Form. Zahl. Symbol: Leonhard Eulers Strategien der Anschaulichkeit 9783050062235, 9783050046044

In seinen Tagebüchern hat der Mathematiker Leonhard Euler (1707–1783) keine historischen Ereignisse, Lebensdaten oder sc

194 64 31MB

German Pages 360 [364] Year 2009

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Form. Zahl. Symbol: Leonhard Eulers Strategien der Anschaulichkeit
 9783050062235, 9783050046044

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Wladimir Velminski

FORM · ZAHL · SYMBOL Leonhard Eulers Strategien der Anschaulichkeit

Wladimir Velminski

FORM · ZAHL · SYMBOL Leonhard Eulers Strategien der Anschaulichkeit

Akademie Verlag

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-05-004604-4 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2009 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Layout und Satz: Petra Florath, Berlin Druck und Bindung: DZA Druckerei zu Altenburg GmbH, Altenburg Printed in the Federal Republic of Germany

INHALT

f(x) -

FUNKTIONSRAUM

Ι

EINLEITUNG

11

I.

Die Klammernase Das Denken mit dem Stift e'rpacp' - Datenraum Die Ambivalenz des Symbolischen

11

2. 3· 4·

14 17

20

e — Z E I C H EN R E G I M E D E R A N A L Y S I S II

D I E ( V O R - ) Z E I C H E N DER F U N K T I O N

27

I.

3· 4·

Das Anlegen der Tangente Dem Unendlichen auf der Spur Die Quadratur des Kreises Der Vorsprung der Schildkröte

27 29 34 36

III

G R A F I S C H E KALKÜLE DES IRRATIONALEN

42

I.

42

3· 4·

Erbschaft der Kanonenschüsse Spira Mirabilis Die fließenden Größen Fließen der Zeit

IV

D I E POESIE DES D I A G R A M M A T I S C H E N

6i

I.

Verbindungskunst Evidenz der Zeichen Pythagoreische Wurzeln Konstruktionen aus Feder und Tinte

2.

2.

2. 3· 4·

45 52 56

6i 67 71 78

INHALT

π - G E O M E T R I E DER O R D N U N C S S Y S T E M E V

DAS PARADIES DER GELEHRTEN

I.

St. Petersburger Formation

87

2.

Universalharmonie a n der Neva

89

87



Die Kunstkammer Peters des Großen

93

4-

Assimilation der Wissensformen

93

VI

PERIPHERIEN DES SICHTBAREN

97

I.

B a h n der Unbestimmbarkeit

2.

M a t h e m a t i s c h e Konventionen

97 103



Transformationen des Einblicks

110



Die Vermessung des Elysiums

115

rpa(p - T O P O L O C I E N DES D E N K E N S VII GEOMETRIE DER LACE I.

Das Königsberger Brückenproblem

131 131

2.

Die Codierung der Landschaft

136



Verwebte Landschaften

140



I m a g i n ä r e Ausgänge

143

VILI DAS GRAFISCHE DER MUSIK

150

I.

Logik der Komposition

150

2.

Gradus Suavitatis



Die Form der Empfindung

ISS 164



Begrenzung des Grenzenlosen

168

IX BERECHENBARKEIT DER STRATEGIE

172

I.

Schachkompositionen

172

2.

Formalisierung des Spiels

3.

Topologie der Rösselsprünge

174 177

4.

Die Mechanisierung des Spiels

185

6

INHALT

/ - A L G E B R A DES SEHENS X

POIESIS & MATHESIS

197

ι. 2. 3. 4.

Im Farbenband des Lichts Irrwege der Poesie Die farbigen Geister Episteme des Regenbogens

197 199 202 205

XI

D A S H E R U M G E I S T E R N D E R F A R B E N IN D E N O B J E K T I V E N

210

ι. 2. 3. 4.

Irrwege der Strahlen Das analytische Vorgehen Techniken des Sehens Das lebendige Auge der Objektive

210 212 214 219

XII

S I C H T B A R K E I T DES R E C H N E N S

224

ι. 2. 3. 4.

Formen des Nichtsehens Das Vertreiben der Farbengeister Allegorien des Imaginären Der Blick in das Imaginäre

224 227 236 239

Σ - SUMME DER N A C H B E O B A C H T U N C XIII SOVIEL ENTHÄLT DIE FORM

247

ι. 2. 3. 4.

247 248 249 249

In der >Welt des Symbolischem Programmierung der Sinnesdaten Eulers Aktualität Dank Δ -

1. 2. 3. 4. 5.

ANHANG

Theses Philosophiere und Eulers Bibliothek Abkürzungen und Archive Literaturverzeichnis Register Ausklapptafel

253 313 315 359

7

f(x) -

FUNKTIONSRAUM

Ρ

η Λ J*

7

I e^t'^ttir^-t'lr-^fyfrK r irk. — ' tf>-^

fb

L rr^f^lZCi rJf-^hrr^' A b b . 1: Leonhard Euler, Berechnungen u n d Selbstporträt aus d e m I . T a g e b u c h (1725-1727), PFA R A N : F. 136, op. 1, Nr. 129, 98

I EINLEITUNG

Ι. DIE KLAMMERNASE Der Gehalt des Geistes erschließt sich nur in seiner Äußerung; die ideelle Form wird erkannt nur an und in dem Inbegriff der sinnlichen Zeichen, deren sie sich zu ihrem Ausdruck bedient. Ernst Cassirer Die Formierung der Sichtbarkeit und Erkenntnis hebt das mathematische Denken an. So ist dem Tagebuch, mit dem Leonhard Euler 1725 seine mathematischen Denknotizen beginnt, eine imaginative Potenz von Zeichen gebenden Erscheinungen und an sie gekoppelten visuellen Strategien eigen. Auf Seite achtundneunzig des von beiden Enden her beschriebenen Buches tritt eine kleine Zeichnung aus Eulers Kalkülen hervor. Ein Gesicht (Abb. 1), bei dem es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um ein Selbstporträt des Mathematikers handelt, schwebt gespenstisch zwischen Zahlen und Graphen. S-förmig rahmen die Haare die hohe Stirn des Porträtierten ein. Die nach unten gezogenen Augenbrauen und die halbgeschlossenen Lider verleihen dem Profil mit der markanten Nase ein nachdenkliches Aussehen. Das Ohr ist nicht zu sehen, da die gewellten Haare auf den Kragen fallen und es verdecken. Der Mund ist leicht geöffnet, als ob das Gesicht dem Betrachter etwas mitteilen wollte. Mehrere Linien unterbinden diesen Sprechakt, die untere Hälfte des Gesichts mit dem sonderbar kleinen Kinn ist mittels einer Schraffur durchgestrichen. Bei genauerer Untersuchung der Tagebuchseite scheinen weitere Details vor dem Auge des Betrachters auf (Abb. 2). Eine zu einer Nase umgeformte Klammer schwebt über dem Gesicht, sie grenzt die Definition des Punktes ρ von der übrigen Rechnung ab. Um den Punkt p, dessen Bauch zum Auge des Gesichts avanciert, kreist die Berechnung einer Funktion, bevor zwei mögliche Positionen von ρ auf der Kurve eingezeichnet werden. Den Übergang von der Berechnung der Funktionsgleichung zur graphischen Darstellung kennzeichnet der Schriftzug »talem habet forma«. Soviel enthält die Form - soviel enthält das Blatt. Bei der Rekonstruktion der Aufzeichnungschronologie empfiehlt es sich, den benutzten Utensilien besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Während die Berechnungen mit einer kräftigen schwarzen Tinte eingetragen sind, die durch die Seite schlägt, ist das 11

I

EINLEITUNG

Abb.2: Leonhard Euler, Berechnungen und Selbstporträt aus dem 1. Tagebuch 0 7 2 5 1727), PFA RAN: F. 136, op. 1, Nr. 129, 98, Det. aus Abb. 1

Gesicht mit einer helleren dunkelbraunen Tinte gezeichnet. Dies spricht dafür, dass Euler die zuerst festgehaltenen Niederschriften in dem Tagebuch mit einer etwas groben Feder a u s g e f ü h r t hat. Die feinzügigeren A u f z e i c h n u n g e n s t a m m e n h i n g e g e n aus einer Zeit, in der Euler seine im Tagebuch festgehaltenen Notizen durchgeschaut, n a c h g e r e c h n e t u n d g e g e b e n e n f a l l s verbessert u n d a k k u r a t in die M a n u s k r i p t e ü b e r t r a g e n h a t . G e r a d e w ä h r e n d dieser Z e i c h e n p r a k t i k der Übertragung

e n t f a l t e t sich die prinzipielle A m b i v a l e n z

des Imaginären. 1 Gerade dieser Blick hebt Euler aus seiner subalternen Position in den Status der Exklusivität. 2 D i e s e b r i n g t z w a r d i e m a t h e m a t i s c h e H i e r a r c h i e ins W a n k e n , d o c h g l e i c h z e i t i g räumt sie neue unerwartete zeichenproduzierende Signale ein, 3 die es im Folgenden zu enthüllen u n d zu a n a lysieren gilt. Eulers Entwürfe und Notizen aus den Jahren 1725-1727 eröffnen die Spanne von Aufzeichnungen, des im Jahre »1707 den isten April zu Basel geboren [en]«4 Mathematikers. Schnellschrift, Zeichnungen, kalligrafische und stenografische G r a p h e m e treten immer wieder zwischen den m a t h e m a t i s c h e n A u s f ü h r u n g e n hervor (Abb. 3, 4). Alle unterscheiden sich voneinander in der Ökonomie des Zeichens, der Energie des Ausdrucks, der Schnelligkeit ihrer ι

In dieser Übertragung wird offenbar, wie Euler den Blick auf sich Selbst konzipiert: aus dem in »Partialobjekte zerstückelten« Blick auf sich aus dem Inneren heraus wird nun ein Blick von außen. Lacan 1975, 67; vgl. auch Blümle/von der Heiden 2005; Bozovic 2006.

2 3

Vgl. Groß 1990, 231-246. Vgl. dazu Sartre 1940/1994; Kamper 1986; Widmer 1990; Gekle 1996; Blümle/von der Heiden 2005; Bozovic 2006. Euler 1767, PFA RAN: F. 136, op. 1, Nr. 137, 1240b.

4 12

Ι. DIE KLAMMERNASE

Ώ α

^ ¡ έ

t & f í á t

- y * " m i ^ c k f e ^ t y

C ^ f r u ' / C L

Abb. 3: Leonhard Euler, Berechnungen und Zeichnungen aus dem 1. Tagebuch (1725-1727), PFA RAN: F. 136, op. 1, Nr. 129, 47ob.

j l

jj

» « f t .

Abb.4: Leonhard Euler, Berechnungen und Zeichnungen aus dem 1. Tagebuch (1725-1727), PFA RAN: F. 136, op. 1, Nr. 129, 159

Fixierung und keine dieser Ausdrucksformen ist von dem Gesamtprozess des Auf-Schreibens und Ver-Zeichnens im Tagebuch auszuschließen. Eine Frage, die sich im Hinblick auf diese Zeichenpraktiken stellt, ist die nach der Tiefenstruktur des Z u s a m m e n h a n g s von mathesis und graphe.5 Aus philosophischästhetischer Perspektive öffnen sich hier ontologische Fragen nach einer Struktur des Seins, 6 aber auch psychoanalytische und kulturhistorische Diskussionen einer Theorie des Realen und des Imaginären können viel zur Klärung der epistemischen Interferenzen beitragen. 7 Um diesen Interferenzen auf die Spur zu kommen, wird ein Bereich fokussiert, in dem derlei hybride Formen sich überlagern - es ist der Bereich, in dem sich die Prozesse des Denkens scheinbar ausschalten und zum intuitiven Zeichnen werden. Die Form dieses Denkens ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie vom Stift geleitet wird. Es ist der Kontext einer Kulturtechnik, in dem poiesis mit mathesis und graphe interferieren und das Zeichen als solches definieren.

5 6

Vgl. Bredekamp/Velminski 2009. G r u n d l e g e n d h i e r f ü r ist A l a i n Badious Studie Das Sein u n d d a s Ereignis; Badiou 2005; ferner a u c h Heidegger 1972; ders. 1975; Cassirer 1993.

7

L a c a n 1973-80; Kittler 1993; ferner auch kulturwissenschaftliche Studien der letzten Jahre, die v i e l f a c h deutliche diskursive Überschneidungen a u f w e i s e n konnten: H o f f m a n n / W e l s h 2006; Mersch/Ott 2007; Boehm/Brandstetter/Müller 2007; Wulf/ Zirfas 2005.

13

I

EINLEITUNG

2. DAS D E N K E N MIT DEM STIFT Die Forschung zu und über Leonhard Euler verweist oft darauf, dass die Entstehung und Etablierung der neuen Zeichenpraktiken zum dominierenden Legitimationsmuster der übersichtlichen Mathematik in der Zeit der Aufklärung wird. 8 Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass die konkreten Formen der Erscheinung und Durchsetzung dieser Praktiken mit ihren symbolischen Dimensionen 9 über Jahrzehnte kaum ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wurden. 10 Diese Formen der Wissensvermittlung werden bis heute aus dem Bereich der Wissenschaft ausgegrenzt; gerade ihnen versucht die vorliegende Arbeit eine zentrale Position zukommen zu lassen. Denn im Falle Eulers beschränkt sich die Problematik solcher Erscheinungen nicht nur auf die mathematische Abstrahierung der zu lösenden Aufgaben. Vielmehr sind es Ordnungsstrategien und Zeichenexperimente, deren Erscheinungskriterien es aufzudecken gilt. Diese verschränken sich weder in den Manuskripten noch in den publizierten Büchern oder Aufsätzen axiomatisch, sondern insbesondere in Eulers Tagebüchern, wo dieser eben keine historischen Ereignisse, Lebensdaten oder schicksalhaften Begegnungen festhält, sondern mathematische Ideen, formbildende Ordnungsstrategien und visuelle Praktiken verzeichnet. 11

8

Bereits a m Ende des 18. Jahrhunderts halt Francis Horner (1778-1817), der englische Übersetzer der Algebra von 1797, im Vorwort fest, wie anschaulich Eulers Darstellung der Mathematik ist: »if he [der Leser] has any taste for the beauties of method, and of what is properly called composition, we venture to promise him the highest satisfaction and pleasure. The subject is so aptly divided, the order is so luminous, the connected parts seem so truly to grow one out of the other, and are disposed altogether in a manner so suitable to their relative importance, and so conducive to their mutual illustration, that, when added to the precision, as well as clearness with which every thing is explained, and the judicious selection of examples, we do not hesitate to consider it... the most perfect model of elementary writing, of which the scientific world is in possession.« Euler 1797, (E 387 (e)), XIX; ferner auch Winter 1957; Vavilov 1954; Fellmann 1970; ders. 1979; ders. 1983; Kopelevic 1983; Juskevic 1977; ders. 1979; ders. 1980; ders. 1983; Speiser 1927; ders. 1934; ders. 1940; Michajlov i960; 1983. Ein umfangreiches Verzeichnis des Schrifttums über Leonhard Euler ist im Gedenkband des Kantons Basel-Stadt aufgelistet. Euler 1983, 511-552.

9

In Florian Cajoris klassischer Studie zur Geschichte der mathematischen Notation hat Euler mehr als doppelt so viele Einträge als jeder andere Autor. Cajori 1928/1993, 58-62.

10 11

Eine Ausnahme markiert die Arbeit von Bernhard Siegert: ders. 2003,191-225. Eulers Tagebücher wurden bis jetzt von der Forschung kaum beachtet, eine Ausnahme bildet die Arbeit Eberhard Knoblochs zu Eulers musiktheoretischen Notizen. Knobloch 1987. Eine Übersicht über Eulers unveröffentlichte Manuskripte und Notizbücher liefert Gleb Michajlov: ders. 1957; ders. 1958. Zu Eulers unveröffentlichten Schriften über die Theorie der Zahlen s. Ejler 1997.

H

2.

DAS D E N K E N MIT DEM STIFT

Diese Blickrichtung auf Eulers Zeichenpraktik als experimentellem Ort der Wissensproduktion und aber auch einer symbolschaffenden und produzierenden Ästhetik, 12 leitet sich zum einen aus Ernst Cassirers monumentalem Werk Die Philosophie der symbolischen Formen ab, mit dem Cassirer bekanntlich den Transzendentalismus Kants erweitern und auf den gesamten Bereich der menschlichen Kultur ausdehnen wollte.13 Während Kant davon ausging, dass der Mensch kein absolutes Wissen hat, sondern von der wirklichen Welt nur insofern Kenntnis haben kann, als sie durch sein geistiges Vermögen >apprehendiert< wird und somit zu seinem System der »transzendentalen Logik« gelangt - einer Grundform, die nicht nur der natürlichen Umgebung eine subjektive Ordnung auferlegt, sondern auch die sinnliche Anschauung und begriffliches Denken integriert14 - , sieht Cassirer in dieser »verzerrenden« Qualität des Geistes auch das Wesen seiner schöpferischen Kraft, die die symbolischen Formen hervorbringt. 15 Gerade darin untersucht Cassirer »in welchem Verhältnis [...] die verschiedenen geistig-seelischen Grundkräfte zueinander stehen und wie sich in ihnen, zugleich mit der geschäftigen Bewegung der Einbildungskraft, ein eigentümlicher logischer Sinn und eine bestimmte Form und Richtung des Denkens darstellt.«16 Somit sind Mythos, Kunst, Sprache und Erkenntnis nach Cassirer Symbole, jedoch »nicht in dem Sinne, dass sie ein vorhandenes Wirkliches in der Form des Bildes, der hindeutenden und ausdeutenden Allegorie bezeichnen, sondern in dem Sinne, dass jedes von ihnen eine eigene Welt des Sinns schafft und aus sich hervorgehen läßt.«'7 Dabei verstummt bei Cassirer »die Frage, was das Seiende an sich, außerhalb dieser Formen der Sichtbarkeit und der Sichtbarmachung sein und wie es beschaffen sein möge«, denn nach seiner Auslegung ist für den Geist nur das sichtbar, »was sich ihm in einer bestimmten Gestalt darbietet; jede bestimmte Seinsgestalt aber entspringt erst in einer bestimmten Art und Weise des Sehens, in

12

Zu Eulers bekanntesten Symbolen gehören die drei wichtigsten irrationalen Konstanten: e steht für die Basis des hyperbolischen Logarithmus, π für den Umfang des Kreises vom Durchmesser i, ; für die imaginäre Einheit. Darüber hinaus wurden auch die Zeichen Δ für Differenz, Σ für Summe und f(x) für die Bezeichnung einer Funktion von Euler eingeführt; dazu Cajori 1928/1993, 58-62.

13 14 15

Cassirer 1923-1229/1997. Kant 1781/1998. Dazu auch Piaget 1993; Kurz 2004; Voss 2006; Eco 1994; Becker 1992; Jung 1982; Hülst 1999. Zur Darstellung der Symbolisierungsfunktionen nach Lacan: vgl. Widmer 1990. Walter Benjamin bestimmt das Symbol als die »Identität von Besonderem und Allgemeinem« und setzt es in Gegensatz zur Allegorie, die die Differenz zwischen Besonderem und Allgemeinem markiert. Benjamin 1987, Bd. 1, 352.

16

Cassirer 1922/1997,19.

17

Cassirer 1925/1997^ 79.

15

I

EINLEITUNG

einer ideelen Form- und Sinngebung.«18 Dementsprechend ist es zum Einen die Frage nach der Visualisierung, der Beschaffenheit der Strukturen und Ordnungsprinzipien von Bildlichkeit, nach Steuerungsmechanismen technogener, anthropomorpher und imaginärer Blicke, der die vorliegende Arbeit anhand von Eulers »verzerrender« Qualität des Geistes nachgehen wird, um die visuellen Denkformen in seinem Schaffen von deren Ursprüngen her zu erforschen. 19 Zum anderen ist die Fokussierung auf die Eulerschen Notizen einer für die letzten Jahre zu konstatierenden Verschiebung der analytischen Perspektive auf das Wechselspiel zwischen Wissenschaften und ästhetischem Erzeugnis geschuldet, auf die bereits Edmund Husserl hingewiesen hat. Husserl zufolge ist die mathematische Realität von der empirischen Realität befreit. Diese ideale Realität ist der psychischen Realität ähnlich, denn zwischen dem Zustand des Wachseins und dem Wahntraum, zwischen der »normalen« Wahrnehmung und der Halluzination gibt es keinen Unterschied: Der Geometer, der seine Figuren auf die Tafel malt, erzeugt damit faktisch daseiende Striche auf der faktisch daseienden Tafel. Aber sowenig wie sein physisches Erzeugen ist sein Erfahren des Erzeugten, qua Erfahren, begründend für sein geometrisches Wesensschauen und Wesensdenken. Daher ist es gleich, ob er dabei halluziniert oder nicht, und ob er statt wirklich zu zeichnen, sich seine Linien und Konstruktionen in eine Phantasiewelt hineinbildet.20 Der Mensch als »Eigentliches« ist nach Husserl ein Geometer, ein Mathematiker, dessen Denkprozesse mit ihrer »poetischen Durchdringung« sich aus dieser »Phantasiewelt« speisen. Eulers skizzenhafte Zeichenpraktiken handeln ganz offensichtlich von einer solchen »poetischen Durchdringung« des Wissens, die nicht nur von dessen nachträglicher Repräsentation begleitet wird, sondern von einer spezifischen Epistemologie, die aus einer bestimmten Wissensordnung heraus produziert wird und ihrerseits selbst Wissen produziert.

18

Cassirer 1925/19970, 79. Samuel Y. Edgerton macht deutlich, von welcher Bedeutung Cassirers Arbeit für Erwin Panofskys Aufsatz »Die Perspektive als symbolische Form«« (1927) war, in der der Kunstwissenschaftler darlegte, dass jede historische Epoche und jeder historische Ort ihre eigenen Perspektiven hätten. Edgerton 2002, 139-148. Für Panofsky liefert z. B. die Linearperspektive nicht etwa die einzig gültige Abbildung der visuellen Realität, sondern ist lediglich eine bestimmte, der Renaissance eigentümliche Konstruktionsweise zur Darstellung von Welt und damit eine kontingente künstlerische Konvention. Ihr liege »niemals der gegebene, sondern der konstruktiv-erzeugte Raum« zugrunde, konkret: die »Struktur eines unendlichen, stetigen und homogenen, kurz rein mathematischen Raumes«. Panofsky 1927/1998, 668.

19

Zu diesem Phänomen siehe die jüngsten Arbeiten von Horst Bredekamp: vgl. Bredekamp 1999; ders. 2003; ders. 2004; ders. 2007.

20

Husserl 1992, 21.

16

3. e " r p a < / > ' - DATENRAUM

Solche Überlegungen sollen jüngeren Ansätzen innerhalb der Wissenschaftstheorie Rechnung tragen, die Wissenskonstitution als einen kulturtechnischen Prozess begreifen, dessen Erkenntnisobjekte untrennbar von deren jeweiligen Strategien der Beobachtung und des Aufschreibens sind. 21 Um darüber hinaus die epistemische Existenz von bewussten und unbewussten Denkprozessen und deren graphischer Erscheinung fassbar zu machen, die in Hinblick auf Euler in essenzieller Weise von Symbolsystemen und der schöpferischen Kombination von poetischen Zeichen, mathematischen Erzählformen und damit verbundenen Aufzeichnungstechniken abhängen, 22 wird ein Perspektivenwechsel angeregt, der sich seit geraumer Zeit auch in verschiedenen Studien abzeichnet. 23 Es sind die mit den Verkörperungen notwendig verbundenen Momente: der Körper, die Materialität der Symbole sowie die Performativität als Geste der Symbolisierung, die auf das Erscheinen dieser Formen verweisen. 24 Sie nötigen zugleich aber auch zu einer Umfokussierung der Symbole selbst hin zu ihrem Anderen, 25 dem Ereignis, woher sich ihr Bedeuten bezieht. In diesem Zusammenhang ist es das Denken mit dem Stift, das als vermeintlich schlichte Darstellungsform wesentlichen Anteil an der Generierung von Wissen hat; es hält nicht einfach fest, was sich vorher in Gedanken ergeben hat, sondern zeitigt eigene, an einen verfahrensmäßigen Gebrauch geknüpfte Effekte; es vermittelt zwischen Wahrnehmung und Reflexion, zwischen Faktensicherung und Thesenbildung.

3 . e Y p a Φ ' - DATE Ν R A U M Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Beobachtung, dass sich ab 1700 ein fundamentaler Umbruch in der Geschichte der Wahrnehmungsräume und Zeiten vollzieht.26 Der entsprechende Phänomenbereich, der sich in diesem Zusammenhang ausbildet und in dem eine Fülle von Erscheinungen nicht nur deutlich werden, sondern sogar eine epistemische Umkodierung erfahren, dient der kulturtechnischen Untersuchung, wie sie in der vorliegenden Arbeit angestrebt wird. Auf den Spuren von André Leroi-Gourhan und Roy Harris,

21

Bredekamp/Krämer 2003; Ernst/Kittler 2006.

22

Kittler 1988; ders. 1993; ders. 1995.

23

Vgl. d a z u die Arbeiten der a m Max-Planck-Institut f ü r Wissenschaftsgeschichte g e g r ü n d e t e n Forschungsinitiative Wissen im Entwurf. H o f f m a n n / B e r z 2 0 o i ; Windgätter 2006. W i t t m a n n 2007; Busch/Jehle/Meister 2007; Hilgers/Velminski 2007.

24

Vgl. Mersch 2006; Forschungsprogramm des Graduiertenkollegs

Schriftbildlichkeit.

Dazu besonders die Arbeiten von Sybille Krämer: Krämer 2003 u. 2005. 25

L a c a n 1973, 15; vgl. auch ders. 1987.

26

Van Dülmen/Rauschenbach 2002; C a m p e 1990; Schings 1994; B o x a n d o l i 1998; Bexte 1999; B a x m a n n / F r a n z / S c h a f f n e r 2000; Dürbeck u . a . 2000; Welsh/Dongowski/Lulé 2001; L a n g e / N e u m e y e r 2000. Einen weiterführenden Überblick über die Forschungsliteratur liefert B e r g e n g r u e n / B o r g a r d s / L e h m a n n 2001.

17

I

EINLEITUNG

die gezeigt haben, dass die Schriftsysteme ihren historischen Ursprung weder in einer uranfänglichen, bildhaft-refentiellen Verdoppelung von Sachverhalten, noch in einer von Anbeginn notativ-linearen Verdoppelung von Verlautbarungen eines sprechenden Subjekts haben, sondern aus den Modalitäten einer graphisch-haptischen Aktivität >aparter Form< hervorgegangen sind,27 wird ein neues interferierendes Feld eingeführt, in dem sowohl Eulers Experimentalpraktiken, als auch seine Mathematik und ästhetische Formen ineinander greifen und in dem sich Wissen überhaupt erst als etwas Neues eigendynamisch »verkörpert«.28 Es ist das Feld der e^rpa*))1 [epigrafi]. Diese e"rpa(J>' markiert nicht von sich her ein Seiendes, sondern setzt einen Verstehungsprozess voraus, 29 der für das handelnde Denken in Zeichen und Kalkülen steht. Denn genau so wie der Gebrauch darüber entscheidet, ob ein Zeichen wahrgenommen wird oder nicht,30 zeichnet auch die Platzierung der βΎρβφ' ihre Funktion aus. In Eulers e"rpac})'-en - die sich in Rechen- oder Korrekturvorgängen, beim U m g a n g mit Formeln oder beim Entwerfen von Diagrammen, beim Entwerfen einer Theorie oder konkreter Bildelemente entfalten - wird deutlich, dass deren epistemisches und ikonographisches Potenzial nicht nur durch den Bezug auf die reine Schrift- bzw. Bildanalyse beschrieben werden kann. Die zugrunde liegende Hypothese, dass e"rpa(J)'-en Hybridbildungen aus Diskursivem, 31 Ikonischem32 und Operativem 33 sind, denen epistemische Erinnerungsspuren anhaften, verlangt eine interdisziplinäre Herangehensweise an das Material, 34 was die vorliegende Untersuchung zu leisten versucht. Vor 27

Leroi-Gourhan 1980, 243-249; Harris 1986.

28

In seiner jüngsten Untersuchung weitet Rheinberger die Bedeutung von epistemischen Dingen auch auf die nicht-materiellen Wissensgegenstände aus, die er allerdings auch in die Kategorie des Dinghaften eingliedert. Rheinberger 2005.

29

Vgl. Simon 1972, 39-41.

30

Mersch 1998, 9.

31

Foucault 1974, 78-113; ders. 1976; ders 1996; Deleuze definiert auch Evidenz als Pendant zu Foucaults Diskursbegriff. Wie sprachliche Ordnungen das Aussagbare hervorbringen, sei das Sichtbare das Ergebnis einer maschinellen Konfiguration, die Wahrnehmungsstrukturen, Imaginationsmuster und Denkfiguren bestimmt. Der Maschinenbegriff ist dabei nicht rein mechanisch zu verstehen: »Sowenig die Aussagen ablösbar sind von ihren Ordnungen, sowenig sind die Sichtbarkeiten von ihren Maschinen ablösbar. Nicht daß jede Maschine von optischem Charakter wäre; aber es handelt sich um eine Zusammenstellung von Organen und Funktionen, die etwas sehen läßt, die ans Licht bringt, zur Evidenz.« Deleuze 1992, 83; Daston/Park 2002; Daston/Galison 2008.

32

Crary 1996; Bredekamp 1993; ders. 2004; Holländer 1994; Iser 1993; Großklaus 1990, 231-246; ders. 1995.

33

Kittler 1995; Krämer 1989; Kittler/Ernst 2006.

34

Mathematik und Musik dokumentieren beispielhaft, wie komplexe Gefüge und Gebilde in Wissenschaft wie Ästhetik durch ihre Notation erfasst werden können. Klotz 2000; ders. 2006. Ferner auch Bredekamp 2007; Grube/Kogge/Krämer 2006; Strätling/Witte 2006.

18

3- eVpa'-

f Í f t

'«·

.L X y l h

^

nunM^f/fu*^'· 9

M^Kf/W»iU* T

^

y

A

,

1

7

!

:

fili-





s

W O

F>· ^

c/fuí

¡/

r

y ¿J.

y ,

9eü/unbegrenzt< ins Auge«60 fassen möchte. Damit gelangt er zu der Notwendigkeit methodologischer Fragen der Mathematik und knüpft die Natur des Unendlichen an die Betrachtung von Kontinuität, wodurch er auch das Paradoxon zu lösen glaubt. 61 Es sind Strategien des Visuellen, die Aristoteles als Material, Modus der vorbildlichen Verzeichnung gebraucht und seien sie nur im Sinne einer Anschaulichkeit benutzt. Dabei ist auffällig und signifikant, dass hier Argumentationslinien mit Hilfe von Grafiken gedeutet werden, welche die Mathematik implizit auf genau jene visualitätsbezogenen Prinzipien und Semantiken verpflichten, die auch in den folgenden Jahrhunderten immer wieder Fragen, Probleme und Streitigkeiten >unbegrenzt< im Auge formieren sollen. Doch erst die Erstellung eines mathematischen Kalküls, das eine gegebene wie unbekannte, eine konstante wie unbeständige Größe erfasst, wird das Hindernis beheben, dem die griechische Mathematik bei der Schilderung physikalischer Vorgänge unterlegen geblieben ist.62 Ergo drehten sich die griechischen Denker im Kreise, dessen Fläche sie doch so dringlich zu berechnen versuchten. Ein Unterfangen, dem auch Euler in seinen Tagebüchern folgt, wenn er die Quadratur des Kreises durch die beschriebenen Polygone konstruiert (Abb. 19) und die Kreisfläche und den Grenzwert einer Reihe parallel berechnet. 63

59

Diese Auslegungen der aktualen und der potentiellen Unendlichkeit stehen auch den weiteren kulturtechnischen Erkenntnissen im Mittelalter und in der Neuzeit gegenüber. Während Thomas von Aquin den materiellen Dingen eine potentielle Unendlichkeit zusprach, wurde der aktualen Unendlichkeit in den theologisch-idealistischen Lehren der Scholastik eine höhere Bedeutung zugedacht, sie als Attribut einer göttlichen Vorstellung begriffen. Signifikant hierbei ist, dass der Unendlichkeitsbegriff der Scholastiker dem der Pythagoreer entgegengesetzt ist.

60

Aristoteles 1987,115.

61 62

Aristoteles 1987, 93-95. Zmud' 2002, 63; Thiele 1999, 42.

63

Der Grenzwert, dessen Form nur aus natürlichen Zahlen besteht, zählt bis heute als eulersche Reihe zu den schönsten Ergebnissen der analytischen Mathematik. Maor 1996, 54. Den transzendenten Spuren folgend, wird Euler demnach eine Methode entwickeln, mit der er die Summe verschiedener anderer Reihen aus natürlichen Zahlen, deren Vielfalt er in Introducilo in analysin inñnitorum vorstellt, konstruiert.

40

4· D E R V O R S P R U N G DER S C H I L D K R Ö T E

A b b . 19: Leonhard Euler, Quadratur des Kreises, aus d e m 1. Tagebuch (1725-1727), PFA RAN: 136, op. 1, Nr. 129, 152

41

III

G R A F I S C H E KALKÜLE DES IRRATIONALEN A R C H I M E D E S , KEPLER, N E W T O N

Ι. ERBSCHAFT DER K A N O N E N S C H Ü S S E Die These, dass eine endliche Größe die Gesamtheit einer unendlich großen Anzahl unendlich kleiner Teilchen darstellt, nahm in der Mathematik seit der Antike eine fundamentale Stellung ein und galt als unerschütterlich.64 Die Betrachtungen über die Quadratur des Kreises machten weitgehend vom Begriff des Unendlichen Gebrauch, ohne dass zunächst eine prinzipielle Analyse dieses für jede höhere Mathematik fundamentalen Begriffs geboten wurde.65 Wenn Euler 1749 die dreiundneunzig Punkte seiner bis heute unbekannt gebliebenen Schrift Theses Philosophicœ mit Alltagsbeispielen beginnt,66 so stellt er seine philosophische Betrachtung in den Kontext der analytischen Operationen von Teilung und Berührung, Unterbrechung und Bewegung, die sich bereits um Zenons Paradoxon drehten. Euler schreibt darin: Die Gewalt des Schießpulvers kommt nicht allein durch die Stärke der Kompression der Luft zustande; sondern auch die Entzündung fügt viel Kraft hinzu. In der Gewalt ist nämlich die Ausdehnbarkeit der Luft, eingeschlossen in den Poren des Pulvers, versammelt, welche die Kraft der Ausdehnbarkeit durch zweierlei Gründe zu vermehren in der Lage ist: Kompression und Hitze, deren letztere schließlich selbst durch die Gewalt der Entzündung hinzukommt.67 Die e"rpa(j)' in Eulers philosophischen Thesen wird nicht nur durch die visuelle Tradition der Kriegsstrategien verdeutlicht, in der auch Leonardo da Vincis (1452-1519) Bilder stehen (Abb.20). 68 Bekanntlich haben auch »Zählen und Rechnen [...] ganz und gar mit der Zahl zu tun« und »dem Krieger ist es sei64 Thiele 1 9 9 9 , 1 1 - 1 3 ; Zmud' 2 0 0 2 , 1 5 ; Lur'e 1 9 4 7 , 1 2 - 1 5 . 65 Vgl. Montucla 1754; Beutel 1920; Gericke 1984. 66 Eulers Theses Philosophicœ sind in seinem f ü n f t e n Tagebuch (1749-1752) verzeichnet, das den Index Κ trägt und auf dem Titelblatt mit der Aufschrift »Diarium mathematicum« versehen ist. PFA RAN: F. 136, op 1, Nr. 132, 1-177. Zur Betrachtung von Kanonenschüssen vgl. auch Euler 1769/1986, 57-58; sowie sein Werk zur Artillerie, Euler 1745 (E 77). 67 Euler 1749-1752, PFA RAN: F. 136, op 1, Nr. 132, 8. 68 Gibbs-Smith 1988, 1 0 - 2 6 .

42

Ι.

ERBSCHAFT DER

KANONENSCHÜSSE

Abb. 20: Leonardo da Vinci, aus Codice Atlantico, Folio 33r, um 1584

ner Aufstellungen wegen notwendig, dieses zu verstehen; dem Philosophen aber, weil er sich dabei über das Sichtbare und das Werden erheben und das Wesen ergreifen muß«/'9 Demnach wurde die Kopfzerbrechen bereitende Kreisflächenberechnung bereits auf parabolische Mechanismen übertragen, als die römischen Belagerer die Stadt Syrakus umstellten.70 Archimedes (285212 v. Chr.) stand seiner Heimatstadt zur Seite, die aufgrund wirkungsvoller Waffen zwei Jahre Widerstand zu leisten vermochte. 71 In einer Abhandlung führte Archimedes die exakte Flächenberechnung eines Parabelsegments durch, die er aus der Mechanik herleitete72 und die unter dem Namen »Quadratur der Parabel« zu einer ersten Anleitung für Katapulte und Geschützwesen (Abb.2ia) wurde: 73 »Zwar habe ich die Lösung zuerst durch Methoden der Mechanik gefunden, alsdann durch Methoden der reinen Geometrie«.74 Indem Archimedes dann aber eine »unendliche« 75 geometrische Reihe summiert, zeigt er, »daß der Inhalt jedes Parabelsegments ein Drittel größer ist, als das Dreieck, das mit ihm gleiche Linie und Höhe hat. [...] In einer geomet-

69

Platon 1 9 1 4 , 269.

70

S c h n e i d e r 1979, 38.

71

Schneider 1979, 2 3 - 4 1 .

72

A r c h i m e d e s untersucht, w i e sich e i n e b e s t i m m t e M a s s e a n e i n e m B a l k e n ( m a n stelle sich ein Katapult vor) v e r h ä l t u n d sich d a s F l ä c h e n s e g m e n t auf den Wurf ü b e r t r ä g t . A r c h i m e d 1 9 1 2 ; vgl. a u c h S c h n e i d e r 1979, 28.

73

S c h n e i d e r 1979, 40.

74

A r c h i m e d e s 1923, 7.

75

Z w a r spricht A r c h i m e d e s nicht explizit v o n einer S u m m e u n e n d l i c h e r Reihen (oder einer Reihe), seine H e r a n g e h e n s w e i s e ist jedoch der G r e n z w e r t b e s t i m m u n g s e h r nahe.

43

III

G R A F I S C H E K A L K Ü L E DES IRRATIONALEN

Abb. 21a: Anonym, Richten eines Geschützes, 1547 Abb.21b: Diagramm zur Quadratur eines Parabelsegmentes durch Archimedes

rischen Reihe mit dem Quotienten lA ist die u m den dritten Teil des kleinsten Gliedes vermehrte Summe aller Glieder V3 mal so groß wie das größte«. 76 Dabei verfuhr Archimedes nicht anders als seine Vorgänger (Abb. 21b). Das Parabelsegment AC erweiterte er durch die Einschreibung eines Dreieckes ABC. Dieses halbierte er, so dass die Linie HB parallel zur Achse der Parabel verläuft. Die Dreiecksseiten AB und BC werden nach dem gleichen Verfahren wie AC zerteilt und auf weitere Dreiecke ADB und BCE übertragen, wodurch ersichtlich wird, dass deren Flächensumme viermal kleiner ist als die des ABCDreiecks. Durch Weiterführung des Verfahrens erkennt Archimedes, dass m a n vier neue Dreiecke erhält, deren Flächensumme ein Viertel der beiden vorherigen ausmacht und somit von der Anschaulichkeit her bis ins unendlich Kleine entschwindet. 77 Die kriegerische M a ß n a h m e , die im Verlauf des archimedesschen Denkens einen zunehmend gewichtigeren Stellenwert erlangte, gipfelte nicht nur in der parabolischen Entwicklung der Hebelgesetze und Katapulte, 78 sondern f a n d auch in der Berechnung von Kreisformen ihren Ausdruck. Archimedes 76

Archimedes 1923, 26.

77

Thiele 1999, 33.

78

Vgl. Strathern 2002.

44

2. SPIRA MIRABILIS

jjfoH f

,'tmijm *> -r·

**W «>-»—' »-** ·V «H·

t

i



"

"

Abb. 22: Archimedes, Φ^ΙΗΛ« ,Λ·»--Schneckenlinien< in die Kunstgeschichte ein.89 Seine am Kreis orientierte Gestaltung der archimedischen Spirale aus Punkten (Abb. 28), die anschließend mit freier Hand verbunden werden, liefert eine didaktische Einführung in die zeichnerische Ausführung von Spiralen.90 Diese 85 86

Archimed 1962, 241. Die archimedessche Spirale kommt heute auf jedem handelsüblichen Informationsträger zur Anwendung. So werden die Daten auf einer CD oder DVD in Form von Punkten und Strichen (gleichbedeutend für o und 1, den kleinstmöglichen digitalen Dateneinheiten), beginnend bei der innersten Spur der CD, spiralartig nach außen geschrieben.

87 88 89

Gibbs-Smith 1988,12-16. Fehrenbach 1997. Vgl. auch Chastel 1990; Kemp 2005; Marani 2001. Es ist geradezu bezeichnend, dass Dürer die Faszinationsform der Spirale in die S-Linie übertrug, die als >Formel der Schönheit gedeutet wurde. Während Willia m Hogarth (1697-1764) die S-Linie als Grundlage für seine Analysis of Beauty gebraucht hat, wurde sie von Johann Heinrich Lambert geometrisiert, um die Kompositionsregeln der Kunst anzugehen. Tobias Vogelgsang ist dieser Auseinandersetzung in seiner brillanten Magisterarbeit Von Linien und Kurven, [ohann Heinrich Lambert und der Graph der magnetischen Abweichung nachgegangen. Vogelgsang 2006, 52-65.

90

Leonhard 2007,138-141.

48

2. SPIRA MIRABILIS #

ti *f

r

Abb. 28: Albrecht Dürer, Archimedische Spirale, 1525

Unterrichtskunst baut Dürer durch die Entwicklung weiterer Spiralformen aus, deren Windungen mal zum Zentrum hin enger verlaufen, mal in auslaufende Sinuslinien projiziert werden oder eine frühe Darstellung logarithmischer Verläufe bilden; Dürer nennt sie ewige lini. Es sind diese ewige lini, die René Descartes (1596-1650) mathematisch definiert hat 91 und deren naturelle Formen ihn unter anderem dazu verleiteten, alle Lebewesen - mit Ausnahme des Menschen - seelenlosen, unempfindlichen Automaten gleich zu setzen92 und dabei das Verständnis von der Mechanik und der neuen Physik weiter auszubauen: Denn es gibt in der Mechanik keine Gesetze, die nicht auch in der Physik gälten, von der sie nur ein Teil oder eine Unterart ist - so daß alle Dinge, die künstlich sind, damit auch natürlich sind und es ist daher der aus diesen und jenen Rädern zusammengesetzten Uhr ebenso natürlich, die Stunden anzuzeigen, als es dem aus diesem oder jenem Samen aufgewachsenen Baum natürlich ist, diese Früchte zu tragen.93 Mit der theoretischen Konstruktion der >zweiten Natur< schließen Experimente mit Maschinen oder Naturobjekten folglich eine Lücke, die die Gestalt der Maschinentechnik annimmt und der zufolge die Heilung nicht ohne Einbezug »mechanischer Operationen« ablaufen kann.94

91

Descartes diskutiert die logarithmische Spirale in seinen Korrespondenzen mit M a r i n Mersenne. Descartes 1898, 360.

92

Cassirer 1929/1997, 74. Kedrovskij 1984, 1 3 0 - 1 3 4 .

93

Descartes 1644/1922, 245-246.

94

Kittler 1993, 67-72.

49

III

G R A F I S C H E K A L K Ü L E DES I R R A T I O N A L E N

Es sind aber auch diese ewige lini, die nach Jacob Bernoulli (1655-1705) logarithmische Spiralen heißen sollten und von deren Eigenschaften er so hingerissen war, dass er sie als Spira mirabilis, die wunderbare Windung, bezeichnete und sie sich für seinen Grabstein wünschte.95 Als Euler als Mathematik begeisterter Junge in Basel die Schule besuchte, war es diese Spira mirabilis, die ihn in ihren Bann zog. Neben der Schule im Basier Münster - mit seinem roten Sandstein und den bunten Ziegeln, seinen beiden schlanken Kirchtürmen und den kreuzweise sich durchdringenden Hauptdächern ein Wahrzeichen der Stadt - hängt im Kreuzgang Bernoullis Grabtafel (Abb. 29). Den ovalen schwarzen Stein umranken vergoldete Blätter, die aus der unteren Inschrift hervorwachsen und die runde Form des Epitaphs wirbelartig umschlingen. An der Spitze der Grabtafel steht ein Globus, den rechts und links zwei Ritter säumen, die aus dem Gewinde der Blätter hervorstehend wachen und deren Helme auf die Inschrift des Grabmals gerichtet sind. Das Epitaph dominiert die Spiralform, die den Blick des Betrachters anzieht (Abb. 30). Die Inschrift eadem mutata resurgo (verändert werde ich wieder entstehen) umkreist die Spirale, deren Haupteigenschaften Jakob Bernoulli entdeckte; die Herstellung seiner Grabplatte wird er indes kaum überwacht haben, ist doch die beschriebene Spirale keine logarithmische, sondern eine >bescheidene< archimedische. c. V O N DER S P I R A L E ZU D E N P L A T O N I S C H E N

KÖRPERN

Den zeichnerischen Beweis der auf der Spirale basierenden Irrationalität dem der Bildhauer von Bernoullis Grabtafel wohl nicht bekannt war - fand bereits Theodoros von Kyrene (400-365 v. Chr.),96 den Piaton in einem Dialog zwischen Sokrates und Theaitetos so bildhaft beschreibt:97 Von den Seiten der Vierecke zeichnete uns Theodoros etwas vor, indem er uns von der des dreifüßigen und fünffüßigen bewies, dass sie als Länge nicht meßbar wären durch die einfüßigen. Und so ging er jede einzeln durch bis zur siebzehnfüßigen; bei dieser hielt er inne. Uns nun fiel so etwas ein: da der Seiten unendlich viele zu sein schienen, wollten wir versuchen, sie zusammenzufassen in eins, wodurch wir diese alle bezeichnen könnten. [...] Wir teilten alle Zahlen insgesamt in zwei Teile. Diejenigen, welche entstehen können durch Gleiches gleichvielmal genommen, nannten wir, mit der Gestalt des Viereckes sie vergleichend, viereckige und gleichseitige. [...] Die aber zwischen diesen, wozu auch drei und fünf gehören, und jede, welche nicht kann 95

Moor 1 9 9 6 , 1 0 8 - 1 1 1

96

Vygodskij 1963.

97

Da Piatons Ausführungen von mathematischen Betrachtungen durchdrungen sind, nimmt die Forschung an, dass sein Interesse an der Mathematik unter dem Einfluss des Pythagoreers Archytas von Tarent (400-365 ν. Chr.) und des Geometers Theodoros von Kyrene geweckt worden ist. Vgl. Cassirer 1 9 2 5 / 1 9 9 7 0 , 1 1 8 - 1 2 5 ; ders. Ι929/Γ996, 455; Kedrovskij 1984, 50; Losev 1 9 6 8 , 1 5 .

50

2. S P I R A M I R A B I L I S

. „TRAXVÜi N . UN·1ν.[ν iiMIHM^ somvW·» f >' g¿Mfflí!lMO«Ai:íí«ti: -Η g| r+xK -am m ßtßm Φ FJÎ nwMt m η, tv íMOSM^3XXT\i li.XVUlM Wts timßm'it iJrfweftë - ïSawBTfr*. tur rw \vFTFFIFTHA.STWANA ΧΧΛΝΝί* VX'J Ii CUMOUOeU.s UBI«·· ΜΛΙΤΟΙΤΡ«ΕΓΝ.·ί ,» ocarjouriv;

Abb. 29: Anonym, Jacob Bernoulli Crabtafel

Abb. 30: Spirale auf Bernoullis Grabtafel, Det. aus 44

Abb. 31: Diagramm des Beweises Theodoras'

Abb. 32: Anonym, Platonische Körper, ca. 1730

51

III

GRAFISCHE KALKÜLE DES IRRATIONALEN

aus gleichem gleichvielmal genommen entstehen, sondern nur aus einer größeren Zahl wenigermal oder einer kleineren mehrmal genommen, welche also immer von einer größeren und einer kleineren Seite eingefaßt werden, diese nannten wir, mit der länglichen Gestalt sie vergleichend, längliche Zahlen.98 Der Satz von Pythagoras zur Konstruktion der Strecken (Abb. 31) mit den Längen VT, / ? , V"5, ... VÏ7 wird hier anschaulich fortgesetzt und die Irrationalitäten in zwei Klassen zerlegt. Alle Linien nun, welche ein Viereck bilden von gleichseitiger Zahl in der Fläche, nannten wir Längen; welche aber eins von ungleichseitiger Zahl bilden, diese nannten wir Kräfte, weil nämlich sie selbst als Längen nicht durch gleiches Maß mit jenen können gemessen werden, wohl aber die Flächen, welche sie hervorzubringen die Kraft haben. Ein Ähnliches findet nun statt bei den körperlichen Zahlen." Indes wird ein Dialog zum Programm, aus dem, abgesehen von der umfassenden Studie des Irrationalen, die fünf regulären Polyeder folgen (Abb.32),100 um ein weiteres Mal die Mathematik mit der welterkennbaren Ausführung graphisch zu verbinden.

3. D I E FLIESSENDEN G R Ö S S E N Als sich Johannes Kepler (1571-1630) der platonischen Körper bemächtigte und diese in eine Beziehung zur klassischen Auffassung der Elemente und den damals bekannten fünf Planeten - Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn setzte,101 verfolgte er ein Ziel: das Auffinden der Harmonie der Himmelssphären (Abb.33),102 die visuell nicht mehr an die pythagoreische Vollkommenheit eines Systems konzentrischer Kreise erinnerten, sondern auf geometrisch konstruierten Ellipsenbahnen beruhten. Aus Keplers kosmologisch geprägter Sicht war es kein Zufall, dass die Anzahl der regelmäßigen Polyeder um eins kleiner war als die Anzahl der bekannten Planeten.103 Also versuchte er zu beweisen, dass die Abstände der Planeten von der Sonne durch Kugeln innerhalb regulärer Polyeder gegeben waren. 104 Bleibt zu klären, was Kepplers Elemente mit dem Unendlichen zu tun haben. Eine Frage, die sich nicht wissenschaftshistorisch, sondern wissensar98 Piaton 1985, 570-571. 99 Piaton 1985, 570-571. 100 Piaton 1985, 571; vgl. dazu auch Riemenschneider 1986. 101 Kepler 1596/1993. 102 Lombardi 2000. 103 Cassirer 1925/19970,167-169. 104 Vgl. Caspar 1968.

52

3· D I E FLIESSENDEN GRÖSSEN

Abb. 33: Johannes Kepler, Modell des Sonnensystems, Mysterium Cosmographicum, 1596

Abb. 34: Johannes Frey, Ein new Visier Büchlein, Titelblatt, 1640

chäologisch b e a n t w o r t e n lässt. D e n n dass Kepler P y t h a g o r a s nicht nur durch sein Cosmo-graphicum,

sondern a u c h durch die B e r e c h n u n g des Unberechen-

b a r e n nahekam, 1 0 5 w a r i h m selbst wohl k a u m bewusst. G e r a d e Kepler, der bekanntlich ein Liebhaber des Weins war, trug z u m Umbruch der E x h a u s t i o n s r e c h n u n g bei (Abb. 34), als er 1613 seine »Wiederverm ä h l u n g feierte, zu einer Zeit, d a a n den D o n a u u f e r n bei Linz die aus Niederösterreich h e r b e i g e f ü h r t e n Weinfässer n a c h einer reichlichen Lese a u f g e s t a pelt u n d zu einem a n n e h m b a r e n Preise zu k a u f e n waren«. 1 0 6 Es w a r wohl »die Pflicht des neuen Gatten und sorglichen Familienvaters, f ü r sein Haus den nötigen Trunk zu besorgen«. 1 0 7 Stutzig w u r d e Kepler, als der Verkäufer eine Messrute zur H a n d n a h m , »mit der er alle Fässer, o h n e Rücksicht auf ihre Form, o h n e jede weitere Überlegung oder Rechnung ihrem Inhalte n a c h be-

105 Wenngleich Kepler von einigen wahren Grundsätzen (etwa von der Idee des heliozentrischen A u f b a u s des Sonnensystems) ausgig, hat sich seine Betrachtung als fehlerhaft erwiesen. Seine mathematische Beschreibung basierte nicht auf der Verarbeitung der Erfahrungsdaten, sondern auf der unkritischen Entlehnung metaphysischer A n n a h m e n . So stützte sich die Vorstellung der Kreisförmigkeit der Planetenbahnen, die durch reguläre Polyeder z w a n g h a f t miteinander verbunden sein müssten, nicht auf Beobachtungsergebnisse, sondern auf proportionale Spekulationen, die sich als falsch herausstellten. Vgl. Wolgast/Marx 1976, 175; Helfricht 2001. Cassirer sieht jedoch in dieser falschen A n n a h m e des Raumes bei Kepler den Zeichenbegriff verankert. Cassirer 1929/1997,167-168. 106 Kepler 1987, 99. 107 Ebd., 99.

53

III

G R A F I S C H E K A L K Ü L E DES IRRATIONALEN

c

// "ir·

y

A b b . 35: D i a g r a m m der keplerschen Konstruktion zur Kreisflächenberechnung

stimmte. Die Visierrute wurde mit ihrer metallenen Spitze durch das Spundloch quer bis zu den Rändern der bei den Böden eingeführt, und als die beiden Längen gleich gefunden worden waren, ergab die Marke am Spundloch die Zahl der Eimer im Fasse.«108 Kepler bezweifelt die Richtigkeit der Methode, »denn ein sehr niedriges Faß mit etwas breiteren Böden und daher sehr viel kleinerem Inhalt könnte dieselbe Visierlänge besitzen.«109 Und es scheint ihm »als Neuvermähltem nicht unzweckmäßig, ein neues Prinzip mathematischer Arbeiten, nämlich die Genauigkeit dieser bequemen und allgemein wichtigen Bestimmung nach geometrischen Grundsätzen zu erforschen und die etwa vorhandenen Gesetze ans Licht zu bringen.« 110 Tatsächlich entwickelt Kepler aus der Stereometrie der Weinfässer die Infinitesimalgeometrie (Abb. 35), nach der »in der Kreisfläche unendlich viele Dreiecke liegen, die sämtlich mit ihren Scheiteln im Mittelpunkt zusammenstoßen.«111 Kepler erinnert sich an die Untersuchung Archimedes, der »zwar den Kreis in unendlich viele Dreiecke zerlegt, aber in solche, die rechtwinklig auf dem Umfang stehen, da ihre Spitze im Kreismittelpunkt«112 liegt (Abb. 36). Doch indem er seine Elemente erblickend die Herangehensweise des Archimedes konträr wendet, steht der Weinliebhaber wiederum vor einer Figur, deren Fläche er nicht berechnen kann. Grund, alle Kompetenzen zusammen zu führen:

108 109 110 in 112 54

Ebd., 99. Ebd., 99. Ebd., 99-100. Ebd., 101. Kepler i960, 95.

3. DIE FLIESSENDEN GRÖSSEN

[...] so rufe ich sie alle einzeln auf, sie mögen mir helfen eine Fläche aufzusuchen, die der Gesamtheit der Abstände gleichwertig ist. Geometrisch (im weiteren Sinne des Wortes) habe ich diese Aufgabe gelöst; aber sie sollen mich lehren, wie man das, was ich durch eine geometrische Figur gewonnen habe, zahlenmäßig bestimmen kann; vielmehr, sie sollen mir zeigen, wie man den Inhalt der von mir gefundenen Figur berechnet.1'3 Ein Galilei-Schüler, Bonaventura Cavalieri (1598-1647) erhörte den Hilfeschrei. Er erkannte die verborgenen keplerschen Möglichkeiten und versuchte in bewusster Anknüpfung an Demokrit zu lösen." 4 Cavalieris Distanzierung vom griechischen Atom und die Zuwendung zum lateinischen Fachwort Indivisible, dessen Bedeutung für die Mathematik er übrigens an keiner Stelle erläutert, waren für die Zeitgenossen schwer nachvollziehbar. 1 ' 5 Die darauf aufbauende Infinitesimalmathematik blieb den meisten verschlossen." 6 Die Beschäftigung mit geometrischen Formen führte Cavalieri zum Bestimmen des Grenzwertes, den er aus der Erkenntnis zog, dass sich die Gesamtheit (Cavalieri spricht nicht von Summen) der Indivisibelnquadrate eines Parallelogramms zur Gesamtheit der Indivisibelnquadrate eines beliebigen, durch eine Diagonale herausgeschnittenen Dreiecks wie 3:1 verhält. Dabei schält sich bei Cavalieri, der die Körper als Bücher mit unendlich vielen Seiten begreift und sich folglich nur mit dem Inhalt und nicht der Oberfläche befasst, die tangentiale Methode heraus, die Leibniz noch beschäftigen wird." 7 Denn Cavalieri spricht von einer tangens opposita (gegenüberliegenden Berührenden), die die Figur an einem bestimmten Punkt abschließt und sich so um den ganzen Körper legt." 8 Bevor diese figurbetonte Bewegung, die für Cavalieri ein »Fließen« darstellte, von Isaac Barrow (1630-1677) aufgegriffen und an Newton weitergeben wurde," 9 landete die Indivisibelnmethode indes auf dem Schreibtisch von John Wallis (1616-1703). Wallis - dessen Studien Euler in Form von losen Blättern in sein Tagebuch eingliedert (Abb. 37) 130 - verstand es, den Kern des integralen Denkens beizubehalten und, sich nur von der geometrischen Form Cavalieris zu lösen,'21 um die Infinitesimalmathematik rechnerisch-alge-

113 Ebd., 98 (Hervorhebung durch W. V.). 1 1 4 Cavalieri 1635. 115

Juskevic 1969,15-16.

116 Cavalieri 1647. Vgl. Juskevii 1969,16. 117

Juskevic 1969,17.

1 1 8 Cavalieri 1653,19-23. 119 Barrow 1674/1976; vgl. Baron 1969; van Maanen 1999, 86-88. 120 Eulers neuntes Tagebuch, das um 1760 geführt wurde, enthält mehrere Blätter aus den mathematischen Schriften des 17. und 18. Jahrhunderts - zum größten Teil Wallis Arithmetica Infinitorum (1656) und dessen Studien über die Sonnenfinsternis. PFA RAN: F. 136, op. 1, Nr. 137, 17-114. 121 Van Maanen 1999, 79-80.

55

III

GRAFISCHE KALKÜLE DES IRRATIONALEN

if*

14 Arttlmrlitj Jeßmttrv*. PrepMtr ft «r I, 9, 5,7, & ft áñlKtfttofr

Son«

it

«lin f per lo)fpÍMltj MA, MAB, MABC, M A BCD,

MABG,) itt. α « » , ( 4 - . - O f . O - ^ J

(!*->«=,>

ET univerftliter,

DuSit qmhbttnQù *ff,ur, A b b . 37: John Wallis, Archimedische Spirale, im.ictm ftâmtiim, frumt fpirêlv ftgmartd c*mtimi iKlcTfipit, (MT, TT, &c.) et 1 , 3 , 5 , 7 , &e. Arithmetica Infinitorum, 1656, aus Eulers C u e «MUI f [>'0(xcr «quiltt «BfldoiJ if {χ rtäx MT, 9. Tagebuch, 1760, PFA RAN: F. 136, op. 1, Nr. 137, 17

braisch zu gestalten (Abb. 38). 122 Er betrachtete den stereometrisch bestimmten Grenzwert Cavalieris und die Parabelquadratur nach Archimedes und stellte fest, dass die beiden zur gleichen Lösung des Problems gelangen:

lim

1Z + 2Z + ... + n2 _ 1 1 (nach Cavalieri) jVdx = — (nach Archimedes). η · nm ~ 3 0

Mit der »Arithmetik der unendlichen Größen« setzte sich Wallis wie seine Vorgänger mit der Kreisflächenberechnung auseinander, wobei ihm die allgemein gültige Herleitung bestimmter Grenzwerte gelang. 124 Doch die Erfindung der Differentialrechnung ließ noch auf sich warten.

4. FLIESSEN DER Z E I T Mitte des 17. Jahrhunderts wütete in weiten Teilen Europas die Pest, 1665/66 besonders schwer in England, wie Daniel Defoe (1660-1731) berichtet.125 Als die Seuche in Cambridge einfiel, machte sich der Student Isaac Newton (1642122 Wallis 1656. 123 Die Schreibweise (Limes und Integral) ist gewählt, um die Äquivalenz der beiden Ausdrücke zu demonstrieren. 124 Scriba 1966, 98-102. 125 Als die Pest 1665 in London ausbrach, w a r Defoe, der spätere Autor von Robinson Crusoe, f ü n f Jahre alt. Bis in die grausigen Details lässt er später, einen Ich-Erzähler den Verlauf der Epidemie rekonstruiert. G e n a u protokolliert er die Totenzahlen, Angst und Hoffnung unter den Menschen. Defoe 1722.

56

4· FLIESSEN DER Z E I T

Arithmetic* Jnßirhcmm.

trop. I?.

m>,«c· ¡ n' ·« ' » i e per coBftmfiiontro & jropterta cur»« MT, MT, Sc. (ito KÔi» contermini) (nu in rtflaram rettone duplicat* fpcrprop.n·) ut 1,4.0,ι6»8κ. «nwt n Iptn ùip«frg+ » co-----ntino«,"T, MITT, «ce. 4-1» 9 Qu ode

SCHOUVM.

·

Tot» hTcáclongiiodínt lie»* fpíraíi» dottrina, ctmdnuii

«M.iordnlm propofitlonfru· !»*> traditi,«!» »pud ftrchinwòcrò in libro er aus der Sphäre der bloßen Erinnerungs-Gewißheit gelöst und über sie hinausgehoben werden. An die Stelle der Sukzession der Denkschritte muß eine reine Simultaneity des Überblicks treten. Nur das symbolische Denken vermag diese Leistung zu vollbringen. Denn die Natur desselben besteht eben darin, d a ß es nicht mit den Denkinhalten selbst operiert, sondern jedem Denkinhalt ein bestimmtes Zeichen zuordnet, und d a ß es k r a f t dieser Zuordnung eine Verdichtung erreicht, durch welche es möglich wird, alle Glieder einer komplexen Beweiskette in eine einzige Formel zu konzentrieren und sie mit einem Blick, als eine gegliederte Gesamtheit, zu umfassen.« Cassirer 1929/1997, 453-454. 144 Kedrovskij 1984, 108.

61

IV

DIE POESIE DES DIACRAMMATISCHEN

Indessen ist man diesem Wege nicht gefolgt, weil er ein wenig unbequem ist und man auf ihm langsam und bedächtigen Schrittes gehen muß. Ich glaube aber, es ist dies nur deshalb so, weil man die Ergebnisse nicht gesehen hat. Man hat nicht bedacht, von welcher Bedeutung es sein würde, die Prinzipien der Metaphysik, der Physik und der Ethik mit derselben Gewißheit aufstellen zu können wie die Elemente der Mathematik.145 Der von Leibniz eingeschlagene Weg schließt Irrtümer aufgrund ihrer Unintegrierbarkeit aus und aus den Berechnungen tritt das Unbekannte hervor.146 Und da dieser Weg durch »selbstgenügende« Charaktere und Ausdrücke gekennzeichnet ist, werden Kräfte und Bewegungen mathematisch erfasst, Kalküle entfaltet und die Variablen finden ihren symbolischen Ausdruck. 147 In dem von Beginn an vollzogenen Verzeichnen dieses Weges, ist die Antwort auf alle möglichen Fragen enthalten, denn: Er besteht darin, dass man sich nach dem Beispiel der Mathematiker der Charaktere bedient, die geeignet sind, unseren Geist zu fixieren, und darin, dass man einen Beweis in Zahlen beifügt. Denn indem man durch dieses Mittel eine Schlußfolgerung der Ethik, der Physik, der Medizin oder der Metaphysik auf diese Ausdrücke oder Charaktere zurückgeführt hat, wird man sie in jedem Augenblick mit dem Beweis in Zahlen unterstützen können, so dass es unmöglich sein wird, sich zu täuschen, wenn man es nicht etwa will. Dies ist vielleicht eine der bedeutsamsten Entdeckungen, auf die man seit langem gekommen ist.148 Leibniz war durchaus bewusst, dass es nicht allein neuer Produktionsverhältnisse und einer variierbaren Konstellation von Subjekt und Objekt der Erkenntnis bedurfte, um diesen Weg der Mathematik weiter zu beschreiten.149 Damit die Harmonie der Welt entfaltet würde, waren insbesondere jene neuen mathematischen Einsichten erforderlich, die »nichts weiter als Tinte und Papier kos-

145 Ebd. 146 Vgl. Krämer 1991, 240-243. Den Aspekt der Regierungskunst bei Leibniz hat Bernhard Siegert herausgearbeitet. Siegert 2000, 246-273. Zur konzeptuellen Auffassung der Kunst und des Visuellen bei Leibniz vgl. Bredekamp 2004. 147 Cassirer 1929/1997, 454. 148 Leibniz i960, 17. Ohne Zweifel bezieht sich Leibniz auf Pythagoras, dessen Schule Aristoteles wie folgt beschreibt: »Da dort aber die Zahlen von Natur aus das Erste sind und die Pythagoreer in den Zahlen viele Abbildungen des Seienden und Entstehenden zu finden glauben - mehr als in Feuer, Erde und Wasser [...]; da sie ferner die Eigenschaften und Proportionen der Harmonien in den Zahlen wiederfanden; da ihnen mithin die anderen Dinge ihrer ganzen Natur zu sein schienen, so nahmen sie an, die Elemente der Zahlen seien Elemente aller Dinge, und der ganze Himmel sei Harmonie und Zahl. Aristoteles 1 9 9 9 , 1 8 - 1 9 . 149 Weyl 1966,146.

62

Ι. VERBINDUNGSKUNST

Abb. 39: Gottfried W. Leibniz, Erstveröffentlichung des Infinitesimalkalküls, 1675

ten« 150 u n d f ü r Leibniz in der sinnlichen Erkenntnis des m a t h e m a t i s c h e n Kalküls liegen. 1 5 1 Leibniz ist der Überzeugung, dass vermittels einer rechnerischen Determination nicht nur Gott, sondern a u c h ein »endlicher Geist geschickt genug sein könnte« 153 , komplizierteste Konstruktionen zu erfinden. Und Leibniz selbst ist so ein »endlicher Geist«, d e n n in e i n e m Brief a n Herzog J o h a n n Friedrich v o n Braunschweig berichtet er: [...] meine Erfindung umfasst den Gebrauch der gesamten Vernunft, einen Richter f ü r alle Streitfälle, einen Erklärer der Begriffe, eine Waage für die Wahrscheinlichkeiten, einen Kompass, der uns über den Ozean der Erfahrungen leitet, ein Inventar der Dinge, eine Tabelle der Gedanken, ein Mikroskop zum Erforschen der vorliegenden Dinge, ein Teleskop zum Erraten der Fernen, einen generellen Calculus, eine unschädliche Magie, eine nicht-chimarische Kabbala, eine Schrift, die jedermann in seiner Sprache liest; und sogar eine Sprache, die m a n in nur wenigen Wochen erlernen kann und die bald in der ganzen Welt Geltung haben wird. Und die überall, wo sie hinkommt, die wahre Religion mit sich bringt. 153

150 151 152 153

Leibniz i960, 89. Vgl. Bredekamp 2004, 81-105. Leibniz 1906, II, 384. Aus dem Brief an Herzog Johann Friedrich von Braunschweig, Leibniz' Arbeitgeber (April 1679). Leibniz SSB, Reihe VIII, Band 3,189.

63

IV

D I E P O E S I E DES D I A G R A M M A T I S C H E N

Der leibnizsche »Gebrauch der gesamten Vernunft« ist a n die Idee der allgemeinen Begriffsschrift gebunden, deren Analyse es ermöglichen sollte, aus allen »denkmöglichen A u s f ü h r u n g e n « mit Hilfe einer f o r m a l e n Rechnung »alle Schlußfolgerungen in der Art der Zahlen [zu] bestimmen« 154 und somit die wahren Aussagen auszukalkulieren. 155 D a f ü r müssen solche Ausführungen durch Kombinationen symbolisierter Begriffe auf »ursprüngliche Ausdrücke« und somit von »symbolischen Maschinen« 156 auf Rechnungsprozesse vorbereitet werden. Solche Prozesse implizieren bereits die Wahrscheinlichkeitsrechnung, die in die Logik noch aufzunehmen war, um aus den zweifelhaften Entscheidungen, »den Wahrscheinlichkeitsgrad aus den Beobachtungsdaten [zu] bestimmen und folglich auf vernünftige Weise [zu] urteilen, welche Seite den größeren Anschein für sich hat«157. Gemäß dieser A u s s a g e sind nicht nur wahrscheinliche Prognosen und relative Gewissheiten zu kalkulieren, die sich als Dezimalzahl zwischen Null und Eins bewegen, 158 auch die Täuschungen werden von Zahlen eliminiert. 159 Der rechnende Blick auf diese Ausführungen gleicht somit dem Blick auf ein winziges Kurvenelement (Abb. 39), um daran die ganze Funktion bzw. den Wert der Aussage erkennen zu können, denn »dem Kalkül genügt der Blick«.l6p Diesem Blick, geht auch Euler in seinen Tagebüchern nach (Abb. 40-41) und er thematisiert ihn in seinen aufklärerischen Briefen an die Prinzessin. In diesen Briefen bilden die Formen der Bildproduktion und die Strategie des Sehens das eigentliche Zentrum des wissenschaftlichen Vermitteins. Der Kern des Inhalts liegt hingegen in der Beschreibung von Weltanschauungen und -äußerlichkeiten, die Euler durch extensive Visualisierungen zu einer Masse von visuellen Eindrücken verarbeitet. Während im ersten Teil der Briefe die Akzentuierung unter anderem auf den Epistemen der Optik liegt und im abschließenden

154 Leibniz i960,15. 155 Cassirer 1929/1997, 454· 156 Es geht im Folgenden also nicht um die von Leibniz entwickelte Rechenmaschine, sondern um symbolische Maschinen, die mit Sybille Krämer genauer definiert werden sollen: »Symbolisch meint hier zweierlei. Einmal: diese Maschine gibt es nicht wirklich, sondern nur symbolisch. Sie ist kein Apparat bestimmter physikalischer, z.B. mechanischer oder elektrotechnischer Wirkungsweise, der eine bestimmte Stelle in Raum und Zeit einnimmt, sondern diese Maschine existiert nur auf dem Papier. Zum anderen: diese Maschine macht nichts anderes, als Symbolreihen zu transformieren. Ihre Zustände sind vollständig beschreibbar durch eine Folge von Symbolkonfigurationen, vermittels deren eine gewisse Anfangskonfiguration in eine gesuchte Endkonfiguration von Symbolen überführt wird.« Krämer 1988, 3. 157 Leibniz 1961, Bd. 2, 265. Vgl. dazu Krüger 1981. 158 Gerade dieses Aufschreibesystem demonstriert Lorraine Daston am Beispiel d'Alemberts. Daston 1988,152. !59 Vgl. Vogl 2004,165-170. 160 Derrida in Bezug auf Leibniz. Derrida 1974, 521; Vgl. auch Cassirer 1929/1997, 454. 64

Ι . VERBINDUNGSKUNST

Je*»·'·*·

>a

li

ι

/-""^Â'

*

ful*"·

A b b . 4 0 : Leonhard Euler, Aufzeichnungen zur Betrachtung der Logik, aus dem 6. Tagebuch (1749-1757), PFA RAN: F. 136, op. 1, Nr. 134, 42

65

IV

D I E P O E S I E DES D I A C R A M M A T I S C H E N

Abb. 41: Leonhard Euler, Aufzeichnungen zur Betrachtung der Logik, aus dem 6. Tagebuch (1749-1757), PFA RAN: F. 136, op. 1, Nr. 134, 42ob.

66

2.

E V I D E N Z DER Z E I C H E N

dritten Teil der komplexe Aufbau des Auges erklärt wird, stehen auch die Beispiele der Logik im Fokus des Visuellen: Diese Zirkel (oder was wir sonst für Figuren dazu nehmen wollen; denn das ist gleichgültig) sind sehr geschickt, unsere Betrachtungen über diese Materie zu erleichtern und uns alle die Geheimnisse zu entdecken, womit man sich in der Logik rühmet. Man beweiset sie dort mit vieler Mühe, da sie hingegen durch den Gebrauch dieser Zeichen von selbst in die Augen fallen. Jeder allgemeine Begriff kann durch eine solche Figur vorgestellt werden.'61 Eulers visuelles Feld weist scheinbar zwei Konsequenzen auf: Einerseits steuert der vermittelte Beobachter den Blick seiner Leserin durch seine eigenen Augen, d. h. er lässt sie an seinem Sehen teilhaben. Vermitteln wird somit zur reinen Sichtbarmachung, in der aber auch die Wirkung dieser Blickverschaltung auffällig wird. Sowohl die Schemata als auch der Text werden hier zu einer Form der Sehschulung, der Anleitung zu einer Entdeckung, mit der »jeder allgemeine Begriff [...] durch eine solche Figur vorgestellt werden« kann.' 62 Neben der Suggestion, dass die Prinzessin die Erfahrung mit eigenen Augen macht, impliziert Euler zudem eine Bedeutungshaftigkeit der Details: es ist irrelevant welche Figuren, benutzt werden, entscheidend ist nur, in welches Verhältnis sie zu einander treten. Dabei scheint es genau diese Oszillation des Blicks zwischen den beiden Modi zu sein, die den Nukleus der Skizze darstellt. Denn der Text spielt die Verfahren der Instantanität und der Präsenz gerade gegenüber der Logik der Narration, Imagination und Serialität aus, um Bedeutung zu generieren. Die visuellen Strukturen verwandeln sich in ein Ensemble semantisch tendenziell aufgeladener Einzelheiten und transformieren wissenschaftliche Details in ein visuelles Piktogramm, das Leibniz bereits vor Augen hatte.

2. E V I D E N Z DER Z E I C H E N Der erkenntnistheoretische Ansatz unterscheidet Leibniz von seinen Vorgängern und bringt den Gelehrten auf den Weg der Pythagoreer zurück,163 dem Euler folgen wird. Während die Pythagoreer die Tetraktys als das Wesen aller Dinge betrachteten, hinter dem alle urtypischen Naturprinzipien, Erscheinungen und Lebensprozesse der Welt stehen, beschränkte sich Leibniz nur auf zwei Zahlen,164 die in ihrer Kombination die Summe der Tetraktys ergeben (Abb. 42). Dabei sah er hinter ihr eine gesonderte Qualität, die nicht primär

161 Euler 1769/1986,116. 162 Ebd. 163 Vgl. Heß 2002,199-203; Kedrovski 1984,128. 164 In seinem Artikel Explication de l'Arithmétique Binaire hat Leibniz seine Erfindung vollständig dokumentiert. Leibniz 1703. Zur Ikonographie der Dyadik vgl. Bredekamp 2004, 94-100.

67

IV

D I E POESIE DES DIAGRAMMATISCHEN

TABLE 86 M é m o i r e s d e l ' A c a d é m i e R o y a l e D E S bres entiers au-défions du double du N o m b r . e s . pi u s haut ^egré. Car icy, c'eft comme Π on difoit, par exemple, que m ou 7 eft la fonarne de quatre, de deux ι 1 ' 17 & d'un. Et que n o i ou 13 eft la fomme de huit, quatre 1000 & un. Cetre propriété (èrt aux Eiïàyeurs pour 100 lu peièr toutes lorres de maflês avec peu de poids, I 00 &. pourroit fervir dans les monnoyes pour donI 01 ner pluiîcurs valeurs avec peu de pieces. I IO Cette expreflion des Nombres étant établie , fert à III faire rres-facilement toutes fortes d'opérations. χ 000 1001 Pour ΓAddition „ 1010 par exemple. I O I I I Io o I O I Pour la Soulire ßraUion. ι ι ι 10000 ι οο OI IOo 1o ι o oι ι χ 01 o o Ι Ο Ι Ol IÖ I Io I O I I 1 I I 0 0 o 14 I I ο O Iij I I ο I O 16 I I O I I ιη I I I O O ¿8 I I I O I 19 I I I I c jo I I I I μ

Pour la Multiplication.

II' l i o

L

1 9

10.1 Í I I 1 _L ΙΟΙ ΙΟΙ IIII

ΙΟΙ ΙΟΙ ΙΟΙ IOIO I 1001

Pour la Divifion.

τη»«*.·™«™»· E t toutes ces operations lônt fi aifees, qu'on n'a jamais beiôin de rien eflayer ni deviner, comme il faut faire dans la divifion ordinaire. On n'a point befoin non-plus de rien apprendre par cœur icy, comme il faut faire dans le calcul ordinaire, où il fauciçavoir, par exemple, que 6 fit 7 pris enlëmble font 13 ; & que J multiplié par 5 donne 1 j , fuivant la Table d'une fois un eft un, qu'on appelle Pythagorique. Mais icy tout cela Te trouve ôi fe I 0000 c 3cc P r o u v e fûurce, comme l'on voir dans les exemples prtî&c. • cedens fous les lignes 3 & O.

Abb.42: Gottfried W. Leibniz, Binäres Zahlensystem, Manuskript und Explication de l'Arithmétique Binaire, 1703

aus der Vielheit von Einzelheiten besteht, sondern eine Einheit bildet, die der »erschaffung aller dinge aus nichts durch die allmacht Gottes« gleich ist: Nun kann man wohl sagen dass nichts in der weit sie beßer vorstelle, ja gleichsam demonstrire, als der ursprung der zahlen wie er alhier vorgestellet, durch deren ausdrückung bloß und allein mit Eins und Null oder Nichts, und wird wohl schwehrlich in der Natur und Philosophi ein beßeres vorbild dieses geheimnißes zu finden seyn. 165 Anders als das Zehnersystem offenbart Leibniz' Dyadik, die zum »Symbol der Vollkommenheit der Welt« wird und »dabey nicht weniger betrachtenswürdig« ist, wie schön darauß erscheine nicht nur dass Gott alles aus nichts gemacht, sondern auch dass Gott alles wohl gemacht, und dass alles was er geschaffen, guth gewesen; wie wirs hier denn in diesem vorbild der Schöpfung auch mit 165 Leibniz an den Herzog Rudolf August von Wolfenbüttel >Neujahrsbrief< 12. Januar 1697. Zitiert nach Pogrebysskij 1959, 58.

2.

EVIDENZ DER Z E I C H E N

äugen sehen. Denn anstatt dass bey der gemeinen Vorstellung der zahlen keine Ordnung noch gewiße folgen in den characteren oder bezeichnungen derselben sich spühren laßet, so erweiset sich hingegen aniezo, da man auff deren innersten grund und urstand siehet, eine wunderbar schöhne Ordnung und einstimmung, so nicht zu verbeßern.166 Die pythagoreische Haltung, dass die Einheit und Ordnung das Urprinzip unserer Welt sei, ist bei Leibniz durch Piatons Auslegung der Ideen geprägt; dieser sah die Ursachen der Erfahrungsdinge nicht wie einige Vorsokratiker in einem »quasi materiellen« Substrat, in dessen Sinne Aristoteles die Pythagoreer interpretierte,167 sondern in ihrem geistigen Urbild.168 Der signifikante Unterschied zu Piatons Annahme einer Idee ist allerdings die Irrationalität, woraus folgt, dass das Allgemeine erst erfasst werden kann, wenn die verschiedenen Einzelheiten verkettet wie Zahlen auf eine Idee zurückgeführt werden, wie Piatons Permenides-Dialog es wiedergibt: Wenn also Eins ist, so muß notwendig auch Zahl sein. Notwendig. Und wenn Zahl, dann auch Vieles und eine unendliche Menge des Seienden. Oder wird nicht so auch eine unendlich große Zahl des Seins teilhaftig? Jawohl. Und wenn jede Zahl des Seins teilhaftig ist, so muß auch jeder Teil der Zahl desselben teilhaftig sein? Ja.169 Piaton und Pythagoras gleich widmete sich Leibniz in seinen Pariser Diplomatenjahren 1672 bis 1676 der Mathematik und zwar unter Aufsicht des Niederländers Christiaan Huygens (1629-1695) ,I7° Seit seiner Studienzeit schwebte Leibniz der Gedanke einer allgemeinen Begriffsschrift vor, mit deren Hilfe es möglich sein sollte, aus allen denkbaren Aussagen, die mittels Kombination symbolisierter Begriffe erhalten werden können, die wahren Aussagen durch einfaches Rechnen zu sondieren. 171

166 167 168 169

Ebd., 58. Kedrovskij 1984, 69. Cassirer 1925/19970, 287; ders. 1929/1997,198-200. Platon-SW Bd. 2, 517. Franz von Kutschera weist darauf hin, dass Piatons Dialog in Parmenides den Leser »mit einer geballten Ladung a n Argumenten und Widersprüchen« konfrontiert. Die dialektische Argumentation im Stil Zenons hat Aristoteles als >Sparringspartner