Werturteil als These, spielt die Bewertungsbasis eine wichtige Rolle. Sie besteht im Sinne von Säger (1981, 6.3.2.3.) aus verschiedenen Wertsystemen, einer positiven oder negativen Haltung der Kommunikanten zum Bewertungsobjekt sowie dem Bewertungsmodus, worunter man den Umstand versteht, daß die Bewertung auf der Basis rational-reflexiven, ethisch-moralischen oder emotional-affektiven Interesses erfolgt. Der Zweck der Argumentation als Argumentationshandlung ist rationales Überzeugen. Durch die Argumentation als geordnete Folge von Urteilen soll
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Markku Moilanen
beim Adressaten die Erkenntnis, der begründete Glaube, erzeugt werden, daß die These wahr oder akzeptabel ist (Lumer 1990, 43). Zu diesem Zweck bietet man ihm sprachliches Material an, anhand dessen er überprüfen kann, ob die vom Basiskonditional implizierten Akzeptabilitätsbedingungen fur die These erfüllt sind oder nicht. Für das Erreichen des jeweiligen Handlungsziels ist das herangezogene Basiskonditional (die Schlußregel) ausschlaggebend. Dadurch wird ja festgelegt, ob die Daten, die als propositionale Gehalte der Illokutionen dem Empfänger übermittelt werden, für ihn evidente Gründe dafür sind, etwas zu glauben oder etwas zu tun. Bei der strategischen Textplanung kommt es dem Sender darauf an, ein solches Basiskonditional zu finden, das auch der Empfänger akzeptieren kann/muß. Mit den die These stützenden Illokutionen versucht er dann die vom jeweiligen Basiskonditional eröffnete Antecedenskomponente so weit zu belegen, daß der Empfänger eine "regelhafte Beziehung" zwischen dem vorliegenden, partikulären und dem im Basiskonditional fixierten, verallgemeinerten Fall erblickt, den vom Basiskonditional bedingten Schluß zieht und so auf das Consequens kommt, das das Ziel der Sprachhandlung des Senders ist. Im Hinblick auf ihre Struktur ist die Argumentation eine geordnete Folge von Urteilen (Aussagen oder Werturteilen), und zwar besteht sie aus der These und den Argumenten, in denen die vom Basiskonditional vorausgesetzten Akzeptabilitätsbedingungen als erfüllt beurteilt werden (Lumer 1990, 4.7.). Bei kognitiven Schlüssen ist die These eine Aussage, bei praktischen Argumentationen ein Werturteil, und zwar ein personenbezogenes Werturteil in der Form "x ist so und so gut/wünschbar für die Person s" oder ein allgemeingültiges Werturteil "p ist so und so gut" (S. 116). Wenn man sie als motivierende oder rechtfertigende Handlungsbegründungen verwendet, liegen ihnen die Werturteile "a ist/war die beste unter den bekannten aktuellen Handlungsalternativen für s" oder, allgemeiner, "a ist rational" zugrunde (S. 372). Damit die Argumentation triftig ist, muß sie sowohl gültig als auch adäquat sein.
GÜLTIGKEITSBEDINGUNGEN ρ
weil
q
gemäß
BK
in AB auf BB I I ADÄQUATHEITSBEDINGUNGEN
Scheinargumentation als persuasives Mittel
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Das primäre Ziel von Argumentationshandlungen besteht darin, den Empfänger mit rationalen Gründen von der Akzeptabilität der These zu überzeugen. Argumentationen als Instrumente können neben anderen persuasiven Mitteln auch dazu verwendet werden, ihn statt zu einem begründeten Wissen bloß zu einem Glauben an die These zu bringen. Dabei verstößt man definitionsgemäß gegen die Gültigkeits- und/oder Adäquatheitsbedingungen der Argumentation. Tut man dies willentlich mit dem Ziel, den Adressaten dazu zu überreden, nichtrationale Entscheidungen zu treffen oder an solche Dinge zu glauben, für die man selbst keine oder keine ausreichenden Erkenntnisgründe hat, wird aus der Argumentation eine Scheinargumentation. Gegen GÜLTIGKEITSBEDINGUNGEN (sie betreffen die Struktur der Argumentation) verstößt man u.a.,1 wenn - man ungeprüfte oder absichtlich unwahre Daten als Argumente anbietet - man Daten, die zu Kernbedingungen des Basiskonditionals gehören, verschweigt - man Erläuterungen als Argumente anführt - zwischen den als Argumenten angebotenen Daten und dem Basiskonditional keine regelhafte Beziehung besteht - man die These nur mit einem Beispiel unterstützt, dem Partner aber weismachen will, dies sei ein durchschlagendes Argument für die These (unzulässige Verallgemeinerung) - man aus manipulativen Gründen das Basiskonditional verschweigt - man keine klare Zielthese zu erkennen gibt - der als Datum angegebene Sachverhalt in gleicher Weise für die Gegenthese gültig ist - zwischen den als Argumenten angegebenen Daten und der These kein Begründungsverhältnis besteht - die Bewertungen der Einstellungsinformation statt der Objektinformation dienen. Gegen ADÄQUATHEITSBEDINGUNGEN (sie legen fest, in welcher Situation und für welchen Zweck welche Argumentationsweisen verwendet werden können (Lumer 1990,45)) verstößt man, wenn - man für den vorliegenden Argumentationsbereich unangemessene Basiskonditionale verwendet - man "höhere" oder "letzte Gründe" (wie Frieden, Freiheit, Demokratie, Menschenwürde usw.) als Basiskonditionale heranzieht, obwohl sie inhaltlich zu weit von der These entfernt sind - man gefällige Redewendungen, regulative Sprichwörter, treffende Zitate als Argumentregeln verwendet 1 Diese Liste habe idi zum größten Teil anhand von Schmidt-Faber (1986) zusammengestellt
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Markku Moilanen
- man die Wertbasis etwa durch appellhafte Etikettierungen schon im voraus festzulegen versucht. Wie kann man nun den Adressaten durch Bewertungen dazu bringen, nichtrationale Entscheidungen zu treffen? Eine Antwort lautet: indem man in Umgehung des kognitiven Filters des Empfängers direkt auf sein emotionales Verhalten einzuwirken versucht. Die Grundlage aller Bewertungen stellen die psychischen Einstellungen der inneren Befürwortung oder Ablehnung dar. Wir verhalten uns bejahend oder verneinend zu bestimmten Zuständen oder Ereignissen und deren Folgen. Diese primären Einstellungen sind nach Lumer (1990, 113) zeitweilig emotional präsent. Dann haben wir durch sie Empfindungen, "vor allem dann, wenn wir die Existenz oder die Belange eines Objekts befördert oder gefährdet sehen". Die überwiegende Zeit sind die evaluativen Einstellungen jedoch nicht emotional wirksam. Sie sind nur kognitiv bewußt in Form von praktischen Überzeugungen: Wir wissen, daß wir bestimmte Zustände und Ereignisse bejahen oder ablehnen (S. 114). Die primären Wertvorstellungen, Gefühle der Ablehnung oder Befürwortung, können nicht argumentativ begründet oder durch Begründungen beeinflußt werden. Sie können nur festgestellt (intuitiv-intrinsische bzw. intrinsisch-evaluative Werte) oder erklärt werden (intrinsisch-deskripitive Werte). Die allermeisten Werte sind jedoch sekundär (= extrinsische Werte), also praktisch begründungsbedürftig oder begründungsfähig (S. 347). Das Problem liegt bei letztgenannten darin, daß die Bewertungskriterien intersubjektiv verschieden sind. Gute praktische Argumentationen für Werturteile sind differenzierend und fundierend. Relevante Aspekte des Bewertungsobjekts (Eigenschaften von Gegenständen oder Folgen von Zuständen oder Ereignissen) werden aufgezählt, einzeln bewertet und dann zu einer Gesamtbewertung zusammengefaßt (S. 321). Fundierend sind diese Werturteilsbegründungen dann, wenn die Teil- oder Aspektbewertungen einzeln noch begründet werden (S. 330). Ist nun die Wertbasis der Kommunikanten zu heterogen oder erfordert eine differenzierende Argumentation einen zu hohen kognitiven Aufwand vom Emittenten oder Adressaten, kommt es leicht zu einem Überredungsversuch, zur Scheinargumentation als Mittel der Manipulation. Durch Schlüsselwörter, etwa durch "appellhafte Etikettierungen" oder Schlagwörter aus "emotionsbesetzten Verhaltens- und Begriffsbereichen" (Sornig, 259), versucht der Sender, zuerst eine gemeinsame Wertbasis mit dem Empfänger zu schaffen, m.a.W. die "Wert- und Handlungsmaximen" (Sornig, 258) der Kommunikanten gleichzuschalten. Durch "expressive Lexik" bringt man den Adressaten dann von der kognitiven Ebene, auf der die emotionalen Einstellungen
Scheinargumentation als persuasives Mittel
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in Form von praktischen Überzeugungen kontrollierbar sind, auf die rein emotionale Bewertungsebene. Man versucht ihn dazu zu bringen, auf eine parallele Weise wie der Sender zu empfinden. Die Möglichkeiten des Adressaten, einer solchen persuasiven Meinungsbeeinflussung argumentativ entgegenzutreten, sind gering, wenn er als Akzeptanzkriterium für die gefällten Werturteile Stimmungen, d.h. mehr oder weniger unbestimmte Empfindungen von Freude, Angst, Ärger, Bitterkeit usw. zuläßt.
Zum Schluß möchte ich anhand eines Textbeispiels zeigen, wie die Scheinargumentation als manipulatives Mittel verwendet werden kann. Der als Anlage beigefügte Text wurde als Begleitschreiben an einige deutsche Teilnehmer eines Kolloquiums an einer Universität in R-Europa verschickt. Beim ersten Lesen macht der Text einen überzeugenden Eindruck. Bei genauerer Überprüfung stellt sich heraus, daß er ein gutes Beispiel für eine Scheinargumentation darstellt. Der Text besteht aus zwei argumentativen Teilen. Im ersten Block (S-l bis S-5) wird nach einer Rechtfertigung für die Senderhandlung 'anonym auftreten' gesucht. Das Anliegen der Verfasser im zweiten Teil (S-6 bis S-18) besteht darin, die Empfänger zu einer Absage an der Teilnahme an jenem Kolloquium zu bringen. Daß sie dies mit sachlichen Begründungen erreichen wollen, läßt sich dem Satz "bitten wir Sie, sich unsere Argumente anzuhören" in S-3 entnehmen. Das eigentliche persuasive Ziel darf bei Überredungsversuchen dem Empfänger nicht bekannt werden. Falls aber die eigentliche Absicht des Senders erkannt wird und die angebotenen Daten vom Empfänger als Argumente mißverstanden worden sind, haben wir guten Grund, sie als Scheinargumente und die ganze Argumentation als Scheinargumentation abzustempeln. In ihrer Beweisführung verstoßen die Verfasser mehrmals sowohl gegen Gültigkeits- als auch gegen Adäquatheitsregeln einer regelgerechten Argumentation. Was die eigentliche Motivation der Verfasser beim Schreiben dieses Textes gewesen ist, läßt sich schon aufgrund der Unterschrift 'eine Gruppe Betroffener' vermuten. Ich versuche sie nun durch eine argumentative Analyse zu explizieren. Im ersten Teil des Textes suchen die Verfasser, wie gesagt, eine Rechtfertigung dafür, daß sie anonym bleiben. Man könnte ihre Motivation beim Verfassen dieses Abschnitts mit ihren eigenen Worten wie folgt beschreiben: 'Wenn wir unter eigenem Namen auftreten, liefern wir uns diesen Kreisen und ihren Helfern ans Messer'. Als Basiskonditional fungiert ein geläufiges Verhaltensmuster: Falls A (= eine Tätigkeit eine Gefahr mit sich bringt), so C (= soll man sie unterlassen). Die Beweisführung im Abschnitt 1 können wir folgendermaßen zusammenfassen:
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ARGUMENTATIONSKOMPLEXI: Wenn wir unter eigenem Namen auftreten, liefern wir uns diesen Kreisen und ihren Helfern "ans Messer"
: Das Material ist politisch brisant (S-4) Die Stasi ist immer noch ungewöhnlich aktiv (S-5) a3 : Es ist eine Tatsache (schmerzliche Erfahrung), daß die Linken von gestern die Rechten von heute sind S-5) unter eigenem Namen auftreten
Falls A (= falls eine Tätigkeit
eine Gefahr mit sich bringt C (= soll man sie unterlassen') anonym bleiben
1. Verstöße gegen Adäquatheitsregeln 1.1. Schlüssigkeit der Argumentregel: Ist das BK in diesem Argumentationskontext angemessen, berechtigt? Man kann sich schon nach dem moralischen Recht der "Betroffenen" fragen, Entscheidungen, hier: das Vokabular einer solchen Person zu kritisieren, die hautnah mit einem totalitären System konfrontiert gewesen ist. Wenn eine Person in einem westlichen Rechtsstaat nicht den Mut hat, unter ihrem eigenen Namen aufzutreten, ist es schwer vorstellbar, wie sie es in einem totalitären Staat gewagt hätte, in einer Publikation öffentlich dem System entgegenzutreten. 1.2. Gefällige Redewendung als Rechtfertigungsgrund: Die Proposition 'daß die Linken von gestern die Rechten von heute sind' wird als eine Tatsache angeführt. 1.3. Mit dem metaphorischen Ausdruck 'möchten wir uns diesen Kreisen und ihren Helfern nicht "ans Messer liefern" ' appellieren die Verfasser an das emotionale Verhalten der Empfänger. Sie versuchen auf den Entscheidungsprozeß der Adressaten nicht mehr allein durch Sachgründe einzuwirken. Solche Ausdrücke hinterlassen beim Leser einen starken
Scheinargumentation als persuasives Mittet
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Eindruck. Dies ist noch deutlicher weiter unten an den Ausdrücken 'Schreibtischkriminalität' und 'Persilkolloquium' zu sehen.
ARGUMENTATIONSKOMPLEX II: Zu beweisen: Die Teilnahme an diesem Kolloquium hat für Sie üble Folgen DENN — aj: XY ist der Hauptorganisator dieses Kolloquiums (S-7) Ά2- XY ist durch seine Tätigkeit politisch sehr belastet — DENN — ^2ΐ'· XY hat politische Privilegien gehabt (seine Kommilitonen dagegen nicht) (S-10) - als Auslandskader und DDR-Lektor ins westliche Ausland entsandt (S-7) (S-8) - freien Zugang zur Westpresse gehabt (S-9) — &22: seine Dissertation ist politisch, nicht wissenschaftlich - die Ergebnisse standen bereits a priori fest (S-l 1) - sie ist ideologisch vorbelastet (S-12) — 83: Die Manipulationsstrategien der westdeutschen Presse sind XY*s Spezialgebiet (S-15) — 84: Ihre Teilnahme würde XY politisch entlasten ("Persilkolloquium") (S-17) — 85: Die innenpolitische Lage in Deutschland (S-18)
Falls A (= falls üble Folgen aus der Teilnahme an einer Veranstaltung zu erwarten sind), soll man C (= die Teilnahme absagen) 1. Verstöße gegen Gültigkeitsbedingungen: 1.1. Ungeprüfte oder absichtlich falsche Behauptungen als Argumente: Die Behauptung "XY sei der Hauptorganisator des Kolloquiums" stimmt nicht. Das germanistische Institut s der Universität Ζ ist die ganze Zeit der Organisator des genannten Kolloquiums gewesen. Vorsichtshalber hat sich XY aus der Zusammenstellung des Programms frühzeitig genug
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zurückgezogen. Die politische Tätigkeit und Vergangenheit von XY sollte auch nicht das Thema des Kolloquiums sein. Das Begründungsverhältnis zwischen den als Argumenten angegebenen Daten und der These ist unklar. Inwieweit die angeführten Daten unter &2i Gründe für die Behauptung darstellen, hängt vom Basiskonditional ab. Als implizite Schlußregel haben sich die Verfasser wohl eine Maxime der Gleichberechtigung gedacht. Wie aber der Sachverhalt &2 Hauptthese stützen soll, bleibt unklar, insbesondere, weil XY mit dem endgültigen Zusammenstellen des Programms für das Kolloquium nichts zu tun hatte. Die Beweiskraft der angeführten Beispiele für die These wird überzogen (unzulässige Verallgemeinerung). Um die Gültigkeit von a22 zu überprüfen, müßte zuerst das Basiskonditional festgelegt werden, womit die Wissenschaftlichkeit einer Arbeit gemessen werden kann. Seine eigene intuitive Auffassung über die WissenschafUichkeit als Schlußregel anzuführen (S-14), und zwar so, daß man sie nicht expliziert, sondern bloß durch emotionsbeladene Beispiele illustriert, gilt noch als kein schlüssiges Basiskonditional. Das erste Argument 'die Ergebnisse standen bereits a priori fest' (S-ll) kann wohl für den politischen Teil der Arbeit zutreffen. Für den linguistischen Teil, der immerhin zwei Drittel der Arbeit ausmacht, liegen drei linguistische Gutachten vor, aufgrund derer die Dissertation von der Prüfungskommission mit dem Prädikat 'summa cum laude' benotet wurde. Es erhebt sich hier die Frage, was der eigentliche Zweck des Abschnitts von S-12 bis S-14 bei der Strategie der Verfasser gewesen ist. Wer ähnliche politische Anschauungen hat, kann sich schon durch das ausgewählte "Gedankengut" angesprochen fühlen. Hier wird versucht, durch angeführte "Originalzitate" Konnotationen aufzurufen, "Beziehungs- und Gefühlskonsens" mit den Empfängern zu erreichen, um so eine gemeinsame Bewertungsbasis zu schaffen. Über XY als vermeintlichen Hauptorganisator sollen diese Gefühlsassoziationen dann pauschal auch auf die Tagung übertragen werden. Eine argumentative Aussage muß exklusiv sein, d.h. sie darf nicht auf dieselbe Weise auch für die Gegenthese gelten. Das ist nicht der Fall bei S-15. Wenn nämlich S-15 gilt, dann wäre dies wohl ein ebenso guter Grund, an einem Kolloquium, dessen Thema 'Persuasive Texte in der Presse' sind, teilzunehmen. Andererseits: Wenn die Behauptung a-χΐ gilt, fragt man sich, welche Gefahr den Teilnehmern aus S-15 erwachsen soll, wie die Verfasser sie in S-16 präsupponieren. Verschweigen des Basiskonditionals/ Fehlen einer klaren Zielthese. Es ist eines der Mittel manipulativer Scheinargumentation, daß man die
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Begründungsregel, das Basiskonditional, verschweigt, wenn man kein schlüssiges Basiskonditional zur Verfügung hat oder man die Zielthese nicht klar zu erkennen geben will. Mit Anspielungen und/oder mit metaphorischen Vergleichen gibt man dabei nur eine Richtung an, in welche der Adressat denken soll. Auf der Bewertungssebene versucht man ihn dann dazu zu bringen, auch in der Sache pauschal zuzustimmen. Welche Rolle die Verfasser den Empfängern etwa in S-16 zugedacht haben, sollen diese selbst herausfinden. Mit welchem Basiskonditional die Verfasser von S-15 zu S-16 kommen, bleibt ebenso unklar. Außerdem ist die Proposition "Pläne von Herrn XY, fortan die Germanistik R-Europas zu repräsentieren" eine unwahre Behauptung. Der Anspielung auf eine politische Manipulation seitens des Herrn XY durch diese Zeitschrift kann entgegnet werden, daß der impolitische Charakter und das wissenschaftliche Niveau von einem wissenschaftlichen Rat garantiert werden, dem zu jener Zeit 16 Wissenschaftler hauptsächlich aus R-Europa angehörten.
Obwohl die Verfasser ihre wahre Absicht nicht verraten wollen, ist sie doch erkennbar. Das eigentliche Anliegen der "Betroffenen" ist nicht die Besorgnis um das Wohlbefinden der Teilnehmer nach dem Kolloquium. Sie befürchten, daß aus dem Kolloquium ein "Persil-Kolloquium für XY" werden könnte, bei dem die Teilnehmer nur die Rolle eines Statisten hätten. Es fragt sich nun, ob sich die "Betroffenen" nicht doch etwas übernommen haben, indem sie ihre nichtausgesprochenen persönlichen Ziele durch Manipulation dieses Forums durchzusetzen versuchten. Rhetorisch gesehen mag ihr Versuch schon gelungen sein, argumentativ ist er auf der Stufe einer Scheinargumentation geblieben.
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ANHANG S-0 Sehr verehrte Frau Professorin, sehr geehrter Herr Professor S-l
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Nach unseren Informationen haben Sie Ihre Teilnahme an einem Kolloquium "Persuasive Texte in der Presse" zugesagt, das Mitte Mai 1993 am Germanistischen Institut der Universität Ζ stattfinden soll. Was wir Ihnen hiermit vorlegen, betrifft eben diese Veranstaltung und ihre Hintergründe. Auch wenn Ihnen auf den ersten Blick die Anonymität dieser Sendung unlauter vorkommen möchte, bitten-wjr3STsich unsere Argumente anzuhören. — Sie wer¿eft-bef^génauerer Ptítímg feststellen von welch politisch brisantem Charakter da^vörliegcnde Material ist, und hier liegt auch der Grund für uns£i^erdeckies Vorgehen: Nach Erkenpíitís des immer noch bestehenden Ausmaßes der StasiAktivitäten. und naph^der jüngsten, schmerzlichen Erfahrung. riaB die Linken von gestern die Rechten von heute sind, möchten wir uns diesen Kreisen und ihren Helfern nicht "ans Messer liefern".
S-6 Zum Material selbst gestatten Sie uns einige Kommentare. S-7 X Y. Autor der vorliegenden "Dissertation" und Hauptorpanisator des genannten Persuasions-Kolloquiums. wurde unmittelbar nach seinem Promotionsverfahren (1987! Glasnost und Perestroika waren zu diesem Zeitpunkt in anderen Ländern des Ostblocks auf dem Vormarsch.) als Auslandskader und DDR-Lektor an die Universität Ζ entsandt. S-8 Das politische Vertrauen, das er bereits damals genoß, trug ihm nicht nur die Delepmmg ins westliche Ausland ein. S-9 Er besaß bereitk lange davor u.a. das Sonderrecht des freien Zugangs zur Westpresse fuk seine "wissenschaftlidielArbert: S-10 Beides waren Priv^egienr-dje^éiTmeisten seiner Kommilitonen verwehrt blieben.
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nschaftlich" erscheint hier deshalb in AnführungsstriS-ll Das Wort chen. weil die Ergi bnisse der "Analyse" der Westpresse, wie Sie aus der "Dissertation^ odei, zeitsparend, aus der beigefügten Blütenlese ersehen können, bereits a ρ riori feststanden. S-12 Es geht Χ Y um dîn Nachweis, die BRD-Presse entlarve als (Originalzitat) "Sprachrohr der rechten, am engsten mit den aggressiven, antikommunistischen Gruppierungen der internationalen Monopolbourgeoisie - insbesondere jedoch der USA - verbundenen Kreise" durch COriginalzit iti "imperialistische Bewußtseinsmanipulation [...], durch permanente Anpassung des Bewußtseins (und damit des Verhaltens) der großen 1/lasse des Volkes an die Interessen der staatmonopolitischen Olvgarc hie" den (Originalzitaf) "grundsätzlichen (chauvinistischen und ten sristischen) ter der vom imperialistischen israelischen Sta^t f ..] betriebenen Politik". S-13 Ein eingestreute: JppenbéKenntnis gegen den Holocaust steigert die Peinlichkeit der gl ;enj£rael gerichteten Äußerungen ins Unerträgliche. S-14 Derlei Gedankenj in Phrasen wie den zitierten zu Papier zu bringen ist nach unserer Auffassimg keine Wissenschaft, sondern ein Akt von Schreibtischkriminalität. S-15 Daß die Manipulationsstrategien der westdeutschen Presse Herrn X Y's Spezialgebiet waren, hätte sich auf die Dauer nicht verheimlichen lassen. r S-16 Welche Rolle sich daraus für Sie im Rahmen des Persuasionskolloquiums ergibt, dijfft^lvor lem Hintergrund der Pläne von Herrn X Y, fortan (fermgpfstik R-Europas zu repräsentieren (vgl. den von ihm unter DAAD-Prótektien herausgegebenen G-BAUM), evident sein. S-17 "Persil-Kolloquium" vyäre, mit Verlaub, eine treffendere Bezeichnung. S-18 Angesichts der gegenwärtigen innenpolitischen Lage in Deutschland bitten wir Sie, Ihre Zusage zur Teilnahme an jenem Kolloquium noch einmal zu überdenken! S-19 Mit hochachtungsvollem Gruß EINE GRUPPE BETROFFENER
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LITERATUR Klein, Josef: Die konklusiven Sprachhandlungen. Studien zur Pragmatik, Semantik, Syntax und Lexik von BEGRÜNDEN, ERKLÄREN - WARUM, FOLGERN und RECHTFERTIGEN. (Reihe germanistische Linguistik; 76). TObingen 1987. Lumer, Christoph: Praktische Argumentationstheorie: theoretische Grandlagen, praktische Begründung und Regeln wichtiger Argumentationsaiten. (Wissenschaftstheorie, Wissenschaft und Philosophie; 26). Wiesbaden 1990. Mötsch, Wolfgang; Pasch, Renate: Ulokutive Handlungen. In: Satz, Text, sprachliche Handlung. (Studia grammatica XXV) Berlin 1987, S. 11-79. Sager, Sven Frederik: Sprache und Beziehung. Linguistische Untersuchungen zum Zusammenhang von sprachlicher Kommunikation und zwischenmenschlicher Beziehung. (Reihe germanistische Linguistik 36). TObingen 1981. Schmidt-Faber, Weinen Argument und Scheinargument. Giundlagen und Modelle zu rationalen Begründungen im Alltag. München 1986. Somig, Karl: Bemericungen zu persuasiven Sprachstrategien. In: Dialoganalyse: Referate der 1. Aibeitstagung, Münster 1986. Hrsg. von Franz Hundsnurscher, Edda Weigand. (Linguistische Arbeiten 176). Tübingen 1986.
Das kann doch wohl nur ein Witz sein! Argumentieren, Bewerten und Emotionalisieren im Rahmen persuasiver Strategien ALBERT HERBIG, BARBARA SANDIG
1. Der Rahmen Im Rahmen eines Projekts1 führen wir an der Universität des Saarlandes computergestützte Forschungsarbeiten zum Thema Bewerten durch. In diesem Zusammenhang haben wir uns bislang mit verschiedenen persuasiven Textmustern wie etwa Kommentar, Glosse und vor allem Rezension (vgl. Zhong 1991) beschäftigt. Seit kurzem arbeiten wir mit Leserbriefen, die zu ökologischen Themen Stellung nehmen. Das den nachfolgenden Ausführungen zugrundeliegende Teilkorpus ist noch nicht allzu groß, weshalb unsere Überlegungen auch exemplarisch und heuristisch zu verstehen sind. Bislang haben wir uns (aus unterschiedlichen Gründen) mit der Thematik des Bewertens vor allem unter mikrostruktureller Perspektive beschäftigt. Mit dem vorliegenden Beitrag wenden wir uns größeren Zusammenhängen wie etwa der Organisation ausgedrückter Bewertungen im Rahmen argumentativer Textstrukturen (eines Textes) zu. Uns interessieren insbesondere die Persuasionsstrategien, mit denen differierende Bewertungen als Ausdruck der zugrundeliegenden Bewertungsmaßstäbe im Text etabliert und sequenziert werden und die damit verbundene Art und Weise, wie der Zusammenhang der einzelnen Bewertungen über die argumentative Textstruktur hergestellt wird. Da die Leseibriefschreiber unseres Textmaterials aus ihrer Perspektive als Betroffene formulieren, geht es auch um die Frage, wie sie ihre Emotionen (als besondere Art der Bewertung, Fiehler 1990) ausdrücken.
1 Projekt COMP AS-B: Computergestützte Analyse des textmusteibezogenen Inventais sprachlichen Bewertens, vgl. Stürmer/ Oberhauser/ Herbig/ Sandig (in Vorb.). Für hilfreiche Kritik danken wir den Projektmitarbeiterinnen sowie Eva Maria Jakobs und Werner Holly.
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2. Bewerten - Bewertungswissen - Bewertungsinventar 2.1 Bewerten Bewertungen werden von Bewertungssubjekten für Adressaten im Rahmen spezieller Bewertungshandlungstypen wie z.B. KRITISIEREN, LOBEN, ZUSTIMMEN vollzogen, sie können aber auch als Nebenhandlungen realisiert werden, eingebettet in andere Handlungstypen wie etwa FESTSTELLEN, FRAGEN etc. Bewertungen bilden dabei den oder einen propositionalen Anteil dieser Handlungstypen: Über einen Bewertungsgegenstand wird auf eine bestimmte Weise, nämlich bewertend, prädiziert.
2.2 Bewertungswissen Das Prädizieren einzelner Bewertungen erfolgt auf der Grundlage von Bewertungswissen. Bewertungswissen beschreiben wir folgendermaßen: Zum Bewertungswissen gehören Bewertungsmaßstäbe als konventionelle Wissensbestände; sie beziehen sich auf Gegenstandsklassen. Es sind zu unterscheiden: die Gegenstandsklassen konkreter Gegenstände (z.B. Autos, Schreibtische ...), abstrakter Gegenstände (z.B. Bücher, Kirnst...) und Handlungen (z.B. Handlungen von Politikern). Die Beschreibung der Gegenstandsklasse, auf die sich ein Bewertungsmaßstab bezieht, enthält einen Bewertungsframe, d.h. die bewertungsrelevanten Aspekte der Gegenstandsklasse. Auf diese "Bewertungsaspekte" ist unterschiedliches normatives Wissen bezogen: Zum einen in der Form einer einfachen Alternative, in der etwas vorhanden sein kann oder nicht; für den Fall des Vorhandenseins gilt dann die eine, für den Fall des Nichtvorhandenseins die andere Bewertung (z.B. Katalysator oder Airbag an/in einem Auto, vgl. Ripfel 1987). Zum anderen ist normatives Wissen in der Form von gradierten Skalen vorhanden (z.B. schlechter, sehr schlechter, absolut schlechter Stil). Im Bewertungsmaßstab sind die Bewertungsaspekte untereinander relationiert. Zum Bewertungswissen gehört weiter ein generelles Wissen über für Textmuster relevante Bewertungsmaßstäbe und über die Art der Anwendung von Bewertungsmaßstäben beim Bewertungshandeln. In der Regel wird ein aktuell zu bewertender Bewertungsgegenstand mental verglichen mit den Sollvorgaben hinsichtlich der relevanten Bewertungsaspekte des Bewertungsmaßstabes und gemäß seinen Eigenschaften im Hinblick auf (gegebenenfalls Grade der) Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung (vgl. Sandig, in Voib.) eingestuft. Die einzelnen Einstufungsergebnisse werden bezogen auf
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ein konkretes Handlungsziel miteinander relationiert und gewichtet, um zu einer Gesamtbewertung zu gelangen. Zur Beschreibung der Bewertungsgegenstände, auf die Leserbriefe sich beziehen, müssen darüber hinaus weitere Typen von Wissen herangezogen werden.
2.3 Bewertungsinventar Alle Typen sprachlicher Ausdrücke und sprachlicher Handlungen, die beim Bewerten relevant sind, fassen wir als Bewertungsinventar zusammen. Dazu gehören alle sprachlichen Möglichkeiten, Bewertungen auszudrücken, sowie sprachliche Ausdrücke, die auf die zugrundeliegenden mentalen Operationen und die Wissensvoraussetzungen bezüglich des zu bewertenden Gegenstandes verweisen.2
3. Bewerten - Argumentieren - Emotionalisieren 3.1 Bewerten und Argumentieren Erste Hinweise auf einen systematischen Zusammenhang von Bewerten und Argumentieren finden sich bei Sandig (1979), Wunderlich (1980) und Schöberle (1984). Auer/Uhmann (1982, 22ff.) weisen daraufhin, daß Bewertungsübereinstimmung in Gesprächen präferiert wird und auf argumentativem Weg hergestellt werden kann. Zu den Voraussetzungen für Handlungen des Typs Argumentieren gehört das Wissen um die Strittigkeit bzw. das Einschätzen und Antizipieren eines erhobenen Geltungsanspruches (GA) als strittig.3 Unterschiedliche Bewertungen und Bewertungsmaßstäbe sind Ausdruck unterschiedlicher Perspektiven auf einen Sachverhalt. Dieser Zusammenhang findet seinen sprachlichen Ausdruck in Formeln wie zu etwas unterschiedliche Standpunkte einnehmen oder etwas unter verschiedenen Gesichtspunkten/ausverschiedenen Perspektiven betrachten (Heibig 1993a, Sandig in Voib.). Werden Bewertungen und damit die zugrundeliegenden Bewertungsmaßstäbe nicht geteilt, sind diese also strittig, werden sie vielfach argumentativ abgestützt, um sie damit "vom kollektiv Fraglichen ins kollektiv Geltende" zu überfuhren (vgl. W.Klein 1980). Für bestimmte Kontexte und Themen wie politische Auseinandersetzungen vor allem im Kontext der
2 Zur Differenzierung des Bewertungsinventars vgl. Oberhauser/ Stürmer/ Herbig/ Sandig 1993. 3 Herbig 1992, 56, zum Geltungsbezug vgl. Kopperschmidt 1980,26ff.
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Presse gilt, daß Sachverhalte grundsätzlich als strittig eingestuft werden (Kaelbrandt 1989,157). Die Funktion von Bewertungen in persuasiven Textsorten der Presse besteht in der Regel darin, den eigenen zugrundeliegenden Bewertungsmaßstab (bzw. Aspekte desselben oder spezifische Hierarchien und Relationen) als gültig zu reklamieren und die damit verknüpfte Perspektive auf den in Frage stehenden Sachverhalt auch fur andere, nämlich die Rezipienten, als geltend zu etablieren, d.h. bei gegebenen Alternativen die abweichenden negativ bewerteten Standpunkte auszublenden. Die argumentative Stützung von Bewertungen ist dabei die expliziteste Form, möglicherweise eine Umbewertung bzw. einen Perspektivewechsel auf oppositiver Seite zu erreichen. Kann ein Rezipient argumentative Zusammenhänge herstellen, ist für ihn offensichtlich, daß er beeinflußt werden soll (Schöberle 1984, 92; Häfele 1979, 134). Dabei werden verschiedene Teile des Textes unter dem Aspekt der Konklusivität Vernetzt' und die Textteile zu einem kohärenten Ganzen geordnet (vgl. Linke 1991, 239 ff., auch J.Klein 1987).
3.1.1 Persuasives Handeln Auf diesem Hintergrund ist argumentatives Handeln als Sonderfall persuasiven Handelns zu verstehen. Persuasives Handeln wird verstanden als Versuch, andere mit sprachlichen und nichtsprachlichen Mitteln dazu zu bringen, die eigene Perspektive auf einen in Frage stehenden Sachverhalt zu verändern bzw. anhand der Information über einen schon bewerteten Gegenstand erst eine dementsprechende Perspektive zu gewinnen. Dafür stehen uns spezielle Textmuster wie Kommentare, Rezensionen oder auch Leseibriefe zur Verfügung. Im Bereich der hier zu diskutierenden sprachlichen Formen persuasiver Kommunikation sind zu unterscheiden a) nicht-argumentative (in der Terminologie der Rhetorik: auf "Überredung1 angelegte) Formen und b) argumentative (auf Oberzeugung1 angelegte) Formen der Beeinflussung (vgl. Holly 1990, 105). Beide Formen sind bereits im griechischen 'peithein' bzw. im lateinischen 'persuadere' angelegt (Geißner 1973, 129). Daß die argumentative Form persuasiver Kommunikation ein ihrer Grundstruktur und ihrem Anspruch nach 'rational-reflexives Verfahren' darstellt (vgl. Heibig 1992, 97), bedeutet dabei nicht, daß sie frei von "persuasiven Zusätzen" oder "rhetorischen Mitteln" sein muß (Kaelbrandt 1989, 158). Im Gegenteil: Argumentationen können in unterschiedlichen Stilen durchgeführt werden, und persuasive Zutaten gehören dabei in der Regel dazu "wie das Salz zur Suppe"
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(Holly/Kühn/Püschel 1986, 103). Sinnvollerweise sind deshalb auch Übergänge zwischen den Grundformen persuasiver Kommunikation anzunehmen, wie auch die bereits erwähnte argumentierende Vernetzung von Bewertungen zeigt. Unterstellt man, daß die realisierte stilistische Struktur persuasiver Texte den Versuch darstellt, das Handlungsziel optimal umzusetzen, kann man mit Brinker (1986, 174) den strategischen Aspekt persuasiven Handelns folgendermaßen bestimmen: "Unter strategischem Aspekt wird die jeweilige Ausprägung des argumentativen Musters, seine Realisierungsform, als Manifestation eines Handlungsplans zur optimalen Verwirklichung eines Handlungsziels beschrieben. Es geht dabei insbesondere um die Auswahl, Anordnung und Ausformimg der argumentativen Teilschritte in handlungstypologischer, inhaltlich-thematischer und sprachlich-stilistischer Hinsicht." Allerdings ist der Begriff der Strategie in Hinblick auf das Textmuster Leserbrief wegen der besonderen Textproduktionsbedingungen mit Vorsicht anzuwenden (vgl. Kap. 4. zur Kommunikationssituation von Leserbriefen).
3.2 Emotionalisieren Untersucht man argumentatives Handeln, wird man immer wieder feststellen, daß es von idealen Diskurskonzepten der Habermasschen oder Kopperschmidtschen Prägung weit entfernt ist. Trotzdem bilden ideal-rationalistische Konzepte häufig die Folie, auf der konkrete argumentative Texthandlungen betrachtet (vgl. Holly/Kühn/Püschel 1986) und beurteilt werden (vgl. Groeben/Schreier/Christmann 1990). Um eine Erklärung der vielfach anzutreffenden emotionalen Anteile beim Argumentieren hat sich Fiehler (1991 und 1993) bemüht. Fiehler beschreibt die Kommunikation von Emotionen als spezielle Form der Kommunikation von Bewertungen: "Ein Teil der Bewertungen, die kommuniziert werden, wird als Kommunikation von Emotionen realisiert" (Fiehler 1993, 153). Ausdrucksmittel für Emotionen und Bewertungen stehen uns dabei "auf allen Ebenen des Sprachsystems" zur Verfügung (Fries 1992,15). Die Tatsache, daß die einzelnen Bewertungsmaßstäbe eines Bewertungssubjektes immer auch Ausdruck einer zugrundeliegenden Überzeugung, Ideologie, Weltanschauung etc. sind, erklärt, warum auch Emotionalität vielfach im Umfeld argumentativ organisierter Bewertung ihren Ausdruck findet: Bei emotionaler Bewertung wird die Bewertung aktuell erlebt (Fiehler 1990) und für den Rezipienten durch das emotionale Audrücken der Bewertung erlebbar gemacht.
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Emotionales Argumentieren4 ist in diesem Sinn zu verstehen als Pol einer Skala, dem auf der anderen Seite eine betont rationale Form gegenüber steht. Fiehler (1990, 77f.) beschreibt Emotionalität anhand von vier Typen von Regeln: 1. "Emotionsregeln" setzen "relevante Typen sozialer Situationen direkt in Beziehung (...) mit bestimmten sozialen Emotionskategorien, die diesen Situationen normalerweise 'entsprechen1, d.h. in ihnen sozial erwartbar sind". 2. "Manifestationsregeln": "Sie regeln, in welcher Situation welches Gefühl (wie intensiv) zum Ausdruck gebracht werden darf oder muß". 3. "Korrespondenzregeln": "Wenn ich in einer Situation meinen Interaktionspartner als spezifisch emotional deute (z.B. verzweifelt, wütend, fröhlich), kodifizieren diese Regeln, welche korrespondierenden Emotionen bzw. welche korrespondierenden Manifestationen bei mir angemessen und sozial erwartbar sind." 4. "Kodierungsregeln" für die soziale Manifestation von Emotionen, d.h. Typen sprachlicher Mittel für das "Ausdrücken" oder "Thematisieren" von Emotionen. Bei Fiehler geht es um Emotion und Emotionsmanifestation in direkter Interaktion; für schriftliche Interaktion ist jedoch Entsprechendes anzunehmen: An die Stelle der Korrespondenzregeln tritt dann eine korrespondierende Emotion, geleitet von Akzeptanz (Emotionsteilung) bis Nichtakzeptanz (Emotionsdissens) (vgl. 1990, 149). So ist bei den Betroffenen 'Empörung' als Emotion angesichts inkonsistenten und/oder ungerechten Handelns auf Seiten der Agenten einer Institution erwartbar, als Manifestationen SCHIMPFEN, PROTESTIEREN etc., wofür eine Anzahl von Mitteln der Kodierung zur Verfügung steht; bei den Adressaten als Lesern dürften korrespondierend als Emotionen 'Solidarisierung' und gar 'Freude' entstehen, aber auch als Manifestationen (MIT)SCHIMPFEN / EMPÖRUNG ÄUSSERN usw.
4. Das Material: Leserbriefe Leserbriefe gehören zu den Textmustern im Schatten der Forschung zu massenmedialer Kommunikation. Dies zeigen die vergleichsweise wenigen Arbeiten zu dieser Textsorte und deren Fehlen in einführenden Werken und Gesamtdarstellungen (Lüger 1983, Burger 21990). Dies verwundert, da gerade Leserbriefe die 'Schnittstelle' von massenmedialen Produzenten zu deren Rezipienten deutlich markieren. Wir interessieren uns für diese Schnittstelle, weil hier deutlich wird, wie in der Regel (aus journalistischer Perspektive) nichtinstitutionelle Textproduzenten auf Inhalte, Meinungen und Darstellungsweisen von Presse4 Zur Diskussion des Terminus vgl. Fiehler 1993,156.
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Produkten reagieren und was sie für diskussions· und bewertungswürdig halten, allgemein: wie um die Angemessenheit von "massenmedial vermittelten Wertstandards" (Vogt 1989, 31) gestritten wird.5 Die von den Leserbriefschreibern vertretenen Werte manifestieren sich dabei nicht nur auf der lexikalisch-syntaktischen Ebene, vielmehr fließen sie auch in die gesamte Textstrukturierung ein, d.h. sie bestimmen, welche Argumente in welcher Reihenfolge gewählt werden (Vogt 1987, Heibig 1992). An dieser Schnittstelle zeigt sich gleichzeitig ein Stück gesellschaftlicher "Kommunikationskultur" (Huth/Krezeminski 1981,27; auch Loreck 1982), vor allem im Stellenwert, der den Leseibriefen im Kontext der "Leserbriefpolitik" der jeweiligen Zeitung eingeräumt wird.6 Allerdings muß deutlich auf die besondere Kommunikationssituation von Leseibriefen hingeweisen werden.7 In der Regel wird nicht der vollständige Leserbrief abgedruckt, so wie er der Redaktion zugegangen ist, und es werden auch nicht alle eingegangenen Leseibriefe abgedruckt. Vielmehr sind die abgedruckten Texte 'gefiltert' von der Redaktion. Die ursprünglichen Texte (Leseibriefe 1) werden danach T)ewertet', ob sie unterhaltend, originell etc., kurz: ob sie vorzeigbar sind. Weiterhin werden sie (ebenfalls mit diesem Interesse) redigiert und bearbeitet. Die in diesem Prozeß entstandenen Texte (Leseibriefe 2) sind deshalb (auch zu Unterhaltungszwecken) ausgewählte und aufbereitete Artefakte:8 TPI: LB1
Redaktion (= TP2): LB2
Rezipient
Die zu beschreibenden Textstrategien müssen deshalb als Strategien eines komplexen Textproduzenten verstanden werden und dürfen nicht verkürzt auf den ursprünglichen Leseibriefschreiber bezogen werden. Der mit Hilfe von Leseibriefen initiierte oder fortgeführte, öffentlich und schriftlich geführte Diskurs ist in Buchers gesprächsanalytisch geprägter Metaphorik (Bucher 1986, 142) ein "Dialog unter erschwerten Bedingungen" (Bucher 1989, 293). Er findet in verschiedenen "Zügen" (Bucher 1986) statt und bringt verschiedene Typen von Leseibriefen hervor (Bucher 1989, 295ff.): - den "pressekritischen Leselbrief', bei dem die Art und Weise der Darstellung eines Ereignisses durch die Zeitung im Vordergrund steht,
5 Huth/Krezeminski, 1981, sprechen für den Bereich der "Zuschauerpost" von einem "Folgeproblem". 6 Vgl. zur "Leserbriefpolitik" Bucher 1986,144, auch Vogt, 1989, 105, Fix (in Vorb.) 7 Für Anregungen und Diskussionen in diese Richtung danken wir W. Holly. 8 "TP" für 'Textproduzent"; "LB1" und "LB2" für "Leseibriefe 1" und "Leserbriefe 2".
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Albeit Herbig, Barbara Sandig
- den "Diskussionsleseibrief1, bei dem Inhalte, Werte und Positionen diskutiert werden, - und den "Erweiterungsleseibrief", in dem ein eigener Bericht an einen Pressetext angeschlossen wird. Je nachdem, um welchen Leserbrieftyp es sich handelt, werden Bewertungen relevant und unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe angelegt bzw. unterschiedliche Bewertungsaspekte als bewertungsrelevant herangezogen; der letzte Typ kann auch ohne Bewertungen auskommen, um ihn geht es im folgenden nicht. Mit Vogt (1989, 33f.) verstehen wir Leserbriefe als "Ausdrucksformen des Textmusters "Leserbrief als einer gesellschaftlich standardisierten Form des Eingreifens in Meinungbildungsprozesse. - Das Textmuster "Leserbrief ist abhängig von den Interessen von Handelnden, genauer: von den Rezipienten eines Print-Mediums, die im Rahmen einer Standardkonstellation (Rezeptionsakt) evoziert werden, und zwar in dem Sinn, daß die Handelnden etwas kollektiv Strittiges in Reaktion auf eine Zeitungsveröffentlichung formulieren, das durch die Auswahl in der Leserbriefredaktion als solches positiv sanktioniert wird. Die der Kommunikationsgemeinschaft der Zeitungsleser zugänglich gemachten Texte haben die Funktion der Kritik.9 - Leserbriefe sind als argumentative Textmuster aufzufassen. Die Abfolge und Position von Textsegmenten sowie ihre Alternativen sind durch die Thematisierung von etwas kollektiv Strittigem (Quaestio) festgelegt. Das kollektiv Strittige ist auf medial vermittelte politische Sachverhalte und Positionen bezogen." Diese Definition ist dahingehend zu modifizieren, daß argumentative Themenentfaltung zwar vielfach anzutreffen ist, aber nicht notwendig vorhanden sein muß. Die von uns bislang untersuchten Texte gehören alle dem Typ "Diskussionsleserbriefe" an. Sie stammen aus einem regionalen Kontext und nehmen Bezug auf eine vom kommunalen Abfallentsorgungsveiband (KABV) beschlossene Gebührenerhöhung. Anlaß des Zorns vieler Leserbriefschreiber ist die dafür von offizieller Stelle abgegebene Begründung, daß dieser KABV durch die Mülleinsparungen der letzten Jahre zu wenig Einnahmen erhält: Wegen geringeren Müllaufkommens sollten höhere Gebühren erhoben werden (SAARBRÜCKER ZEITUNG 15.10.1992). Das Thema sorgte für viel Aufregung und füllte mehrfach die Leseibriefseiten der regionalen Tageszeitung. So sind auch die Leseibriefe, die hier vorgestellt werden, durchgängig ablehnend und bewerten die Gebührenerhöhung negativ; insofern ließe sich
9 Aber auch die der Bestätigung, s.u.
Argumentieren, Bewerten und Emotionalisieren im Rahmen persuasiver Strategien
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mit Recht von einer Textmustervariante 'negativ bewertende Leserbriefe' sprechen.10 Die Beispiele unseres Korpus sind mehrfach adressiert: - an die Zeitung selbst: Hier wird Zustimmung zu einem vorangegangenen äußerst kritischen Kommentar der Zeitung selbst ausgedrückt (Bewertungsteilung); - an die Agenten der Institution: Ihr Handeln wird kritisiert und abgelehnt (Bewertungsdissens); - an die Leser der Zeitung: Sie sollen die Perspektive der Textproduzenten teilen (Bewertungsteilung). Im Unterschied zu sonstigen Leserbriefseiten gibt es in diesem Falle keinen einzigen Leseibrief mit gegenläufiger Tendenz; bei allen ist die Tendenz gleich. Dies fuhrt in der Gesamtheit der Texte zu einem massiven Protest (der "Proponenten") gegen die unterstellten Argumente der Agenten der Institution ("Opponenten"); eine Solidarisierung (durch Bewertungsteilung) der Betroffenen gegen diese ist seitens der Zeitung sicher erwünscht, indem viele Einzelmeinungen gleicher Tendenz hier gebündelt dargeboten werden. Gleichzeitig zeigt jeder einzelne Leseibrief ein gesteigertes Bemühen um (emotionale) Übereinstimmung bei der Zeitung und den Lesern als Adressaten und eine klare Manifestation der Nichtübereinstimmung an die Adresse der Agenten des KABV. Anliegen aller Leseibriefe ist somit die Perspektiventeilung bei den Lesern und zwar hinsichtlich einzelner Bewertungen, der sie gegebenenfalls stützenden Argumente und der damit verbundenen manifestierten Emotionen.
5. Die Gegenstandsklasse und ihre Bewertungseigenschaften Emotional bewertendes Argumentieren in Leseibriefen bezieht sich auf eine Gegenstandsklasse mit dem angehörigen Bewertungswissen. Was ist die Gegenstandsklasse, um die es in unserem Material geht? Es ist die öffentlicher Handlungen und öffentlich wirksamer Handlungsweisen wie MÜLL SPAREN oder PREISE FESTSETZEN. Bewertungsgrundlagen sind die Grundsätze, die für Handeln allgemein gelten und für öffentliche bzw. öffentlich wirksame Handlungen im besonderen. D.h. der Bewertungsframe 10 Für entsprechende Hinweise danken wir E.M. Jakobs.
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Albeft Heibig, Barbara Sandig
muß zunächst von einer Rekonstruktion des Frames für Handeln ausgehen. Wir folgen Rehbeins (1977, 82 und 182) Handlungsrekonstruktion als Grundlage für die Erarbeitung eines bewertungsrelevanten Gegenstandsframes; er unterscheidet folgende Phasen:11
I.
(weitere) Vorgeschichte,
II. engere Vorgeschichte mit Handlungskontext, Einschätzung der Situation, Motivation und Zielsetzung, ΠΙ. Geschichte mit Planbildung oder Planübernahme, Ausführungsstadium und Resultat der Ausführung und schließlich IV. Nachgeschichte (engere und weitere): die Folgen.
5.1 Bewertungsaspekte Diese Modellierung gibt eine Reihe von Bewertungsaspekten vor, die im Rahmen von Bewertungshandlungen relevant werden können. Einige davon sind:12 - Wie ist das Resultat in Relation zur weiteren Vorgeschichte zu beurteilen? - Paßt die Ausführung zur Zielsetzung? - Wie sind die Folgen in Relation zur weiteren Vorgeschichte einzuschätzen? - Welche Motivation/Zielsetzung ist zu erschließen, und wie ist sie angesichts der Vorgeschichte zu bewerten? - Wie ist die Ausführung angesichts von Konventionen oder Normen für die Ausführung zu bewerten? - Wer sind die handelnden Agenten? Bewertungsaspekte: persönliche Kompetenz, institutionsgebundene Rolle, Verantwortlichkeit/Moral usw.? - Wer sind die von der Handlung Betroffenen? Bewertungsaspekte: Was sind ihre bewertungsrelevanten Eigenschaften? - Wie ist die Relation Agenten/Betroffene, z.B. sozialer Status, institutionsbedingte Rollen usw. 11 Dabei ist der mentale Aspekt des Handelns mit berücksichtigt 12 Es fällt auf, dafi einige der Topoi zur Person (loci a persona) der rhetorischen Tradition mit diesen Bewertungsaspekten für Handlungen vergleichbar sind (Ueding/ Steinbrink 1985, 220ÍF.: Ueding 2 1986,39ff.).
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- Wie ist angesichts dieser Relation die Handlung (Tatsache der Handlung, Motivation, Resultat, Folgen...) einzuschätzen? - usw. Zur Illustration: Im folgenden Beispiel weist die weitere Vorgeschichte (Bewertungsaspekt: Resultat in Relation zur weiteren Vorgeschichte) bereits negativ zu bewertendes Handeln derselben Agenten auf, deshalb ist die nun auf dieser Basis erfolgte Handlung auch negativ zu bewerten: (1) Weil in der Vergangenheit falsche Müllgebühren erhoben wurden, sollen jetzt die 'müllbewußten' Haushalte mit 14-tägiger Leerung zur Kasse gebeten werden. (Rückschluß/1) Oder als weiteres Beispiel: Die weitere Vorgeschichte der Betroffenen ist positiv zu werten {ich spare Müll), die Handelnden haben diese aber bei ihrer Handlung nicht berücksichtigt, die Handlung mit ihren Folgen ist insofern als äußerst negativ zu bewerten: (2) Nun habe ich im vergangenen Jahr Müll gespart und erhalte prompt ... höhere Gebühren. (Müll/2) (3) Bestrafen von müllbewußten Bürgern (Ungeheuer/4) (4) ... dieser Personenkreis, der sich redlich bemüht, Müll zu vermeiden, jetzt so zur Kasse gebeten... (Prozent/6)
5.2 Handlungsmaximen Für die Analyse der Diskussionsleseibriefe ist ein Einbeziehen dieser handlungsspezifischen Bewertungsaspekte und des darauf bezogenen normativen Wissens notwendig.13 Man kann dieses normative Wissen als Handlungsmaximen folgendermaßen formulieren: 1. Allgemeine Handlungsmaximen:
13 Vgl. Ehlich/Rehbein 1977,59ff. zu Maximen und zu Sentenzen, ebd. 54ff.
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1.1 Handlungsmaximen allgemeiner Art: Handle konsistent' (z.B. man soli nicht mit zweierlei Maß messen); 'Handle differenziert' (z.B. man soll nicht alles mit gleicher Elle messen);14 1.2 Spezielle Handlungsmaximen für Handlungsbereiche: z.B. *Müll soll man sparen'; 'man soll Energie sparen'; 'Abfall soll man als Wertstoff behandeln'. Handlungsmaximen dieser Art beziehen sich auf für die Handlungsbereiche relevante Bewertungsaspekte; sie geben Soll-Werte auf den Skalen des Bewertungsmaßstabs an. 2. Handlungsmaximen für sprachliches Handeln: 2.1 Handlungsmaximen für Bewertungshandeln, d.h. Maximen für das Durchführen von Bewertungshandlungen allgemein wie 'Handle gemäß allgemein anerkanntem Bewertungswissen', T>e mortuis nihil nisi bene', 'Sei um möglichst positive Bewertung bemüht"5, Träferiere Bewertungsübereinstimmung' (vgl. Auer/Uhmann, 1982). 2.2 Handlungsmaximen für argumentatives Handeln, d.h. Maximen für das Durchführen von Argumentationshandlungen wie 'Argumentiere widerspruchsfrei', 'Nenne Gründe für deine Behauptungen', 'Argumentiere stringent' (vgl. Groeben et al. 1990,49f.). 3. Es sind weitere bewertungsrelevante Maximen anzunehmen, wie etwa die folgenden: 3.1 Bewertungsprinzipien (G.Fritz 1986, 273 und 277f.): Wenn ein Gegenstand einer Gegenstandsklasse eine bestimmte bewertungsrelevante Eigenschaft hat bzw. nicht hat, dann ist er so und so zu bewerten. Damit wird ein Zusammenhang bezüglich eines Bewertungsaspekts separat, unabhängig vom übrigen Bewertungsmaßstab, formuliert. 3.2 Regelhaft bewertete wenn-dann-Zusammenhänge: 'Wer sich negativ verhält, dem soll es schlecht gehen' (z.B. 'Wer viel Müll produziert, soll auch viel zahlen'). 'Wer sich positiv verhält, dem soll es gut gehen' (z.B. 'Wer Müll spart, soll belohnt werden'). D.h. hier handelt es sich um generalisierte Relationen von Bewertungen, die auch bereichsspezifische Varianten haben können (vgl. die Formen in den Klammern). 14 Vgl. die entsprechenden Redewendungen bzw. satzförmigen sprichwörtlichen Redensarten als sprachlich geronnenes Wissen. 15 Vgl. Sandig (in Vorb.), Kap.8.
Argumentieren, Bewerten und Emotionalisieren im Rahmen persuasiver Strategien
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Maximen sind besondere Wissenstypen bezüglich Handlungsbewertungen (Bewertungsgegenstand: HANDLUNG). Für diesen Bewertungsgegenstand ist das auf die Bewertungsaspekte bezogene normative Wissen (SOLL-Wissen) als Maxime bekannt. Beim Bewerten einer bestimmten Handlung geht es dann darum, ob die Maxime eingehalten wird oder nicht oder teilweise. D.h. eine bestimmte Handlung kann der Maxime auch nur graduell entsprechen. Alle genannten Maximen beziehen sich auf den Bewertungsgegenstand 'Personen und deren Handlungen1 (loci a persona). Die Differenzierung der Handlungsmaximen allgemeiner Art (1.1 und 1.2) entspricht in etwa der Differenzierung in inhaltliche Topoi/Loci und in Bereichsunabhängigkeit (loci communes) und Bereichsspezifik (loci proprii) der rhetorischen Tradition (vgl. Göttert 1991, 37). Bei den Handlungsmaximen für Argumentationshandeln sind es relationale Topoi.
6. Persuasive Strategien Die Analyse der Leseibriefe geschieht im Hinblick auf die fiir persuasives Handeln interessierenden "illokutionären Teilaspekte" (Oberhauser 1993) EMOTIONALISIEREN und BEWERTEN sowie ARGUMENTIEREN als komplexe Texthandlung.
6.1 Die globale Strukturierung Bevor im weiteren einige persuasive Strategien dargestellt werden, soll zunächst ein Überblick über die globale Struktur unserer Texte gegeben werden: Texteinleitung - emotionaler Auftakt und/oder - bewertende Beschreibung der Vorgeschichte oder des Resultats der in Frage stehenden Handlung Textkern - emotionales Argumentieren und/oder - Thematisieren argumentativer (Un-)Logik und - Abheben auf Topoi
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Albert Herbig Barbara Sandig
Textausleitung - bewertende Ursachenforschung - Reflexion über Motivation, Zielsetzung und Kompetenz der Agenten und/oder - Hoffnungen und Prophezeiungen ausdrücken hinsichtlich einer Revision der Handlung bzw. der Handlungsfolgen und/oder - Bekräftigung der eigenen Position. Einige Strategien sind prinzipiell unabhängig von einer Position im Text, wie die Emotionsmanifestation (vgl. 6.5) und das Thematisieren argumentativer (Un-)Logik und Abheben auf Topoi; es gibt jedoch charakteristische Verwendungen in bezug auf die globale Struktur (emotionaler Auftakt bzw. Position im Textkern).
6.2 Texteinleitung Neben den von der Zeitungsredaktion gesetzten Überschriften steuern vor allem Bewertungen in der Einleitung die Rezeption des nachfolgenden Textes nachhaltig.
6.2.1 Emotionaler Auftakt' Unsere Texte werden vielfach damit eingeleitet, daß die Betroffenen ihre eigenen Emotionen thematisieren ("emotionaler Auftakt"). (1)
Es ist nicht zu fassen: (Witz/1)
(2)
Die SZ hat schon recht, wenn sie schreibt, daß Professor Bähr einige Schrauben locker hat. (Ungeheuer/2)
(3)
Es ist ja geradezu eine Ungeheuerlichkeit, wie der KABV Müllpolitik betreibt. (Ungeheuer/3)
(4)
Was denken sich Herr Bähr und die mitverantwortlichen Bürgermeister eigentlich? (Prozent/3)
(5)
Was sich der Abfallentsorgungsverband für 1993 vornimmt, ist für den umweltbewußten Saarländer ein Schlag ins Gesicht. (Zuschlagen/1)
Argumentieren, Bewerten und Emotionalisieren im Rahmen persuasi ver Strategien
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Emotionsmanifestation ist Ausdruck des gleichzeitigen Erlebens (Fiehler 1990): Dadurch wird die aktuell fortdauernde negative Betroffenheit durch die Handlung der Agenten ausdrückbar und vermittelbar. Als sprachliche Mittel der Emotionskodierung dienen feste Formeln des Bewertungsmanagements16 wie in (1), phraseologische Modellbildungen (Burger/Buhofer/Sialm 1982) wie Was denkt/en sich χ eigentlich?, Was glauben χ denn?! usw. wie in (4) zum Ausdrücken von Empörung/SCHIMPFEN, Redewendungen wie in (2) und (5) mit ihrem affektiv bewertenden Potential (Gréciano 1988), hyperbolische Bewertungen (Ungeheuerlichkeit in (3))17, z.T. noch mit Intensivierungsausdrücken18angereichert (geradezu" in (3)).
6.2.2 'Bewertung von Vorgeschichte oder Resultat der Handlung' Es ist kein Zufall, daß in den meisten Fällen bereits in der Texteinleitung die Institution oder die für die Handlung verantwortliche(n) Person(en) thematisiert werden. Auch ist interessant, wie auf die in Frage stehende Handlung selbst referiert und was über sie prädiziert wird: (6)
solch perverse Praktiken (Müll/3),
(7)
geradezu eine Ungeheuerlichkeit, wie der KABV Müllpolitik betreibt (Ungeheuer/3).
Damit wird zum Ausdruck gebracht, daß die Handlung der Agenten nicht dem entspricht, was die Betroffenen angesichts allgemein anerkannter Bewertungsaspekte von Handlungen und darauf bezogener Maximen (SOLLWerte) erwarten und akzeptieren würden; sie wird in dieser Hinsicht als völlig unangemessen bewertet: (8)
...sollen jetzt die müllbewußten Haushalte mit 14-tägiger Leerung zur Kasse gebeten werden. (Rückschluß/1)
16 Vgl. Sandig (in Vorb.): das sprachliche "Zubereiten" der Bewertungen für Adressaten: Hochstufen durch Beteuern, Intensivieren oder Herunterstufen, etc. 17 Zu deren emphaseanzeigender Qualität vgl. Kallmeyer 1979. 18 Vgl. van Os 1989. Zu Intensivierung als Bestandteil von Emotionsmanifestation Fiehler 1990, 129. 19 Heibig 1988, 153: "verstärkt die im Bezugswort bezeichnete Eigenschaft, die in so hohem Grade nicht erwartet wurde".
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(9)
habe ich im vergangenen Jahr Müll gespart und erhalte prompt20 bei 14-tägiger Leerung 50% höhere Gebühren. (Müll/2)
(10) Ich spare Müll, wo es nur geht (...). Die Belohnung des KABV (...). (Witz/2, Witz/6) (11) (...) dieser Personenkreis, der sich redlich bemüht, Müll zu vermeiden, jetzt so zur Kasse gebeten (...). (Prozent/6) (8) enthält eine Redewendung, die in (11) ebenfalls benutzt wird. (10) zeigt Ironie bei Belohnung·, wie Oomen (1983) gezeigt hat, wird mit dem ironischen Ausdruck die Norm formuliert, die erwartbar und wünschbar gewesen wäre, nämlich im konkreten Fall eine Belohnung: Die Ironie formuliert so die Diskrepanz zwischen dem, was in der Situation ersichtlich ist, und dem, was den Handlungsnormen (s.o.) entspräche. Alle diese Textausschnitte drücken einen Kontrast zwischen Propositionen aus, auch dies, wie Blumenthal (1983) gezeigt hat, durch Verdichtung ("semantische Dichte") - ein Mittel, Wirkung zu erzielen, hier auch: Emotion auszudrücken und rezipieibar zu machen.21 Unterstützend wirken 'emotionale' Verwendungen (vgl. Diewald 1991,145f.) deiktischer Ausdrücke: solch in (6) und 50 in (11).
6.3 Persuasive Strategien im Textkern 6.3.1 *Emotionales Argumentieren' Die Leseibriefschreiber unserer Texte sind nicht nur Pro- bzw. Opponenten in einem rationalen Diskurs, der auf argumentativem Weg entschieden wird, sie sind vielmehr Betroffene der in Frage stehenden Handlung mit Gefühlen wie Ohnmacht oder Wut. Das Zum-Ausdruck-Bringen (Manifestieren und Kodieren) von Emotionen verstehen wir mit Fiehler als eine besondere Art des Bewertens. Die persuasive Strategie des emotionalen Argumentierens wird deutlich, wenn man die Texte unter den (illokutionären) Teilaspekten ARGUMENTIEREN und EMOTIONALISIEREN analysiert und diese zueinander in Beziehung setzt.
20 Mit dieser Abtönungspartikel wird die negativ zu bewertende Handlung als von diesen Handelnden erwartbar charakterisiert 21 Vgl. die Emotions-, Manifestations- und Korrespondenzregeln bei Fiehler (1990, Kap. 3.2.).
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In Text "Müll" (s. Anhang) wird die zentrale Konklusion Κ in Einheit 3 indirekt als rhetorische Frage22,23 realisiert: (12) Wer wird denn bei solch perversen Praktiken noch zum Sparen animiert? (Müll/3) Diese Konklusion Κ läßt sich explizieren als24 (K)
Niemand wird mit dieser Politik zum Müllsparen animiert.
Die Handlung wird mit Praktiken negativ bewertet; mit perverse Praktiken wird Bezug genommen auf den Bewertungsaspekt 'Honorierung von umweltfreundlichem Verhalten' (BA) und die Nichterfüllung des damit gegebenen Sollwerts emotional negativ bewertet. Diese Bewertung in K-Position ist deshalb (zusammen mit der Form der rhetorischen Frage) als Indikator für den illokutionären Teilaspekt EMPÖRUNG ÄUSSERN zu werten. Auch das vorangegangene Argument A, daß Müllsparen nicht positiv honoriert wird, läßt sich als EMPÖRUNG ÄUSSERN verstehen (Indikator prompt). Auch in Text "Ungeheuer" wird auf emotional bewertende Weise über die Müllpolitik prädiziert: (13) Es ist ja geradezu eine Ungeheuerlichkeit, wie der KABV Müllpolitik betreibt. (Ungeheuer/3) Dieser Textausschnitt25 nimmt im Rahmen der argumentativen Textorganisation die Position der Konklusion Κ ein und wird illokutionär als EMPÖRUNG ÄUSSERN realisiert. Auch die folgende argumentative Stützung wird emotional zum Ausdruck gebracht:
22 Schwitalla (1984, 133) legt dar, daß rhetorische Fragen auf das "unbezweifehe Fakten- und Normenwissen" einer Gruppe rekurrieren und daß Fragesätze dieser Art insofern eindeutig interpretierbar sind: "Eine Unmöglichkeit' kann kein Gegenstand einer Frage sein." (19S4, 134) Schwitalla (1984, 136) legt als Bedingungen fftr rhetorische Fragen fest: "a) eine Antwort ist nicht erforderlich, weil b) das Gegenteil der Frageproposition mit der rhetorischen Frage behauptet wird", und zwar mit Entscheidungs- und mit Ergänzungsfragen; andere Fragesatzfunktionen sind möglich. Schon Quintilian legt dar, dafi rhetorische Fragen dem Ausdruck eigener Gefühle und der Einflußnahme auf die Gefühle der Adressaten dienen (ebd.). Sie werden in Argumentationen mit verschiedenen Funktionen eingesetzt (139): zum Argumentieren in verschiedenen Teilfiinktionen (138ff.) und zur emotionalen Beeinflussung der Adressaten. 23 Rhetorische Fragen als indirekte Behauptungen: Meibauer 1986. 24 Vgl. dazu Schwitalla 1984, 136 und 143f. 25 Die globale Stnikturierang der Texte erfolgt nicht immer sequentiell getrennt
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(14) Die üblen Praktiken des rigorosen Geldeintreibens und das Bestrafen von müllbewußten Bürgern kommt (sie!) fast einer Verletzung des Grundgesetzes auf die Würde des pflichtbewußten Bürgers gleich. (Ungeheuer/4). Diese argumentative Stützung enthält neben einer Reihe einfacher Bewertungen auch emotionale: üble Praktiken (vgl. auch Text "Müll"), der hyperbolisch wirkende Vergleich Verletzung des Grundgesetzes, der allerdings mit dem Heckenausdruck fast leicht gemildert ist. Auch im Text "Witz" wird die Argumentation emotional bewertend durchgeführt. Das Argument A
ökologisches Verhalten wird bestraft
wird ironisch-sarkastisch formuliert: (15) Die "Belohnimg" (...) für solch umweltbewußtes Verhalten: eine Gebührenerhöhung um 53,5 Prozent! (Witz/6). Die Anführungszeichen sind als distanzierendes Ironiesignal beschreibbar, das Ausrufezeichen zeigt EMPÖRUNG an. In der Konklusion wird mit einer emotional bewertenden Kommentarformel26 die oppositive Position abgewertet: (16) Das kann doch wohl nur ein Witz sein! (Witz/9). Dabei verweist das auf die in Frage stehende Handlung. Mit dieser zentralen bewertenden Einstufung wird die oppositive Sicht auf die Handlung als 'unernsthaft1 bzw. 'außerhalb geltender Maßstäbe liegend' AUSGEGRENZT.
6.3.2 Thematisieren argumentativer (Un-)Logik' Diese Strategie ist unabhängig von einer Position' in den Textteilen; sie wird jedoch häufig im Textkern verwendet. Mit ihr wird die argumentative Logik der unterstellten oppositiven Argumentation entweder als 'unlogisch' negativ bewertet oder als unannehmbar zurückgewiesen. Gleichzeitig wird das Nicht-
26 Zur argumentationsrelevanten Funktion von Phraseologismen vgl. auch Lüger 1993, 267; zu Formeln, die Ober 'Wahrheit' konzeptualisiert sind und dem ''Bewertungsmanagement'' im Hinblick auf die Adressaten dienen, s. auch Sandig in Vorb.
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Verstehbare der unterstellten oppositiven Argumentation thematisiert und negativ bewertet: ( 17) Eine seltsame Logik... (Seltsam/1) (18) die hanebüchene Begründung hierfür... (Witz/7) (19) Darf man daraus den Umkehrschluß ziehen... (Witz/8) (20) Welcher "müllbewußte" Verbraucher soll das noch verstehen? (Rückschluß/2) (21) Heißt das, daß wir in Kürze zur Müllproduktion animiert werden ...? (Kasse/8)27 Die Logik der unterstellten oppositiven Argumentation ist aus der Sicht der betroffenen Leserbriefschreiber so unverständlich, daß sie als 'unernst' AUSGEGRENZT werden muß: (16) Das kann doch wohl nur ein Witz sein!28 (Witz/9) Eine Variante dieser Strategie ist das rhetorische Übernehmen der oppositiven Logik wie das Beispiel "Müll" zeigt:29 (22a) In Zukunft werde ich keine Hausabfälle mehr kompostieren, (Müll/4) (22b) (...), ich werde auch keine unnötigen Verpackungen beim Einkaufen zurücklassen. (Müll/S) (22c) Es kommt alles in den Mülleimer und wird notfalls reingestampft! (Müll/6) (22d) Der KABV soll seinen Müll bekommen. (Müll/7)
27 Vgl. auch den emotionalen Auftakt in Witz/1 und Prozent/3. 28 Zur Hyperbolik in der Alltagsihetorik, allerding beim mündlichen Erzählen, vgl. Stempel 1983. Schwitalla (1984, 153) gibt aus dem Bereich der gesprochenen Gegenwartssprache folgendes Beispiel:... und nunmehr dank Herrn seefeld dreihundertßnßigtausend mark, wie gesagt, ein witz; was sind heute flln/zigtausend mark ? 29 Dieses rhetorische AD ABSURDUM FÜHREN funktioniert wie die rhetorische Frage nur auf der Grundlage unbezweifelbarer Oberzeugungen in der Gruppe (vgl. oben Anm. 23).
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Alle Beispiele haben gleichzeitig die Funktion einer aus der Konklusion Kl gefolgerten und jetzt anhand von Einzelbeispielen ausgeführten Konklusion K2: Da niemand zum Sparen (Bewertungsaspekt: ökologisches Verhalten) animiert wird und die unterstellte Logik sogar das Gegenteil zu wollen scheint, folgert der Textproduzent aus der Perspektive der Agenten hypothetisch negative Verhaltensweisen als scheinbar adäquate. Damit werden hypothetisch mögliche Folgehandlungen (Nachgeschichte) von Betroffenen durchgespielt und so die Unsinnigkeit der Handlung der Agenten zum Ausdruck gebracht. Diese rhetorische Perspektiveübernahme wird in der den Text abschließenden Pointe noch einmal verdeutlicht: (22e) Vielleicht wird er dann im nächsten Jahr wieder billiger. (Müll/8) Die unterstellte oppositive Argumentation wird mit dieser Strategie AD ABSURDUM GEFÜHRT. Da formale Richtigkeit (im alltagssprachlichen Sinn "Logik'; vgl. W. Klein 1980) zu den einklagbaren Anforderungen an Argumentationen gehört (vgl. Groeben/Schreier/Christmann 1990), wird die angegriffene oppositive Argumentation damit als ganze negativ bewertet. Da die Agenten aus der Perspektive der Betroffenen gegen die allgemeine Handlungsmaxime Handle gemäß allgemein anerkanntem Bewertungswissen' verstoßen haben, wird ihnen von den Betroffenen die Rationalität abgesprochen und als Konsequenz (Folge) von den Betroffenen selbst hypothetisch das Aufgeben wenigstens speziellerer Handlungsmaximen wie "Müll soll man sparen' durchgespielt.
6.3.3 'Abheben auf Topoi' Neben dem bewertenden Thematisieren der unterstellten oppositiven Argumentation und der rhetorischen Perspektiveübernahme in der Form des AD ABSURDUM FÜHRENS lassen sich die Texte auch unter topischem Gesichtspunkt beschreiben. Es handelt sich bei den Topoi der rhetorischen Tradition, wie sie in den verschiedenen Topoi-Katalogen nachzulesen sind, "zum einen um inhaltliche zum anderen um relationale bzw. formale Kategorien unserer Wissensbestände."30 Diese sind "zu unterscheiden (...) von der sprachlichen Ausdrucksseite, in der bestimmte Phraseologismen das sprachlich geronnene Äquivalent zum Topos darstellen" (Heibig 1993a).31 30 Eine Typologie, die sich an der Schlußregelverwendung, bzw. -etablierung orientiert, schlägt Kienpointer (1992,240ff.) vor. 31 Vgl. auch Pielenz 1992,121.
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Die in den Leseibriefen in Frage stehende Gebührenerhöhung wird (wie bereits einige Beispiele gezeigt haben) mit dem relationalen Topos 'Widerspruch' (Handlungsmaxime für Argumentationshandlungen) negativ bewertet: Die Gebührenerhöhung verstößt gegen die Alltagslogik. Weiterhin wird die Gebührenerhöhung mit Hilfe des inhaltlichen Topos 'Gerechtigkeit' (bereichsunabhängige Handlungsmaxime) als gegen das Rechtsempfinden verstoßend bewertet.32 Beide Topoi dominieren die Argumentationsschritte im Kern der untersuchten Leseibriefe. Vor allem in den Texten "Prozent" und "Ungeheuer" stellt 'Gerechtigkeit' den inhaltlich relevanten topischen Aspekt dar. Beide Textproduzenten berufen sich explizit auf das "Grundgesetz". Im Text "Ungeheuer" wird der Topos im Rahmen der Formulierung eines Arguments thematisiert: (A)
"Die üblen Praktiken (...) kommt (sie!) fast einer Verletzung des Grundgesetzes auf die Würde des pflichtbewußten Bürgers gleich." (Ungeheuer/4)
In Text "Prozent" wird der Topos mit Hilfe einer satzwertigen Formel im Rahmen der Schlußregelformulierung thematisiert, die den Übergang von den Argumenten zur Konklusion (Prozent/4) herstellen soll: (SR) "Gleiches Recht für alle, so schreibt es schon das Grundgesetz vor." (Prozent/7) Mit den elementaren und eng miteinander verknüpften Topoi 'Gerechtigkeit' und 'Widerspruch' werden bei dieser persuasiven Strategie zwei Bewertungsaspekte an die in Frage stehende Handlung und die darauf bezogene oppositive Argumentation herangetragen, was zu deren negativer Bewertung führt. Auch in dieser Hinsicht verstößt die Handlung der Agenten gegen das allgemeine Bewertungswissen, das nach den Regeln der Gemeinschaft die Grundlage für Handlungen politisch Verantwortlicher sein sollte. 6.4 "Bewertender Ausklang1 Den persuasiven Strategien im Rahmen der Textausleitung lassen sich drei Typen zurechnen.
32 Vgl. Perelman/ Olbrechts-Tyteca 1958: "La règle de justice."
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6.4.1 "Bewertende Ursachenforschung' Hier geht es um Reflexion über Motivation, Zielsetzung und Kompetenz der Agenten. Einige Beispiele für diesen Typ sind: (23) Oder sind bei KABV-Chef Peter Bähr tatsächlich Schrauben locker? (Witz/10) (24a) Vielleicht wäre es auch einmal interessant, nachzuforschen, wie es bei den 52 Herrn Bürgermeistern privat um die Müllentsorgung bestellt ist. (Rückschluß/7) (24b) Vielleicht könnte man dann gewisse Rückschlüsse auf die anstehende Entscheidung ziehen? (Rückschluß/8) In diesen Beispielen wird zum Zwecke der Bewertung der in Frage stehenden Handlung auf die verantwortlichen Politiker als Agenten abgehoben. Gemäß dem von Perelman beschriebenen argumentationsrelevanten Zusammenhang von Person und Handlung (vgl. Perelman 1980) werden die Bewertungen abschließend auf die verantwortlichen Personen bezogen. (Vgl. auch oben die Bewertungsaspekte von Handlungen allgemein.) In Witz/10 wird mit der Prädizierung der emotional negativ bewertenden Redewendung eine Schraube locker haben den verantwortlichen Agenten im Rahmen einer mit oder eingeleiteten rhetorischen Frage sogar eine Ausnahmebedingung (AB) für die zuerst entwickelte Argumentation eingeführt. Die beiden mit vielleicht eingeleiteten Abschlußüberlegungen in Rückschluß/7 und 8 personalisieren den Bewertungsdissens ebenfalls: Sie bewerten die politischen Entscheidungsträger negativ, indem sie ihnen ironisch unterstellen (den 52 Herrn Bürgermeistern/gewisse Rückschlüsse), selbst nicht den Maßstäben umweltgerechten Verhaltens nachzukommen, bzw. diese politische Entscheidung als Indikatoren (Rückschlüsse) für deren Privatverhalten werten.
6.4.2 Hoffnungen ausdrücken und Prophezeien1 Mit dieser Ausleitungsstrategie wird der Hoffnung auf eine Revision der Handlung bzw. der Handlungsfolgen Ausdruck gegeben, oder es wird sogar als sicher angesehen, "prophezeit", daß eine derartige Revision notwendig sein wird. Diese Strategie bezieht sich auf die Zukunft der in Frage stehenden
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Müllpolitik als größeren Rahmen der umstrittenen Handlung. Diese kann z.B. düster PROPHEZEIT werden: (25) Wenn diese Müllpolitik so weitergeht, dann werden wir im Saarland bald zu einer "Selbstbedienungs-Müll-Bananenrepublik" verkommen sein. (Ungeheuer/7) Der Konditionalsatz nennt im ersten Teil die Bedingungen für das Zutreffen der mittels ungewöhnlicher Wortbildung markierten emotionalen Bewertung. In Müll/8 wird abschließend eine HOFFNUNG GEÄUSSERT: (26) Vielleicht wird er dann im nächsten Jahr wieder billiger. (Müll/8) Diese Äußerung ist gleichzeitig ironisch zu verstehen, weil sie in die bereits dargestellte Strategie des AD ABSURDUM FÜHRENS eingebettet ist. Auch in folgendem Beleg wird eine HOFFNUNG AUSGEDRÜCKT: (27) Wenn die Müllverbrennungsanlage Velsen hoffentlich nicht gebaut werden wird (...), hat der KABV Geld übrig, das dann als Prämie für weitere Müllvermeidung gezahlt werden sollte. (Ungeheuer/6) In den beiden ersten Beispielen wird die weitere Nachgeschichte der in Frage stehenden Handlung ausphantasiert; im letzten Beispiel wird auf die Möglichkeit einer noch schlimmer verfehlten Handlung (hoffentlich nicht gebaut werden wird, da sie überflüssig ist (Ungeheuer/6)) und ironisch auf mögliche positive Folgen im Falle ihrer Unterlassung eingegangen.
6.4.3 'Bekräftigung der eigenen Position' Oft steht am Ende eine besondere Bekräftigung. Damit wird bezogen auf den Text als größere Einheit eine Intensivierung vorgenommen, wie sie nach Fiehler (1990) für Emotionsmanifestationen charakteristisch ist (s.o.). Der Text Trozent' z.B. schließt mit einer durch oder eingeleiteten rhetorischen Frage33 nach dem Wert {oder ist es besser) andere Handlungsweisen aus. Die vorangegangene explizite Argumentation (mit expliziter Schlußregel SR in Prozent/7) wird dadurch emotionalisierend BEKRÄFTIGT, daß die vertretene Position mit der hier rhetorisch eingeführten möglichen Alternative (alles in den Müll zu schütten) kontrastiert wird:
33 Zu rhetorischen Fragen in verschiedenen Funktionen: Schwitalla 1984.
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(28) Oder ist es besser... Zwei weitere Texte enden ebenfalls mit durch oder eingeleiteten rhetorischen Fragen: (29) Oder sind bei KABV-Chef Peter Bähr tatsächlich Schrauben locker? (Witz/10), womit die Konklusion von Witz/9 BEKRÄFTIGT wird, und (30) Oder sollen wir auch noch eine Hilfe hierfür einstellen, um verschiedenen Leuten noch schneller die Taschen zu füllen. (Waschen/4) Womit noch einmal BEKRÄFTIGEND hypothetische Konsequenzen für die Betroffenen und Motivationsunterstellung bei den Agenten miteinander verknüpft werden. Diese Strategie kann sich also mit den beiden anderen Ausleitungsstrategien verbinden. 6.5 Emotionsmanifestationen und ihre Kodierung34 Zusätzlich zu den bereits dargestellten Mitteln der Emotionsmanifestation, die in allen Textteilen zu finden sind, soll hier besonders auf SCHIMPFEN eingegangen werden. Hier werden die Agenten der Institution nicht BESCHIMPFT35, sondern es wird ÜBER die Agenten GESCHIMPFT. Adressaten sind die Zeitung und dann auch die Leser der Zeitung. Bei derart mehrfach adressierten Texten sind aber indirekte Adressaten natürlich auch die Agenten selbst. Auf diesem indirekten Wege ist es möglich, daß die Betroffenen öffentlich EMPÖRUNG ausdrücken, ohne die Agenten zu BELEIDIGEN.34 Ähnlich wie das BESCHIMPFEN einer anwesenden Person ist auch das SCHMIMPFEN ÜBER eine abwesende Person eine "Reaktion auf eine Normabweichung des anderen, die mit der emotional motivierten Intention, (die nichtanwesende Person, die Verf.) herabzusetzen, getan wird und deren 34 Bei Fiehler (1990) wird zwischen "Ausdruck" und "Thematisieren" von Emotionen unterschieden, deshalb wird hier für die Mittel des Ausdrückens von Emotionen sein Terminus "Kodierung" (s.o.) verwendet 35 Vgl. zu den illokutiven Bedingungen des BESCHIMPFENS Schumann (1990, 272ffi); ebenso werden dort die "Kodierungsregeln" (nach Fiehler 1990) besprochen. 36 Das bei Bausinger (1986, 339) unterschiedene monologische (z.B. Autofahrern in expressiver Funktion) und dialogische Schimpfen muß also um ein dem Klatschen (vgl. Bergmann 1987) ähnliches dialogisches Schimpfen über Abwesende ergänzt werden.
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Äußern (...) auf den Sprecher (/Schreiber, die Verf.) als positives Erleben zurückwirken kann." (Schumann 1990,273) Bausinger (1986, 360) betont das (Sprach-)Spielerische, das Fiktionale des SCHIMPFENS, das Ineinander von "aufdeckender Benennung und übertreibender Verhüllung", das durch metaphorische Beschimpfungsausdrücke ermöglicht wird. In diesen Zusammenhang gehören deshalb die hypothetischen Erörterungen von Handlungsfolgen ebenso wie die 'böse' Redewendung bei jem. ist eine Schraube locker, die mehrfach verwendet wird (übernommen aus dem ursprünglichen Kommentar der Zeitung); auch die hypothetische, modalisierte und mehrfach intensivierte Äußerung Ungeheuer/5 gehört hierher: (31) Da müßten doch bei allen Verantwortlichen jeglicher Couleur und vor allem beim Umweltminister sämtliche Alarmglocken läuten. (Ungeheuer/5) Dem SCHIMPFEN dienen auch die SCHIMPF-Formel Was denken sich χ eigentlich? (Prozent/3), seinen Müll (Müll 7), wobei mit dem Possessivum eine besondere "Beziehung'37 zwischen den Agenten und 'Müll' ausgedrückt wird, sowie die mehrfach motivierte Wortbildung Selbstbedienungs-MüllBananenrepublik?*. Auch die in 6.2 genannten deiktischen Ausdrücke sind in diesem Zusammenhang zu sehen, ebenso wie die 'emotional' bewertenden Ausdrücke Ungeheuerlichkeit wie auch hanebüchen und pervers.
Wo Abtönungspartikeln verwendet werden, sind es diejenigen, die die eigene Einstellung bekräftigen (doch, doch wohl, denn, eigentlich) oder den
Konsens als fraglos gegeben39 darstellen (ja in (13)); wo abschwächende Ausdrücke vorkommen, dienen sie der vorherigen 'Dämpfung' eines starken Bewertungsausdrucks: einige Schrauben locker (Ungeheuer/2), fast Verletzung des Grundgesetzes (Ungeheuer/4).
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7. Ausblick Die verschiedenen Strategien, die oben vorgestellt wurden, dienen alle den Zwecken Emotionale Entlastung', 'Solidarisierung mit den Adressaten' (Leser), 'Verändern der Perspektive der Adressaten' (Agenten) und 'Unterhalten der Adressaten' (Leser). Das SICH-LUFT-MACHEN und EMPÖ37 Vgl. J. Ballweg in dem Artikel-Kapitel der im Entstehen begriffenen funktionalen Mannheimer Grammatik. 38 Käge (1980) über deren persuasiven Effekt 39 Vgl. oben Schwitalla zu rhetorischen Fragen.
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Albert Herbig, Barbara Sandig
RUNG ÄUSSERN / SCHIMPFEN geschieht in emotionalisierten Argumentationen. Die Emotionsmanifestation ist zugleich Ausdrücken aktuellen Erlebens wie auch Mittel, die Adressaten emotional zu beeinflussen. Nicht übersehen werden sollte dabei allerdings die pragmatische Situation der Leseibriefe. Entscheidend für die Auswahl bestimmter Briefe bzw. die redaktionellen Eingriffe in die Texte ist vermutlich v.a. die Frage, ob die Texte Vorzeigbar' sind und ob sie (auch) einen Unterhaltungswert haben.
Argumentieren, Bewerten und Emotionalisieren im Rahmen persuasiver Strategien
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ANHANG
Müll Kein Müllsparen mehr
0
Spare bzw. verbrauche ich wenig Strom oder Gas, zahle ich einen hohen Verbraucherpreis, spare ich Heizöl, zahle ich einen hohen Literpreis.
1
Nun habe ich im vergangenen Jahr Müll gespart und erhalte prompt bei 14tägiger Leerung 50 % höhere Gebühren.
2
Wer wird denn bei solch perversen Praktiken noch zum Sparen animiert? 3 In Zukunft werde ich keine Hausabfälle mehr kompostieren,
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ich werde auch keine unnötigen Verpackungen beim Einkaufen zurücklassen.
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Es kommt alles in den Mülleimer und wird notfalls reingestampft!
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Der KABV soll seinen Müll bekommen.
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Vielleicht wird er dann im nächsten Jahr wieder billiger.
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HORST SCHÖNBERGER, Saarlouis
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Albert Herbig, Barbara Sandig
Witz Ein Witz
0
Es ist nicht zu fassen:
1
Ich spare Müll wo es nur geht, sammle Papier, Glas und Weißblech und bringe es zu den entsprechenden Containern, kompostiere Küchen- und Gartenabfälle,
2
dadurch wird alle 14 Tage eine nur halbvolle Mülltonne abgefahren.
3
Wenn der "gelbe Sack"" kommt, weiß ich gar nicht mehr, was noch in die Mülltonne eingefüllt werden soll;
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eine Entleerung alle vier Wochen würde dann vollkommen ausreichen.
5
Die "Belohnung" des KABV für solch umweltbewußtes Verhalten: eine Gebührenerhöhung um 53,6 Prozent!"
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Und die hanebüchene Begründung hierfür: Es fällt immer weniger Müll an.
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Darf man hieraus den Umkehrschluß ziehen, daß die Gebühren sinken, wenn die Müllmengen steigen?
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Das kann doch wohl nur ein Witz sein!
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Oder sind bei KABV-Chef Peter Bähr tatsächlich Schrauben locker?
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HELMUT BARTH, Nonnweiler
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Argumentieren, Beweiten und Emotionalisieren im Rahmen persuasiver Strategien
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Ungeheuer Ungeheuerlich
0
Die SZ hat schon recht, wenn sie schreibt, daß Prof. Bähr einige Schrauben locker hat.
1
Es ist ja geradezu eine Ungeheuerlichkeit, wie der KABV Müllpolitik betreibt. Die üblen Praktiken des rigorosen Geldeintreibens und das Bestrafen von 3 müllbewußten Bürgern kommt fast einer Verletzung des Grundgesetzes auf die Würde des pflichtbewußten Bürgers gleich. Da mttßten doch bei allen Verantwortlichen jeglicher Couleur und vor allem beim Umweltminister sämtliche Alarmglocken läuten.
4
Wenn die Müllverbrennungsanlage Velsen hoffentlich nicht gebaut werden wird, da sie überflüssig ist in der geplanten Form, hat der KABV Geld übrig, das dann als Prämie für weitere Müllvermeidung gezahlt werden sollte.
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Wenn diese Müllpolitik so weitergeht, dann werden wir im Saarland bald 6 zu einer "Selbstbedienungs-Müll-Bananenrepublik" verkommen sein. HANS-DIETER DEBUS, Klarenthal
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Albeit Herbig, Barbara Sandig
Kasse Zur Kasse gebeten
0
Würde das derzeitige "Müllkonzept" des KABV auf seine UmweltVerträglichkeit hin geprüft werden, gäbe es bestimmt keinen "Blauen Umweltengel" dafür!
1
Nicht nur, daß allen Bürgerprotesten zum Trotz der Bau der MüllVerbrennungsanlage Velsen unabdingbar zu sein scheint.
2
Eine "kräftige Anhebung der Müllgebühren", wie es in der SZ vom 15.10. zu lesen war, wird hierfür notwendig.
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Wegen der "Unwirtschaftlichkeit" der zweiwöchigen Leerung wird diese mit einer mehr als dreimal höheren Gebührenerhöhung veranlagt als die althergebrachte wöchentliche Leerung.
4
Das heißt, daß deijenige, der sich in besonderem Maße um MüllVermeidung bemüht, verhältnismäßig stärker zur Kasse gebeten wird, um die MVA zu finanzieren, als deijenige, wegen dessen sorgloser Wegwerfmentalität der Bau einer MVA erst erforderlich erscheint.
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Umweltbewußtsein ist eben nicht wirtschaftlich.
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Die MVA ist aber ebenfalls nur dann wirtschaftlich, wenn sie ausgelastet ist und täglich mit genügend Müll gespeist wird.
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Heißt das, daß wir in Kürze womöglich zur Müllproduktion animiert werden, damit sich die MVA trägt und keine Arbeitsplätze verlorengehen?
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CHRISTINA FEID, Großrosseln
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Argumentieren, Bewerten und Emotionalisieren im Rahmen persuasiver Strategien
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Zuschlagen Kräftig zugeschlagen
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Was sich der Abfallentsorgungsveiband für 1993 vornimmt, ist für den umweltbewußten Saarländer wie ein Schlag ins Gesicht.
1
Eine Steigerung um bis zu 150 % beim Gewerbemüll.
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Kein Wunder, daß Firmen, die im Saarland ansiedeln oder investieren wollen, einen Rückzieher machen.
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Wurden nicht die privaten Haushalte vor Jahren gezwungen, Riesenmülltonnen (2401) aufzustellen.
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Weil dem umweltbewußten Veibraucher dies zuwider ging, stellten die meisten Haushalte auf 14tägige Leerung um:
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1. weil die Tonne nur selten voll war;
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2. wegen der steigenden Gebühren.
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Jetzt wird aber bei den Wenigerproduzierenden kräftig zugeschlagen.
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Die Hausmüllgebühren steigen um 15 % und bei der 14tägigen Leerung um sage und schreibe 53 %.
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Da stellt sich wirklich die Frage:
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Ist der KABV-Professor mit seinen Mannen wirklich von allen guten Geistern verlassen?
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Soll der mündige Bürger jetzt die verfehlte Politik des Verbandes, aber auch der Landesregierung ausbaden?
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Die SPD-Fraktion im saarländischen Landtag hat eine Stellungnahme abgelehnt mit der Begründung, dies ist Sache der Kommunen, sprich der Bürgermeister.
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Jetzt können die "Meister der Bürger" einmal beweisen, ob sie bürgernah denken, oder der brave Bürger weiterhin von diesem
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Albeit Herbig, Baibara Sandig
Verein, der immer neue Ideen und Ideechen hat, die viel Geld kosten, geschröpft wird. DIETMAR BERRAR, Überherrn
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Waschen Selber waschen
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Wie die SZ berichtet, wird die kleine Mülltonne um über 50 Prozent 1993 teurer.
1
Von uns verlangt man aber, wir sollten den Abfall, der in die Wertstoffsäcke kommt, auch noch reinigen.
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Ich meine, fur diese saftige Erhöhung kann der KABV den Abfall selber waschen, bevor er sortiert wird.
3
Oder sollten wir uns auch noch eine Hilfe hierfür einstellen, um verschiedenen Leuten noch schneller die Taschen zu füllen.
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JOSEF KRÄMER, Heusweiler
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Argumentieren, Bewerten und Emotionalisieren im Rahmen persuasiver Strategien
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Rückschluß Rückschlüsse
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Weil in der Vergangenheit falsche Müllgebühren erhoben wurden, sollen jetzt die "müllbewußten" Haushalte mit 14tägiger Leerung zur Kasse gebeten werden.
1
Welcher "müllbewußte" Verbraucher soll das noch verstehen?
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Heißt es doch immer: Das Beste ist Müllvermeidung!
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Jetzt sollen diejenigen getreten werden, die dem Motto nachzukommen versuchen.
4
Und dies zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt, nämlich bei Einführung des Dualen Systems.
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Wäre nicht getreu dem Motto: Wer viel Müll produziert, soll auch prozentual mehr zahlen, weniger Widerstand zu erwarten?
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Vielleicht wäre es auch einmal interessant, nachzuforschen, wie es bei den 52 Herrn Bürgermeistern privat um die Müllentsorgung bestellt ist.
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Vielleicht könnte man dann gewisse Rückschlüsse auf die anstehende Entscheidung ziehen?
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DETLEF FEISST, Dirmingen
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Albeit Heibig, Barbara Sandig
Prozent Gleiches Recht
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Im Kommentar der SZ vom 15. 10. wird lautstark die Erhöhung der Müllgebühren ab 1.1.1993 diskutiert.
1
Was denken sich Herr Bähr und die mitverantwortlichen Bürgermeister eigentlich?
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Erhöhung ja, aber gleicher Prozentsatz.
3
Bei ordentlicher Entsorgung des Haushaltsmülls (Wiederverwendung, duales System, grüner Punkt oder wie man es nennen will) ist die kleine Tonne bei einem kleinen Haushalt von eins bis zwei Personen alle 14 Tage nur bis zur Hälfte gefüllt.
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Warum soll dieser Personenkreis, der sich redlich bemüht, Müll zu vermeiden, jetzt so zur Kasse gebeten werden?
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Gleiches Recht fur alle, so schreibt es schon das Grundgesetz vor. Oder ist es besser, Glas, Papier, Dosen und Plastik in den Mülleimer zu geben, damit er voll wird und dadurch die Deponien noch mehr belastet werden?
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ALFONS SCHUSTER, Mettlach
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Argumentieren, Bewerten und Emotionalisieren im Rahmen persuasiver Strategien
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Seltsam "Ein neues Mülloberzentrum?"
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Eine seltsame Logik verbreitet die SPD-Stadtratsfraktion im Hinblick auf den Müll aus Pirmasens.
1
Wer gegen die Müllexporte der Pirmasenser ins Kapiteltal bei Mehlingen ist, der muß für die Müllverbrennungsanlage in Pirmasens sein.
2
Ist man in der SPD-Fraktion einer differenzierten Betrachtung nicht mehr zugänglich?
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Es ist völlig richtig, daß jede Gebietskörperschaft ihr Müllproblem selbst lösen muß, und zwar nicht auf Kosten der Nachbarn.
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Würden die Pirmasenser ihren Müll verbrennen, so würden zwar die Fahrten ins Kapiteltal eingestellt, Kaiserslautern und der Pfälzer Wald würden jedoch dann den Müll in Form von Luftschadstoffen abbekommen.
5
Kaiserslautern soll jedoch verschont werden von jeglicher Art Müll aus Pirmasens, sei er fest oder gasförmig.
6
Die Pirmasenser müssen endlich eine ordentliche Müllsammlung einfuhren, Biomüll kompostieren, Müllvermeidungsmaßnahmen ergreifen und ihren Restmüll auf einer anständigen Deponie ablagern.
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Hierzu ist keine Veibrennungsanlage notwendig, die genannten Maß8 nahmen wären bei genügend politischem Willen und eventuell auch mit Druck der Bezirksregierung in Neustadt in relativ kurzer Zeit durchführbar. Im übrigen gewinnt man so langsam den Eindruck, daß die Pirmasenser Kommunalpolitiker bewußt auf Zeit spielen und auf den Bau einer Verbrennungsanlage in Kaiserslautern spekulieren.
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Würden wir hier in Kaiserslautern tatsächlich eine Schwelbrennanlage in der geplanten Größenordnung bekommen. So müßten wir wohl in Zukunft nicht nur den Müll aus Pirmasens, sondern auch den aus dem Donnersbergkreis und Kreis Kusel aufnehmen.
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Albert Heibig, Barbara Sandig
Das Beispiel Pirmasens zeigt ja gerade, wie machtlos unsere Politiker gegen solche "Zwangseinweisungen" sind.
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Kaiserslautern als neues Müll-Oberzentrum - ist das unsere ZukunftsPerspektive?
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ROSWITHA MAYER, Zollamtstr. 62, Kaiserslautern, Arbeitskreis Abfall 13 des BUND Kaiserslautern
Argumentieren, Beweiten und Emotionalisieren im Rahmen persuasiver Strategien
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Textmuster
Auf der Suche nach der Evaluation in Zeitungskommentaren HANS RAMGE
Das Problem, das sich zunächst aus einer korpusgestützten Analyse von Zeitungskommentaren entwickelte und mich seitdem beschäftigt, läßt sich ziemlich einfach formulieren: Es ist offensichtlich und intuitiv einsichtig, daß Kommentare Meinungen zumindest erkennen lassen und in vielfältiger Hinsicht Bewertungen vollziehen. Wo und wie aber läßt sich das an und in der Kommentarstruktur festmachen, da doch jeder Versuch einer empirisch begründeten Verallgemeinerung die Bewertung wie ein glitschiges Stück Seife den Händen entgleiten läßt? Daß dies kein kommentarspezifisches Problem ist, macht ein jetzt schon wissenschaftshistorisch zu nennendes Exempel deutlich: In seinem berühmten, mit Joshua Waletzky verfaßten Aufsatz "Narrative analysis: oral versions of personal experience" von 1967 (dt.1973) entwickelt William Labov ein Modell für die Struktur von mündlichen Erzählungen: etwas, das wir heute ein Textmuster, Textschema oder einen Textframe nennen würden. Obligatorisches Schemaelement ist die Evaluation auf dem "Höhepunkt" der Geschichte, bevor die dargestellte Komplikation in ihrem Resultat formuliert wird:
HansRamge
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Evaluation
t Abb. 1: Die Evaluation in Erzählungen nach W. Labov / J. Waletzky (1967; dt. 1973)
In einem wenige Jahre später, nämlich 1972, erschienenen Kapitel über "The Transformation of Experience in Narrative Syntax" (in "Language in the Inner City: Studies in the Black English Vernacular"; dt. 1980) präsentiert Labov das gleiche Modell mit einer einzigen Abänderung: Die Evaluation thront auf der Spitze im Übergang von Komplikation zu Resultat und wirft wellenartig Strahlen auf diese Strukturelemente von Erzählungen aus. Jetzt wird die Evaluation "als Fokus von Evaluationswellen" aufgefaßt, "die die Erzählung durchdringen", und "die Bewertung der Erzählung" "eine sekun-
Auf der Suche nach Evaluation in Zeitungskommentaren
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däre Struktur, die sich in dem Evaluationsteil konzentriert, aber in verschiedenen Formen überall vorgefunden werden kann", genannt (dt. 1980, 302): Evaluation
! Abb. 2: Die Evaluation in Erzählungen nach W. Labov (1972; dt. 1980) Beispielhaft veranschaulicht sich hier das ungelöste Dilemma: Die Evaluation ist zugleich Strukturelement und ist es doch wieder nicht, sie ist zugleich ein Fokus und alles durchdringendes Fluidum: Die coincidentia oppositorum vermag nicht so recht zu befriedigen. Bei den wenigen (mir bekannten) Versuchen, ein Strukturschema von Kommentaren zu rekonstruieren, spielt die Bewertungskomponente natürlich eine zentrale Rolle. Ich habe diese Modelle hier so stark vereinfacht, daß die
104
Hans Ranige
Verfasser sie möglicherweise nicht recht wiederzuerkennen vermögen: Es kommt mir hier aber nur auf den Punkt an, wo und wie die Modelle Bewertungen verankern: KOMMENTARSCHEMATA (stark vereinfacht)
(nach LIEBERT 1979)
(
) (nachLÄZER 1988)
Abb. 3: Die Position der Bewertung (BEW) in Kommentarschemata
Auf der Suche nach Evaluation in Zeitungskommentaren
105
In der chronologischen Reihenfolge sind zuerst die drei "Strukturtypen" von Petra Liebert (1979) zu nennen, die darauf hinauslaufen, daß in Kommentaren einem irgendwie referierenden Teil in der Regel ein - allgemein formuliert - argumentierender Teil folgt, an den sich ein generalisierender oder bewertender Teil anschließt, wobei die Generalisierung bewertende Aspekte mitenthält. Die verschiedenen "Handlungswege" in Kommentaren, die Hartmut Lenk (1986) entwickelt hat (und die ich hier auf ihre formalen Elemente reduziert habe), gehen allesamt davon aus, daß eine (oder zwei) zentrale Bewertungsillokutionen den gesamten Kommentartext dominieren, von den darstellenden Elementen des Kommentarbeginns über Interpretationen, Lösungsvorschläge bis hin zur Aufdröselung in Einzelbewertungen von kommentierten Sachverhalten. Auch hier geht der Weg im Prinzip von der Referenz auf das Kommentierte zur Bewertung, nur daß die Bewertung als Superhandlung alles andere funktional dominiert. Während Lenk auf der Grundlage seines empirischen Materials eine Reihe von Strukturtypen (mit Untertypen) rekonstruiert, mündet die gleichzeitig entstandene Arbeit von Rüdiger Läzer in einem allgemeinen Kommentarschema, das formal ziemlich genau den Superstruktur-Moäellen von van Dijk entspricht und das - mit einer Reihe von obligatorischen und fakultativen Elementen eine Bewertungsbehauptung an den Anfang stellt, die im folgenden argumentativ behandelt wird, um sehr häufig, aber nicht notwendig in einem Bewertungsschluß-Eiement zu münden, der "eigentlichen" Evaluation. Meine Überlegungen stehen diesem Modell am nächsten. Übereinstimmimg herrscht also darüber, daß es so etwas wie ein Kommentarschema (als Textmuster) gibt; daß es eine geordnete Folge von Elementen
enthält, die in der Tendenz von mehr darstellend-behauptenden Handlungseinheiten zu bewertenden fortschreiten, wobei aber die Bewertungsillokution den Text insgesamt dominiert: Eine ziemlich genaue Reproduktion des Labovschen Dilemmas.
Die skizzierten Modelle decken die Kommentarwirklichkeit in der Tat zu einem guten Teil korrekt und angemessen ab. Aber sie erklären sie nicht besonders gut, und am unbefriedigendsten die Evaluation mit ihrer vielfach beobachteten Doppelfunktion als Strukturelement einerseits und durchgängiges Prinzip andererseits. Für die folgenden Überlegungen habe ich in einem wichtigen Punkt eine andere empirische Ausgangsbasis gewählt als die erwähnten Autoren: Wenn man sich für die Organisationsprinzipien eines Textmusters interessiert, das reale Kommentare erzeugt, liegt die Frage nach den aktivierten Wissensbeständen nahe, über die Produzenten und Rezipienten verfugen müssen,
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Hans Ramge
damit Kommentieren als Texthandlung funktioniert. Auch Rezipienten müssen über entsprechende Schemastrukturen verfügen, und die zu untersuchen scheint mir eine gute Grundlage zu sein, etwas über die kognitive Basis der Schemastrukturen herauszufinden. Deshalb habe ich bei verschiedenen Gelegenheiten Studentinnen und Studenten gebeten, "Kommentare" zu jeweils aktuellen Ereignissen (Wahlen) zu schreiben. Indem ich auch eine Reihe journalistischer Profi-Kommentare aus Tageszeitungen zum gleichen Ereignis gesammelt habe, entstanden Teilkorpora, die auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin untersucht werden können. Um die Frage des systematischen Zusammenhangs zwischen Schemastrukturen und sprachlichen Kategorien des Bewertens zu diskutieren, habe ich aus einem Teilkorpus mit ca. 70 Kommentaren, die sich mit dem Ausgang der rheinland-pfälzischen Landtagswahl vom 21. April 1991 beschäftigen, zwei ausgewählt. Sie sind verhältnismäßig kurz, sich in mancher Hinsicht ähnlich. Aber einer stammt von einem Berufsjournalisten und aus einer überregionalen Zeitung, der andere von einem studentischen Amateur (oder einer Amateuse) - und es darf geraten werden, welcher der beiden folgenden Kommentare von wem stammt:
TEXT 1 AUS DER MODE (1) Die Farbe Schwarz kommt aus der Mode im Westen. (2) Der Sieg der Sozialdemokraten in Rheinland-Pfalz, in einem Terrain mit traditionell ländlicher, konservativer und katholischer Wählerschaft, bedeutet nicht allein einen Machtwechsel nach 44 Jahren. (3) Das ist mehr als Ländersache; dieser Sonntag - eindeutiger noch als die Rückkehr der rot-grünen Regierung in Hessen - markiert einen Einschnitt für die CDU im Bunde. (4) Und für ihren Chef und Kanzler Helmut Kohl. (5) Natürlich ist nicht, wie die Verlierer von Mainz nahelegen möchten, der Kanzler an allem Schuld. (6) Die Doppelkandidatur der Parteifeinde Wagner und Wilhelm, die glanzlose Landespolitik nach dem Königsmord am ehemaligen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel mochten auf CDU-Anhänger ebensowenig motivierend wirken wie die Bonner Steuer- und Telefonpolitik. (7) Doch der Verlust der Heimatbastion trifft den Pfälzer Kohl hart: eben noch als gesamtdeutscher Kanzler auf dem Höhepunkt des Triumphes, heute ausgepfiffen im Osten, abserviert im Westen. (8) Ein jäher Absturz. (9) Nach dem Bürger hat nun in Rheinland-Pfalz die SPD die Wahl. (10) Ein Sieger, hatte der kommende Regierungschef Rudolf Scharping selbstbewußt prophe-
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zeit, finde immer einen Partner. (11) Die Grünen, die nach dem Schock der Bundestagswahl alle Reserven ausschöpfen konnten, stehen bereit, und die FDP war stets fähig, im Bedarfsfall ihr Geschwätz von gestern, die Koalitionsaussage zugunsten der CDU, zu vergessen. (12) Die SPD darf sich bedienen auf dem freien Markt.
TEXT 2 FARBENWECHSEL (1) Wie ein "rotes" Tuch muß die Wahlniederlage auf die CDU-Parteimitglieder gewirkt haben, die sie am Sonntag in Rheinland-Pfalz einstecken mußten. (2) Die Hoch-, Trutz- und feste Wähleiburg der CDU gab unter dem heftigen Feuer der Sozialdemokraten nach. (3) Wehklagen und Jammern hilft da nichts mehr: (4) Der Wähler hat klar und deutlich sein Mißfallen gegenüber konzeptlosem Wahlkampf und Steuerlüge der regierenden Partei zum Ausdruck gebracht. (5) Auch das "schwärzeste" Bundesland unserer Republik entzog damit den Christdemokraten sein Vertrauen - nach 44 Jahren ununterbrochener Regierungsmacht ein derber Schlag für die CDU. (6) Sie muß nun erstmals im rheinland-pfälzischen Landtag auf den Stühlen der Opposition Platz nehmen. (7) Ganz besonders tragisch natürlich für den Kanzler, den prominenten "Sohn" des Landes, der nun - da die SPDgeführten Länder im Bundesrat in der Mehrheit sind - wohl bedeutend mehr diplomatisches Geschick und taktisch kluges Handeln an den Tag legen muß, will er wichtige Gesetze durchbringen. (8) Fähigkeiten, an denen es ihm im Laufe der vergangenen Monate doch mitunter oft mangelte. (9) Rosig sieht also die Lage für die CDU in Rheinland-Pfalz nicht gerade aus - eher rot - , und personelle Konsequenzen werden bereits gezogen. (10) Andererseits hat sie als Opposition eine Chance, die die Partei nicht leichtfertig vergeben sollte: mit aller parteilicher Kraft Imagepflege zu betreiben. (11) Denn das hat seit der Bundestagswahl stark gelitten ...
Als Ausgangsüberlegung scheint mir folgendes von Belang zu sein: Wenn jemand einen Kommentar schreibt (oder auch liest), gleichgültig ob als professioneller Kommentator oder als Gelegenheitsamateur, macht er oder sie nolens volens von zwei verschiedenen Wissensbeständen Gebrauch: - dem Wissen um die Sprechtätigkeit des Kommentierens, die auch in anderen Lebenszusammenhängen, auch im alltäglichen Gespräch auftaucht, was man konventionell-alltagsweltlich eben als "kommentieren" bezeichnet; und
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- dem Wissen, daß man einen Text erzeugt, der in (irgendeinem Kon-Text steht, der medial situiert ist, und daß man beim Erzeugen eines Textes Maximen der Textorganisation beachten muß. Zum faktischen, wenngleich nicht unbedingt reflektierten Wissen gehört, daß mit der Texterzeugung zwangsläufig sprachliche Bewertungshandlungen verbunden sind. (Diese lassen sich - worauf ich hier nicht einzugehen brauche - über die fünf Perspektiven des Saaibriicker Bewertungsinventars differenzieren; vgl. Stürmer/ Oberhauser/ Herbig/ Sandig 1992). Was den Sprechakt - oder für unseren Zusammenhang besser: die Sprachhandlung des Kommentierens angeht, so sind deren Elemente seit Roland Posners "Theorie des Kommentierens" (1972, ^1980) hinreichend erforscht: Die Tätigkeit des Kommentierens setzt zunächst ein Kommentcmdum voraus, d.h. einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit, über den etwas ausgesagt werden soll. Der eigentliche Akt des Kommentierens besteht in der Veibindung zweier propositionaler Elemente: Dem Kommentat, d.h. der verbalen Repräsentation dessen, was aus dem Kommentandum ausgewählt wird und der Stellungnahme als dem eigentlichen propositionalen Gehalt der Sprachhandlung. Ist der Zusammenhang zwischen Kommentandum und Stellungnahme offensichtlich (z.B. situativ bedingt), muß das Kommentat nicht explizit veibalisiert werden. Daraus folgt: Die (vollständige) Sprachhandlung des Kommentierens umfaßt (mindestens) zwei Propositionen, und zwar: eine, die sich auf das Ereignis (als Kommentandum) bezieht, und eine, die dazu Stellung nimmt. Auch die Reihenfolge der Propositionen istfestgelegt. Wie sieht nun die Proposition der Stellungnahme aus? Reduzieren wir auf zwei Extremtypen: (B 1)
* Daß die CDU die Wahl verloren hat, - ist schön / tut mir leid /... - hängt mit dem Ereignis χ zusammen / führt zu y / ...
Im ersten Fall schrumpft der propositionale Gehalt auf eine Bewertung, ein Werturteil; im zweiten Fall wird die Proposition mit einem anderen Sachverhaltselement verknüpft, das mit dem Ereignis zusammenhängt. Aus den politisch-gesellschaftlichen Netzwerken der erlebten Wirklichkeit werden kognitive Netzwerke konstruiert und in Gründen (vorgängige Sachverhalte) und Folgen (nachgehende Sachverhalte) formuliert. Eine Bewertung liegt in diesem Fall zunächst nicht vor; eher eine Deutung qua Sinnzusammenhang. Es ist aber offensichtlich, daß beide Stellungnahmentypen leicht miteinander
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verbunden werden können, indem z.B. eine Kausalrelation zwischen beiden hergestellt wird: (B 2)
* Dafl die CDU die Wahl verloren hat, - ist schön / tut mir leid - denn: - die Regierung hat eine glanzlose Landespolitik gemacht - damit ist die CDU-Mehrheit im Bundesrat weg.
Die Stellungnahme enthält also nicht per se eine Bewertung im Sinne einer (subjektiven) Meinungsäußerung zum Kommentat. Wohl aber enthalten die in der Stellungnahme herangezogenen Propositionen einen bewertenden Anteil, sei es verbal explizit ("glanzlose Landespolitik"), sei es implizit und über nahegelegte praktische Schlüsse: Die Nennung des Sachverhalts, daß die bisherige Bundesratsmehrheit gekippt ist, schließt ein, daß der Sachverhalt bewertungsfähig ist (wobei natürlich nicht von vornherein ausgemacht ist, ob das als begrüßens- oder beklagenswerte Folge bewertet wird.) Für die Internstruktur des (Zeitungs-JKommentars nämlich, damit für das Kommentarschema, ist m.E. die Zweiteilung der Kommentierhandlung grundlegend: Jeder Kommentar muß so etwas wie ein Kommentat und eine Stellungnahme enthalten. Unter den Bedingungen der Texterzeugung im Medium Zeitung heißt das im besonderen: - Jeder Kommentar enthält ein Element, in dem festgelegt wird, aufweichen in "Nachrichten" gebundenen Wirklichkeitskomplex er sich bezieht und welchen Ausschnitt davon er (ggf. in welcher Weise) zu thematisieren gedenkt. In Text 1 wird die orientierende Referenz auf die Ereignisse des Kommentandums hergestellt durch die Formulierung "der Sieg der Sozialdemokraten in Rheinland-Pfalz'", in Text 2 durch "die Wahlniederlage auf die CDU (...), die sie am Sonntag in Rheinland-Pfalz einstecken
mußten". Weiter wird aus dem Kommentandum ins Kommentat gehoben: daß dies "mehr als Ländersache" sei, daß es "einen Einschnitt für die CDU im Bunde markiere". "Und für ihren Chef und Kanzler Helmut Kohl". Das bündelt oder fokussiert das Thema, das nun projizierbar-erv/aitbai im fol-
genden Teil behandelt wird. - In der "eigentlichen" Stellungnahme werden die Verknüpfungen des (thematisierten) Ereignisses mit anderen Elementen des Netzwerks vorgenommen, es wird also über Zusammenhänge und Einordnungen nachgedacht. Dies geschieht sehr häufig in der Form von Argumentationen, läßt sich aber nicht darauf reduzieren: Häufig wird in der Stellungnahme beschrieben, erläutert, erörtert, kurz: Es wird über das in der Thematisierung Angeschlagene reflektiert, räsonniert. Nur ein reines (subjektives) Werturteil ist als Äußerung ausgeschlossen. Die "Stellungnahme" des
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Sprechakts erscheint deshalb als "Reflektieren" des Kommentars, das durch eine Bewertungs- und eine Deutungsperspektive gleichermaßen gekennzeichnet ist. Zusammenfassend: Das Kommentarschema enthält (nur) zwei obligatorische Strukturelemente als Handlungsformen: Thematisieren und Reflektieren. Sie sind aus der Handlungsstruktur des Kommentierens abgeleitet und durch jeweils mindestens eine Basisproposition charakterisiert, d.h. ein Kommentar muß mindestens zwei Sätze enthalten (von hier nicht zu diskutierenden Sonderbedingungen abgesehen). Dabei muß sich die erste Proposition auf das zu Kommentierende beziehen (sagen wir: auf ein Ereignis)·, die zweite muß in irgendeiner Weise in Relation zum Ereignis stehen, die konventionell als sinnhafte Verknüpfung verstanden wird. Thematisierung und Reflexion als Strukturelemente binden natürlich in hochkomplexer Weise vielfältige einfacher strukturierte Kommunikationsformen zusammen, sind in ihrer spezifischen Ausprägung aber gerade die Determinanten des Kommentars als situierter Text. Wo bleibt denn nun - fragen Sie mit Recht verdrossen - die Evaluation? Die Schema-Diskussion sollte dem Nachweis dienen, daß die Evaluation gerade kein Schema-Element ist, wie sonst allgemein angenommen wird. Daß es in Kommentartexten von Bewertungen trotzdem nur so wimmelt, ist so offensichtlich, daß es dafür keiner Begründung bedarf: wohl aber einer Erklärung, warum das so ist. Das Hauptproblem der bisherigen Lösungsvorschläge besteht m.E. darin, daß sie die Evaluation (oder die wie auch sonst genannte Bewertungskomponente) als eine einheitliche Komponente ableiten wollten. Mir hingegen scheint es jetzt richtiger und angemessener zu sein, die Bewertungen in Kommentaren an zwei verschiedenen Punkten des Gesamtkomplexes anzusetzen. Das folgende Schaubild bildet die genauer zu erläuternden Zusammenhänge ab.
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Abb. 4: Bewertungen im Kommentarschema
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Auf den ersten Punkt sind wir im Grunde bei der Betrachtung des Sprechakts Kommentieren schon eingegangen: Der Teilakt der Stellungnahme enthält immer und notwendig mindestens ein Moment des Bewertens. Reine Information ist schon deshalb ausgeschlossen, weil die Nennung des Sachverhalts o.ä. in Verknüpfung mit dem Kommentat eine Bewertung einschließt. Das aus der Stellungnahme abgeleitete Kommentarelement Reflektieren enthält dadurch ebenfalls eine Bewertungskomponente, die sprachlich offenkundig oder über Schlüsse praktisch zu rekonstruieren ist. Beim Reflektieren wird die Bedeutung und Reichweite des kommentierten Sachverhalts bedacht und insofern bewertet, wobei die Einstellung des Autors explizit oder implizit ausgedrückt sein, aber auch intentional verborgen werden kann. Sie kann - vorwegnehmend - schon beim Thematisieren genannt werden. Die auf der Sprachhandlung des Kommentierens gründenden Bewertungen schlage ich vor, primäre oder kommentierende Bewertungen zu nennen. Sie entsprechen wohl im wesentlichen der Bewertungsillokution. Die schärfste kommentierende Bewertung in Text 1 ist die Formulierung "ein jäher Absturz" (Satz 8); aber auch die thematisierenden Formulierungen wie "mehr als Ländersache", "einen Einschnitt markieren fltr χ und y" gehören dazu oder die Gründe reflektierenden Reden von "der glanzlosen Landespolitik nach dem Königsmord", der "hart treffende Verlust" bis hin zum abschließenden "Die SPD darf sich bedienen auf dem freien Markt." (Satz 12) Man sieht: Die kommentierenden Bewertungen sind den Schemaelementen Thematisieren und Reflektieren inhärent und treten da sozusagen in Erscheinimg, wenn es der Autor will und in der sprachlichen Form, die der Autor für angemessen hält. Der Autor vollzieht aber nicht nur schreibend die Sprachhandlung des Kommentierens, er schreibt auch einen Text und folgt damit Prinzipien und Maximen der Textorganisation, die unabhängig von den spezifischen Mustern des Kommentarschreibens bestehen, die immer beachtet werden, wenn ein "guter", autorzentrierter, "freier" Text geschrieben wird: ein Artikel, ein Essay, eine Glosse, ein Diskussionsbeitrag, etwas Feuilletonistisches, kurz: ein gekonnter, anspruchsvollerer) Text. Dann interagieren von den verschiedenen Faktoren, die die Textorganisation beeinflussen, mindestens drei miteinander: - Der Autor hat eine Intention: Er will eine Meinung äußern; - er bedient sich eines möglichst guten Stils: Er bemüht sich - wie auch immer - um Eloquenz; - er bemüht sich um eine möglichst gute Präsentation, indem er seinen Beitrag möglichst gut aufbaut, Aspekte wie Steigerung, Höhepunkt, Pointe u.a. beachtet.
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Die zweite Quelle für sprachliche Bewertungen in Kommentaren resultiert aus eben diesen Bemühungen um einen möglichst perfekten Text, um die optimale Sprachgestaltung: Hierher rühren die Bilder, Vergleiche, Metaphern, die alle Bewertungsmomente enthalten, aber mit der Stellungnahme nur insoweit zu tun haben, als die Meinung des Autors natürlich ebenso die kommentierenden Bewertungen betrifft wie die Weise der Textorganisation. Ansonsten sind aber diese Bewertungen, die aus den Bemühungen um die Textstruktur kommen und die ich deshalb - vielleicht etwas unglücklich textstrukturelle Bewertungen nennen möchte, in bezug auf das Kommentieren sozusagen frei. Es sind in diesem Sinne sekundäre Wertungen. Auch hier mag ein Beispiel verdeutlichen: Der erste Satz unseres Textes 1 ("Die Farbe Schwarz kommt aus der Mode im Westen") ist in mehrfacher
Hinsicht schlechthin unverständlich. Nimmt man die buchstäbliche Bedeutung, macht der Satz keinen Sinn. Schließt man praktisch daraus, daß es Textkohärenz und Erwartbarkeiten unterstellt - einen nicht-wörtlichen Sinn gibt, muß die Situierung als (politischer) Kommentar schon erkannt sein, damit die "richtigen" Wissenspotenzen aktiviert werden. Dann weiß man oder kann jedenfalls wissen, daß die Farbe Schwarz eine metaphorische Bezeichnung für die CDU/CSU darstellt, daß aus der Mode kommen ein Phraseolexem mit der Bedeutung 'unmodern werden, ausgemustert werden' ist und daß im Westen sich auf die geographische Westlage des Bundeslandes Rheinland-Pfalz bezieht, so daß der Satz insgesamt so etwas ausdrückt wie: * Die CDU verliert in Rheinland-Pfalz an (die) Macht. Warum drückt der Autor das nicht so simpel aus? Natürlich, weil die bildreiche Komposition eine stilistische Mehrheit aufweist, weil sie Aufmerksamkeit erheischt, weil sie vom rhetorischen Glanz des Autors zeugt, ja sogar mittels einer literarischen Anspielung (Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues" - jetzt aber doch!) bildungsbürgerliche Horizonte umreißt. Ich will hier nicht werten nach Kriterien wie Originalität oder Klischee/ Stereotyp, sondern nur verdeutlichen, daß die aus der Stilistik resultierende Bewertung in diesen Fällen primär mit sprachlichen Maximen der Textorganisation zusammenhängt und nicht mit den kommentarspezifischen Bewertungen (vgl. Sandig 1989). Weitere Beispiele in unseren Kommentaren wären etwa "Terrain" (Satz 2), "Parteifeinde" (Satz 6), "Heimatbastion", "Geschwätz von gestern" (Satz 11). Oder in Text 2: "unter heftigem Feuer nachgeben" (Satz 2), "auf den Stühlen der Opposition Platz nehmen" (Satz 6) u.ä.
Nicht immer sind die Abgrenzungen und Zuordnungen eindeutig; vor allem, weil die Meinung des Autors Bestandteil der Textorganisation ist, zugleich aber die kommentierenden Bewertungen beeinflußt.
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Wenn das Konstrukt des Kommentarschemas mit der Differenzierung der Bewertungskomponente so akzeptabel sein sollte, stellt sich die Frage nach der empirischen Reichweite. Hierfür kehre ich noch einmal zu einer früheren Bemerkung zurück: Wenn solche Schemata und Strukturen bei kompetent Handelnden einer Gesellschaft kognitiv repräsentiert sind, ist die prinzipielle Anwendung dieser Strukturen auch bei Schreibern erwartbar, die sonst "nur" Leser von Kommentaren sind: Die Basisstrukturen, so die hypothetische Erwartung, müßten bei diesen Schreibern und Bearbeitern sogar besser und klarer rekonstruierbar sein als bei Profi-Schreibern, wo die Professionalität vielleicht manches verschleiert. Ich habe in dieser Hinsicht mehrere Teilbereiche genauer untersucht (Ramge i.V.), kann aber abschließend kurz nur einen etwas genauer vorstellen: Bei der Untersuchung der Teilkorpora auf sprachliche Bewertungen zeigte sich, daß auch die studentischen Kommentare eine Fülle spezifischer Bewertungsformen aufweisen, im Schnitt zwischen 10 und 20 pro Kommentar, vor allem metaphorischer und phraseologischer Art, darunter viele kommentarübliche Klischees und Stereotype (einschließlich solcher Formeln wie bleibt zu hoffen/ abzuwarten). In einer weiteren Runde wurden Studierende gebeten, durch Bewertungsbeurteilungen ihre Bewertungskompetenz in Hinblick auf die Sprache kommentierender Texte zu aktivieren, und zwar in bezug auf die beiden vorliegenden Texte. Nun muß nicht immer als bewertend gemeint sein, was als bewertend empfunden wird, aber Konvergenzen sind naheliegend und erwartbar. Die Zahl der Nennungen durch die beurteilenden Studentinnen und Studenten kann deshalb als Indikator für die Auffälligkeit einer sprachlichen Bewertung gelten. Auf die Weise gewinnen wir ein Bewertungsprofil für Kommentare, d.h. einen Einblick in die Bewertungsstrukturen aus der Sicht von Rezipienten. Um die besonders auffallenden und deshalb (vermutlich) besonders intensiven Bewertungen herauszufinden, habe ich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gebeten, nach einem ersten Durchlesen des Textes die 3 bis 5 Stellen zu markieren, die ihnen spontan als bewertend auffallen, und dann in einem zweiten Durchgang möglichst viele weitere Stellen, jeweils mit Begründung. Ich greife für unseren Zusammenhang nur die Darstellung der Häufigkeitsverteilungen heraus und befrage sie mit Blick auf die skizzierte theoretische Position. In dea 61 zurückgekommenen Testbögen wurden in beiden Texten etwas über 4 Hauptbewertungen vorgenommen, an Zweitbewertungen im Text 1 durchschnittlich 16,83, in Text 2 durchschnittlich 13,80 angegeben. Berücksichtigt man, daß Text 2 etwas kürzer ist als Text 1 und daß eine Reihe Bearbeiter/innen mit dem Text offensichtlich nicht fertig geworden sind, kann
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man als Ergebnis feststellen, daß die Texte als in etwa gleich bewertungsintensiv eingeschätzt werden. In den beiden folgenden Graphiken sind Haupt- und Zweitbewertung für alle betroffenen Ausdrücke nach der Zahl der Nennungen zu Säulen aufsummiert. Dabei bedeuten Schwarz und Schwarzschraffiert Hauptbewertungen, Hell und Hellschraffiert Zweitbewertungen, wobei die hellschraffierten sich auf die kursiv gedruckten Teilausdrücke als Bewertungseinheiten beziehen. Die folgende Graphik stellt die Ergebnisse fiir Text 1 vor:
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Abb. 5: Bewertungshäufigkeiten im Kommentar Λ us der Mode
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Betrachten wir die Highlights in Haupt- und Zweitbewertung, so sehen wir, daß sie sich in Text 1 auf wenige Fälle konzentrieren: "aus der Mode kommen", "glanzlose Landespolitik", "nach dem Königsmord", "jäher Absturz", "Geschwätz von gestern". Dies sind, mit relativer Ausnahme des schon besprochenen Phraseolexems aus der Mode kommen allesamt Ausdrücke mit außerordentlich negativer Bewertung, gleichmäßig über den Kommentar verteilt, ihn dadurch bereits strukturierend. Interessanter ist eine zweite Gruppe von Wertungen, die "hinter" der Spitzengruppe liegt und folgende Exemplare umfaßt: traditionelle ... Wählerschaft, nicht allein einen Machtwechsel bedeuten, mehr als Ländersache sein, natürlich nicht an allem Schuld sein, ebenso wenig motivierend wirken wie, abserviert, Verlust der Heimatbastion, selbstbewußt prophezeien; denn sie umfaßt neben wenigen stark wertenden metaphorischen Ausdrücken wie Verlust der Heimatbastion vor allem Ausdrücke mit "bewertungskonzeptbezogenen Sprachhandlungen" (im Sinne von Stürmer/ Oberhauser/ Herbig/ Sandig 1992) wie mehr als Ländersache. Das Interessante daran ist m.E. vor allem die Tatsache, daß diese Ausdrücke in der ersten Runde kaum gewählt wurden, also nicht besonders auffällig sind, bei einer zweiten, intensiveren Durchsicht dann aber stark ins Blickfeld rücken. Das gilt auch für Ausdrücke wie im Westen, nach dem Schock (der Bundestagswahl), besonders auffällig bei eben noch gesamtdeutscher Kanzler, weil da der zeitliche Vergleich als Bewertungsmaßstab thematisiert wird, und bei der Schlußformulierung sich auf dem freien Markt bedienen dürfen, deren stark wertender Sarkasmus offenbar auch erst in der zweiten "Runde" wahrgenommen wird. Insgesamt kann man bei Text 1 eine Tendenz feststellen, daß die kommentierenden Bewertungen besonders bei den Zweitbewertungen wahrgenommen wurden, während die textstrukturellen Bewertungen in dieser Hinsicht sich unauffällig verteilen. Etwas anders stellt sich das Bild in Text 2 dar:
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Abb. 6: Bewertungshäufigkeiten im Kommentar Farbenwechsel
Hier wird die Spitzengruppe von Ausdrücken wie "rotes" Tuch, Hoch-...bürg, heftigem Feuer nachgeben, konzeptloser Wahlkampf, Steuerlüge, ganz besonders tragisch natürlich, Fähigkeiten, an denen ... es mangelte gebildet, womit phraseologische Ausdrücke, Metaphern, der Sprechakt des Kritisierens
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und bewertungskonzeptbezogene Sprachhandlungen (ganz besonders) ebenso die Spitzengruppe ausmachen wie kommentierende und textstrukturelle Bewertungen: Eine Tendenz vermag ich nicht zu erkennen. Ähnliches gilt fiir die zweite Häufigkeitsgruppe: Wehklagen und Jammern, "schwärzestes" Bundesland, derber Schlag, prominenter Sohn des Landes, mehr ... Geschick .. und kluges Handeln, rosig sieht .. die Lage ... nicht gerade aus. Es sind auch keine auffälligen Sprünge von der Haupt- zur Zweitbewertung feststellbar: Insgesamt also - kann man sagen - sind die Wertungen in Text 2 weniger von erkennbaren Tendenzen und Bewertungsstrukturen geprägt als Text 1. Er "ruht" mehr in sich, was auch daran erkennbar ist, daß die rhythmischen Sprünge, die die Verteilung von Text 1 kennzeichnen, bei Text 2 fehlen; ja die Bewertungen verfließen gegen Ende des Kommentars immer mehr, werden immer weniger wahrgenommen. Kurz: Die Rezeption der Bewertungselemente in Text 2 ist zweifellos diffuser als in Text 1. So zeigt sich wohl in der strikteren Anwendung der inhärent möglichen Bewertungsstrategien die professionelle Überlegenheit des journalistischen Kommentators. Ihm - als Auflösung des Rateangebots - verdanken wir Text 1 (aus der FRANKFURTER RUNDSCHAU). Das führt übrigens nicht notwendig dazu, daß auch der Kommentar für "besser" gehalten wird: Beim wertenden Vergleich der beiden Kommentare hielten sie sich im Urteil der Studierenden die Waage: Etwa der Hälfte gefiel der studentische Amateurkommentar besser als der Profi-Kommentar, oft mit Argumenten der sprachlichen Qualität begründet.
Ich fasse abschließend zusammen: Soweit man Kommentare als wissensbasierte Handlungsmöglichkeiten betrachtet, scheint es mir sinnvoll, das Textmusterwissen über die Sprachhandlung des Kommentierens einerseits und allgemeine Prinzipien variabler Textorganisation andererseits zu rekonstruieren. Der Kommentar erweist sich dann als ein Schema, dessen funktionale Elemente Thematisieren und Reflektieren aus der Sprachhandlung Kommentieren abgeleitet werden können, dessen Bewertungskomponente aus inhärenten Prinzipien der Stellungnahme einerseits und externen Prinzipien der Textorganisation andererseits abgeleitet ist. Beobachtungen im Vergleich zwischen professionellen und amateurhaften Kommentarschreibern legen die Vermutung nahe, daß die prototypischen Strukturen kognitiv-mental so verankert sind, daß auch Amateure in der Regel funktionsgerechte Kommentare zu schreiben vermögen, daß Professionalität dann im wesentlichen expandierend-vertiefende und Bewertungsstrukturen systematischer nutzende Tendenzen aufweist. Die Erstellung
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eines Bewertungsprofils vermag in dieser Hinsicht zu erhellen. "Auf der Suche nach der Evaluation in Kommentaren": Es würde Prinzipien der Textpräsentation zutiefst widersprechen, ließe man Dinge, deren Existenz man in Frage gestellt hat, am Ende nicht wieder auf die Bühne: Aufgegeben ist die Evaluation hier als Schemaelement, um in Doppelung als textkonstituierendes Prinzip wieder eingeführt zu werden.
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Persuasionsstrategien im Wandel Wertewandel und Textstrukturen in Kommentaren der DDR-Presse zur Zeit der 'Wende' RÜDIGER LÄZER "Sprache zeichnet also nicht "Realität1 (als Existenz der Realien) ab, sondern symbolisiert als QuasiInstitutionalisierung 'Sinn': gesellschaftliche Werte sozioökonomischer und politischer Systeme".1
1. 'Sozialistischer Journalismus' - gestörte Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft Der Gründungsaufiruf des Neuen Forums2 "Aufbruch 89 Neues Forum" beginnt mit der Feststellung: "In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört. Belege dafür sind die weitverbreitete Verdrossenheit bis hin zum Rückzug in die private Nische oder zur massenhaften Auswanderung." Dieser Befund verweist auf den m.E. schwerwiegendsten Fehler des politischen Systems in der DDR, der letztlich (neben ökonomischen Faktoren) zur 'Wende' und in deren Konsequenz zum Scheitern des sogenannten realen Sozialismus führte: die fehlende Bereitschaft und wohl auch Unfähigkeit der politischen Führung bzw. die strukturell bedingte Unfähigkeit des stalinistischen Sozialismus-Modells zur diskursiven öffentlichen Austragung von Konflikten. Beschrieben wurde das aus der Perspektive des Bürgers mit "Sprachlosigkeit" und "Ignoranz" seitens der Herrschenden, deren Medien aber doch gerade Instrumente dieser 1 Schumann (1974), S.20Jf. 2 Das Neue Forum konstituierte sich aus Sorge um die politische Entwicklung in der DDR Ende August 1989 auf dem Höhepunkt der Massenflucht von DDR-BOrgem Ober die Prager und Warschauer Botschaften der Bundesrepublik als Sammlungsbewegung aller oppositionellen Kräfte. Der Grflndungsaufnif erschien am 10.9., dem Tag, an dem die Ungarische Regierung den ausreisewilligen DDR-Bürgern die Ausreise in ein Land ihrer Wahl genehmigte.
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Vermittlung zwischen Staat (Partei) und Gesellschaft sein sollten. Daß diese neben anderen - ihrer Funktion nicht gerecht wurden, führte bei den Lesern/ Zuhörern/Zuschauern zur Resignation, zur Verweigerung von Kommunikation überhaupt (Rückzug in die private Sphäre) und in letzter Konsequenz zur Abkehr von diesem Staat. Die permanente Diskrepanz zwischen der in den Medien veröffentlichten Meinimg und den tatsächlichen privaten 'öffentlichen' Meinungen vieler, die sich nur im Alltagsdiskurs oder in Teilen des literarischen Prozesses artikulierten, bestimmte das Bewußtsein im Umgang mit den Medien, deren Akzeptanz zu diesem Zeitpunkt (Sommer 1989) ihren Tiefstpunkt erreicht haben dürfte. Es ist die Zeit des Medienboykotts - andere Formen öffentlicher Kommunikation wie offene Briefe3, Resolutionen von Künstlerveibänden4, eben der Gründungsaufruf des Neuen Forums und schließlich die aus kirchlichen Friedensgebeten entstehenden Montagsdemos, später die Sonntags- oder Rathausgespräche entwickeln sich aus dem Bedürfnis nach Artikulation der eigenen Meinung. Hier äußern sich die Bürger mit einer deutlich vom offiziellen Parteidiskurs abgesetzten klaren Sprache zu den Problemen; dabei wird zunächst niemand ausgegrenzt. Öffentlichkeit stellte sich so an den Massenmedien vorbei, aber auch durch die Organisationsstrukturen von Massenorganisationen selbst (wie z.B. in Teilen der SED-Basis) her. Untersuchungen zum 'Wende-Deutsch' der DDR befaßten sich vorrangig mit diesen neuen Kommunikationsformen.5 Meine Untersuchungen zielen auf die Strategien der 'Staats- und Partei-Medien' in dieser Phase des Umbruchs. Am Beispiel der Kommentierung aktueller Ereignisse in der Tageszeitung JUNGE WELT soll gezeigt werden, wie sich der persuasive Sprachgebrauch im Prozeß des Wandels vom machtbestimmten agitatorisch-propagandistischen zum relativ unabhängigen pluralistischen Journalismus verändert. Die Textsorte des politischen Kommentars kann aufgrund ihrer journalistischen Grundfunktion dafür als Materialbasis dienen. Insgesamt wurden 147 Kommentare aus der Zeit vom 1. Oktober 1989 bis 20. März 1990 gesichtet. Zum Vergleich wurde die Berichterstattung und Kommentierung des NEUEN DEUTSCHLAND im Gefolge der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration vom Januar 1988 herangezogen.
3 Zum Beispiet der von H. Kant an die JUNGE WELT vom 1.10.89, zur Verwunderung der Leser tatsachlich am 9.10.89 veröffentlicht 4 Vgl. u.a. die sog. Rockerresolution von Bands, Sängern und Liedermachern der DDR, deren Veröffentlichung die JUNGE WELT im September 89 ablehnte, die Resolutionen des staatlichen Komitees für Unterhaltungskunst oder der Theaterschaffenden, die später erscheinen konnten. 5 Vgl. u.a. Hellmann (1990), Lang (Hrsg.) (1990), Welke/Sauer/Glück (Hrsg.) (1992).
Wertewandel und Textstnikturen in Kommentaren der DDR-Presse zur Zeit der "Wende'
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2. Persuasività in Pressekommentaren Allgemein wird in der publizistisch-linguistischen Literatur die Hauptfunktion von Kommentaren mit der Formel 'meinungsbetont-persuasiv' beschrieben6. Dieses aus der fundamentalen journalistischen Maxime der Trennung von Information und Meinung entstandene und der Genreklassifikation zugrundeliegende Kriterium bedarf für die linguistische Untersuchung der Exemplare dieser Textsorte einer Präzisierung. Worin besteht eigentlich die Eigenschaft von Texten, 'persuasive' Funktionen realisieren zu können? Welche Textstrukturen tragen die für eine solche Art von Überredung/ Überzeugung relevanten Aspekte der Kommunikation? Um diese Fragestellung berücksichtigen zu können, gehe ich von einem handlungsorientierten Textbegriff aus, der das konkret zu untersuchende Textexemplar als Realisation einer komplexen Folge sprachlicher Handlungen mit seiner sprachlichen Struktur und den zugrundeliegenden Strukturebenen der grammatischen und der Handlungsebene betrachtet. Während der Funktionsaspekt 'meinungsbetont' die generelle thematische Einstellung des Bewertens in bezug auf die ausgedrückte propositional-thematische Struktur abbildet, bezieht sich der Aspekt 'persuasiv' auf den vermeintlichen Zweck der Meinungsbildung beim Leser als mehr oder weniger vermittelte Folge der Kommunikation. Spätestens seit der in der linguistischen Pragmatik geführten Diskussion um das Verhältnis von Illokution und Perlokution dürfte klar sein, daß solche Zielzustände wie 'überzeugt sein von etwas' oder "bereit sein, etwas zu tun' keinesfalls als kausale Folgen sprachlichen Handelns eintreten müssen, sondern als "Bewirkungsversuche"7 zwar beabsichtigt, aber in ihrem Zustandekommen von extralinguistischen Faktoren und Dispositionen der Adressaten bestimmt werden. Bezogen auf die journalistische Textsorte Kommentar heißt dies: Meinungsäußerung eines Kommentators hat nicht per se Meinungsbildung beim Leser zur Folge, schon gar nicht die Übernahme der vom Kommentator im einzelnen Text geäußerten Meinung. Mit dem Zusatz 'persuasiv' wird lediglich die strategische Orientierung sprachlichen Handelns betont. Schon aufgrund der strukturell notwendigen einseitigen Gerichtetheit von Pressesprache ist der Kommentator ein strategisch Handelnder, in dem Sinne, daß er sich "unter Ausnutzung des strategischen und des reaktiven Potentials sprachlicher Handlungsmuster für eine bestimmte Auswahl und Anordnung von Sprechhandlungskomponenten (Illokutionen, Propositionen, Äußerungsakten) entscheidet, und zwar gemäß einem oder mehreren strategischen
6 Vgl. u.a. Löger (1983), Läzer (1988). 7 Vgl. Holly (1979, S.7), der Perlokutionen beschreibt als "das erfolgreiche Bewirken von Einstellungen, Gefühlen oder Handlungen des Hörers. Sie sind keine Handlungen, sondern das Erreichen des Ziels von Handlungen."
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Prinzipien. Das konkrete strategische Handeln basiert auf bestimmten Verfahrensmustern, die als strategische Muster oder kurz: als Strategien zur Handlungskompetenz der Sprachteilhaber gehören. Strategien sind m.E. nicht mit den eingesetzten sprachlichen Mitteln (den Handlungsmustern) selbst gleichzusetzen; sie stellen vielmehr typische Ziel-Mittel-Relationen dar."8 Wenn man mit der obigen Funktionsbestimmimg davon ausgeht, daß Kommentare meinungsbetonte und damit in einem noch zu erläuternden Sinn bewertende Texte sind, so kann deren Persuasivität nur darin bestehen, Strategien zu verfolgen, die geäußerten Bewertungen als begründet, gerechtfertigt, folgerichtig, kurz: als einsichtig erscheinen zu lassen. Eine so verstandene Persuasivität muß die Frage außer acht lassen, ob denn nun der Leser diese Meinung akzeptiert oder nicht. Es geht mir um die Ermittlung solcher Strategien als eine bestimmte Auswahl und Anordnimg von Sprechhandlungskomponenten in den Kommentartexten. Da der einzelne Kommentartext Teil und Baustein der strategischen Orientierung der gesamten Berichterstattung und zugleich Fortsetzung der Nachrichtengebung über aktuelle Ereignisse ist, muß seine intertextuelle Verankerung im jeweiligen journalistischen Diskurs mit seiner Voraussetzungsstruktur in die Analyse einbezogen werden. Insofern ist der einzelne Text eine nur relativ selbständige und in sich geschlossene Äußerungsstmktur, so daß sich mögliche Strategien auch über mehrere Texte, ja sogar Textsorten (z.B. durch die Auswahl von Nachrichteninhalten und deren Bewertung) ergeben können. Es ist also notwendig, zwischen zweierlei Reichweiten und damit Arten von Strategien zu unterscheiden. Einmal geht es um die innerhalb komplexer Textstrukturen ausgeprägten lokalen Strategien zur Realisierung der jeweiligen Textfunktion und zum anderen um die textübergreifenden Makrostrategien, die man auch als Diskursstrategien abgrenzen könnte. Um zunächst lokale Strategien zu ermitteln, muß geklärt werden, welche strukturellen Bestandteile von Bewertungen und ihren Realisationen in Texten Ansatzpunkte für Strategiebildungen sein können. Bewertende Äußerungsstrukturen können mit vielfältigen sprachlichen Strukturen realisiert werden9, ohne daß dabei ihre Stellung als sprachliche Handlungen innerhalb einer komplexen Handlungstruktur von Texten erkennbar sein muß.
3. Bewertungshandlungen in Kommentartexten Ausgehend von der Frage, was Sprecher eigentlich tun, wenn sie etwas sprachlich bewerten, soll im folgenden ein Konzept von Bewertungshand8 Brinker(1986,S. 175). 9 Vgl. dazu u.a. Sandig (1979).
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hingen mit den dafür konstitutiven Elementen umrissen werden, ohne dabei die breite wertphilosophische und linguistische Diskussion zu vertiefen10. Von ihrer grammatischen Struktur her sind bewertende Äußerungen nichts anderes als im Deklarativmodus geäußerte Urteilssätze, ähnlich der Struktur von repräsentativen Sprechakten. Ihre Spezifik ergibt sich erst, wenn man berücksichtigt, daß diese Urteile nicht ausschließlich mit den für Tatsachenbehauptungen einschlägigen Sprechereinstellungen der Form 'S glaubt/weiß, daß ρ der Fall ist' geäußert werden, sondern daß mit diesen epistemischen Einstellungen zusätzlich evaluative Einstellungen ausgedrückt werden, die gerade darin bestehen, daß der Bewertungsgegenstand in bezug auf einen jeweiligen Bewertungsmaßstab beurteilt wird, der wiederum zum Zweck der Einordnimg auf eine bipolare Skala (positiv/negativ) abgebildet wird. Daher ist eben die Beschreibung bewertender Satzäußerungen nicht allein mit ihrer grammatischen Struktur getan, sondern erfordert deren Untersuchung a 1 s Handlungen im jeweiligen Handlungskontext. Unter BEWERTEN will ich deshalb allgemein folgende komplexe Handlung verstehen: (1)
Ein Bewertungssubjekt (BS) bewertet zu einem bestimmten Zeitpunkt t¡ einen Bewertungsgegenstand (BG), indem das BS den BG im Hinblick auf bestimmte durch die Vergleichsbasis (V) vorgegebene Bewertungsaspekte (BA) anhand diesen zugeordneten Einordnungsskalen (ES) einordnet und die Einordnungsergebnisse (EE) relativ zu in V vorgegebenen Sollergebnissen (SE) auszeichnet."
Dieses Konzept umfaßt alle für jegliches BEWERTEN (auch nichtsprachlicher Art wie z.B. Benotung durch numerische Skalierung wie Punkte oder Zensuren) relevanten Aspekte, von denen für die mittels sprachlicher Strukturen realisierten Bewertungshandlungen entsprechende Kategorien abgeleitet werden müssen. BG von sprachlichen Bewertungshandlungen in Kommentartexten können Dinge, Sachverhalte (Tatsachen), Zustände, Personen oder Institutionen, deren Handlungen bzw. damit in Verbindimg gebrachte Absichten oder Ziele und Konsequenzen sein. Das schließt auch sprachliche Handlungen ein. Als Vergleichsbasis fungieren die mit dem Begriff Wertmaßstab12 zusammengefaßten Wertvorstellungen unterschied10 Verwiesen sei auf folgende Darstellungen: Zillig (1982), Sager (1982), Holly (1982), Winko (1991), Fries (1991). 11 Vgl. Ripfel (1987, S. 153), deren Beschreibung zusätzlich die Kategorie der Gewichtung (G) enthält, die aber m.E. bereits mit der Einordnung des BG auf einer Einordnungsskala als mehr oder weniger abweichend vom Sollergebnis abgedeckt isL 12 Bei B. Sandig (1979, S. 139) werden die unterschiedlichen Aspekte des Bewertens wie: Vergleichsbasis, Bewertungsausdrude, Perspektive, Intention, Bewertungszweck, Bewertungsbezug in dem Begriff Bewertungsmaßstab zusammengefaBt Die dargestellten Aspekte sind im wesentlichen die för Bewertungshandlungen konstitutiven Elemente, so daß hier der Begriff
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licher Wertsysteme von individuellen oder kollektiven (sozialen) Bewertungssubjekten. Solche Weitsysteme existieren dabei als in der Sozialisation unbewußt oder durch bewußtes Lernen erworbene Präferenzdispositionen hinsichtlich qualitativ verschiedener Bewertungsaspekte. Sie können aber auch institutionell (z.B. durch staatliche Gesetze) oder von sozialen Gruppen (wie z.B. Interessenveibänden, Parteien, konfessionellen Gruppen) vorgegeben und, per zu erkennen gegebener Zugehörigkeit des BS zu diesen, als für sich 'gültig' ratifiziert werden. Sager (1982, S. 46) differenziert zwischen folgenden Normensystemen als Bewertungsbasen: - die ästhetische Basis mit den Polen der Skala schön - häßlich - die moralische Basis mit der Skala gut - schlecht - die faktisch adaptive Basis, mit der die Einordnung des BG hinsichtlich seiner Brauchbarkeit / Zweckgerichtetheit unter dem jeweiligen Bewertungsaspekt erfaßt werden soll (richtig - falsch, brauchbar - unbrauchbar, passend - unpassend) - die sensitiv expressive, deutlicher gesagt: die subjektiv-emotionale Basis mit der Skalierung in den Polen (erfreulich - unerfreulich). Diese qualitativ abgrenzbaren Bewertungsbasen korrespondieren in sprachlichen Bewertungshandlungen mit den entsprechenden Aspekten von evaluativen Einstellungen, die mit der Äußerungsstruktur bekundet werden können. Der quantitative Aspekt von Bewertungen kommt dann in der Kategorie Einordnungsergebnis zum Tragen, indem der gebrauchte Bewertungsausdruck den Grad der Einordnung des Bewertungsgegenstandes relativ zu einem mit V vorgegebenen Sollergebnis (SE) mit den jeweiligen sprachlichen Mitteln zu erkennen gibt. Entsprechend den methodologischen Prämissen der Illokutionsstrukturanalyse13 gehe ich von der Vorstellung aus, daß Persuasionsstrategien in Kommentartexten u.a. über die Stützung von elementaren Bewertungshandlungen beschreibbar sind. Für die Untersuchung der Textstruktur sind mindestens die folgenden drei Strukturebenen von Texten relevant: - grammatische oder Äußerungsstrukturebene - propositional-thematische Ebene - Illokutionsstnikturebene.14 Bewertungsmafistab m.E. unzulässig Oberdehnt wird. 13 Vgl. u.a. Motsch/Viehweger (1991). 14 Brandt/Rosengren (1991, S. 4f.) ordnen die propositionale Ebene als Ebene der Informationsstruktur der pragmatischen Ebene zu, die ihrerseits von der grammatischen Ebene abgegrenzt wird und daneben die Handlungsebene aufweisen soll. Ziemlich verwirrend ist dann ihre Begründung, diese Handlungsebene wiederum in zwei Ebenen, die der IUokutionsstruktur und der inhaltlichen Struktur, "die durch die Verknüpfung von Propositionen zustandekommt" (a.a.O., S. 6), zu unterteilen. Zu klären wäre dann das Verhältnis von Informationsstruktur und inhaltlicher Struktur. Darauflasse idi mich hier lieber nicht ein und fasse die propositional-thematische und die Illokutionsstnikturebene als zwei interdependente Aspekte der Handlungsebene.
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Als vorrangiges Problem eines solchen Ansatzes muß geklärt werden, was als elementare Bewertungshandlung gelten soll und vor allem in welcher Äußerungsstruktur diese realisiert werden können. Mit Motsch/Viehweger (1991, S. 118) betrachte ich die Illokutionsstruktur von Texten als Folge und spezifische Verknüpfimg von elementaren illokutiven Handlungen. Illokutionen sind dabei zu bestimmen "als eine propositionale Struktur ρ und eine Charakterisierung des Illokutionstyps F. Die propositionale Struktur enthält alle Informationen von Äußerungsbedeutungen. " Zur Beschreibung des Illokutionstyps sind danach folgende relevanten Faktoren zu bestimmen: (2)
Illj = (sj, Zj, condj, consj), wobei: Sj Bedingungen fur geeignete Äußerungsbedeutungen darstellen, also zur Beschreibung geeigneter Äußerungsstrukturen von Sätzen unter den Aspekten (phon, sem, syn) für den jeweiligen Handlungstyp dienen; Zj den jeweiligen Zieltyp repräsentiert, condj die Menge der für den Illokutionstyp zu spezifizierenden Bedingungen der Handlungssituation umfaßt und consj die Menge von konventionell zu erwartenden Konsequenzen darstellt.
Dieser Ansatz macht deutlich, daß Illokutionstypen über die Äußerungsbedeutungen von Sätzen innerhalb der jeweiligen Handlungssituation definiert werden, da sie mit bestimmten grammatisch zu beschreibenden Strukturen korrespondieren. Über die Art der Beziehungen zwischen sprachsystematischen und sprachpragmatisch bedingten Strukturen bestehen zur Zeit nur wenig gesicherte Erkenntnisse15. Geht man mit Mötsch (1987) von der semantischen Repräsentation von Äußerungsbedeutungen in der Form: e(p) aus, wobei mit e der mit der Äußerung einer Proposition bekundete Einstellungstyp gemeint ist, der wiederum an grammatisch determinierte Satzmodi gebunden ist, so erhält man drei Grundtypen von Illokutionen, die er mit AUSSAGEN, FRAGEN und AUFFORDERUNGEN benennt16. Ihnen werden entsprechende Zieltypen zugeordnet. Von Interesse für uns ist nun, welchem Grundtyp Bewertungen zugeordnet werden können und wie sie von anderen Typen abzugrenzen sind. Mötsch kommt über die Differenzierung von Einstellungstypen in Deklarativsätzen zu der Unterscheidung von AUSSAGEN in: 15 Vgl. dazu u.a. Motsch/Pasch (1987) und die Beitrage im Heft Sprache und Pragmatik 24. Arbeitsberichte, Lund 1991. 16 Mötsch (1987, S. 47).
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als wahr bewertete Sachverhaltsbeschreibungen mit der Repräsentation [gl(p)l als wahrscheinlichkeitsbewertete Sachverhaltsbeschreibungen [ep (p)] und als gewünscht bewertete Sachverhaltsbeschreibungen [val (ρ)]17.
Über die Beobachtung, daß Sprecher zugleich mit Einstellungen des Glaubens/Wissens auch solche der Typen der Evaluation bekunden können18, werden Deklarativsatzäußerungen mit evaluativen (d.h. mit Bezug auf eine bestimmte Vergleichsbasis, deren Bewertungsaspekt und Einordnungsskala) Einstellungsausdrücken als Untermuster von FESTSTELLUNGEN bestimmt. Dabei wird mit dem Deklarativsatzmodus obligatorisch der Einstellungstyp des Glaubens/Wissens ausgedrückt, während zusätzliche evaluative Einstellungen fakultativ sind. Daraus resultiert der für elementare Bewertungshandlungen einschlägige Zieltyp, den ich folgendermaßen charakterisieren möchte: (3) ZQEW : WOLLEN [Spr (GLAUBEN (H (BEWERTEN (Spr, SV (p) ))))], d.h., Der Sprecher will, daß der Hörer glaubt/weiß, daß der Sprecher einen mit ρ ausgedrückten Sachverhalt in der ausgedrückten Weise bewertet. Neben den Bedingungen für die Äußerungsstruktur (vgl. unten) und dem Zieltyp ist die Beschreibung der konstitutiven Bedingungen für Bewertungshandlungen notwendig. Diese ergeben sich aus den in (1) zusammengefaßten Elementen des allgemeinen Konzepts von BEWERTEN und lassen sich für sprachliche Bewertungshandlungen als cond BEW spezifizieren. In erster Annäherung könnten Überlegungen dazu wie folgt aussehen: coodßEW (i) Konstitutiv für jede Bewertungshandlung ist das Vorhandensein eines Bewertungssubjekts (BS) mit seinen je zugrunde liegenden Dispositionen in bezug auf den Bewertungsgegenstand (Wissen, Einstellungen, Norm- und Wertesystemen) und mit seiner sozialen Rolle in der jeweiligen Kommunikationssituation. Vom Wissen um diese Voraussetzungen hängt u.a. auch die Akzeptanz bezüglich der realisierten Bewertungen seitens des Rezipienten ab. Das BS ist der Sprecher, 17 Mötsch (1987, S. 52). 18 Vgl. das Beispiel bei Mötsch: "Leider ist er nicht gekommen", das in der semantischen Repräsentation beschrieben werden könnte als: val [gl (p)].
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wenngleich dieser - wie im Falle der Textsorte 'politischer Kommentar1 - als Repräsentant der Redaktion resp. einer politischen Partei als dem eigentlichen Subjekt der Bewertung agiert. (ii) Der Bewertungsgegenstand steht in mindestens einem relevanten Aspekt in Beziehung zu den mit der Vergleichsbasis der Bewertung verbundenen Kategorien (Bewertungsaspekt, Einordnungsskalen oder Wertbasis, Sollergebnis). Andersherum formuliert: Die Vergleichsbasis muß auf mindestens einen Aspekt des BG sinnvoll (d.h. für den Rezipienten erkenn· bzw. rekonstruieibar) anwendbar sein. (iii) Die Vergleichsbasis selbst ist für den Rezipienten rekonstruierbar. Daß die mit ihr verbundenen Normen und Wertsysteme vom Rezipienten akzeptiert oder sogar geteilt werden sollen, ist zwar vermutlich ein strategisches Ziel des BS, jedoch m.E. keine notwendige Bedingung für die Realisierung einer (elementaren) Bewertungshandlung.
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit soll mit diesen Überlegungen das Illokutionswissen, d.h. die sprachpragmatische Voraussetzungsstruktur von Bewertungshandlungen im allgemeinen, als ein wesentlicher Aspekt für die Vertextung von bewertenden sprachlichen Strukturen erfaßt werden. Im folgenden gehe ich genauer auf die Äußerungsstruktur von Bewertungshandlungen ein, um dann ihre Realisationen in der Textstruktur untersuchen zu können. Dazu werden einige Beispiele aus den untersuchten Texten herangezogen: (4)
(5)
(6)
(7) (8)
Und in der Tat erlebte ich eine Art Lehrstunde der Demokratie. Erfreulich filr mich, welch starke Beachtung das fand, was Abgeordnete der FDJ-Fraktion in der Diskussion zu sagen hatten - Offenes, Kritisches, Konstruktives. (JW, 15.11.1989) Viele der Redner hatten den Wählerauftrag in der Tasche. Sag' das in der Volkskammer. Und dem wollten sie gerecht werden. Das ist gut so. Mein erster Eindruck von der Regierungserklärung: ehrlich, sachlich, hoffnungsvoll. (JW, 20.11.1989) Spektakulär dagegen seine (Modrows - R.L.) Entscheidung, in seine Regierung der nationalen Verantwortung auch die Opposition vom Runden Tisch aufzunehmen. Was letztlich als gelungener Zug zu bewerten ist. (JW, 8.3.1990 Ich finde, wir alle sollten uns abgewöhnen, jemanden an die Kandare nehmen zu wollen. (JW, 4./5.11.1989) Vorsicht vor Leuten, die mit der Hitze der Erneuerung ihr privates Süppchen kochen wollen. (Ebd.)
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Ich habe Angst vor einer Zukunft, einer großdeutschen. (JW, 6.12.1989)
(10) Das sind Werte, für die - so meine Meinung - es sich lohnt, heute
Vormittag in Berlin auf die Straße zu gehen. (JW, 4./5.11.1989) (11) Der Trauermarsch für die ermordeten Nationalhelden unseres Staates wurde vorsätzlich gestört, die Totenfeier für die Märtyrer der Kommunistischen Partei sollte mutwillig entweiht werden. (ND, 28.1.1988)
(12) Wo die Meute der Westreporter, vor allem die TV-Teams hinzogen, waren Sekunden später ganz bestimmte Typen zur Stelle, die dann promptför Zoff sorgten. (JW, 9.10.1989)
Alle Satzäußerungen haben offensichtlich eine bewertende Funktion, d.h. sie bringen die Meinimg des jeweiligen Kommentators19 zu dem dargestellten Sachverhalt in bezug auf eine Wertbasis sowie hinsichtlich eines Bewertungsaspektes zum Ausdruck. Wodurch unterscheiden sie sich? Die wohl einfachste grammatische Struktur von Bewertungen liegt in (5) vor. Eine einstellige Prädikation vom Typ 'X - Kopula Y1 schreibt dem entsprechenden Sachverhalt, hier dem vorhergehenden Satzinhalt, die Eigenschaft zu, 'gut' zu sein. Das per begrifflich-lexikalischer Bedeutung weitende Adjektiv ordnet den Sachverhalt, daß die Abgeordneten dem Wählerauftrag mit ihrem Verhalten gerecht werden wollten, hinsichtlich der Qualität 'moralisches Verhalten' dem positiven Pol einer Skala zu. Je nach Realisierung der Y-Stelle mit Wertadjektiven wird so die Bewertung direkt ausgedrückt. Die zugrundeliegende Wertbasis kommt über die begriffliche Bedeutung des Wertausdrucks in die grammatische Bedeutung der Äußerungsstruktur hinein. Ein zweiter Fall für eine offen ausgedrückte Bewertung ist das Beispiel (4). Hier wird mit dem elliptischen Matrixsatz Erfreulichförmich die bewertende Funktion der Satzäußerung erreicht. Dabei liegt semantisch die gleiche Struktur vor wie in (5): erfreulich sein (p) in (4) und gut sein (q) in (5), nur daß hier mit för mich das BS direkt benannt wird und eine andere Wertbasis zugrunde liegt. Eine synonymische Form wie etwa 'Ich finde es erfreulich daß,...' wäre ebenso denkbar wie in (5) Ich finde es gut, daß ... Dies deutet schon auf unterschiedliche oberflächenstrukturelle Realisierungen von Bewertungen hin, die ich mit der Unterscheidung direkte Bewertung (5) und explizite Bewertung (4) deutlich mache. Zu den expliziten Bewertungen zähle 19 Die verschiedenen Grade von Meinungsfreiheit der Kommentatoren und damit die normsetzende Funktion der jeweiligen Redaktion bzw. der Propagandaabteilung des ZK der SED lasse ich hier unberücksichtigt
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ich vorrangig alle Realisierungen mit der Verwendung von Sprechaktveiben des Bewertens in nicht berichtender Funktion, also Vollzugsausdrücke20, wobei die Form der klassischen EPF der Sprechakttheorie nicht obligatorisch ist, wie das Beispiel (6) zeigt. Dazu gehören auch Vorspannkonstruktionen, die als sog. Subjektivitätsformeln Verben des Meinens enthalten wie: ich finde, daß ... (7), ich meine, sofern der propositionale Gehalt evaluative Prädikationen aufweist. Selbst substantivierte Formen wie mein erster Eindruck (5) und so meine Meinung (10) indizieren eine evaluative Sprechereinstellung. Die Beispiele (6) und (7) ließen sich jedoch auch ohne solche expliziten Indikatoren als Bewertungen interpretieren, da sie eine weitere Vollzugsform demonstrieren, die ich als "indirekte Bewertung" bezeichnen will. Beide enthalten modalisierende Strukturen, die zum Ausdruck voluntativer Sprechereinstellungen führen. Sie könnten daher auch als indirekte Aufforderungen interpretiert werden. Im Falle von (7) liegt das sicherlich näher als in (6). Da jedoch jede Aufforderung eine positive Auszeichnung des Zielzustandes gegenüber anderen möglichen Zuständen impliziert, was wiederum zum Illokutionswissen der Sprachteilhaber gehört, implizieren ausgedrückte appellative oder voluntative Einstellungen eben auch evaluative Einstellungen. So kommt es dazu, daß mit einer Äußenmgsstruktur mehrere (illokutive) Funktionen gleichzeitig realisiert werden können. Welche der Funktionen dabei möglicherweise als präferent ausgezeichnet wird, ist dann häufig eine Frage der textuellen und kontextuellen Einbettung. Im Beispiel (8) ist die Äußerung als Warnung indiziert. Die per Illokutionswissen implizierten Präferenzen lassen die Bewertung als mitgemeint erkennen, zumal diese dann über den stilistisch markierten Phraseologismus sein privates (eigenes) Süppchen kochen auch ausgedrückt wird. Die bisher diskutierten Formen der indirekten Realisierung beruhen auf pragmatischen Implikationen. Daneben gibt es auch die Möglichkeit, Implikationen im Bereich der propositionalen Struktur für indirekte Bewertungen zu nutzen, etwa über Präsuppositionen und Inferenzen:
(13) Über Schlußfolgerungen aus den bedrückenden Ereignissen der letzten Wochen nachzudenken, ist Sache vieler in unserem Lande. (JW, 2.10.1989) Diese Aussage zu der Massenflucht von DDR-Bürgern vom Herbst '89 enthält eine komplexe propositionale Struktur, die im Skopus einer deontischen Sprechereinstellung (Notwendigkeit) steht, denn die Wendimg 'p ist Sache 20 von Polenz (1988, S. 219) unterscheidet zwischen Vollzugsausdrücken und Prâdikatsausdrûcken.
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vieler' ist synonym zu Viele müssen ρ tun'. In sie eingebettet ist die evaluative Prädikation *bedrückend sein (Ereignisse)', die als Präsupposition der Äußerungsbedeutung erscheint. Die damit realisierte negativ-emotionale Bewertung wird also hier nicht behauptet, sondern (als von der Öffentlichkeit geteilt) unterstellt. Sie ist zudem der mit der gesamten Äußerungsbedeutung zu erkennen gegebenen deontischen Einstellung untergeordnet, die wiederum über deren pragmatische Präsuppositionen eine weitere indirekte Bewertung des in der Infinitivkonstruktion dargestellten komplexen Sachverhalts ausdrückt. Die anhand isolierter Satzäußerungen in den Texten festgestellten mehrfachen Bewertungen unterliegen aber wiederum der mit der komplexen Textstruktur verfolgten Strategie, so daß sich über die jeweiligen Satz- bzw. Sprechhandlungsgrenzen hinaus, soweit letztere überhaupt eindeutig auszumachen sind, hierarchisch höherstufige Bewertungen ergeben können. Da diese nicht als (abgrenzbare) Illokutionen im Text realisiert werden, sollen prinzipiell zwei Typen der Realisierung von Bewertungshandlungen unterschieden werden. Die bisher erörterten Arten, die alle innerhalb und mittels einzelner Satzäußerungen im Text zustande kommen, fasse ich unter den elementaren Bewertungstypen zusammen. Demgegenüber bilden die nun zu betrachtenden auf textuellen Verknüpfungen basierenden Bewertungen die Gruppe der komplexen Bewertungstypen. Während die erste Gruppe alle abgrenzbaren und offen per bewertenden sprachlichen Mitteln erkennbaren Bewertungen umfaßt, beinhaltet die zweite Gruppe alle verdeckten, d.h. erst über textuelle und intertextuelle Strukturen vollzogenen Bewertungen. Je nach den zu ihrer Realisierung genutzten Strukturen unterteile ich diesen Typ in die Realisierung "verdeckter", "impliziter" und "diskursiver" Bewertungen. Eine "verdeckte" Bewertung liegt dann vor, wenn nicht-evaluative Äußerungen erst infolge ihrer Vertextung mit anderen im Kotext manifesten Komponenten von Bewertungen (z.B. Bewertungssubjekt, Wertbasis, Aspekt der Bewertung, evaluative Inferenzen) zu Bewertungen höherer Stufe uminterpretiert werden können. Als Beispiel sei der Anfang eines Kommentars zu den Berliner Protesten am 7./8. Oktober 1989 genannt. Unter der Überschrift "Unter falscher Flagge und im Gefolge der falschen Leute / Wer seid ihr?" heißt es: (14) Sonnabend waren sie auch in Berlin. Ich war dabei. Gemeinsam mit zwei Fotoreportern der Jungen Welt. Wir haben denen, die hier rumliefen, in die Gesichter gesehen. Jenen, die "nur" so mal mitliefen. Und auch jenen, die immer vorneweg marschierten und dem ganzen seine schlimme Richtung gaben. (JW, 9.10.89)
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Eine solche Themaeinfiihrung zielt nicht auf die (sachliche) Darstellung der Ereignisse, sondern eine stigmatisierende Distanzierung. Zwar ist die negative Bewertung offensichtlich (schlimme Richtung), die zu dem auch noch mit stilistischen Mitteln (irumlaufen fur 'demonstrieren1, ironisierende Anführung "nur") verstärkt wird, aber die Wertbasis und der Aspekt der Bewertung folgen erst einige Sätze später. Die nächste Wiederaufnahme der Demonstranten gibt das Beispiel (12) wieder: (12) Wo die Meute der Westreporter, vor allem die TV-Teams hinzogen, waren Sekunden später ganz bestimmte Typen zur Stelle, die dann promptfür Zersorgten. (JW, 9.10.1989) Auch hier wird die stilistische Variation, speziell die Gruppensprache Jugendlicher, zur Stigmatisierung genutzt {bestimmte Typen, für Zoff sorgen).
Und auf die (rhetorische) Frage: Was sind das für Leute hier? folgt: (15) Ist das bei Tageslicht womöglich wieder der nette Junge aus dem Nachbarhaus, einer der Lehrlinge bei uns in der Werkstatt, das blonde Mädchen aus unserer Kaufhalle?! Die Arbeiterklasse ist das hier nicht, das steht fest. Als wirklich Arbeiter auftauchten, in Uniformen der Kampfgruppen, da nahmen die Marschierer hier schnell ihre Beine in die Hand ... Sagt diesen Typen wenigstens am Montag im Betrieb jemand, daß es bescheuert ist, "Goibi, Gorbi!" zu rufen, wenn man gegen seinen sozialistischen Staat antreten will?! Erst mit dieser Passage wird die ideologische Wertbasis durch die völlig deplazierte Verwendung des abstrakten theoretischen Konzepts Arbeiterklasse aus dem Marxismus deutlich und somit die politische Verurteilung der Demonstranten, was dann ja auch explizit formuliert wird (gegen seinen sozialistischen Staat antreten -wollen - dies wäre der Aspekt, unter dem das Verhalten der Demonstranten negativ bewertet werden soll). Dabei fungiert das mit dem Possessivpronomen seinen präsupponierte Bekenntnis zu diesem Staat als unterstellte Vergleichsbasis für die negative Bewertung des dargestellten Verhaltens. Die bereits erwähnten 'stilistischen' Bewertungen unterscheiden sich von verdeckten Bewertungen dadurch, daß dazu stilistische Markiertheiten, Konnotationen, rhetorische Figuren und Tropen und dadurch nahegelegte Assoziationen u.ä. herangezogen werden, die über die Grenzen des jeweils vorliegenden Textthemas hinausreichen. Sie zähle ich deshalb zur Gruppe der impliziten Bewertungen. Die Beispielsätze (11) und (12) belegen, daß zugleich mit der Art der sprachlichen Repräsentation und ihrer damit veibun-
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denen Konzeptualisierung die entsprechenden Referenzträger zu Bewertungsobjekten werden: Meute der Westreporter für 'Gruppe von Westreportern'; ganz bestimmte Typen für "Leute' oder 'Personen' usw. Damit wird eine bewertende Sprechereinstellung in die Satz- und Textstruktur eingebracht, die strategisch im Sinne der vom Leser 2m realisierenden Einstellungsstruktur im Hinblick auf das Dargestellte genutzt werden kann. Im Beispiel (11) wird das so weit getrieben, daß die gewählten emotional stark konnotierten Bezeichnungen Realität ersetzen. Hier wird das betreffende Ereignis unter den ideologischen Prämissen des Bewertungssubjekts neu inszeniert. Mit Satz (11) beginnt ein Kommentar des ND, der als verspätete offizielle Reaktion der DDR-Medien auf das Auftreten oppositioneller Gruppen bei der LiebknechtLuxemburg-Demonstration vom 17. Januar 1988 in allen Tageszeitungen veröffentlicht wurde. Ohne daß bis dahin, immerhin fast zwei Wochen nach dem Ereignis, überhaupt etwas über den genauen Hergang der Aktion berichtet worden war - wie so oft baute hier das NEUE DEUTSCHLAND auf die Informiertheit der Leser durch die Westmedien - , wird das Entrollen eines Transparentes mit dem bekannten Zitat von Rosa Luxemburg wiedergegeben als vorsätzliche Störung eines Trauermarsch(es) ftlr die ermordeten Nationalhelden unseres Staates und weiter als mutwillige Entweihung einer Totenfeier för die Märtyrer der Kommunistischen Partei. Die Möglichkeit einer so drastischen (moralischen) Stigmatisierung der Täter' ergibt sich aus der ideologisch geprägten Inszenierung des zum alljährlichen Ritual erstarrten Aufmarsches der (Ost)-Berliner vor der Partei- und Staatsführung. Der für alle Beteiligten offensichtliche Charakter einer Propagandaveranstaltung hatte nichts von einem Trauermarsch, schon gar nichts von einer Totenfeier. Und durch die nachträgliche Stilisierung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu Nationalhelden der 31 Jahre nach ihrem Tod gegründeten DDR läßt sich dann jede als Störung dieses Rituals interpretierte Aktion als Anschlag auf diesen Staat, mithin als kriminellen Akt, verstehen. Was auf jener Veranstaltung tatsächlich passiert ist, wird weder aus der Kommentierung des Geschehens noch aus der Berichterstattung unmittelbar danach oder später erkennbar. Die öffentliche Vorverurteilung der Bürgerrechtler erfolgt auf diesem Hintergrund über eine Strategie der Intentionszuweisung, bei der dem kommentierte Geschehen entsprechende Motive unterstellt werden, hier mittels der Modalverben sollte und wollten. Dieses Beispiel kann eigentlich auch fur die Gruppe der diskursiven Bewertungen stehen, die unter Rückgriff auf andere in den Text hineingeholte Diskurswelten mit ihren jeweiligen Wertsystemen und Verhaltensnormen zustande kommen. Hier wird die klerikale Diskurswelt vergleichend herangezogen, um die Bewertung der Aktion (und wohl auch die Bewertung der Bewertung des Kommentators durch den Leser) zu einem Glaubensbekennt-
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nis hinsichtlich der kommunistischen Ideologie umzufunktionieren. Der Kommentar wird zu einem Text moderner Inquisition, deren sprichwörtliche Härte gegen Abtrünnige als Berechtigungsnachweis für die Verurteilung, als Stütze für die realisierte Bewertungshandlung herhalten kann: (16) Was da geschah, ist verwerflich wie eine Gotteslästerung. Keine Kirche könnte hinnehmen, wenn man eine Prozession zur Erinnerung an einen katholischen oder protestantischen Bischof entwürdigt. Ebensowenig kann man uns zumuten, wenn jemand das Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht absichtlich stört und schändet. Es erfolgt eine Vermischimg zweier völlig verschiedener Diskurswelten, bei der offensichtlich die durch lange Tradition bestehende Autorität der Kirche in bezug auf die (moralische) Bewertung menschlichen Verhaltens instrumentalisiert wird. Das exklusive uns markiert andererseits die Abgrenzung von diesem Diskurs und läßt per Kontext (ND als zentrale Parteizeitung) und innertextuellen Koreferenzen die Verortung des Textes im offiziellen Parteidiskurs erkennen. Insgesamt wurden von mir somit folgende 6 Arten der Realisierung von Bewertungen in Texten bestimmt und untersucht:
Klassifikation der Vollzugsformen von sprachlichen Bewertungen
Typen
direkte Bewertungen
elementarer Bewertungen
Typen komplexer Bewertungen
verdeckte Bewertungen * implizite Bewertungen diskursive Bewertungen
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In einem zweiten Schritt möchte ich nun anhand ausgewählter Beispiele auf Veränderungen von persuasiven Strategien und im Anschluß daran auf die Ergebnisse der Untersuchungen zu den sogenannten Makro-Strategien eingehen.
4. Persuasionsstrategien Als Voraussetzung für die Betrachtung von Veränderungen in den bewertenden Strukturen der Kommentierung über einen Zeitraum von mehreren Monaten muß natürlich die rasante politische Entwicklung bedacht werden. Sie bestimmte maßgeblich die Funktionssetzung der Presse, ob nun durch äußere politische Machtstrukturen oder das sich entwickelnde Selbstverständnis der Redaktionen. Die Kommentare des NEUEN DEUTSCHLAND zur Liebknecht-Luxemburg-Demonstration im Frühjahr 1988 sind ganz Produkte des 'sozialistischen Journalismus' als Propagandamittel der Staatspartei. Sie stellen die Vergleichsbasis zur im Herbst 1989 beginnenden Entwicklung dar. Der Untersuchungszeitraum 'Wende' läßt sich grob in folgende Phasen gliedern21 : I.)
19. 8. bis 4.10.: Öffnung der imgarischen Grenze; Ausreise der Botschaftsflüchtlinge über das Territorium der DDR, verbunden mit Unruhen in Dresden und dem ersten Einsatz offener staatlicher Gewalt gegen die eigene Bevölkerung Π.) 7.10. bis 18.10.: 40. Jahrestag der DDR mit massiven Übergriffen der Polizei auf Demonstranten am 7./8. Oktober bis zur Absetzung Honeckers und der von Krenz verkündeten "Wende" in der Politik der SED m.) 18.10.bis9.11.: Phase der "Dialogbereitschaft" der SED und Herausbildung einer breiten öffentlichen Bürgelbewegung, landesweite Massendemonstrationen als Artikulation einer selbstbewußten neuen politischen Öffentlichkeit mit dem Höhepunkt des 4. November, der von Intellektuellen getragenen Demo für Presse- und Versammlungsfreiheit mit rund 500 000 Teilnehmern in Berlin. IV.) 9.11. bis 19.12.: Rücktritt von Regierung und Politbüro, Grenzöffhung, Antritt der Modrow-Regienmg, Einsetzung des Runden Tisches, 10-Punkte-Plan 21 Vgl. auch die Darstellung von Schlosser (1990, Kap. 9) unter dem Titel "Aufbruch in eine neue Kommunikalionsgemeinschaft".
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des Bundeskanzlers zur deutschen Einheit, Kohl-Besuch in Dresden und Verhandlungen mit Modrow über eine Vertragsgemeinschaft beider Staaten Dezember 1989 bis Februar 1990: Sturm auf die STASI-Zentrale in Berlin am 15.1., Modrows Konzeption "Für Deutschland, einig Vaterland" erscheint am 1.2.1990. Diese Phase der größten politischen Instabilität führt zur Vorverlegung der Wahlen zur letzten Volkskammer der DDR auf den 18.3.1990.
Interessant ist die Spiegelung dieser innenpolitischen Entwicklung in den Strategien ihrer journalistischen Ver- und Bearbeitimg in der JUNGEN WELT, die sich aus den Tendenzen in der Kommentierung ableiten lassen.22 Fast parallel (mit etwas zeitlicher Verzögerung) führen die politischen Entwicklungen zu Bewertungsveränderungen, deutlichen sprachlichen Neuorientierungen, ja zu Verschiebungen der Wertvorstellungen, die ich jeweils stichwortartig charakterisiere: Phase I:
Kriminalisierung von Protest und Ausreisewilligen; ideologisch basierte Rechtfertigung staatlicher Gewalt; Propagierung von *Klassenbewußtsein'; Konfliktverschiebung auf Außenpolitik; Stigmatisierung der Bundesrepublik (Politik und Medien) mit Stereotypen des Kalten Krieges und unter Berufung auf das Völkerrecht (juristischer Diskurs)23 Phase II: erste Nachrichten über Montagsdemos in Leipzig; zögerndes Zugeständnis innenpolitischer Konflikte; Ablehnung der Demo als politisches Mittel mit dem Topos 'Die Straße ist kein Ort für den Dialog1; inflationärer Gebrauch von Dialog - Vereinnahmung eines positiven Leitbegriffs, der dadurch destruiert und unbrauchbar wird Phase ΙΠ: Propagierung der scheinbaren Gesprächsbereitschaft der neuen SED-Führung als Wende und konstruktive Dialogpolitik, Vision einer erneuerten DDR durch politische Veränderungen nach Gorbatschowschem Muster unter Führung der SED - Schlagwort vom modernen, demokratischen Sozialismus', scheinbare Wertorientierung der Politik auf Offenheit, Bürgernähe (mit dem Gesicht zum Volke) und Basisdemokratie 22 Einen Überblick zu den thematischen Orientierungen in Kommentartexten der JUNGEN WELT gebe ich in Läzer (1993). 23 Zur Berichterstattung des NEUEN DEUTSCHLAND über die Öffnung der ungarischen Grenze im September 1989 vgl. Bresgen (1993). Da in dieser Phase das ND bestimmend f&r alle Medien ist und somit die ideologische Wertbasis und Sollwerte jeglicher Bewertung bis hin zu Sprachregelungen vorgibt, lassen sich dort entsprechende Tendenzen finden.
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Phase IV: Enthüllungsjournalismus über Amtsmißbrauch und Korruption der alten Politbürokraten; Entideologisierung des politischen Sprachgebrauchs (Vermeidung von Fahnenwörtern, politischen Jargonismen und Leerformeln des offiziellen Parteidiskurses); Anerkennung des Parteienpluralismus und der Bürgerbewegungen als Formen demokratischer Öffentlichkeit im 'erneuerten Sozialismus'; Herausbildung der polaren Bewertungstopoi: 'für eigenständige (neue) DDR = antifaschistisch, demokratisch, wahrhaft sozialistisch' gegenüber 'für deutsche Einheit = revanchistisch, großdeutsch, rechtsradikal' Phase V: bestimmende Rolle des Einheitsdiskurses: pro Vertragsgemeinschaft/Konföderation - contra Anschluß an die Bundesrepublik; Was kann die DDR einbringen? Werte wie soziale Sicherheit, menschliche Wärme, solidarisches 'Verhalten der Menschen; Zurückweisung der Ausgrenzung linker Kräfte in der Öffentlichkeit (Topos von der "Freiheit der Andersdenkenden"), Negativbewertung der Montagsdemos, Suche nach einer Identität mit "unserem Land" und das Ideal eines aufrechten, selbstbewußten DDR-Bürgers bestimmen die Kommentierung in polemischer Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Ereignissen. Auf dem Hintergrund dieser allgemeinen Voraussetzungen kommen spezifische Strategien zur Anwendung, deren Einsatz von den strukturellen Voraussetzungen und Möglichkeiten der Stützung der sechs beschriebenen Bewertungsarten bestimmt werden. Vom Modell der Bewertungshandlung (3) ausgehend ergeben sich zunächst argumentierende Strategien, da es primär darum gehen müßte, den Geltungsanspruch einer als Bewertungsb e h a u p t u n g realisierten evaluativen Aussage in bezug auf den Bewertungsgegenstand einzulösen24. Die umstrittene Frage nach dem Wahrheitsanspruch von Bewertungen25 relativiert sich, wenn man die bei Habermas (1988, S. 45) hergeleiteten Ansprüche auf Richtigkeit26 und Wahrhaftigkeit einbezieht. Gerade die Betrachtung des Wahrhaftigkeitsanspruchs wird fur die Art strategisch pervertierter Kommunikation, wie sie z.B. im ND24 Bei Kopperschmidt (1989, S. 24) wird der Zusammenhang zwischen der Behauptung als Erhebung eines Wahlheitsanspruchs und des damit verbundenen Versprechens der Einlösung so beschrieben: "Das methodische Verfahren, dieses Versprechen im Fall der Bestreitung eines GAs (Gettungsanspruchs - R.L.) einzulösen, heißt Argumentation: ihre spezifische Leistung besteht entsprechend darin, den GA einer Äußerung akzeptabel bzw. zustimmungsfähig zu machen, um dadurch seine Berechtigung nachzuweisen." 25 Vgl. u.a. Ripfel (1987, S. 163ff.). 26 "Richtigkeit meint mithin einen GA, der seine Berechtigung aus der Chance ableitet, daß die handlungsleitende Orientierung einer Handlungsempfehlung in einer als gültig akzeptierten Norm verortet werden kann." (Kopperschmidt 1989, S. 34)
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Kommentar deutlich wird, relevant, da es nämlich im Sinne der persuasiven Zwecksetzung darum gehen muß, "die Wahrhaftigkeit (der) Rede erfolgreich zu prätendieren bzw. zu simulieren"27. Eine detaillierte Analyse der Texte aus der ersten und zweiten Phase ergab, daß kaum wirklich argumentiert wurde, was mit der fehlenden oder wegzensierten Bereitschaft zu tun haben mag, irgend etwas als strittig einzugestehen. Zudem ist das offene Argumentieren (im Sinne einer expliziten Begründung von Geltungsansprüchen) ohnehin nur sinnvoll, wenn tatsächlich ein Geltungsanspruch in bezug auf Bewertungshandlungen erhoben wurde. Dies trifft nach meiner Klassifikation lediglich auf die elementaren (offenen) Bewertungstypen (direkt, explizit und indirekt) zu. Die Gruppe der komplexen (verdeckten) Bewertungstypen stellt gerade Strategien der Umgehung expliziter Argumentationen dar, was nicht heißt, daß dort keine argumentierenden Textstrukturen, etwa die der bei Brinker (1988) begründeten argumentativen Themenentfaltung, zu finden wären. Nur sind diese dann nur scheinbar auf die Geltungsansprüche von Bewertungen gerichtet. Meist stützen sie den Wahrheitsanspruch von Tatsachenbehauptungen, die ihrerseits als scheinargumentative Stützung bewertender Konklusionen fungieren. Abschließend sollen einige in den Texten realisierte Strategien diskutiert und den festgestellten Phasen zugeordnet werden. (17) Prag und Warschau: Bonner Missionen und eine entspannungsfeindliche Bonner "Mission" Eiskalt wurde angeheizt Nun hat die DDR nachgegeben. Ich scheue mich nicht, dieses Wort zu verwenden. Weil es um Menschen geht und die politische Vernunft ein verantwortungsbewußtes Handeln gebietet. Warum erst jetzt? werden die einen fragen. Warum dieses Nachgeben? werden vielleicht andere die Abschiebung der ehemaligen DDR-Bürger kommentieren, die sich in der Nacht zum 1. Oktober mit Zügen der Deutschen Reichsbahn über das Territorium der DDR vollzog. Und wieder drängt es in diesem Moment, die Akzente der Diskussion auch auf das zu lenken, was wohl den einzelnen bewogen haben mag, sich in den BRD-Botschaften von Prag und Warschau in eine unwürdige Situation zu begeben, die DDR zu verraten und die Gesundheit der eigenen Kinder aufs Spiel zu setzen. (JW, 9.10.1989, S. 2)
27 A.a.O., S. 45.
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(18) Haben nicht viele von denen hier auch Eltern, Kollegen, erfahrene Freunde, die ihnen bei Tageslicht die Meinung geigen, dem einen oder anderen vermutlich auch ein paar hinter die Ohren geben würden, daß der Bengel abends gegen die DDR Randale machen will?! Wissen die hier wirklich noch nicht, daß bisher alle Angriffe gegen Kommunisten mit dem demagogischen Ruf nach "mehr Demokratie" begannen?! Ich kann nicht erkennen, wie es selbst naive Gemüter auch nur einen Schritt weiteibringen sollte, wenn ein randalierender Mob (und wer bremst dann, was als Schweigemarsch getarnt beginnt - siehe Dresden) wie am Sonnabend Straßenbahnen und Busse stoppt und sogar einen Krankenwagen mit einer hochschwangeren Frau?! (JW, 9.10.1989, S. 15) Die Textbeispiele (17) und (18) zeigen, wie höchst brisante innenpolitische Konflikte mit dem Ziel der Vorverurteilung der Flüchtlinge bzw. Demonstranten sprachlich emotional aufgeladen werden. Die Frage nach der Motivation der Botschafìsbesetzer wird genutzt, um deren Handeln per Intentionszuweisung (die DDR verraten) einerseits nach ihrem politischen Bewertungsaspekt, andererseits - und das sollte schwerer wiegen - nach ihrem Verstoß gegen Verhaltensnormen als Eltern (Gesundheit der Kinder aufs Spiel setzen) moralisch zu diskreditieren. Im Beispiel (18) wird mit der Anknüpfung an den Alltagsdiskurs im Bereich der Erziehung Jugendlicher {die Meinung geigen, eins hinter die Ohren geben, der Bengel) der Konflikt zunächst entpolitisiert und personalisiert. Eine solche Strategie bewirkt eine 'Verniedlichung', Verkürzung des Protestpotentials auf ein paar verführte Jugendliche, denen nur 'eine anständige Tracht Prügel' fehlt; auch dies ist eine Form der mit Sprache verfolgten Rechtfertigung staatlicher Gewalt, bei der die Machtorgane gewissermaßen dies für die Eltern erledigen. Daß es hier um grundsätzlichere Dinge geht als dumme Jungenstreiche, wird zwar erwähnt, aber gleichzeitig mit der Charakterisierung als demagogischer Ruf nach "mehr Demokratie" stigmatisiert. Der Deeskalation des Konfliktes steht hier die emotionale Überhöhung gegenüber. Das folgende Textbeispiel steht exemplarisch für die Phase III: (19) Wenn Erneuerungspolitik nicht dazu da ist, den Sozialismus abzuschaffen, so kann sie demzufolge nur dazu dienen, ihn zu stärken. Aber: Ein moderner Sozialismus ist ohne tiefgreifende demokratische Reform nicht vorstellbar, und Demokratie wiederum kann ohne Offenheit nicht funktionieren. Eine mächtige Bühne dafür sind die Medien, was nichts anderes beweist, als daß der Ruf nach benutzbarer Presse-
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freiheit keine Kampagne, sondern ein Wesenszug der Erneuerung sein muß und wird. Wer jetzt den Wunsch nach Offenheit unterstützt, um zur geeigneten Zeit allein Einsicht in die Erfordernisse der Zeit unter Beweis zu stellen, verkennt dieses Wesen. Es geht nicht um Einsicht, sondern um die Grundüberzeugung. Die Haltung dazu wird zunehmend ein Gradmesser dafür sein, wer die neue Politik unterstützt und wer nicht. (JW, 4./5.11.1989, S. 2) Der Bewertungsgegenstand Pressefreiheit - im Vorfeld der Demonstration vom 4. November ein Hochwertwort - wird durch die bipolare ideologisch bestimmte Bewertungsalternative 'für die Stärkung des Sozialismus - für seine Abschaffung' begrenzt auf alles pro-sozialistische. Schon die Benutzung der Leerformel Stärkung des Sozialismus weist den Text als Anknüpfimgsversuch des alten Parteidiskurses mit seinen Fahnen· oder Kennwörtern (wie auch Grundüberzeugung) an den Erneuerungsdiskurs der Wendezeit aus. Daß der Sozialismus anders sein soll, wird allgemein in den Epithetha modern, demokratisch, neu ausgedrückt. Veränderungen aber, die noch dazu aus dem Wunsch nach Offenheit von einzelnen verlangt werden könnten, würden eben an Grundüberzeugungen (sprich: Grundwerten des Parteidiskurses) zu messen sein. Dahinter verbirgt sich ein zweiter 'Grundwert' des Parteidiskurses: die Kollektivität. Alles Individuelle erscheint hier und noch in vielen anderen Texten als 'abweichend, schlecht, egoistisch' bewertet. Das zeigt auch der Beleg (5) aus eben diesem Kommentar, dem dann folgende Entgegnung folgt: (20) Dem begegnen wir am ehesten, indem wir statt des Monologs auch in den Medien den Dialog pflegen. Der verbreitete FT/r-Stil sozialistischer Presse wird hier in Abgrenzung zu den privaten Interessen einzelner zum werttragenden, weil als zugehörig zum Parteidiskurs identifizierenden Ausdruck. Für den Gebrauch des exklusiven wir in Abgrenzung zu sie (im Sinne von 'die anderen') lassen sich in vielen Texten Belege finden. Der folgende Auszug ist ein Beispiel für die in Phase IV beobachteten Veränderungen: (21) Dann gewissermaßen das Hauptgericht dieser Tagung, die Regierungserklärung des Ministerratsvorsitzenden Dr. Hans Modrow. Wir nehmen Sie beim Wort, Herr Premier! Mir scheint, dieser Mann könnte dieses Land mit einem guten Team aus der Krise führen. Mein erster Eindruck von der Regierungserklärung: ehrlich, sachlich, hoffnungsvoll.
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Auch und vor allem, weil es ein erstrittenes Ergebnis - das war ja in der anschließenden Aussprache deutlich zu vernehmen - einer Koalition der fünf Parteien war. Sprich, alle Parteien haben ihre Ingredenzien dazugetan, und das gab die rechte Mischimg. Gleiches läßt sich wohl auch vom Abspecken des Ministerrates von 44 auf 28 Ministerposten behaupten, bei dem die übrigen Parteien jetzt mehr Sitze als früher einnehmen. Weniger ist manchmal mehr statt: Viele Köche verderben den Brei. Volksweisheiten, die berücksichtigt wurden. (JW, 20.11.1989, S. 2) Auffällig ist die Vermeidung verschlissener ideologiebestimmter Lexik. Das Wort Sozialismus taucht im gesamten Text in keiner Variante auf. Modrow wird sprachlich als Repräsentant einer Regierung nach bürgerlich-parlamentarischem Zuschnitt (Premier, Koalitionsregierung etc.) ausgewiesen. Aber noch mehr: Die Übernahme der Terminologie der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie deutet den Bruch mit den alten Strukturen und der damit verbundenen Wertesysteme an. Der Satz Mir scheint, dieser Mann könnte dieses Land mit einem guten Team aus der Krise föhren ist in seiner
umgangssprachlichen Klarheit und Kürze gleichfalls neu und erfrischend. Die seit langem auch in der DDR zu beobachtende Verbreitung von Anglizismen erreicht jetzt den bis dahin in der Pressesprache streng festgelegten Gebrauch von Bezeichnungen für staatliche und politische Strukturen. In der Expressivität von Team in diesem Kontext liegt neben einer quasi Entweihung und Säkularisierung der Macht auch eine positive Bewertungsnuance begründet. Auch der Bezug auf Modrow mit dieser Mann oder gar KüchenchefModrow (als ein Element der den gesamten Text bestimmenden Allegorie vom 'Kochen') signalisiert einen bisher undenkbaren despektierlichen Umgang mit 'führenden Persönlichkeiten1, der mit dem Wissen um die alten Titel- und Funktionsreihungen bei jeder Erwähnung von Politikern hier zu einer Sympathie erweckenden Konnotation beiträgt. Verwiesen sei auch noch auf die Veränderungen im Bereich der positiv wertenden Adjektive, wie sie in der Gegenüberstellung der Belege (4') und (51) deutlich wird: (4')
Erfreulich für mich, welch starke Beachtung das fand, was Abgeordnete der FDJ-Fraktion in der Diskussion zu sagen hatten - Offenes, Kritisches, Konstruktives. (JW, 15.11.1989)
(5')
Mein erster Eindruck von der Regierungserklärung: ehrlich, sachlich, hoffnungsvoll. (JW, 20.11.1989)
Die substantivierten Formen in (4') kommen in dieser Formelhaftigkeit aus dem offiziellen Parteidiskurs, wo sie ständig zur Benennung der von der
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Partei selbst geforderten kritischen Atmosphäre gebraucht wurden und dadurch zusätzliche semantische Merkmale wie z.B. 'für die Partei ungefährlich / zulässig' erhielten. Dieses diskursiv angelagerte Bedeutungselement wird also nun in der Wendezeit zu einem Makel, der die Verwendung der Wörter in positiv bewertender Funktion trotz ihrer jeweils positiv bewertenden Semantik unmöglich macht. Das Beispiel (5') zeigt, wie nur eine Woche später eine ähnliche Bewertung unter Verwendimg von diskursneutraler Lexik ausgedrückt wird. Die im Laufe der Wende verlorengegangene Perspektive einer sozialistischen DDR neben der Bundesrepublik und die sich abzeichnende deutsche Einheit werden mit den in (22) und (23) verfolgten Strategien in Rechnung gestellt: (22) Leipziger Montags-Demo mit zweifelhafter Forderung Freiheit, die sie meinen Ich habe Angst. Diese Montags-Demo war zum Fürchten. Nicht etwa die Forderungen nach lückenloser Aufdeckung aller Ungesetzlichkeiten in diesem Land - dahinter stehe ich voll und ganz - , nein, ich habe Angst vor einer Zukunft, einer großdeutschen. Es fällt mir schwer, besonnen zu reagieren, wenn Zehntausende ihr "Deutschland einig Vaterland" skandieren. Also brüllte ich dagegen, "Kohlköpfe", "Rechte raus" und versuchte vergeblich, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Denn mein Vaterland heißt DDR. Und gemeinsam mit den Helden von Leipzig wollte ich eigentlich in diesem Land einen unabhängigen, antifaschistischen, demokratischen, einen wahrhaft sozialistischen Staat aufbauen.(JW, 6.12.1989, S. 2) Subjektives Empfinden wird mit dem Gefühl der Λ ngst beschrieben und damit zum Bewertungsaspekt einer Zukunftsvision, die unter Rückgriff auf das Dritte Reich eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten als unannehmbar erscheinen läßt, eine zu damaliger Zeit unter Linken oder Intellektuellen (vgl. Stefan Heyms Aufruf "Für unser Land") verbreitete Einstellung. Die Montagsdemos für die Einheit werden zum Anlaß der auch im Text sprachlich präsenten Radikalisierung politischer Lager in dieser Frage. Die Wertbasis eines abstrakten 'Sozialismus'-Begriffs wird spezifiziert unter den Bewertungsaspekten der Unabhängigkeit von der Bundesrepublik, der aus der alten DDR übernommenen Staatsdoktrin des Antifaschismus und einer neuen Demokratie. Das Konzept mein Vaterland DDR, jetzt von dem kollektiven Unser der Vor-Wende-Zeit und dem Adjektiv sozialistisch befreit, fungiert als letzter Versuch, die Menschen dieses Landes über ihr Heimatgefiihl für einen
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wahrhaft sozialistischen Weg zu gewinnen. Die modalisierende Rücknahme dieser Perspektive (wollte ich eigentlich) läßt angesichts der politischen Ereignisse im Dezember '89 das Illusionäre durchscheinen. Am Ende der politischen Entwicklung steht der Weg in die deutsche Einheit. Dies erkennend, legte der Realist Modrow - sehr zur Überraschung der Linken - am 1. Februar 1990 seine Konzeption "Für Deutschland, einig Vaterland" vor, die in der JUNGEN WELT SO kommentiert wurde: (23) Ist es dennoch eine Kehrtwendung? Möglicherweise für jene DDRBürger, die in ihrem Premier wenn schon nicht den Garanten, so doch eine wesentliche Hofihung für die Bewahrung der Eigenständigkeit ihres Staates zu sehen glaubten und damit die Erhaltung eines Mindestmaßes an sozialer Sicherheit. Diesem sicher nach wie vor bedeutenden Teil der DDR-Bevölkerung wird Modrow weitere Erklärungen dazu schuldig sein, da er dem Wie und nicht dem Wann der deutschen Einheit das Prä gegeben hat. Aber hatte denn Modrow, hatte die von ihm geführte Regierung oder hat die nächste tatsächlich eine ebenso glaubwürdige wie politisch tragfähige Alternative zur jetzt dargelegten Konzeption? Die Zeichen der Zeit sprechen eher dagegen. Gemessen an ihren bisherigen politischen Erklärungen jedenfalls dürften die gegenwärtig einflußreichsten Parteien der politischen DDR-Landschaft keine fundamentalen Einwände erheben. Aber da ist ja noch der Wahlkampf ... Sei es wie es sei - Modrow hat vor seinem Treffen mit Kohl das Heft des politischen Handelns ergriffen, und es macht wohl Sinn, seine Konzeption eher als Anfang denn als Ende einer DDR-Regierungspolitik zu begreifen. Daran allerdings muß er sich künftig messen lassen. (JW, 2.2.1990, S. 1) Text (23) kommentiert den Modrow-Plan je nach zugrunde gelegter Wertbasis einerseits als Kehrtwendung und damit eher negativ, andererseits als Ergebnis von Modrows SinnförRealitäten, was eine eher positive Bewertung ausdrückt. Im Fall der Kehrtwendung steht nicht mehr der abstrakte 'Sozialismus'Begriff fur die (ideologische) Wertbasis, sondern das aus dem Vergleich zur Bundesrepublik für alle Menschen tatsächlich als Wert erkennbare Mindestmaß an sozialer Sicherheit und die Eigenständigkeit ihres Staates, wie immer
der auch aussehen mag. Daß letzteres vom Kommentator als für die Leser relevanter Bewertungsaspekt angenommen wird, ist sicherlich ein Resultat der nach der Maueröffitung verbreitet erfahrenen Minderwertigkeit gegenüber den als selbstbewußt und souverän, bisweilen eben auch überheblich auftretenden Westdeutschen (politisches Wunschdenken als Trostpflaster für ein
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angeschlagenes Selbstwertgefuhl). Bei der zweiten Bewertung sind es die aktuellen politischen Ereignisse, metaphorisch gefaßt in den Zeichen der Zeit, die gegen eine Zweistaatlichkeit auf Dauer sprechen und die daher als Bewertungsaspekt herangezogen werden können. Interessant ist, daß Modrows Konzeption hier konsequenterweise (wenn auch eher vorsichtig) kritisiert wird, jedoch mit Blick auf die gegenwärtig einflußreichsten Parteien der politischen DDR-Landschaft als zustimmungsfähig eingeschätzt wird. Implizit wird dann aber doch die Bewertung als Kehrtwendung favorisiert, wenn der Modrow-Plan eher als Anfang denn als Ende einer DDR-Regierungspolitik bezeichnet wird und Modrow sich am Erfolg einer eigenständigen DDR-Politik künftig messen lassen mufi. Die Ambivalenz in dieser abschließenden, sehr unpersönlich gehaltenen Bewertung läßt auf das Dilemma einer linken Tageszeitung in der Beurteilung der Lage zu diesem Zeitpunkt schließen. Die nahezu völlige Umkehrung der in der Kommentierung bestimmenden Bewertungsmaßstäbe macht das letzte Beispiel deutlich. In einem Kommentar zum damaligen außerordentlichen Gewerkschaftskongreß des FDGB heißt es: (24) Einig waren sich alle Delegierten, die sozialen Sicherheiten zu verteidigen und sogar wesentlich auszubauen (weniger Arbeitszeit, mehr Lohn) sowie natürlich die Früchte des marktwirtschaftlichen Aufschwungs in der Zukunft zu genießen. (JW, 3./4.2.1990,S. 2) Es werden erstmals die Vorzüge der ehemals gegnerischen Seite (die Früchte des marktwirtschaftlichen Aufschwungs in der Zukunft genießen) direkt mit dem vermeintlich letzten noch gebliebenen Wert der DDR-Gesellschaft (die soziale Sicherheit) verknüpft. Dadurch wird (wenn nicht ironisch verstanden) die Sicht auf Realitäten erneut verdeckt bzw. durch eine Zukunftsvision ersetzt. Daß diese Einschätzung wiederum den tatsächlichen Meinungen (oder Illusionen) der Mehrheit der DDR-Bürger sehr nahe kam, sollten erst die Wahlen zur neuen Volkskammer am 18. März 1990 belegen.
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Bewertungen in literarischen Zeitungsrezensionen REGINE WEBER-KNAPP
Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, ausgehend von einem rekonstruierten kognitiven Textschema, Bewertungen in Rezensionstexten hinsichtlich ihrer Funktion und ihrem Stellenwert innerhalb des Text- und Diskurszusammenhanges zu spezifizieren und differenzieren. Primär geht es dabei um die Frage, ob für Rezensionen ein obligatorisches bewertendes Schemaelement nachzuweisen ist und welche Bedeutung Bewertungen darüber hinaus im Textganzen haben. Dabei sollen erste Ergebnisse zum Erwerb des Textmusterwissens berücksichtigt werden.
1. Vorüberlegungen Den noch immer nicht sehr zahlreichen linguistischen Untersuchungen der Textsorte zufolge sind BEWERTEN und INFORMIEREN als die konstitutiven Basissprachhandlungen in Rezensionstexten anzusehen. Analysen der Handlungssequenzen ergaben Abfolgen von bewertenden und informierenden Sprachhandlungen (vgl. u.a. Zhong 1991, Klauser 1992) bzw. von Bewertungshandlungen und stützenden Feststellungshandlungen (vgl. Pätzold 1985, 146). BEWERTEN scheint zudem (als Haupt- oder Nebenhandlung) nahezu an jeder Stelle im Rezensionstext möglich zu sein (vgl. Zhong 1991, Klauser 1992, Pätzold 1985 u. Dallmann 1979). Versuche einer Klassifizierung von Textsorten nach dominierenden Textfunktionen sehen Rezensionen als Realisierungen der Informationsfunktion (Brinker 31992) bzw. einer publizistischen Meinungsbildungsfunktion (Lüger 1983). Von Radecker (1985) wird die Textsorte "Rezension' dementsprechend - analog zu Brinker - zur Klasse der informierenden Texte gezählt, während Dallmann (1979, 66) Rezensionen als erörternde Darstellungsart begreift, worin sie mit Jokubeit (1979, Textart', 1981 Textsorte des Erörterns') übereinstimmt. Pätzold (1985, 118) hingegen faßt Rezensionen als Bewertungstexte (vgl. auch Stürmer /Oberhauser /Heibig /Sandig Ms. 1992).
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Regine Weber-Knapp
Analog zu diesen widersprüchlichen Klassifizierungen scheinen Rezensionen relativ beliebige Abfolgen von (unterschiedlichen) Bewertungs- und Informationshandlungen zu sein, die keinem strengen textsortenspezifischen Muster folgen. In ihrer Handlungsstruktur unterschieden sich Rezensionen damit nicht oder kaum von ähnlichen Textsorten (z.B. Kommentare, Klappentexte, Verlagsankündigungen...). Dem widerspricht die nachweisbare Kompetenz potentieller Leserinnen dieser Textsorte, Rezensionen als solche zu erkennen, sie von ähnlichen Texten zu unterscheiden und sie nach dem Grad ihres Gelingens zu beurteilen. Aus diesen Überlegungen ergibt sich m.E. die Frage: Was spezifiziert die allgemeinen Basissprachhandlungen INFORMIEREN und BEWERTEN in der Textsorte "Rezension'? Für unseren Zusammenhang wäre die Frage noch folgendermaßen zu präzisieren: Was spezifiziert Bewertungshandlungen und Sprachhandlungen mit bewertendem Anteil in Rezensionen? Ausgehend von einem aus dem Diskurszusammenhang und der Institutionsgebundenheit der Textsorte abgeleiteten Rezensionsschema, das als kognitive Repräsentation des textsortenspezifischen Textmusterwissens von Produzenten und Rezipienten dieser Textsorte verstanden wird, wird der Versuch unternommen, BEWERTUNGEN in Rezensionen nach ihrer Funktion und ihrem Stellenwert im Text- und diskursiven Handlungszusammenhang zu differenzieren. Daraus resultiert eine Betrachtung des BEWERTENs aus einer Art 'Makrosicht' (d.h. propositionsübergreifend bis hin zum Text als Beschreibungseinheit), wie sie in einem Papier zum Saaibrücker STIMULProjekt von Stürmer/Obershauser/Heibig/Sandig (Ms. 1992) als Ergänzung ihrer bisherigen Arbeit aus Tvlikrosicht' für notwendig gehalten wird. Terminologie und Beschreibungsansatz zum BEWERTEN folgen Sandig u.a. (vgl. Herbig u.a. 1991 und Stürmer u.a. Ms. 1992).
2. Das Textschema 'Rezension' Ausgehend von kommunikativen Funktionen innerhalb des diskursiven Zusammenhangs und den institutionellen und massenmedialen Besonderheiten der Textsorte "Rezension* wurde zunächst deduktiv ein Texthandlungsmuster, das im folgenden "Textschema" genannt wird, abgeleitet, welches wesentliche Teilhandlungen miteinander relationiert (vgl. u.a. Sandig 1987 u. Antos 1987). Im Rahmen dieses Beitrags können das Textschema "Rezension' und dessen Herleitung nicht ausführlicher behandelt werden. In unserem Zusammenhang mag es deshalb genügen, die wesentlichen Schemaelemente auf der höchsten
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(d.h. allgemeinsten und abstraktesten) Stufe innerhalb der hierarchischen Texthandlungsstruktur zu benennen. Aufgrund des diskursiven Zusammenhangs (d.h. der Einbettung der Textsorte in einen größeren gesellschaftlichen Handlungszusammenhang 'literarischer Diskurs1) und daraus abgeleiteten spezifischen Funktionen der Textsorte sind m.E. folgende vier Teilhandlungen konventionell erwartbar: 1. Zum einen eine Voraussetzungsteilhandlung, die vorläufig einmal INFORMIEREN genannt werden soll. Der Leser/die Leserin muß zunächst vom Rezensenten über das ihm/ihr i.d.R. imbekannte literarische Werk (und dessen Umfeld) informiert werden. Der Rezensionsgegenstand muß - im Unterschied etwa zu Kommentaren - zumindest ansatzweise vermittelt werden, da es sich i.dJR. um Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt handelt und es nicht möglich ist, an in anderen Texten vermittelte Informationen anzuknüpfen bzw. diese beim Leser/bei der Leserin vorauszusetzen. 2. Eine wesentliche Teilhandlung, die versuchsweise ERÖRTERN genannt wird. Wesentliche Aspekte des Rezensionsgegenstandes müssen vom Rezensenten erörtert werden. Es werden hierbei einige Aspekte aus dem Gegenstandsframe (z.B. 'Roman') ausgewählt, die dem Rezensenten relevant erscheinen. Auf diese Aspekte wird innerhalb dieser Teilhandlung Bezug genommen. 3. Eine weitere wesentliche Teilhandlung stellt EINSTUFEN dar. Der Rezensionsgegenstand als ganzer wird hinsichtlich seines künstlerischen Wertes für den Leser eingestuft, d.h. aus einer Skala, 'lesenswert - nicht lesenswert' / 'wertvoll - nicht wertvoll' bzw. 'wichtig - unwichtig' positioniert. 4. Ferner ist m.E. eine operative Zusatzhandlung AKTIVIEREN anzusetzen, die primär aus der institutionellen und massenmedialen Einbettung der Textsorte resultiert. Der Leser muß aktiviert werden (und zwar zunächst erst einmal, damit er den Rezensionstext zur Kenntnis nimmt und ihn bis zum Ende liest). Alle vier Teilhandlungen auf höchster Hierarchiestufe sind m.E. für Rezensionen obligatorisch, sie werden auch von potentiellen Leserinnen konventionell erwartet, und das Wissen um sie steuert mit hoher Wahrscheinlichkeit in irgendeiner Form auch deren Rezeption. Diese vier Teilhandlungen sind - so die These - die konstitutiven Komponenten des kognitiven Texthandlungsmusters, des Textschemas.
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Auf einer nächsten Ebene innerhalb der Texthandlungshierarchie wären nun fakultative und obligatorische Teilhandlungen dieser vier Basis-Teilhandlungen anzugeben. Auf der untersten Ebene wären schließlich sprachliche Mittel zu erfassen, die fur die Realisation einzelner Teilhandlungen besonders charakteristisch sind (vgl. die Modellierung eines Textmusters bei Sandig 1987). Für unseren Bewertungs-Zusammenhang reicht es nun aus festzuhalten, daß es sich bereits bei einer deduktiven Ableitung des angenommenen Textschemas relativ plausibel machen läßt, daß innerhalb des Schemas ein obligatorisches bewertendes Element existiert und dieses - aus Gründen einer allgemeinen Handlungslogik - in einer (prototypischen) Handlungssequenz relativ weit hinten stehen müßte.
3. Schemaelemente und BEWERTUNGEN Im Anschluß an die Rekonstruktion des Textschemas, die zunächst den Status einer Arbeitshypothese hat, wird von mir derzeit versucht, die Existenz dieses kognitiven Schemas empirisch einzuholen und zu belegen. Neben Profirezensionen (primär aus überregionalen Zeitungen) und studentischen Rezensionen werden auch Schülerrezensionen aus vier verschiedenen Altersstufen (6., 8., 10. u. 12. Klasse eines Gymnasiums) analysiert. Voraussetzung ist hierbei, daß es sich bei Texthandlungsmustern um intersubjektiv verfügbare Schemata handelt, die sich historisch für bestimmte relevante kommunikative Aufgaben und Zwecke in unserer Gesellschaft entwickelt haben, in der Sozialisation erworben werden und sowohl in die Produktion als auch in die Rezeption von Texten einer bestimmten Textsorte eingehen. Auch anhand von Texten potentieller Leserinnen müßten demzufolge das Schema und dessen konstitutive Elemente rekonstruierbar sein. Letztere müßten sogar - so die Erwartung - in Laien-Texten leichter identifizierbar sein als in den routinierten und z.T. sehr elaborierten Profitexten. Erste Ergebnisse aus den bisherigen Analysen möchte ich - sofern sie für die Ausgangsfrage nach dem Status von Bewertungen in Rezensionen relevant erscheinen - im folgenden kurz referieren. Besonders interessant sind m.E. in diesem Zusammenhang die Schülerrezensionen, da sich an ihnen die allmähliche Ausdifferenzierung des kognitiven Schemas ansatzweise verfolgen läßt, das sich z.T. auch in für die jeweilige Altersstufe charakteristischen sprachlichen Formen bzw. Formeln manifestiert.
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3.1 Das Schemaelement EINSTUFEN1 und seine Realisation Die Teilhandlung EINSTUFEN wird in nahezu allen bisher analysierten Rezensionstexten zumindest ansatzweise realisiert. Innerhalb dieser Teilhandlung dominieren bewertende Sprachhandlungstypen im engeren Sinne (vgl. Zhong 1991, 61f.) wie etwa LOBEN und KRITISIEREN, die besonders in den Schülerrezensionen häufig mit an den Leser appellierenden Sprachhandlungen (z.B. RATEN, ABRATEN, EMPFEHLEN) als fakultative Teilhandlungen verknüpft werden. In dem einstufenden Teiltext (als Handlungsergebnis), der nahezu in allen Fällen zugleich das Textende darstellt, wird i.d.R. ein abschließendes Einstufiingsergebnis formuliert, oder mehrere Einstufungsergebnisse werden im Hinblick auf eine Hierarchie der Bewertungsaspekte untereinander gewichtet, und es wird ein abschließendes Gesamturteil gefällt. In beiden Fällen kann man m.E. von "zusammenfassenden" bzw. schlußfolgernden BEWERTUNGEN im Sinne von Sandig (MS 1993, 19) sprechen. Dies setzt voraus, daß im vorangegangenen Text, d.h. innerhalb der anderen Teilhandlungen bereits einzelne Bewertungsaspekte angesprochen und zumindest implizite Einstuiungsergebnisse formuliert worden sind. Auch in den Schülertexten läßt sich dies relativ früh nachweisen. In einem Text aus der 8. Klasse beispielsweise findet sich nach einem deutlichen Absatz als letzter Textteil: "Ich finde das Buch ganz gut, nur am Anfang und Ende ist es etwas unverständlich." (8. Klasse) Der erste Teil des Satzes mit der gradierten Bewertung "ganz gut" erscheint zunächst lediglich als subjektives Geschmacksurteil, das nicht weiter diskursfahig ist, da unklar bleibt, aufgrund welcher Kriterien bzw. Aspekte der Schüler/in zu dieser abschließenden relativ positiven Bewertung gelangt ist. Wohl aber wird m.E. deutlich, aufgrund welcher Einstufung eines einzelnen Bewertungsaspektes die Gradierung des Gesamturteils zustande gekommen ist. Bewertungsaspekt war 'Verständlichkeit' und der Schüler/in stuft Teile des Romans ("Anfang und Ende") auf der Skala sehr verständlich - völlig unverständlich ein. Das explizit im zweiten Teil der Äußerung gleichsam als Begründung angeführte Einstufiingsergebnis lautet: "etwas unverständlich". Etwas unklar bleibt noch, wenn man die zitierte Äußerung isoliert betrachtet, was nun genau als "etwas unverständlich" eingestuft wird. Deutlicher wird dies jedoch, wenn man den ersten Teiltext der Rezension mit hinzunimmt, der m.E. bereits ansatzweise und sehr rudimentär die als obligatorisch angenommene Zusatzhandlung AKTIVIEREN zu realisieren sucht.
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Hier können wir lesen: "Am Anfang ist das Geschehen (Erzähler, Erzählung) ziemlich wirr. Man hat keinen Durchblick, wer von wem etwas erzählt bekommt und einige Wörter sind schwer zu verstehen." Der Bewertungsaspekt 'Verständlichkeit der Handlungsführung und der sprachlichen Gestaltung' wurde bereits implizit angesprochen und das Einstufungsergebnis so ausführlich formuliert, daß es vom jugendlichen Schreiber/in am Ende verkürzt wieder aufgegriffen werden kann. Bereits der jugendliche Rezensent/in aus der 8. Klasse versucht, die für Rezensionen offensichtlich wesentliche Teilhandlung EINSTUFEN durch eine für diese Textart typische zusammenfassende bzw. schlußfolgernde Bewertungshandlung zu vollziehen. Damit geht er bereits über das unvermittelte und nicht diskursfähige Geschmacksurteil vom Typ "Mir gefällt..." bzw. "Ich finde..." hinaus, das in der 6. Klasse noch der Regelfall ist. Der Beispielstext ist zudem kein Ausnahmefall. Überraschenderweise läßt sich bereits relativ früh (d.h. schon ansatzweise ab der 8. Klasse) in den Schülertexten eine Vorform des angenommenen Textschemas rekonstruieren, die häufig schon drei der obligatorischen Schemaelemente enthält. Die mir vorliegenden Texte legen nahe, bereits ab der 8. Klasse bei vielen Schülerinnen ein gewisses Texthandlungsmusterwissen (natürlich noch sehr vorläufig und rudimentär) anzunehmen, das in seinem Entwicklungsstand vermutlich noch über das für die Rezensionsproduktion ebenso erforderliche Wissen um den Gegenstandsframe, das Bewertungswissen, das Wissen um die Möglichkeiten der Textorganisation und die damit verbundene sprachliche und stilistische Kompetenz in dieser Altersstufe hinausgeht. Erste Textanalysen und die Textform Erörterung' stehen - zumindest an dieser Schule - erst Ende 9. / Anfang 10. Schuljahr auf dem Lehrplan, was m.E. auch das nahezu vollständige Fehlen des Schemaelements ERÖRTERN in dieser Altersstufe mit zu erklären vermag. Häufig leiten Schülerinnen in ihren Rezensionsversuchen Teiltexte explizit mit bestimmten Formeln ein. Mit bzw. nach dieser Einleitung beginnt i.d.R. immer eine neue Teilhandlung, d.h. sie haben offensichtlich textorganisierende Funktion. Die Teilhandlung INFORMIEREN, die anfangs sehr deutlich dominiert, wird beispielsweise eingeleitet mit: "Und nun ein kleiner Einblick in die Geschichte...", "In diesem Buch wird die Geschichte...erzählt." (8. Klasse); "In dem Buch wird die Geschichte...beschrieben...", "Es geht um..." und als Abschluß des
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Teiltextes: "So, nun wißt ihr ungefähr, worum es in dem Buch geht." (10. Klasse); "Die Autorin beschreibt...", "In diesem Buch geht es hauptsächlich um...", "Das Buch handelt von..." (12. Klasse). Die bewertende Teilhandlung EINSTUFEN beginnt mit Formulierungen wie: "Mein Kommentar: Ich finde das Buch...", "Aber alles in allem...", "Insgesamt..." (8. Klasse); "X (=Titel) ist eine Lektüre, die...", "Also, wie gesagt: das Buch ist..." (10. Klasse); "Im großen und ganzen würde ich sagen, daß die Lektüre dieses Buches...", "Alles in allem ist das Buch..." (12. Klasse). Solche und ähnliche Formeln sind für die jeweilige Altersstufe charakteristische sprachliche Mittel für die Einleitung einzelner Musterpositionen, in denen die spezifische Funktion und Qualität der jeweiligen Teilhandlung unmittelbar greifbar wird. Diese Formeln verschwinden im Verlauf der institutionsspezifischen Ausdifferenzierung des Textschemas zunehmend. In studentischen Rezensionen haben - wie auch in Profitexten - lediglich noch Lexeme Indikatorfunktion, die auf den Rezensionsgegenstand als ganzen, d.h. auf das jeweilige literarische Werk oder (stellvertretend) auf dessen Autor referieren: "Ein wages Unterfangen", "X (=Autor) macht...", "X hat in seinem Roman...", "Der Autor...", "Y (=Titel des Buches) ist...", "... das schmale Buch..." oder "Die Geschichte..." (studentische Rezensionen). Die bisherigen Untersuchungsergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: EINSTUFEN erweist sich in den analysierten Texten als obligatorische bewertende Teilhandlung, in der 'zusammenfassende' bzw. schlußfolgernde Bewertungshandlungen dominieren (ja u.U. gar ebenfalls obligatorisch zu nennen sind), die häufig mit expliziten oder impliziten Leser-Appellen als fakultive Teilhandlung des EINSTUFENs verknüpft werden. In der Handlungssequenz erscheint diese Teilhandlung i.d.R. in Endposition. Eine Vorform des EINSTUFENs ist in der Genese des Texthandlungsmusterwissens relativ früh nachweisbar. Anfangs steht sie als zweite "BasisTeilhandlung' nach dem quantitativ dominierenden und nahezu völlig wertfreien INFORMIEREN. Sofern in dieser frühen Entwicklungsphase schon einzelne Bewertungsaspekte Eingang finden, so geschieht dies meist noch innerhalb der Teilhandlung EINSTUFEN.
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Erst etwas später tauchen sie vereinzelt, wie etwa in dem bereits angesprochenen Beispieltext aus der 8. Klasse, in einer Vorform der Teilhandlimg AKTIVIEREN auf. Dies ändert sich, wenn die Teilhandlung ERÖRTERN als Schemaelement hinzukommt. Dann werden i.d.R. innerhalb des EENSTUFENs nur noch vorangegangene Einstufungsergebnisse in schlußfolgernden Bewertungshandlungen zu einem Gesamturteil kondensiert. Dieses scheint den jugendlichen Schreibern zunehmend erst diskursfähig und damit der Textsorte angemessen zu sein, wenn es auf relevante und konventionalisierte Bewertungsaspekte des sich entwickelnden Gegenstandsframes rekurriert und aus dem bisherigen Text ableitbar ist.
3.2 BEWERTUNGEN innerhalb der Schemaelemente ERÖRTERN' und 'AKTIVEREN· Bereits aus dem zuvor Gesagten geht hervor, daß BEWERTUNGEN auch Eingang in die Realisation des Schemaelements ERÖRTERN finden, dessen zentrale Funktion bzw. spezifische Leistung jedoch m.E. nicht im Bewerten zu sehen ist, so daß es sich hierbei auch nicht um ein bewertendes Schemaelement wie EINSTUFEN handelt. Wohl aber gehören m.E. bewertende Sprachhandlungen zu den alternativen Teilhandlungen des ERÖRTERNs. Es scheint sogar für die Durchführung von BEWERTEN innerhalb des Textmusters eine Präferenz zu geben (vgl. Sandig 1987, 128ff.). Dies ist keineswegs überraschend, da innerhalb des ERÖRTERNs wesentliche Aspekte des Rezensionsgegenstandes modal behandelt werden müssen, die bewertungsrelevant sind. Sehr häufig werden deshalb explizit oder implizit erste Einstufungsergebnisse im Hinblick auf einzelne Bewertungsaspekte formuliert. Sie stehen entweder am Anfang einzelner Abschnitte und haben den Status von Behauptungen / von Thesen, die i.d.R_ durch nachfolgende interpretierende und argumentierende Sprachhandlungen gestützt werden, oder sie erscheinen als Fazit am Ende solcher erörternden Teiltexte. Besonders von der ersten Variante machen die Schülerinnen ab der 10. Klasse schon recht häufig Gebrauch, was sich auch in spezifischen sprachlichen Strukturen niederschlägt. In einer Rezension aus der 10. Klasse beginnt der/die Schreiber/in mit: "In dieser Lektüre drückt Keller seine ganze Einstellung zu dieser Art Lebensstil aus. Mit Ironie schafft er drei Charaktere." Diese These wird im folgenden gestützt mit:
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"Zum einen..., dann... und außerdem..." Der/die Schreiber/in fährt fort mit einer These zu einem anderen Aspekt des Buches: "Das Buch ist eine traurige Liebesgeschichte, in der die 'eigentliche' Liebe gar keine Rolle spielt." Die nachfolgende Begründung wird mit "denn..." eingeleitet. Typisch ist in dieser Altersstufe auch, daß explizit Beispiele angegeben werden. Auch in der 12. Klasse sind ähnliche Strukturen noch häufig. Abschließend noch ein Beispiel aus dieser Altersstufe: "X (=Autor) gelingt es gut, den Leser ... denn ... so wird der Leser ... sehr ausfuhrlich sind ... da gewinnt man erst die Vorstellung ..." (12. Klasse). Bewertungsstützende Sprachhandlungen (vgl. Zhong 1991) scheinen (in Kontext von Bewertungshandlungen im engeren Sinne) fiir die jugendlichen Schreiber innerhalb dieser Teilhandlung obligatorisch zu sein. Auch innerhalb der Realisation des Schemaelements AKTIVIEREN, dessen zentrale Funktion im Orientieren und Interessieren der potentiellen Rezensionsleser besteht, treten nicht selten Bewertungshandlungen auf. Es handelt sich hierbei m.E. jedoch eindeutig um funktionale Teilhandlungen des AKTIVIERENS, die den Textproduzenten als Handlungsalternativen innerhalb des Textmusters für die Durchführung zur Verfügung stehen. Da in diesen Bewertungshandlungen z.T. sogar schon ein (wenn auch verkürztes) Gesamturteil formuliert wird, wäre u.U. zu vermuten, daß die Teilhandlung EINSTUFEN innerhalb der Handlungssequenz lediglich vorgezogen wird, so daß möglicherweise gar zwei unterschiedliche Prototypen für Rezensionen anzusetzen wären: die Typen "Urteilsbegründung" und "Urteilsfindung" (vgl. Hinck 1986). Dem widerspricht, daß nahezu alle Rezensionen, die mit einem Gesamturteil beginnen, dennoch am Ende - wenn auch z.T. relativ kurz - das Schemaelement EINSTUFEN realisieren. Das Gesamturteil scheint lediglich zum Zweck der Lesermotivierung aus "textorganisatorischen", "textdramaturgischen" Gründen vorwegnehmbar zu sein, ohne jedoch das obligatorische EINSTUFEN in Endposition ersetzen zu können. Vereinzelt wird in Rezensionstexten sogar explizit gemacht, daß etwas, was eigentlich weiter hinten im Text stehen müßte, vorweggenommen wird:
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"Um es gleich vorwegzunehmen: ... ist ein rares Meisterstück zeitgenössischer Prosa ..." (Scheller-Rezension, 20.03.1987, Rhein. Merkur). In den Schülerrezensionen werden diese vorweggenommenen Bewertungen als Durchführungsalternative der Teilhandlung AKTIVIEREN1 - selten und auch erst relativ spät (meist erst ab 12. Klasse) genutzt. "X ... zieht den Leser vom ersten Satz an in den Bann dieser spannenden Lektüre" (12. Klasse). Auch hier folgt ein diskursfähiges und differenziertes Urteil am Textende. Eine in studentischen - wie auch Profirezensionen - häufig anzutreffende Realisation des AKTIVIERENS besteht in der z.T. stark wertenden Formulierung einer Erwartungshaltung aus Leser-Perspektive. Ein gutes Beispiel findet sich in einer studentischen Rezension: "Fast fühlt man sich an Kafkas 'Verwandlung' erinnert, mit einer solchen Dynamik des Sensationellen überrumpelt uns der Anfangssatz der Erzählung und macht neugierig auf das, was da kommen wird. Von einem Ereignis ist die Rede, das die Existenz eines Menschen aus den Angeln hebt; genüßlich lehnt man sich im Sessel zurück, ein spannender Leseabend scheint bevorzustehen." (student. Rezension) Sowohl im Fall des ERÖRTERNs wie auch in jenem des AKTIVIERENs lassen sich m.E. bewertende Sprachhandlungen als funktionale Teilhandlung jeweils des übergeordneten Schemaelements fassen und in ihrer spezifischen Leistung innerhalb des Textganzen und der konventionalisierten Funktionen der Textsorte beschreiben.
1 Wie bereits bei der Kurzcharakterisierung des AKTI VIERENs zu Beginn dieses Beitrags dargelegt, scheint diese operative Zusatzhandlung primär aus der institutionellen und massenmedialen Einbettung der Textsorte zu resultieren. Allgemeinere Prinzipien der adressatenbezogenen Textorganisationen kommen in diesem Zusammenhang ganz offensichtlich zum Tragen, so daß sich die Frage stellt, ob es sich bei AKTIVIEREN um ein textsortenspezifisches Schemaelement handelt oder ob nicht vielmehr lediglich von allgemeinen teiltextübergreifenden Prinzipien der Textorganisation auszugehen ist, die es nahelegen, AKTIVIEREN als (textsortenspezifisches) Schemaelement aufzugeben. Da in den bisher analysierten Profi- und studentischen Texten (z.T. bereits auch in Schalertexten der 12. Klasse) i.d.R. eine aktivierende Teilhandlung (neben teiltextübergreifenden Prinzipien des Adressatenbezugs, der Imagepflege und sonstigen stilistischen und rhetorischen Mitteln) innerhalb der Handlungssequenz lokalisieibar ist, erscheint es mir sinnvoll, die operative Zusatzhandlung AKTIVIEREN zunächst als Schemaelement beizubehalten und die Frage nach der Textsortenspezifik noch offenzulassen.
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Damit sind jedoch, wie beispielsweise der zuvor ausschnittweise zitierte studentische Text unschwer erkennen läßt, keineswegs alle Wertungen in Rezensionen eifaßt. Weitungen finden sich etwa auch innerhalb der Teilhandlung INFORMIEREN: "... die Geschichte kommt nur zäh, wie abkühlende Vulkanlava voran", und "das pedantisch geordnete Leben der Hauptfigur eskaliert in einer Phobie" usw. (student. Text). Ähnliche lexikalische, phraseologische und auch syntaktische Mittel des Bewertens sind prinzipiell überall in Rezensionstexten zu finden, ohne daß sie wie die zuvor behandelten BEWERTUNGEN funktional an die obligatorischen Teilhandlungen der Textsorte (an das Textschema) rückzubinden wären. In diesen Wertungen werden z.T. nicht weiter diskursfähige Einstellungen des Rezensenten zum Ausdruck gebracht, oder aber sie zeugen von dem Bemühen des Schreibers, besonders originell, besonders unterhaltsam usw. zu schreiben. Weitungen dieser Art scheinen nicht an ein besonderes Textmuster gebunden, sondern vielmehr textsortenübergreifende stilistische und rhetorische Möglichkeiten adressatenbezogener Textgestaltung zu sein. Solche Weitungen treten auch in den Schülerrezensionen erst sehr spät und auch dann nur sehr vereinzelt auf. Diese Texte wirken sehr viel "nüchterner" als jene der Studenten und Profi-Rezensenten, obwohl sie z.T. bereits das Textschema vollständig realisieren.
4. Zusammenfassung Das Texthandlungsmuster von Rezensionen beinhaltet im Unterschied zu anderen Textsorten ein bewertendes obligatorisches Schemaelement. BEWERTEN ist zudem eine funktional gebundene Teilhandlungsalternative des ERÖRTERNs und AKTIVIERENs, ohne daß es sich bei letzteren damit um bewertende Schemaelemente handelte. Bewertungshandlungen lassen sich anhand des Textschemas spezifizieren und differenzieren. Darüber hinaus ist in Rezensionen eine Art "freies Bewerten"2 festzustellen, das nicht an das Textschema rückzubinden ist. Es gehört m.E. in den Bereich der Stilistik und Rhetorik persuasiver Texte allgemein.
2 Vgl. den Beitrag von Hans Ramge im gleichen Band. "Freie Bewertungen' werden von Rarage versuchsweise als "sekundäre" bzw. "textstrukturelle" Bewertungen gefaßt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht an ein textsortenspezifisches Muster- bzw. Schemawissen rückzubinden sind.
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Historische Analysen
Räsonnement und Schulrhetorik im öffentlichen Diskurs. Zum Zeitungsdeutsch vor der Märzrevolution 1848 ULRICH PÜSCHEL
0. Vorbemerkung Als gegen Mitte des 19. Jahrhunderts das Räsonnement in die deutsche Zeitung kam (vgl. Püschel 1991a), brauchten die Zeitungsschreiber ein sprachliches Handwerkszeug, um diese neue kommunikative Aufgabe zu bewältigen. Sie waren also mit einem Problem konfrontiert, das sich immer wieder stellt, wenn neue Massenmedien entstehen, aber auch wenn ein Massenmedium in ein neues Entwicklungsstadium eintritt. Dieses Problem wird häufig gelöst, indem Textmuster aus anderen kommunikativen Bereichen übernommen werden (vgl. Steger 1984, 199); in unserem Fall griff man auf das Redeschema der Schulrhetorik zurück. Doch bei einer reinen Übernahme bleibt es in der Regel nicht, sondern es findet eine medienspezifische Anpassung und Fortentwicklung statt.1 Deshalb stellt sich die Frage, wie die Zeitungsschreiber damals mit den schulrhetorischen Mitteln umgingen. Dieser Frage möchte ich in zwei Punkten nachgehen: Der erste Punkt betrifft die Textmuster, deren sich die räsonierenden Schreiber bedienten; der zweite Punkt betrifft die Stilmuster, die für diese Texte typisch sind. Das Material stammt aus der TRIER'SCHEN ZEITUNG, die als liberales und dann sozialistisches Blatt in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle im politischen Kampf spielte (vgl. Dowe 1972). Bevor ich jedoch auf diese Punkte eingehe, werde ich ganz kurz etwas über die Stellung sagen, die die Rhetorik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte, und außerdem etwas über die Entwicklung der Zeitungskommunikation im Vormärz.
1 Vgl. Paschel 1992, wo die Übernahme von Nachrichten-Textsorten aus der Zeitung ins Fernsehen und ihre fernsehspezifische Fortentwicklung untersucht wird.
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1. Die Stellung der Rhetorik im 19. Jahrhundert In seinen Ausführungen zur Schulrhetorik im Deutschland des 19. Jahrhunderts trifft Dieter Breuer die gewiß zugespitzte Feststellung, daß man das 19. Jahrhundert als ein rhetorisches bezeichnen dürfe (Breuer 1974, 150). Dies steht im Widerspruch zu der noch immer weitverbreiteten Ansicht, die rhetorische Tradition habe in Deutschland im 18. Jahrhundert einen absoluten Niedergang erfahren und sei dementsprechend auch abgerissen. Genährt werden solche Meinungen durch die Invektiven eines Kant, der von den "Maschinen der Überredung", vom "Überlisten" und "Überschleichen" sprach, oder eines Goethe, der der Rhetorik ihre "Verstellungs'-Technik vorhielt (Jens 1977, 433), vor allem aber auch durch die Ablösung der rhetorischen Poetik durch eine neue Kunsttheorie, in der an die Stelle des zweckhaften rhetorischen Machens das zweckfreie künstlerische Hervorbringen gesetzt wurde. Dennoch wurde die rhetorische Tradition fortgeführt, und zwar im deutschen Gymnasium. Hier spielte die rhetorische Ausbildung eine zentrale Rolle, zumindest bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (vgl. Ludwig 1988, Kap. V). Damit ergibt sich aber ein sehr merkwürdiges Bild: Einerseits besaßen die Gebildeten rhetorische Kenntnisse, andererseits hatten sie für diese Kenntnisse kaum ein praktisches Anwendungsfeld, es sei denn sie wurden Pastor. Im Bereich von Literatur und Poesie hatte die Rhetorik ja ihre Rechte verloren, und eine öffentliche parlamentarische Redekultur gab es in Deutschland nur in sehr beschränkter Form, etwa in den ständischen Versammlungen der frühkonstitutionellen süddeutschen Staaten (Jäger 1973, 133 f.). Die Gymnasialschüler machten also Trockenübungen, hielten in schulischen Feierstunden ausgefeilte Reden, wie zum Beispiel Georg Büchner über die Frage, ob Catos Selbstmord gerechtfertigt gewesen sei oder nicht (vgl. Schaub 1986). Und nur in Ausnahmefällen konnten sie die erworbenen rhetorischen Fähigkeiten nutzen, wie wiederum Georg Büchner in seinem "Hessischen Landboten" von 1836.
2. Zur Zeitungskommunikation im Vormärz Diese Situation änderte sich schlagartig in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts, denn zu diesem Zeitpunkt zog die Rhetorik in die deutsche Zeitung ein. Der auslösende Faktor war die Lockerung der preußischen Zensurgesetzgebung vom 24. Dezember 1841, mit der zum erstenmal die "Karlsbader Beschlüsse" von 1819 aufgeweicht wurden2 Es begann die Entwicklung der 2 Zur Rolle der Zensur für die Zeitungsgeschichte vgl. Breuer 1982; Hoefer 1983; Schneider 1978.
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Zeitung von der Nachrichtenpresse zur Meinungspresse: Die Zeitung wurde zum Forum, auf dem der Streit um öffentliche Angelegenheiten ausgetragen wurde, und sie wurde zu einem Kampfinstrument in der politischen Auseinandersetzung, dessen sich zuerst das liberale Bürgertum bediente, um seine politischen und wirtschaftlichen Interessen gegen einen bürokratisch-absolutistischen Staat durchzusetzen (Wehler 1987). Der Übergang von der Nachrichtenpresse zur Meinungspresse manifestiert sich am deutlichsten darin, daß fast schlagartig neben die nüchtern berichtenden, informationsbetonten Textmuster die kommentierenden, die meinungsbetonten treten. Räsoniert wird aber nicht nur in Leitartikeln, sondern auch in Leserbriefen. In den Jahren unmittelbar vor der März-Revolution 1848 finden sich die Anfänge einer Leseibriefkommunikation (vgl. Püschel 1993a und 1993b). Damit schließt sich der Kreis zur Schulrhetorik. Denn die Personen, die sich an dem öffentlichen Diskurs in der Zeitung beteiligten, stammten zumeist aus dem gebildeten liberalen Bürgertum, das auf dem Gymnasium seine rhetorische Ausbildung erfahren hatte. Unter den Beteiligten sind zuerst die Zeitungsherausgeber und Redakteure zu nennen (falls die Zeitung schon eine Redaktion hatte), dann aber auch Privatleute, die anfingen, sich als liberale Bürger zu strittigen Themen mit Leseibriefen zu Wort zu melden, und die sich zu Korrespondenten entwickeln konnten (vgl. Püschel 1993a, 74 f.). Die genannten Personengruppen - Zeitungsmitarbeiter wie schreibende Privatleute - bedienten sich der gleichen rhetorischen Bildungssprache. Dabei gibt es keine grundlegenden Unterschiede zwischen dem Râsonnement im Leitartikel und im Leserbrief, in vielen Fällen läßt sich nicht einmal entscheiden, welcher der beiden Rubriken ein Text zuzuordnen ist.
3. Textmuster: Das rhetorische Redeschema Als in den Jahren vor der Märzrevolution die Zeitung zum Forum und Instrument der öffentlichen Auseinandersetzung wurde, verhielten sich die Schreiber von Leitartikeln und Kommentaren so, als ob sie Redner vor einer Volksversammlung oder vor Gericht seien. Und was lag da näher, als sich des rhetorischen Redeschemas zu bedienen, das sie ja seit Schulzeiten beherrschten?3 Aber auch die Leseibriefschreiber verstanden sich als Agierende auf - Ansitze zu einem Zehungsräsonnement gab es auch schon in früheren Phasen einer gelockerten Zensur, so beispielsweise in der Zeit zwischen dem Ende der Befreiungskriege und den "Karlsbader Beschlüssen". Exemplarisch kann dafür der RHEINISCHE MERKUR von Josef Görres stehen, der sich ebenfalls rhetorischer Mittel bediente (vgl. Paschel 1991b, 433, 440). - Zur Geschichte der Zeitung im 19. Jahrhundert generell Koszyk 1966. 3 Zumindest für diese Zeit gilt also nicht die Vermutung Stegers, der Leitartikel sei ursprünglich die Übertragung des Texttyps Wissenschaftliche Abhandlung1 (Steger 1984,199).
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dem Zeitungs-Forum vor einer Medienöffentlichkeit, denn auch sie benutzten das rhetorische Redeschema und nicht etwa das rhetorische Briefschema, mit dem sie sich an abwesende Dritte gerichtet hätten (vgl. Plett 1975, 17; Püschel 1993a, 80). Welche zeitungsspezifischen Anverwandlungen mit der Übernahme des rhetorischen Redeschemas verbunden waren, soll exemplarisch an den vier partes orationis oder Redeteilen gezeigt werden. Diese Redeteile sind nämlich nach den Bedürfiiisse der Zeitung umfunktioniert worden, teilweise bis hin zu ihrer Reduktion auf ein Minimum oder sogar bis zur völligen Auslassung. Vollständigkeit, was die Redeteile angeht, findet sich nur in Leserbriefen, in den Leitartikeln fehlt dagegen das Exordium. Haben Leseibriefe ein Exordium, so wird dessen Funktion auf charakteristische Weise verschoben. Im Exordium soll der Redner das Interesse des Publikums fur seinen Gegenstand erregen und dessen Wohlwollen gewinnen; in den Leserbriefen nutzen die Schreiber das Exordium dagegen vor allem zur Verständnissicherung. Zu diesem Zweck können sie die Leser mehr oder weniger ausführlich über den Zusammenhang orientieren, in dem ein Text steht, sie können ihre Beweggründe darlegen, warum sie sich öffentlich äußern, und sie können mittels vorausgreifender Strukturierung darüber orientieren, wie sie vorgehen wollen (vgl. auch Püschel 1993b). In dem folgenden Beispiel hat der Schreiber alle drei Möglichkeiten genutzt. Dabei zeichnet er detailliert die Geschichte der Leseibriefkommunikation nach, begründet weiterhin seine Wortmeldung mit einer sehr impliziten Berufung auf seine Zuständigkeit und Kompetenz (aus dem Kreise selbst) und kündigt sein weiteres Vorgehen an (kurz vorausgeschickt)·. (1)
Nachdem der in Nr. 304 der Trierschen Zeitung befindliche Artikel über die angeblich verspätete Brandholzfällung und Vertheilung im Kreise Daun durch einen Aufsatz in Nr. 308 d. Z. eine Erwiederung erfahren hat, worauf in Nr. 316 eine Replik des Einsenders des erstem gefolgt ist, erscheint es an der Zeit, auch aus dem Kreise selbst eine nähere Beleuchtung der Angelegenheit hervorgehen zu lassen und hierbei zugleich den in Nr. 309 d. Z. erwähnten Holzmangel in mehreren Schulen der Bürgermeistereien Hillesheim, Kerpen und Lissendorf mit zu berühren. Zur besseren Verständigung muß kurz vorausgeschickt werden, in welcher Art und Weise die Fällung und Aufarbeitung des Brandholzes seit langen Jahren im genannten Kreise bewerkstelligt wird.
Mit dem letzten Satz leitet der Schreiber zu einer ausführlichen Narratio über, an die sich eine ebenso ausführliche Argumentatio anschließt (der einleitende
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Teil macht weniger als 10% des Textes aus). Die Peroratio schließlich fällt in diesem Leserbrief vom Umfang her knapp aus (etwa 5% des Textes) und ist für einen Schlußappell recht schwach; trotzdem ist sie deutlich zu erkennen. Mit der Umfunktionierung des Exordiums zum Zwecke von Verständnissicherung und Leserorientierung haben wir es mit einer ersten Stufe der zeitungsspezifischen Anverwandlung zu tun. Eine zweite radikalere Stufe wird da erreicht, wo das Exordium überhaupt weggefallen ist, der Schreiber also unmittelbar mit der Narratio beginnt. Dies ist bei dem folgenden Leitartikel der Fall (TRIER'SCHE ZEITUNG vom 23. März 1844). Der Schreiber beginnt unmittelbar mit der Darlegung des "Falles", indem er die Art und Weise der gegnerischen "nationalen Partei" darstellt, wie sie mit der deutschen Öffentlichkeit umgeht: (2)
Ein beliebtes Sätzlein der "nationalen" Partei ist folgendes: Man muß das Volk nicht beleidigen, man muß ihm Zutrauen zu sich selbst einflößen, man darf von seinen Fehlern nur schonend sprechen und nur nach gehörig vorausgeschicktem Lobe. Dieses Sätzlein wird etwa so näher motiviert. [...]
Diese natürlich parteilich vorgetragenen und mit viel Ironie gewürzten Ausfährungen umfassen fast den halben Artikel (nicht ganz eine Spalte). Abgeschlossen werden sie mit der These, die zugleich zur Argumentatio überleitet: (3)
Solch larmoyantes Geschwätz, welches das Princip vieler Zeitungen ausmacht, hat in Deutschland entsetzlich viel verdorben. Diese lauwarme Sauce droht an Michels Magen selbst die guten Seiten vollständig zu verderben, wenn man nicht bei Zeiten eine gehörige Dosis Pfeffer hinein würfe. [...]
Im letzten Absatz folgt dann die Peroratio, die sehr umfangreich ausgefallen ist, da sie wie die Argumentatio etwa eine halbe Spalte umfaßt. In ihr werden noch einmal die kontroversen Positionen gegeneinandergestellt, tun schließlich mit einer zugespitzten Standortbestimmung zu schließen: (4)
Das Volk aber wollen wir aufmerksam machen, daß es nicht fürder auf die falschen Propheten höre.
Eine dritte Stufe der Anverwandlung weisen solche Leitartikel auf, in denen die Narratio auf ein Minimum geschrumpft ist und für das weitere Räsonnement nur den Aufhänger bietet, wenn auch einen notwendigen, da die Leser
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darüber orientiert werden müssen, auf welchen Sachverhalt sich der Schreiber mit seinem Räsonnement bezieht; dazu das nächste Beispiel (TRIER'SCHE ZEITUNG vom 17. März 1848): (5)
Nicht leicht ist wohl irgend eine Nachricht mit freudigerem ungetheiltem Beifall von allen Gebildeten aufgenommen worden, als die von einem Berliner Correspondenten der "Kölnischen Zeitung" mitgetheilte, leider voreilige: "daß der König die Preßfreiheit in seinen Staaten bewilligt habe."
Dieser Artikel setzt zwar mit einer expliziten Bewertung ein, doch diese Bewertung ist nicht Teil der Kommentierung, sondern Ausdruck einer parteilichen Sichtweise auf das Ereignis, wie sie in der Narratio erlaubt ist. Insofern haben wir es doch mit einer, wenn auch auf den Informationskern reduzierten Narratio zu tun, die sich vom übrigen Text klar abgrenzen läßt, denn deutlich erkennbar wird mit nächsten Satz zur Kommentierung übergeleitet: (6)
Man glaubt so gern, was man sehnlich wünscht, und so fand auch diese Nachricht trotz manchen Zweifeln Glauben [...].
Das so eröffnete Räsonnement behandelt zuerst das Problem der journalistischen Glaubwürdigkeit, geht dann über zu der Erwartimg, daß die Pressefreiheit doch bald eingeführt werde, um schließlich in die Forderung einzumünden, daß der preußische König an die Spitze Deutschlands treten müsse. Auf einer vierten Stufe ist die Narratio schließlich verschwunden, da kein abgrenzbarer Textabschnitt mit dieser Funktion mehr erkennbar ist, wie in dem folgenden Beispiel (TRIER'SCHE ZEITUNG vom 23. März 1848): (7)
Wir haben ein Recht, die beiden Concessionen vom 17. und 18. d. Mts., bestehend in einem Gesetze über die Presse und Einberufung des vereinigten Landtags auf den 2. April, mit Bedacht und tiefem Ernst entgegenzunehmen.
Dieser Leitartikel wird unmittelbar mit einer These eröffnet, die im zweiten Satz, der mit einem denn angeschlossen werden könnte, begründet wird: (8)
Was uns seit 1815 verheißen, was längst ein unverkennbares Bedürfnis unserer Bildungsstufe war, was durch die geistigen Schwingungen des von Grund aus erregten Nachbarvolkes dringender und unabweislicher erheischt wurde, - das mußte erst wieder durch reichlich geflossenes Herzblut begeisterter Männer theuer erkauft werden!
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An diese Begründung schließen sich einige erläuternde Details an, die erneut in eine These einmünden (im folgenden Zitat nach dem Gedankenstrich), die gewissermaßen als Schlußfolgerung präsentiert wird: (9)
In den Straßen von Wien und Berlin liegen Hunderte, deren edle Herzen nicht mehr in heiliger Flamme für das tiefe Weh des Volkes schlagen; der Name Hebbels, des geliebten Dichters des Volkes, flimmert mit bleicher Todtenschrift dem thränenden Auge entgegen; da frohlocke, festesse, illuminire wer da will! Wir sind ernst und tiefbetrübt bis in den Tod.
Wir haben es hier mit einer Vorgehensweise zu tun, die wir - ebenso wie den Fall der außerordentlich knappen, aber dennoch als selbständigen Textteil wahrnehmbaren Narratio - auch heute in der Zeitung antreffen, wenn auch nicht mehr so rhetorisch elaboriert. Bei dieser Spielart des Leitartikels ist es durchaus üblich, ausgewählte Details des zu kommentierenden Sachverhalts je nach Bedarf und an der Stelle, wo sie gerade gebraucht werden, anzuführen. Damit dieses Verfahren funktionieren kann, muß der Schreiber aber davon ausgehen dürfen, daß die Leser zumindest in groben Zügen über die Sachverhalte informiert sind. Denn erst dann kann auf eine ausführlichere Narratio verzichtet werden. Die Leitartikler in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts konnten mit einem derart informierten Publikum nicht rechnen. Denn eine umfassendere und kontinuierlichere Berichterstattung begann sich erst zu entwickeln, immer wieder behindert von der Zensur. Wurden dennoch brisante Themen in Leitartikeln angepackt, dann mußten zwangsläufig die Zusammenhänge dargelegt werden, damit das Räsonnement überhaupt verstanden werden konnte. Diese Verhältnisse änderten sich erst in der Zeit während der revolutionären Ereignisse von 1848. Jetzt konnten die Zeitungen in ungewohnter Weise ausführlich und detailliert berichten mit der Folge, daß die Leitartikler mit einem informierten Publikum rechnen durften und somit auf die Narratio weitgehend verzichten konnten.
4. Stilmuster: Die rhetorischen Stilarten Die Zeitungsschreiber, die als Quasi-Redner auf dem Zeitungs-Forum vor der Medienöffentlichkeit auftraten, zielten wie alle Rhetoren auf Persuasion: Sie wollten das Publikum für ihre Auffassung gewinnen oder aber in seiner Parteinahme bestärken, sofern es schon gewonnen war. Drei Aufgaben hat der Redner dabei zu erfüllen, die mit den Schlagworten 'docere', 'delectare' und
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'movere' umrissen sind. Aus diesen drei Aufgaben leiten sich die drei genera dicendi oder Stilarten ab: das genus subtile, das der Belehrung dient, das genus medium, das der Unterhaltung dient, und das genus grande, das die Leidenschaften wecken soll. Zwei dieser Stilarten finden sich auch in der TRIER'SCHEN ZEITUNG; denn Vertreter für das genus subtile und das genus grande lassen sich leicht ausmachen, während es mit Beispielen für das genus medium schlecht bestellt ist. Zwar gibt es in manchen Leitartikeln unterhaltsame Züge,4 aber insgesamt gesehen, ist die deutsche Zeitung noch kein Ort der Unterhaltsamkeit, und dementsprechend fehlen Texte, die das genus medium repräsentieren.3 Texte in der Stilart des genus subtile zeichnen sich durch einen einfachen Ton aus, sie prunken nicht mit stilistischem Raffinement, was jedoch keineswegs bedeutet, daß an ihnen nicht gefeilt worden wäre. Walter Jens warnt deshalb vor dem Trugschluß, solche schlichteren Texte nicht als rhetorisch zu betrachten, da sie unter bestimmten Bedingungen mehr persuasive Kraft besitzen können als aufwendig ausgeschmückte Texte (Jens 1977, 436). Der folgende Leitartikel ist ein Beispiel fìir das genus subtile aus den allerersten Anfängen der Meinungspresse (TRIER'SCHE ZEITUNG vom 16. November 1842). Er ist die Reaktion auf eine Verlautbarung der Königlich Preußischen Regierung, in der die TRIER'SCHE ZEITUNG dafür getadelt wird, daß in ihren Spalten eine Diskussion über öffentliche Angelegenheiten geführt wird. In dem Leitartikel verteidigt mm die TRIER'SCHE ZEITUNG die Nützlichkeit der öffentlichen Auseinandersetzung über politische Fragen und entwickelt die Spielregeln, nach denen ihrer Meinung nach diese Auseinandersetzung stattfinden sollte: (10) Eine jede neue Sache führt etwas Unbequemes mit sich; man findet sich nicht so gleich darein. Erst mit der Zeit lernt man das Neue besser handhaben, und überzeugt sich zuletzt, daß das Neue doch gut ist. So ist es mit der Besprechung öffentlicher Angelegenheiten durch die Presse. An einen jeden, der sich berufen fühlt, solche Angelegenheiten vor dem großen Publikum zu besprechen, macht dasselbe den Anspruch, daß Wahrhaftigkeit und Redlichkeit der Absicht und des Zwecks seine Führer seien. In dem nämlichen Geiste, ohne Zorn und Leidenschaft, sollten auch Entgegnungen, Widerlegungen von Thatsachen und Meinungen erfolgen; alsdann wird die Freiheit der Rede, 4 Solche Urteile sind allerdings gefährlich. Was auf uns heute unterhaltsam wirkt, muQ auf die Zeitgenossen keineswegs unterhaltsam gewirkt haben. 5 Es finden sich berichtende Texte, die festliche Ereignisse, Jubiläen und sonstige Feierlichkeiten zum Gegenstand haben. Diese Texte unterscheiden sich von den gewöhnlichen Nachrichtentexten durch eine gefällig elaborierte Sprache. Ihr Stil ließe sich am ehesten dem genus medium zuordnen, und vielleicht besteht bei ihnen zwischen Stil und Gegenstand auch ein Zusammenhang.
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die ein hochgesinnter edler König, seinem Volke gegeben, wohltätige Früchte tragen. Daß bei der freien Rede, wo unausweichlich verschiedene Ansichten und Interessen sich kund geben und geltend zu machen suchen, Reibungen entstehen, ist allerdings gegründet, aber kein Uebel; man verständigt sich leicht durch leidenschaftsloses und überdachtes Besprechen, oder man streckt das Gewehr oder zieht sich zurück, wenn man seine Position nicht länger behaupten kann. Was hier vorgetragen wird, entspricht der Vorstellung von einer idealen Diskussion, in der die kontroversen Positionen in aller Ruhe argumentativ vorgebracht werden und die entweder zu einem Konsens fuhrt oder aber zu Einsicht und Rückzug bei der schwächeren Partei. Im ersten Teil dieses Leitartikels wird das Grundprinzip entfaltet, er entspricht der Narratio; im zweiten Teil finden wir dann die Anwendung auf den konkreten Fall, was der Argumentatio entspricht: Auch die Behörden können irren, heißt es da, und wenn sie das zugeben, gereicht es ihnen zur Ehre. Insgesamt ist der zurückhaltende und belehrende Ton unüberhöibar, es wird auf Rationalität, die Kraft des Argumentes und Einsicht gesetzt. Und dem entspricht auch der Stil des Textes. Doch gemäß der Forderung, daß das Movere nicht fehlen dürfe, findet sich im letzten Satz - als kurze Perorado - ein zugespitzter Appell: (11)
Aber in dem Irrthume beharren ist ein zweiter Irrthum.
Das rhetorisch elaborierte genus grande mit seinem auf die Entzündung der Affekte zielenden Pathos illustriert der schon zitierte Leitartikel vom 23. März 1848 - etwa mit dem zweiten Satz (Beispiel [8]), in dem mit dem dreimal einsetzenden was ein Spannungsbogen aufgebaut wird, der dann nach dem Gedankenstrich seine Auflösung findet; oder die Beschreibung der gefallenen Revolutionäre (Beispiel [9]). Von anderer Art ist der Leitartikel gegen die "nationale Partei" (Beispiel [2]), denn er besitzt kämpferischen Impetus; er ist polemisch und zielt auf Polarisierung. Zu diesem Zweck bedient sich der Schreiber unter anderem bildlicher Vergleiche; so wird vom schlechten Pädagogen gesprochen, der das faule Kind weiter verdiibt; vom guten Arzt, der zum Höllenstein greift, und vom Speer des Achill, der die Wunde heilt, die er schlug: (12) Es ist erste Pflicht der Zeitwächter, dem eignen Volke schonungslos die Wahrheit zu sagen. Wahrheit ist Macht, ist der wunderbare Speer des Achilleus, sie heilt die Wunden, welche sie schlug. Aergert sich das Volk über die Wahrheit, desto besser, das wirkt schon. Noch einmal die Wahrheit gesagt! Verstopft sich das ganze Volk die Ohren, will
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es absolut taub gegen die Kritik sein: dann laßt fahren dahin, laßt das Volk in seiner Theilnahmlosigkeit zu Grunde gehn. Es ist die beste Probe für die geschichtliche Zukunft eines Volkes, ob es der ätzenden Kritik Stich hält und dann wirklich in sich geht, ein neues Wesen anzieht und Thaten der Besserung verübt.
Von rhetorischem Pathos zeugt vor allem aber die Peroratio, in der der Schreiber einen langen Anlauf nimmt. Sie beginnt mit der direkten Anrede der gegnerischen Partei - auch das ein Zeichen dafür, wie sich der Schreiber als Teilnehmer an einer unmittelbaren Auseinandersetzung vor einem Publikum versteht: (13) Wie habt Ihr es los, den Nationalcharakter der Franzosen und Engländer mit allen seinen Fehlern und Mängeln tagtäglich zu beschreiben, diese Nationen neben die deutsche hinzustellen, gegen deren "Treue", "Biederherzigkeit" und "Gemüthsüefe" jene so weit abstehen wie der Himmel von der Erde. In der anschließenden Passage werden dann die stereotypen Vorurteile gegen Franzosen und Engländer mit deren Tugenden konfrontiert. Abgeschlossen wird dieser Teil mit einem Blick auf die sogenannten Tugenden der Deutschen, und dann eilt der Schreiber zum Höhepunkt: der wahren Freiheit. Auch hier werden die Gegner wieder direkt angesprochen, und im letzten Satz wird die eigene Position mit wir dagegengesetzt: (14) Und dann kommen wieder die "edeln", "biedern", "treuen" Deutschen, die gemüthstiefen Germanen! Diese Schande sollte denn doch endlich einmal aufhören. Ihr macht das Volk nicht frei mit dem Gedanken der "Nationalität"; wenn Ihr die wahre Freiheit kenntet, die Menschenfreiheit, die sittliche Freiheit, welche von selbst schon in nationaler Form zur Welt kommen wird, dann würdet Ihr auch wissen, wie ein Volk beschaffen sein muß, das diese Freiheit zu erringen hat, dann würdet Ihr allererst den Kreuzzug gegen die deutsche Apathie predigen, die nichts Gutes und Großes zu Stande kommen läßt, dann müßtet ihr freilich den Strick zunächst um Eure eignen Hüften schwingen und zu Flagellanten Eurer selbst werden. Das mögt Ihr nicht, wie solltet Ihr wider Euer eignes Fleisch und Blut wüthen? So geht denn hin, thut, was Ihr nicht lassen könnt. Das Volk aber wollen wir aufmerksam machen, daß es nicht fürder auf die falschen Propheten höre.
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Die Wahl der genera dicendi ist traditionellerweise an die Stoffe gekoppelt, die behandelt werden. Das ist bei den Leitartikeln nicht unmittelbar zu erkennen, aber es läßt sich dennoch etwas über die Wahl der genera dicendi sagen. Zwei Beobachtungen möchte ich in diesem Zusammenhang anfuhren: Zum einen finden sich Leitartikel, die dem genus subtile zuzurechnen sind, gehäuft in der Zeit unmittelbar nach Lockerung der Zensur. Entweder entspricht in dieser Phase das genus subtile eher der Haltung der Schreiber, die sich erst noch radikalisieren müssen, oder aber die Schreiber scheuen sich noch, offen kämpferisch und mit Pathos aufzutreten. Zum andern gibt es aber auch im weiteren Verlauf der 40er Jahre und selbst während der Revolutionsereignisse im März 1848 Leitartikel, die stilistisch moderat ausfallen. Und umgekehrt lassen sich auch in der Frühphase Texte des genus grande nachweisen. Wenn ich es recht sehe, wirkt hier noch ein anderes Prinzip: Wird nämlich die Obrigkeit direkt angesprochen, so bedient man sich eher des genus subtile, auch in der Zeit der Revolution und unmittelbar danach. Werden einzelne Personen, Gruppierungen oder Institutionen, wie beispielsweise feindliche Zeitungen angesprochen, dann bedient man sich eher des genus grande, und das schon in den frühen Vierzigern. Die Wahl der Stilart würde dann also vom angezielten Adressaten abhängen und damit letztlich auch von den thematisierten Gegenständen. Dabei geht man mit der Obrigkeit eher belehrend und argumentativ um, mit nicht-obrigkeitlichen Gegnern dagegen eher polemisch und emotional aufwühlend.
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Zum Beispiel "Gerechtigkeit": Über politische Leitvokabeln in persuasiver Funktion FRANK LŒDTKE
1. Vorbemerkungen Als ein nach Erkenntnisfortschritt strebender Linguist sieht man sich angesichts der Aufgabe, persuasive Verwendungen von Sprache zutreffend und adäquat zu analysieren, immer noch vor gravierende Beschreibungsprobleme gestellt. Da sich die überredende Absicht, mit der Sprecher diesen Typ von Äußerungen vollziehen, nicht direkt als Komponente der verwendeten linguistischen Einheiten darstellen läßt, sondern etwas Außersprachliches zu sein scheint, könnte es naheliegen, persuasiven Sprachgebrauch als Gegenstand der Linguistik gar nicht erst anzuerkennen. Auf der anderen Seite ist es nicht nur verlockend, sondern auch sachlich geboten, die Tatsache zu sehen, daß sich Persuasion ja sprachlicher Einheiten und sprachlicher Strukturen bedient, um mit ihrer Hilfe bestimmte kommunikative Effekte bei Hörern wie Lesern zu erreichen; und das Ziel des Linguisten könnte es sein, gerade das Verhältnis von Struktur und Funktion, von sprachlichen Einheiten und persuasiven Zielen, näher zu bestimmen. Die Grundfrage dabei wäre, ob bestimmte linguistische Eigenschaften der verwendeten sprachlichen Mittel besonders geeignet oder geeigneter als andere sind, um persuasive Effekte zu erreichen, und welche diese Eigenschaften sein können. Genau dies ist der Gegenstand der folgenden Überlegungen. Es soll versucht werden, linguistische Eigenschaften und kommunikative Verwendungsweisen von Ausdrücken in einen systematischen Zusammenhang zu bringen, wobei besonderes Augenmerk auf die Frage gerichtet werden soll, ob spezifische Eigenschaften der semantischen Struktur sprachlicher Ausdrücke in Verbindung gebracht werden können mit der persuasiven Verwendung dieser Ausdrücke und welche Art von Zusammenhang dies sein kann. Nach einigen grundsätzlichen Bemerkungen zur Verwendung politisch relevanter Ausdrücke sollen drei Ansätze vorgestellt werden, die in besonderer Weise zur Darstellung des Zusammenhangs von Sprachstruktur und -funktion geeignet sind: Es sind dies die Sprechakttheorie, die Theorie der semantischen Stereotypen sowie die Theorie der Alltags-Metaphern. Eine Verbindung dieser drei Theoriestränge
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soll schließlich zur Analyse der Verwendung des Hochwertausdrucks Gerechtigkeit im Zusammenhang mit politischer Argumentation eingesetzt werden, wobei diese Anwendung den eingangs erhobenen Anspruch, persuasive Absichten und linguistische Strukturen in einen Erklärungszusammenhang zu bringen, illustrieren und gleichzeitig einlösen soll. Dies kann hier nur in programmatischer Kürze geschehen, eine vertiefte Ausarbeitung muß einer längeren Fassung vorbehalten bleiben (s. Böke/Liedtke/Wengeler 1995).
2. Zur Verwendung politisch relevanter Ausdrücke Faßt man mit Lübbe (1975) Politik als die Kunst auf, im Medium der Öffentlichkeit Zustimmungsbereitschaft zu erzeugen, dann kann man politischen Sprachgebrauch als ein Mittel unter anderen auffassen, das es gestattet, diese Kunst auszuüben. Sprachmittel in diesem Sinne sind nicht nur politische Reden oder Parolen, sondern auch einzelne Ausdrücke (Wörter), die im Satzoder Textzusammenhang an prominenter Stelle und wiederkehrend verwendet werden. Zustimmungsbereitschaft im Medium der Öffentlichkeit wird unter anderem durch den Gebrauch von Vokabeln hervorzurufen intendiert, die generell einen positiven Wert gesellschaftlichen Zusammenlebens denotieren. Die Funktion solcher Vokabeln beschränkt sich allerdings nicht hierauf, sondern gleichzeitig soll durch ihre Verwendimg eine politische Grundauffassimg vermittelt werden, die in der Regel an eine Partei oder politische Gruppierung geknüpft ist. Aus dieser doppelten Funktion resultiert ein grundlegendes Dilemma nicht nur des Gebrauchs politischer Leitvokabeln, sondern politischer Kommunikation schlechthin. Es manifestiert sich darin, daß eine (partei-)politische Position, die nur einen Sektor möglicher Alternativen zur Lösung gesellschaftlicher Fragen und Probleme akzeptiert und vertritt, unter Zuhilfenahme eines allgemein akzeptierten Wertemusters legitimiert werden muß, das nicht nur für diesen Teil der möglichen Alternativen gültig ist. Diese Situation wird häufig als "Trend zur Mitte" oder "politische Annäherung" realisiert. Im Prinzip gilt dieses Dilemma allerdings auch für extreme Gruppierungen, wollen sie sich nicht schon verbal den Weg zu politischem Erfolg veibauen. Die Rückbindung einer partikularen Auffassung an ein generelles Wertemuster wirkt sich im Falle des Gebrauchs politischer Leitvokabeln so aus, daß sich diese meistens auf gewisse Aspekte eines allgemeineren Sachverhalts beziehen, und zwar so, daß auch miteinander konkurrierende Ausdrücke selten in einer echten - das heißt aus ihrer Semantik resultierenden - Opposition zueinander stehen. So sind die Bezeichnungen Marktwirtschaft und
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Lenkungswirtschaft nicht als Antonyme darstellbar, denn auch eine Marktwirtschaft wird mit Hilfe unterschiedlichster Instrumente gelenkt. Ungeachtet dessen spielte sich in den fünfziger Jahren der Kampf zwischen Befürwortern einer kapitalistischen und denen einer sozialistischen Wirtschaftskonzeption verbal im Spannungsfeld dieser und freilich anderer Vokabeln ab. Eine sprachwissenschaftliche Analyse muß also berücksichtigen, daß sehr häufig zunächst weit definierte Ausdrücke im Zuge öffentlicher Diskussionen ihre Allgemeingültigkeit verlieren und selektiv werden infolge einer semantischen Aufladung und Spezifizierung durch eine Partei oder Gruppierung. Diese Aufladung kann entweder positiv bewertend (im Falle der Selbstzuschreibung) oder negativ wertend (Fremdzuschreibung) vor sich gehen. Das, was also die Erforschung des politischen Sprachgebrauchs als ihren Gegenstand erkennt (konkurrierender Sprachgebrauch), ist allgemein das Resultat eines Prozesses, in dessen Verlauf zunächst notwendig allgemeingültige Ausdrücke genau mit denjenigen Aspekten angereichert werden, die mit den Zielen der sie verwendenden Partei übereinstimmen bzw. mit den Zielen der konkurrierenden Partei konfligieren. Erkennt man den Prozeßcharakter dieses Sachverhalts, dann ist man in der Lage, beides - Allgemeingültigkeit und Spezifität - als aufeinander folgende Zustände zu beschreiben. Der Prozeß der semantischen Aufladung manifestiert sich häufig in politischen Grundsatzdebatten, die charakteristischerweise nicht mit einem Fürund-Wider beginnen, sondern mit einem Für-und-Für: Es geht nicht um Chancengleichheit gegen Chancenungleichheit, sondern um Chancengleichheit gegen Chancengerechtigkeit. Daraus folgt, daß eine Untersuchung von politischen Leitvokabeln diese nicht nur semantisch korrekt zu beschreiben hat, sondern auch den Prozeß der semantischen Aufladung von nicht-spezifischen Gundausdrücken zu politisch spezifizierten Ausdrücken berücksichtigen muß. Die Partei- oder Gruppenspezifik von Leitvokabeln ist das Resultat, der Endpunkt eines Prozesses, der teilweise ungesteuert, teilweise gesteuert ist, und die Charakterisierung dieses Prozesses ist Aufgabe desjenigen, der persuasiven Sprachgebrauch zu analysieren sich vornimmt.
3. Politische Leitvokabeln und sprachliches Handeln Politische Leitvokabeln sollen aufgefaßt werden als sprachliche Ausdrücke, die einen politisch relevanten Sachverhalt denotieren und infolge eines Prozesses der semantischen Aufladimg parteipolitisch spezifiziert sind, also neben deskriptiven Elementen auch politisch bewertende Bedeutungsanteile beinhalten. Sie referieren entweder auf allgemeine, abstrakte Werte gesell-
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schaftlichen Zusammenlebens (Hochwertwörter) oder auf andere, zeitbezogene Phänomene. Will man den Prozeß der semantisehen Aufladung spezifizieren, so ist der Rekurs auf eine Theorie sprachlichen Handelns notwendig, die den Gebrauch von Leitvokabeln in Zusammenhang bringt mit einer Theorie der Sprechhandlungen, wie sie von Searle und andern vorgelegt wurde (vgl. Searle 1971, 1983). Nur so ist es möglich, den strategischen Aspekt der Vokabelverwendung in Form von Sprechhandlungszielen zu repräsentieren, die politisch Handelnde beim Sprechen verfolgen. Die Verwendung von Leitvokabeln wird dann in Zusammenhang mit der Realisierung dieser Ziele gebracht, wobei der Gebrauch dieser Ausdrücke entsprechend der Terminologie der Sprechakttheorie als Referenzakt im Vollzug eines illokutionären Aktes spezifiziert wird. Sprachliches Handeln ist zielgerichtet und hypothesengeleitet. Der sprachlich Handelnde bildet beim Sprechen Hypothesen darüber aus, mit welchen Mitteln er seine jeweiligen Ziele optimal erreichen kann, in diesem Fall also darüber, welche sprachlichen Mittel am geeignetsten zur Realisierung sprachhandlungsspezifischer Effekte sind. Insofern der Gebrauch von bestimmten Ausdrücken als Referenzakt in den Vollzug eines vollständigen Sprechaktes eingeht, tragen diese Ausdrücke auch zur Verwirklichung des Gesamtziels des Spechakts bei. Ziele von sprachlich Handelnden mit politischer Absicht bestehen darin, den Adressaten der Äußerungen) bestimmte Auffassungen nahezubringen, sie zu bestimmten Überzeugungen zu bringen, bestimmte Einstellungen zu induzieren etc., die sich auf politisch relevante Sachverhalte beziehen. Eine Hierarchie von Handlungszielen, die auf diese Weise mit sprachlichen Mitteln erreicht werden können, läßt sich nach Maßgabe eines obersten Handlungsziels "Zustimmungsbereitschaft erzeugen" aufbauen, von dem dann weitere Ziele handlungslogisch abgeleitet werden. Von diesem obersten Handlungsziel abhängige Ziele umfassen das Erzeugen unterschiedlicher Einstellungstypen bei den Adressaten der Äußerung. Das Strukturprinzip dieser Zielhierarchien ist als eine Kette handlungslogischer /nrfem-Relationen aufzufassen, die auf der Ebene einer komplexen Handlung beginnt (z.B. versuchen, eine Gruppe von Adressaten zu einer bestimmten Überzeugung zu bringen) und auf einer tieferen Ebene das Äußern bestimmter Sätze oder Satzketten beinhaltet (indem Politiker X diesen Satz, der bestimmte Ausdrücke enthält, äußert, versucht er, die Adressaten zu einer bestimmten Überzeugimg zu bringen). Die Hypothesenbasiertheit sprachlichen Handelns kann nun als Überlegung oder Kalkulation des Sprechers aufgefaßt werden, die sich darauf richtet, welche sprachlichen Mittel für die Realisierung einer in dieser indem-Rela-
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tion stehenden strategischen Handlung die geeignetsten sind. Zum Hervorrufen einer Überzeugung muß der Sprecher beispielsweise nachvollziehbare, glaubwürdige Assertionen äußern, die in der Lage sind, den gewünschten Effekt bei den Adressaten hervorzurufen. Welche Assertionen dies genau sind, weiß der Sprecher von Fall zu Fall nicht, vielmehr sind erfolgreiche Äußerungen das Resultat von hypothetischen Erwägungen über die möglichen Effekte bestimmter Äußerungstypen beim Adressaten. Die Zugkraft von Argumenten ist, zumal im Bereich der Massenkommunikation, nicht mit Sicherheit vorauszusagen, sondern für die Kommunizierenden immer mit einem Unsicherheitsfaktor behaftet. Ist dies für die Wahl bestimmter Argumentationsmuster schon schwer vorherzusagen, so ist das Risiko der Wahl von geeigneten Leitvokabeln mindestens ebenso hoch. Auch hier ist nicht die lexikalische Individualkompetenz des Sprechers entscheidend, sondern zentral sind seine Hypothesen darüber, welche Merkmale die Adressaten mit der verwendeten Vokabel im Durchschnitt verbinden. Wenn man die Rolle der Verwendung einzelner Vokabeln im Verlaufe des strategischen Sprachhandelns analysieren will, dann muß man ihren Beitrag zur Erreichung des Ziels desjenigen Sprechakts untersuchen, dessen Bestandteil sie sind. Der Sachverhalt läßt sich so beschreiben, daß der Sprecher einen Ausdruck benutzt, von dem er denkt, daß er im Sprachgebrauch seiner Adressaten eine bestimmte semantische Repräsentation hat, die mit dem Gesamtziel des Sprechakts verträglich ist. Der Sprecher bildet also Hypothesen aus über das semantische Wissen der Adressaten, das heißt darüber, welche deskriptiven und emotiven Komponenten mit einem spezifischen Ausdruck verknüpft sind, und er verwendet diesen Ausdruck dann diesen Hypothesen entsprechend. Im folgenden soll zunächst dargestellt werden, auf welche Weise dieses semantische Wissen zu repräsentieren ist, und im Anschluß daran die Frage der strategischen Verwendung von Leitvokabeln noch einmal aufgegriffen werden.
4. Semantische Stereotypen und adressatenseitige Kompetenz Ein geeignetes Instrumentarium zur Bedeutungsbeschreibung stellt eine Methode dar, die neben herkömmlichen semantischen Merkmalen (nach Katz/Fodor 1970) auch stereotypische Merkmale annimmt, die mit dem jeweils verwendeten Ausdruck verbunden sind (zur Stereotypentheorie vgl. Putnam 1979). Das semantische Stereotyp ist nach Putnam Bestandteil einer Normalform-Beschreibung der Bedeutung eines Wortes. Zu einer solchen Normalform-Beschreibung gehören der syntaktische Marker, der über die Wortart informiert, der semantische Marker, der genus proximum und
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differentia specifica angibt, und schließlich das Stereotyp, das die in einer Gesellschaft oder einem gesellschaftlichen Teilsystem (Teilöffentlichkeit) vorherrschende konventionale Meinung über die Natur des Denotats wiedergibt. Stereotypen enthalten Eigenschaften paradigmatischer Elemente der denotierten Klasse von Gegenständen, Eigenschaften, die unter einer anderen Perspektive marginal sein können (vgl. Putnam 1979, 68 f.). Bezogen auf den Beispielsterminus Marktwirtschaft kann man als Stereotyp eine Menge von Komponenten annehmen, die mindestens folgende Elemente enthält: WIRTSCHAFTSORDNUNG, FREI, GERECHT, DEN BEDÜRFNISSEN DER KONSUMENTEN ANGEPASST. Gerade bezüglich des Stereotyps wird deutlich, daß diese Form der Analyse die Berücksichtigung deijenigen Bedeutungsanteile von Ausdrücken ermöglicht, um derentwillen die Vokabeln als strategische Mittel im politischen Sprachhandeln eingesetzt werden. Sind die angenommenen stereotypischen Merkmale tatsächlich im Adressatenkreis mit dem betreffenden Ausdruck verbunden, so kann dieser seine Funktion im Rahmen eines Sprechakts erfüllen. Das Induzieren einer Überzeugung fällt leichter, wenn man sich eines Terminus bedient, der im Stereotyp mit dieser Überzeugung verträgliche oder übereinstimmende Elemente enthält. Aus der Hypothesenbasiertheit sprachlichen Handelns geht hervor, daß die semantische Beschreibung einer politischen Leitvokabel nicht als Bestandteil einer idealisierten sprachlichen Kompetenz von Sprecher und Adressat interessiert, sondern als eine sprecherseitige Annahme oder Projektion bezüglich des semantischen Adressatenwissens aufgefaßt werden muß. Wird ein sprachlicher Ausdruck im Zuge einer bestimmten Sprecherstrategie gewählt, oder wird ein neuer Ausdruck als Komposition aus bekannten Bestandteilen oder ein alter Ausdruck in neuem Kontext verwendet, dann ist ftir die Ausdruckswahl die unterstellte Menge an stereotypischen Merkmalen entscheidend, die ex hypothesi mit der betreffenden Vokabel verbunden sind. Hieraus ergibt sich folgendes Angemessenheits-Kriterium für politische Leitvokabeln: Wählt der Sprecher einen Ausdruck im Sinne des strategischen Sprachhandelns, so ist dieser Ausdruck angemessen, wenn das hypothetisch unterstellte und das tatsächlich geltende adressatenseitige Stereotyp übereinstimmen. Im Falle einer solchen Übereinstimmung trägt die Verwendung eines Ausdrucks zur Realisierung des Ziels bei, das der Sprecher mit seiner Äußerung verfolgt. Der Ausdruck ist geeignet, im Zusammenhang des Sprechakts die intendierten epistemischen oder evaluativen Einstellungen seitens der Adressaten hervorzurufen und somit das strategische Gesamtziel des Sprechers zu unterstützen. Verbindet man in der hier angegebenen Weise die semantische Analyse von Ausdrücken (Leitvokabeln) mit einer Explikation der sprechakttheoretisch zu
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bestimmenden Ziele von Sprechern, so ist man in der Lage, eine ebenengerechte Beschreibung der Faktoren, die für politischen Sprachgebrauch charakteristisch sind, vorzunehmen. Hypothetisch unterstellte adressatenseitige Stereotypen bilden die Basis für die sprecherseitige rationale Wahl von Leitvokabeln im Zuge politischer Argumentation, wobei das GeeignetheitsKriterium bei der Auswahl der Vokabeln in der Übereinstimmung des Stereotyps mit der allgemeinen Tendenz der im Sprechakt inkorporierten Aussage besteht. Der Grad dieser Übereinstimmung ist gleichzeitig ein Maßstab für den Erfolg und die Durchsetzungskraft bestimmter Ausdrücke auf Kosten anderer, konkurrierender Vokabeln.
5. Metaphern als Mittel zur Konzeptualisierung Die Publikation des Buches Metaphors We Live By von G. Lakoff und M. Johnson (1980) setzte eine Diskussion in Gang, die die Funktion von Metaphern unter einer bis dahin nicht eingenommenen Perspektive zu sehen ermöglichte. Metaphern wurden von den Autoren nicht mehr als poetische Mittel zur Ausschmückung oder rhetorischen Intensivierung sprachlicher Äußerungen aufgefaßt, sondern ihnen wurde eine grundlegende Funktion bei der Herausbildung von Alltagsbegriffen zugesprochen, durch die wir erkenntnismäßigen Zugang zu den Dingen unserer Umwelt erlangen. Das Reden in Metaphern setzt nach dieser Auffassung nicht mehr die Kenntnis des mit dem nicht-metaphorischen Pendant verbundenen Begriffs voraus, so daß man von der wörtlichen Lesart und dem mit ihr verbundenen semanti sehen Wissen zur metaphorischen käme. Metaphern ermöglichen vielmehr direkt die Konzeptualisierung von Alltagsgegenständen, ohne Rückgriff auf einen wörtlichen Sinn, und dies dadurch, daß sie uns einen metaphorischen Zugang zur Welt erlauben, der anders (d.h. nicht-metaphorisch) nicht in gleicher Weise möglich wäre. Lakoff/Johnson nehmen an, daß das konzeptuelle System von Sprechern, auf dessen Basis sie denken und handeln, von grundlegend metaphorischer Natur ist. Sie schreiben: "[...] the way we think, what we experience, and what we do every day is very much a matter of metaphor" (ebd., 3). So sprechen wir im Rahmen der "ARGUMENT-IS-WAR-Metapher" von Angriff und Verteidigung sowie dem Behaupten oder dem Ins-WankenGeraten argumentativer Positionen auch von gewählten Argumentationsstrategien. Die ökonomische Metapher führt uns dazu, auch in nichtökonomischen Bereichen von Investitionen, vom zu zahlenden Preis und von Kosten-Nutzen-Relationen zu sprechen. Wollte man diese Metaphern rückübersetzen in wörtliche Ausdrücke, so käme man häufig in Schwierigkeiten mit der Wahl einer angemessenen Vokabel, und dieses Phänomen weist
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darauf hin, daß die durch die Metapher ermöglichte Perspektive nicht eine zusätzliche, ausschmückende ist, sondern grundlegend mit Kategorisierung und Erkenntnisgewinnung verbunden ist. Auf der Basis ihrer recht traditionellen Metaphern-Definition, nach der Metaphern als das Verstehen und Erfahren einer Kategorie von Gegenständen in den Begriffen einer anderen Kategorie aufzufassen sind, kommen Lakofl/Johnson zu der weitreichenden These, daß menschliches Denken insgesamt metaphorisch sei. Metaphern sind demnach also keine sprachlichen Phänomene, sondern sich sprachlich manifestierende nicht-sprachliche Phänomene. Lakoflyjohnson konkretisieren ihre These insofern, als sie eine bestimmte Präferenz der Metaphorisierung annehmen, die insgesamt zu einer Gerichtetheit vom Abstrakten zum Konkreten führt: Our experiences with physical objects (especially our own bodies) provide the basis for an extraordinarily wide variety of ontological metaphors, that is, ways of viewing events, activities, emotions, ideas, etc., as entities and substances. (Ebd., 25)
Nimmt man diese Tendenz zur Verdinglichung an, dann findet dies natürlich auch auf politisches Vokabular Anwendung. Es ist zu erwarten, daß gerade Hochwertwörter, die zumeist Abstraktes bezeichnen, in dieser Weise metaphorisiert werden. Für den Metaphern-Ansatz gilt dann das gleiche wie für die Theorie der semantischen Stereotypen: Im Zuge eines Sprechakts vorkommende Metaphern sind ein Indiz für eine Kalkulation des Sprechers, die sich auf die Verstehensleistungen seiner Adressaten richtet und die Wahl bestimmter Metaphern steuert. Die Verwendung konkretisierender oder verdinglichender Metaphern für Ausdrücke wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit spiegeln die hypothetische Annahme des Sprechers, daß diese Metaphorisierungen die zu vermittelnden Werte besser darstellbar machen, da sie eine Anknüpfung an die dingliche Erfahrungswelt des Publikums erlauben. Der Typ von Metapher, der dann gewählt wird, sagt nicht nur etwas aus über die Verständlichkeits-Annahmen des Sprechers, sondern er erlaubt auch Rückschlüsse auf das jeweils verfolgte persuasive Ziel. Inwieweit diese Zuordnung möglich ist, wird sich im folgenden Abschnitt zeigen lassen.
6. Zum Beispiel Gerechtigkeit Der Begriff der Gerechtigkeit gehört neben denen der Freiheit und der Gleichheit zu den für jede politische Argumentation verbindlichen Grundbegriffen. Er begründet zentrale Verfassungsartikel, ist aus Parteiprogrammen und -entschlüssen nicht fortzudenken und erhält gegenwärtig auch in der
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aktuellen politischen Auseinandersetzung immer stärkeres Gewicht. Die Verwendung eines solchen Begriffs ist sowohl unter strategischen als auch unter Verständlichkeits-Aspekten nicht unproblematisch, weil ein entsprechendes Denotat aufgrund seiner Abstraktheit sowie seiner Universalität rezeptiv schwer faßbar ist. Daß man diesen und verwandte Begriffe kaum noch glaubhaft auf spezifische Sachverhalte anwenden kann, ist zum Anlaß genommen worden, angesichts ihrer wachsenden Verwendung von Leerformeln zu sprechen (vgl. Dieckmann 21975). Für den sprachhandelnden Politiker, der auf die Anbindung der von ihm vertretenen Auffassung an Grundwerte wie den der Gerechtigkeit nicht verzichten möchte, stellt sich also die Aufgabe, einen solchen Begriff von seinem hohen, abstrakten Roß zu holen und ihn in eine glaubwürdige Beziehimg zu seiner politischen Position zu setzen. Untersucht man die Empirie, so stellt sich in der Tat heraus, daß der Gerechtigkeits-Begriff unter Rückgriff auf Stereotype wie auf Metaphorisierungen konkretisiert wird, wobei sich bezüglich der Metaphern einige grundlegende Tendenzen immer wieder zeigen. Im folgenden seien einige Beispiele für diesen Prozeß gegeben, die aus einem Corpus zur Sprache der Politik der vierziger und fünfziger Jahre entstammen.1 Auffallend ist, daß der Gerechtigkeits-Begriff bevorzugt durch die FTJNDAMENT-Metapher konzeptualisiert wird, wobei Gerechtigkeit als Basis, als Grund vorgestellt wird, auf dem eine Gesellschaft erst aufgebaut werden kann. So formulieren die Kölner Leitsätze der CDU vom Juni 1945: Die Gerechtigkeit ist das Fundament des Staates. Das Dürkheimer 16-Punkte-Programm der SPD vom August 1949 verbindet eine FUNDAMENT-Metapher mit der LEBENS-Metapher: Die SPD geht bei ihrer Politik von der Erkenntnis aus, daß eine lebenskräftige Demokratie nur auf dem Fundament sozialer Gerechtigkeit erbaut werden kann. Die CDU Südwürttemberg-Hohenzollern stellt sich in ihrem Gründungsaufruf 1946 folgendermaßen dar:
1 Dieses Corpus entstand im Rahmen des von der VW-Stiftung geförderten Projekts "Politische Leitvokabeln in der Bundesrepublik von 1945-1961" und wurde durch die systematische Auswertung von Presseausschnitten, Parteiprogrammen, Regierungserklärungen und Wahlkampfmaterialien des genannten Zeitraums gewonnen. Die Ergebnisse des Projekts werden in Böke/Liedtke/ Wengeler (199Î) vorgestellt
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Sammelt Euch in der Christlich-Demokratischen Union! Bekennt damit Euren Willen, mitzuwirken am Auibau eines Deutschlands, das auf dem unerschütterlichen Grund des Christentums und auf dem Boden wahrer Freiheit und Gerechtigkeit steht. Wird in diesen Beispielen versucht, wenn schon nicht Gerechtigkeit selbst, so doch zumindest den Stellenwert von Gerechtigkeit für den Auibau eines Gemeinwesens nach dem Krieg zu definieren und zu verdeutlichen, so findet dies in den folgenden Zitaten eine Fortsetzung, allerdings nicht unter Rückgriff auf die statische FUNDAMENT-Metapher, sondern mit Hilfe der dynamischen ZIEL-Metapher. Konrad Adenauer stellt in der ersten Regierungserklärung 1949 fest: Das Streben nach Linderung der Not, nach sozialer Gerechtigkeit, wird der oberste Leitstern bei unserer Arbeit sein. Die Sozialistische Internationale erklärt 1951: [...] alle erstreben ein gemeinsames Ziel: eine Gesellschaftsordnung der sozialen Gerechtigkeit, der höheren Wohlfahrt, der Freiheit und des Weltfriedens. Und 1959 findet sich im Godesberger Programm der SPD folgende Aussage: Der Sozialismus ist eine dauernde Aufgabe - Freiheit und Gerechtigkeit zu erkämpfen, sie zu bewahren und sich in ihnen zu bewähren. Auch die DACH· oder SCHIRM-Metapher wird zur Konkretisierung des mit Gerechtigkeit Gemeinten verwendet, so in den Kölner Leitsätzen der CDU vom Juni 1945: Soziale Gerechtigkeit und soziale Liebe sollen eine neue Volksgemeinschaft beschirmen, die die gottgegebene Freiheit des einzelnen und die Ansprüche der Gemeinschaft mit den Forderungen des Gemeinwohls zu verbinden weiß. Nicht im Sinne einer Metaphorisierung, sondern eher als Versuch der Etablierung eines Stereotyps für Gerechtigkeit ist der Definitionsversuch der SPD zu werten, wie er sich im Entwurf zum Godesberger Programm 1958 findet:
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Freiheit und Gerechtigkeit bedingen einander. Ohne Gerechtigkeit wird aus Freiheit Willkür, ohne Freiheit fìir alle ist Gerechtigkeit nicht möglich [...]. In dieser Passage wird offenbar versucht, das Spannungsverhältnis von Gerechtigkeit, deren Durchsetzung zu Einschränkungen fuhren kann, und Freiheit, deren Ausleben ungerecht sein kann, zu definieren. Hierbei wird Gerechtigkeit stereotypisch als eine Instanz eingeführt, die einerseits Willkür verhindern kann, andererseits auf Freiheit als ihre Voraussetzung angewiesen ist, da sie sonst als nicht denkbar erscheint. Auf diese Weise wird der Gerechtigkeits-Begriff semantisch angereichert durch die Relationierung zu zwei anderen Instanzen, einer negativ und einer positiv konnotierten. Gerechtigkeit als Problem der Verteilung wird parteiübergreifend thematisiert, wobei dieser Aspekt von Gerechtigkeit ja traditionell nur einer von zweien ist, deren anderer Gerechtigkeit als fairen Austausch von Gütern umfaßt. Diese Dichotomie von iustitia distributiva und iustitia commutativa wird in den untersuchten Verlautbarungen im wesentlichen eingehalten, wobei die Strategien der Vermittlung natürlich unterschiedlich sind. Gerechtigkeit als Problem der Verteilung wird überwiegend mit diesem auch konkret lesbaren Begriff gekennzeichnet. So postuliert die SPD in ihrem Godesberger Programm: Die Marktwirtschaft gewährleistet von sich aus keine gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung. Die CDU ist anderer Auffassung, wie man aus den Düsseldorfer Leitsätzen von 1949 erfährt: Die Planwirtschaft kann weder das Problem der höchstmöglichen Produktion noch das Problem einer gerechten Verteilung der Erzeugnisse meistern. [...] Wirtschaftliche Not kann man durch zwei Verfahren zu überwinden suchen: die Planwirtschaft will die Armut gerecht verwalten und verteilen, die Marktwirtschaft will durch den Leistungswettbewerb auf allen Stufen die Armut überwinden. Da das Problem der Gerechtigkeit erst dann entstehen kann, wenn es widerstreitende Interessen bezüglich knapper Güter gibt, Armut aber weder in irgendjemandes Interesse liegt noch als knappes Gut zu werten ist, liegt hier wohl eine sachlich falsche Argumentation zugrunde. Da jedoch nicht der Plausibilitätsgrad der Argumente, sondern die sprachlichen Strategien näher untersucht werden sollen, sei dies hier nicht weiter verfolgt. Wichtig
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erscheint, daß das Bild der Verteilung an sich soviel an Konkretheit erlaubt (jeder bekommt ein ihm zustehendes Stück Kuchen o.ä.), daß mit ihm die Grundmechanismen komplexer Wirtschaftssysteme bis zu einem gewissen Grade vermittelbar sind - sei es in einem empfehlenden oder in einem abschreckenden Sinne. Auch recht abstrakte Objekte, die man sich nicht als buchstäblich verteilbare vorstellen kann, werden in dieses Bild einbezogen: Durch strenge und gerechte Verteilung des vorhandenen Wohnraumes muß insbesondere den Wohnungs- und Heimatlosen unseres Volkes geholfen werden. fordert die CDU in ihren Frankfurter Leitsätzen vom September 1945. Der Aspekt der ausgleichenden Gerechtigkeit manifestiert sich zum Beispiel in einer Forderung der CDU in den Kölner Leitsätzen vom Juni 1945: Das Recht auf Eigentum wird gewährleistet. Die Eigentumsverhältnisse werden nach dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit und den Erfordernissen des Gemeinwohls geordnet. Durch gerechten Güterausgleich und soziale Lohngestaltung soll es dem Nichtbesitzenden ermöglicht werden zu Eigentum zu kommen. Und Kurt Schumacher fordert in einer Bundestagsrede 1947: Eine Währungsreform ist nur dann zukunitsträchtig und erfolgverheißend, wenn sie untrennbar mit dem gerechten Lastenausgleich verbunden ist. Hinter all diesen Einlassungen steht natürlich das Bild der Waage, die sich nicht auf eine Seite neigen darf, wenn es gerecht zugehen soll. Der Ausdruck Lastenausgleich entspricht in seiner Metaphorik diesem Bild. Der Ausdruck gerecht kommt in diesem Zusammenhang oft nur in spezifizierender Funktion vor, so daß der Ausgleich an sich schon als Definiens für Gerechtigkeit allein stehen könnte. Ein Beispiel hierfür sowie für die Durchgängigkeit der Metaphorik SCHWERER LASTEN mag folgender Beleg gelten: Wir stellen als unsere nächsten beiden Thesen auf: "Gerechter Ausgleich der Kriegsfolgelasten - nicht Abwälzung auf die Geschädigten!" so Willi Eichler in einer Rede auf dem Wahlkongreß der SPD in Frankfurt/M. am 10.5.1953.
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Soweit einige Belege zur eingangs vorgestellten These, daß Stereotypisierungen und Metaphorisierungen im Zuge des politischen Sprechhandelns eine wichtige Funktion für die sprachliche Vermittlung von Konzepten haben, die mit Hochwertausdrücken verbunden sind. Die hypothetische Unterstellung der Redner und Thesenschreiber, daß Abstrakte in einer bestimmen Weise auf konkrete Metaphern abbildbar sind und somit der Sprachpraxis und Konzeptualisierungspraxis der Rezipienten entsprechen, führt sie zu dem von ihnen gewählten Sprachgebrauch. Daß dabei parteispezifische Schwerpunkte der Metaphern- oder Stereotypenbildung vorgenommen würden, war in einem erheblich geringeren Umfang der Fall, als man vielleicht annehmen könnte. Ein Metapherntyp allerdings, den man als SPORT-Metapher kennzeichnen kann, läßt sich insofern eindeutig zuordnen, als er vor allem für die FDP charakteristisch ist. Sie schreibt in ihrem Sozialprogramm von 1952: Unsere heutige, auf dem Leistungsprinzip aufgebaute Wirtschaftsordnung, die sozial verpflichtete Marktwirtschaft wird nur dann als gerecht empfunden werden, wenn gleiche Startmöglichkeiten für alle gegeben sind. Hiermit soll die Veranschaulichimg der dargestellten Aspekte der Sprache der Politik abgeschlossen werden. Es sollte deutlich gemacht werden, in welcher Weise sich strategische und verständlichkeitsorientierte Überlegungen auf die Ausdruckswahl für politische Texte niederschlagen, wobei die theoretischen Voraussetzungen sowie die empirischen Befunde hier eher angedeutet als entfaltet werden konnten. Das hauptsächliche Anliegen war, Argumente dafür zu liefern, daß eine zufriedenstellende Analyse der Verwendung von Hochwertausdrücken im öffentlichen Sprachgebrauch nur unter Berücksichtigung der genannten - vor allem handlungstheoretischen - Aspekte zusammen mit einer Theorie der semanti sehen Stereotypen und der Metaphernbildung möglich erscheint.
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LITERATUR Boke, Karin; Liedtke, Frank; Wengeler, Maitin: Öffentlicher Sprachgebrauch in der AdenauerÄra. Beriin/New Yoik 1995. Dieckmann, Walter Sprache in der Politik. Heidelbeig 2 1975. Katz, J J . ; Fodor, J.A.: Die Struktur einer semantischen Theorie. In: Vorschläge für eine strukturale Grammatik des Deutschen. Darmstadt 1970, S. 202-268. Lakoff, Gordon; Johnson, Mark: Metaphors We Live By. Chicago/London 1980. Lübbe, Herrmann: Der Streit um Worte. In: G.K. Kaltenbrunner (Hg.), Sprache und Herrschaft. München 1975. Putnam, Hilary: Die Bedeutung von "Bedeutung". Frankfurt/M. 1979. Searle, John Rogers: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt/M. 1971. Searle, John Rogers: Intentionality. Cambridge 1983.
Über die Inszenierung journalistischer Kommentare in einer NS-Besatzungszeitung CHRISTOPH SAUER
1. Blickwechsel Fast alle Publikationen zur NS-Propaganda und zur Lage der Presse im "Dritten Reich" gehen davon aus, daß vor allem die historischen Bedingungen journalistischer Tätigkeiten erarbeitet werden müssen, wenn überhaupt ein Zugang zu den entsprechenden Texten gefunden werden soll. In der Regel holt man recht weit aus (neuere Beispiele sind: Bohse 1988, Reichel 1991). Dagegen sind Überlegungen in der Minderzahl, die versuchen, auch von einem späteren Standpunkt aus eine Perspektive auf die Texte zu gewinnen. Es sind nun zwei Indiziengruppen, die eine solche Akzentverschiebung plausibel machen können. Die Akzentverschiebimg selber könnte übrigens den Namen reaktionäre Modernisierung tragen: Modernisierung, weil sie ein Pressesystem erzeugte, das den Anforderungen einer Massengesellschaft genügte und schon Entwicklungen der Nachkriegspresse vorbereitete; reaktionär, weil das staatliche Gewaltmonopol den Keim zum Staatsterrorismus in sich trug. Den ersten Hinweis gewinnt man aus der Tatsache, daß die überwiegende Mehrzahl der Journalisten nach 1945 zunächst in der Lizenzpresse, dann bei den neu- oder wiedergegründeten Zeitungen weitermachte (Oschilewski 1975, Köhler 1989) - junge Journalisten vom Typ Rudolf Augstein waren in der Minderheit. Möglich war dies nur unter der Voraussetzung, daß sich die Arbeitsbedingungen nicht grundsätzlich verändert hatten. Ausgetauscht - um es einmal überspitzt zu formulieren - wurden Inhalte, während man bei den Schreibweisen, stilistischen und organisatorischen Fertigkeiten und Formulierungsattitüden an Erfahrungen unterm NS-Regime anknüpfen konnte. Das "Handwerkszeug" stand bereit und wurde benutzt. (Dies kann man natürlich auch kritisch wenden, wie es Enzensberger (1962) tat, als er feststellte, daß "die Herrschaft Hitlers [...] der deutschen Presse das Rückgrat gebrochen" habe. Allerdings ergibt sich aus diesem Standpunkt die Schwierigkeit, die Leistungsvielfalt der Massenmedien in der Demokratie abzuleiten und ihre Rolle für demokratische Entwicklungen aufzunehmen).
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Neben der personellen Identität steht als zweiter Hinweis die Medienpolitik bzw. die Beeinflussung journalistischer Tätigkeiten durch staatliche Stellen. Hier hat der Nationalsozialismus als Staatsmacht eine gewisse "Funktionsveränderung" hervorgebracht, die üblicherweise als Gleichschaltung apostrophiert wird. Mit diesem Begriff, der dem Goebbelsschen Sprachgebrauch entnommen ist, setzt man sich allerdings dem Mißverständnis aus, daß diese tatsächlich zustande gekommen sei - wenn man nicht sogar apologetische Ziele verfolgt. Neuere Untersuchungen belegen jedoch, daß es keine lückenlose Presselenkung gegeben hat, sondern daß die für den Nationalsozialismus insgesamt charakteristische Institutionenvielfalt und das Nebeneinanderarbeiten von verschiedenen staatlichen und Parteidienststellen auch für den Pressebereich prägend war (Toepser-Ziegert 1984, 1988; Frei 1988; Frei/ Schmitz 1989). Wenn man dann noch die in den verschiedenen besetzten Ländern erschienenen deutschen Besatzungszeitungen, von denen die hier besprochene DEUTSCHE ZEITUNG IN DEN NIEDERLANDEN (DZN) eine war, berücksichtigt (Haie 1965), ergibt sich ein widersprüchliches Bild: Wer als Jounalist schrieb, schrieb unter erschwerten Bedingungen, das ist sicher wahr, aber er plapperte nicht einfach nach, was das Propagandaministerium vorgeschrieben hatte. Das tat er übrigens auch nicht, wenn er selber überzeugter Nationalsozialist war. Individuelle und institutionelle Problemlösestrategien beherrschten die Szene. Damit aber ist eine Konstellation benannt, die uns auch heutzutage vertraut ist. Die Arbeitsweise der Journalisten, die sich seit der Weimarer Republik herauskristallisiert hat, bestand und besteht überwiegend darin, vorgefertigte Texte zu bearbeiten und dabei auf nur wenige verschiedene Quellen zurückzugreifen. Diese werden in der Regel aus der Öffentlichkeitsarbeit von Institutionen gespeist: In die Redaktionen gelangen sie über Pressekonferenzen oder Nachrichtendienste. Die eigentliche journalistische Arbeit besteht somit darin, die "vorgefundenen" Schreibanlässe für die Zwecke der e i g e n e n Zeitung aufzugreifen, die erhaltenen Materialien umzuschreiben, auf andere Artikel zu beziehen, der allgemeinen Linie anzupassen, individuell auszugestalten, eigene Fähigkeiten einzusetzen und dabei möglichst nicht bei Vorgesetzten (innerhalb der Redaktionsleitung) und den Institutionen (unter ihnen die Inserenten) anzuecken. Ich plädiere dafür, die Analyse von Zeitungsartikeln, die unter nationalsozialistischer Steuerung entstanden sind, nicht darauf zu beschränken, diese umstandslos als Belege für die Durchschlagskraft der faschistischen Ideologie zu nehmen, sondern im Gegenteil den Umständen genau nachzugehen, unter denen damals Journalisten ihre Texte geschrieben oder umgeschrieben haben. Die spezifische Modernität der NS-Presselenkung erzeugte eine besondere Anstachelung der journalistischen Subjektivität: die leser- und zeitungs-
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bezogene Realisierung und Ausformulierung auferlegter oder nahegelegter Schreibanlässe. Die große Linie, die das Goebbels-Ministerium oder das Auswärtige Amt vorgaben, mußte unterfüttert werden, d.h. durch journalistischen "Einfallsreichtum" abgefedert und textuell in vorhandene Rahmenbedingungen einbezogen werden. Freilich gab es viele Leser - und sehr verschiedenartige, wenn man ihren Einfluß auf die journalistische Tätigkeit beachtet. Für den notwendigen Anpassungsprozeß der Journalisten waren die amtlichen (Pressestellen und Propagandaministerium) und Partei-Leser (Propagandaämter) besonders wichtig, da sie mit einer Sanktionsmacht ausgestattet waren. Sie können gewissermaßen als primäre Leser gelten. Im nachhinein - also im Sinne einer kontrollierenden Nach-Lese - wurde belobigt, gerügt, bestraft oder befördert. Dagegen sind die sekundären Leser, die eigentlichen Bezieher der Zeitungen, wahrscheinlich diejenigen, an die die Journalisten selber als erste gedacht haben. Aus systematischen Gründen ist es sinnvoll, im Falle der Besatzungszeitungen noch von tertiären Lesern auszugehen, also der Leserschaft, die sich aus den Reihen der Besetzten rekrutierte. Die Infamie der NS-Presselenkung erweist sich nicht in der Phantasie Goebbels', er sei der Dirigent eines vielstimmigen Presseorchesters gewesen, "monoform im Willen und polyform in der Ausgestaltung des Willens", sondern sie erweist sich in jener angesprochenen Stimulierung journalistischer Virtuosität, die noch den individuellen Rettungsanker, man hätte für ein "Lesen zwischen den Zeilen" geschrieben, als erwünschte KonformitätsVariante desavouiert. Angemessener ist es, von der Schere im Kopf auszugehen, von der heutige Journalisten vielfach berichten, wenn sie ihre Arbeitsbedingungen charakterisieren. Diese Schere im Kopf wurde von den Nationalsozialisten nur angewendet und systematisiert, nicht erfunden. Insofern ist der Blick zurück, wie er hier vorgenommen wird, zugleich immer auch ein Blick voraus.
2. Journalistische Erörterungen: Handlungsverkettungen und Inszenierungen Zunächst behandele ich die Textsorte, die hier im Mittelpunkt steht. Mein Ausgangspunkt dabei ist funktional-pragmatisch (vgl. Sauer 1985, 1989, 1990a). Unter "journalistischen Erörterungen" verstehe ich - mit Rehbein (1983) - vor allem Leitartikel, Glossen, Kommentare u.ä. Sie unterscheiden sich beispielsweise von "journalistischen Informationen" - also Berichten, Nachrichten, Meldungen u.ä. - durch den größeren Anteil an organisierenden und "lenkenden" Eingriffen des Verfassers. Während Informationen auf der schematisierten Wiedergabe von beobachteten Vorgängen beruhen, sind
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Erörterungen mit einem größeren Kreativitätsfundus ausgestattet, gerade da, wo sie, um ihren Zwecken genügen zu können, zunächst einmal ebenfalls darstellen und wiedergeben müssen, bevor sie sich dem eigentlichen Erörtern widmen. Insgesamt sind diese " meinungsbezogenen" Texte, wie man sie auch (nicht sehr trennscharf) nennt, reichhaltiger im Einsatz stilistischer Prozeduren. Informationstexte bedienen sich in der Regel einer SachlichkeitsStilistik, Erörterungen einer Vermittlungs-Stilistik. Daß Kommentare manchmal "unsachlich" wirken, hat eben damit zu tun, daß ihre Sache nicht die Wiedergabe des Tatsächlichen ist, sondern die Dekoration von Meinungen. Erörterungen gelten gemeinhin als persuasiv, insofern sie explizite Bewertungshandlungenför Leser vollziehen. Diesen Lesern tritt im Text eine "Instanz" entgegen; die "Instanz" ordnet, reformuliert, kombiniert und arrangiert Sachverhalte und unterzieht sie fortlaufend verschiedenartigen Bewertungen. Darin kommt der Zweck journalistischer Erörterungen zum Tragen: Sie werden um dieses Zweckes willen geschrieben und gelesen - von vielen Lesern auch goutiert und, unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Informationsverknappimg, mit phantasievollen "Ergänzungen" bedacht. Solche spezifischen kognitiven Ergänzungsaktivitäten der Leser beschränken sich unter den obwaltenden Umständen nicht auf Kommentare u.ä., sondern richten sich auch auf die sonstigen Leseangebote der Zeitungen. Daß man immer mehr liest, als im Text steht, diese Grundannahme der kognitiven Linguistik wurde unter der nationalsozialistischen Ägide zu spezifischen Leseformen verfeinert. Ein allgemeiner Argwohn gegenüber dem mutwillig Verschwiegenen machte sich breit; zugleich mit dieser gewissermaßen standardisierten Verdächtigung ging die Bereitschaft einher, aus Nebensächlichem, aus echten oder vermeintlichen Andeutungen, aus "nicht passenden" Details oder sonstigen Widersprüchlichkeiten, Vagheiten, Ambivalenzen bestimmte Bestätigungen für Befürchtungen herauszulesen, die man hatte. Das wußten jedoch nicht nur die Kontrolleure des Propagandaministeriums, das wußten auch die Journalisten und Redaktionen. Sie stellten sich darauf ein. Es zeigt sich somit, daß es eine unangemessene Vereinfachung darstellt, wenn man die sprechende oder schreibende Instanz und den betreffenden Autor in eins setzte, wenn man sagte, er leihe der Zeitung (s)eine Stimme. Das mag so in seinem Bewußtsein sein, für die Leser steht jedoch eher das Gegenteil fest: Viele Stimmen sprechen aus den Texten, treten ihnen aus den Texten entgegen. Die journalistischen Texte - also auch die vielen nichtkommentierenden - sind, in der Formulierung Bachtins, polyphon (vgl. Maas 1984; Bachtin nimmt in dieser Metapher die Komplexität von Texten auf, die als nicht einsträngige zu kennzeichnen sind und deren kommunikative Situierung auf komplexen Bedeutungszuweisungen beruht; an die übliche
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Begrenzung auf literarische Texte braucht man sich nicht zu halten, wie schon ein Blick in die rezente Fachsprachen- und Fachtext-Diskussion verdeutlicht, vgl. Sauer 1990b). In den journalistischen Kommentaren herrscht vielleicht ein "Grundton" vor, es gibt aber genug "Obertöne", die andere Interpretationen zulassen, gar gegenläufige. Klemperer (1946) hat in seinem Tagebuch unter anderem Beobachtungen zu dieser Bandbreite der Interpretation von Zeitungsartikeln zusammengetragen. Es gibt nun verschiedene Möglichkeiten, diese Grundannahme polyphoner Kommentartexte in der Presse zu stützen; dabei beziehe ich mich schon auf mein Beispiel aus der DEUTSCHEN ZEITUNG IN DEN NIEDERLANDEN, einer N S Besatzungszeitung, die vom Juni 1940 bis zum Mai 1945 in Amsterdam erschienen ist. Solche Pressekommentare: - haben in der Regel mehrere Adressaten (quantitative Aufschlüsselung unterschiedlicher Lesergruppen, de facto: Niederländer und Deutsche, Kollaborierende, Abwartende, Gegner, vor allem aber auch andere Zeitungen-, vgl. Sauer 1983); - beziehen sich meist auf Konventionen oder Textsortenübereinkünfte, von denen sie jedoch Abweichungen und Veibesonderungen darstellen können (Bestimmung des "Spielraums", innerhalb dessen variiert werden kann; vgl. Roloff 1982); - sie stellen eine spezifische Lösung von (journalistischen) Formulierungsproblemen dar, für die keine Eindeutigkeit vorausgesetzt werden kann und daher eher unwahrscheinlich wäre (Interdependenz zwischen der Aufrechterhaltung bestehender Formen und der Durchsetzung von Innovationen, Zwänge von Behörden, Informationspolitik, Presselenkung im weitesten Sinne; Leser sind daran gewöhnt, daß Erörterungen "kiyptisch" oder "vage" formuliert sind; vgl. Sänger 1975); - in und mit ihnen werden gleichzeitig verschiedene Handlungskomplexe vollzogen, die sich auf verschiedenen kognitiven und soziohistorischen "Feldern" auswirken können (z.B. Rechtfertigung einer bestimmten staatlichen Maßnahme und Drohung mit einer Verschärfung, oder Darlegung eines Sachverhalts und Reklame für das "Neue Europa"; vgl. Maas 1984, Sauer 1985); - sie reagieren auf andere Texte, zeitlich zurückliegende und/oder parallele konkurrierende, indem sie die Erinnerung der Leser anstacheln, und sie liefern Fortsetzungsmöglichkeiten für weitere Texte, indem sie "Syntagmen" und "Paradigmen" zur Verfügung stellen, auf die später zurückgegriffen werden kann (vgl. Bucher 1986, Sauer 1989); - sie bringen verschiedene gesellschaftliche Themen zusammen, indem sie Diskurse miteinander vermischen und diese "Mischungsverhältnisse" oft
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anzeigen oder markieren, beispielsweise durch sprachliche Bilder, Metaphern und Metonymien (Problem der Interdiskursivität, vgl. Jäger 1993, Sauer 1994).
Ein solches komplexes "Programm" soll hier - aus Platzgründen: exemplarisch - vorgestellt werden. Die Texte werden dabei als Handlungsverkettungen (Ehlich 1989) betrachtet, d.h. ihre Handlungsqualität erschließt sich der Analyse erst auf dem "Umweg" der Rekonstruktion der Komplexität des Textes für die Leser. (Eine an der Sprechakttheorie orientierte Redeweise von der "Textillokution" wird daher als sachunangemessen verworfen; wenn man sich dieser Terminologie überhaupt bedienen möchte, dann müßte man eher von "Illokutionsverschlingungen" sprechen, die jedenfalls nicht mehr mit dem Satz-Rahmen, an den sich Searle uneingeschränkt gehalten hat, vereinbar wären). Es geht in erster Linie um den Handlungscharakter der Pressekommentare unter den Bedingungen einer repressiven Pressekoordination, wie sie die NSPropaganda darstellt. Diesem Sachverhalt wird Rechnung getragen, indem die Formulierungsarbeit der Journalisten oder Redaktionen als Inszenierung von funktionsbezogenen, propositionalen und diskursiven Dimensionen des sprachlichen Handelns rekonstruiert wird. Bewertungen und andere persuasive Strategien beziehen sich auf diese Dimensionen. Sie können nicht als eigenständige Handlungen zugrunde gelegt werden, sondern "operieren" auf den Handlungsverkettungen. Als inszenierte Texte sind die Pressekommentare in sich "geschichtet". Wer nur eine "Schicht" wahrnimmt, verstellt sich den Blick auf die sozialhistorische Situation, in der diese Texte funktionieren. Eine journalistische Erörterung kann man inszeniert nennen, wenn sie einerseits einem vieldimensionalen Einflußfeld zu dienen hat und wenn sie andererseits eine spezifische kommunikative Beziehung zum Leser aufbaut. Im ersten Fall denkt man an die vielen, die sich einmischen können und deren Rolle mit der von verschiedenen Regisseuren, die gleichzeitig nebeneinander operieren, verglichen werden kann. In Den Haag und Berlin wurden Richtlinien aufgestellt und deren Einhaltung überwacht. Wer schrieb, wer Schreibaufträge erfüllte, hatte sich da durchzuwurschteln. Der Beispieltext des übernächsten Abschnitts kann belegen, daß Journalisten über ein breites Spektrum verfügten: Es reicht von "braven" Erfüllungen der Tagesparolen über die Einbettungen nazistischer Vorgaben in eine professionelle textuelle Umgebung bis zu sachlich-distanzierten Schreibweisen mit betont traditionellen Anklängen. Alle diese Verfahrensweisen der betreffenden DZN-Journalisten sind charakteristisch für einen Arbeitszusammenhang, in dem verschiedene Institu-
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tionen zufriedengestellt und ihre Forderungen auf die eine oder andere Weise erfüllt werden müssen. In diesem Falle fungieren die Institutionen, also die Propagandainstanzen, als institutionelle Leser, die zumindest in die Lage versetzt werden müssen, einige Ergebnisse ihrer Einflußnahmen in den Texten wiederzufinden. Man kann daher sagen: Diese Texte müssen eine Lesweise ermöglichen, die den Kontrolleuren zeigt, daß ihre "Anregungen" -"Sprachregelungen" und "Tagesparolen" - berücksichtigt wurden. Die institutionelle Inszenierung, wie man sie nennen könnte, ist somit die Lösung eines spezifischen journalistischen Problems unter den Bedingungen der repressiven Pressekoordination. Wer vielen Herren gleichzeitig dienen muß, ist darauf angewiesen, solche Lösungsformen zu entfalten. Tut er es nämlich nicht droht ihm Berufsverbot. Natürlich gibt es Nuancen. Die Skala reicht von der zögerlichen und zurückhaltenden Erfüllung der (vermuteten) Erwartungen durch Inanspruchnahme fremder Texte (Zitate und Paraphrasen) bis zum übereifrigen vorauseilenden Gehorsam, indem man sich päpstlicher als der Papst gibt und den "Hitler in sich" beim Schreiben mobilisiert. Nur die konkrete Analyse dieser Texte vermag die Bandbreite der Problemlösungsstrategien zu ermessen. (Von daher muß auch die übliche Entschuldigung der Journalisten in der Nachkriegszeit, einem seien diese Texte aufgezwungen worden, einem sei "hineinredigiert" worden (Höfer), relativiert werden: Es geht nicht an, jede Verfehlung hinterher mit dem Hinweis auf den "Faktor Goebbels" abzublocken.) Neben dieser institutionellen Inszenierung, die gleichwohl die Vertextung in gewissen Grenzen determiniert, findet man die kommunikative Inszenierung, in der der persuasive Charakter der journalistischen Erörterung zu Tage tritt. Dieser wende ich mich im folgenden mehr oder weniger ausschließlich zu. Kommentare in der DZN sind nicht nur Erfüllungen der Dienstvorschriften, sondern auch Angebote an Leser, an die eigentlichen Leser, die - gerade unter den Bedingungen einer Besatzung - eine Orientierung benötigen. Dies bezieht sich sowohl auf deutsche wie auf niederländische Leser. Die kommunikative Inszenierung zeigt sich in der Form, in der die Sachverhalte zerlegt, rearrangiert, bewertet und mit anderen Themen verbunden werden. Es wäre nicht angemessen, hier nur stilistische Entscheidungen am Werk zu sehen, im Sinne eines "Style-as-choice"-Verfahrens. (Auch der StilBegriff selber muß ja pragmatisch-funktional entfaltet werden.) Keine Frage ist natürlich, daß auch DZN-Journalisten reichlich stilistische Freiheitsgrade besitzen. Rehbein (1983) folgend, sind stilistische Verfahren auf ihre "pragmatische Rolle" zu beziehen, also auf die Art und Weise, wie verschiedene Handlungsmuster, die im Text zusammengebracht werden, tatsächlich miteinander verkettet sind und an der textuellen Oberfläche erscheinen. In diesem Zusammenhang sind vor allem stilistische Auffälligkeiten oder Stilbrüche
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wichtig: Sie zeigen nämlich in der Regel an, daß "widerstreitende Textfunktionen" im Spiel sind (Presch 1985). Bei der Bestimmimg der kommunikativen Inszenierung gehe ich vom Autor aus, auch wenn es viele "Stimmen" sind, die er zu Gehör bringt. Um seinen Erörterungstext als Kommunikationsangebot gestalten zu können, muß er eine Reihe von Entscheidungen treffen. Meist wird es darum gehen, welche Leser er in erster Linie ansprechen möchte: Deutsche, Niederländer, Alliierte und andere. Sodann muß der geplante Inhalt auf diese Leser bezogen werden. Das kann distanziert geschehen, auf einer "sachlichen" Ebene, es kann jedoch auch so geschehen, daß dieser Leser bedrängt wird, daß er in die Enge getrieben wird, daß ihm gedroht wird oder daß ihm "Dienstleistungen" (eine Erklärung, Erläuterung, praktische Tips u.ä.) geboten werden. Damit kommt auch die je konkrete Beziehimg zwischen Autor und Leser zum Tragen. Weiß der Autor zum Beispiel alles besser, oder geht er davon aus, daß sein Leser ihm überlegen ist? Sieht er sich als Schulmeister oder als Fragender? Will er dem Leser einen Dienst erweisen oder einen Gefallen tun, oder macht er sich auf anschmeichelnde Weise an ihn heran? Steht bei ihm die Vermittlungstätigkeit im Vordergrund, oder geht er davon aus, daß der Leser überredet werden muß? Die Analyse der Texte setzt voraus, daß derartige Entscheidungen getroffen worden sind, auch wenn sie nicht im einzelnen nachvollzogen werden können, beispielsweise weil sich erst im Schreiben selbst für den Journalisten eine spezifische Leserbeziehung herausgebildet hat. Nun könnte man annehmen, daß ich darauf aus bin, diG Intention des Autors aufzudecken. Das wäre jedoch eine Fehleinschätzung. Was einer subjektiv will, steht hier nicht zur Debatte. Die Texte sind in dieser Hinsicht ambivalent. Sie sind Resultat eines Textmanagements, das zwar der Journalist vorgenommen hat, und zwar im Rahmen der Pressekoordinierung, dessen Effekte ihm aber entgleiten müssen. Die Inszenierung bezieht sich auf den Beginn der Kommunikation mit dem Leser. Erst der Leser kann sie vollenden, indem er das Angebot aufnimmt - und auf seine Weise verarbeitet. Die Polyphonie der Texte in den journalistischen Erörterungen der DZN zeigt sich in der Art und Weise, wie ein Formulierungsanlaß als Kommunikationsangebot inszeniert wird, wobei weitere "Stimmen" auftreten. Die Themen, die behandelt werden, ziehen in der Regel weitere Themen nach sich, sie sind an thematische Voraussetzungen gebunden, die durch frühere Texte, d.h. Erinnerungen und ideologische Erfahrungen, bis zu einem gewissen Grade bestimmt werden. Die Bausteine - das Material, aus dem der Text aufgebaut ist - sind in doppelter Hinsicht verortet: Sie dienen der thematischen Strukturierung des vorliegenden Textes, sind jedoch gleichzeitig auf andere Texte bezogen, in denen sie eine Rolle spielen. Diese charakteristische
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Intertextualität erzeugt einen ideologischen Bedeutungsraum. Bestimmte Formulierungen ziehen auf nicht zufällige Weise andere Formulierungen nach sich, ähnlich wie eine einmal gewählte Metapher die Herbeiziehung analoger sprachlicher Bilder vorprogrammiert. Vielfach läuft es aufs Nachahmen "maßgeblicher" ideologischer Texte (etwa Hitlers) hinaus. Bestimmte "Ausdrücke" bieten sich an, eben weil sie oft in einem ähnlichen Zusammenhang erscheinen. Die persuasive Kraft der journalistischen Erörterungen hängt somit auch davon ab, ob ähnliche Strategien schon als erfolgreich rezipiert worden sind, vom Journalisten selbst, aber auch vom Leser. Der Kontext, in dem die behandelten Texte erscheinen - nationalsozialistische Propaganda im besetzten "Neuen Europa" - wird vor allem unter dem Gesichtspunkt eine Rolle spielen, mit welchen spezifischen Problemlösungen die betroffenen Journalisten hantieren. Damit kann es dann auch gelingen, Abstand zu nehmen von der immer noch herrschenden Vorstellung einer (isolierbaren) "Nazisprache". Im Vordergrund steht die historische Situation des journalistischen Schreibens im Faschismus. Das Kommunikationsangebot realisiert somit einen gewissen Anspielungsreichtum. Dabei geht es nicht ausschließlich um gemeinsames Wissen (zwischen Leser und Autor), das auf indirekte Weise mobilisiert wird, sondern um die "Intervention" bestehender ideologischer Texte in den laufenden Textzusammenhang aufgrund des herangezogenen Formulierungsmaterials. Dem Leser werden dabei eigene Wissensformen, in denen er seine gesellschaftliche Erfahrung organisiert hat, entselbstverständlicht, manchmal schlicht entwendet, und in neue und neuartige Zusammenhänge hineingestellt. Diese Effekte müssen im einzelnen in der Analyse gezeigt werden. Der Begriff der Inszenierung selber gestattet eine vergleichsweise einfache Analysestruktur. Wie Maas (1984) und Jäger (1993) zeigen, benötigt man kein ausgefeiltes - oder gar ausgefallenes - sprachwissenschaftliches Instrumentarium. Es reicht, wenn man von einer Staffelung ausgeht. Zunächst geht es darum, die Realisierungsmittel an der Oberfläche der Texte systematisch und so vollständig wie möglich zu sichten. Dabei kann man sich durchaus herkömmlicher syntaktischer, semanti scher und stilistischer Methoden bedienen; die Vollständigkeit jedoch sollte nicht aus dem Auge verloren werden (dies sei gegen die vielen fragmentarischen Analysen nationalsozialistischer Texte gesagt, die die Frage nach den Auswahlprinzipien in der Regel unbeantwortet lassen). Danach geht es darum, einen "Sinn der Inszenierung" auszumachen, d.h. eine Lesweise zu entwickeln, die sich sozialhistorisch an den Umständen der kommunikativen Situation festmachen kann. Meist - wegen der erwarteten Polyphonie der Texte - werden sich dabei Widersprüche zeigen; diese können in der Ausarbeitung konkurrierender Lesweisen desselben Textes plausibel gemacht werden. Es wird sich zeigen, daß die spezifische
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kommunikative Qualität jener DZN-Texte gerade in dieser Ermöglichung mehrfacher Lesweisen gelegen ist.
3. D i e DEUTSCHE ZEITUNG IN DEN NIEDERLANDEN
Am 10. Mai 1940 überfiel die deutsche Wehrmacht die bis dato neutralen Niederlande und erzwang schon nach fünf Tagen mit der Bombardierung Rotterdams die Kapitulation der niederländischen Armee. Mit der nach einigen Wochen erfolgten Ernennimg des Österreichers Seyß-Inquart, damals "Reichsminister ohne Geschäftsbereich", zum "Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete" zog Hitler einen Schlußstrich unter die Auseinandersetzungen um Militär- oder Zivilverwaltung, die sofort eingesetzt hatten, während die deutschen Truppen sich auf die Unterwerfung Belgiens und Frankreichs richteten. Dieses Machtwort, das charakteristisch für den chaotischen Führungsstil Hitlers war, drückte zugleich aus, mit welcher besonderen "Aufgabe" die Nationalsozialisten die besetzten Niederlande belästigten: Sie sollten zum "Neuen Europa" hingeführt werden - so lautete die ideologische Vorgabe für die besetzten Länder des europäischen Nordens und Nordwestens - , ihnen stand eine Germanisierung und Nazifizierung bevor, und vor allem sollte die niederländische Wirtschaftskraft in die Kriegswirtschaft des "Reiches" einbezogen werden. Die Gründung der DEUTSCHEN ZEITUNG IN DEN NIEDERLANDEN, deren erste Ausgabe am 5. Juni 1940 erschien und die bis zum 5. Mai 1945 (bis zum Tag der deutschen Kapitulation in der "Festung Holland") gedruckt wurde, stellte dabei den Versuch dar, eine im Medium der Presse systematische Einflußnahme auf die Entwicklungen im besetzten Land vorzunehmen. Die DZN ist eine von 27 deutschsprachigen NS-Besatzungszeitungen in den verschiedenen Ländern: In Frankreich gab es z.B. die PARISER ZEITUNG, in Belgien die BRÜSSELER ZEITUNG, in Norwegen die DEUTSCHE ZEITUNG IN NORWEGEN, die übrigens das direkte Vorbild für die DZN wurde. Die DZN richtete sich schwerpunktmäßig an Deutsche in den Niederlanden, unter ihnen viele Militärs und Mitglieder der Besatzungsverwaltung, und an Niederländer. Sie wurde jedoch auch in Deutschland und in andere Länder ausgeliefert. Die DZN erschien täglich 7mal wöchentlich in einer Auflage von ca. 50 000 Exemplaren. Damit war sie auch kommerziell erfolgreich und konkurrierte mit den niederländischen sogenannten Qualitätszeitungen, denen sie sich auch schon rein äußerlich anglich. Insbesondere übernahm die DZN sehr rasch die in den Niederlanden damals übliche Bebilderung der Zeitung, meist aus dem Archiv, wenn keine aktuellen Fotos zur Verfugung standen
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(Hoffmann 1982, Hirschfeld 1983, Sauer 1983). Im übrigen fehlen bislang Publikationen über Funktionen und Rolle der mit der DZN vergleichbaren Zeitungen in den besetzten europäischen Ländern (zu einer Übersicht vgl. Haie 1964). Die Redakteure der DZN wurden aus Deutschland importiert. Sie kamen zum Teil vom WESTDEUTSCHEN BEOBACHTER aus Köln, aber auch von anderen NS-Zeitungen. Im allgemeinen waren sie mit der niederländischen Situation nicht vertraut. Auch eigneten sie sich die niederländische Sprache erst allmählich an: Eine Konsequenz hieraus ist, daß in verschiedenen Artikeln im Laufe der Zeit immer mal wieder demonstriert wird, daß man sich eingearbeitet hat und daß man seinen Lesern die wachsende Vertrautheit auch durch die Verwendung niederländischer Sprachpartikeln in den deutschen Texten vorführte. Auf diesen Aspekt gehe ich hier jedoch nicht weiter ein. Eine wichtige Funktion der DZN bestand darin, der niederländischen Presse, die mit der sofort einsetzenden "Gleichschaltung" nicht gut zurechtkam, zu zeigen, "wie man unter den neuen Bedingungen zu schreiben hätte". Welche Wirkung diese Bemühung tatsächlich hatte, läßt sich nur erahnen, Untersuchungen hierüber liegen jedenfalls nicht vor. Die Redaktionen der "gleichgeschalteten" niederländischen Zeitungen wären dann die quartären Leser der DZN. Fest steht, daß neben den niederländischen Redaktionen vor allem niederländische Wirtschaftskreise die DZN regelmäßig lasen, außerdem politisch Interessierte und Handlanger und Helfershelfer des Besatzers. Niederländische Nationalsozialisten der NSB ("Nationaal-Socialistische Beweging") mit ihrem "Leider" Mussert jedoch gehörten vermutlich nicht zu den Lesern der DZN, da sie gerade einen eigenständigen niederländischen - d.h. zwar deutsch-analogen, nicht aber "deutschen" - Weg zum Nationalsozialismus propagierten, um nicht den letzten Rest Widerhall, den sie in der Bevölkerung fanden, zu verspielen. In der DZN wird die NSB daher auch nicht bevorzugt. Daraus haben aufmerksame DZN-Leser schließen können, daß im Falle eines deutsches Sieges im Krieg eher ein "Anschluß" stattgefunden hätte, etwa zum "Gau Westland", wie ihn die SS propagierte, als daß eine Selbständigkeit des Landes unter einer niederländischen NSB-Regierung geduldet worden wäre. Die DZN unterlag mehreren Kontrollen durch NS-Propagandainstanzen: in Den Haag der "Presseabteilung", in Berlin dem "Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda" und dem "Pressepolitischen Amt der NSDAP". Außerdem war sie Bestandteil des NS-"Europa-Verlags" unter Amman, der auch die anderen Besatzungszeitungen monopolisierte. Versuche der Einflußnahme niederländischer Nazis auf die niederländische Presse - unter anderem durch Errichtung eines dem Goebbelsschen ähnlichen Ministeriums - und ihr Niederschlag in den Pressekonferenzen sorgten dafür, daß es zu einem nur mühsam zu bändigenden "kontrollierten Chaos" kam.
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Für die DZN war eine Zwischenposition erkennbar, die man folgendermaßen verdeutlichen kann (Sauer 1983): -
Tageszeitung für die Deutschen in den Niederlanden, Soldatenzeitung, Organ des Reichskommissariats, Tageszeitung für Niederländer, anti-englisches ideologisches Kampfblatt.
Dies alles mit dem Erscheinungsbild einer seriösen Zeitung, die sich von der Aufmachung und der Reichhaltigkeit der Sparten an den höchsten Standards - FRANKFURTER ZEITUNG und die Wochenzeitung DAS REICH - messen wollte. Natürlich wurde auch nicht in "deutscher" Schrift gedruckt, sondern mit Rücksicht auf die Ausländer in Antiqua. Der Umfang kam mit diesen Vorgaben überein: zwei Seiten Politik, eine "Seite des Tages", eine "Seite aus den Niederlanden", ein bis zwei Seiten Wirtschaft, eine Seite Kultur und Sport, eine Seite Anzeigen und besonders viele Fotos auf der letzten Seite. Die DZN wurde in Amsterdam gedruckt und redigiert. Als Teil der Kette des "Europa-Verlags" finden sich auch in der DZN viele Artikel, die vermutlich, da genauere Untersuchungen fehlen, auch in den anderen Besatzungszeitungen und anderen Presseorganen erschienen sind, also nicht speziell für die Niederlande geschrieben wurden: Korrespondentenberichte, Leitartikel und sonstige Kommentare, unter ihnen viele von prominenten Nazis und Militärs, Romane, Übernahmen aus anderen Zeitungen, PK-Berichte, Rezensionen, kulturelle Erörterungen, Übersetzungen und natürlich die obligatorischen Hitler- und Goebbels-Reden. Es wäre mithin verfehlt, die DZN etwa mit einer Art "Völkischem Auslands-Beobachter" zu vergleichen. Das war sie nicht. Freilich legte sie sich viel Ausländisches, hier: Niederländisches, so zurecht, daß es inländisch, also deutsch, erscheinen konnte. Erkennbare Entwicklungen in den Niederlanden wurden als "Wiedererkennung" deutscher Verhältnisse abgebucht. Man sollte diesen Mechanismus - diese Inszenierung - nicht unterschätzen, stellte er doch für die DZN-Journalisten eine beträchtliche Arbeitserleichterung dar. Das Schlagen niederländische Geschehnisse über einen deutschen Leisten war den Journalisten daher auch eine Arbeits- und Formulierungshilfe. Die Wirund /Ar-Perspektive stellte sich immer dann "wie von selbst" ein, wenn Niederländisches zu kommentieren war. Hier hat man die veiborgene Quelle vieler persuasiver Schreibweisen vor sich.
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4. Das Beispiel aus der DZN (7.3.1941, S. 4; Bericht als "Erörterung") EIN LEBEN OHNE IDEALE. Niederländische Jugend am Scheidewege. (1) Mit 10 Jahren tritt in Deutschland der Junge in das Jungvolk ein und wird bei Erreichen des 14. Lebensjahres feierlich in die Hitlerjugend aufgenommen. (2) Mit dem 18. bzw. 19. Lebensjahr nimmt ihn der Reichsarbeitsdienst, die Schule der Nation, auf. (3) Es folgt dann die aktive Dienstzeit in der Deutschen Wehrmacht und nach deren Beendigung der Eintritt des nunmehr zum Jüngling Herangereiften in eine der politischen Formationen der Bewegung, SA, SS usw. (4) Strichartig soll damit aufgezeichnet werden, welchen Weg die Jugend in Deutschland geht. (5) Den Weg einer harten körperlichen Ertüchtigung und einer umfassenden geistigen Erziehung und weltanschaulichen Schulung. (6) Der Blick des Jungen und später des Jünglings für alle Begebenheiten innerhalb seines eigenen Vaterlandes und darüber hinaus in der Welt wird geweitet, sein Gesichtskreis vergrößert. (7) Er lebt in einer fest verbundenen Gemeinschaft und ist, das beweisen jetzt gerade die Kriegsmonate, bereit, fur sie sein Leben einzusetzen. (8) Diese Jugend hat Ideale, sie weiß, wofür sie lebt, und sie weiß auch, wofür sie kämpft. (9) Der Führer hat es oft ausgedrückt, daß er stolz ist auf diese Jugend, und daß er weiß, daß sein Erbe dereinst einmal bei ihr in guten Händen liegen wird. Standesdünkel undfalsche Vorstellungen (10) Die Jugend der "Demokratien" hingegen hat und kennt keine Ideale. (11) Sie hat, soweit es sich um die Söhne wohlhabender Eltern handelt, einen stark ausgeprägten Standesdünkel, und soweit es sich um die der Besitzlosen handelt, die Vorstellung von einem Leben, das nicht gerade lebenswert erscheint. (12) Sie kämpft nicht, sie vermag sich nicht nach übergeordneten Gesichtspunkten auszurichten und strebt nur danach, von den vermeintlichen Genüssen des Lebens so viel mitzubekommen, als es eben zu gehen vermag. (13) Diesen uneinheitlichen Zug trägt auch das Gesicht der Jugend des holländischen Volkes. (14) Um ein ganz kurzes Beispiel aus dem Leben des Alltags zu nehmen: man sieht hier in den Großstädten erschreckend viel halbwüchsige Burschen, die fast den ganzen Tag den Glimmstengel nicht mehr aus dem Mund bekommen. (15) Sie haben die Hände oft tief in den Hosentaschen und sind in vielen Fällen nur von dem einen Gedanken beherrscht, zu Centen zu kommen. (16) Die äußere Haltung dieser Jugend jedenfalls ist nicht sehr überzeugend.
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Keine Lehrzeit flir den Beruf (17) Der mit 14 Jahren aus der Schule kommende Junge wird in den meisten Fällen auch nicht geleitet und geführt, sondern er sucht sich einen "Job". (18) Da in Holland eine Lehrzeit fiir die verschiedensten Berufe und damit verbunden eine richtige Ausbildung fehlt, und vor allem keine Auslese nach der Eignung der heranwachsenden Jugend, die nunmehr in das Arbeitsleben tritt, besteht, wandert er vielfach von einem zum andern. (19) Die Folge davon kann nur sein, daß ein hoher Prozentsatz dieser irregeleiteten jungen Menschen im späteren Leben wenig Aussicht auf eine festgegründete Existenz hat. (20) Die Gefahren, hierbei aufAbwege zu geraten, sind besonders groß, und die Zahlen der Kriminalistik in bezug auf die Jugendlichen geben darüber ja auch beredten Aufschluß. (21) Die Aufspaltung der Nation in viele Parteien, in Klassen und Stände unterbindet jeden natürlichen Zusammenhalt. (22) So gibt es auch für die holländische Jugend eine Unzahl von Vereinen und Organisationen, die in den meisten Fällen außer Wandern und Sport nichts zu bieten haben. (23) Das Fehlen einer festen Gemeinschaft führt dazu, daß der größte Prozentsatz der Jugend seinen Weg allein sucht und sich bei Tanz und Spiel erfreut. (24) Das allein kann natürlich keinen Lebensinhalt bedeuten. Nur kein "Militarismus" (25) Wir kennen diese Erscheinungen alle, weil wir sie am eigenen Leibe miterlebt haben. (26) Es sind die Auswüchse liberaler und sogenannter demokratischer Einstellungen. (27) Das Zeitalter des Liberalismus und der Demokratie hat auch die Ideale der heranwachsenden Jugend restlos zerstört. (28) Es ist dies bei der holländischen Jugend nicht anders wie bei der englischen, der französischen oder der belgischen. (29) In die "Freiheit", die diese Lebensanschauung propagierte, war auch die Jugend mit einbezogen. (30) Alles andere wurde als lästiger Zwang abgetan. (31) Nur kein "Militarismus" - eine andere Auslegung hatten die kurzsichtigen Politiker und Volksführer der fremden Staaten flir die Jugendbewegung in den autoritären Staaten nicht —, das war Parole geworden. (32) Daß es sich dabei gar nicht um Militarismus, sondern um die Erziehung der Jugend nach volksgebundenen Gesetzen handelt, daßr hatte man kein Verständnis. (33) Und muß jetzt die Folgen davon tragen! (34) Wem aber das deutsche Beispiel einer verantwortungsbewußten Jugendflihrung und Jugenderziehung nicht zusagt, der wende seinen Blick auj das kleine Land Thailand, das "Land der Freien". (35) Hier ist ebenfalls die Jugend vom Geist beseelt, hier hat sie Ideale, und sie haben dahin geführt,
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diesen kleinen Staat zu einem festen Gefüge zusammenzuschließen. Ein Dasein ohne Inhalt (36) Ich habe mich viel mit der holländischen Jugend unterhalten. (37) Ich fand dabei viele aufgeschlossene Kerle. (38) Sie geben selbst zu, ziel- und planlos herumzuirren. (39) In ihren Adern steckte noch das Blut ihrer Ahnen, die das Leben nur dann liebten, wenn es hart war und Aufgaben stellte. (40) Aber sie fanden keinen Weg dahin. (41) Soweit es sich um Angehörige wohlhabender Holländer handelte, war ihr Weg vorgeschrieben. (42) Ausbildung im Betrieb des Vaters, Reisen nach Deutschland, in andere Länder, in die niederländischen Kolonien. (43) Späterhin Übernahme des Geschäftes. (44) Waren es nicht mit solchen Vätern ausgestattete Jungen, so blieb nur die Erlernung eines Handwerks, das Büro oder die Fabrik. (45) Wer keinen festen Willen hatte, sich im Leben nur einigermaßen durchzusetzen, der endete eben als Portier, als Handlanger usw. und empfand dabei bitter, daß in einem nach demokratischen Prinzipien regierten Land die größten Gegensätze bestehen und alle Arbeit nur wenig Anerkennung findet. (46) Man beginnt auch in Holland einzusehen, daß nach diesen Prinzipien nicht weiter verfahren werden kann. (47) Der Weg zu einer Einheit des Volkes und einer Ausrichtung auf die bevorstehenden großen Aufgaben in einem neuen Europa kann im wesentlichen auch nur mit einer Jugend geschaffen werden, die alle Voraussetzungen dafür mitbringt. (48) Nur mit ihr allein kann aufgebaut und das unglückselige Erbe einer vergangenen Zeit liquidiert werden. (49) Solange das holländische Volk im Denken und Fühlen noch keine Einheit ist, solange es seine Aufgabenstellung in einem neuen Europa noch nicht begriffen hat, so lange wird auch die Jugend dieses Volkes nach ihrem eigenen Schema leben müssen. (50) Wertvolle Kräfte mtißten verlorengehen, wenn dieser Zustand nicht eine baldige Änderung erjühre. Wird der Arbeitsdienst helfen? (51) Ein neuer Weg ist beschritten worden. (52) Und das ist der des niederländischen Arbeitsdienstes. (53) Wie Major Breunese noch vor kurzem dem Vertreter der "Deutschen Zeitung in den Niederlanden" darlegte, soll dieser Arbeitsdienst allgemein für die holländische Jugend sein. (54) Er ist keine politische Institution, ist sich aber seiner Aufgabe, der Jugend für die spätere Zukunft den Weg zu ebnen und sie mit den Lebensnotwendigkeiten vertraut zu machen, vollauf bewußt. (55) Wenn die demnächst zum holländischen Arbeitsdienst eingezogenen Jungen auch früher nicht die Möglichkeit hatten, nach einheitlichen Gesichtspunkten ausgebildet zu werden, so sind sie
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doch noch in einem aufnahmefähigen Alter. (56) Ihr können noch - was das wichtigste ist - Ideale mit auf den späteren Lebensweg gegeben werden. (57) Ideale, die das Leben lebenswert und schön machen, die dem Leben der holländischen Jugend auch einen Sinn geben. (58) Die Aufgabenstellung für die holländische Jugend - und das trifft naturgemäß auch auf die Mädchen zu - ist dem neutralen Beobachter vollkommen klar. (59) Sie heißt: radikaler Bruch mit dem gefiihrten weichen Leben. (60) Die Sünden der Vergangenheit fallen auf das Haupt derjenigen, die Schindluder mit der holländischen Jugend getrieben haben. (61) Die Zukunft kann nur bei denjenigen liegen, die der holländischen Jugend neue Impulse zu geben vermögen. (62) "Staunend sehe und mit größtem Interesse verfolge ich", sagte ein holländischer Erzieher, "wie bei euch die Jugend heranwächst. (63) Wer einmal auf dem Parteitag zu Nürnberg die Hitlerjugend erlebt hat, dem ist aufgegangen, daß eine Nation mit einer solchen Jugend die größten Vorhaben vollbringen kann. (64) Bei uns gilt es jahrelang Versäumtes nachzuholen, sich gegen viele Widerstände durchzusetzen. (65) Wenn wir die im Kern gesunde holländische Jugend aber einmal gewonnen haben, wird uns auch dieses Werk gelingen. "OSKAR PETER BRANDT
5. Inszenienmgstypen S. 1 Eindeutigkeit, Vagheit und Zeitbezüge Ist dieser Text nun nationalsozialistisch? Gibt es Passagen, die ihn als einen Nazi-Text ausweisen? Folgt man den üblichen Analysen, die lange Zeit die sprachkritischen Interpretationen dominiert haben, müßte man sich an dieser Stelle auf die Suche nach typischen Nazi-Ausdrücken begeben. Man findet sie aber kaum; was man findet, sind Hinweise auf das "Blut ihrer Ahnen" (39, in Klammern hier immer die von mir numerierten Sätze), die Opposition zwischen weich und hart, einige Namen der entsprechenden NS-Organisationen wie HJ, Arbeitsdienst u.ä. Diese tragen dazu bei, daß wir den Text historisch verorten können. Offensichtlich aber benutzt der Text keine - wie wir es heutzutage vielleicht erwarten würden - eindeutigen Nazi-Wörter, wohl aber klingen nationale, autoritäre und antidemokratische Grundsätze an. Es fehlen einige herausragende ideologische Zentralbegriffe. Von dieser Erwartung ausgehend hätte man den DZN-Kommentar als Beispiel fur NaziTexte zu verwerfen. Daß diese Reaktion zumindest vorschnell wäre, wird gezeigt werden: Es geht gerade um die "Banalität" der Presseaibeit im Nationalsozialismus, um die "Trivialität" und Alltäglichkeit der Besatzungs-
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zeitung. Diese Banalität erschließt sich nicht im Aufspießen einiger zu kritisierender oder eindeutiger Wörter. Hinzu kommt ein weiteres. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß der Text, der sich ja auch an Leser richtet, denen der Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus nicht geläufig ist oder die noch für ihn gewonnen werden sollen, auf einer Serie von Vermeidungsentscheidungen beruht: Der Journalist hätte dann immer, wenn er die Wahl zwischen einem eindeutigen und einem weniger eindeutigen Wort gehabt hätte, den weniger eindeutigen Ausdruck bevorzugt. Eine solche Interpretation macht eine bestimmte Voraussetzung. Sie setzt voraus, daß eingeweihte Leser den Text irgendwie anders, dann auch "eindeutiger" lesen können als nicht eingeweihte. Gleichwohl ist eine derartige realistische ungleichmäßige Verteilung der Wissensverhältnisse in der Gruppe der Leser eine "Konstruktion", die freilich erlaubt, die institutionellen Bezüge systematisch in die Analyse einzuarbeiten. Die Vermeidungsstrategie erscheint dann auch als nicht weiter verwunderlich, weil damit gewissermaßen zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden können. Einerseits gibt der DZN-Journalist damit den primären Lesern, den Propaganda-Kontrolleuren, zu verstehen, daß er seinen Auftrag erfüllt, die DZNLeser mit einer Grundausstattung in Sachen Nationalsozialismus zu versehen; gleichzeitig stimuliert er das Erinnerungsvermögen der sekundären Leser, der Deutschen in den Niederlanden, die die ausgesparte Eindeutigkeit leicht ergänzen können und denen es nicht schwergefallen sein dürfte, hinter verschiedenen Vagheiten "mehr" zu entdecken (zu rekonstruieren), als der Artikel selber sagt. Andererseits sind da noch die tertiären Leser, die Niederländer. Ihnen vermittelt die Erörterung Standpunkte und Bewertungen, die sie noch nicht übernommen haben und die ihnen daher nähergebracht werden sollen. Von daher erklärt sich ein Großteil der Vorsicht, die der Verfasser walten läßt. Belegen - in einem strengen Sinne - kann ich diese Einschätzung hier nicht. Wohl aber dient sie mir als Hypothese für den weiteren Verlauf der Analyse, eine Hypothese, die die Randbedingungen journalistischer Tätigkeiten im Rahmen einer NS-Besatzungszeitung in den Mittelpunkt stellt. Zu diesen Randbedingungen, die im Beispiel eine Rolle spielen, gehört auch die Verweisstruktur des Textes: sein Aufgreifen früherer Veröffentlichungen in der DZN. In (34, 35) spricht der Journalist über Thailand; er bezieht sich damit auf einige Artikel, in denen thailändische Entwicklungen sehr wohlwollend dargelegt worden waren. Und im Satz (53) wird ein Zitat des Leiters des niederländischen Arbeitsdienstes, Major Breunese, wiedergegeben; ein ausführliches Interview mit ihm hatte die DZN einige Tage vor der hier besprochenen Ausgabe abgedruckt. Somit wird auch die eigene Zeitung zur Quelle verschiedener Formulierungen, die ein DZN-Journalist heranzieht.
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Eine letzte vorbereitende Bemerkung gilt der historischen Momentaufnahme. Der Beispieltext erschien Anfang März 1941, zu einem Zeitpunkt, als die erste Phase der Besatzung in den Niederlanden, die Phase relativer deutscher Unaufdringlichkeit und deutschen Abwartens, zu Ende gegangen war und durch Verschärfung der Nazifizierungsmaßnahmen und größere "Ungeduld" des Besatzers eine neue härtere Phase begonnen hatte (vgl. dazu Sauer 1984). Ein Streik in Amsterdam und Umgebung, der sogenannte Februar-Streik - der erste Streik in einem besetzten Land gegen die deutsche Besetzung überhaupt - , der von der deutscherseits verfugten Zusammentreibung niederländischer Juden im Amsterdamer Getto ausgelöst worden war, signalisierte dem Besatzer, daß seine anfängliche Politik des Hinhaltens gescheitert war. Die schärfere Gangart, zu der Seyß-Inquart griff, zeigte sich natürlich auch in der DZN. Der ausgewählte Text ist ein Beispiel für die allmähliche Veränderung der Berichterstattung in der DZN und dafür, daß individuelle DZN-Journalisten die wachsende "Ungeduld" des Besatzers zu der ihren machten und ihre Schreibmotivation aus ihr bezogen. Hieraus erklärt sich ein gewisses Vorherrschen des "appellierenden Schreibens".
5.2 Thema des Textes Der Text nimmt Stellung zur Lage der Jugendlichen in den Niederlanden, d.h. er bewertet deren Situation und sucht nach Anhaltspunkten für erwartbare - und vielleicht einklagbare und stimulierbare - Veränderungen. Er verbindet Betrachtungen über die Vergangenheit mit Erwartungen über die Zukunft. Er hat einen deutlichen Anlaß, die Errichtung des "Niederländischen Arbeitsdienstes" nach deutscher Anweisung und nach deutschem Vorbild. Sein Gegenstand ist zunächst die Umbruchssituation in den Niederlanden, wie sie sich für niederländische Jugendliche darstellt, deren Lebensweg sich im Augenblick "am Scheideweg" befindet. In diese Umbruchssituation, deren allgemeine Kennzeichen dargestellt werden, greift nun der "Niederländische Arbeitsdienst" ein. Das selbstdeklarierte Thema, das der Text laufend umspielt und bearbeitet, ist dann die Wende, die sich für die Jugendlichen ergeben wird.
S.3 Deskription der Inszenierungsmittel Ich gehe nun dazu über, die Inszenierung der textuellen Oberfläche deskriptiv zu erfassen. Dabei gehe ich von Abschnitt zu Abschnitt. Im ersten Abschnitt - der aus zwei Absätzen besteht - berichtet der Text vom Erziehungsweg der
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jungen Menschen in Deutschland. Er greift dabei auf deutsche Traditionen zurück, die diesen Erziehungsweg in eine Reihe von Stationen auseinanderziehen. Man kennt solche Stationen unter anderem aus dem klassischen deutschen Bildungsroman. Hier werden diese Stationen nun nach dem Alter militärisch geregelt: erst "Jungvolk", dann HJ (1), anschließend Arbeitsdienst - der schon gleich als "Schule der Nation" bewertet wird (2) -, drittens "Wehrmacht" und viertens "eine der politischen Formationen der Bewegung" (3). Dabei handelt es sich also um die institutionelle Seite, wie man sie Lesern aufzählt, die mit diesem Erziehungsweg nicht ganz vertraut sind. Somit steht dieser erste Absatz ganz im Zeichen einer Behauptung, die erst noch belegt oder illustriert werden muß. Dieser Aufgabe ist der folgende Absatz gewidmet. In ihm werden die Zwecke erörtert, also das, was dieser Erziehungsweg zu leisten vermag: "harte körperliche Ertüchtigung und weltanschauliche Schulung" (5). Es folgen die Wirkungen, die diese Erziehung auf die Jugendlichen hat, Weitung des Blicks und Vergrößerung des Gesichtskreises (6), vor allem aber die "fest verbundene Gemeinschaft" und die Bereitschaft, das Leben im Krieg einzusetzen (7). Diese Wirkungen werden als "Ideale" zusammengefaßt, die die Jugend in Deutschland habe (8). Danach greift der Journalist zur allerhöchsten Autorität, die es gibt, zu Hitler, indem er eine Art von zitierender Paraphrase einfuhrt; als Siegel auf diese Erziehung gewissermaßen, worin Stolz zum Ausdruck kommt: Der Journalist ist auf diesen "Weg der Jugend in Deutschland" (4) offensichtlich stolz. Mit dieser Exposition des Themas wird die leserseitige Erwartung gesteuert: Der Leser ist jetzt auf einen Kontrast vorbereitet, den der zweite Abschnitt wiederum in zwei Absätzen - mit dem Titel "Standesdünkel und falsche Vorstellungen" ausformuliert. Was in Deutschland erreicht ist, kennt die Jugend der "Demokratien" nicht, sie hat "keine Ideale" (10) - das ist die antithetische Behauptung. Die Lage der Jugendlichen in diesen Ländern wird negativ wiedergegeben, sogar in einer fast karikaturistisch verkürzten Art von Klassenanalyse: "stark ausgeprägter Standesdünkel" der oberen, nicht "lebenswertes" Leben der unteren Schichten (11); außerdem "kämpft sie nicht", verfolgt keine "übergeordneten Gesichtspunkte" und nur "vermeintliche Genüsse des Lebens" (12). Im nächsten Absatz wird die allgemeine Einschätzung eines "uneinheitlichen Zuges" (13) explizit auf die Niederlande bezogen. Ein Beispiel wird eingefühlt und zugleich stilistisch hervorgehoben: die "halbwüchsigen Burschen" mit ihrem "Glimmstengel", den Händen "tief in den Hosentaschen" und hinter den "Centen" her (14, 15). Dieses Beispiel, das mit bewußt banalen Ausdrücken aufwartet, funktioniert als Beweis für die Behauptung, die ihrerseits noch einmal unter Zuhilfenahme eines verbreiteten Musters
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plausibilisiert wird: "die äußere Haltung dieser Jugend" (16). Gemeint ist, daß man ja nur hinzuschauen brauche, um die Behauptung nachvollziehen zu können. (Vielleicht wird hier ja auch auf einen Rahmen zurückgegriffen, der in rassistische Argumentationen paßt und der Äußerlichkeiten als Indiz für Rassenzugehörigkeit und deren Bewertung nimmt.) Der dritte Abschnitt - "Keine Lehrzeit für den Beruf' - wartet ebenfalls mit einer Zweierstruktur auf; er ist insgesamt seriöser, kontrastiert damit also mit dem vorhergehenden Abschnitt. Im ersten Absatz wird die Berufsausbildung der niederländischen Jugend vor der Kriegszeit skizziert, im zweiten wird diese Momentaufnahme bewertet. Der dichotomische Aufbau setzt sich also weiterhin fort. Die Berufsausbildung in den Niederlanden, sagt der Text, ist nicht umfassend geregelt und beruht zum Teil auf Zufällen; drei negative Konzepte werden erwähnt: "nicht geleitet und geführt" (17), "fehlende Lehrzeit" und "keine Auslese nach der Eignung" (18). Als Folge dieser Lage sind die Jugendlichen "irregeleitet" (19) und der Gefahr ausgesetzt, "hierbei auf Abwege zu geraten" (20), was mit statistischen "Zahlen" untermauert wird. Die Zustandsbeschreibung stellt also einen schlechten Zustand der Berufsausbildung fest. Wieder wird ein Erklärungsmodell angeboten. Es gibt "Parteien, Klassen, Stände"; diese bewirken die "Aufspaltung der Nation" und die Unterbindung "jeden natürlichen Zusammenhalts" (21). Das ist das große Übel, in dem alle vorausgegangenen Zustandsbeschreibungen zusammenkommen. Es wird sofort wieder auf die Jugendlichen selbst kalibriert. Die Aufspaltung der Nation verlängert sich in der "Unzahl von Vereinen und Organisationen", die "außer Wandern und Sport nichts zu bieten haben" (22). Dadurch ergibt sich ein gewisser Widerspruch. Einerseits ist die große Zahl paralleler Vereine und Organisationen ein wirkliches Charakteristikum der niederländischen Vorkriegsgesellschaft - soziologisch unter dem Begriff "Versäulung" bekannt geworden - , andererseits paßt der Schwerpunkt auf "Wandern und Sport" (22) doch zu der sonst so herausgehobenen "harten körperlichen Ertüchtigung" (5). Eine Teilauflösung des Widerspruchs bringt der nächste Satz: wegen "Fehlens einer festen Gemeinschaft" nur "Tanz und Spiel" (23). Mit der abschließenden Bewertung "das allein kann natürlich keinen Lebensinhalt bedeuten" (24) fällt der Journalist aus dem bisherigen Rahmen, denn wem sagt er das "natürlich"? In der Formulierung zeigt sich, daß der Journalist ein Gegenüber erwartet, eine Art Gesprächspartner. Der Abschnitt klingt somit in einen dialogischen Impuls aus. Eine gewisse Vorsicht (oder Rücksichtnahme auf Noch-Nicht-Überzeugte) ist dabei unübersehbar. Schon der Zentralbegriff der festen Gemeinschaft als Allheilmittel aller Übel spart offensichtlich das ideologieträchtigere Hitlersche Konzept der Volksgemeinschaft aus. Es können noch Anhänger geworben werden, die sich in den etwas vageren Aus-
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drücken zu erkennen vermögen. Hierin schlägt ein durchgängiger persuasiver Aufbau der Erörterung zu Buche. Es ist noch nicht soweit, daß jeder Leser schon weiß, was gemeint ist; diesem Wissen soll nachgeholfen werden. Etwas Ähnliches ist im folgenden vierten Abschnitt imaginiert; schon die Überschrift "Nur kein 'Militarismus'" gibt eine Gesprächsäußerung wieder, wie sie für einen Diskussionskontext charakteristisch ist. Zunächst geht der Journalist auf seine eigenen Erfahrungen in Deutschland ein: Wir kennen das alles (25). Er spricht also nicht nur aus der Perspektive des Beobachters, wie er es später tut (58), sondern läßt seine eigene Jugendzeit anklingen. Das fungiert als Authentizitätssignal. Die Gegenbegriffe werden festgeklopft: "Auswüchse liberaler und sogenannter demokratischer Einstellungen" (26), und "Ideale der Jugend zerstört" (27). Sie werden auch geographisch festgelegt, auf Holland, England, Frankreich und Belgien (28) und erneut verallgemeinert, indem die Jugend in diese eher negativ bestimmte "Freiheit" (29) ausdrücklich einbezogen wird. Mit dem nächsten Satz hebt die eigentliche Inszenierung der Diskussion an, mit dem Vorwurf des "lästigen Zwangs" (30), der ein Auswuchs des "Militarismus" sei (31). Die Diskussion spielt sich zwischen den liberalen Demokratien (hier als negativer Ausdruck eingesetzt) und den "autoritären Staaten" (hier als positiver Ausdruck für Deutschland, Italien, Japan, Thailand u.a.) ab. Daß die "Jugendbewegung" (31) irgend etwas mit Militarismus zu tun haben könnte, wird abgestritten, jedoch mit einem eher unspezifischen Gegenkonzept, der "Erziehung der Jugend nach volksgebundenen Gesetzen", gekontert. Da keine genaue Entsprechung zum Militarismusvorwurf gegeben wird, eröffnet sich ein Interpretationsspielraum, in den hinein die "Folgen" (33) mangelnder Jugenderziehimg in den demokratischen Ländern projiziert werden können. Die elliptische Form des Ausrufs indiziert ebenfalls einen Diskussionsbeitrag. Dies ist erneut recht kryptisch formuliert und berücksichtigt offensichtlich die Rekrutierung potentieller Anhänger, denen gewisse Auswüchse einleuchten könnten. Der kurze zweite Absatz tritt erneut eine Art Wahrheitsbeweis an. Wenn die skeptisch eingestellten Leser schon den Deutschen nicht glauben wollen, dann können sie sich Thailand anschauen (34). Auch hier gelten "Ideale" und das "feste Gefüge" (35). Neben der Verallgemeinerung des autoritären Modells der Jugenderziehung könnte diese Passage auch einen spezifischen Zweck verfolgen: den Niederländern, die ja noch ein Kolonialreich in Indonesien besitzen, zeigen, daß da im "Osten" etwas passiert, das es auch in Deutschland gibt. Zugleich ergibt sich für den Journalisten eine erneute Gelegenheit, die Modellvorstellung "Erziehung der Jugend nach volksgebundenen Gesetzen" mit anderen breiteren Konzepten zu kombinieren: "verantwortungsbewußte Jugendführung und Jugenderziehung" (34). Das kann für viele Leser recht akzeptabel klingen.
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Der fììnfte Abschnitt besteht erneut aus zwei Absätzen. Er wird mit dem wiederholenden Aufgriff "Ein Dasein ohne Inhalt" eingeleitet. Er beginnt mit dem ersten "ich" des Artikels. Zuvor war höchstens ein "wir" (25) möglich. Das Authentizitätssignal unterstreicht, daß der Journalist selber als Quelle fungiert, allerdings gleich merkwürdig abstrakt: "Ich habe mich viel mit der holländischen Jugend unterhalten" (36), also nicht mit einzelnen Jugendlichen, sondern mit dem Abstractum. Darin steckt eine Verallgemeinerung, die noch weiter austariert wird. Die "aufgeschlossenen Kerle" (37) zeigen an, daß man deutscherseits gewisse Hoffnungen hegt. Diese kommt auch in dem indirekten Zitat, "ziel- und planlos herumzuirren" (38), zum Ausdruck; es handelt sich um eine Bestätigung der oben schon bekundeten Erwartung des Journalisten. Wiederum wird ein Kontrast aufgebaut: Das "Blut der Ahnen", das "harte Leben" und die "Aufgaben" (39) zeigen an, daß die Substanz in Ordnung ist, aber daß die niederländischen Jugendlichen daran gehindert werden, "einen Weg dahin" zu finden (40). Mit diesen Äußerungen weitet sich die Erörterung ins Grundsätzliche, wird aber sogleich zurückgefahren, indem nun wieder der Ausbildungsweg thematisiert wird: Bei den "wohlhabenden" war der Weg "vorgeschrieben" (41), im Betrieb des Vaters und im Reisen (42), bis zur späteren Geschäftsübernahme (43). Den anderen Jugendlichen stehen nur "Handwerk, Büro und Fabrik" offen (44). Wer die Voraussetzung des "festen Willens" nicht erfüllte, endete als "Portier und Handlanger" und mußte die mangelnde "Anerkennung der Arbeit" am eigenen Leib spüren (45). Dann der Sprung in die unmittelbare Gegenwart des hic et nunc (46), der Beginn der "Einsicht", daß es so "in Holland" nicht weitergehen kann. Nun erfolgt die schon bekannte Zielansprache, der "Weg zu einer Einheit des Volkes" (47). Jedoch kommt erstmals ein neuer Gedanke hinzu, die "Ausrichtung auf die bevorstehenden großen Aufgaben in einem neuen Europa". Die Rolle der Jugend wird daher ausgeweitet, sie muß "aufbauen" und das "unglückselige Eibe einer vergangenen Zeit liquidieren" (48). Wenn nicht der überraschende Zusatz des "Neuen Europa" gewesen wäre, hätte man hier die Parallele zur "Hitlequgend" in Deutschland. Jedenfalls richtet sich die Erwartung des Lesers an dieser Stelle auf die Konkretisierung. Was also soll die niederländische Jugend in dieser Lage tun? Der nächste Satz (49), von dem man die Antwort erwartet, gibt sie jedoch in einer ganz "abweichenden" Form. Denn nicht die Jugend wird angesprochen, sondern "das holländische Volk", das erst eine "Einheit" werden und seine "Aufgabenstellung in einem neuen Europa" begreifen muß; dann erst wird die Zustand der Jugend verbessert werden können. Die Jugend wird also hier vom Subjekt der Veränderung zu ihrem Objekt gemacht, das eigentliche Subjekt ist plötzlich das "holländische Volk" geworden. Das ist eine Veränderung der Perspektive: erst
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das Volk besser, dann geht es auch der Jugend besser. Der abschließende Irrealis (SO) verallgemeinert und bestätigt diese neue Perspektive. In diesem fünften Abschnitt, der im übrigen der antithetischen Strukturierung folgt, wird stellenweise und stilistisch auffällig eine bürokratische Sprache gesprochen. Schon das Abstractum "die holländische Jugend" entspringt einem bürokratischen Impuls, aber auch in (44) - "die mit solchen Vätern ausgestattenen Jungen" - findet man eine bürokratische Formel, an entlegener Stelle gewissermaßen (Stilbruch). Die "Erlernung" (44), die "Übernahme" (43), die "Anerkennimg" (45), das "Verfahren nach Prinzipien" (46), die "Ausrichtung" (47), die "Aufgabenstellung" (49), eine "Änderung erfahren" (50) u.a. sind bürokratische Versatzstücke, die dem persuasiven Kontext aufgedrängt werden. Der bürokratische Bereich wird hier assoziativ eingeführt - und zwar in einem Augenblick, wo der Journalist ganz konkret werden wollte. Die Konkretheit wird in Bürokratie verwandelt. Der instinktvolle "Weg zum Blut der Ahnen" (40), mit welcher Formulierung der Journalist seine positive Erwartung in ideologischer Weise ausgedrückt hatte - übrigens die einzige explizite Referenzerweisung an nationalsozialistische ideologische Texte - , wird an die Kandare genommen und bürokratisch gebändigt. Der sechste und letzte Abschnitt richtet sich schon mit der Frage "Wird der Arbeitsdienst helfen?" wieder auf den Diskussionskontext, der seit (24) angeknipst wurde. Zunächst wird das Neue, der "neue Weg" (51) vorgestellt, der "niederländische Arbeitsdienst" (52). In gerafiter Form greift der Text auf ein Interview zurück, das mit seinem Leiter zur Errichtung des Arbeitsdienstes in der DZN abgedruckt worden war. Er hebt hervor, daß der Arbeitsdienst "allgemein" (53) und daß er - wiederum gegen vermutete Befürchtungen gesagt - "keine politische Institution" (54) sein wird. (Damit wird ganz nebenbei auf die "NS-Kampfzeit" angespielt, in der die Gegenposition, die sogenannten "Systemparteien", als "politische" und damit als im völkischen Sinne unfähig apostrophiert worden waren.) Der Zweck des Arbeitsdienstes stellt sich als recht vage und allgemein heraus: "der Jugend den Weg für die spätere Zukunft zu ebnen" und sie "mit den Lebensnotwendigkeiten vertraut zu machen" (54). Das kann immer noch ein indirektes Breunese-Zitat sein, es kann aber auch eine Plausibilisierung für zaudernde Niederländer sein, denen der Arbeitsdienst mit diesen Hinweisen auf eine durchaus kapitalistische Karriere der Jugendlichen schmackhaft gemacht werden soll. Danach ergibt sich für den Autor eine technische Schwierigkeit, hat er doch zu Beginn (1, 2, 3) den deutschen Erziehungsweg als "Modell" angeführt: Nun ist er bestrebt, den Zweck des Arbeitsdienstes auch für Niederländer, die dieses "Modell" ja (noch) nicht haben können, zu umschreiben. Er ist dann gezwungen, diese einzige Station (die von den vier Stationen des deutschen
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Erziehungswegs in den Niederlanden vorerst möglich ist) als besonders leistungsfähig herauszustreichen: Die niederländischen Jugendlichen sind "noch in einem aufnahmefähigen Alter" (55), ihnen können noch "Ideale" mitgegeben werden. Der erste Absatz klingt aus in der Paraphrase des Schlagers "Das Leben ist lebenswert" (57) und der Betonung des "Sinns" für das "Leben der holländischen Jugend". Hiermit ist auch die Inszenierung der Diskussion mit einer bestimmten Gruppe von Lesern beendet. Die "einheitlichen Gesichtspunkte" (55), die "Ideale" und der "Sinn" (57) sind ein großer Kontrast zum oberflächlichen "Lebensinhalt" (24), mit dem die aktuelle Lage der niederländischen Jugend zuvor charakterisiert worden war. Im zweiten Absatz wandelt sich die Perspektive. Der Journalist nimmt nun explizit die Position des "neutralen Beobachters" (58) ein. Jetzt wird plötzlich aus der Sicht des Besatzers auf das geschaut, was die Niederländer machen. Er kann jetzt sagen, worin die "Aufgabenstellung" (58) besteht, und er kann auch erstmals die "Mädchen" einbeziehen, die oben noch nicht erwähnt worden waren. (Da ging es allgemein um "Jugend" (4, 8, 9, 10, 13, 16, 18, 22, 23, 27, 28, 29, 32, 35, 36, 47, 49, 53, 54, 57), um "Jugendliche" (20), um "Jungen" (1, 6, 17, 43, 55), um "junge Menschen" (19), um "Jünglinge" (3, 6), um "Burschen" (14), um "Kerle" (36).) Der "radikale Bruch mit dem geführten weichen Leben" (59) wird damit zum Kriterium, mit dem der Besatzer den niederländischen Arbeitsdienst beurteilt. Dann erfolgt die pathetische Schuldzuweisung für die "Sünden der Vergangenheit" (60), und zwar in alttestamentlicher Sprache, als eine Art apokalyptischer Drohimg an die alten Verantwortlichen. Hier wird ein uraltes Muster politischen Sprechens an die Aktualität herangeführt. Aber wieder sind es nicht die Jugendlichen selber, die ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen, sondern die Verantwortlichen für diese Jugendlichen: Die "Zukunft liegt nur bei denen, die Impulse geben" (61) können. Im Schlußzitat des letzten Absatzes wird dies noch einmal verdeutlicht. Der Autor bringt die Stimme eines anonymen, d.h. wahrscheinlich fiktiven, allegorischen "holländischen Erziehers" (62) zu Gehör. Dieser bestätigt aus eigenem Erleben (63) die Sichtweise der DZN, schließt sich den Schlußfolgerungen an (64) und beschwört im Gleichklang mit dem Autor die nationalsozialistische Zukunftserwartung herauf: die "im Kern gesunde holländische Jugend", die aber erst noch "gewonnen" (65) werden muß. Es handelt sich somit um die "Aufgabenstellung" (58), aber nicht für die Jugendlichen, sondern für die Erzieher. Das "Werk", das "uns" gelingen wird (65), ist die abgeschwächte Parallele zu Hitler, der "stolz auf diese Jugend ist" (9) und bei ihr "sein Eibe in guten Händen" weiß.
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5.4 Übersicht und erste Lesweise Ich habe bislang nicht mehr getan, als die Inszenierung des Textes zu beschreiben. Dabei habe ich versucht, die Perspektive eines Lesers einzunehmen, der den Text als Kommunikationsangebot realisiert und sich schrittweise durch ihn hindurcharbeitet. In einer Übersicht will ich nun die Ergebnisse des ersten Durchgangs festhalten, und zwar abschnittsweise. § 1:
Bericht über die "Hitlerjugend" in Deutschland und den militärisch ausgerichteten Erziehungsweg, der mit einem Hitler-Zitat über die Rolle der Jugend endet.
§ 2:
Die negative Lage der Jugend in den Demokratien und in den Niederlanden, mit einem "abschreckenden" Beispiel illustriert: "äußere Haltung" ist schlecht.
§ 3:
Eine Art Erklärung für den zweiten Abschnitt: schlechte Berufsausbildung, Kriminalität, vor allem aber "Aufspaltung der Nation" und zu viele verschiedene Organisationen und Vereine.
§ 4:
Bestätigung des Vorausgehenden aufgrund eigener deutscher Erfahrungen des Journalisten, Beginn der Inszenierung der Diskussion mit Andersdenkenden. Entkräftung des "Militarismus"-Vorwurfs. Hinweis auf Thailand und seine Erfolge.
§ 5:
Wieder wird der Fokus auf Holland gerichtet. Die Anlagen der Jugendlichen - erkennt der Journalist in Gesprächen - sind gut, sie haben aber "keinen festen Willen". Veränderung tut not, auch hinsichtlich des "Neuen Europa". Daraus leitet sich die "Aufgabenstellung" der Niederländer ab.
§ 6:
Mit der Errichtung des niederländischen Arbeitsdienstes ist ein Beginn gemacht. Jetzt muß ein "radikaler Bruch" mit der Vergangenheit eintreten. Objektivierung dieser Feststellung durch längeres Zitat eines niederländischen Erziehers.
Nun wende ich mich der Frage nach dem Sinn der Inszenierung zu. Was bewirkt der DZN-Autor dadurch, daß er sein Thema, die aktuelle Lage der niederländischen Jugendlichen, in dieser spezifischen Weise inszeniert? Und wie reagiert der Text damit auf die historische Situation? Die sprachliche Inszenierung der Erörterung verweist auf eine andere Botschaft als die einer
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bloßen Darlegung des "Scheidewegs" der Jugend in den besetzten Niederlanden. Der Sinn der Inszenierung ist zunächst die Kontrastierung eines als "schlecht" dargestellten Zustands - der Lage der niederländischen Jugendlichen - mit schon erreichten "positiven" Veränderungen in Deutschland bzw. mit erwünschten "Aufgabenstellungen" in den Niederlanden. Diese Kontrastierung entspricht dem Gegensatz von Besatzer und Besetzten, von Nazi und Nicht-Nazi. Sie bewirkt zwei durchgängige Strukturierungen des Textes, den durchweg antithetischen Aufbau der einzelnen Abschnitte (Behauptung Beleg/Illustration; Gegenbehauptung -Beleg/Illustration u.ä.) und die Evozierung eines Diskussionskontextes, in dem Standpunkte "ausgetauscht", vor allem aber bewertet werden können. Besonders dieser letzte Aspekt ist fur eine Besatzungssituation im allgemeinen untypisch und erklärt sich wohl nur aus der besonderen Rolle, die den Niederländern vom Besatzer aufgedrängt werden soll, die der "Juniorgermanen". Untypisch ist auch, daß die deutsche Überlegenheit - hier beim Thema Jugenderziehung - eigens argumentativ hergestellt wird, daß also gewissermaßen das "Modell Deutschland" nicht für sich selber spricht, sondern daß die DZN als explizite Vermittlungsinstanz fungiert. Offensichtlich ist ein besonderer Lernprozeß angesagt - oder eine besondere Rücksichtnahme auf diejenigen, die noch gewonnen werden sollen. Der Text laviert zwischen dem notwendigen deutschen Selbstbewußtsein (notwendig vor allem auch für die Kontrollinstanzen der NS-Propaganda) und dem Aufgreifen niederländischer Probleme hindurch. Die Bewertung des Erziehungsweges der niederländischen Jugendlichen zum aktuellen Zeitpunkt 1941 als unzureichend - von welchem Gesichtspunkt aus sich dann auch die neue Institution des "Niederländischen Arbeitsdienstes" rechtfertigen läßt - wird vorzugsweise auf den Feldern Wirtschaft und Soziales ausgetragen. Die mangelnde Konsistenz der damaligen Berufsausbildung in den Niederlanden und ihre "klassenmäßige" Zufälligkeit rufen im Textzusammenhang einen Impuls zum Eingreifen hervor. Das richtet sich ganz allgemein auf niederländische Erzieher, denen ein gewisses Unbehagen am bisherigen Zustand unterstellt bzw. vorformuliert wird. Der Journalist jedenfalls plädiert dafür, den niederländischen Arbeitsdienst als ersten Schritt zur "Änderung" (50) zu betrachten. Zugleich könnte das dann ein Schritt in die "deutsche" Richtung werden. Dadurch dreht der Text die Schraube mindestens eine Umdrehung weiter, d.h. er begnügt sich nicht mit der Bewertung das wäre der Zweck der journalistischen Erörterung! - dieser neuen Organisation, sondern macht diese Bewertung auch von der zukünftigen Entwicklung in den besetzten Niederlanden abhängig. Das ist ein metonymisches Verfahren. Der niederländische Arbeitsdienst erscheint als Teil eines größeren "Ganzen" (pars pro toto): Dieses "Ganze" ist die "Einheit des Volkes" (47). Der Leser wird somit dazu gebracht, sich nicht
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mit dem neuen Arbeitsdienst selber zu befassen und dessen Vor- und Nachteile abzuwägen (was ja ab und zu im Text zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann), sondern sich vor allem dieses "Ganze" vorzustellen. Das Ganze wird recht pathetisch formuliert: Mit dem Erscheinen des Arbeitsdienstes ergibt sich das Ende des Zustands der "Aufspaltung der Nation" (21). Die Suggestion dieses metonymischen Verfahrens liegt darin, daß der (niederländische) Leser zwar sieht, daß hier der Besatzer eine Art "Gleichschaltung" vornimmt, daß ihm aber gleichzeitig eine Erwartung nahegelegt wird, die darauf hinausgeht, eine Verbesserung der Lage der Jugendlichen unter den obwaltenden Umständen gutzuheißen. Niemals geht es um die eine Sache allein, sofort wird ein erweiterter Kontext heraufbeschworen, angesichts dessen die Sache - hier: der neue Arbeitsdienst - zum Verschwimmen gebracht wird. Nicht das Gegenwärtige, wird der Leser zu rekonstruieren genötigt, ist das Wichtige, sondern das, was noch kommen soll. Durch diese Metonymie wird daher die Gegenwart partiell "entwirklicht" und der eigentlichen Bewertung entzogen. Die Persuasion trägt dazu bei, von der aktuellen Gegenwart abzusehen und sie gegen eine vom Besatzer geprägte Zukunft einzutauschen. Somit läßt sich die erste Lesweise des Textes zusammenfassen. Die Lage der Jugendlichen in den Niederlanden - vor allem ihre Erziehung, ihre Berufsausbildung und ihre Arbeitserfahrung - wird als nicht hoffnungslos gekennzeichnet ("im Kern gesund" (65)), jedoch an die Bedingungen gebunden, daß die alten Erziehungsprinzipien über Bord geworfen werden und mehr Autorität in diesen Erziehungsbereich insgesamt einzieht. Die Errichtung des "Niederländischen Arbeitsdienstes" erscheint als ein Weg, wie man das Ziel einer verbesserten Erziehung erreichen kann. Der Leser, vor allem der aus den Niederlanden, soll dazu gebracht werden, die Perspektive des anonymen niederländischen "Erziehers" aus dem allerletzten Absatz zu übernehmen: Was sich in Deutschland bewährt hat, wird sich, in abgeschwächter Form, aber immerhin, auch in den besetzten Niederlanden bewähren.
5.5 Weitere Lesweisen: Destabilisierung und Umwandlung von Jugendlichkeit in Bürokratie Zunächst einmal ist dem Text durchgängig ein Vergleich mit Deutschland eingeschrieben, und zwar immer so, daß die Niederlande - und verschiedene andere "demokratische Länder" - schlecht abschneiden. Der Erziehungsweg der deutschen Jugend ist vollständig, systematisch, idealistisch und einheitlich, während die anderen Länder ihre Jugendlichen im Regen stehenlassen und ihnen keine richtigen "Aufgaben" geben. An verschiedenen Stellen wird
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diese Einschätzung durch nachvollziehbare Erfahrungen oder Erlebnisse unterstützt: Müßiggang (14) und Geldgier (15), wie man an der "äußeren Haltung" (16) sehen kann (im Stammtischgerede stilisiert); Kriminalität (20), die aus der Statistik hervorgeht; jeder macht, was er für richtig hält (23), als Hypothese aufgrund der Vielzahl von Vereinen und Organisationen (22); keine "Ideale" der heranwachsenden Jugend (27); mangelnde "Anerkennung" der Arbeit (45) aufgrund fehlender Ausbildungsprinzipien. In den Niederlanden muß die Jugend "nach ihrem eigenen Schema leben" (49), will heißen: sie wird sich selbst überlassen. Das "unglückselige Eibe einer vergangenen Zeit" müßte erst "liquidiert" (48) werden, bevor die angepeilte Veränderung greift. Die konkrete Form dieser Veränderung jedoch wird ausdrücklich ausgeklammert; zwar könnte der Leser erwarten, daß auch in den Niederlanden erst die "Einheit des Volkes" (47), die "fest verbundene Gemeinschaft" (7), der "natürliche Zusammenhalt" (21), das "feste Gefüge" (35) verwirklicht werden müssen, aber es fehlt die eigentliche Zielvorstellung. Statt dessen wird das vage Konzept des Neuen Europa (47) angeboten. Hierin schlagen sich möglicherweise gewisse mythologische Vorstellungen nieder, von denen eine (geringe) Werbewirkung ausgeht. Vor allem aber handelt es sich um die "Logik des Besatzers", der ja kein Interesse an einem einheitlich ausgerichteten niederländischen Volk haben kann. Im Gegenteil: Je schwächer die Besetzten sind, desto einfacher kann er seine Stärke ausspielen. Das Lamento über die niederländische Jugend verwandelt sich so zum Hebel der "baldigen Änderung" (50). In diesem Adjektiv baldig kommt auch die Ungeduld des Besatzers zum Vorschein; sie wird zusätzlich um ein Wirtschaftsargument erweitert: "Wertvolle Kräfte müßten verlorengehen" (50) - womit der Text klarstellt, daß der Wert (der besetzten Niederlande) und seine Bestimmung von der Einschätzimg des Besatzers abhängig gemacht werden. Aus der textuellen Strukturierung der vielfältigen Vergleichshandlungen schält sich eine Abhängigkeitsbeziehung heraus. Gerade dadurch, daß die Niederlande mit dem "Dritten Reich" verglichen werden, erfahren sie im Textzusammenhang eine Destabilisierung. Es geht gar nicht um die Zielvorstellung eines festgefugten Landes, das sich seiner eigenen Identität bewußt ist oder wird, es geht um ein besetztes Land, das der Besatzungsverwaltung wenig Mühe bereiten, geringe Kosten verursachen und maximalen Profit bringen soll. Der Beispieltext illustriert das Prinzip des "Teile und Herrsche", mit dem der Besatzer permanent operiert: Hier wird es auf die Jugend angewendet bzw. für die Jugendarbeit propagiert. Der "radikale Bruch mit dem geführten weichen Leben" (59) kündigt schon die neue "Härte" an, die der Besatzer den Besetzten angedeihen lassen will. Die Ausbügelung der "Auswüchse liberaler und sogenannter demokratischer Einstellungen" (26) macht die Zerstörung niederländischer freiheitlicher
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Traditionen wahrscheinlich. Man befindet sich auf dem "Weg einer harten körperlichen Ertüchtigung und einer umfassenden geistigen Erziehung und weltanschaulichen Schulung" (5). Dem niederländischen Leser dürfte nicht entgehen, daß die "Folgen", die man "tragen" (33) muß, einseitig seinem Land aufgebürdet werden und dieses aus den alten Bindungen und Kontexten herausreißen. Nur als destabilisiertes Land kann Holland den Zustand der Willfährigkeit erreichen, der es den Eingriffen des Besatzers maximal öffnet. Das "Neue Europa", von dem der Text beiläufig, aber an zentraler Stelle handelt, offeriert diesen Lesern höchstens eine Zwischenperspektive, die in zwei Richtungen wirkt: Sie bringt einerseits Niederländisches zum Verschwimmen, zur Auflösung, zur Auslöschung (Abrechnung mit der Vergangenheit), und sie legt andererseits einen übergeordneten Rahmen nahe, in dem Niederländisches erst an x-ter Stelle kommt (Aufdrängung einer Wettstreit-Vorstellung). Dem niederländischen Erzieher, mit dessen fingierten Zustimmungszitat der Text ausklingt, werden folgerichtig die Worte in den Mund gelegt: "Bei uns gilt es jahrelang Versäumtes nachzuholen, sich gegen viele Widerstände durchzusetzen" (64); das belegt doch nur, daß es "Widerstände" gibt, die gebrochen werden sollen. Auch setzen Entwicklungen, die "nachgeholt" werden, voraus, daß es Vorläufer und Vorgänger gibt. Vielleicht kann dieser Zusammenhang die Auffälligkeit und Häufigkeit erklären, mit der der Text vom Weg spricht, und zwar in metaphorischer und nichtmetaphorischer Weise, in (4, 5, 23, 40, 41, 47, 51, 54, 56). Immer wieder wird ein Weg beschritten (51) oder geebnet (54); die Jugend geht (4) ihren Weg oder sucht (23) ihren eigenen Weg; Wege werden vorgeschrieben (41) oder gefunden (40). Der "neue Weg" (51) des "Niederländischen Arbeitsdienstes" richtet sich gegen die bisherigen "Abwege" (20). Auf dem "Lebensweg" (56) soll den Jugendlichen etwas "mitgegeben" werden. Wo soviel auf den Weg gebracht wird, herrscht immerfort Be-Wegung, und sei es in einer der "Formationen der Bewegung" (3), also der Nazi-Partei. Die Niederlande scheinen, so will es der Text, ins Hintertreffen zu geraten - wenn sie nicht mit den "Sünden der Vergangenheit" (60) aufräumen. Bei dieser "Aufräumarbeit", die der Text imaginiert, ergibt sich eine entscheidende Modifizierung. Während die Leser im allgemeinen erwarten, daß die Jugendlichen im Mittelpunkt stehen, daß ihre Begeisterungsfähigkeit für nationalsozialistische Zwecke funktionalisiert wird, unternimmt es der Text, die Jugendlichkeit in Bürokratie zu verwandeln. Nicht die (niederländischen) Jugendlichen selber sollen in die Lage versetzt werden, ihre eigenen "Voraussetzungen" (47) zu entfalten, sondern Jugenderzieher sind es, die aufgefordert werden, endlich einzugreifen. Der Text betreibt die Inthronisierung des Erziehers, er macht die Niederlande zur "pädagogischen Provinz", in der
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schlechthin platten Bedeutung des Tummelplatzes für Pädagogen: "Die Zukunft kann nur bei denjenigen liegen, die der holländischen Jugend neue Impulse zu geben vermögen" (61). Die "Ideale" (56, 57) sollen also von außen an die Jugendlichen herangetragen werden. Daher ist es so wichtig, daß sie sich noch "in einem aufnahmefähigen Alter" (55) befinden, daß sie noch knetbar sind. An den holländischen Jugendlichen will der Besatzer überprüfen, ob die angestrebte "Aufgabenstellung" (49) verwirklicht wird. Die "Schule der Nation" (2), wie der "Arbeitsdienst" in Deutschland apostrophiert wird, wird so zur Umschulungsaktion der besetzten Niederlande. Die beiden Lesweisen, die hier abschließend entwickelt worden sind, belegen die "Geschmeidigkeit", mit der die Besatzungszeitung bei bestimmten Anlässen zu reagieren vermag. Praktisch ohne Verwendung nationalsozialistischer Ausdrücke gelingt es dem DZN-Journalisten, beim vergleichsweise "harmlosen" Thema Jugenderziehung doch die Nationalsozialisten unter seinen Leser zu mobilisieren und gleichzeitig das unterstellte Unbehagen der Niederländer über Jugendprobleme zu kanalisieren. Diese spezifische Lösung journalistischer Formulierungsprobleme, die der Text darstellt, fuhrt dazu, daß niederländische Vertrautheiten und Gewohnheiten in neue Zusammenhänge hineingestellt werden, die dem Einfluß der Besetzten partiell entzogen sind. Die persuasiven Wirkungen, die vom Text ausgehen können, erstrecken sich somit in erste Linie auf die Verunsicherung der Niederländer.
6. Schluß Was hier an einem banalen NS-Beispiel aus dem Besatzungskontext im Nordwesten Europas vorgeführt worden ist, läßt sich ohne weiteres auf andere Texte übertragen. Dabei braucht man sich nicht ausschließlich auf nationalsozialistische Texte zu beschränken. Denken wir an aktuelle politische Texte, denken wir an die Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Rassismus und seinen Texten. Erst eine Textanalyse, die sich auf das Verstehen einläßt, die sich mühevoll die entsprechenden Texte erarbeitet, stellt die Basis zur Verfügung, auf der ein anspruchsvoller Antirassismus ausagiert werden kann. Dazu gehört auch, daß man prinziell bereit ist, das kommunikative Angebot, das auch diese Texte darstellen, ernstzunehmen. Wie Thomas Mann in seiner Erzählung (aus dem Jahre 1930) "Mario und der Zauberer" mit Blick auf den italienischen Faschismus herausgearbeitet hat, genügt es nicht, nur die Negation zu leben; schwieriger und politisch aufwendiger ist es, den Impuls der Negation zur Position weiterzuentwickeln. Eine solche Position benötigt ein textanalytisches Instrumentarium, das auf differenzierte Weise Inszenierungsformen erkennen - und in Gegentexten anwenden kann. Das Ziel der
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Textanalyse sollte daher nicht die Beschreibung und analytische Durchdringung eines unerwünschten und gefährlichen Zustandes sein, sondern die Ermöglichung von Gegenstandpunkten in Texten, die den Antirassismus und den Antinationalismus austragen. Ohne plausible Gegentexte hängen antirassistische und antinationalistische Standpunkte im luftleeren Raum. Auch sie müssen sich persuasiver Strategien bedienen, wenn sie wirkungsvoll sein wollen. Der Blickwechsel, mit dem dieser Beitrag anhebt, sollte zumindest eines bewirken: daß Demokraten die Notwendigkeit anerkennen, sich der Herausforderung zu stellen, indem sie Gegentexte konzipieren und schreiben. Auch demokratische Auffassungen müssen verkauft werden und sich den konkurrierenden Ideologien in gewissen Grenzen "anbequemen". Die Perspektive muß die der lesenden Subjekte sein, denen ein "Ort" ermöglicht wird, der bei aller Verdrossenheit und Frustration über die gegenwärtigen unbefriedigenden Entwicklungen - demokratisches Verhalten akzeptabel erscheinen läßt. Wer nur auf die Antidemokraten eindrischt, gibt sie als potentielle Mitstreiter auf. Wo bleiben die polyphonen Kommunikationsangebote für die Skeptiker, die Abseitssteher und die Ängstlichen? Wo sind die journalistischen Problemlösestrategien, die vielfaltige Lesweisen vorstrukturieren? Wo findet man demokratische Modernisierungen, die zu fesselnden Texten verdichtet sind? Welche kommunikativen Inszenierungen bewirken einen Anspielungsreichtum, der vielen Leser unterschiedliche Leseerlebnisse verschafft? Wie erreicht man die Evozierung kultureller Dimensionen des politischen Handelns, die sich nicht auf den Gegensatz von Stärke vs. Schwäche einspielt? In welchen Texten kann der Leser "schwach" erscheinen, ohne "Stärke" zu provozieren?
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Christoph Sauer
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Über die Inszenierung journalistischer Kommentare in einer NS-Besatzungszeitung
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Interkultureller Vergleich
Implizites Bewerten in finnischen und deutschen Leitartikeln LHSATHTTULA
1. Einleitung 1.1 Hypothesen über kultuibedingte Unterschiede Man stößt in der einschlägigen Literatur von Zeit zu Zeit auf die Annahme, daß sich das finnische Kommunikationsverhalten auf der sog. High/Low Context-Skala1 vom anglo-amerikanischen und deutschen unterscheiden würde, und zwar in der Hinsicht, daß die finnische Kommunikation indirekter bzw. impliziter wäre (Widén 1988). So hat z.B. Tirkkonen-Condit (1988) die Argumentation in anglo-amerikanischen und finnischen Leitartikeln miteinander verglichen und festgestellt, daß in den anglo-amerikanischen fast immer eine sog. Thesenzusammenfassung (theses summary), meistens am Anfang des Textes, zu finden war, während sie in einem großen Teil der untersuchten finnischen Zeitungen entweder nicht texteinleitend vorkam oder völlig fehlte. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine anschließende Untersuchimg von Tirkkonen-Condit und Liefländer-Koistinen (1989), in die auch deutsche Leitartikel mit einbezogen wurden: Diese wiesen die gleiche Struktur auf wie die anglo-amerikanischen. Diese Untersuchungen deuten darauf hin, daß Argumente und Stellungnahmen in finnischen Leitartikeln weniger explizit zum Ausdruck gebracht werden und daß sie insgesamt wenig argumentativ sind, wobei sie statt Argumentation mehr Hintergrundinformationen enthalten. Zu den genannten Untersuchungen ist jedoch anzumerken, daß dabei ein wichtiger Bestandteil der Leitartikel außer acht gelassen wurde, und zwar die Überschrift. Beim Vergleich der Überschriften der deutschen und finnischen 1 Diese von Hall (1976) vorgeschlagene Skala beinhaltet, daß der außersprachliche Kontext in einigen Kulturen eine größere Rolle spielt als in anderen: Das Ausmaß des gemeinsamen Wissens sei in den sog. high-context-Kulturen so groß, daß nicht alle Informationen verbalisiert werden müssen. In den sog. low-context-Kulturen können sich die Kommunizierenden dagegen weniger auf den außersprachlichen Kontext verlassen und die Information müsse im größeren Maße mit sprachlichen Außeningen explizit vermittelt werden.
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Liisa Tiittula
Leitartikel, die ich für den vorliegenden Beitrag analysiert habe, konnte ein deutlicher Unterschied zwischen den finnischen und deutschen Überschriften festgestellt werden: In den finnischen Überschriften war die Stellungnahme des Verfassers fast immer schon aus dem Titel zu ersehen, während deutsche Titel häufig gar keinen oder nur einen vagen Hinweis auf den Standpunkt des Verfassers enthielten: Finnische Überschriften: Bittere Sparlösung; Banale Diskussion; Kinderfeindliche Reform; Polit· zirkus in der Sowjetunion; Vom Wort zur Tat in der Wohnungspolitik. Darunter auch vollständige Sätze: Im Umweltschutz müssen grenzüberschreitende Beschlüsse gefaßt werden; Fraktionsdisziplin ist erforderlich, aber nicht blinde Unterwürfigkeit; Vor bedingungslosen Ideologien muß man sich hüten. Deutsche Überschriften: Panama und Washington; Ins siebte Jahr; Ein Aussiedler-Jahr; Erinnerung an Roosevelt; Asyl und Klima; Gorbatschows Handschrift; Wirkliche Sicherheit; Entlobung? Daneben auch einige deutlich bewertende Titel: Blüm greift zu kurz; Die versperrten Ladentüren; Die Endlagerung von Illusionen. Wenn also Überschriften in die Analyse mit einbezogen werden, muß die Behauptung über die Implizitheit der finnischen Texte zumindest relativiert oder in bezug auf weitere Aspekte neu geprüft werden. Argumentation und Bewerten hängen eng zusammen - dies machen auch die oben zitierten Überschriften deutlich. Angenommen, die Argumentation erfolge in finnischen Leitartikeln implizit, dann ist zu erwarten, daß auch Bewertungen in diesen weniger explizit zum Ausdruck gebracht werden. Darauf deutet auch eine Pilotuntersuchung von Lenk und Tiittula (1990) hin. Allerdings war das Korpus der Untersuchung sehr klein, und außerdem bezogen sich alle Artikel auf dasselbe außenpolitische Thema, was das Ergebnis beeinflußt haben kann.
1.2 Korpus und Ziel der Analyse Der Ausgangspunkt dieses Beitrags war ein interkultureller Vergleich: Anhand des im folgenden darzustellenden Korpus sollte untersucht werden, inwieweit die Hypothese über die finnische Implizitheit insbesondere bei
Implizites Bewerten in finnischen und deutschen Leitartikeln
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Bewertungen im Vergleich zum Deutschen für die Textsorte Leitartikel zutrifft. Als ein zentrales Problem stellte sich dabei die Frage heraus, was man unter implizit/explizit überhaupt versteht: Wann ist eine Äußerung oder eine Handlung explizit, und wie sind implizite Bewertungen erkennbar? Das der Analyse zugrunde gelegte Korpus besteht aus 32 deutschen Leitartikeln bzw. Pressekommentaren2 und 30 finnischen Leitartikeln, die durch Stichprobenverfahren aus vier deutschen und drei finnischen Tageszeitungen in der Zeit vom 25.10.88 bis 12.5.89 gesammelt wurden. Einbezogen wurden aus der Bundesrepublik Deutschland (Zahl der Artikel in Klammern) FRANKFURTER ALLGEMEINE ( F A Z , 10), FRANKFURTER RUNDSCHAU ( F R , 9), SÜD-
(SZ, 7 ) und DIE WELT (6), aus Finnland drei große überregionale Tageszeitungen mit jeweils 10 Artikeln: HELSINGIN SANOMAT (HS; eine liberale Zeitung), Uusi SUOMI (US; eine konservative Zeitung) und DEMARI (eine sozialdemokratische Zeitung). DEUTSCHE ZEITUNG
2. Implizite Bewertungen 2.1 Blick auf die Forschung Bewerten kann allgemein als eine Handlung angesehen werden, bei der einem Objekt ein positiver oder negativer Wert zugeschrieben wird. Darüber, was implizites Bewerten bedeutet, gibt es dagegen verschiedene Meinungen. Zillig (1982, 105) z.B. betrachtet solche Bewertungen als implizit, die in den Bedingungen für den Vollzug anderer Sprechakte vorkommen. So ist z.B. AUFFORDERN als implizite Bewertung zu betrachten, weil eine Bedingung für AUFFORDERUNGEN ist, daß der Sprecher den Zustand, den herbeizuführen er den Adressaten auffordert, positiv bewertet. Implizite Bewertungen sind bei Zillig eine Untergruppe der indirekten Bewertungen, zu denen er auch solche Typen zählt wie: Ironie, privaten Vergleich, allgemeinen Vergleich (d.h. Bezugnahme auf ein •Paradigma'), irrealen Vorschlag, Vorgetäuschte Sprechakte' sowie schließlich den im Hinblick auf Leitartikel interessanten Typ "Folgerungsbeziehungen zwischen deskriptiven und evaluativen Aussagen". Damit sind Äußerungen gemeint, bei denen das Objekt so beschrieben wird, daß dem Adressaten nahegelegt wird, die Negativbewertung des geschilderten Sachverhalts selbst vorzunehmen: a)
Der Fritz ist doch wirklich ein alter Streithammel !
2 Zur Unterscheidung von Leitartikeln und Pressekommentaren s. Lenk/Tiittula (1990,163).
228 b)
Liisa Tiittula Am Anfang des Jahres hat sich Fritz mit Hans gestritten, dann anschließend ist er mit Egon und schließlich noch mit Christoph aneinandergeraten.
Aus der Äußerung b) kann der Hörer erschließen, daß a) gilt, ohne daß der Sprecher dies eigens ausdrücken muß (Zillig 1982, ISO). Aufgrund der Einbettung der Bewertung im Matrixsatz unterscheidet Sager (1982) vier Bewertungstypen: 1) Direkte Bewertung (Sie ist ein mieser Typ.): Der propositionale Gehalt ist identisch mit der Bewertung, d.h. die Bewertung wird im Matrixsatz ausgedrückt. 2) Explizite Bewertung (Es war ganz gut. daß sie ihm eine Ohrfeige gegeben hat.): Explizite Wertungen lassen sich mit den explizit performativen Ausdrücken vergleichen. 3) Implizite Bewertung (Sie gab ihm eins hinter die Ohren.): Es tritt keine explizit evaluative Phrase auf, die Proposition ist aber so formuliert, daß die spezifische Formulierung der Proposition die Funktion übernimmt, die sonst der explizit evaluativen Phrase zugekommen wäre. 4) Kohärente Bewertung (Er lehnt die berechtigten Forderungen ab.): Die Bewertung wird in der Tiefenstruktur als als Konstituentensatz faßbarer Satz vollzogen, also nicht im Matrixsatz, sondern nur "beiläufig" (Matrixsatz: Er lehnt die Forderungen ab. Konstituentensatz: Die Forderungen sind berechtigt. Implizite Bewertung: Die Forderungen sind moralisch gut. -» Sein Verhalten ist unmoralisch.). Sager (wie auch Zillig) betont, daß Bewertungen von B e s c h r e i b u n g e n genau abzugrenzen sind. Dabei ist jedoch zu beachten, daß Äußerungen nicht per se entweder als Bewertungen oder bloße Beschreibungen ausgewiesen sind; d.h., daß an dem Ausdruck selbst nicht abgelesen werden kann, ob er eine Bewertung ist oder nicht (von einigen wenigen Ausnahmen vielleicht abgesehen), sondern sich dies nur durch den situativen Handlungskontext ermitteln läßt (Sager 1982, 42). Das Verhältnis von Bewertungen und Beschreibungen ist in bezug auf Leitartikel von besonderer Bedeutung, denn, wie Adamzik (1984, 247) feststellt, "der Nutzen, den Sprecher aus der Undeutlichkeit der Grenze zwischen BEWERTEN und BESCHREIBEN ziehen können, besteht vor allem darin, daß sie BEWERTUNGEN als BESCHREIBUNGEN 'tarnen' und umgekehrt auch BESCHREIBUNGEN in BEWERTUNGEN umdeuten können, wodurch die Reaktionsmöglichkeiten der Partner in spezifischer Weise beschränkt werden". Einen weiteren Ausgangspunkt zur Unterscheidung von explizit/implizit bietet der Ansatz von Sandig (u.a. 1991), die Bewertungshandlungen wie folgt definiert: Die einzelne Bewertungshandlung ist die eines bestimmten Bewertungssubjekts, das einen spezifischen Bewertungsgegenstand unter Bewertungsaspekten einstuft und die Einstufungsergebnisse gewichtet, indem es dem Bewertungsgegenstand einen Bewertungsausdruck zuschreibt (ebd.,
Implizites Bewerten in finnischen und deutschen Leitartikeln
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229). Sandig betont, daß diese Teile des Bewertungsmaßstabs jeweils verschieden explizit veibalisiert werden können. Ausgehend von den Teilen des Bewertungsmaßstabs können wir nun solche Bewertungen als explizit betrachten, bei denen das Einstufungsergebnis zum Ausdruck gebracht wird. Um implizite Bewertungen handelt es sich dagegen, wenn nur der Bewertungsgegenstand und Bewertungsaspekt(e) verbalisiert werden. Daß man daraus das Einstufungsergebnis erschließen kann, hängt mit dem Wissen zusammen, das die Beteiligten über die Bewertungsmaßstäbe haben. Daraus resultiert, wie Sandig (1991, 228) feststellt, "eine Erwartbarkeit bezüglich der Zuschreibung von Bewertungsausdrücken als Ergebnisse von Einstufung und Gewichtung". Welcher Definition man auch folgt, so sind subjektive Interpretationen nicht auszuschließen. So kann z.B. die Äußerung Er ist Kommunist bei einigen als reine Informationshandlung, bei anderen wiederum als negativ oder aber als positiv verstanden werden. Verschiedene Leser/Hörer können sehr unterschiedliche Schlüsse aus einer "rein informativen" Äußerung ziehen: Das hängt von ihren Wissensbeständen, Normen, Wertsystemen und Bewertungsmaßstäben (Bewertungsbasen) ab. Hinzu kommt, daß von Bewertungszwecken (Sandig 1991, 227) sowie auch vom Bewertungssubjekt abhängig ist, welche Bewertungsaspekte oder Wertkriterien bei einem Bewertungsgegenstand jeweils als relevant herangezogen werden. Der Begriff 'Explizitheit' sollte insofern dynamisch aufgefaßt werden. D.h., daß keine Äußerung an sich explizit ist, sondern der Grad der Explizitheit mit dem jeweiligen Rezipienten variiert. Was für mich explizit bewertend ist, kann für einen anderen Leser/Hörer rein informativ sein, bzw. der bewertende Charakter ist nicht sofort erschließbar. Die Bedeutimg ist nicht im Text enthalten, sondern der Leser gibt dem Text eine Bedeutung: Er konstruiert eine mentale Repräsentation der Sachverhalte, die im Text ausgedrückt sind, er nimmt Informationen auf und füllt diese mit bereits vorhandenem Wissen auf (Heinemann/Viehweger 1991,117).
2.2 Deutsch-finnischer Vergleich von Bewertungen in Leitartikeln Um die Hypothese über die Implizitheit der finnischen Leitartikel überprüfen zu können, habe ich alle Sprachhandlungen der zu analysierenden Leitartikel gezählt und in vier grobe Kategorien eingeteilt, die zwei Bewertungskategorien umfassen: zum einen explizite Bewertungen und zum anderen nicht-explizite Bewertungen, d.h. indirekte und implizite Bewertungen bzw. andere Sprachhandlungen mit einer bewertenden Komponente. Ohne diese heterogene Gruppe genauer zu differenzieren, werde ich im folgenden von
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Liisa Titolila
impliziten Bewertungen sprechen. Die dritte Kategorie umfaßt Informationshandlungen (Tatsachenfeststellungen) ohne Bewertungskomponente und die vierte Katogorie schließlich sonstige Sprachhandlungen (z.B. Beschreibungen, Metakommunikation usw.). Folgende Beispiele verdeutlichen die drei erstgenannten Kategorien: a) Explizite Bewertungen (x ist schlecht/schön etc.): (1) (2)
Solche Mogelpackungen und Finten sind unerträglich. (FR 12.5.89) Das Dilemma der gegenwärtigen Bonner Politik ist ihr Mangel an Klarheit, Stetigkeit und Verläßlichkeit. (FAZ 20.4.89)
b) Implizite Bewertungen: (3)
(4)
Für die schrittweise Gewährung normaler Minderheitenrechte (Sprache, Schule, Religionsausübimg, Kultur) sind die Führungen der Ostblockstaaten nicht zu gewinnen. (FAZ 30.12.88) Natürlich sucht die Moskauer Politik auch in ihrem "neuen Denken", auf das Schewardnadse sich wiederum berief, die sowjetrussische Machtposition zu bewahren. (Die Welt 7.3.89)
c) Informationshandlungen ohne Bewertungskomponente (die jedoch ihrerseits als Stützung oder Begründung für Bewertungen dienen können): (5)
(6)
Die führenden wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute sagen für das siebte Jahr des Aufschwungs eine reale Wachstumsrate von zwei Prozent voraus. (FAZ 25.10.88) Arafat hat vor kurzem Schweden und Österreich besucht und wird demnächst nach Großbritannien fahren. (HS 30.12.88)
Die Häufigkeit der verschiedenen Typen (in %) geht aus der folgenden Tabelle hervor:
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Implizites Bewerten in finnischen und deutschen Leitartikeln
Zeitung FAZ
Ft. Rundschau Süd. Zeitung Die Welt
Dt insg. HS Demari Uusi Suomi
Finn. insg.
expl. Bew. 21 18 19 5 18
impl. Bew. 39 37 43 55 41
23 14 8 15
36 40 60 46
Inform. 5 4 1 3
sonstige 35 4 37 40 38
Ν 217 341 324 85 967
8 11 2 7
33 35 30 32
341 246 340 927
Das Ergebnis zeigt keine bedeutenden Unterschiede zwischen den Sprachen, zwischen den einzelnen Zeitungen ist die Variation dagegen groß. Auch innerhalb der Zeitungen waren zwischen den einzelnen Artikeln große Unterschiede festzustellen: Wie stark und explizit bewertend ein Artikel war, schien u.a. vom Thema abzuhängen. Explizite Bewertungen kamen in beiden Sprachen insbesondere bei innenpolitischen und wirtschaftspolitischen Themen vor, während Texte, in denen viel Hintergrundinformation vermittelt wurde, häufig außenpolitische Fragen (z.B. Wahlen in einem anderen Land) behandelten. Das Ergebnis hat also die Hypothese der Implizitheit der finnischen Leitartikel nicht bestätigen können. Was bei der Analyse jedoch deutlich wurde, war die Problematik der Identifikation von Bewertungen sowie einer darauf bauenden quantitativen Analyse. Denn die Interpretation und Entscheidung, wann es sich um eine Bewertung handelt und wann nicht, ist in vielen Fällen schwierig: Jemand anders mit anderen Bewertungsmaßstäben und mit anderem Hintergrundwissen hätte vielleicht anders klassifiziert und wäre somit auch zu einem anderen Ergebnis gekommen. Bevor wir auf die Mittel des impliziten Bewertens eingehen, betrachten wir kurz den Aufbau der Leitartikel im Hinblick auf die Rolle der Bewertungen.
2.3 Bewertungen in Leitartikeln Ein Leitartikel besteht typischerweise aus folgenden Teilen: 1. Situationsbeschreibung bzw. Problemdarstellung, d.h. Erklärung des Hintergrunds; 2. Kommentar oder Bewertung sowie Begründung; 3. Voraussage oder Aufforderung bzw. Ratschlag. Die Sequenzen können sich wiederholen. Die Überschrift des Leitartikels kann sich auf jeden Bestandteil beziehen, und jeder Teil kann bewertend sein, nicht nur der, den ich Bewertung bzw. Kommentar
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Liisa Tiittula
genannt habe. So kann beispielsweise die Beschreibung der Ausgangsposition so abgefaßt sein, daß sie bewertende Komponenten enthält oder daß "eine Bewertung naheliegt". Es ist anzunehmen, daß je näher die Auffassungen des Adressaten denen des Senders liegen, desto stärker und expliziter bewertend die Mitteilung sein kann. Extreme und emphatische Bewertungen schaffen auch Solidarität zwischen den Kommunikationspartnern. Distanz und Meinungsverschiedenheit erfordern wiederum moderatere, unauffälligere Formulierungen, insbesondere wenn man den Partner überzeugen will. Insofern ist anzunehmen, daß sich weniger direkte Mittel für persuasive Texte besser eignen und somit auch in Leitartikeln bevorzugt werden. Implizite Mittel wecken den Eindruck, es werden eher objektive Erscheinungen beschrieben als persönliche Anschauungen und subjektive Stellungnahmen geäußert (vgl. dazu genauer Adamzik 1984.) Neben expliziten Mitteln werden somit implizite verwendet, bei denen der Leser selbst Schlüsse ziehen muß. Je näher die Werte des Verfassers andererseits den eigenen Werten liegen, desto schwieriger ist es anscheinend, Bewertungen überhaupt wahrzunehmen und z.B. Beschreibungen und Bewertungen voneinander zu unterscheiden.
2.4 Mittel des impliziten Bewertens Wie wird implizit bewertet? Im folgenden werden (ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit) Beispiele für solche Techniken und Mittel angeführt, die in den analysierten Texten häufig dazu verwendet wurden, den Sachverhalt in unauffälliger Weise "nebenbei" zu bewerten. Dabei ist zu betonen, daß die genannten Mittel nicht unbedingt immer Bewertungen signalisieren ausschlaggebend ist der jeweilige Kontext: Erst er gibt Aufschluß über die Funktion und Bedeutung der Äußerung. Darüber hinaus kann die Interpretation davon abhängen, wer der Sender oder das Bewertungssubjekt ist. Weiterhin ist zu betonen, daß 'explizit' und 'implizit' zwei Pole eines Kontinuums sind. Zum Explizitheitsgrad der Bewertung tragen u.a. die Funktion und die Einbettung der Bewertung in der Äußerung, ob es sich um einen Matrixsatz oder um eine Konstituente handelt, und welche syntaktische Position diese Konstituente einnimmt, bei.
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2.4.1 Lexikalische Mittel, Wortwahl Eine Informationshandlung kann durch Einbettung von werthaltigen Wörtern einen bewertenden Charakter bekommen. So kann dem Sachverhalt durch solche Lexeme wie neu, Freiheit,freiheitsliebendoder sachlich ein positiver Wert zugesprochen werden, ein negativer wiederum mit Lexemen wie z.B. alt, dogmatisch, stalinistisch, populistisch, Terrorist oder Verbrecherbande.
Wie kontextabhängig jedoch auch solche werthaltigen Ausdrücke sein können, zeigt das Lexem radikal·. Als in den analysierten Leitartikeln von westlichen Gesellschaften die Rede war, war die Konnotation negativ, bei ehemaligen sozialistischen Gesellschaften dagegen positiv. Zum Gebrauch der werthaltigen Wörter vgl. folgende Beispiele: (7)
(8)
Seine rüde Wortwahl ließ die Erinnerung an das Jahr ihres Baues wach werden. Auch an die alte stalinistische Gewohnheit, unerwünschte Argumente mit beliebigen Retourkutschen zu beantworten [...] (FAZ 21.1.89) Gorbatschow hält die Diskussion über Mehrparteiensystem für Unsinn. (US 29.3.89)3
Satz (8) ist ein gutes Beispiel für die Abhängigkeit der Wertzuschreibung von unseren Wertsystemen. Nach den westlichen Bewertungsmaßstäben ist ein Mehrparteiensystem etwas Positives, ein Zeichen der Demokratie. Wenn über Gorbatschow nun festgestellt wird, daß er es für Unsinn hält, ergibt sich die Schlußfolgerung, daß er nicht demokratisch eingestellt ist, also eine negative Bewertung. Wenn über Personen berichtet wird, kann die Art der Referenz darauf Einfluß haben, wie ihre Handlungen aufgefaßt werden. Im folgenden einige Beispiele für Personenreferenz: (9)
Die alten Männer im Politbüro wissen, daß ihnen ihre Mauer den einzig wirksamen Schutz bietet. (FAZ 21.1.89) (10) Trotz aller Erfolge hinterläßt Reagan seinem blassen Nachfolger Bush ein schweres Eibe. (FR 22.1.89) (11) Den Anstoß dazu hatte erst vor zwei Wochen der dynamische OberReformer Imre Pozsgay gegeben. (SZ 13.2.89)
(12) (Nim also wieder ein Arrangement, eine Bestandsgarantie.) Das wird in Bukarest einen Ceaucescu, in Prag einen Jakes aufatmen lassen. (FAZ 30.3.89)
3 Aus Raumgründen muß auf die Wiedergabe der finnischen Originalbeispiele verzichtet werden.
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Liisa Tiittula
Beispiel (12) stellt einen besonderen Fall dar: Hier wird mit Namen nicht allein auf die genannten Personen refereriert, sondern auf sie als Verkörperungen bestimmter Typen, deren Eigenschaften - die der namentlich genannten Personen - präsupponiert werden. Ähnliche Präsuppositionen enthalten Tautologien, wie im folgenden Beispiel. Ohne gemeinsames Wissen ist die Bedeutung nicht zu verstehen: (13) Mauer bleibt Mauer. (FAZ 21.1.89) Schon kleine Elemente wie Partikeln und Adverbien können zur Werthaltigkeit der Äußerung beitragen: (14) In jedem vierten Wahlkreis wurde nur ein Kandidat aufgestellt. (US 29.3.89; Thema: Wahlen in der ehemaligen Sowjetunion) (15) Das gleiche kann man nicht vom Steuerombudsmann sagen, der angeblich sowohl die Interessen der Finanzbehörden als auch des Steuerzahlers vertritt. (HS 20.4.89) (16) Sie (= die Kommunisten in Ungarn) werden sich darauf beschränken, im Parlament eine neue Verfassung zu verabschieden, und natürlich erwarten sie, daß die Eröflnung einer neuen Epoche ihnen als Verdienst angerechnet werde. (FAZ 13.2.89) Mit Konnektoren wie aber und jedoch kann der vorher mitgeteilte Sachverhalt bewertet werden: (17) Die durchgesickerten Informationen berichten von radikalen Reformen. Es ist leicht, viele davon zu kritisieren. Sie können auch eine nach der anderen abgeschmettert werden - oft mit an sich guten Gründen. Man muß jedoch die Gesamtheit sehen. (US 12.5.89)
2.4.2 Ironie Ein weiteres Mittel des impliziten Bewertens ist die Ironie. Im folgenden Beispiel wird die Situation zwar explizit bewertet, aber positiv, einzelne Beschlüsse und Pläne werden jedoch so dargestellt, daß der Leser sie als negativ einstuft. Aus diesem Widerspruch entsteht die ironische Wirkung: (18) Ungemein zukunftsorientiert sind auch der Verzicht auf den Ausbau des Flughafens und der Stadtautobahnen, das kunstvolle Abwürgen des Plans für ein Deutsches Historisches Museum sowie die Beerdigung der
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1987 gegründeten Akademie der Wissenschaften. Dafür wird Berlin in den Genuß von Frauenhäusern, einer neuen, linksgewirkten Schulpolitik, alternativer Projekte und eines operativ kräftig gestutzten Verfassungsschutzes kommen. Die fröhlichen Berliner Privatsender sehen schlimmen Zeiten entgegen, und die Industrie darf sich darauf vorbereiten, daß "Rüstungsforschung" in Berlin verboten wird. Dazu gehört im Verständnis der Alternativen die gesamte Mikroelektronik. (FAZ 7.3.89) Als Hinweis auf Ironie können u.a. Partikeln (s. Beispiel 16) und Anführungszeichen dienen, so wie im folgenden Beispiel - das Thema ist der Wahlmodus bei den finnischen Präsidentschaftswahlen, wobei unterstellt wird, daß die Parteien dabei keinen Einfluß haben; eine diesbezügliche Diskussion, die explizit noch als erregt eingestuft wird, kann also nicht ernst zu nehmen sein: (19) Es gab erregte Diskussionen darüber, welcher der Vorschläge der demokratischeste wäre, [...], was bedeutet daß die "Macht" der Parteien beschränkt werden könnte. (DEMARI 7.3.89)
2.4.3 Bezug auf andere Bewertungssubjekte In Leitartikeln werden häufig Meinungen und Weitungen anderer wiedergegeben, wobei der Schreiber dazu Stellung nehmen kann. Er kann sich von ihnen distanzieren oder sie übernehmen: (20) Blüm hat wohl recht, daß radikale Veränderungen des Rentensystems weder wünschenswert noch durchsetzbar sind. (FAZ 15.11.88) (21) Das Komitee gibt zu, daß die Gebühren übermäßig hoch sind. (US 13.2.89) Gelegentlich werden diese Wertungen jedoch ohne weitere Stellungnahme zitiert; strenggenommen handelt es sich also um eine Redewiedergabe, nicht um eine Bewertung des Verfassers. Die Übereinstimmung der Meinungen oder die Richtigkeit der Aussage wird u.U. mit Bezug auf eine Autorität präsupponiert. So bleibt im folgenden Beispiel unklar, wer das Bewertungssubjekt im zweiten Satz ist:
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(22) Der Zentralverband der Industrie möchte, daß genau gezielte Maßnahmen ergriffen werden. Es lohnt sich nicht, sich an unrealistischen Forderungen zu orientieren. (US 8.12.88) Wenn der Sachverhalt als allgemeine Meinung oder gültige Norm dargestellt wird, bleibt das Bewertungssubjekt ebenfalls offen: (23) PLO gilt traditionell als der wichtigste Vertreter der Palästinenser. (DEMARI 30.12.88)
(24) Plötzlich wirkte der vormals so populäre János Kádár als Gefangener der stalinistischen Herrschaftsstrukturen unbeweglich und verbraucht. Bei einem umfassenden Wachwechsel im vergangenen Jahr wurde er nun als Hemmschuh des Fortschritts von dem moderner wirkenden Karoly Grosz als Parteichef abgelöst. (FR 16.11.88) (25) Nicht auf die Masse, sondern auf die Qualität des Angebots und darauf, wie es dargeboten wird, dürfte es in einer Zeit ankommen, die nach dem Urteil von Zukunftsforschern die postmaterielle werden wird. (SZ 12.5.89)
2.4.4 Beschreibungen und Hintergrundinformationen Hintergrundinformationen und Situationsbeschreibungen können so abgefaßt sein, daß eine Bewertung naheliegt, auch wenn die Äußerung an sich keine wertende Komponente enthält. (26) Eine Mehrheit zugunsten der Aussiedler gibt es nur beim unverbindlichen Wohlwollen; wenn die Fragen härter werden, etwa auf die Chancen am Arbeitsmarkt zielen, sind die Aussiedler den Bundesrepublik-Deutschen nicht eben willkommen. (FAZ 30.12.88) (27) Die Banken profitieren von großen hochverzinslichen Krediten, so daß sie nicht daran interessiert sind, den Kreditnehmer zu schützen. (HS 13.2.89) Damit solche Beschreibungen als bewertend aufgefaßt werden, muß gemeinsames Wissen im Hintergrund stehen, aufgrund dessen bestimmte Sachverhalte schlecht oder gut sind. So liegen sowohl den finnischen als auch den deutschen Zeitungsartikeln bestimmte Werte zugrunde, die in der westlichen Gesellschaft und/oder in einem Leser- bzw. Herausgeberkreis einem allgemeinen Konses gemäß gleich bewertet werden. D.h. ein Artikel kann auf bestimmte Werte, Einstellungen, Oberzeugungen usw. aufbauen, bei denen
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Implizites Bewerten infilmischenund deutschen Leitartikeln
gilt: Alle stimmen darin überein, daß ρ und q und r. So ist z.B. Konkurrenzfähigkeit) in bezug auf die Wirtschaft (sowie in vielen anderen Bereichen auch) positiv besetzt. Weitere Beispiele für positive und negative Grundwerte4 sind u.a.: Positive Werte Marktwirtschaft
nsilttal
Pluralismus repräsentative Demokratie Konkurrenz Konsens Kompromiß
negative Werte Planwirtschaft staatlich gelenkter Wirtschaftsmechanismus Einparteisystem zentralistisch Streik
Im folgenden ein verdeutlichendes Beispiel: (28) Eine radikale Wirtschaftsreform wurde eingeleitet, die mit dem starren Schema des staatlich gelenkten Wirtschaftsmechanismus gebrochen hat und sich eindeutig an marktwirtschaftlichen Grundsätzen orientiert. [...] Vom 1. August an, wenn das neue Parteigesetz in Kraft tritt, wird Ungarn als einziger sozialistischer Staat nicht nur die eine regierende Kommunistische Partei haben, sondern mehrere, darunter auch oppositionelle politische Parteien. (SZ 13.2.89) Ein rein informativer Sachverhalt kann der Bewertungsaspekt sein und somit die Grundlage für eine Bewertung bilden: (29) Die Preiswettbewerbsfähigkeit ist seit 1983 zurückgegangen und Marktanteile sind verloren gegangen. (US 25.10.88)
2.4.5 Präsuppositionen Bewertungen können als Fakten präsupponiert bzw. als Informationen gegeben werden, deren Richtigkeit nicht in Frage gestellt wird, wobei sie also nicht mehr Bewertungen sind, sondern Tatsachenfeststellungen.5 Eine bekannte Formel bei einer solchen Präsupposition ist 'X weiß, daß ρ' ρ ist wahr: 4 Vgl. den Begriff Uochwertausdruck' bei Liedtke (in diesem Band). 5 Zum Verhältnis von Tatsachen und Wertungen s. Ripfel (1987,165ff).
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(30) Nadschibullah weiß, daß seiner Herrschaft die Stunde schlägt (DIE WELT 29.3.89). (31) Die Mudschaheddin wissen nur zu gut, wie gefährlich es ist, mit Kommunisten zu verhandeln (DIE WELT 2 9 . 3 . 8 9 ) . (32) Tatsache bleibt, daß sich auf dem ZK-Plenum die Reformer durchgesetzt haben, die für eine neue Ordnung sind. (SZ 13.2.89) Zillig (1982) zufolge sind Aufforderungen (implizit) bewertend, weil der herbeizuführende Zustand als positiv angesehen wird. Dabei wird die jetzige Lage negativ bewertet, wenn auch häufig nur präsupponiert. So enthält Beispiel (33) die Präsupposition 'in der Hauptstadtregion gibt es keine anständigen Wohnungen und Dienstleistungen', Beispiel (34) die Präsupposition 'die Beschlußfassung ist nicht effektiv (genug)'. (33) Für die jetzige und mit Sicherheit weiter wachsende Bevölkerung der Hauptstadtregion und anderer Zentren sind auf alle Fälle anständige Wohnungen, Dienstleistungen usw. zu schaffen. (US 12.5.89) (34) Die Beschlußfassung der Kommunen muß effektiver werden. (US 12.5.89)
2.4.6 Rhetorische Fragen Rhetorische Fragen können verschiedene Funktionen haben. Nach Fowler (1991, 211) entsteht durch rhetorische Fragen Dialogizität. Sie dienen nämlich dazu, sich im argumentativen Handeln mit den Gesichtspunkten der Person, auf die im Text referiert wird, oder mit denen des Lesers auseinanderzusetzen. Rhetorische Fragen können Wertungen beinhalten, müssen aber nicht. (35) Wie, um Himmels willen, soll man einer Bevölkerung, die ohnehin zu einem immer größer werdenden Teil eine solche Fabrik auf heimischem Boden für unsinnig und gefährlich hielt, klarmachen, daß sie nach der entschiedenen Meinung führender Industriebosse zwar überflüssig, nach der halbherzigen Meinung mancher Politiker aber doch notwendig ist? Und wie will man künftig einem Polizisten erklären, er müsse sich für das große Ganze, das ihm aber niemand so recht erläutern kann, auch weiterhin mit Steinen bewerfen lassen? (SZ 20.4.89)
Implizites Bewerten infinnischenund deutschen Leitartikeln
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3. Schlußbetrachtung Der Diskurs ist immer eine Darstellung aus einer bestimmten Perspektive, wie Fowler (1991, 208) festgestellt hat. Und dies gilt für alle Diskurse, also auch für alle Pressetexte. Das heißt, daß alle Texte in gewisser Weise wertungshaltig sind. Die Leitartikel unterscheiden sich von den Nachrichten nur darin, daß die Bewertung zum Teil explizit erfolgt. Wir verfügen über Textsortenwissen, d.h. der "normale" Leser weiß, daß in Leitartikeln Stellung genommen wird, und dieses Wissen wird zum Konstruieren der Textbedeutung herangezogen. Nachrichten dagegen werden mit anderen Erwartungen und Einstellungen gelesen und interpretiert: Von ihnen erwarten wir Objektivität und glauben auch, daß sie objektiv sind. Was die Analyse von Bewertungen betrifft, sei noch einmal Skepsis in bezug auf quantitative Untersuchungen geäußert. Vorhin wurde festgestellt, daß das Aufzählen von Bedeutungen oder Funktionen zu stark unterschiedlichen Ergebnissen führen kann. Aber ein noch schwerwiegenderer Kritikpunkt liegt dann, daß ein solches Verfahren die Dynamik des Textes vernachlässigt: Die Bedeutung ist nichts Statisches, sondern wird immer wieder neu konstruiert.
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LITERATUR Adamzik, Kirsten: Sprachliches Handeln und sozialer Kontakt (Tübinger Beiträge zur Linguistik; 213). Tübingen 1984. Fowler, Roger: Language in the News. Discourse and Ideology in the Press. London 1991. Hall, Edward T.: Beyond Culture. New ΥοΛ 1976. Heinemann, Wolfgang; Viehweger, Dieter Textlinguistik. Eine Einführung. (Reihe germanistische Linguistik; IIS). Tübingen 1991. Lenk, Hartmut; Tiittula, Liisa: Die implizite Botschaft Eine kontrastive Untersuchung zum Explizitätsgrad von Bewertungshandlungen in Pressekommentaren/Leitaitikeln. In: Der Ginkgo Baum 1990,9. Folge, S. 160-181. Ripfel, Martha: Was heiBt Bewerten? In: Deutsche Sprache 1987, 15, S. 151-177. Sager, Sven Frederik: Sind Bewertungen Handlungen? In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 1982,10, S. 38-57. Sandig, Barbara: Formeln des Bewertens. In: Christine Palm (Hrsg.): "Europhras 90". Akten der internationalen Tagung zur germanistischen Phraseologieforschung. Aske / Schweden 12.-15. Juni 1990. (Acta Universitatis Upsaliensis, Studia Germanistica Upsaliensia; 32). Uppsala 1991, S. 225-252. Tiikkonen-Condit, Sonja: Editorials as argumentative dialogues: Explicit vs. implicit expression of disagreement in Finnish, English and American newspaper editorials. In: Erikoiskielet Ja käännösteoria. VAKKI-seminaari VIII. Vöyri 13.-14.2.1988. Vaasa 1988, S. 168-175. Tirkkonen-Condit, Sonja; Liefländer-Koistinen, Luise: Argumentation in Finnish versus English and German editorials. In: Martin Kusch & Hartmut Schröder (eds.): Text, Interpretation, Argumentation. (Papiere zur Textlinguistik; 64). Hambuig 1989, S. 173-181. Widén, Pertti: Fachsprache und Kommunikation. In: Der Ginkgo Baum 1988,7. Folge, S. 28-31. Zillig, Werner: Bewerten. Sprechakttypen der bewertenden Rede. (Linguistische Arbeiten; 115). Tübingen 1982.
PETER VON POLENZ
Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart Band II: 17. und 18. Jahrhundert 2 3 , 0 χ 15,5 cm. I X , 498 Seiten. 1994. Broschur ISBN 3-11-013436-5. Gebunden 3 - 1 1 - 0 1 4 6 0 8 - 8 de Gruyter Studienbuch N a c h dem 1991 erschienenen Band I der „Deutschen S p r a c h g e s c h i c h t e " legt Peter von Polenz nun den zweiten B a n d dieser völlig neu konzipierten deutschen Sprachgeschichte vor, der dem 17. und 18. J a h r h u n d e r t gewidmet ist - und damit der entscheidenden E p o c h e der Kultivierung der deutschen Sprache als Literatur-, Wissenschafts-, Bildungsund Öffentlichkeitssprache. Grundlage dieses Studienbuchs sind die neuen Schwerpunkte und Fragestellungen, die seit den siebziger Jahren an die E r f o r s c h u n g der neueren deutschen Sprachgeschichte herangetragen worden sind: das Verhältnis zwischen Sprachgeschichte und Sozial-, M e d i e n - und K o m m u n i k a t i o n s g e s c h i c h t e ; die Beziehung des Deutschen zum Latein und zum Französischen sowie der Einfluß dieser und anderer Sprachen auf das D e u t s c h e ; Bemühungen und W i r k u n g e n von Sprachideologen, G r a m m a t i k e r n und W ö r t e r b u c h s c h r e i b e r n vom Kulturpatriotismus bis zur Volksaufklärung und zum beginnenden N a t i o n a l i s m u s ;
Akzeptanz
des von G o t t s c h e d propagierten „ H o c h d e u t s c h " in Süddeutschland und Ö s t e r r e i c h ; K o n tinuitäten und U m b r ü c h e belletristischer Literatursprache und deren Folgen für die problematische Entwicklung von N a t i o n a l b e w u ß t s e i n und öffentlicher Sprache. Diese Aspekte leiten unmittelbar über zur neuesten E n t w i c k l u n g der deutschen Sprache im 19. und 20. J a h r h u n d e r t , die T h e m a von Band III der „Deutschen S p r a c h g e s c h i c h t e " sein wird. D e r Band stellt ein problemorientiertes Studienbuch mit ausführlicher Bibliographie für das Germanistikstudium dar.
Band I: Einführung — Grundbegriffe. Deutsch in der frühbürgerlichen Zeit 18,0 χ 12,0 cm. 380 Seiten. Mit 10 Abbildungen. 1991. Broschur ISBN 3 - 1 1 - 0 1 2 4 5 8 - 0 (Sammlung Göschen, Band 2237)
DE
Walter de Gruyter Berlin · New York
SPRACHE, POLITIK, ÖFFENTLICHKEIT
Sprache im Umbruch Politischer Sprachwandel im Zeichen von „Wende" und „Vereinigung" Herausgegeben von Armin Burkhardt und K. Peter Fritzsche 23,0 χ 15,5 cm. XXI, 314 Seiten. Mit 1 Abbildung. 1992. Ganzleinen. ISBN 3-11-013613-9 (Band 1) Thema des Buches sind die sprach- und politikwissenschaftlichen Untersuchungen der politischen Sprache in der DDR vor und nach der „Wende". Im Kontext der deutschen Vereinigung und der ersten gesamtdeutschen Wahlen von 1990 werden u. a. folgende Aspekte behandelt: Politische Kultur in der DDR - „Macht des Wortes" - „Wir sind das Volk" - Sprechchöre bei der „Montags-Demo" in Leipzig - Christa Wolfs Streit mit dem „großen Bruder" Sprache des Umbruchs und ihre Ubersetzung — Sprache der Volkskammer — Schulbücher in der DDR — „Haus Europa" — Die Deutschen und das Deutsche — Gesamtdeutsche Bundestagswahlen - Sprache der Vereinigung.
SABINA SCHROETER
Die Sprache der DDR im Spiegel ihrer Literatur Studien zum DDR-typischen Wortschatz 23,0 χ 15,5 cm. X, 241 Seiten. 1994. Ganzleinen. ISBN 3-11-013808-5 (Band 2) Auf der Grundlage von 35 Romanen und Erzählungen der DDR-Literatur von 1949 bis 1989 wird der DDR-typische Wortschatz der deutschen Gegenwartssprache untersucht. Die Studie möchte zur Klärung der Beziehungen zwischen Sprache und Gesellschaft bzw. Sprache und Ideologie am Beispiel der DDR beitragen. Aus dem
Inhalt:
Wortbildung - Wortschatz der Nachkriegszeit - Berufs- und Personenbezeichnungen für Frauen - Komposita mit Volk- - Wortschatz der marxistisch-leninistischen Ideologie Darstellung Stalins in den Romanen — Wortindex.
w DE
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Walter de Gruyter Berlin · New York