Wirklichkeit und Wirklichkeiten: Aufsätze und Vorträge 9783110832112, 9783110032260


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German Pages 286 [296] Year 1959

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Table of contents :
I
Weg und Irrweg im abendländischen Denken
Der Abgrund der Endlichkeit und die Grenze der Philosophie. Versuch einer philosophischen Auslegung der „Pensées“ des Biaise Pascal
Voltaire und das Problem der Geschichte
Die Zeit der ursprünglichen Erfahrungen, Zum Denken zwischen den beiden Weltkriegen
II
Zum Problem der metaphysischen Erfahrung
Macht und Ohnmacht der Zeit
Die Frage nach der Wirklichkeit
Gibt es eine philosophische Theologie?
Vom Sinn des Gebets
Abschied vom Bild
III
Die Musen in unserer Zeit
Vom Sinn der gegenwärtigen Kunst
Die Kunst im Unterwegs
Von der Zukunft der gegenwärtigen Kunst
Fragment über die Musik
IV
Wesen und Ursprung des Gewissens
Der Mensch im Widerstreit der Menschenbilder
Recht und Ethik. Zur Anwendung ethischer Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
Wahrheit und Unwahrheit der öffentlichen Meinung
Zum Atomproblem
Quellenverzeichnis
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Wirklichkeit und Wirklichkeiten: Aufsätze und Vorträge
 9783110832112, 9783110032260

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WILHELM WEISCHEDEL WIRKLICHKEIT UND WIRKLICHKEITEN

WILHELM WEISCHEDEL

WIRKLICHKEIT UND WIRKLICHKEITEN AUFSÄTZE U N D VORTRÄGE

WALTER

DE

GRUYTER

& C O / B E R L I N W 35

V O R M A L S G. J. G Ö S C H E N ' S C H E V E R L A G S H A N D L U N G - J . G U T T E N T A G , VERLAGSBUCHHANDLUNG -

G E O R G REIMER -

I960

KARL J. TRÜBNER - VEIT & COMP.

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen vorbehalten. Ohne die ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch, oder Teile daraus, auf photomecha· nischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen © 1960 by Walter de Gruyter & Co., Berlin W 35 (Printed in Germany) Satz und Druck: Paul Funk, Berlin W35

MARTINA U N D S A B I N E W E I S C H E D E L ZUGEEIGNET

Vorrede Überblickt man aus gegebenem Anlaß die Aufsätze und Vorträge vergangener Jahre, so kann es geschehen, daß man davon überrascht wird, in der Mannigfaltigkeit der Gegenstände ein einheitliches Grundthema zu entdecken, das, ohne daß dies dem Schreibenden ausdrücklich bewußt geworden wäre, auf verborgene Weise überall wirksam ist und das Zerstreute zu einem Ganzen macht. Der Titel „Wirklichkeit und Wirklichkeiten" versucht, diesen tieferen Gesichtspunkt auszudrücken. Wie verschieden auch die Bereiche sein mögen, deren Deutung versucht wird, immer geht es im Grunde um die Frage, was überhaupt „Wirklichkeit" bedeute, und welche der Wirklichkeiten, in denen der Mensch sich findet, die wahre und gründende sei. Soweit die Aufsätze schon in Zeitschriften oder Sammelbänden erschienen sind, wurden sie, abgesehen von Berichtigungen und Ergänzungen in den Anmerkungen, unverändert übernommen. Bei den noch ungedruckten Stücken wurden Kürzungen und stilistische Änderungen vorgenommen. Dagegen wurde grundsätzlich auf Eingriffe in den gedanklichen Gehalt verzichtet, so reizvoll es auch gewesen wäre, die Aufsätze und Vorträge auf den gegenwärtigen Stand der Überlegungen des Verfassers zu bringen. In der Gestalt, in der sie jetzt erscheinen, sind sie Etappen auf dem Wege eines Fragens, das sich von einer gültigen Antwort noch weit entfernt weiß. Für die Mitwirkung bei der Auswahl der in diesem Band aufzunehmenden Stücke sowie bei den Korrekturen habe ich meiner Frau, Dr. Käte Weischedel, Dr. Heinz Wenzel und den Assistenten am Philosophischen Seminar der Freien Universität Berlin, Dr. Norbert Hinske, Dr. Wolfgang Müller-Lauter und Dr. Michael Theunissen zu danken. Des weiteren gebührt mein Dank den Verlagen, die den Abdruck derjenigen Aufsätze gestattet haben, die erstmalig in Sammelwerken erschienen waren. Insbesondere danke ich dem Verlag de Gruyter, auf dessen Anregung der Plan, die verstreuten Aufsätze zu sammeln, zurückgeht. B e r l i n , im September 1959

Wilhelm Weischedel

Inhalt ι Weg und Irrweg im abendländischen Denken Der Abgrund der Endlichkeit und die Grenze der Philosophie. Versuch einer philosophischen Auslegung der „Pensöes" des Blaise Pascal Voltaire und das Problem der Geschichte Die Zeit der ursprünglichen Erfahrungen. Zum Denken zwischen den beiden Weltkriegen

3 20 69 86

II Zum Problem der metaphysischen Erfahrung Macht und Ohnmacht der Zeit Die Frage nach der Wirklichkeit Gibt es eine philosophische Theologie? Vom Sinn des Gebets Abschied vom Bild

103 113 118 142 152 158

III Die Musen in unserer Zeit Vom Sinn der gegenwärtigen Kunst Die Kunst im Unterwegs Von der Zukunft der gegenwärtigen Kunst Fragment über die Musik

173 182 187 192 202

IV Wesen und Ursprung des Gewissens Der Mensch im Widerstreit der Menschenbilder Recht und Ethik. Zur Anwendung ethischer Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Wahrheit und Unwahrheit der öffentlichen Meinung Zum Atomproblem

211 220 230 266 276

Quellenverzeichnis

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I

W e g und Irrweg im abendländischen Denken Die F r a g e s t e l l u n g Weg und Irrweg im abendländischen Denken, — wer wäre befugt, darüber gültig zu urteilen? Zeigt die Geschichte nicht ständig, daß die Philosophen als Irrweg bezeichnen, was ihrem eigenen Denken widerspricht, und daß sie als den rechten Weg preisen, worin sich ihr eigener Gedanke bestätigt? Wird so nicht schon mit der Formulierung der Aufgabe der Subjektivität Tür und Tor geöffnet? Oder gibt es ein objektives Kriterium für die Beurteilung geschichtlicher Erscheinungen im Bereich der Philosophie? Seine Objektivität müßte darin bestehen, daß es nicht aus dem besonderen Standpunkt des Beurteilenden, sondern aus der Sache selber erwüchse. Das abendländische Denken selbst müßte also den Maßstab dafür hergeben, wo es sich auf dem ihm gemäßen Wege befindet, und wo es sich in den Irrweg verläuft. Die Frage nach einem objektiven Kriterium für Weg und Irrweg führt demnach auf die vorgängige Frage nach dem Wesen des abendländischen Denkens. Doch damit verschlingt sich die Problematik aufs neue. Das Wesen des abendländischen Denkens wird von dessen geschichtlichen Erscheinungen her zugänglich. Die Entscheidung darüber jedoch, was man aus der Fülle gegebener Phänomene für die Bestimmung des Wesensbegriffes heranzieht, ist ihrerseits von einem vorgängigen Wissen um das Wesen geleitet. Der Maßstab läßt sich nur vom erkannten Wesen her entdecken; das Wesen läßt sich nur finden, wenn man bereits einen Maßstab für die Auswahl der Phänomene besitzt. Kaum daß die Frage nach Weg und Irrweg im abendländischen Denken begonnen hat, endet sie im Zirkel. Dieser Zirkel ist unvermeidlich. Im ganzen Felde des Philosophierens vollzieht sich die Bildung des Wesensbegriffes in einer dialektischen Bewegung zwischen Vorbegriff und Erfahrung. Der Vorbegriff grenzt in einem anfänglichen Sprung das Feld der Erfahrung aus; von diesem her wird jener sodann in vielfältigen Schritten zum durchsichtigen Wesensbegriff geläutert, wobei jeder Schritt wiederum eine genauere Umgrenzung des Erfahrungsfeldes ermöglicht. Die entscheidende Frage geht dabei auf die Herkunft des Vorbegriffes,, mit dem die dialektische Bewegung auf den Wesensbegriff zu einsetzt. Er darf nicht willkürlich entworfen werden. Er findet sich vor, und zwar i·

S

in der Weltauslegung, die der Mensch an seinem jeweiligen geschichtlichen Ort mit seinem Dasein übernimmt. In der Frage nach dem Wesen des abendländischen Denkens ist der Vorbegriff der überkommenen Selbstauslegung dieses Denkens zu entnehmen. Es wäre jedoch eine weitläufige Aufgabe, wollte man dazu die vielfältigen Deutungen der Philosophen heranziehen. Zum gleichen Ziele führt es, wenn man da einsetzt, wo dieses Selbstverständnis die höchste Stufe seiner Bewußtheit erlangt hat, bei Hegel. So mag denn seine Auslegung des Wesens des abendländischen Denkens als Vorbegriff dienen, der den Leitfaden gibt, an dem die Untersuchung im dialektischen Gange des Fragens zum Wesensbegriff und damit zu einem Maßstab für Weg und Irrweg gelangen kann. Der erste Gang der

Auslegung

Auf die Frage nach dem Wesen des abendländischen Denkens antwortet Hegel mit dem merkwürdigen Satze: „das Licht wird im Abendlande erst zum Blitze des Gedankens, der in sich selbst einschlägt und von da aus sich seine Welt erschafft." 1 Dieses Wort ist kein beiläufiger Einfalt Hegels. Es steht vielmehr an einer bedeutsamen Stelle der Einleitung zu seinen „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie", da nämlich, wo der Augenblick bezeichnet werden soll, in dem die „eigentliche Philosophie" beginnt. So wird mit diesem Satze nicht nur der Anfang des abendländischen Denkens, sondern zugleich dessen Eigentlichkeit, dessen Wesen, ausgesprochen. Daß das abendländische Denken von der Art der Helligkeit ist, dieses Allgemeinste in der Auslegung Hegels mag wohl einsichtig sein. Ein Blick auf die Geschichte der Philosophie bestätigt, daß Begriffe aus dem Bereich des Lichtes weithin eine entscheidende Rolle spielen: in Piatons Vergleich der Idee des Guten mit der Sonne ebenso wie in dem Ausdruck „Aufklärung", im Begriff des „lumen naturale" ebenso wie in der „Lichtung" Heideggers, im „Einleuchten" des unmittelbar Evidenten ebenso wie in der Helle, die das Auge des Mystikers blendet. Aber die Frage ist doch, welche der Weisen des Hellseins die charakteristisch abendländische ist. Hegel antwortet: das Licht in seiner Verwandlung zum Blitz. Aber ist das mehr als eine schöne Metapher? Denn jener Satz Hegels ist offenbar in sich widersprüchlich. Der Blitz, als der das abendländische Denken verstanden werden soll, bricht nicht aus dunklem Gewölk hervor; das Licht, das bereits leuchtende Licht, wird zum Blitze. Und weiter: dieser Blitz schlägt nicht in die Erde ein, sondern — welch seltsame Vor1 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, 1. Bd.; Sämtl. Werke, hrsg. v. Glockner (im folgenden mit SW bezeichnet), XVII, S. 133.

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Stellung! — in sich selber. Und 80111161311011, noch absurder: von diesem Einschlag her erschafft er — der Blitz! — sich seine Welt. Sieht man so, daß das Bild nirgends stimmen will, dann mag man wohl versucht sein, Schopenhauer recht zu geben, wenn er von den Schriften Hegels als von „monströsen Zusammenfügungen von Worten, die sich aufheben und widersprechen" redet. 2 Und doch wird man zögern, in dieses Urteil aus philosophischem Haß einzustimmen. Denn jenes Wort Hegels, so widersprüchlich es dem genaueren Betrachten erscheint, behält etwas eigentümlich Faszinierendes. Sollte am Ende gerade in dem verunglückten Bilde des Blitzes etwas von der Wahrheit des abendländischen Denkens „ans Licht" kommen? Hegel kennzeichnet das abendländische Denken, den Blitz des Gedankens, in einer dreifachen Hinsicht. Das wird aus dem Zusammenhang deutlich, in dem der Satz steht: „Die eigentliche Philosophie beginnt im Okzident. Erst im Abendlande geht diese Freiheit des Selbstbewußtseins auf, das natürliche Bewußtsein in sich unter, und damit der Geist in sich nieder. Im Glänze des Morgenlandes verschwindet das Individuum nur; das Licht wird im Abendlande erst zum Blitze des Gedankens, der in sich selbst einschlägt und von da aus sich seine Welt erschafft." Das Erste ist, daß der Blitz „in sich selbst einschlägt". Das will besagen: das Denken wendet sich zu sich selber, das Bewußtsein wird Selbstbewußtsein. „Das Licht" als solches „ist nicht Selbstbewußtsein, weil ihm die Unendlichkeit der Rückkehr zu sich fehlt." 3 Erst mit dem zum Blitz verwandelten Licht kommt es zum „Abendlande, diesem Niedergange des Geistes in sein subjektives Inneres." 4 Gegenüber dem das Morgenland charakterisierenden Verschwinden des Individuums ist demnach das Eigentümliche des abendländischen Geistes das Denken vom Ich her und zum Ich hin, daß er also selbstbewußtes Denken ist. Das „Sichaufsichselbstbeziehen" aber ist „die Freiheit." 5 Der Mensch, der sich seiner selbst bewußt wird, erfährt die Möglichkeit, aus sich selbst heraus zu sein, was er sein kann. Daher redet Hegel im Zusammenhang mit der Wesensbestimmung des abendländischen Denkens, dessen zweites charakteristisches Moment aussprechend, ausdrücklich von der „Freiheit des Selbstbewußtseins". Als denkende — das ist das Dritte — begibt sich die Freiheit des Selbstbewußtseins in den denkerischen Entwurf der Welt. So kann Hegel 2 Parerga und Paralipomena, l . B d . ; Sämtl. Werke, hrsg. v. Hübscher, V, S. 25, Anm. * System der Philosophie, 2. Teil; S W I X , S. 158. 4 Vorlesungen über die Ästhetik, 2. Bd.; SW XIII, S. 171. * System der Philosophie, 3. Teil; S W X, S. 31.

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sagen, es gebe „eine zweite Weltschöpfung, die nach der ersten entstanden ist; die zweite Weltschöpfung ist die, wo der Geist sich erst . . . als Selbstbewußtsein verstanden hat" ·. Daß es aber der Blitz als die Verwandlung des Lichtes ist, der „sich seine Welt erschafft", das will besagen: die zweite Weltschöpfung hat den Charakter des Lichtens, sofern nämlich das selbstbewußte Ich die Helle schafft, in der die Welt erscheinen kann. So versteht Hegel also das abendländische Denken als den selbstbewußten Geist, der aus der Macht seiner Freiheit den lichtenden Weltentwurf unternimmt. Doch diese freie Selbstmächtigkeit des Denkens, von der her die Welt hell wird, — trägt sie nicht den Charakter der „Aufklärung"? Freilich, Hegel bekämpft die Aufklärung seiner Zeit aufs leidenschaftlichste; als die „Eitelkeit des Verstandes" ist sie ihm „die heftigste Gegnerin der Philosophie".7 Doch mag dies auch für die geschichtliche Form der Aufklärung gelten, wie Hegel sie vorfand, — müßte man nicht jenes Licht des souveränen Gedankens, in dem er das Charakteristische des Abendlandes sieht, in einem weiteren Sinne als Aufklärung verstehen, wenn sinders dieser daran gelegen ist, „aufzuklären", und das heißt doch zu lichten, und wenn anders Kant ihr Wesen zurecht darin sieht, im Gebrauch des „eigenen Verstandes" 8 „den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst" zu suchen.9 Wie es also auch immer um die eigentliche Meinung Hegels stehen mag, es scheint doch so, als habe sein Wort von der Verwandlung des Lichtes in den Blitz die Möglichkeit eröffnet, Weg und Irrweg im abendländischen Denken eindeutig zu scheiden. Dieses wäre auf seinem Wege, wo immer es seine Sendung als Aufklärung erfüllt, und es geriete in die Irre, wo immer es ihr untreu wird. Diese Deutung entspricht einer verbreiteten Auffassung. Wenn etwa die Entstehung des abendländischen Geistes als der Weg vom „Mythos zum Logos" beschrieben wird, dann pflegt dieser als „das rationale Denken" verstanden zu werden.10 Auch für Dilthey stellt sich der Beginn des europäischen Denkens als „die Entwicklung des aufklärenden Geistes" dar.11 Die Geschichtsschreiber der Philosophie im 18. Jahrhundert schließ• Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, 3. Bd.; SW XIX, S. 117. ' Vorlesungen über die Philosophie der Religion, 2. Bd.; SW XVI, S. 353. 8 Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?; Akademieausgabe VIII, S. 35. * Was heißt: Sich im Denken orientieren?; Werke, hrsg. v. Weischedel, III, S. 283, Anm. 10 Wilhelm Nestle, Vom Mythos zum Logos, 1940, S. V. 11 Einleitung in die Geisteswissenschaften, Ges. Schriften, 1923, I, S. 142.

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lieh sprechen mit aller Deutlichkeit aus, wie verhängnisvoll es ihnen erscheint, wenn die „erhabene Aufklärung" 12 verlassen wird; da entstehen die „verrückten Einfalle eines Proklus und andrer Neu-Platoniker", die „Albernheiten eines Theophrastus Paracelsus", da kommt es zum „finstern Mittel-Alter Europens", in dem das Denken unter dem „Schutte der Scholastik" begraben lag.13 Und nur der „hohe Grad von Dichtergabe" kann Piatons „Wandeln in Ideal-Welten und alles Schwärmerische" allenfalls noch entschuldigen.14 In solcher Perspektive wird sich das Abendländische des Denkens da am reinsten erfüllen, wo der aufklärende Verstand ungehindert am Werke ist: in der antiken Sophistik etwa, oder in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, aber auch im Anfang der Neuzeit. Eindeutige Epochen des Irrwegs dagegen sind diejenigen Zeitalter, in denen der Geist vermeinte, die Ebene der reinen ratio verlassen und sich in die Unwegsamkeit der spekulativen Metaphysik verirren zu müssen, also die Spätantike, soweit sie nicht Skepsis, sondern Gnosis und Neuplatonismus ist, das Mittelalter, sofern in ihm nicht der reine Aristoteles wirksam ist, oder die Zeit des Deutschen Idealismus. Was zwischen diesen beiden Extremen liegt, wird je nach dem Grade gewertet, in dem die Klarheit des reinen Verstandes zum Durchbruch kommt. Oder es kommt zu Umdeutungen, so wenn Sokrates als reiner Aufklärer oder Kant bloß als der Kritiker der Metaphysik begriffen wird. Und doch bleibt angesichts einer solchen Deutung der Philosophiegeschichte eine tiefe Unbefriedigung. Wird damit nicht in einer erschreckenden Weise verkürzt, was doch — so will es scheinen — zur Geschichte unseres Denkens wesensmäßig mit hinzugehort? Ist Piatons Protest gegen die Sophistik ein Vergehen gegen den Geist des Abendlandes? Wird Kant richtig verstanden, wenn man vergißt, daß er die Metaphysik nur zerbrach, um sie neu aufzubauen? Und kann man schließlich all das aus dem Bereich des legitimen Philosophierens verbannen, was als philosophische Mystik in einer dem aufklärerischen Denken radikal entgegengesetzten Weise seit den Tagen des Pythagoras seinen weithin verborgenen, aber um so mächtigeren Einfluß auf den europäischen Geist ausgeübt hat? Freilich, der Schmerz über den Verlust ehrwürdiger Namen ist kein stichhaltiges Argument. Wie, wenn in der Tat der bisherige Gang des abendländischen Denkens ebensoviel Irrweg wie Weg gewesen wäre? Wäre es dann nicht an der Zeit, mit dem nun so viele Jahrhunderte mit12 13 14

Dietetrich Tiedemann, Geist der spekulativen Philosophie, 1. Bd., 1791, S. 1 a.a.O., S. VIII f a.a.O., 2. Bd., S. 63.

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geschleppten Gerümpel aufzuräumen und sich entschlossen der Nüchternheit des rationalen Denkens hinzugeben? Ist es denn aber gewiß, daß der Gesichtspunkt der Aufklärung dem abendländischen Denken gemäß ist? Gibt es — so muß die eingangs gestellte Frage wieder aufgenommen werden — einen der Sache selber entnommenen Maßstab, der eine Entscheidung darüber ermöglichen könnte? Wenn Irrweg derjenige Weg ist, der nicht an das Ziel führt, dann müßte man fragen, ob das Denken, wenn es als bloße ratio verstanden wird, das Ziel erreicht, das es sich aus seinem eigensten Wesen heraus setzt. Das Ziel der Aufklärung drückt sich in ihrem Namen aus: sie will, in der Souveränität des Verstandes, die Welt und den Menschen in das Licht des Erkennens stellen. Die Frage ist, ob sie aus sich selber heraus dahin gelangen kann. Nun ist charakteristisch, daß die Aufklärung, und zwar um so mehr, je reiner sie sich als solche ausprägt, mit der Skepsis verbunden ist. Das gilt von der antiken Sophistik ebenso wie von der Aufklärung des 18. Jahrhunderts oder vom Rationalismus der Moderne. In der Skepsis jedoch schlägt die Freude am Erkennen in die Verzweiflung über das Nichtwissen um. Der Versuch, im rationalen Denken die Welt zu erhellen, endet also offenbar, wo er auf seinen Höhepunkt gelangt, selbstzerstörerisch im Dunkel. Dieses Faktum ist freilich solange kein Einwand gegen die Berechtigung, das abendländische Denken als Aufklärung zu deuten, als nicht gezeigt ist, daß das Nichtwissen das wesensnotwendige Ende der sich verabsolutierenden ratio ist. Man ist heute allzusehr geneigt, das Ausmünden in den Nihilismus von vornherein als Beweis für die Unwahrheit der aufklärerischen Haltung anzusehen und ihn daher kurzerhand zusammen mit dieser zu verwerfen, um sich ungestört in dem Gehäuse überkommener Weltanschauungen einrichten zu können. Man übersieht, daß der Nihilismus vielleicht in der Tat das uns aufgegebene Schicksal unseres geschichtlichen Augenblicks sein könnte. Wenn es aber so wäre, dann könnte seine echte Überwindung nur daraus erwachsen, daß man ihn philosophierend ernstnimmt, und das heißt, daß man in seine Wurzeln hinabdringt. Eine solche radikale Einsicht führt freilich noch nicht ohne weiteres zu einer neuen Grundlegung der Gewißheit. Aber sie vermag wenigstens den Grund freizulegen, auf dem sich eine solche ansiedeln könnte. Inwiefern also ist die aufklärerische ratio die Wurzel des Nihilismus, dergestalt, daß sie mit innerer Notwendigkeit beim Gegenteil dessen anlangt, worauf sie zielt? Offenbar insofern, als für den Verstand, begriffen als das souveräne, vom Ich ausgehende Denken, die Fähigkeit des Zerlegens, die Diskursivität, charakteristisch ist. In seinem Angriff auf die

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Dinge vermag er, deren einzelne Bestimmungen und das Gefüge ihrer gegenseitigen Beziehungen, das Ineinanderspiel ihrer Funktionen, zu begreifen. Das Was der Dinge aber ebenso wie der umgreifende Zusammenhang, in dem sie stehen, gibt sich nicht der Spontaneität des Denkens. Darin gründet es, daß der bloße Verstand, wie Kant mit unausweichlicher Eindringlichkeit gezeigt hat, vor den entscheidenden metaphysischen Anliegen scheitern muß, vor den Fragen nach dem Weltganzen und dem Weltsinn, nach dem Weltgrunde und nach Wesen und künftigem Schicksal des Menschen. Wenn aber diese Fragen, wie Kant hinzufügt, „der menschlichen Natur nicht gleichgültig" sein können 1 δ , wenn sie also zu dem gehören, was notwendig der Aufhellung bedarf, dann zeigt sich darin aufs deutlichste die Unzulänglichkeit der bloßen ratio für die Aufgabe, die dem Erkennen aus seinem Wesen heraus gestellt ist. Was aber hat es dann mit jenem Blitze des Gedankens auf sich, in dem Hegel das Wesen des abendländischen Denkens erblicken wollte, gesetzt, man wollte ihn als das Lichten des aufklärenden Verstandes verstehen? Er vermag wohl, das Einzelne und Umrissene zu erhellen, er macht offenbar, was unmittelbar vor Augen liegt. Aber weil er ein Licht der Nähe ist, läßt er das Ferne im Dunkel. Das Seiende wird in seiner Vordergründigkeit sichtbar. Die Tiefe der Welt und des Selbst aber bleibt in einer Nacht, die zu erleuchten die Kraft des Verstandes nicht ausreicht. Das hat niemand deutlicher gesehen als gerade Hegel. Er weiß, daß die Aufklärung des Verstandes wesensmäßig nur den Vordergrund vor einem Horizont voller Dunkelheit erhellen kann. „Denn jedes Sein, das der Verstand produziert, ist ein Bestimmtes, und das Bestimmte hat ein Unbestimmtes vor sich und hinter sich; und die Mannigfaltigkeit des Seins liegt zwischen zwei Nächten, haltungslos, sie ruht auf dem Nichts: denn das Unbestimmte ist Nichts für den Verstand, und endet im Nichts." 18 S o hat sich denn das anfänglich Vermutete in sein Gegenteil verkehrt. Die Aufklärung, gerade in ihrer Absicht zu erhellen, führt in tieferes Dunkel. Das Denken, verstanden als bloße ratio, verfehlt das Ziel, das es anstrebt. Wenn aber der Weg der Aufklärung da endet, wo er von sich selber her nicht enden will, ist er dann nicht Irrweg? Ist dann nicht eben das, was zunächst als das genuine Wesen des abendländischen Denkens erschien, — sein Unwesen?

1 6 Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur ersten Auflage, A Xj Werke, hrsg. v. Weischedel, II, S. 12. 16 Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie . . . ; SW I, S. 51.

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Der z w e i t e Gang der

Auslegung

Hat also Hegel Unrecht, wenn er vom Denken im Abendlande als dem „Blitze des Gedankens" redet, „ der in sich selbst einschlägt und von da aus sich seine Welt erschafft?" Oder ist am Ende die Auslegung irrig, die darin die Aufklärung durch den Verstand sehen wollte? In der Tat wurde ein wesentliches Moment außeracht gelassen: daß nämlich der Blitz aus tieferem Ursprung entspringt. „Das Licht wird . . . zum Blitze des Gedankens." Der Blitz also, so sehr er in der Weise des Selbstbewußtseins „in sich selbst einschlägt", entzündet sich ursprünglich nicht aus sich selber; er hat seine Helligkeit aus dem Lichte, das schon scheint, ehe er sein Lichten ins Werk setzen kann. Was damit gemeint ist, kann ein Hinweis auf das Höhlengleichnis Piatons verdeutlichen.17 Auf dem ganzen Wege des Aufstiegs aus der Höhle, der ein Sinnbild des Ganges zur philosophischen Einsicht ist, geht das Licht nirgends vom Erkennenden selber aus. Im Gleichnis werden die Schatten sichtbar, weil in der Höhle ein Feuer brennt, und die Dinge außerhalb der Höhle, weil die Sonne sie bescheint. Entsprechend erscheinen in der Deutung des Gleichnisses die Dinge der Sinnenwelt im Lichte der Sonne, das im Geiste Vernehmbare im Strahl des „Scheinendsten unter dem Seienden", der Idee des Guten, die schließlich selber erschaut sein muß, wenn ein einsichtiges Dasein möglich sein soll. Darin kommt ein völlig anderes Verständnis des Denkens zum Vorschein, als es jenes aufklärerische war. Erkennen ist nicht spontanes Tun des souveränen Verstandes, sondern schauendes Hinnehmen des Seienden, so wie es im Lichte steht und sich im Lichte zeigt, und schließlich Erblicken des Lichtes selber. Erkennen ist Intuition. Die Welt wird nicht vom Denken für das Denken erschaffen, sondern sie erscheint dem, der sich dafür öffnet, in einem Lichte, das aus sich selber heraus leuchtet. So sagt denn auch Piaton von der philosophischen Einsicht, sie entstehe „plötzlich in der Seele wie ein vom überspringenden Funken entzündetes Licht." 18 Im aus sich selber heraus scheinenden Lichte zu schauen, ist aber nur möglich, wenn der Schauende selber erleuchtet wird. „Das Gesicht", sagt Piaton ausdrücklich, „ist nicht die Sonne." Aber es bekommt die „Kraft" zu sehen von deren Licht und wird so zum „sonnenhaftesten der Sinnesorgane." 19 Es ist kein Zweifel, daß das Moment des vorgängigen Lichtes, der Intuition und der Erleuchtung ein Grundzug nicht nur des platonischen, son17 18 le

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Politeia, 7. Buch, 514a δ. 7. Brief, 341c. Politeia, 6. Buch, 508a L

d e m des abendländischen Denkens überhaupt ist. Ja, man könnte geneigt sein, darin geradezu d i e philosophische Grunderfahrung schlechthin zu sehen. Überall, außer in den Zeiten der reinen Aufklärung, findet sich im Ursprung des Philosophierens und vor aller denkerischen Bemühung des Verstandes ein solches unmittelbares Schauen. Daher ließe sich unter diesem Gesichtspunkt die Geschichte der Philosophie im Abendlande ebenso und am Ende mit größerem Recht darstellen, wie unter dem Aspekt der Aufklärung. Eine solche Geschichte der philosophischen Urintuitionen wäre allerdings sehr viel schwieriger zu schreiben, weil man durch die Aussagen der Philosophen hindurch den verborgenen Grund ihres Denkens aufspüren müßte, und weil sich zudem der Wandel der Weisen des Schauens auf weiten Strecken, etwa in der philosophischen Mystik, im Dunkel vollzieht. Aber wenn sie gelänge, könnte sie tiefer in das wesenhafte Geschehen des philosophischen Geistes im Abendlande eindringen, als es die üblichen Darstellungen der Geschichte der philosophischen Resultate vermögen. Die Auslegung der Grunderfahrungen des ursprünglichen Schauens in ihrer Geschichte müßte mit jenem reinen Vernehmen beginnen, in dem im Anfang des abendländischen Denkens Parmenides das in sich ruhende Sein erblickte. Sie müßte von der Ideenschau Piatons reden und von dem unmittelbaren Vernehmen der ersten Gründe und Ursachen, das, wie Aristoteles sieht, aller rationalen Herleitung der Weltwirklichkeit vorhergehen muß. Sie müßte auf Augustinus verweisen, der ausdrücklich sagt, der Geist „könne nicht für sich selber das Licht sein, sondern er leuchte in der Teilhabe an einem andern wahren Lichte." 20 Die Geschichte des Piatonismus und Augustinismus im Mittelalter wäre ebenso heranzuziehen wie die höchst verwickelte Geschichte des lumen naturale und lumen internum in Scholastik und neuzeitlicher Philosophie. Man müßte weiter zeigen, wie selbst für Descartes, den „Vater des Rationalismus", das erste Prinzip aller Gewißheit, das cogito sum, sich nicht der ratio, sondern allein „einem einfachen Hinblicken des Geistes" erschließt. 21 Schließlich wäre Spinozas scientia intuitive ebenso zu erwähnen wie die intellektuelle Anschauung Fichtes und Schellings, vor der das Ewige unmittelbar aufleuchtet, oder wie die „intuition" Bergsons, die einfühlend der absoluten Wirklichkeit ansichtig wird. Am reinsten erfüllt sich der intuitive Grundzug des abendländischen Denkens da, wo die Schau ausdrücklich zum höchsten Ziele des Philoso20

Augustinus, De civitate Dei, 10, 2. Descartes, Meditationes, II. Responsiones, Oeuvres, ed. Adam et Tannery, ΥΠ, p. 140. 21

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phierens wird: in der Mystik von Plotin und der Gnosis bis hin zu J a c o b Böhme. W e r sich aui den Weg der mystischen Erfahrung einläßt, dem kann es geschehen, daß ihm Gott in seinem reinen Lichte aufleuchtet, als die „summa lux", wie ihn Bonaventura nennt, die „in der Seele anwesend" ist. 22 Wenn, wie Meister Eckhart sagt, „daz vünkelinderselebegrifetdaz götliche lieht" 23 , dann kann „sich diu sele üf erheben in irm natiurlichen liehte in daz hoehste und in daz lüterste und also • -. komen in gütlich lieht." 2 4 Es wäre natürlich eine unerlaubte Vereinfachung, wollte man behaupten, all das stehe auf der gleichen Ebene. Stellt man jedoch die genannten Weisen der Intuition, mögen sie unter sich noch so verschieden sein, dem bloß rationalen Denken im Sinne der Aufklärung gegenüber, so läßt sich in ihnen gleichwohl ein gemeinsamer Grundzug feststellen: daß das Licht, von dem her Welt und Selbst hell werden, nicht aus dem Denkenden kommt, sondern daß der Erkennende der vom Lichte Getroffene, der Schauende und Erleuchtete ist. Gesetzt, damit wären die eigentlichen philosophischen Grunderfahrungen des abendländischen Denkens getroffen, dann müßte dessen wahres Wesen in der Intuition liegen. So könnte man es denn auch von seinem Unwesen eindeutig unterscheiden. Das Ergebnis wäre freilich umgekehrt wie im ersten Gang der Auslegung. J e n e Epochen der reinen Aufklärung, die dort als der wahre Weg erschienen, müßten jetzt als Irrweg betrachtet werden; in ihrer vordergründigen Klarheit bliebe dunkel, was nur der Intuition aufzuleuchten vermag. Dagegen träten die anderen, von der aufklärerischen Philosophiehistorie an den Rand gedrängten Zeitalter in den Mittelpunkt: die vorsokratische Metaphysik, die ausgehende Antike mit Gnosis und Neuplatonismus, das Mittelalter, vor allem in seinen augustinischen und mystischen Denkern, die Zeit des Deutschen Idealismus. In Piaton müßte man eher den Erleuchteten erblicken als den Dialektiker, in Descartes eher den Erben des Mittelalters als den Denker im Beginn der Neuzeit, in Kant eher den Neubegründer als den Zerstörer der Metaphysik. Muß aber nicht stutzig machen, daß doch Schau und Versenkung auch und gerade für das Philosophieren außerhalb des Okzidents charakteristisch sind? Ist es nicht ein Widerspruch, wenn man sagt, das Eigentümliche des abendländischen Denkens liege in dem, was gerade nicht sein besonderes Eigentum ist? S o weist ja auch Hegel ausdrücklich darauf hin, daß das Licht, das im Abendlande zum „Blitze des Gedankens" wird, zu22 23 24

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In lib. I. Sent., dist, 3, p. 1, q. 1 resp. Die deutschen Werke, hrsg. v. Quint, I, S. 343. a.a.O., S. 306 f.

vor schon im „Glänze des Morgenlandes" erschien. Doch das ist kein stichhaltiger Einwand. Es könnte ja durchaus sein, daß das eigentliche Wesen des abendländischen Denkens eben in dem bestünde, worin es mit dem Philosophieren anderer Kulturen verbunden ist. Läßt sich demnach die Richtigkeit dieser Deutung nicht von außen her beurteilen, so kommt es wiederum darauf an, ob die Intuition etwa aus sich selber heraus einen Maßstab bietet, dergestalt, daß auch in ihr, so wie vorhin in der ratio, zwischen dem, worauf sie zielt, und dem, was sie erreicht, ein Widerspruch aufbricht. Er müßte sich am deutlichsten da zeigen, wo das intuitive Erkennen so rein wie möglich hervortritt, wo es also etwa als mystische Erfahrung oder als intellektuelle Anschauung ins Spiel tritt. Es geht auch der Intuition um Erkenntnis. Die Frage ist, ob sie tatsächlich zur Helligkeit der Einsicht und gar zum Erblicken des Lichtes selber gelangen kann. In der Tat vollzieht sich die Bewegung dieses Denkens als Aufstieg über alle endliche und als solche zwielichtige Wirklichkeit hinaus zu einem immer innigeren Anschauen des Lichtes selber. Dabei läßt die Erleuchtung die Dinge in ihrer Vereinzelung, so wie der Verstand sie erfaßt, ebenso wie das endliche Selbstbewußtsein hinter sich. Welt und eigene Wirklichkeit versinken, das Seiende und das Selbst verlieren Umriß und Gestali Die Vielfalt der Erscheinungen geht in dem Einen unter, in dem alle Unterschiede verschwimmen. Kann man aber von diesem Einen, dem unendlichen Gegenstand des intuitiven Anschauens, noch sagen, es s e i ? I s t denn, was keinerlei Bestimmung mehr an sich trägt? Oder ist es nicht vielmehr, als das Bestimmungslose, das Nichts? So wäre das Ergebnis des reinen Erschauens, daß, wie Schelling es ausdrückt, „der höchste Moment des Seins zunächst ans Nichtsein grenzt." 25 Ist aber, was der Schauende im Augenblick der Entrückung erblickt, nicht mehr das Sein, sondern nur noch das Nichts, muß dann nicht die Klarheit des absoluten Lichtes, in dem nichts Seiendes mehr erscheint, in dem nur noch die reine Helligkeit als solche leuchtet, in die tiefste Dunkelheit umschlagen? Denn, wie Hegel sagt, „im reinen Lichte sieht man nichts, — ebenso wenig, als in der reinen Finsternis; es ist dunkel und nächtig". 26 Das mag Hegel denn auch gemeint haben, als er gegen Schelling das böse Wort prägte, sein „Absolutes" sei im Gegensatz zu der „unterscheidenden und erfüllten oder Erfüllung suchenden und fordernden Erkenntnis . . . die N a c h t . . . , w o r i n . . . alle Kühe schwarz sind." 27 25 Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus, 9. Brief; Sämtl. Werke, hrsg. v. Schröter, I, S. 251. 2 « System der Philosophie, 2. Teil; SW IX, S. 159. 27 Phänomenologie des Geistes, Vorrede; SW II, S. 22.

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Doch das wendet nicht allein der philosophische Widersacher ein; das sprechen die Schauenden selber aus. Vorzüglich ist es die eigenste Erfahrung der Mystiker. Wenn der Geist sich dem höchsten Lichte nähert, sagt Bonaventura, werde er „in einer Art von wissender Unwissenheit über sich selber hinausgerissen in Dunkelheit."28 Auch Meister Eckhart sagt: „Das leste ende des wesens ist das vinsterniss oder das unbekantniss der verborgenen gothait."29 Dionysius Areopagita schließlich weiß das „unzugängliche Licht, in dem Gott wohnt", nicht anders zu bezeichnen denn als die „göttliche Dunkelheit."30 Wenn aber so das Streben nach Einsicht in der wissenden Unwissenheit endet, wenn am Ende des Suchens nach dem Licht die Nacht steht, ist dann nicht das, worin der zweite Gang der Auslegung den wahren Weg des abendländischen Denkens sehen wollte, die Intuition, wiederum ein Irrweg? Der d r i t t e Gang der

Auslegung

Das Ergebnis ist seltsam. Beide Versuche, das Wesen des abendländischen Denkens, seinen Weg und seinen Irrweg, zu bestimmen, enden in der Aporie. Im Aufhellen des souveränen Verstandes bleibt am Ende die Dunkelheit umfassender als die Helle. In der Intuition, die sich unmittelbar dem Lichte zuwendet, erscheint dieses zuletzt als Nacht. Beidemale schlägt in einer merkwürdigen Weise das Gesuchte in sein Gegenteil um. Wo die Besinnung meinen mochte, das Wesen zu ergreifen, stieß sie auf das Unwesen. Doch wo fand eigentlich jenes Umschlagen des Lichtes in die Finsternis statt? Offenbar da, wo die beiden Aspekte, Aufklärung und Erleuchtung, auf ihre äußerste Spitze getrieben wurden, wo sie demnach rein als solche, ohne Beziehung auf ihren jeweiligen Widerpart, erschienen. Könnte es aber nicht sein, daß ihr Scheitern gerade aus dieser sich isolierenden Zuspitzung entspränge? Und hieße das nicht, daß das abendländische Denken sich dann auf seinem richtigen Wege befände, wenn es beide Momente in sich befaßt: Erleuchtung ebenso wie Aufklärung, Aufklärung ebenso wie Erleuchtung? In der Tat bekommt das Wort Hegels, mit dem die Auslegung begann, nur unter diesem Gesichtspunkt seinen vollen Sinn. Als Blitz entspringt das abendländische Denken aus dem Lichte und bleibt so der ursprünglichen Intuition verhaftet. Abendländisch aber wird das Licht erst dann, wenn es sich zum Blitze wandelt, der von sich selber her die Welt Breviloquium, p. 5, c. 6. 2» Die deutschen Werke, a.a.O., S. 252 f. *> Migne P. G., III, 1073 A, Epistola 5. 28

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aufhellt und denkerisch entwirft. Beides, vorgegebener Ursprung und aufgegebener Entwurf, muß in der Einheit dieses Denkens bewahrt sein, soll es die Grenzen des Abendländischen nicht überschreiten. Das Anschauen muß sich in den Begriff fügen, und die Freiheit des Selbstbewußtseins kommt nur zu ihrer Eigentlichkeit, wenn sie sich im ursprünglichen Erschauen einwurzelt, dessen wahres Subjekt der absolute Geist ist. So also steht es mit dem abendländischen Denken: es ist da auf seinem Wege, wo beides ineinander verschlungen ist, ratio und intuitio, verständiges Begreifen und hinnehmendes Erschauen. Immer dann aber gerät es auf den Irrweg, wenn eines der beiden Momente sich verabsolutiert, wenn das Denken in die bloße Aufklärung des Verstandes abgleitet oder in die Nacht der reinen Mystik versinkt. Wann immer das abendländische Denken in seine Größe kam, hat es den Bezug seiner beiden Momente gewahrt. Auch wer, wie im Höhlengleichnis Piatons, den Aufstieg gewagt und die Sonne erblickt hat, bleibt nicht im versunkenen Anschauen des Lichtes stehen, sondern wendet sich, mit dem tieferen Blick des Erleuchteten, wieder der Weltwirklichkeit zu und kehrt in die Höhle zurück. Für Aristoteles ist die echte philosophische Weisheit weder bloßes verständiges Erkennen noch einfaches Vernehmen der ersten Gründe und Ursachen, sondern das Auf und Ab zwischen beiden. Descartes, der um die Notwendigkeit der Intuition im Ursprung der Gewißheit weiß, liebt nichts so sehr wie die helle Klarheit des Verstandes. Spinoza birgt die Glut des amor Dei intellectualis in die kühle Prägnanz der mathematischen Sprache. Schelling wendet sich vom Anschauen des Absoluten wieder zurück und entwirft eine Philosophie der Natur. Und keiner hat tiefer die widerstreitende Verbundenheit von Verstand und transzendentaler Anschauung gesehen als Hegel: er bindet beide im dialektischen Begriff. Unablässig die nie als solche rein verwirklichte Mitte umirrend, geht das abendländische Denken seinen Gang. Auftauchend aus dem dunklen Lichte des Mythos, gerät es schon im Beginn in die Gefahr des Verlustes der Tiefe. Doch die Denker im Anfang des Abendlandes mühen sich darum, in der Welt des anbrechenden Verstandes das ursprüngliche Wissen um das Gründende zu bewahren. Wie aber dann im reinen Vernehmen des Seins der Verstand und mit ihm die Wirklichkeit der Welt unterzugehen drohen, meldet sich der Protest der Sophistik, der dann freilich rasch in die Ausschweifung der Skepsis umschlägt. Von Sokrates als der Wende ausgehend, erkämpfen Piaton und Aristoteles, jeder auf seine Weise, wieder die geeinte Zwiefachheit des abendländischen Denkens. Doch von neuem beginnt der Irrweg; spätantike Skepsis und mystische Gnosis kommen auf entgegengesetzten Pfaden hart an die Grenze dessen, was 15

noch den Namen des Abendlandes tragen kann. Mit Augustinus bahnt sich jedoch jene Versöhnung christlichen und antiken Denkens an, die in der Scholastik und der philosophischen Mystik des Mittelalters zu ihrer Vollendung gelangt; die aus Intuition und Syllogismus gebauten Summen vorzüglich, aber auch die in den Begriff gebannten Erfahrungen der Mystiker binden das Getrennte in vielfältiger Weise zusammen. Wieder scheint im Ausgang des Mittelalters das Gefüge des abendländischen Geistes zu zerbrechen; neu anhebender Rationalismus und Naturmystik drohen je auf ihrer Seite die Grenzen des Abendländischen zu überschreiten. Doch die großen denkerischen Systeme des 16. und 17. Jahrhunderts, Descartes, Spinoza, Leibniz, fügen das Widerstrebende ineins. Wie dann in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts die sich verabsolutierende ratio das Element des reinen Anschauens zu verschlingen scheint, erstehen in Kant und den Philosophen des Deutschen Idealismus noch einmal großartige Entwürfe der Sammlung zur abendländischen Mitte. Dann freilich sieht es so aus, als versinke das Denken endgültig in die Nacht des positivistischen Zeitalters. Einsam, und doch auch sie ihrer Zeit verhaftet, ragen einzelne Denker heraus: Nietzsche, Dilthey in seinen tieferen Intentionen, der späte Cohen, Husserl. Doch schon machen sich allerorten Anzeichen dafür bemerkbar, daß die Vorherrschaft der bloßen ratio ihrem Ende entgegengeht. Nicht allein, daß man die Tiefe der Gefährdung zu ahnen beginnt, in die der Geist geraten ist; es werden auch die Umrisse neuer Möglichkeiten unmittelbaren Schauens sichtbar. In den Wissenschaften ist die ausschließliche Geltung des rationalen Erkennens fragwürdig geworden; Physik, Biologie, Literaturwissenschaft, die Geisteswissenschaften überhaupt sind, je auf ihre Weise, Zeugen dafür. Aber auch außerhalb des Bereiches der Wissenschaft bricht sich ein Wissen darum Bahn, daß das Dasein des Menschen und der Welt in tieferen Tiefen verwurzelt ist, als sie der Verstand je zu ergründen vermag. Nicht zuletzt darin ruht die hohe Bedeutung, die der Kunst, die selber der Oberfläche entsagt hat, in der Gegenwart zukommt. So sieht sich denn auch die Philosophie erneut vor die metaphysischen Fragen gestellt. Freilich, auch hier droht wieder der Umschlag in das andere Extrem, und damit der Untergang des Denkens überhaupt. Schwärmerei und gedankenloses Pathos beherrschen weithin den Vordergrund des geistigen Lebens. Weltanschauliches Gerede macht sich breit und glaubt, sich der Anstrengung des Begriffs entziehen zu können. Die Philosophie bricht an vielen Stellen in die Domäne der Religion ein, nicht um die genuine Aufgabe einer philosophischen Theologie im Medium der Begrifflichkeit zu lösen, sondern um wider ihr eigenstes Wesen erbaulich zu werden. 16

Oder es wird gar ausdrücklich der Verzicht auf den Verstand gefordert, weil es dem Geist als dem „Widersacher der Seele" abzuschwören gelte, um sich der dumpfen Welt der Triebe und des Fühlens anzuvertrauen. In dieser zwiespältigen Lage ist es die Aufgabe der Philosophierenden, darüber zu wachen, daß die abendländische Mitte nicht in der Heillosigkeit der Extreme verloren gehe. Die Philosophie der Gegenwart ist sich in ihren echten Vertretern dessen wohl bewußt. Blickt man auf die beiden, in denen der Geist des zeitgenössischen Denkens am reinsten verkörpert ist, auf Nicolai Hartmann und Martin Heidegger, so sieht man, daß ihr Denken zwar aus entgegengesetzten Wurzeln erwächst, daß sie aber beide, jeder auf seine Weise, der Mitte verbunden sind. Hartmanns W e r k ist bis in die kristallene Sprache hinein von der Schärfe und Klarheit des logischen Denkens bestimmt. Und doch ist ihm nicht fremd, was nicht bloßer Verstand ist. Das Bedeutsame seiner denkerischen Leistung, der Übergang von der neukantianischen Beschränkung auf Erkenntnistheorie zur Ontotogie als einer Metaphysik der Erkenntnis, konnte ja nicht im rein rationalen Denken gelingen, sondern mußte aus unmittelbarem Betroffensein von der Wirklichkeit erwachsen. So sehr aber Hartmann um die Bedeutung der Intuition weiß, so ist er doch, als kritischer Grenzwächter des Denkens, darum bemüht, sie auf die Erkenntnis der Weltwirklichkeit zu beschränken. An die eigentlich metaphysischen Fragen, etwa nach ,,der Einheit eines ersten Prinzips, eines Ursprunges oder Weltgrundes" — Probleme, „die der menschlichen Vernunft zum Schicksal werden, weil die Vernunft sie weder abweisen noch bis zu Ende lösen kann" 8 1 — rührt er wohl, aber nur, um sie als „unlösbare Restprobleme" 82 stehen zu lassen. Eben auf der von Hartmann nicht mehr betretenen Ebene steht die Frage nach dem „Sein", die Heidegger bewegt. Nicht als ob er nun einfach auf die überlieferte metaphysische Problematik zurückgriffe. Aus seiner seinsgeschichtlichen Perspektive sieht er vielmehr das „Endstadium" des Zeitalters der Metaphysik angebrochen 3 3 , was sich darin zeigt, „daß in der Geschichte des abendländischen Denkens zwar von Anfang an das Seiende hinsichtlich des Seins gedacht wird, daß jedoch die Wahrheit des Seins ungedacht bleibt und als mögliche Erfahrung dem Denken nicht nur verweigert ist, sondern daß das abendländische Denken selbst und zwar in der Gestalt der Metaphysik das Geschehnis dieser Verweigerung eigens, aber gleichwohl unwissend verhüllt." 3 4 „Das künftige Denken" aber 31

Neue Wege der Ontologie, 19493, S. 91. » Philosophie der Natur, 1950, S. 14. »» Holzwege, 1950, S. 193. 34 a.a.O., S. 195 f. 17 2 Weischedel

„ist nicht mehr Philosophie, weil es ursprünglicher denkt als die Metaphysik."35 Insofern ist es fraglich, ob eine Untersuchung über „Weg und Irrweg im abendländischen Denken" Heidegger überhaupt einbeziehen darf, zumal er selber erwägt, ob nicht die Menschen der Gegenwart bereits „die Vorzeitigen der Frühe eines ganz anderen Weltalters" sind.39 Doch auch Heidegger sagt, wo er vom „Wesensgang des anbrechenden Weltgeschickes" spricht, daß dieses „in den Grundzügen seiner Wesensherkunft europäisch bestimmt bleibt." 37 Zudem gehört es gerade zum Eigentümlichen seines Denkens, daß es „dem logos und seinem in der Frühzeit des Denkens erschienenen Wesen" nachdenkt38 und also auf das Abendländische zurückbezogen ist. So mag denn der Hinblick auf Heidegger im Zusammenhang mit dem Thema der Untersuchung sein Recht behalten. Die Frage nach dem Sein, wie Heidegger sie stellt, verweist in die Dimension ursprünglicher Erfahrung; es ist jene „mögliche Erfahrung" der „Wahrheit des Seins" 39 , die dem widerfährt, der „auf das Sein hört" 40 und so „in die Wahrheit des Seins findet."41 Man würde jedoch das Eigentümliche der Heideggerschen Seinserfahrung verfehlen, wollte man in diesem Angesprochenwerden, etwa weil es „sich um das Licht sorgt"42, nun einfach die Intuition als den einen der beiden Grundzüge des abendländischen Denkens erblicken. Heidegger sieht es als die Aufgabe an, „das Sein zu d e n k e n "*3, in jenem „Denken", das sich „vom Sein in den Anspruch nehmen" läßt, „um die Wahrheit des Seins zu sagen."44 Aber es wäre ebenso verkehrt, wollte man diesem „Andenken an das Sein" 45 die Züge dessen verleihen, was im Abendlande als ratio gewaltet hat; Heidegger sagt ausdrücklich, „daß die seit Jahrhunderten verherrlichte Vernunft die hartnäckigste Widersacherin des Denkens" sei.46 Doch nicht minder wendet sich Heidegger gegen den „Irrationalismus."47 Das Denken des Seins ist nicht weniger streng, sondern „strenÜber den Humanismus, 1949, S. 47. Holzwege, S. 300. 3 7 Über den Humanismus, S. 28. 3 8 a.a.O., S. 34. 3 9 Holzwege, S. 196. 4 0 Über den Humanismus, S. 7. 4 1 a.a.O., S. 28. 4 4 a.a.O., S. 45. « a.a.O., S. 38; v. Verf. gesperrt. 4 4 a.a.O., S . 5 . « a.a.O., S. 42. « Holzwege, S.247. w Über den Humanismus, S. 34. 36

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ger . . . als das begriffliche" Denken. 48 So ist, indem Heidegger sowohl das Verfallen in die bloße ratio wie das Versinken in die Nacht des Irrationalen vermeidet, jene Mitte gewahrt, die dem Abendlande das Gefüge gibt, freilich so, daß sein „Denken" über die bisherige Metaphysik hinausweist. Gleichwohl bleibt die Frage, ob das „Andenken an das Sein" die metaphysischen Anliegen, die das abendländische Denken auf seinem bisherigen Gange zuinnerst bewegt haben, endgültig überholt hat. „Sein" ist für Heidegger soviel wie „Offenbarsem", „Lichtung", sofern nämlich „im Lichte des Seins das Seiende, als das Seiende, das es ist", erscheint. 4 * Vom „Sein" als dem Ursprung der Offenbarkeit her aber läßt sich die Frage nach dem Insichsein des Seienden, und das heißt zugleich nach dem Woher, aus dem heraus es in die Lichtung tritt, nicht beantworten. Heidegger spricht aber ausdrücklich davon, daß „die Geschichte und die Natur in die Lichtung des Seins h e r e i n k o m m e n , an- und abwesen." 50 Mit der Frage nach dem Woher des Hereinkommens des Seienden in die Lichtung bricht so am Rande der Heideggerschen Problematik selber die metaphysische Aufgabe der Suche nach dem Seinsgrunde wieder auf, und sie behält neben der Frage nach dem Sein als Wahrheit, und gerade im Anschluß an diese, ihre Dringlichkeit. 51 Das künftige abendländische Denken steht somit nicht nur vor der Aufgabe, das „Sein" im Sinne Heideggers zu denken, sondern zugleich die Frage nach dem Grunde der Weltwirklichkeit erneut zu stellen und damit in einem echten und strengen Sinne wieder Metaphysik zu werden. Das aber setzt voraus, daß vor allem andern die Orte aufgespürt werden, an denen sichtbar wird, worin Welt und Mensch ebenso wie ihr Offensein gründen, daß also sowohl die Seinserfahrung wie die metaphysische Erfahrung aufgehellt und ausgelegt werden. Hat sich in beiden Bereichen der Blick auf die Ursprünge geöffnet, dann wird die entscheidende Frage unabweisbar, wie es denn mit dem Verhältnis von „Sein" und Seinsgrund steht, und das heißt, ob sich für Geschichte und Natur ein Umgreifendes dem Denken erschließt. Wenn die künftige Philosophie in diese ihre Aufgabe findet, wird sie den Auftrag nicht verfehlen, der ihr im Gange des Abendlandes gestellt ist und weiterhin gestellt bleibt. Dann könnte es auch sein, daß ihr gewährt würde, was Hegel den „Aufgang" nennt, „der, ein Blitz, . . . das Gebilde der neuen Welt hinstellt." 52 49 50 « a.a.O., S. 41. a.a.O., S. 19. ebenda, v. Verf. gesperrt. Vgl. die ausführlichere Erörterung dieser Problematik in: Wilhelm Weischedel, Die Tiefe im Anlitz der Welt, 1952, S. 59 fi. 52 Phänomenologie des Geistes; SW II, S. 18. 51

Der Abgrund der Endlichkeit und die Grenze der Philosophie Versuch einer philosophischen Auslegung der »Pensies« des Blaise Pascal 1. D a s W o r t v o m A b g r u n d a l s d i e des Denkens Pascals

Mitte

Die Darstellung der Geschichte der Philosophie pflegt vorzüglich auf die Denker den Blick zu richten, von denen eine weite und sichtbare Wirkung auf die folgende Zeit ausgeht. Sie redet von Hegel, der noch heute unüberwunden das Ideal des umgreifenden Philosophierens darstellt, von Kant, der, in Grenzsetzung und Eröffnung neuer Fragestellungen, den Grund für das Denken der letzten anderthalb Jahrhunderte legte, von Descartes, der die Philosophie entschlossen in die Richtung auf das Ich brachte. Sie spricht von Thomas von Aquino, der der christlichen Haltung ihre denkerische Prägung verlieh, von Aristoteles, der dem abendländischen Denken Maß und Bändigung gab, von Piaton, der es in den Reichtum des Fragens setzte. Wie diese Philosophen die Anliegen ihrer Zeit zusammenfassen und weiterwirkend der lange nicht überholte Ausgangspunkt des Kommenden sind, werden sie zu Wendepunkten in der Geschichte des philosophischen Denkens, zu Peripetien auf dem Theater der Ideen. Diese Denker sind es vorzüglich, die die philosophische Situation geschaffen haben, in der wir uns um unser eigenes Philosophieren bemühen. Sie sind eingemündet in den Strom des geistigen Geschehens, der dahin geführt hat, wo wir heute stehen. Wenn wir daher, rückblickend, sie verlebendigen, so ist es wie ein Rückgang zu den Quellen unseres eigenen Denkens; das Gespräch mit ihnen ist eine Verständigung mit dem Ursprung unserer selbst. A b e r jenseits einer solchen Rückwendung zur eigenen Geschichte, sie durchkreuzend, gibt es noch eine zweite A r t der Begegnung mit vergangenem Philosophieren, die sich in größerer Unmittelbarkeit vollzieht. In ihr wird, was man ist, nicht in seinen Wurzeln verstanden, sondern erschüttert. So ist die Geschichte Bestätigung und Bestreitung zugleich. W a s aber, aus ihr herkommend, den, der sich ihr zuwendet, erschütternd trifft, ist nicht das, was bildend und wirksam in das Geschehen einging,

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sondern die unmittelbare Anrede, die aus der Befangenheit im Gewordensein herausruft und betroffen macht. Wenn man es vermöchte, die Geschichte der philosophischen Betroffenheit darzustellen, dieses verborgene Geschehen, das die offenbare Geschichte der wirksamen Ideen gleichsam unterläuft, dann müßte man vorzüglich von den großen Einzelnen sprechen: von Heraklit, von Sokrates, von Augustinus, wo er aus der Einsamkeit der Selbstreflexion heraus redet, von Pascal, von Kierkegaard. Denn auch Pascal gehört zu denen, deren Wort nur dem vernehmbar wird, der für die unmittelbare Begegnung und die Erschütterung bereit ist. Das hat etwa Nietzsche gespürt, wenn er im „Ecce homo" von Pascal sagt, daß er ihn „nicht lese, sondern liebe". Betroffen macht das, was einen befremdet. Daher spricht das Wort dieser Einzelnen vorzüglich von der Grenze, an die der Mensch stößt, und jenseits deren das Fremde beginnt. Wo die Betroffenheit dann in ihre letzte Tiefe kommt, da erfährt sie das, was die Grenze schlechthin für den Menschen ist, den Ort seines Absturzes oder den Abgrund. Und so ist es die Behauptung des folgenden Versuches, daß uns Pascal philosophisch da entscheidend in die Betroffenheit versetzt, wo er vom Abgrund redet. Man kann, um diese These zu bekräftigen, das dichterische Wort heranziehen. Charles Baudelaire, der Dichter, der, wie wenige, in einer vertraulichen Beziehung zu dem stand, was als Unbegreifliches in und hinter den Dingen webt, beschwört, wo er sich anschickt, das Wesen des Abgründigen zur Sprache zu bringen, den Namen Pascals, In den ,,Fleurs du mal" beginnt das Sonett, das die Überschrift trägt: „Le Gouffre", mit der Nennung Pascals: „Pascal auch hatte seinen Abgrund, der sich regte mit ihm. Denn alles, ach, ist Abgrund: Wollust, Traum, Wort, Tat! Geschah mir doch, daß auf der Haut der Flaum sich sträubte, wenn der Wind der Angst ihn leicht bewegte." Aber gegen diese Berufung auf den Dichter wird sich das philologische Gewissen regen. Es wird darauf aufmerksam machen, daß das Wort „Abgrund" bei Pascal keineswegs eine bedeutende Rolle spielt. In den „Pensöes" wird es nur etwa ein dutzendmal gebraucht, und nicht einmal immer an besonders betonter Stelle. Hinzu kommt, daß es nicht den Charakter eines fest umrissenen Begriffes hat. Pascal verwendet zur Kennzeichnung des Abgründigen drei Ausdrücke: „abime", „gouffre" und „precipice". „Abime" drückt den Abgrund aus, wie er in sich selber ist, das Wogen der Tiefe, das dem hinabschauenden Blick keine Ruhe in einem Festen und Umrissenen läßt, das Weben der Unendlichkeit. „Gouffre". der Schlund oder Strudel, meint das eigentümlich Saugende, Hinein21

schlürfende, das fascinosum des Abgrundes. ,,Pr6cipice", der Absturz, kennzeichnet den Abgrund von der Gefährdung her, in die der gerät, der sich ihm nähert. Es ist richtig: Pascal spricht nur selten, nicht immer an betonter Stelle und nicht in scharfer, begrifflicher Umrissenheit vom Abgrund. Aber ist dies ein Einwand gegen die Behauptung, der Sachverhalt, der mit dem Wort „Abgrund" umschrieben ist, treffe das Wesentliche des Denkens Pascals? Die Frage wird sich erst dann richtig beantworten lassen, wenn deutlich geworden ist, was Pascal unter „Abgrund" versteht. Gesetzt aber, Abgrund bedeute die verschlingende Tiefe, in die der Mensch zuletzt abstürzt, wo immer er sich bemüht, sein Dasein aus sich selber heraus zu verstehen und zu gestalten, — dann ist einsichtig, daß dieses Wort, obwohl nur selten ausgesprochen, doch das Entscheidende über die menschliche Existenz aussagt. Von einem solchen notwendigen Absturz her ist ja das ganze Dasein des Menschen bestimmt. Dieses Ende selber aber kann, eben um seiner bestürzenden Unausweichlichkeit willen, nicht das ständig Beredete sein, sondern gehört dem Bereich des Unsagbaren an, das nur selten im beschwörenden Wort, vorzüglich aber im betroffenen Schweigen sich ausspricht. 2. P a s c a l a l s

Philosoph

Bei den bisherigen einleitenden Erörterungen wurde in die Interpretation Pascals eine bestimmte Voraussetzung eingeführt. Der Abgrund war vorläufig gekennzeichnet worden als die verschlingende Tiefe, in die der Mensch abstürzt, wenn er sein Dasein zu verstehen und zu gestalten sich müht. Wenn nun weiter behauptet wird, dieses Wort vom Abgrund sei es, wodurch uns Pascal entscheidend in die Betroffenheit zu versetzen vermöge, dann heißt das: das Bedeutsame in Pascal wird in seiner Bemühung um den Menschen, also in seinen philosophischen Versuchen, gesehen. Dagegen aber erhebt sich ein schwerwiegender Einwand. Denn nach seinen eigenen Aussagen geht es Pascal doch eben zuletzt nicht darum, den Menschen aus sich selber heraus zu verstehen. Der Mensch ist für sich selbst „un monstre incompr6hensible", „ein unbegreifliches Ungeheuer" (420)1. Begreiflich wird er erst vom Glauben her, nur die christliche 1 Die Fragmente aus den „Pensies" werden nach der Anordnung von Leon Brunschvicg angeführt (Oeuvres de Pascal, Band XII—XIV, 1904). Die Übersetzungen stammen vom Verfasser der vorliegenden Untersuchung. Zusätze in Klammern sind Erläuterungen des Ubersetzers. Vgl. zum Ganzen die vom Verfasser herausgegebene und durch eine kurze Pascal-Deutung eingeleitete Auswahlübersetzung: Größe und Elend des Menschen, 1947 1 , 19492.

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Religion hat „unsere Natur erkannt" (433); „wir erkennen uns selber nur durch Jesus Christus" (548). Das heißt aber: Philosophieren ist letztlich unnütz. Im Fragment 430 redet die „Weisheit Gottes" so zu den Menschen: „All eure Einsichten können nur dahin gelangen, zu erkennen, daß ihr in euch selber weder die Wahrheit noch das Heil finden werdet. Die Philosophen haben es euch versprochen, und sie haben es nicht vollbringen können." Damit scheint der Sinn der Bemühungen in der vorliegenden Untersuchung, die sich in ihrem Untertitel als „Versuch einer philosophischen Auslegung der ,Pens6es* des Blaise Pascal" bezeichnet, völlig infrage gestellt zu sein. Es sieht so aus, als gälte nur der Glaube, als existiere „der Mensch ohne Gott in der Unwissenheit über alles" (389). Und in der Tat trägt das, was bei Pascal Philosophieren genannt werden kann, den Charakter der Vorläufigkeit an sich; die philosophische Betrachtung wird am Ende in einem tieferen Aspekt aufgehoben. „Der letzte Schritt der Vernunft ist es, anzuerkennen, daß es eine Unendlichkeit von Dingen gibt, die sie übersteigen" (267). Ehe man aber um solcher Äußerungen willen die Möglichkeit, Pascal in seiner philosophischen Fragestellung ernst zu nehmen, verwirft, ist der Sinn dieser Vorläufigkeit klarzustellen. Sie kann nicht einfache Negierung des vernünftigen Fragens und Erkennens sein; denn wie könnte sonst Pascal im Fragment 253 neben der bloßen Anerkennung der Vernunft als die andere der „beiden Ausschweifungen" die nennen, „die Vernunft auszuschließen"? Und wie könnte das Fragment 269 nicht nur die „Unterwerfung", sondern auch den „Gebrauch der Vernunft" als wesensnotwendig für „das wahre Christentum" hinstellen? In ihrer Vorläufigkeit hat also offenbar die Philosophie auch bei Pascal ihren berechtigten Sinn. Diesen vordeutend zu umreißen, ist daher die nächste Aufgabe. Abwegig wäre es, wollte man bei Pascal ein philosophisches und ein religiöses Stadium gegeneinander absetzen, als zwei Perioden seines Lebens, die durch ein bestimmtes Ereignis getrennt wären. Es hat freilich im Leben Pascals ein solches entscheidendes Ereignis gegeben: die sogenannte „Bekehrung" von 1654. Aber sie bedeutet nicht, daß er sich mit einem Schlage aus einem auf „weltliche" Weise reflektierenden Philosophen in einen Denker aus dem Glauben verwandelt hätte. Schon vordem, als noch die Leidenschaft des Philosophierens die vorzüglichste seiner Passionen war, ging es ihm darum, den Menschen in seinem Verhältnis zu Gott recht zu verstehen. Und auch nach dem Ereignis des Jahres 1654 arbeitet er noch daran, den Menschen philosophisch, d. h. aus sich selber heraus, zu begreifen. Erst an der Schwelle des letzten Stadiums seines Lebens verstummt die philosophische Frage; aber da verliert auch 23

der Glaube das Wort, Pascal zieht sich in das Schweigen zurück und dient den Armen. Wollte man dieses ständige Miteinander, diese sich fordernde Gegnerschaft von Philosophie und Glauben leugnen, dann würde ein großer Teil der „Pens6es" zum bloßen Spiel, ohne die Leidenschaft der inneren Beteiligung. Man müßte dann die Fragmente so verstehen, als ob alles in ihnen, was der vernunftgemäßen Reflexion entstammt, lediglich zu dem Zwecke mitgeteilt werde, um, als gegnerische Ansicht, von dem ein für allemal feststehenden Standpunkte her widerlegt zu werden. Das aber nähme den ,,Pens0es" gerade das, worin ihre eigentümliche Lebendigkeit besteht: Ernst und Gefahr der Auseinandersetzung. Es wird eine der vornehmlichsten Aufgaben der folgenden Untersuchung sein, das Verhältnis von Philosophieren und Glauben bei Pascal aufzuhellen, vor allem zu zeigen, wie und warum es, gerade um des Glaubens willen, für Pascal notwendig ist, zu philosophieren (vgl. vor allem Abschnitt 16). Darin nämlich liegt der eigentliche Sinn der „Pensdes". Sie sind ja in ihrer Hauptmasse Notizen und Entwürfe zu einer „Apologie des Christentums". Die eigentümliche Art, in der Pascal Apologie treibt, besteht nun nicht darin, die gegenteilige Meinung mit Hilfe von vernünftigen Argumenten als verkehrt zurückzuweisen und dann die Meinung des Glaubens dagegenzusetzen. Er will vielmehr die innere Notwendigkeit des Glaubens aufzeigen; sie soll sich daraus ergeben, daß alle anderen Bemühungen, die dem Menschen gestellten Fragen zu lösen, scheitern müssen. Dies einzusehen ist aber nur dann möglich, wenn man zuvor ernsthaft sich um eine solche Lösung bemüht hat, wenn also auch der Glaubende, eben um der Begründung seines Glaubens willen, entschlossen und bis zum Ende philosophiert. Dann aber auch ist es, aus der Sache selbst heraus, gerechtfertigt, wenn man, wie dies die vorliegende Unter* suchung sich vorsetzt, das Philosophieren Pascals ausdrücklich zum Thema macht. Damit ist auch deutlich, weshalb sich die Darlegung der philosophischen Bemühungen Pascals in dem Begriff des Abgrundes entscheidend konzentriert. Wenn sich der Glaube über den gescheiterten philosophischen Versuchen erhebt, dann müssen diese solange verfolgt werden, bis sie an ihr abgründiges Ende kommen. Auf den Abgrund als die Mitte zwischen Philosophieren und Glauben nun gibt es zwei Aspekte. Man kann ihn von dem her betrachten, was, auf ihn zugehend, in ihn abstürzt, also vom Philosophieren her. Man kann ihn aber auch von daher ansehen, daß sich in solchem Absturz die eigentliche, die christliche Existenz, ermöglicht. Das zweite ist die Sicht, die Romano Guardini in seinem 1935 erschienenen bedeutsamen Buche: 24

„Christliches Bewußtsein. Versuche über Pascal", einnimmt. Den tiefen Einsichten dieses Buches verdankt der Verfasser wesentliche Anregungen. Guardinis Bemühung um Pascal ist von der Frage geleitet: „Wie geht das zu, wenn ein Mensch glaubt?" (Seite 11). Will man, in Anlehnung daran, das Problem, um das es in der vorliegenden Untersuchung geht, entsprechend formulieren, so könnte man es so fassen: Wohin führt es, wenn ein Mensch von sich selbst her denkt, d. h. entschlossen sich in das Philosophieren begibt? Das Wort vom Abgrund aber muß der Punkt sein, an dem beide Fragestellungen zusammenstoßen. 3. P h i l o s o p h i e r e n

als

Frage

nach

dem

Menschen

Wie vollzieht sich das Philosophieren, so wie Pascal es sieht, wo beginnt es, und was ist sein vorzüglichstes Thema? Im Fragment 146 legt Pascal den Punkt, an dem das Nachdenken einzusetzen hat, folgendermaßen fest: „Nun fordert es die Ordnung des Gedankens, daß man bei sich selbst beginne, sowohl bei seinem Urheber wie bei seinem Ziel". Läßt man die beiden zuletzt gegebenen Bestimmungen vorerst beiseite, so bedeutet dies: Philosophieren ist die Frage des Menschen nach sich selbst. „Man muß sich selbst erkennen", sagt das Fragment 66. Einen Menschen, der das nicht sieht, kann sich Pascal nur als verzaubert denken; es ist „eine übernatürliche Verblendung, zu leben, ohne danach zu suchen, was man ist" (495). Mit dieser Bestimmung des Menschen als des vorzüglichsten Gegenstandes der Philosophie reiht sich Pascal unter die Zahl der Denker seines Zeitalters ein, die man, um ihres besonderen Interesses am Menschen und an menschlichen Sitten willen, als „Moralisten" zu bezeichnen pflegt. Montaigne, dem es ebenso wie Pascal um den Menschen ging, gehörte zu seinen Lieblingsschriftstellern; er wird in den „Pensees" häufig, und meist mit Zustimmung, zitiert. Von zwei Männern aus der nächsten Umgebung Pascals, Miton und Mere, gehen vorzüglich die Bemühungen um die Gewinnung eines Begriffes des „honnete homme" aus. Und doch ist Pascal nicht einfach einer unter den französischen Moralisten. Von diesen unterscheidet er sich vielmehr im Wesentlichen, in dem Anliegen nämlich, das ihn zur philosophischen Frage nach dem Menschen treibt. Und so muß zunächst gezeigt werden, was Pascal dazu bestimmt, die Frage nach dem Menschen in den Mittelpunkt der philosophischen Problematik zu rücken. Diese, wie man sie nennen könnte, anthropologische Einstellung war nicht die anfängliche wissenschaftliche Haltung Pascals. Begonnen hat er mit mathematischen und naturwissenschaftlichen Studien, und er hat in diesem Felde Bedeutendes geleistet. Er schreibt im Fragment 144: „Ich

25

hatte lange Zeit mit dem Studium der abstrakten Wissenschaften verbracht". Dann aber, fährt er fort, hätten ihn diese „angewidert", und er habe „mit dem Studium des Menschen begonnen". Das Anliegen, das Pascal zu der Beschäftigung mit dem Menschen treibt, müßte sich also enthüllen, wenn man den Gründen des Ekels, der ihn vom Studium der äußeren Natur weggeführt hat, nachforscht. Nun gibt Pascal hierfür zunächst eine scheinbar äußerliche Begründung. Verleidet worden seien ihm die abstrakten Wissenschaften wegen des „Wenigen an Gemeinschaft, das man darin haben kann". Er habe dagegen „geglaubt, beim Studium des Menschen wenigstens eine beträchtliche Zahl von Gefährten zu finden". Die Begründung, die Pascal hier gibt, erscheint bedenklich. Kann denn die Vereinzelung, in die die naturwissenschaftliche Forschung um der Schwierigkeit ihres Gegenstandes willen den Menschen führt, ein Grund sein, sie aufzugeben? Und wird die Frage nach dem Menschen darum zur notwendigen Aufgabe, weil sie von vielen gestellt wird? Sieht man freilich genauer zu, so entdeckt man, daß Pascal die „communication" tiefer versteht und inniger mit dem Wesen des Menschen in Zusammenhang bringt. Die abstrakten Wissenschaften, sagt er, „sind dem Menschen nicht eigentümlich"; in der Beschäftigung mit ihnen habe er sich von seiner „condition", seiner Seinsweise als eines Menschen, verirrt. Beim Übergang zur Frage nach dem Menschen habe er daher geglaubt, diese sei „das wahre Studium, das dem Menschen eigentümlich ist". Bei der Wendung zur Beschäftigung mit dem Menschen ist Pascal also geleitet von der Vermutung, das, was dem Menschen wesentlich sei, müsse zugleich das sein, womit er sich vorzüglich befasse, und weil er sich hauptsächlich damit befasse, käme darin die größte Zahl von Menschen überein. Wie sich Pascal aber dann tatsächlich an die Erforschung des Menschen macht, da zerbricht ihm diese Hoffnung. „Ich ward getäuscht; es gibt deren noch weniger, die sich darum bemühen, als bei der Geometrie." Damit klingt zum erstenmal das Grundthema an, das die philosophischen Bemühungen Pascals durchzieht, und das in seine Tiefe zu verfolgen, die Absicht der vorliegenden Untersuchung ist: der Widerspruch zwischen dem Wesen des Menschen und seiner faktischen Existenz. Seinem Wesen entspräche es, mit Ernst sich in die Frage nach sich selber zu begeben. Wer aber damit beginnt, der entdeckt, daß er darin alleingelassen ist, und daß kaum einer in seinem Dasein diese seine wesentliche Aufgabe erfüllt. Aber freilich, damit ist die Frage, weshalb Pascal das Problem des Menschen in den Mittelpunkt des Nachdenkens rückt, nicht beantwortet. 26

Die erwartete Gemeinschaft mit andern im gemeinsamen Forschen kann nicht der Grund sein; denn die Hoffnung auf sie enthüllte sich ja als Täuschung. Und so schließt das Fragment 144 mit der skeptischen Frage, ob es für den Menschen nicht vielleicht besser sei, sich nicht zu kennen. Hier nun führt es weiter, wenn man darauf achtet, wofür es denn möglicherweise besser sein könnte, sich nicht zu kennen, Pascal antwortet: „um glücklich zu sein". Und damit kommt man zu dem entscheidenden Gesichtspunkt, von dem her Pascal die Notwendigkeit der Frage nach dem Menschen begründet. Fragment 67 führt dies unter der Überschrift „Eitelkeit der Wissenschaften" näher aus: „Die Wissenschaft von den äußeren Dingen wird mich in der Zeit der Bekümmerung nicht über die Unwissenheit in der Moral trösten; aber die Wissenschaft von den Sitten wird mich stets über die Unwissenheit in den äußeren Wissenschaften trösten." Seltsam ist, wie hier scheinbar sachfremde Begriffe in die Begründung der Frage nach dem Menschen als der philosophischen Grundfrage eingeführt werden: „heureux", „affliction", „consoler". Man müsse vielleicht darauf verzichten, sich selber zu erkennen, wenn man glücklich sein wolle; aber doch könne die echte Erkenntnis seiner selbst, die Philosophie, in der Zeit der Bekümmerung trösten. So ist der Bereich, in dem es um Unglück und Glück, um Bekümmerung und Trost geht, für Pascal der eigentliche Ursprung des Philosophierens. Dieses entspringt aus der Sorge des Menschen, der in die Not seines Existierens geworfen ist. Und daher auch geht es im Philosophieren darum, in diesem notvollen Dasein die rechte Haltung zu gewinnen. Denn dies ist ja das eigentliche Anliegen der Wissenschaft, die im eben angeführten Fragment 67 als „Moral" und als „Wissenschaft von den Sitten" für die allgemeine Wissenschaft vom Menschen steht: sie gehört nicht zu den „sciences abstraites", wie das Fragment 144 die Naturwissenschaften nennt, sondern sie hat ihren Sinn und ihre Notwendigkeit im konkreten, menschlichen Dasein, in der Aufgabe, die die Existenz für den Menschen bedeutet. Diese Philosophie aus der Sorge um die rechte Haltung unterscheidet sich wesenhaft von der Art des Philosophierens, wie sie Pascals großer Zeitgenosse, Descartes, betreibt. Diesem entspringt das Anliegen, das ihn zum Philosophieren treibt, nicht aus der Bekümmerung um das eigene Existieren, sondern aus der Einsicht in den Zerfall der metaphysischen Gewißheit, wie er den Ausgang des Mittelalters kennzeichnet. Daher auch steht ihm der Mensch nur insofern im Thema der Philosophie, als sein Selbstbewußtsein der Ort ist, an dem unmittelbare und ursprüngliche Gewißheit gegeben ist; und er verläßt die Betrachtung des Menschen in dem Augenblick, in dem er das Prinzip gewonnen hat, das ihn 27

die zerbrochene metaphysische Gewißheit in ihrem ganzen Umfange wieder gewinnen läßt. So ist es nicht die Not des Existierens, sondern die Not der gefährdeten Gewißheit, die Descartes zum Philosophieren treibt. Wollte man aber nun die Fragestellungen von Pascal und Descartes als anthropologisch und metaphysisch einander gegenüberstellen, so übersähe man den Horizont, in dem die Problematik Pascals letztlich steht. Denn auch sie ist metaphysisch, wenn anders die metaphysische Problematik dasjenige philosophische Fragen ist, dem es um das Wesen geht. All die vielfältigen Analysen, die Pascal vom Menschen gibt, werden letztlich nicht deshalb angestellt, damit man diesen im Reichtum seiner existentiellen Möglichkeiten kennen lerne. In ihnen fragt Pascal vielmehr nach dem Wesen. Entspringend aus der Unruhe der Existenz, ansetzend in der anthropologischen Frage, gehen die philosophischen Bemühungen Pascals zuletzt auf die metaphysische Frage nach dem Wesen des Menschen. 4. D i e

ohnmächtige

Macht

des

Denkens

Was ist denn nun das Wesen des Menschen, um das sich die philosophische Frage, so wie Pascal sie versteht, vorzüglich zu bemühen hat? Die Antwort, die Pascal gibt, scheint zunächst rein formal zu sein: das Wesen des Menschen liegt in seiner Fähigkeit, zu denken. „Der Mensch ist sichtlich geschaffen zum Denken" (146). Dies zeichnet ihn vor allem anderen Seienden aus. „Ich kann mir wohl einen Menschen ohne Hände, Füße, Kopf vorstellen, — denn nur die Erfahrung lehrt uns, daß der Kopf notwendiger ist als die Füße —. Aber ich kann mir den Menschen nicht ohne Gedanken vorstellen; das wäre ein Stein oder ein wildes Tier" (339). Damit nimmt Pascal die Grundthese auf, wie sie seit den Griechen die philosophische Bemühung in diesem Fragebereich geleitet hat: der Mensch ist animal rationale. Noch von Descartes wird er als res cogitans bestimmt, als ein Seiendes, dem als auszeichnende Seinsweise das Denken zukommt. Pascal bleibt jedoch nicht bei der Feststellung dieser formalen Seinsbestimmung des Menschen stehen; er geht von daher auch nicht zu einer Analyse des Denkens und des Selbstbewußtseins über, wie sie Descartes vorgenommen hat. Vielmehr fragt er nach der Stellung, die dem Menschen vermöge seiner Fähigkeit des Denkens im Ganzen des Seienden zukommt. Sie nämlich — dies ist die These Pascals — verleiht ihm seine eigentümliche Größe und Würde in der Welt. „(Der) Gedanke macht die Größe der Menschen" (346). „Die ganze Würde des Menschen besteht im Gedanken" (305).

28

Inwiefern zeigt nun das Denken Größe und Würde des Menschen an? Pascal sieht dies darin, daß der Gedanke Macht besitzt; im Denken ist der Mensch des Seienden mächtig. Diese Macht ist freilich nicht von der Art, wie Bacon sie verstand: als die Kraft, die Natur zu beherrschen, das Seiende faktisch umzuwandeln. Pascal denkt vielmehr an eine Macht, die rein im Bereich des Denkens bleibt, ohne tatsächliche Einwirkung auf das Seiende. Sie besteht lediglich darin, daß das Seiende, indem es im Gedanken erfaßt wird, in diesen einbezogen, von diesem begriffen wird. In der Gegenüberstellung der Art, wie das All den Menschen faktisch umgreift, und wie der Mensch im Gedanken das All verstehend umgreift, kommt die Doppelbedeutung des Wortes „comprendre" zum Ausdruck: begreifen als umgreifen und als verstehen. „Durch den Raum begreift mich das All und schlürft mich ein wie einen Punkt; durch den Gedanken begreife ich es" (348). Stellt man freilich die beiden Arten des Begreifens und die darin sich darstellenden Weisen des Machthabens nebeneinander, so muß dieser Vergleich sehr zu Ungunsten des Denkens ausfallen. Das denkende Begreifen läßt ja das Seiende, das es erfaßt, in seinem Sein stehen; dieses Seiende seinerseits aber gefährdet das denkende Wesen, und zwar so weit, daß es dessen Existenz auslöschen kann. Denn der Mensch, so wie Pascal ihn sieht, ist „das Schwächste der Natur" und darum einem „Schilfrohr" vergleichbar; „ein Dampf, ein Wassertropfen reichen hin, ihn zu tötten" (347). Sein Leben ist „das zerbrechlichste Ding der Welt" (213). Und so zeigt sich, daß die denkende Macht des Menschen auf dem Grunde seiner tiefsten Ohnmacht allem Seienden gegenüber ruht. Und doch bewährt sich für Pascal gerade in der Ohnmacht wiederum die eigentümliche Macht des Menschen. Weil er zwar ein „Schilfrohr", aber „ein denkendes Schilfrohr" ist (347), wird er, indem er ihn versteht, auch seines eigenen Unterganges noch mächtig. Während alles andere Lebendige seine Vernichtung gleichsam stumm und ohne Antwort über sich ergehen lassen muß, kann der Mensch auch seinen Tod noch begreifen und verstehend übernehmen. Auch über die Brutalität des äußeren Geschehens, auch über die Verohnmächtigung im Tode wird das wissende Wesen noch Herr; „wenn das All ihn zermalmte, wäre der Mensch noch erhabener als das, was ihn tötet, weil er weiß, daß er stirbt, und welche Überlegenheit das All über ihn hat: das All weiß nichts davon" (347). So ist also dies das Wesen des Menschen und seine Größe: im Denken sein Sein zu haben, und in der Macht des Gedankens seiner eigenen Ohnmacht noch mächtig zu sein.

29

5. D i e

Zerstreuung im

und

der

Widerstreit

Menschen

Die ohnmächtige Macht des Menschen, seine Fähigkeit, über alles Seiende und selbst über seinen eigenen Untergang hinaus zu sein, ist aus dem formalen Charakter des Denkens als des umgreifenden Begreifens erschlossen worden. Aber ist damit der Mensch nicht zu abstrakt gesehen? Rückt das Bild des Menschen damit nicht in das Licht eines Heroismus, der nichts mehr mit der faktischen menschlichen Existenz zu tun hat? Ist denn der Mensch in seiner Wirklichkeit das Wesen, das wissend gegen alle Welt und alle Gefährdung durch diese auf sich selber steht? Pascal sieht selbst das Auseinanderklaffen zwischen der einen Betrachtung, die den Menschen nach seiner wesentlichen Idee sieht, und der andern, die den konkreten Menschen ins Auge faßt. „Die Natur des Menschen läßt sich auf zwei Weisen betrachten: einmal nach seinem Ziel, und dann ist er groß und unvergleichlich; sodann nach der Mehrzahl (dem Durchschnitt) . . . ; und dann ist der Mensch verächtlich und gemein" (415). Soll wirklich der Mensch, so wie er ist, vor Augen kommen, dann muß man den Ausgang vom Wesensbegriff des Menschen ergänzen durch den Hinblick auf die Weise, wie der Mensch alltäglich existiert. Daher kommt Pascal dazu, das landläufige Tun und Treiben mit in die philosophische Frage nach dem Menschen einzubeziehen. Und das ist es, was seiner Fragestellung die eigentümliche Lebendigkeit gibt. Freilich sieht Pascal sein Thema in einer charakteristischen, durch Zeit und persönliche Lebensverhältnisse bedingten Begrenzung. Er schildert das Verhalten des Menschen auf der Jagd, beim Ballspiel, in der galanten Konversation, bei der Lösung mathematischer Probleme, beim Tanz. Das Feld der Untersuchung der Alltäglichkeit des Menschen ist also die große Welt. Nur selten und nur als Beispiele für einzelne Wesenszüge des Menschen werden auch andere menschliche Möglichkeiten angedeutet, etwa der Dachdecker, der Soldat, der Koch. Wovon also Pascal redet, das ist die Welt, in der er lebte, bevor er sich hinter die Mauern des Klosters Port-Royal zurückzog; zugleich berührt er sich darin mit den großen „Moralisten" seines Zeitalters, mit Montaigne, Charron, La Bruy^re. Vor diesen aber zeichnet ihn aus, daß er sich nicht mit der bloßen Darlegung der Erscheinungsweise des Daseins des Menschen und mit dem skeptischen Lächeln über die Seltsamkeit eines solchen Wesens begnügt. Was das alltägliche Treiben offenbart, ist nur das Feld, von dem aus Pascal den Vorstoß in die Tiefe des menschlichen Wesens unternimmt. Die Unerbittlichkeit seines Eindringens, die auch vor erschreckenden und paradoxen Einsichten nicht zurückweicht, 30

hebt ihn aus seiner Zeit heraus und rückt ihn in die Nähe des großen Deuters des menschlichen Herzens, des Augustinus. Das erste, was Pascal an dem Tun und Treiben des Alltags feststellt, ist eine seltsame Intensität. Der Ballspielende denkt an nichts anderes als daran, wie er den Ball, der ihm zugeworfen wird, zurückschlagen, der Jäger, wie er den Hasen erjagen könne (vgl. 139 u. 140). Das Merkwürdige dabei ist, daß über den Grad dieser Intensität nicht die Wichtigkeit und Dringlichkeit der Sache entscheidet, die man betreibt. Das Fesselnde ist überhaupt nicht das, was man betreibt, sondern d a ß man etwas betreibt; es interessiert eigentlich nicht der Hase, den man jagt, sondern die Jagd, nicht der Gewinn, den man einstreicht, sondern das Spiel, nicht der Sieg, den man erstrebt, sondern der Kampf. „Wir suchen niemals die Dinge, sondern die Suche nach den Dingen" (136). Man ist geschäftig um der Geschäftigkeit willen; was einen in die Betriebsamkeit hineinzieht, ist die „ungestüme und hinreißende Beschäftigung", die „Unruhe", die „Unrast", der „Lärm", der „Wirrwarr", der „Tumult" (139). Und Hast und Atemlosigkeit treiben von jedem fahl gewordenen Umtrieb zum nächsten. „So verrinnt das ganze Leben" (139). Das Faktum des Umtriebes um des Umtriebes willen nennt Pascal „divertissement". Man kann dies mit „Zerstreuung" übersetzen, muß dann aber festhalten, daß Pascal unter „divertissement" mehr versteht, als wir üblicherweise mit „Zerstreuung" meinen, nämlich nicht nur die spielerischen Beschäftigungen, sondern auch die sogenannten „ernsthaften" Betätigungen, für die Pascal etwa die Ämter und Chargen bei Hofe als Beispiele heranzieht (vgl. 139). Kurz „alle einzelnen Beschäftigungen" kann man „unter Zerstreuung zusammenfassen" (137). Von diesem Blick auf das faktische menschliche Dasein her stellt sich nun erneut die Frage nach dem Wesen des Menschen. Wenn der Mensch dergestalt ständig danach trachtet, sich um der Zerstreuung willen zu zerstreuen, was ergibt sich daraus für die Einsicht in sein Wesen? Einen ersten Hinweis gibt der Ausdruck „divertissement" selber. Er bedeutet seinem Wortsinne nach diejenige Wendung, die von einem Mittelpunkt her auseinanderstrebt. Ebenso ist Zerstreuung das Hinausgehen aus der Gesammeltheit in die sich ausbreitende Mannigfaltigkeit. Wenn nun Zerstreuung den Menschen kennzeichnet, dann heißt das: er strebt aus einem Mittelpunkt auseinander, er strebt von seinem Zentrum weg ins Weite. Und nun muß das oben genannte Moment mit hinzugenommen werden, daß es nicht die Dinge sind, die den Menschen derart aus seinem Mittelpunkt wegziehen; er wirft sich ja in die Zerstreuung um der Zerstreuung willen. Ist aber nicht der Anreiz der Dinge die eigentlich bewegende 31

Ursache dieses Dranges, dann muß dieser im Menschen selber seinen Ursprung haben. Es muß Wesenheit zum Menschen gehören, daß er aus sich selber heraus von seinem Mittelpunkt weg in die Weite drängt. In der Tat sieht Pascal im Menschen einen solchen Drang wirksam. Der Mensch flieht von sich selber weg; er wendet sich nach außen, um nicht mit sich selber allein sein zu müssen, weil er nicht vermag, „in Ruhe in einem Zimmer zu bleiben" (139). Die Menschen suchen immerzu „eine ungestüme und hinreißende Beschäftigung, die sie davon ablenke, an sich zu denken" (139); denn sie wollen nicht „sich selber sehen, . . . an das denken, was sie sind, woher sie kommen, wohin sie gehen; und so kann man sie gar nicht zuviel beschäftigen und ablenken" (140). Damit kommt der tiefere Grund zum Vorschein, aus dem heraus der Mensch faktisch ständig nach der Zerstreuung trachtet: es ist die Flucht vor sich selber, der Wille, im Umtrieb sich selber zu vergessen. Aber damit bricht der Widerspruch im Menschen, auf den schon der vorhergehende Abschnitt stieß, erneut auf. Seiner Bestimmung nach ist der Mensch das Wesen, das auf Denken angelegt ist; darin besteht seine Größe, daß er denkend seiner selbst und des Seienden mächtig sein kann. Aber in seiner faktischen Existenz schreckt der Mensch gerade davor zurück, an sich selber zu denken und um sich selber zu wissen, und er stürzt sich statt dessen in die Zerstreuung. Pascal drückt diesen Gegensatz auch durch die beiden Begriffe Vernunft und Leidenschaft aus. Die Vernunft, in der Wesen und Macht des Menschen bestehen, ist in dessen faktischer Existenz ohne Macht. „Der Mensch handelt nicht durch die Vernunft, die sein Sein ausmacht" (439). Daher herrscht ein „innerer Krieg zwischen der Vernunft und den Leidenschaften . . . Da es beide gibt, kann (der Mensch) nicht ohne Krieg sein, weil er mit dem einen nur Frieden haben kann, wenn er mit dem andern im Kriege liegt; so ist er immer geteilt und im Widerstreit mit sich selber" (412). So wie vorhin ist auch der Gegensatz im Menschen ein Widerstreit zwischen dem Wesen und der faktischen Existenz. Aber dieser Widerstreit bricht jetzt schärfer hervor als vorhin: weil er sich jetzt in der Betrachtung der konkreten Existenz des Menschen und als Kennzeichen dieser konkreten Existenz selber zeigt. Der Mensch in seiner Wirklichkeit widerspricht seinem Wesen, ja seine Wirklichkeit besteht wesensmäßig in diesem Widerspruch zu seinem Wesen.

32

6. D i e L a n g e w e i l e des

und

die

Endlichkeit

Menschen

Mit der Aufdeckung des Widerstreites zwischen wesentlicher Bestimmung und faktischer Existenz des Menschen ist die Frage Pascals noch nicht an ihrem Ende. Daß der Mensch vor sich selber flieht, kennzeichnet ihn ja, so wie Pascal es sieht, im ganzen Umfang seines Daseins. Das aber läßt vermuten, daß diese ständige Flucht selber im Wesen des Menschen ihren Ursprung hat. Damit wäre dann der Wesensbegriff vom Menschen als denkendem Wesen unzureichend. Auch die andere Seite des Widerstreites, die Selbstflucht, müßte dann mit ihrer Wurzel in den Grund des Menschen hinabreichen. Und so ergibt sich als nächste Aufgabe der Interpretation Pascals, zu untersuchen, wie die Flucht vor sich selber aus dem Wesen des Menschen entspringt. In der Zerstreuung flieht der Mensch vor dem Anblick seiner selbst; die Dringlichkeit dieser Flucht muß also daraus kommen, daß der Anblick des eigenen Ich dem Menschen unaushaltbar erscheint. Und so ist zu fragen, was ihm denn als „er selbst", als sein Selbst, begegnet, und inwiefern ihm dies so erschreckend entgegentritt, daß er sich so hastig davon abzuwenden trachtet. Dieses „er selbst" läßt sich in einem ersten Hinblick kennzeichnen in Abhebung gegen das Seinkönnen, das der Mensch in der Flucht vor sich selber erstrebt. Denn auch im Fliehen hat er ein bestimmtes Bild von seiner Existenz vor Augen. Indem er sich in den Umtrieb wirft, will er ausgefüllt werden; das Selbst, von dem er wegstrebt, ist also zum ersten das leere Selbst. Und indem er die Geschäftigkeit um ihrer selbst willen erstrebt, will er in Bewegung kommen: das Selbst, von dem er weg will, ist also zum zweiten das bewegungslose, das stillstehende Selbst. Dieses leere und stillstehende Selbst läßt sich aber nicht nur negativ erschließen; es ist vielmehr ein Faktum, das dem Menschen in seiner Existenz begegnet. Und zwar wird es in bestimmten, ausgezeichneten Augenblicken offenbar, die durch die Grundstimmung des „ennui", der Langeweile, gekennzeichnet sind. Wenn der Mensch „ohne Leidenschaften, ohne Geschäft, ohne Zerstreuung, ohne Eifer" ist, wird „unverzüglich aus dem Grunde seiner Seele die Langeweile aufsteigen" (131). So, wie Pascal diese versteht, ist sie nicht eine gelegentlich auftretende Gemütsverstimmung; sie reicht vielmehr tief hinab in das Wesen des Menschen. Sie läßt nicht davon ab, „eigenmächtig . . . aus dem Grunde des Herzens aufzusteigen, wo sie natürliche Wurzeln hat" (139). Sie ist die Grundstimmung, die die Augenblicke begleitet, in denen der Mensch, unabgelenkt durch Zerstreuungen, sich selber, seinem nackten Selbst, begegnet. Und so hat

3 Weisdiedel

33

sie eine ausgezeichnete Entdeckungsfunktion für das Wesen des menschlichen Selbst. In der Grundstimmung der Langeweile überkommt einen das Gefühl, als ob die Dinge hinfällig würden. Ihre Greifbarkeit, ihre dichte und bergende Gegenwart, schwinden dahin: die Dinge weichen gleichsam zurück und lassen den, der von der Langeweile befallen ist, mit sich allein. Aber man fühlt zugleich, daß das Leerwerden der Welt nicht aus dieser selbst kommt, sondern daß es der eigenen Leere erwächst; es ist zutiefst die Leere des Herzens, deren der Mensch in der Langeweile gewahr wird. Und so ist das in der Langeweile erblickte Selbst das leere Selbst. Das Hinscheiden der Dinge, so wie es die Langeweile spürt, geht ferner in einer seltsamen Lautlosigkeit und Bewegungslosigkeit vor sich. Die Zeit scheint stillzustehen; eben darum wird die Weile so unerträglich lang. Die vielerlei Umtriebe machen einer wechsellosen Eintönigkeit, einer unheimlichen Ruhe Platz. Und auch hier wird der, der in der Langeweile befangen ist, gewahr, daß die Bewegungslosigkeit aus ihm selber entspringt. Sein eigenes Ich erscheint ihm in einer eigentümlichen Erstarrung; das Selbst, das ihm die Langeweile enthüllt, ist das stillstehende Selbst. Wenn in der Grundstimmung der Langeweile der Mensch sich selber unverdeckt gegenübersteht, dann muß sich von ihr her das Wesen des Selbst tiefer erfassen lassen. Leere und Stillstand tragen das Moment des Negativen in sich; das leere Selbst ist das nicht ausgefüllte, das stillstehende Selbst das nicht bewegte; man sehnt sich in ihr ja nach „etwas", das einen erfülle und bewege. Das in der Langeweile entdeckte Selbst ist also gekennzeichnet durch ein „nicht". Die Langeweile, die dem Menschen sein Selbst unverhüllt vor Augen stellt, enthüllt es als das nichtige Selbst. Die Nichtigkeit des Selbst hat aber noch einen tieferen Aspekt. Das Selbst ist nichtig nicht nur aus der Abgrenzung gegen mögliche Fülle und mögliche Bewegtheit, sondern noch in unmittelbarerer Weise. Dies zeigt sich, wenn man darauf achtet, daß die Stimmung der Langeweile von einer eigentümlich trostlosen Fahlheit und Schwere durchzogen ist. Daher stellt sie Pascal mit den Stimmungen der Trübe des menschlichen Daseins zusammen. Mit ihr vereint steigen „aus dem Grunde" der Seele auf „die Düsterkeit, die Traurigkeit, der Kummer, der Verdruß, die Verzweiflung" (131). Wird man der Möglichkeiten der Zerstreuung beraubt, so muß man „vor Langeweile austrocknen" (164). Man entdeckt, „daß man in einer unerträglichen Traurigkeit befangen ist, sobald man darauf beschränkt ist, sich (selber) zu betrachten und davon nicht abgelenkt zu sein" (164). Diese Traurigkeit in der Weite ihrer Schwingung, dieses „Gefühl (des) 34

beständigen Elends" (139), weist auf eine mit der Existenz des Menschen beständig verbundene, also mit dem Sein des Menschen gegebene Nichtigkeit hin. Daher gewahrt der Mensch in der Langeweile „sein Nichts, seine Verlassenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere" (131). Wieder fragt Pascal tiefer hinein in den Ursprung dieses Gefühles der Nichtigkeit. Was am Sein des Menschen ist es, das es bewirkt, daß er sich als nichtig erblickt, wenn er sich selber so sieht, wie er ohne Verhüllung ist? Und die Antwort lautet: er wird darin seiner Sterblichkeit ansichtig. Was die Langeweile zutiefst eröffnet, das ist „die Sicht auf den Tod und die Elendigkeiten" (139). Das Faktum des Todes war schon oben, in Abschnitt 4, als die Grenze aufgetaucht, die die Macht des Denkens findet. Jetzt zeigt sich in der Langeweile der Ort des unmittelbaren Wissens vom Tode; damit ist dieser nicht mehr nur als abstrakte Möglichkeit gesehen, sondern offenbart sich in seiner bedrängenden Nähe zum Menschen. Zugleich enthüllt er sich als das, was dem Dasein des Menschen nicht nur die äußerste Grenze setzt, sondern es in seinem faktischen Sosein durchherrscht, weil es sein Wesen bestimmt. Die Sterblichkeit offenbart sich ja gerade dann, wenn das Ich als es selbst, unverdeckt, sich begegnet. Und dies, daß der Mensch von seinem Wesen her rettungslos dem Tode ausgeliefert ist, macht es begreiflich, daß die Flucht vor sich selber im Grunde seines Herzens Wurzeln hat. Da er sich nicht „unsterblich machen kann, ist er darauf verfallen, es sich zu versagen, daran zu denken" (169). Und so entspringt all die Umtriebigkeit des menschlichen Daseins, in ihrer Tiefe betrachtet, aus „dem natürlichen Unglück unseres schwachen und sterblichen Zustandes, der so erbärmlich ist, daß nichts uns trösten kann, wenn wir es näher bedenken:: (139). Bringt man den jetzt gefundenen Seinscharakter des menschlichen Daseins auf den Begriff, so ist es die Endlichkeit, die sich hier in der Langeweile enthüllt. Um sie geht es in der Philosophie freilich nicht erst seit Pascal. Auch die christliche Philosophie des Mittelalters redet, wo sie vom Menschen spricht, von dem endlichen Wesen, dem ens finitum. Aber doch wird aus den Worten Pascals, mit denen er über die Endlichkeit spricht, ein bedeutsamer Unterschied zu jener Betrachtung spürbar. Dort ist die Endlichkeit ein am Menschen vorfmdlicher Tatbestand; hier wird danach gefragt, wie der Mensch seiner Endlichkeit ansichtig wird. Dort geht die Fragestellung darauf, den Menschen in seiner besonderen Seinsart von dem unendlichen Wesen abzugrenzen; hier ist die Endlichkeit die in der Suche nach sich selbst erblickte und erlittene Grundbestimmung der Existenz. Die Frage nach der Endlichkeit ist so, durch die Hinzu3·

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nähme des Blickes auf den Menschen in seiner faktischen Existenz, aus der bloßen ontologischen Problematik in den Bereich der existentiellen Wesensaussage verlegt. Damit hat sich nun auch der Widerstreit im Wesen des Menschen deutlicher offenbart. Zu Ende des Abschnittes 5 bestimmte er sich als der Widerspruch des Menschen und seiner faktischen Existenz. Jetzt zeigt sich, daß auch die Art der faktischen Existenz, wie sie sich in der Zerstreuung kundtut, ihre Wurzel im Wesen des Menschen hat, nämlich in seiner Endlichkeit. Der Widerstreit entspringt daraus, daß der Mensch zugleich dazu bestimmt ist, in der Macht des Denkens sich auf sich selber zu stellen, und daß er doch als endliches Wesen seiner selbst nicht mächtig, sondern dem Tode ausgeliefert ist. Endlichkeit eines denkenden Wesens, das ist es, worin sich zutiefst die Widersprüchlichkeit im Wesen des Menschen aussprechen läßt. Dies meint Pascal, wenn er von dem untrennbaren Ineinander von Größe und Elend im Menschen spricht. Der Mensch ist groß, sofern er verstehend das Seiende und sich selbst umgreift und im Denken sogar seiner eigenen Verohnmächtigung mächtig werden kann. Aber eben wenn er sich selber denkt, entdeckt er sein Elend, nämlich die Endlichkeit, die ihn im Grunde seines Daseins bestimmt. So wie er von seiner wesenhaften Bestimmung her groß ist, ebenso ist er von seinem Wesen her elend; so kann die Größe, die er erreichen kann, in nichts anderem bestehen, als in der Übernahme seiner grundhaften Nichtigkeit, im Ja-sagen zum Elend. Nur noch im paradoxen Ausdruck kann diese Verschränkung von Größe und Elend ausgesprochen werden. „Die Größe des Menschen ist darin groß, daß er sich als elend erkennt. Ein Baum erkennt sich nicht als elend. Das also heißt elend sein, sich als elend zu erkennen; aber es heißt groß sein, zu erkennen, daß man elend ist" (397).

7. D e r M e n s c h z w i s c h e n U n e n d l i c h k e i t

undNichts

Die Auslegung der „Pensees" Pascals ist auf die Endlichkeit als die Grundbestimmung des menschlichen Daseins gestoßen, wie sie verhüllt in der Zerstreuung und offenbar werdend in der Langeweile ihr Wesen treibt. Noch aber ist nur gesehen, daß sie faktisch den Menschen durchherrscht. Was sie von ihr selber her ist, und was sich von ihr aus für das Sein des Menschen ergibt, ist noch nicht deutlich geworden. Mit der Aufgabe, das Wesen des Menschen im Hinblick auf seine Endlichkeit zu begreifen, befaßt sich das umfangreiche Fragment 72; denn nur aus dieser Fragestellung heraus, und nicht, wenn man es als Bemühung um natur-

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wissenschaftliche Erkenntnis versteht, erschließt sich der eigentliche Sinn dieses viel mißdeuteten Fragments. 2 Zunächst freilich kann es so aussehen, als handle Pascal, zum mindesten im Beginn des Fragmentes, von der Natur. Aber wenn man genauer zusieht, entdeckt man, daß es auch dabei um den Menschen geht. Die Natur wird im Hinblick auf ihre Unendlichkeit befragt, um dagegen die spezifisch menschliche Endlichkeit abzuheben. Diesen Zusammenhang spricht der Beginn des Fragmentes deutlich aus. Es komme darauf an, daß der Mensch „einmal ernst und mit Muße über (die Natur) nachdenke, daß er ebenso sich selber betrachte und urteile, ob er irgend welches Verhältnis (proportion) mit ihr hat". 8 Die Natur ihrerseits wird in doppelter Richtung befragt: einmal im Hinblick auf die Totalität, also als das All; zum andern im Hinblick auf ihre innere Konstitution, auf den kleinsten Teil, aus dem sie sich aufbaut. Das Ganze und der kleinste Teil sind gleichsam die Grenzpunkte des Kosmos, zwischen denen der Mensch sich irgendwo befindet, und die Aufgabe ist, von diesen äußersten Enden her seine Stellung zu bestimmen. Die Frage nach der Ganzheit der Welt setzt bei der Betrachtung des sichtbaren Kosmos ein. Wie hier der Blick des Menschen von ihm selber als Mittelpunkt aus nach außen dringt, erscheint ihm die Erde „wie ein Punkt" im Vergleich mit der Bahn der Sonne. Aber er entdeckt, daß auch „diese weite Bahn selbst nur ein sehr feiner Punkt ist im Vergleich mit der, welche die Sterne umschreiben, die im Firmament kreisen". Ist damit der Bereich der Sichtbarkeit an seinem Ende angelangt, so ist doch noch nicht das Ganze der Welt gesichtet. „Diese ganze sichtbare Welt ist nur ein unmerklicher Strich im weiten Schöße der Natur". In der Suche nach dem All drängt die „Vorstellungskraft" immer weiter hinaus; aber „sie wird eher ermüden im Begreifen, als die Natur im Spenden". Denn wir erfassen nur das Endliche; das All aber ist unendlich; „keine Idee reicht daran heran". „Wir erkennen, daß es ein Unendliches gibt, und wissen nichts über seine Natur" (233). So ist das Ergebnis der Frage nach der Ganzheit der Welt, „daß unsere Einbildungskraft sich in diesem Gedanken verliert". Auch die zweite Frage, das Problem der inneren Konstitution der Welt, mündet in die Unbegreiflichkeit. Pascal setzt sie an als Suche nach dem kleinsten Baustein der Welt. Noch das winzigste Lebewesen — als Beispiel nennt Pascal die Milbe — hat Teile; aber auch das, was man als den * Soweit keine Zahlen angegeben sind, stammen die Zitate der Abschnitte 7 und 8 aus dem Fragment 72. 3 Zitiert nach der bei Brunschvicg in Anmerkung angeführten Textvariante. 37

kleinsten Teil des Kosmos ansehen könnte, das Atom, ist noch nicht die gesuchte unteilbare Einheit. Auch in ihm gibt es Teile, und selbst in einem solchen Teil, im „Inneren dieses Atombruchstückes", befindet sich noch „eine Unendlichkeit von Universen, deren jedes sein Firmament hat, seine Planeten, seine Erde, im selben Verhältnis wie die sichtbare Welt". So wird die Suche immer weiter gedrängt, „ohne Ende und ohne Ruhe". Die Frage nach dem kleinsten Teil der Welt geht ins Unendliche fort. Gäbe es ein Ende für diese Forschung, die bei keinem Seienden halt machen kann, dann könnte es nur das Nichts sein. Eben dieses aber kann sie, als unendliche, nicht erreichen, weil sie in ihm zuende wäre und sich damit widerspräche. Daher kann man zum Nichts „nicht vordringen". Und so gilt auch hier wieder, wie bei der Unendlichkeit des Alls, daß sich der Gedanke „in diesen Wundern verlieren" muß. In beiden Richtungen also scheitert die Frage nach der Natur. Am Ende bleibt nur die Unbegreiflicbkeit der „beiden Unendlichen", des Unendlichen „der Größe" und des Unendlichen „an Kleinheit1', oder der Unendlichkeit im eigentlichen Sinne und des Nichts. Denn auch das Nichts, das in allem Bemühen nicht erreicht werden kann, bezeichnet Pascal als „Unendliches"; es ist nichts anderes als das unendlich Kleine, das eben als unendlich Kleines kein Etwas mehr und also das Nichts ist. Läßt sich nun etwa von diesen beiden unbegreifbaren Endpunkten her das verstehen, was zwischen ihnen liegt, das Dasein des Menschen? Wird der Mensch in seiner endlichen Existenz begreiflich, wenn man ihn in die Mitte zwischen den beiden Unendlichkeiten gestellt sieht? Sieht der Mensch sich zum ersten im Horizont des unendlichen Alls, dann kann er sich nur betrachten, „als wäre er verirrt in diesen entlegenen Winkel der Natur". Angesichts der unendlichen Größe des Ganzen schrumpft ihm seine Existenz zu unendlicher Kleinheit zusammen und nähert sich dem Nichts. Er ist „nicht wahrnehmbar . . . im All, das selber unwahrnehmbar (ist) im Schöße des Ganzen". „Das Endliche vernichtet sich in Gegenwart des Unendlichen und wird zum reinen Nichts" (233). Erblickt er sich zum zweiten vor dem Hintergrund des im unendlichen Eindringen in das Seiende nie erreichbaren Nichts, dann sieht er seine Existenz zu unendlicher Größe aufgebläht. Er muß sich dann selber erscheinen als „ein Koloß, eine Welt, oder vielmehr ein Alles". Damit aber wird dem Menschen die eigene Existenz ebenso unbegreiflich wie das, im Hinblick worauf er sich zu verstehen versucht. Wie die Ganzheit der Welt in ihrer Unendlichkeit und die letzten Bestandteile des Seienden in ihrem Verfließen in das Nichts unfaßbar sind, so der Mensch, der zwischen diesen beiden Punkten, gleichsam den Horizonten seines Daseins, existiert. Er muß, je nach dem Gesichtspunkt, unter dem 38

er sich betrachtet, sich selber als unendlich groß und als unendlich klein erscheinen. Er ist „ein Nichts im Hinblick auf das Unendliche, ein Alles im Hinblick auf das Nichts", „eine Mitte zwischen Nichts und Allem". Und so ist er „für sich selber der wunderbarste Gegenstand der Natur". Das besagt aber für die leitende Frage: wird die Endlichkeit als Seinscharakter des Menschen im Horizont der doppelten Unendlichkeit der Natur betrachtet, so wird sie wie diese unbegreifbar. In ihrem zwiefachen Weggleiten ins Unendliche bietet die Welt keinen festen Punkt, von dem her der Mensch, der in ihr existiert, sich verstehen könnte. Denn „nichts kann das Endliche festbannen zwischen den beiden Unendlichen, die es umschließen und (die) es fliehen". „Das ist unser wahrer Stand im Dasein . . . Wir treiben dahin auf einer unermeßlichen Mitte, immer ungewiß und schwankend, von einem Ende zum anderen gestoßen. An welcher Grenze wir auch immer gedachten uns anzuheften und Halt zu gewinnen, sie wankt und läßt uns fahren; und wenn wir ihr folgen, entwindet sie sich unserem Zugriff, entgleitet uns und entflieht in einer ewigen Flucht". In diesem Zusammenhang begegnet zum erstenmal das Wort „Abgrund", „abime", das Leitwort der vorliegenden Untersuchung. Der Mensch, sagt Pascal, existiere „zwischen diesen beiden Abgründen des Unendlichen und des Nichts". Ihre Kennzeichnung als Abgründe dient dazu, den Schauder und den Schwindel auszudrücken, der den Menschen ergreift, wenn er in das All und in das Innere des Seienden blickt. ff Wer sich so betrachten wird, wird vor sich selber erschrecken, und wenn er sich betrachtet, als gehalten in der Masse, die die Natur ihm gegeben hat, zwischen diesen beiden Abgründen des Unendlichen und des Nichts, wird er im Anblick ihrer Wunder erzittern." Nimmt man diese Sätze in ihrem Wortlaut, dann zeigt sich: wovor der Mensch eigentlich erschauert, das sind nicht die Abgründe der doppelten Unendlichkeit der Welt, sondern das ist seine eigene Stellung inmitten dieser Abgründe. Er wird „vor sich selber erschrecken". Was zutiefst den Schauder erregt, ist das Faktum, daß der Mensch als endliches Wesen mitten in der unendlichen Welt existiert, es ist die vom Unendlichen um· faßte Endlichkeit. „Ich sehe von allen Seiten nur Unendlichkeiten, die mich umschließen wie ein Atom und wie ein Schatten, der nur einen Augenblick dauert, ohne Wiederkehr" (194). 1st es aber so zuletzt die Endlichkeit, die den Schrecken hervorruft, heißt das dann nicht, daß die Existenz des Menschen noch tiefer abgründig ist, als es die ihn umgebenden Abgründe des Unendlichen und des Nichts sind? 39

8. D i e der

Abgründigkeit

endlichen

Existenz

Die Frage, mit der der vorige Abschnitt Schloß, macht eine erneute Vertiefung der Problemstellung notwendig. Bisher war nur davon die Rede, daß der Mensch zwischen Unendlichkeit und Nichts mitten inne steht, und daß er in dieser seiner Mittelstellung keinen Halt finden kann. Dagegen ist noch nicht zur Sprache gekommen, wie er denn inmitten der beiden Abgründe existiert, welche Beziehung also sie zu ihm und er zu ihnen haben. In der Aufhellung dieses inneren Verhältnisses zwischen Existenz auf der einen, Unendlichkeit und Nichts auf der anderen Seite, müßte darüber Klarheit zu erlangen sein, ob der Mensch in seiner Endlichkeit mit Recht als das eigentlich Abgründige vermutet wurde. Die Erörterung auch dieser zweiten Ebene der Problematik findet sich wiederum vor allem im Fragment 72; die Verschlingung beider Fragestellungen ist es vorzüglich, die zu den Schwierigkeiten führt, denen das Verständnis dieses Fragmentes zu begegnen pflegt. Zunächst erweitert Pascal den Blick auf den Bereich, in dem sich der Mensch als Wesen der Mitte zeigt. Bis dahin war von ihm als leiblich Existierendem die Rede, der inmitten der Natur in ihrer doppelten Unendlichkeit steht. Dieselbe Mittelstellung kennzeichnet den Menschen auch in seiner geistigen Existenz. Auch hier ist er außerstande, die Extreme zu begreifen, und zwar ebenfalls aufgrund seiner Endlichkeit. „Unsere Einsicht steht in der Ordnung der intelligiblen Dinge auf derselben Stufe wie unser Leib in der Weite der Natur, In jeder Weise (sind wir) begrenzt; diese Verfassung, die die Mitte zwischen zwei Extremen hält, findet sich in all unseren Vermögen. Unsere Sinne nehmen nichts Extremes wahr: zuviel Lärm betäubt uns, zuviel Licht blendet, zuviel Ferne und zuviel Nähe hindern den Blick, zuviel Länge und zuviel Kürze verdunkeln die Rede, zuviel Wahrheit erstaunt uns . . . ; kurz, das Äußerste ist für uns, als ob es nicht wäre, und im Verhältnis zu ihm sind wir nicht: es entschlüpft uns oder wir (entschlüpfen) ihm." Pascal erweitert aber nicht nur den Bereich, in dem der Mensch seine Mittelstellung erfährt, über das Leibliche hinaus auf das Geistige, sondern er nimmt eine grundsätzliche Wendung in der Fragestellung vor. Bisher waren der Mensch und das ihn umgebende Seiende in ihrem bloßen Vorhandensein, innerhalb der Horizonte des Unendlichen und des Nichts, betrachtet worden. Jetzt erhebt sich die Frage, in welcher Weise denn Mensch und Seiendes in der Mitte stehen. Sind jene Horizonte gleichsam nur die äußersten, nie erreichbaren Endpunkte einer Linie, auf der sich das Sein, von ihnen unberührt, abspielt? Oder gibt es eine unmittelbarer 40

angehende und darum auch gefährdendere Beziehung des Menschen und des Seienden zu den beiden Abgründen, zwischen denen jene existieren? Im Rahmen dieser Fragestellung gibt Pascal eine neue, tiefere Deutung des Unendlichen und des Nichts sowie des Verhältnisses des Menschen zu ihnen. Sie sind nicht nur die Horizonte der Existenz des Menschen und des Seienden, sondern ragen tief hinein in das Dasein dessen, was existiert. Das Nichts ist nicht nur das äußerste, nie erreichbare Ziel des in das Innere der Natur eindringenden Forschens. Es ist vielmehr wesenhaft das, auf dessen Grunde alles ist, was existiert, woraus also alles Seiende, und so auch der Mensch, erwächst. Sein heißt Herkommen aus dem Nichts. Ebenso ist das All nicht nur das, was den Menschen und alles Seiende in unendlicher Weite umschließt. Indem diese zum Sein kamen, sind sie in eine Bewegung weg vom Nichts geraten. Und dieses Werden vom Nichts her bleibt, so wie Pascal es sieht, nicht unterwegs stehen. Das heißt: der Mensch und mit ihm alles Seiende drängen in ihrer Existenz vom Nichts her auf die Unendlichkeit des Ganzen zu. Sein heißt Zugehen auf das Unendliche. Der Mensch und alles endliche Seiende stehen also nicht bewegungslos inmitten der Horizonte des Nichts und des Unendlichen, sondern sie erwachsen aus dem Nichts und steigen auf bis zum Unendlichen, Nichts und Unendliches sind ihr Woher und ihr Wohin. Sein im Sinne des endlichen Seins heißt Herkommen aus dem Nichts und Zugehen auf das Unendliche. „Alle Dinge sind hervorgegangen aus dem Nichts und getragen bis an das Unendliche." Damit ist die Endlichkeit in einen größeren Reichtum der Aspekte getreten als bisher. Sie ist nicht nur, wie im Abschnitt 6, das dem Menschen in ausgezeichneten Augenblicken seines Daseins begegnende Faktum der Sterblichkeit. Sie ist auch nicht nur die am Menschen beobachtbare Ortlosigkeit inmitten der Unendlichkeiten, von der der vorige Abschnitt sprach. Beide Aspekte der Endlichkeit vielmehr, die bedrohliche Nähe zum Menschen und die Bestimmtheit des Daseins durch die Sterblichkeit, haben sich vereinigt. Die Endlichkeit hat sich in der ihm eigenen Geschichte, in seinem Herkommen und Hingehen, als innerer Wesenszug des Menschen, als Element seines Seins, enthüllt. Erwachsen aber so der Mensch und mit ihm alles endliche Seiende aus dem Nichts und streben sie hin zum Unendlichen, und sind weiterhin Nichts und Unendliches unbegreiflich, dann wird auch das Endliche selber, in radikalerem Sinne, als dies bisher erschien, unbegreiflich. Denn nun zeigt sich, daß es nicht nur vom Unendlichen und vom Nichts um· 41

geben ist, sondern daß es diese unerfaßbaren Grenzen als seine eigene Herkunft und sein eigenes Ziel in sich selber trägt. Dem Menschen bleibt daher dem Endlichen gegenüber nur die Verzweiflung am Erkennen. „Unendlich entfernt davon, die Extreme zu begreifen, sind ihm das Ende der Dinge und ihre Ursprünge unüberwindlich verborgen in einem undurchdringlichen Geheimnis . . . Was bleibt ihm also zu tun, außer etwa einen Schein von der Mitte der Dinge wahrzunehmen, in einer ewigen Verzweiflung, weder ihren Ursprung noch ihr Ziel zu erkennen?" Und so ist auch der Mensch in seinem Woher und seinem Wohin rätselhaft. Er ist „gleichermaßen unfähig, d u Nichts zu sehen, aus dem er gezogen, und das Unendliche, in das er verschlungen ist". Der Gang des Seienden vom Nichts zum Unendlichen, diese innere Geschichte des Seins, ist unbegreiflich. „Wer wird diesen erstaunlichen Schritten folgen?" Das könnte nur ein unendlicher Geist; das endliche Verstehen aber versagt vor dieser Aufgabe. „(Nur) der Urheber dieser Wunder begreift sie. Kein anderer vermag es." So gerät der Mensch für die Frage nach seinem Wesen immer tiefer in die Rätselhaftigkeit hinein. War es zuerst der Widerstreit zwischen dem denkenden Wesen des Menschen und seiner faktischen Existenz, was ihn für sich selber unbegreiflich machte, zerschellte sodann das Verstehen an dem Faktum der Sterblichkeit, und war er schließlich um seiner Stellung inmitten der ungreifbaren Unendlichkeiten willen selber unfaßbar, so scheitert jetzt die Erkenntnis an der Verborgenheit des Woher und des Wohin. Nun zeigt sich, daß die Existenz vom Grunde ihrer Endlichkeit her in ihr selber erzittert. Sie verhält sich zu den Äbgründen nicht nur als zu dem, was sie umgibt, sondern als zu dem, was sie vom Ursprung und vom Ziele her bestimmt. Sie ist selber zuinnerst abgründig. Der Abgrund ist nicht nur das, was als äußerste Möglichkeit das Dasein des Menschen bedroht und ins Schaudern bringt; er ist die Wirklichkeit, auf der der Mensch steht. Die Grundlosigkeit ist der eigentliche Grund, die Bodenlosigkeit der eigentliche Boden der Existenz. Menschsein heißt Sein über dem Abgrund. „Wir brennen vor Begier, einen festen Stand und eine letzte, beständige Grundlage zu finden, um darauf einen Turm zu erbauen, der sich ins Unendliche erhebe; aber unser ganzes Fundament birst, und die Erde öffnet sich bis zu den Äbgründen." 9. D i e E i n b i l d u n g u n d d a s L e i d e n an d e r E n d l i c h k e i t Von dem nunmehr gewonnenen Aspekt auf das Sein des Menschen her enthüllt nun auch die faktische Existenz ihre eigentliche Hintergründig42

keit. Von ihr war in den Abschnitten 5 und 6 die Rede; sie hatte sich dort als Zerstreuung und als Flucht vor dem Anblick der eigenen Sterblichkeit gezeigt. Jetzt, aus der Sicht auf die innere Abgründigkeit des menschlichen Daseins, wird deutlich: die scheinbare Sorglosigkeit des Menschen in seinem alltäglichen Tun und Treiben ist Flucht in vorwändiges Tun, das, geboren aus der Angst vor der Abgründigkeit, um so sicherer auf den Abgrund zutaumelt. „Wir rennen sorglos in den Abgrund, nachdem wir irgend etwas vor uns hingestellt haben, das uns daran hindern soll, ihn zu sehen" (183). Es gehört also zum Menschen, daß er sich den Blick auf die Abgründigkeit durch etwas verstellt, was er vor sich hinstellt, durch eine „Vorstellung". Pascal bezeichnet diesen Vorgang durch den Ausdruck „imagination". Er bedeutet sowohl Einbildung wie Einbildungskraft, und ist als Charakteristikum des menschlichen Daseins in einem weiten Sinne zu verstehen; „imagination" will also nicht besagen, daß der Mensch sich auf dies oder jenes etwas einbildet, oder daß er eingebildet ist, sondern daß er sich etwas vormacht, daß er sich die Wirklichkeit und sein eigenes Wesen anders vorspiegelt, als sie tatsächlich sind. In ihr sieht Pascal die Wurzel für alles Meinen des Menschen. Sie „macht, daß man glaubt, daß man zweifelt, daß man die Vernunft leugnet; sie setzt die Sinne außer Kraft, sie setzt sie in Tätigkeit"; „sie kann den Wert der Dinge bestimmen". „Die Einbildung verfügt über alles; sie macht die Schönheit, die Gerechtigkeit und das Glück, das für die Welt alles ist". So herrscht diese „Feindin der Vernunft" über den Menschen als „stolze Macht", und ist die „Herrin der Welt" (82). Neben ihr zählt Pascal noch weitere „trügerische Mächte" (83) auf: das „Vorurteil" (98), die „Gewohnheit" (89), die „altvertrauten Eindrücke", die „Reize der Neuheit", die „Krankheiten" (82), die „Eitelkeit" (150), den „eigenen Vorteil" (82), die „Eigenliebe", die „einen tödlichen Haß" gegen die Wahrheit erzeugt (100). Sie alle helfen mit, den Menschen in die Täuschung hineinzuführen. Welche bestimmte Gestalt bei dem einzelnen Menschen die Einbildung annehme, mag durch Willkür oder Tradition bestimmt sein. Nicht willkürlich aber ist, daß er unter der Herrschaft der Einbildung und der trügerischen Mächte überhaupt steht. Dies gehört vielmehr zum Menschen als solchem; solange er lebt, ist er ständig in der Täuschung. Daher spricht Pascal von einem „notwendigen Irrtum" (82). Die Einbildung ist gleichsam eine zweite Schicht im menschlichen Dasein, die sich über dieses in seiner Ursprünglichkeit gelegt hat; sie „hat im Menschen eine zweite Natur gestiftet" (82). Weil die Täuschung das Dasein des Menschen allgemein durch43

herrscht, kennzeichnet Pascal dieses in seinem ganzen Umfang als bestimmt durch die Lüge. „So ist das menschliche Leben nichts als eine beständige Illusion . . . Der Mensch ist also nur Verstellung, Lüge und Heuchelei, sowohl in sich selber als auch den amiern gegenüber" (100). „Wir sind nur Lüge, Doppelzüngigkeit, Widerspruch, und wir verbergen und vermummen uns vor uns selber" (377). Die „zweite Natur" hat das ursprüngliche Wesen des Menschen so vollständig verdeckt, daß eine grundsätzliche Verkehrung stattgefunden hat, so sehr, daß dem Menschen, so wie er faktisch existiert, die Wendung zum eigentlichen Wesen, wenn einer sie vollzöge, ihrerseits als eine Verkehrung, als eine Art von Verrücktheit, erscheinen müßte. „Die Menschen sind so notwendig verrückt, daß es, in einer anderen Art von Verrücktheit, verrückt sein hieße, nicht verrückt zu sein" (414). Das Wesentliche an der mit der Existenz des Menschen gegebenen Täuschung ist, daß dieser sich darin aus der Erkenntnis seiner Situation wegschleicht. Es ist die Unerträglichkeit seines je gegenwärtigen Daseins, die ihn die verbergenden Bilder der Illusion vor sich hinstellen läßt. Er will nicht das sein, was er ist, will nicht die eigene Wirklichkeit in ihrer Härte nüchtern übernehmen. „Wir halten uns niemals an die Gegenwart. Wir nehmen die Zukunft vorweg, als käme sie zu langsam, als müßten wir ihren Gang beschleunigen; oder wir rufen die Vergangenheit zurück, um sie anzuhalten, als (entschwände sie) zu jäh: so töricht (sind wir), daß wir in den Zeiten umherirren, die nicht unser sind, und nicht an die einzige denken, die uns gehört; und so eitel (sind wir), daß wir an die denken, die nichts sind, und ohne Überlegung der einzigen entfliehen, die existiert" (172). Warum aber ist der Mensch dergestalt in seine „zweite Natur", das Sein in der Täuschung, geraten? Woraus entspringt diese „trügerische Fähigkeit" der Einbildung? Auch hier radikalisiert Pascal das Problem, indem er es in die Richtung auf die Frage nach dem Ursprung drängt. Denn „alle diese Neigungen, so entfernt von der . . . Vernunft, haben eine natürliche Wurzel im Herzen (des Menschen)" (100). Die Antwort gibt die Fortsetzung des eben angeführten Fragmentes 172: „So tun wir, weil die Gegenwart uns gemeinhin verletzt. Wir verbergen sie vor unserem Blick, weil sie uns quält; und wenn sie uns angenehm ist, beklagen wir es, sie entfliehen zu sehen." So ist die eigentliche Wurzel der Einbildung und der ihr verwandten Vermögen, daß man in ihnen vor dem Verletzenden und Quälenden der Situation flieht und in der Illusion des Glückes habhaft zu werden trachtet. Die Einbildung erfüllt „die, welche sie beherbergen, mit . . . Befriedigung". Sie „kann die Narren nicht weise machen, aber sie macht sie glücklich" (82). 44

Solches aus der Einbildung erwachsende Glück ist freilich nur scheinhaft, Aus dem Wegschleichen aus der Situation kann nicht die wahre Befriedigung erwachsen. Das Fragment 172 schließt: „So leben wir nie, sondern wir hoffen zu leben; und während wir uns immer dazu bereiten, glücklich zu sein, ist es unvermeidlich, daß wir es niemals sind." Und doch kann dieses Streben nach dem Glück den eigentlichen Grund der ständigen Täuschung des menschlichen Daseins aufdecken. Wie der Mensch in die Zerstreuung flieht, um seiner eigenen Sterblichkeit nicht ansichtig zu sein, so gerät er auch in die Einbildung, um dem Anblick der Endlichkeit zu entgehen, der ihn dem Unglück und der Trostlosigkeit ausliefern müßte. „Wir suchen das Glück und finden nur Elend und Tod" (437). Die wahre Wurzel des Seins in der Täuschung ist, daß der Mensch zutiefst bestimmt ist durch das Leiden an der Endlichkeit. 10. D i e

Suche nach der W a h r h e i t und die U n g e w i ß h e i t

Gibt es aber für den Menschen keine andere Möglichkeit, dem Leiden an der Endlichkeit zu begegnen, als die Flucht in Zerstreuung und täuschende Einbildung? Gibt es nicht auch das entschlossene Aushalten des Anblickes der Endlichkeit, die illusionslose Begegnung mit dem eigenen Wesen, die ernstliche Suche nach der Wahrheit? Und müßte sich hierin nicht der Sinn des Philosophierens erfüllen? Daß es diese Möglichkeit gibt, leugnet Pascal nicht; seine eigenen Bemühungen im Bereich des Philosophierens gehen ja dahin, die Wahrheit über das Wesen des Menschen zu finden. Aber eben diese seine Versuche, soweit sie bisher verfolgt wurden, zeigen: ihr Ende ist die Einsicht in die radikale Unmöglichkeit eines gewissen Wissens. Der Mensch, so wie Pascal ihn sieht, existiert von seinem Grunde her in der Ungewißheit; hin- und hergetrieben zwischen Wissen und Nicht-Wissen, ist er „unfähig . . . , sicher zu wissen und schlechthin unwissend zu sein" (72). Und dies gilt auch und gerade für die ausdrückliche Frage nach der Wahrheit. „Wir wünschen die Wahrheit und finden in uns nur Ungewißheit" (437). Die Wurzel dieser grundsätzlichen Unfähigkeit, der Wahrheit habhaft zu werden, ist die Endlichkeit. Deren Begriff tritt damit unter einen neuen Aspekt. Im Abschnitt 6 war die Endlichkeit als Sterblichkeit offenbar geworden. Der Abschnitt 7 hatte sie in ihrem Gegensatz zu den sie umgebenden beiden Unendlichkeiten der Natur gezeigt. In Abschnitt 8 schließlich war sie als das Unterwegssein zwischen dem Nichts als dem Ursprung und dem Unendlichen als dem Ziel des menschlichen Daseins 45

sichtbar geworden. In allen drei Hinsichten war von der Endlichkeit als dem Grundcharakter des menschlichen Seins die Rede gewesen. Jetzt zeigt sich: sie ist auch das entscheidende Wesensmerkmal der mensch· liehen Erkenntnis. Der Mensch kann nicht nur darum sich nicht begreifen, weil er, der Gegenstand dieses Versuches des Erkennens, endlich ist, sondern auch, weil das Erfassen selber von endlicher Art ist. Darum kann es weder das Nichts noch das Unendliche und ebensowenig das Selbst, das von diesen beiden her sich bestimmt, begreifen. „Es bedarf keiner geringeren Fassungskraft, um bis zum Nichts, als um bis zum All zu gelangen; für beide müßte (diese) unendlich sein" (72). Aber die Endlichkeit des menschlichen Erkennens entspringt selbst wiederum aus der Endlichkeit des menschlichen Seins. „Erkennen wir daher unser wahres Gewicht: wir sind etwas und sind nicht alles (das heißt, wir sind endlich); das, was wir an Sein haben {daß wir also in endlicher Weise sind und nicht nichts sind), beraubt uns der Erkenntnis der ersten Prinzipien (Pascal versteht diese in scholastisch-realistischer Auffassung als das, was ursprünglicher ist als die Dinge und daher auch näher am Nichts, dem Ursprung des Seienden, steht); und das Wenige an Sein, das wir haben (daß wir also in endlicher und nicht in absoluter Weise sind), verdeckt uns den Ausblick auf das Unendliche" (72). Pascal zeigt die aus der Endlichkeit entspringende grundsätzliche Unfähigkeit des Menschen, die Wahrheit zu erreichen, an den beiden Vermögen, mit deren Hilfe der Mensch die Welt und sich selber zu erfassen meint, an den Sinnen und an der Vernunft. Jede dieser beiden Fähigkeiten in ihrer besonderen Wesensart, und insbesondere der Widerstreit, in dem sie sich miteinander befinden, „der Krieg . . . zwischen den Sinnen und der Vernunft" (82), machen es unmöglich, zu sicherem Wissen zu gelangen. „Der Mensch ist nichts als ein Wesen voller Irrtum, der natürlich und . . . unaustilgbar ist. Nichts zeigt ihm die Wahrheit. Alles täuscht ihn: diese beiden Prinzipien der Wahrheit, die Vernunft und die Sinne: außer dem, daß jedem die Aufrichtigkeit mangelt, betrügen sie einander (auch noch) gegenseitig. Die Sinne täuschen die Vernunft durch Trugbilder; und diesen selben Betrug, den sie an der Vernunft ausüben, erleiden sie ihrerseits von dieser: sie rächt sich an ihnen. Die Leidenschaften der Seele verwirren die Sinne und schaffen ihnen falsche Eindrücke. Sie lügen und betrügen sich um die Wette" (83). Und so sagt Pascal schließlich mit bitterer Ironie: „so gelungen ist also der Mensch verfertigt, daß er kein rechtes Prinzip des Wahren und mehrere vorzügliche des Falschen hat" (82). Aber unwissend zu sein ist nicht nur ein natürlicher Wesenszug des Menschen, sondern auch das Ende aller entschlossenen Bemühung um 46

die Wahrheit. „Die Wissenschaften haben zwei Extreme, die sich berühren; das erste ist die reine natürliche Unwissenheit, in der sich alle Menschen bei ihrer Geburt befinden; das andere Extrem ist die (Unwissenheit), zu der die großen Seelen gelangen, die, nachdem sie alles durchlaufen haben, was die Menschen wissen können, entdecken, daß sie nichts wissen, und sich in der gleichen Unwissenheit wiederfinden, von der sie ausgegangen waren; aber das ist eine wissende Unwissenheit, die sich erkennt" (327). Endet aber so die mutige Abkehr von jeglicher Verstellung der offenen Sicht und die entschlossene Suche nach der Wahrheit nirgends anders als in der Unwissenheit, muß dann nicht die Skepsis das Ergebnis auch aller philosophischen Bemühung um den Menschen sein? Und wäre so das letzte Wort, das Pascal über den Menschen zu sagen hat, dies, daß er „an monstre incomprehensible", „ein unbegreifliches Ungeheuer" (420) ist? 11. D e r

W i d e r s p r u c h als das des P h i l o s o p h i e r e n s

Ende

Pascal nimmt die Bedrohung der philosophischen Bemühungen durch die Skepsis ernst. In einer Anzahl von Fragmenten läßt er die Argumente der Skeptiker, die er, in Anlehnung an eine antike Philosophenschule, als „pyrrhoniens" bezeichnet, und der „dogmatistes" gegeneinander auftreten. Von dem dramatischen Streit zwischen beiden Standpunkten spricht insbesondere das Fragment 434. 4 Die Überzeugung der „Mehrzahl der Menschen" läßt sich bereits durch diejenigen skeptischen Argumente erschüttern, die aus der Tatsache stammen, daß unsere Ansichten durch „Gewohnheit", durch „Erziehung" und durch „Landessitten" weitgehend bestimmt sind. Aber hinter diesen vordergründigen Auseinandersetzungen sieht Pascal den eigentlichen Kampf da entbrennen, wo es um die Frage nach der Wahrheit der „Prinzipien" geht. Diese Prinzipien, so wie Pascal sie versteht, erstrecken sich' sowohl auf das Sein und das Erkennen des Seins (Zeit, Raum, Bewegung, Zahl), als auch auf das Handeln (das Gute). Im Hinblick auf sie lautet die Behauptung der Dogmatisten, „daß wir sie auf natürliche Weise in uns fühlen", daß man also, „wenn man guten Glaubens und aufrichtig spricht, nicht an den natürlichen Prinzipien zweifeln kann". Demgegenüber wenden die Skeptiker ein, daß „dieses natürliche Gefühl kein überzeugender Beweis für ihre Wahrheit" sei, daß wir demnach im Hinblick auf die Prinzipien „keinerlei Gewißheit" haben. Pascal führt 4 Soweit keine besondere Fragmentzahl angefügt ist, stammen die Zitate dieses Abschnitts aus dem Fragment 434.

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zwei skeptische Argumente an, von denen in ähnlicher Weise auch Descartes in seinen „Meditationes" bei der Destruktion der natürlichen Gewißheit im radikalen Zweifel Gebrauch gemacht hat. Das eine stützt sich darauf, daß man im Schlafe dieselbe unmittelbare Überzeugung von der Wahrheit des Geträumten hat, wie im Wachen von der Wahrheit des Gesehenen, so daß also Schlaf und Wachen im Hinblick auf Gewißheit letztlich nicht unterscheidbar sind. Das andere Argument geht tiefer. Es verankert die Frage nach der Gewißheit der Prinzipien im Problem der Geschöpflichkeit, geht also in die Dimension des Ursprunges des Menschen zurück. Dieser kann nur dann der Wahrheit der Prinzipien gewiß sein, wenn er überzeugt sein kann, von einem Gott geschaffen zu sein, dessen Wille es war, ihn in die Wahrheit zu setzen. Da wir aber außerhalb des Glaubens keine Gewißheit darüber haben, ob der Mensch von einem guten Gott, von einem bösen Dämon oder aufs Geratewohl geschaffen wurde, ist es zweifelhaft, ob diese Prinzipien uns als wahre, als falsche oder als ungewisse, je nach unserem Ursprung, gegeben sind". Die Berufung der Dogmatisten auf die natürliche Gewißheit ist solange nicht stichhaltig, als der Mensch seines Ursprunges nicht gewiß ist, da „die Ungewißheit unseres Ursprunges . . . die unserer Natur einschließt". In diesem Streit zwischen Dogmatisten und Skeptikern geht es, so wie Pascal ihn sieht, zuletzt um die Frage, ob man eher der „raison" — dem reflektierenden Verstände — oder der „nature" — der im geschaffenen Wesen des Menschen wurzelnden Gewißheit — vertrauen solle. So entstammen die Einwürfe der Skeptiker gegen den Dogmatismus der vernünftigen Reflexion: „die Vernunft verwirrt die Dogmatisten". Ihre Behauptungen halten der kritischen Überprüfung nicht stand. Aber auch der Standpunkt des Skeptikers ist innerlich unterhöhlt. Es gibt nämlich einen Punkt, den dieser mit all seiner zweifelnden Destruktion nicht erschüttern kann; das ist, wie Pascal in Übereinstimmung mit Descartes sagt, die Gewißheit, die der Mensch von der Tatsache seines Existierens hat. „Wird er an allem zweifeln? . . . Wird er zweifeln, ob er zweifelt? Wird er zweifeln, ob er existiert? Bis dahin kann man nicht gelangen". Wie sich also oben zeigte, daß die Vernunft den dogmatischen Standpunkt untergräbt, so gilt hier: „Die Natur verwirrt die Skeptiker". Die Skepsis kann nie wirklich radikal werden: „ich behaupte, daß es niemals einen wirklichen vollkommenen Skeptiker gegeben hat". Schlägt hier im Grunde der Skepsis nun doch so etwas wie eine natürliche Gewißheit Wurzel? Aber deren Rolle erschöpft sich für Pascal im Negativen. Sie kann nicht selber zum Standpunkt werden; diese unmittelbare Selbstgewißheit hat nicht, wie bei Descartes, die Kraft, als „funda48

mentum inconcussum" den Neuaufbau des Systems der Gewißheiten zu tragen; denn für einen solchen gediegenen Besitz kann der Dogmatismus im unterhöhlten Vertrauen in die Natur „keinen Rechtstitel" aufweisen. Der Hinweis auf die letzte Gewißheit der Existenz dient vielmehr für Pascal lediglich dazu, die Skepsis zu erschüttern, zu zeigen, „daß es nicht gewiß ist, daß alles ungewiß ist" (387). Er verhindert die Skepsis daran, selber zum verhärteten Standpunkt zu werden, und enthüllt, daß diese „in einer zweideutigen Zweideutigkeit und in einer gewissen zweifelhaften Dunkelheit" (392) lebt. So gibt es für den Menschen in der Frage nach der Gewißheit weder die dogmatische Behauptung noch die skeptische Auflösung als mögliche Standpunkte, sondern nur das Umschlagen von der Skepsis in das Dogma und vom Dogma in die Skepsis. Der Streit zwischen ihnen dauert, „seit die Welt steht". Versucht man, sich in der natürlichen Gewißheit zu verwurzeln, so entdeckt man, daß sie innerlich erschüttert ist; und stellt man sich andererseits auf den Standpunkt der Skepsis, so zeigt sich auch diese als unhaltbar. So kann man „keiner dieser Sekten entgehen, noch in einer bestehen". Und doch gibt es auch nicht die Möglichkeit der Unentschiedenheit. Denn es „ist der Krieg zwischen den Menschen eröffnet, in dem jeder Partei ergreifen und sich notwendigerweise entweder zum Dogmatismus oder zum Skeptizismus schlagen muß". Man kann aus dieser Alternative nicht heraustreten, „denn wer neutral zu bleiben gedenkt, wird recht eigentlich Skeptiker sein". Und so bleibt die unentwirrbare Verschlungenheit von Gewißheit und Ungewißheit die tatsächliche Lage des Menschen. „Jegliches Ding ist hienieden zum Teil wahr, zum Teil falsch . •. Wir haben sowohl Wahres wie Gutes nur teilweise und vermischt mit Schlechtem und Falschem" (385). Damit stößt die Untersuchung wiederum auf die innere Widersprüchlichkeit im Wesen des Menschen. Diese hatte sich bisher gezeigt als ohnmächtige Macht des Denkens (Abschnitt 4), als Widerstreit zwischen Wesen und Wirklichkeit (Abschnitt 5), zwischen Größe und Elend des Menschen (Abschnitt 6), als Unbegreiflichkeit der endlichen Existenz zwischen Nichts und Unendlichkeit (Abschnitt 7) und in der Rätselhaftigkeit ihres Ursprunges und ihres Zieles (Abschnitt 8), und schließlich als Gegensatz zwischen der Suche nach der Wahrheit und der Ungewißheit (Abschnitt 10). Jetzt wird diese Verzweiflung an der Möglichkeit, daß der Mensch sich selber begreife, mit unmittelbaren Worten ausgesprochen: er ist für sich selber nur als Widerspruch verständlich. „Erkenne also, du Stolzer, was für ein Paradox du für dich selber bist." Pascal endet mit leidenschaftlichen Ausrufen über diese heillose Zwiespältigkeit 49 4 Weisdiedel

im Innern des Menschen: M Was für eine Chimäre ist also der Mensch! Was für eine Novität, was für ein Monstrum, was für ein Chaos, was für ein Subjekt des Widerspruches, was für ein Wunderl Richter aller Dinge, einfältiger Erdenwurm; Verwalter des Wahren, Kloake der Ungewißheit und des Irrtums; Glanz und Auswurf des Alls". 12. D a s u n e n d l i c h e und das P r o b l e m der

Anliegen Endlichkeit

Die philosophische Frage nach dem Menschen endet im Absturz in die Ungewißheit, „in undurchdringlichen Finsternissen" (194).5 So läßt Pascal den Suchenden am Ende seiner Bemühung um Gewißheit sagen: „Ich weiß nicht, wer mich in die Welt gesetzt hat, noch was die Welt ist, noch was ich selber bin; ich bin in einer schrecklichen Ungewißheit über alle Dinge; ich weiß nicht, was das ist: mein Leib, meine Sinne, meine Seele, und selbst jener Teil von mir, der denkt, was ich sage, der über alles und über sich selber nachdenkt und sich nicht besser erkennt als das Übrige". „Ich sehe ringsum nur Dunkelheiten" (227). Es könnte naheliegen, aus solcher Vergeblichkeit der philosophischen Bemühung die Konsequenz einer müden Resignation zu ziehen, sich, im Wissen um die grundsätzliche Ungewißheit, befriedet in den Endlichkeiten herumzutreiben und die letzten Fragen des Daseins dahingestellt sein zu lassen. Pascal wendet sich in beschwörenden Worten gegen eine solche Haltung: „Wenn ich die Verblendung und das Elend des Menschen sehe, wenn ich das ganze stumme All betrachte und den Menschen ohne Licht, sich selbst überlassen und wie verirrt in diesen Winkel des Alls, ohne zu wissen, wer ihn da hingestellt hat, wozu er dahin gekommen ist, was er werden wird, wenn er stirbt, unfähig jeder Erkenntnis, — dann gerate ich in Entsetzen, wie ein Mensch, den man schlafend auf eine verlassene und schreckliche Insel gebracht hätte, und der erwachte, ohne zu erkennen, wo er ist, und ohne Möglichkeit, von dort zu entkommen. Und überdies wundere ich mich, wie man über eine so erbärmliche Lage nicht in Verzweiflung gerät" (693). Daß Pascal hier das Wort „Verzweiflung" gebraucht, zeigt an: es geht in der Frage nach der letzten Gewißheit nicht um irgendwelche mehr oder minder wichtigen Geschehnisse im Dasein des Menschen, sondern um dieses selbst. Es handelt sich dabei für die Menschen „um sie selber . . . , um ihre Ewigkeit, um ihr Alles". Diese Frage zu stellen ist daher „unser 5 Soweit nicht besonders bemerkt, stammen die Zitate dieses Abschnitts aus dem Fragment 194.

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erstes Anliegen und unsere erste Pflicht"; der Verzicht auf sie wäre „eine Ungeheuerlichkeit". Um das Ganze des menschlichen Daseins geht es da, wo dieses als Ganzes bedroht ist. Was aber die Existenz als ganze bedroht, ist der Tod. Daß also die bekümmerte Frage des Menschen nach sich selber nicht in der Lautlosigkeit der Resignation zur Ruhe kommt, geschieht um seiner Endlichkeit willen. Es ist die verzweifelte Wirklichkeit der menschlichen Existenz, daß sie wie ein „Schatten" ist, „der nur einen Augenblick dauert, ohne Wiederkehr". „Es gibt nichts Wirklicheres als dies, und nichts Schrecklicheres. Spielen wir, soviel wir wollen, die Tapferen: das ist das Ende, welches das schönste Leben der Welt erwartet". „Der letzte Akt ist blutig, wie schön auch die Komödie in allem Übrigen sei: man wirft zuletzt Erde auf den Kopf, — und damit aus für immer" (210). So zeigt sich auch hier, bei der Frage nach der Gewißheit, wiederum: für Pascal ist die Existenz des Menschen entscheidend durch das Faktum der Endlichkeit und des Todes bestimmt. „Man stelle sich eine Anzahl von Menschen vor, in Ketten und alle zum Tode verurteilt, von denen alle Tage einige vor den Augen der anderen erwürgt werden; die übrigbleiben, erblicken ihre eigene Lage in der ihrer Mitgefangenen, schauen einander mit Schmerz und ohne Hoffnung an und warten, bis die Reihe an sie (selber) kommt. Das ist das Bild vom Dasein des Menschen" (199). Bis in das einzelne Tun und Handeln hinein ist der Mensch durch den Tod bestimmt; was er faktisch treibt, entscheidet sich von seiner Haltung zum Ende her. „Komisch sind wir, daß wir uns in der Gesellschaft von unseresgleichen ausruhen; elend wie wir, ohnmächtig wie wir: sie werden uns nicht helfen; man wird allein sterben. Man muß also tun, als wäre man allein; und würde man dann prächtige Häuser bauen usw.? Man würde ohne Zögern die Wahrheit suchen" (211). Wenn man freilich genauer zusieht, ist es nicht das bloße Faktum des Endes, das den Menschen in die bekümmerte Frage nach der letzten Gewißheit wirft. Dieser Tatsache gegenüber könnte er in der Gleichgültigkeit verharren; faktisch begibt er sich ja auch ständig davor auf die Flucht in Zerstreuung und Einbildung. Was vielmehr diese Frage zu einer so dringlichen Angelegenheit macht, ist, daß der Tod selber innerlich rätselhaft ist. „Alles, was ich weiß, ist, daß ich bald sterben muß; aber was ich am wenigsten weiß, das ist dieser Tod selber, dem ich nicht zu entgehen vermag". Fraglich am Tode ist es, welche Art von Ende er für das Dasein des Menschen bedeutet: ob mit ihm alles aus ist, oder ob er bloß der Durchgang zu einer andern Form des Daseins ist. „Wir bedürfen keiner 4·

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sonderlich erhabenen Seele, um zu begreifen, . . . daß uns schließlich der Tod, der uns in jedem Augenblick bedroht, in wenig Jahren unfehlbar in die entsetzliche Notwendigkeit versetzen wird, auf ewig vernichtet oder unglücklich zu sein". Diese Alternative vorzüglich bestimmt die Existenz in ihren Entscheidungen. „Denn es ist unzweifelhaft, daß die Zeit dieses Lebens nur einen Augenblick währt, daß der Zustand des Todes ewig ist, von welcher Natur er auch sein mag, und daß so all unsere Handlungen und Gedanken je nach der Seinsart dieser Ewigkeit so verschiedene Wege einschlagen müssen, daß es unmöglich ist, mit Verstand und Urteil einen Schritt zu tun, ohne ihn nach der Wahrheit über diesen Punkt einzurichten, der unser letztes Ziel sein soll" (195). Aber eben dies ist das eigentlich Ungewisse. „Wie ich nicht weiß, woher ich komme, so weiß ich auch nicht, wohin ich gehe; und ich weiß nur, daß ich, wenn ich aus dieser Welt gehe, für immer entweder in das Nichts oder in die Hände eines erzürnten Gottes falle, ohne zu wissen, welche dieser beiden Möglichkeiten ewiglich mein Teil sein wird. So ist mein Stand im Dasein (etat), voller Schwachheit und Ungewißheit". Damit ist die Frage nach der Endlichkeit, so wie Pascal sie sieht, in ihre eigentliche Problematik eingetreten. Bisher wurde, ausgehend von Pascals Interpretation des Daseins des Menschen, die Endlichkeit als dessen Grundbestimmung herausgestellt. Jetzt dagegen wird der Sinn der Endlichkeit selber fraglich. Es geht nunmehr darum, festzustellen, was sie von sich selber her ist, ob sie in radikalem Sinne Endlichkeit oder doch nur das Vorspiel für ein unendliches und ewiges Dasein ist. Was also zuletzt in die philosophische Frage nach sich selber treibt, ist das Rätsel der Unsterblichkeit. Um seinetwillen gibt es keine „Ruhe in dieser Unwissenheit" (195). „Die Unsterblichkeit der Seele ist etwas, das uns so stark angeht, das uns so tief berührt, daß man jedes Gefühl verloren haben muß, wenn es einem gleichgültig ist, zu wissen, was es damit auf sich hat". Nichts ist für den Menschen „so bedrohlich wie die Ewigkeit". Daher kann ich mich nicht „lässig zum Tode führen lassen, in der Ungewißheit über die Ewigkeit meines künftigen Beschaffenseins". Darum ist es vielmehr „eine unerläßliche Pflicht, zu suchen, wenn man in diesem Zweifel ist". Das Ergebnis der bisherigen Untersuchung ist seltsam. Indem die Frage nach dem Wesen des Menschen als philosophische versucht, diesen aus ihm selber heraus zu begreifen, scheitert sie an der Endlichkeit und mündet ein in die radikale Ungewißheit. Aber eben aus dieser selben Endlichkeit und aus der Bekümmerung um ihren Sinn erwächst dem Menschen die Dringlichkeit, die Frage nach sich selber zu stellen. Die Endlichkeit ist Ursprung und verschlingendes Ende des Philosophierens. 52

Damit aber weist sie fiber sich selber hinaus. Der Zwiespalt zwischen dem ihr erwachsenden Anliegen, nach sich selber zu forschen, und der an ihr zerschellenden Bemühung darum öffnet den Blick für die Einsicht, daß es in der Existenz um mehr geht als um diese selbst. Hier wird die selber nicht mehr infrage gestellte Grundvoraussetzung der gesamten Fragestellung Pascals offenkundig: „daß der Mensch den Menschen unendlich übersteigt" (434). Die Frage nach dem eigentlichen Wesen kann durch nichts Endliches beantwortet werden, „weil dieser unendliche Abgrund (gouffre infini) nur ausgefüllt werden kann durch einen unendlichen und unwandelbaren Gegenstand, nämlich durch Gott selbst" (425).

13. D i e V e r z w e i f l u n g a n d e r V e r n u n f t und die G e w i ß h e i t des H e r z e n s Mit der Einsicht, daß der Mensch den Menschen unendlich übersteigt, ist freilich keine neue Stufe der Gewißheit über dem Zerschellen der philosophischen Bemühung gewonnen. Denn mag auch der Mensch, dieses von sich selber her unfaßbare Wesen, in seiner Unbegreiflichkeit über sich hinausweisen, so ist doch das, wohin er deutet, die Unsterblichkeit, das eigentliche Rätsel seiner Existenz. So bleibt ah Ende der philosophischen Bemühungen um das Wesen des Menschen die Verlegenheit, daß dem Menschen unendlich daran gelegen sein muß, über sich selber zu sicherem Wissen zu gelangen, und daß doch all seine Versuche in dieser Richtung scheitern. Diese Spannung zwischen Nicht-wissen und Willen zur Wahrheit bezeichnet Pascal als das eigentliche Elend des Menschen. Er ist „in Unwissenheit über alles und in einem unvermeidlichen Unglück. Denn das heißt unglücklich sein: zu wollen und nicht zu können. Nun will er glücklich und einiger Wahrheit vergewissert sein; und gleichwohl kann er weder wissen, noch wünschen, überhaupt nicht zu wissen" (389). Die Konsequenz aus dieser heillosen Lage müßte sein, daß man überhaupt darauf verzichtete, auf dem Wege des Denkens zur Gewißheit zu gelangen. „Der Gedanke i s t . . . etwas Bewundernswertes und nach seiner Natur Unvergleichliches. Er müßte seltsame Mängel haben, um verächtlich zu sein; aber er hat derartige, daß nichts lächerlicher ist (als er). Wie groß ist er durch seine Naturl Wie niedrig ist er durch seine Mängel!" (365). Diese Absage an das Denken darf freilich nicht dazu führen, daß man sich aus der Dringlichkeit der Frage in die Gleichgültigkeit wegschliche; von der Unzulässigkeit einer solchen Ausflucht sprach der

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vorige Abschnitt. Aber die Verzweiflung an der Vernunft könnte dahin bringen, daß man entschlossen einen anderen Weg suche, um der Gewißheit habhaft zu werden. Die „Ohnmacht" der Vernunft „darf nur dazu dienen, die Vernunft zu demütigen, die über alles urteilen möchte, aber nicht unsere Gewißheit zu bestreiten, als ob nur die Vernunft imstande wäre, uns zu belehren" (282). Auf eine solche Möglichkeit stieß die Erörterung bereits im Abschnitt 11 bei dem Hinweis auf den unaufhörlichen Streit zwischen Dogmatisten und Skeptikern. Pascal behauptet, ein vollendeter Skeptiker lasse sich nicht finden. Es gebe vielmehr ein Faktum, an dem seine Skepsis zunichte werde: die Gewißheit der eigenen Existenz. „Ohne Zweifel weiß (der Mensch) zum mindesten, daß er existiert" (430), Diese letzte Gewißheit überdaure alle Destruktion des Zweifels: „wir wissen, daß wir keinesfalls träumen; wie ohnmächtig wir auch seien, es mit der Vernunft zu beweisen; diese Ohnmacht beweist nichts anderes als die Schwäche unserer Vernunft, nicht aber die Ungewißheit all unserer Erkenntnisse, wie (die Skeptiker) dies vorgeben" (282). Hier berührt sich Pascal mit seinem großen Zeitgenossen Descartes. Auch für diesen blieb im radikalen Zweifel als letzte Gewißheit das cogito sum, die im Denken seiner selbst sich enthüllende Gewißheit der eigenen Existenz. In der Art aber, wie diese Gewißheit bestimmt wird, scheiden sich die Wege der beiden Denker. Für Descartes wird der Mensch der eigenen Existenz gewiß im cogitare, im Denken; und wenn auch Descartes das Denken nicht im verengerten rationalen Sinne versteht, sondern Wollen und Wünschen mit einbezieht, so ist doch die im cogitare erfahrene Gewißheit zwar dem Grade, nicht aber der Art der Gegebenheit nach von anderer theoretischer Gewißheit unterschieden. Pascal dagegen trennt aufs schärfste Vernunft und unmittelbare Gewißheit und weist diese einem gesonderten Vermögen des Menschen zu; seine Unmittelbarkeit drückt er durch die Bezeichnung als „instinct" aus. Für die im vernünftigen Argumentieren sich vollziehende Skepsis bleibt die instinktive Gewißheit der eigenen Existenz zuletzt unantastbar. „Instinkt, Vernunft. — Wir haben eine Ohnmacht zu beweisen, die für allen Dogmatismus unüberwindlich ist. Wir haben eine Idee von der Wahrheit, die für allen Skeptizismus unüberwindlich ist" (395). In diesem Zusammenhang kommt Pascal zu seiner großen Entdeckung der Rolle des Herzens für die Frage nach der Gewißheit. „Wir erkennen die Wahrheit nicht nur mit der Vernunft, sondern auch mit dem Herzen" (282). Die Weise, in der das Herz seine Gewißheit besitzt, ist die des „sentir", des Fühlens. Bedeutsam dabei ist, daß die Gefühle von Pascal nicht bloß nach ihrer subjektiven Seite betrachtet werden, also nicht 54

lediglich Trieb, Beeindruckbarkeit oder Gestimmtsein meinen. Ihre wesentliche Rolle spielen sie vielmehr als spezifische Weisen des Erkennens. Das Herz ist von sich selber her enthüllend. Was aber entdeckt das Herz, und wie weit reicht seine ursprüngliche Gewißheit? Ihr nächster Gegenstand ist das Faktum der eigenen Existenz. Aber es scheint so, als beschränke Pascal die unmittelbare Gewißheit vom Sein nicht auf das Selbstbewußtsein des Menschen, sondern beziehe sie auf das Wissen vom Sein überhaupt; wenigstens wird man so den Satz aus dem Fragment 430 deuten können, der jenseits aller Unbegreiflichkeit die Unantastbarkeit des Seins ausspricht: „Alles, was unbegreiflich ist, läßt nicht ab zu sein." Darüber hinaus erweitert Pascal sodann den Bereich der unmittelbaren Gewißheit, indem er „die ersten Prinzipien", die aller Entdeckung der Welt zugrunde liegen, „wie daß es Raum, Zeit, Bewegung, Zahlen gibt" (282), und die ersten Voraussetzungen der Mathematik hinzunimmt. Diese ersten Prinzipien, die allem bestimmten Wissen vorhergehen, sind, so wie Pascal sie versteht, in derselben unmittelbaren, von der Vernunft und ihrer Skepsis nicht berührbaren Gewißheit im Herzen gegeben, wie die Tatsache der eigenen Existenz. „Das Herz fühlt, daß es drei Dimensionen im Räume gibt, und daß die Zahlen unendlich sind" (282). Die beiden Arten von Gewißheit, die des Herzens und die der Vernunft, sind keineswegs wie subjektive und objektive Wahrheit unterschieden. Herz und Vernunft zeigen vielmehr eine je verschiedene Weise des GewiBwerdens. „Die Prinzipien werden gefühlt, die Lehrsätze erschlossen, und das Ganze mit Gewißheit, obgleich auf verschiedenen Wegen" (282). Beide Arten, Gewißheit zu erlangen, unterscheiden sich in ihrem „ordre". „Das Herz hat seine Ordnung; der Geist hat die seine, die in Grundsatz und Beweis besteht; das Herz hat eine andere" (283). Beweis und unmittelbare Einsicht dürfen daher nicht miteinander vertauscht werden. „Es ist ebenso unnütz und ebenso lächerlich, daß die Vernunft vom Herzen Beweise für diese ersten Prinzipien verlange, um ihnen zustimmen zu wollen, als es lächerlich wäre, daß das Herz von der Vernunft ein Gefühl für all die Sätze verlange, die sie beweist, um sie anzunehmen" (282). Denn das Herz selber ruht auf eigenem Recht und hat seine eigene „Vernunft". Das will das berühmte Fragment 277 sagen, das in dem Wortspiel des doppelten Sinnes von „raison" nicht übersetzbar ist: „Le coeur a ses raisons, que la raison ne connait point". „Das Herz hat seine Vernunftgründe, die die Vernunft nicht kennt". Für die Frage nach der Gewißheit spielt die Vernunft eine untergeordnete Rolle; wo es sich um die letzte Wahrheit handelt, muß sie ja, wie sich zeigte, scheitern. Der Grund dafür ist, daß sie die Kette ihrer 55

Beweise irgendwo anknüpfen, also von ersten Voraussetzungen ausgehen muß, deren Wahrheit sie nicht wiederum selber beweisen kann; es sind dies eben die Prinzipien, die das Herz entdeckt. „Auf diese Erkenntnisse des Herzens und des Instinktes muß die Vernunft sich stützen und ihre ganze Auslegung darauf gründen" (282). So scheint mit dem Herzen nun doch die Frage nach der Gewißheit auf eine neue und fruchtbarere Ebene gerückt zu sein. Mag auch die Vernunft sich vergeblich um die Erfassung der Wahrheit mühen, so gibt es doch einen Bereich ursprünglicher Gewißheit, vor der alle skeptischen Einwände der Vernunft verstummen müssen. Müßte nicht die Philosophie, um ihrem Untergang zu entgehen, sich auf diese unmittelbare Gewißheit stützen und Philosophie des Herzens werden? Aber die Frage ist, wie weit sie auf diesem Wege kommt. Was ist denn mit der Entdeckung des Herzens für die Frage nach der Gewißheit gewonnen? Dies freilich, daß die Ungewißheit nicht radikal ist, und daß es unmittelbar Gewisses gibt. Sieht man aber auf den Umfang dieser ursprünglichen Gewißheit — eigene Existenz, ontologische und mathematische Grundprinzipien —, so zeigt sich, daß für die Frage nach dem Wesen des Menschen sich mit dem Rückgang auf das Herz nichts Entscheidendes verändert hat. Denn die wesentlichen Anliegen bleiben auch jetzt unbefriedigt. Weder was der Mensch ist, noch woher er kommt, noch wohin er geht, gibt sich in der Unmittelbarkeit, in der sich die eigene Existenz und die Grundprinzipien erfassen lassen. Auch über das Herz führt vom Menschen aus kein unmittelbarer Weg zur Gewißheit in diesen für sein Dasein entscheidenden Fragen. Die Philosophie bleibt in der offenen Verlegenheit der Ungewißheit.

14. D e r

Glaube

und

des

die

Verkehrtheit

Herzens

Die Bemühung des Gedankens endet im Absturz in die Ungewißheit; das Herz in der Ursprünglichkeit seines sicheren Besitzes ragt nicht in den Bereich der wesentlichen Fragen der menschlichen Existenz hinein. Heißt das, daß der Mensch überhaupt auf Gewißheit über das, was ihm wesentlich ist, verzichten muß? Aber es gibt für Pascal faktisch die Möglichkeit der Gewißheit für den Menschen. Ihm selber wurde sie in der entscheidenden Stunde seines Lebens zuteil. In dem sogenannten „Memorial", jenem Blatt, das man nach Pascals Tode in seinem Rocksaum eingenäht fand, und das von dem Er56

eignis des Jahres 1654 Kunde gibt,* findet sich der doppelte Ausruf: „Certitude. Certitude". Das „AUmorial" hebt diese „Certitude" als Gewißheit des Glaubens deutlich gegen die philosophischen Bemühungen um die Wahrheit ab. Der Anruf an Gott, mit dem es beginnt, wendet sich an den „Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs", und fügt ausdrücklich hinzu: „nicht der Philosophen und der Gelehrten". Mit dieser Abgrenzung ist zugleich fiber den Ort entschieden, an dem die Gewißheit des Glaubens begegnet: es ist nicht die Vernunft, sondern das Herz. „Dieser Glaube ist im Herzen" (248). „Es ist das Herz, das Gott fühlt, und nicht die Vernunft; das ist der Glaube: Gott fühlbar dem Herzen, nicht der Vernunft" (278). Die Sicherheit des Glaubens beruht eben in dieser unmittelbaren Gewißheit, die dem Herzen eigentümlich ist. „Man muß . . . unseren Glauben in das Gefühl verlegen, sonst wird er immer schwankend sein" (252). Damit sieht es so aus, als habe sich der Bereich der ursprünglichen Erkenntnis des Herzens, über das im vorigen Abschnitt Gesagte hinaus, beträchtlich erweitert. Nicht nur die Prinzipien des Seins und Erkennens, sondern auch das Wissen von Gott ist danach dem Herzen unmittelbar und vor aller Reflexion gegeben. Auch in der ihn unbedingt angehenden Frage nach sich selber erhält der Mensch in seinem Herzen gewisse Antwort. Denn wenn dieses die Gewißheit von Gott besitzt, dann muß sich von daher auch das Rätsel der menschlichen Existenz lösen lassen; das eigentlich Fragwürdige an ihr waren ja ihr Woher und ihr Wohin. Und so scheint es, als sei die Brücke über den Abgrund gefunden, vor dem die philosophische Frage schaudernd stille stand; freilich eine Brücke, die nicht von der philosophischen Reflexion selber erbaut ist, die aber so sicher ist, daß jene auf ihr den Abgrund überschreiten und sich selber im Lande der Gewißheit ansiedeln könnte. Aber dieser These von der Sicherheit des Glaubens steht der Beginn des Fragmentes 234 entgegen: „Wenn man nur für das Sichere etwas tun dürfte, brauchte man für die Religion nichts zu tun; denn sie ist nicht sicher." Daher auch sind die philosophischen Gottesbeweise nur für diejenigen überzeugend, die „den lebendigen Glauben im Herzen haben"; die andern finden darin „nur Dunkelheit und Finsternisse" (242). Gott hat sich „ihrer Erkenntnis verborgen", und daher ist „dies sogar der Name, den er sich in der Schrift gibt: Deus absconditus" (194). Diese Unsicherheit des Glaubens wird aufs stärkste in dem Fragment • In der Ausgabe von Brunschvicg vor den .Pens6es" abgedruckt. Abschnitt 2.

Vgl.

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233 betont, das unter dem Namen der „Wette" berühmt geworden ist. Pascal geht davon aus, daß wir wegen unserer Endlichkeit von Gott nichts wissen; „wir erkennen weder die Existenz noch die Natur Gottes, weil er weder Ausdehnung noch Grenzen hat", wir selbst aber „endlich und ausgedehnt" sind. Zwischen ihm und uns liegt daher ein „unendliches Chaos". Um dieser grundsätzlichen Unbegreiflichkeit Gottes willen erklären die Christen selber ihre Religion für unbeweisbar, für „eine Torheit". Versteht man dies recht, dann sieht man ein; es handelt sich bei dieser Frage, ob man das Dasein Gottes annehmen oder verwerfen solle, nicht um vernünftige Einsicht, sondern um eine blinde Entscheidung, vergleichbar einer Art von Hasardspiel. „Es wird am äußersten Ende dieses unendlichen Abstandes ein Spiel gespielt, in dem Kreuz oder Schrift herauskommen." Und wie bei einem solchen gelten auch bei der Frage nach Gott nicht die Regeln der schließenden Vernunft, sondern nur die Gesetze der Wahrscheinlichkeit. Die Argumentation geht dann in ihren Grundzügen so weiter: Wenn Gott existiert, gibt es ein unendliches Leben für den Menschen, wenn Gott nicht existiert, den endgültigen Tod. Beides, so wird unterstellt, hat die gleiche Wahrscheinlichkeit. Der Einsatz dagegen, das endliche Leben, steht in keinem Verhältnis zu dem möglichen Gewinn, einer „Unendlichkeit von Leben und Glück". Daher ist es geraten, den endlichen Einsatz zu wagen und sich für die Existenz Gottes zu entscheiden. „Und so ist unser Vorschlag von unendlicher Kraft (der Überzeugung), wenn in einem Spiel, in dem es gleiche Chancen für Gewinn und Verlust gibt, das Endliche einzusetzen und das Unendliche zu gewinnen ist." Diese seltsame Heranziehung der Wahrscheinlichkeitsrechnung für die Frage nach der Gewißheit darf nicht in banalem Sinne als Gottesbeweis auf Schleichwegen mißverstanden werden. Wesentlich dabei ist, daß der Glaube in die Dimension des Wagnisses gerückt wird, vergleichbar dem Risiko beim Glücksspiel. Zum Wagnis aber gehört Ungewißheit, und je größer das Wagnis ist, desto größer die Ungewißheit. Damit scheinen die Aussagen Pascals in schärfsten Widerstreit miteinander zu geraten. Der Glaube soll sowohl sicher wie unsicher, sowohl gewiß wie ungewiß sein. Will man es nicht bei dem Hinweis auf diese Paradoxic bewenden lassen, dann muß man zusehen, ob nicht etwa die Gewißheit des Glaubens von einer besonderen Art ist, dergestalt, daß sie Sicherheit und Unsicherheit in sich vereinigte. Auch das Wagnis kennt seine besondere Art von Gewißheit. Freilich nicht eine solche, die man beweisen und auskalkulieren könnte, aber eine Gewißheit, die den Wagenden im Vollzug seines Wagnisses überkommt. Und von dieser Art ist die Gewißheit des Glaubens. Als Wagnis gesehen 58

ist der Glaube unsicher, als im Wagnis gewiß werdender erhält er seine eigentümliche Sicherheit. Daß der Glaube sich die Gewißheit nicht selber schafft, sondern daß sie ihn uberkommt, drückt sich darin aus, daß er als Tat Gottes bezeichnet wird. „Der Glaube ist eine Gabe Gottes. Glaubt nicht, wir sagten, er sei eine Gabe des vernünftigen Überlegens (raisonnement)" (279). Die Gnade kommt dann über den Menschen, wenn er sich nicht um sie bemüht. „Seid getrost I Nicht von euch dürft ihr (die Gnade) erwarten, sondern im Gegenteil, wenn ihr nichts von euch (selber) erwartet, dürft ihr sie erwarten" (517), Die Gewißheit, die der Mensch durch all seine eigenen Bemühungen nicht finden kann, wird ihm also geschenkt, in einem Geschehen, das nicht aus ihm selber entspringt. Das Herz ist nicht die Wurzel, aus der der Glaube erwüchse, sondern der Boden, in den er sich einwurzeln kann. Es ist von sich selber her über das, was ihm wesentlich ist, ungewiß; es kann nur, vom Glauben getroffen, gewiß werden. So bleibt, vom Menschen her gesehen, die grundsätzliche Unwissenheit bestehen. Das Herz ist vom Ursprung her zweideutig. „Von Natur ist der Mensch gläubig, ungläubig" (125). Das Herz, dessen Fühlen Pascal unter dem Begriff der Liebe zusammenfaßt, steht vom Ursprung her in einer doppelten Ausrichtung des Liebens. „Ich sage, daß das Herz von Natur das allumfassende Wesen (liebt) und von Natur sich selber liebt, je nachdem es sich einem hingibt; und es verhärtet sich gegen das eine oder das andere (je) nach seiner Wahl" (277). Das Wissen von Gott ist also so wenig dem Menschen natürlich, daß es vielmehr allererst aus einer Grundentscheidung erwächst. Als Entscheidung für Gott ist sie eine Entscheidung wider die Liebe zum eigenen Ich, die sich im Herzen vordrängt. „Das Ich ist h a s s e n s w e r t . . . , w e i l . . . es sich zum Mittelpunkt von allem macht" (455). „Die einzige und wahre Tugend ist, . . . sich (selber) zu hassen" (485). Damit aber öffnet sich ein neuer Aspekt auf die Frage nach der Gewißheit. Sie wächst dem Menschen nicht aus ihm selber heraus zu; die Menschen „spüren, daß sie von sich selber her nicht die Kraft haben, (Gott zu lieben und sich selber zu hassen,) daß sie unfähig sind, zu Gott zu gehen" (286). Dies aber deutet darauf hin, daß sie „alle verderbt" sind (286). „Wie ist das Herz des Menschen hohl und voll von Unrat" (143). Die Gewißheit des Glaubens, die einzige Gewißheit, die er erlangen könnte, überkommt deshalb den Menschen nur dann, wenn er sich entschließt, seinen eigenen Untergang zu wollen, wenn er sich vor den Abgrund des Nichts stellt. „Die wahre Bekehrung besteht darin, sich vor (dem) allumfassenden Wesen zu vernichtigen" (470).

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15. D i e c h r i s t l i c h e D e u t u n g d e r Existenz

menschlichen

Damit ist nun vollends deutlich: die Aufgabe des Menschen, sich selber zu begreifen, die Pascal als das Grundanliegen des Philosophierens sieht, ist mit den Mitteln des eigenen Nachdenkens unlösbar. Sie führt nur immer tiefer in Widersprüche und Rätselhaftigkeiten hinein; zuletzt bleibt, um zur Gewißheit zu gelangen, nur dies, daß man sich selber zunichte mache, auf eigene Bemühung verzichte und sich die Wahrheit von Gott geben lasse. So findet Pascal am Ende die Deutung des Wesens des Menschen nicht im philosophischen, sondern im religiösen Bereich, Die Wahrheit des Christentums kann, wenn sie den Menschen wirklich treffen soll, nicht allgemeine Lehre ohne Beziehung auf seine Lage sein. Sie kann ihm nur dann als seine Wahrheit einleuchten, wenn sie sich in der Enträtselung des Geheimnisses der menschlichen Existenz bewahrheitet. Daher muß sie die Widersprüche im Menschen zu deuten imstande sein. ,,Soll eine Religion wahr sein, so muß sie unsere Natur erkannt haben. Sie muß (deren) Größe und Kleinheit erkannt haben und den Grund der einen und der anderen. Wer hat sie erkannt, außer der christlichen?" (433). Von dieser Forderung her entwickelt Pascal die Deutung, die die christliche Verkündigung dem Wesen des Menschen gibt. Dieser befindet sich in einem heillosen Zwiespalt von Größe und Elend, von Drang nach Glück und faktischem Unglück, von Suche nach Wahrheit und tatsächlicher Ungewißheit. Eben über diese Doppelheit im Menschen, diese „erstaunlichen Widersprüche" (430), legt das Christentum Rechenschaft ab und führt sie auf zwei Prinzipien zurück; es lehrt, „sowohl daß es irgendein großes Prinzip der Größe, als auch daß es ein großes Prinzip des Elends im Menschen gibt" (430). Diese beiden Prinzipien versteht das Christentum nicht als im Menschen nebeneinander vorkommende Wesenszüge, sondern, entsprechend seiner Gesamtauffassung von der Wirklichkeit, geschichtlich und in Beziehung zum Ursprung. Das Prinzip der Größe ist die Seinsweise des Menschen, wie sie diesen ursprünglich auszeichnete, und wie sie daher sein eigentliches Wesen ausmacht. Pascal nennt es daher auch die „erste Natur des Menschen und spricht von der „besseren Natur . . . , die ihm einstmals eigentümlich war" (409). Aus ihr stammt all das im Menschen, was Anzeichen seiner Größe ist; „all die Regungen von Größe und Herrlichkeit, die der Erweis so vieler Elendigkeiten nicht ersticken kann", haben ihre Ursache „in einer anderen Natur", dem „Stande (der) Schöpfung" (430). 60

Die faktische Existenz des Menschen aber, so wie Pascal sie sieht, zeigt deutlich, daß er nicht mehr so ist, wie er von seinem Wesen her angelegt ist, daß er nicht mehr in der Fülle seiner ersten Natur existiert; sie zeigt von dieser nur noch „das Zeichen und die ganz leere Spur" (425). Nur noch als dunkles Wissen bleibt dem Menschen die Erinnerung an seinen Urständ erhalten. „Das ist der Stand (6tat), in dem die Menschen sich heute befinden. Es bleibt ihnen irgendein ohnmächtiger Instinkt von dem Glück ihrer ersten Natur, und sie sind in das Elend ihrer Verblendung und ihrer Begehrlichkeit getaucht, die ihre zweite Natur geworden ist" (430). Der Mensch besitzt „kaum eine verworrene Erkenntnis seines Urhebers . . . , so sehr sind alle seine Erkenntnisse ausgelöscht oder verwirrt worden" (430). Die faktische Existenz des Menschen in ihrer Verwirrtheit, „in den Finsternissen, die ihn blenden, . . . in der Sterblichkeit und in den Elendigkeiten, die ihn heimsuchen" (430), läßt sich, christlich gesprochen, nur begreifen als herausgefallen aus dem ursprünglichen Stande der ersten Natur. „Der Mensch weiß nicht, auf welche Stufe er sich stellen soll; er ist sichtlich verirrt und aus seinem wahren Ort gefallen, ohne ihn wiederfinden zu können; er sucht ihn überall, voll Unruhe und ohne Erfolg, in undurchdringlichen Finsternissen" (427). Der Mensch ist das ortlos gewordene Wesen, und dies erklärt seine tiefe Zerrissenheit. Wir haben „eine Idee vom Glück und können nicht dahin gelangen; wir ahnen ein Bild der Wahrheit und besitzen nur die Lüge; (wir sind) unfähig, schlechthin unwissend zu sein und sicher zu wissen; so sehr ist es offenbar, daß wir auf einer Stufe der Vollkommenheit gewesen sind, von der wir unglückseligerweise herabgestürzt sind" (434). Es ist die christliche Lehre vom Sündenfall und von der Erbsünde, die Pascal hier zur Deutung der Existenz des Menschen heranzieht. Sie bewahrheitet sich für den, der sie vernimmt, eben von der Widersprüchlichkeit im Menschen her, indem sie diese auf die zwei Naturen zurückführt. „Wenn diese beiden Stände (6tats) offenbar sind, ist es unmöglich, daß (ihr) sie nicht erkennt. Folgt euren Regungen, beobachtet euch selbst und seht, ob ihr da nicht die lebendigen Zeichen dieser beiden Naturen finden werdet" (430). „Denn ist es nicht klarer als der Tag, daß wir in uns selber unaustilgbare Spuren von Vortrefflichkeit finden? Und ist es nicht ebenso wahr, daß wir jederzeit die Wirkungen unseres beklagenswerten Zustandes (condition) verspüren? Was rufen uns also dieses Chaos und diese ungeheuerliche Verwirrung zu, wenn nicht die Wahrheit über jene beiden Stände, mit einer so mächtigen Stimme, daß es unmöglich ist, zu widerstehen?" (435). Und so liegt hier die Lösung des Rätsels des Menschen. „Von diesem Prinzip her . . . könnt ihr die Ursache von so viel Wider61

sprächen erkennen, die alle Menschen erstaunt und sie in so verschiedene Meinungen zerspalten haben" (430). Damit freilich wird das Rätsel des Menschen nur gelöst durch ein anderes Rätsel. Denn dieser ganze Zusammenhang ist selber unfaßbar. „ Wir begreifen weder den glorreichen Stand Adams, noch die Natur seiner Sünde, noch die Vererbung auf uns. Diese Dinge sind in dem Stande einer Natur geschehen, die von der unsrigen völlig verschieden ist, und sie übersteigen den Zustand unserer gegenwärtigen Fassungskraft" (560). Geheimnis wird hier durch tieferes Geheimnis entschleiert. „Erstaunlich ist es . . . , daß wir ohne das Geheimnis, das am weitesten von unserer Erkenntnis entfernt ist, nämlich das der Erbsünde, keine Erkenntnis unserer selbst haben können . . . ; ohne dieses allerunbegreiflichste Geheimnis sind wir uns selber unbegreiflich. Der Knoten unseres Seins (condition) erhält seine Krümmungen und seine Windungen in diesem Abgrund: so daß der Mensch ohne dieses Geheimnis unbegreiflicher ist, als dieses Geheimnis (selber) dem Menschen unbegreiflich ist" (434). So ist auch hier wieder, vom Menschen her gesehen, die Unbegreiflichkeit das letzte Wort. Die Lehre von der Erbsünde ist „vor den Menschen Torheit", ist „ohne Vernunft"; „wie hätte (der Mensch) mit seiner Vernunft (diese Lehre) entdecken können, da sie gegen die Vernunft ist, und da seine Vernunft, weit entfernt davon, sie auf ihren Wegen zu erfinden, sich von ihr entfernt, wenn man sie ihr vorstellt" (445). Diese Wahrheit ist zuletzt „sicher gegründet auf die unverletzliche Autorität der Religion" (434), nicht aber auf die Evidenz, die der eigenen denkerischen Bemühung entspringt. „Daher scheint es, als ob Gott, indem er uns die Schwierigkeit unseres Seins für uns selber uneinsichtig machen wollte, dessen Knoten so hoch oder besser so tief verborgen habe, daß wir recht unfähig seien, dahin zu gelangen; und so geschieht es nicht durch die hochfahrenden Anstrengungen unserer Vernunft, sondern durch die schlichte Unterwerfung der Vernunft, daß wir uns wahrhaft erkennen können" (434). Der Mensch aber, von sich selber her, scheitert in seinem Fragen; „dieses Lebewesen . . . weiß so wenig, was Gott ist, daß es nicht (einmal) weiß, was es selbst ist" (430).

16. D i e i n n e r e T r a n s z e n d e n z d e s M e n s c h e n u n d die G r e n z e des P h i l o s o p h i e r e n s Im Versuch des Menschen, sich selber zu begreifen, verwickelt sich das Erkennen um der rätselvollen Endlichkeit seines Gegenstandes willen und aus seiner eigenen endlichen Natur heraus in Widersprüche; auch 62

wo die Antwort vom Glauben her gegeben wird, sieht die Vernunft nur Rätsel und Unbegreiflichkeiten. Heißt das nicht, daß die philosophische Bemühung, so wie Pascal sie sieht, vor dieser ihrer Aufgabe zerbricht? Und wird damit nicht das Unterfangen des Menschen, sich von sich selber her zu begreifen, sinnlos? Pascal zieht entschlossen die Konsequenz einer solchen Verwerfung der Philosophie. „Vergebens, ο Menschen, sucht ihr in euch selber das Heilmittel für euer Elend. All eure Einsichten können nur dahin gelangen, zu erkennen, daß ihr in euch selber weder die Wahrheit noch das Heil finden werdet. Die Philosophen haben es euch versprochen, und sie haben es nicht vollbringen können. Sie wissen weder, was euer wahrhaftes Gut, noch was euer wahrhafter Stand ist" (430). Daher ist es für die Vernunft ein Gebot der Redlichkeit, im Angesicht der wesentlichen Fragen abzudanken. „Der letzte Schritt der Vernunft ist es, anzuerkennen, daß es eine Unendlichkeit von Dingen gibt, die sie übersteigen . . . Wenn schon die natürlichen Dinge sie übersteigen, was wird man von den übernatürlichen sagen?" (267). Um der Grenzen ihres eigenen Wesens willen müßte sie, an der Unbegreiflichkeit ihres Gegenstandes zerschellend, ihren Untergang wollen. „Nichts ist der Vernunft so gemäß, wie diese Verleugnung der Vernunft" (272). An ihre Stelle tritt, die eigentliche Gewißheit gebend, der Glaube, das Hören des Wortes Gottes. „Nicht hienieden ist das Land der Wahrheit; sie irrt unerkannt unter den Menschen. Gott hat sie mit einem Schleier bedeckt, der macht, daß sie nicht erkennt, wer seine Stimme nicht vernimmt" (843). Freilich, der Untergang der Vernunft bedeutet nicht, daß an ihre Stelle ein widervernünftiger Glaube träte. Es zerbricht ja nicht die Vernunft als solche, sondern nur ihr Anspruch, aus ihr selber heraus zu letzter Gewißheit zu gelangen. Wie also der Glaube im Verhältnis zu den Sinnen „darüber hinaus und nicht entgegen" ist (265), so gilt von der Religion, daß sie „der Vernunft keineswegs entgegengesetzt" ist (187). Daher gibt es „zwei Ausschweifungen: die Vernunft ausschließen, nur die Vernunft zulassen" (253). „Wenn man alles der Vernunft unterwirft, wird unsere Religion nichts Geheimnisvolles und Übernatürliches besitzen; wenn man die Prinzipien der Vernunft verletzt, wird unsere Religion absurd und lächerlich sein" (273). Der Glaube läßt die philosophische Vernunft nur dann gelten, wenn sie dienend sich ihm unterordnet. „Unterwerfung und Gebrauch der Vernunft, darin besteht das wahre Christentum" (269). W ä r e freilich, was Pascal über die Rolle der Philosophie zu sagen hat, nicht mehr a b dies, daß sie den Glauben daran hindert, ins Vernunftlose auszuschwärmen, dann lohnte es sich nicht, sich mit ihr so ausgiebig zu 63

befassen. Dann aber wäre nicht verständlich, weshalb sich Pascal in den „Pensees" so eindringlich darum müht, auf dem Wege des philosophischen Begreifens dem Wesen des Menschen nahe zu kommen. So muß es für ihn noch eine tiefere Bedeutung des Philosophierens geben. Sie knüpft eben an die Tatsache an, die das Ergebnis der bisherigen Untersuchung darstellt: daß die Philosophie, wenn sie nur entschlossen genug getrieben wird, zuletzt vor dem Abgrund der Unbegreiflichkeit anlangt. Sie an dies ihr gemäße Ende heranzuführen, darin sieht Pascal den Sinn seiner philosophischen Bemühungen; die Aufgabe ist, den Menschen auf seine innere Widersprüchlichkeit hinzuweisen. „Wenn er sich rühmt, erniedrige ich ihn; wenn er sich erniedrigt, rühme ich ihn; und ich widerspreche ihm immer, bis er begreife, daß er ein unbegreifliches Ungeheuer ist" (420). So hat Philosophieren für Pascal den Sinn des Aufstörens, des Wegnehmens der vorläufigen Sicherungen, des Hineinstellens in die Unruhe. „Ich werde keinesfalls dulden, daß er sich im einen oder im andern (im Bewußtsein der Größe oder im Wissen um die Niedrigkeit) ausruhe, damit er ohne Stand und ohne Ruhe sei" (419). Das also, was die Philosophie zunichte macht, ihr Zerbrechen in der Ungewißheit, ist, so betrachtet, ihr eigentlicher Sinn: im Scheitern ihrer Versuche, die Antwort auf die wesentlichen Fragen des Daseins zu finden, hebt sie den Menschen aus allen vorläufigen Sicherungen heraus und stellt ihn in die Erschütterung, in der er bereit ist, die Antwort des Glaubens zu hören. „Gut ist es, ermattet und müde zu sein durch die vergebliche Suche nach dem wahren Gut, um die Arme nach dem Erlöser auszustrecken" (421). So schafft das Philosophieren als das entschlossene Vordringen bis in den Grund der Einsicht in die Widersprüchlichkeit den Raum, in dem die Wahrheit begegnen kann. „Alle diese Widersprüche, die mich von der Erkenntnis der Religion am weitesten zu entfernen schienen, haben mich am raschesten zu der wahren (Religion) geführt" (424). Aber freilich, indem der Philosophie die Rolle einer Vorbereiterin des Glaubens zugewiesen wird, wird ihr die Erfüllung ihres Anspruches, selber die Wahrheit zu finden, versagt. Der letzte Ernst liegt für Pascal nicht im Philosophieren, sondern im Wagnis des Glaubens. Es gibt ein merkwürdiges Fragment in den „Pensees": „Gegen die schreiben, die die Wissenschaften vertiefen: Descartes" (76). Daß es bei den „Wissenschaften" nicht lediglich um die Naturwissenschaften geht, beweist die Erwähnung des Namens „Descartes". Im folgenden Fragment (77) wird auch ausdrücklich von der „Philosophie" des Descartes gesprochen. Weshalb will Pascal gegen die Vertiefung der Wissenschaften schreiben? Spürt er aus solcher Vertiefung eine Gefahr aufsteigen, die den Glauben stärker bedrohen könnte, als es die Philosophie in der Rolle der

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bloßen Vorbereitung vermag? Hat er der Philosophie zuletzt doch nicht den Raum gelassen, den sie braucht, um ihren eigenen Weg gehen zu können? Sollte sie etwa darum gescheitert sein, weil sie von Anfang an auf eine bestimmte Bahn gebracht wurde, an deren Ende nur der Untergang über sie hereinbrechen konnte? Wo das Thema der philosophischen Bemühungen Pascals dargelegt wurde, zu Beginn des Abschnittes 3, wurde Philosophieren im Sinne Pascals als die Frage des Menschen nach sich selber bestimmt. Den Ausgangspunkt bildete das Fragment 146: „Nun fordert es die Ordnung des Gedankens, daß man bei sich selbst beginne, sowohl bei seinem Urheber wie bei seinem Ziel." Die Untersuchung sali zunächst, aus methodischen Gründen, von der im Fragment gegebenen näheren Bestimmung des „ich selbst" ab und begann so, als ginge es Pascal um eine voraussetzungslose Interpretation des Daseins des Menschen, ohne daß dieser von vornherein in einem bestimmten Horizont gesehen wäre. Der Fortgang der Untersuchung aber zeigte, daß Pascal die Frage nicht auf den Menschen, so wie er von sich selber her ist, beschränkt. Immer drängt er vielmehr hin auf eine Aufhellung des Ursprunges und des Endes des Menschen, und in der Suche nach diesen geht er fragend hinaus über das bloß Menschliche, zum „Urheber" und zum „Ziel". Diese für Pascal selbstverständliche Orientierung der Problematik zeigt: der Mensch, so wie ihn Pascal von vornherein und vor aller ausdrücklichen philosophischen Fragestellung sieht, ist ein Wesen, das im Ursprung und im Ende über sich selber hinausweist. Davon war andeutend im Abschnitt 4 die Rede. Der Mensch, dessen Wesen im Denken liegt, ist in der Macht des Gedankens seines eigenen Todes noch mächtig und reicht so über seine Endlichkeit hinaus. In der Art freilich, wie Pascal in den Fragmenten, von denen der Abschnitt 5 handelt, vom faktischen Dasein des Menschen, von seinem Tun und Treiben im Alltag, ausgeht, scheint nichts von einer solchen Grundvoraussetzung bemerkbar zu sein. Und doch liegt sie auch hier zugrunde. Wenn alles Tun des Menschen als Flucht in die Zerstreuung oder, wie der Abschnitt 9 zeigte, als Wegschleichen in die Täuschung gesehen wird, dann steht dahinter die Voraussetzung, daß der Mensch ein Wesen ist, dem nichts Endliches genügen kann; eben in der Unruhe seines faktischen Daseins enthüllt er dem tieferen Blick, daß er über sich selber in seiner Endlichkeit, an der er leidet, hinausweist. Noch deutlicher zeigt sich dies, wenn man dem Grund der Flucht, wie ihn der Abschnitt 5 darstellt, nachgeht; es ist der Tod, aber nicht als bloßes, das Dasein abschneidendes Faktum, sondern in seiner inneren Rätselhaftigkeit, die sich im Abschnitt 12 als die Ungewißheit zeigte, ob er ein endgültiger Schluß des Daseins des Menschen oder der Übergang 5 Weischedel

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in eine neue Existenzweise ist. Die Beunruhigung des menschlichen Daseins, die es in Zerstreuung und Täuschung treibt, kommt ihm also daraus, daß es in der ungewissen Möglichkeit steht, im Tode über sich selber hinaus zu existieren. Aus dieser Möglichkeit entspringt auch das unendliche Anliegen des Menschen, das ihn in die Frage nach' sich selbst wirft. Wiederum also zeigt sich dies innere Transzendieren des Menschen als die Grundvoraussetzung des Philosophierens Pascals. Wo dann die Endlichkeit der menschlichen Existenz selber ins Thema trat, da zeigte sich, daß sie für Pascal von vornherein im Horizont der Unendlichkeit gesehen ist. Zunächst freilich stellte sich der Mensch dar wie eine Art von Mitte zwischen zwei Unendlichkeiten, dem Nichts und dem unendlich Großen (Abschnitt 7); es schien, als könne er als Wesen der Mitte in der Geschlossenheit seiner Endlichkeit aus sich selber heraus existieren. Aber jede Frage nach der Stellung des Menschen inmitten der Unendlichkeiten enthüllt, daß ein solches Ruhen der Endlichkeit in sich selber nicht die wahre Seinsweise des Menschen ist. Er muß sich, je nach dem Aspekt, unter dem er sich betrachtet, als unendlich groß oder als unendlich klein erscheinen; in beiden Fällen wird er über sich in seiner Endlichkeit hinausgetrieben. Und dies zeigt sich in verschärftem Maße dort, wo die beiden Unendlichkeiten, so wie Pascal sie versteht, als bestimmende Momente des menschlichen Daseins selber enthüllt werden (Abschnitt 8). Sie sind es, die als unendlich Kleines oder als Nichts das Woher und als unendlich Großes das Wohin des Menschen ausmachen. So wird hier in der Weite der Phänomene sichtbar, was das Fragment 146 programmatisch aussprach: indem der Mensch in Ursprung und Ziel sich selber in seiner Endlichkeit transzendiert, offenbart sich mit voller Deutlichkeit das Hinausweisen über sich selber als das Grundwesen des Menschen. Diese seine Seinsverfassung ist es schließlich, an der der Mensch in der Frage nach sich selber zerbricht; um ihretwillen endet er in der radikalen Ungewißheit, in der Schwebe zwischen Dogma und Skepsis. Das Fragment 434, in dem der Streit zwischen Skeptikern und Dogmatisten auf seinen Höhepunkt gelangt (siehe Abschnitt 11), zeigt: der letzte Sinn der Bemühungen um Gewißheit und des Widerspruches, in dem diese enden, ist, daß man begreife, „daß der Mensch den Menschen unendlich übersteigt", und daß dies seine „condition veritable", seine „wahre Seinsverfassung" ist. Die Vernunft, die sich auf sich selber stellen und sich in ihrer Endlichkeit verschließen will, muß an einem Gegenstand scheitern, der nicht einfach ist, was er ist, sondern in seinem Sein über sich selber hinausweist. Sie muß sich selber vernichtigen (Abschnitt 14), damit der Mensch in ihrem Untergang in die Bereitschaft komme, sich die Deutung 66

seines wahren Wesens geben zu lassen, die ihm von ihm selber her unzugänglich ist (Abschnitt 15). So kommt im Ende des Philosophierens, wie es Pascal betreibt, zum Vorschein, was sein eigener Ursprung ist: die wesensmäßige Transzendenz des Menschen. Indem dieser im Denken an den Abgrund gerät, erblickt er schaudernd seinen eigenen unfaßbaren Grund. Die Philosophie zerbricht an der Frage nach dem Menschen, weil dieser von vornherein als ein Wesen gesehen ist, das sich selber übersteigt. Soll man es Pascal vorwerfen, daß er in seinem Philosophieren von einer Grundvoraussetzung ausgeht, die er philosophisch nicht mehr infrage stellt? Aber gehört es nicht wesenhaft zu jeder Philosophie, die nach dem Menschen fragt, daß sie in einer solchen grundhaften Voraussetzung wurzelt? Philosophieren ist immer ein Geschehen im Dasein eines bestimmten Menschen, der, wenn er sich in das Nachdenken verlegt, je schon existiert und sich in seinem Existieren über den Sinn seines Daseins je schon entschieden hat. Alles echte Philosophieren lebt aus den schon getroffenen Entscheidungen. Die Richtung des Philosophierens ist freilich der Weg in die Tiefe, hinab in den Grund der eigenen Voraussetzungen. Wer philosophiert, muß entschlossen sein, auch diese noch in die Fragwürdigkeit aufzulösen, muß es wagen, sich vor den Abgrund der radikalen Ungewißheit zu stellen. Hier hat die Frage an Pascal, ob er seine Grundvoraussetzung von der inneren Transzendenz des Menschen tief und entschlossen genug infrage stellte, ihren berechtigten Sinn. Aber diese Frage ist keine Kritik an Pascal und kein Vorwurf eines Versäumnisses, sondern die Bereitung des Bodens für die eigentliche Auseinandersetzung, für die Betroffenheit, von der der Abschnitt 1 sprach. So war es auch der Sinn der vorliegenden Untersuchung, den Punkt aufzuspüren, an dem das Gespräch mit Pascal seine wesenhafte Tiefe erreicht. Soll diese Auseinandersetzung zu ihrer wahren Fruchtbarkeit kommen, so kann sie nicht der Kampf zwischen einem angeblich voraussetzungslosen auf der einen und einem voraussetzungshaften Philosophieren auf der andern Seite sein. Denn daß die letzten Grundlagen der Überzeugung infrage gestellt werden, ist kein Standpunkt, in den man sich einwurzeln könnte. Es handelt sich in der Auseinandersetzung mit den fremden Voraussetzungen und im Durchgang durch die Bodenlosigkeit über aufgehobenem Grunde vielmehr darum, den Boden zu gewinnen, dessen das eigene Philosophieren bedarf, und der nichts anderes als die letzte Grundüberzeugung der Existenz ist. Denn es geht im Philosophieren um mehr als um das Philosophieren: es geht um die Gewinnung eines Grundes für das Existieren. Oder wäre am Ende dies das eigentliche Philoso5·

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phieren, und darf man so das seltsam ungreifbare Wort Pascals aus dem Fragment 4 verstehen: „Se moquer de la philosophic, c'est vraiment philosopher", „sich über die Philosophie lustig machen, das heißt wahrhaft philosophieren".

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Voltaire und das Problem der Geschichte ι Uns Gegenwärtigen ist die Geschichte zu unserem wesentlichen Problem geworden. Wir haben gelernt, unsere Existenz als geschichtliche zu verstehen; aber in der Vollendung des historischen Bewußtseins droht uns der Sinn des geschichtlichen Geschehens zu entgleiten. Wir spüren, mehr als vergangene Zeiten, den Fluß des Geschehens, aber wir wissen nicht, wohin er fließt. Und überdies erfahren wir das Gewesene, als dessen vorläufiges Ergebnis wir uns wissen, im Gegenwärtigen als lähmende Macht, die uns daran hindern will, aus eigener Kraft zu existieren. Daraus die Konsequenz zu ziehen, von dem Faktum der geschichtlichen Bedingtheit abzusehen und so zu existieren, als begänne der Augenblick in leerer Freiheit, wäre nichts als Blindheit aus Verzweiflung. Die Einsicht in die Last des Gewesenen kann nicht durch einen einfachen Entschluß rückgängig gemacht werden. So bleibt die Aufgabe, jene Macht der Geschichte philosophisch zu bewältigen, um, Wesen und Sinn des Vergangenen begreifend, Kraft und Leitung für das gegenwärtige Existieren zu gewinnen. Aus dieser Situation der philosophischen Frage nach der Geschichte ergibt sich eine neue Haltung auch gegenüber den vergangenen Bemühungen um eine philosophische Durchdringung des Problems der Geschichte. Was je und dann über diese gedacht wurde, ist uns nicht ein Gegenstand unbeteiligter Wißbegierde, sondern ein Leitfaden, um die Frage nach der Geschichte angemessen zu stellen, vielleicht sogar ein Wegweiser in die Richtung, in der jenes Problem gelöst werden könnte. So erblicken wir in der christlichen Sinndeutung der Geschichte nicht eine interessante geschichtsphilosophische Spekulation, sondern einen des Betragens würdigen Versuch, die Geschichte zu bewältigen. Und so sind wir auch geneigt, in der seit der Romantik so oft getadelten „Ungeschicklichkeit" der Aufklärung nicht so sehr einen bedauerlichen Mangel an geschichtlichem Sinn zu sehen, als vielmehr eine besondere Art, sich zur Geschichte zu verhalten. Nun ist freilich über „Geschichtlichkeit" oder „Ungeschicklichkeit" der Aufklärung viel gestritten worden. Hatte die Romantik, indem sie das Prinzip der lebendigen Entwicklung auch auf das Gebiet des Historischen anwandte, der Aufklärung den Sinn für das Geschichtliche überhaupt ab69

gesprochen, so ist neuerdings versucht worden, die „Geschichtlichkeit" dieser Epoche zu erweisen. Um diesen Nachweis haben sich, nach dem Vorgang Wilhelm Diltheys \ insbesondere Benedetto Croce 2 und Ernst Cassirer s bemüht, ohne daß freilich damit die Frage zur Ruhe gekommen wäre. Es ist vorzüglich der Mangel an Eindeutigkeit der Fragestellung, der bislang eine gültige Antwort auf die Frage nach der „Geschichtlichkeit" der Aufklärung verhindert hat. Denn dieser Ausdruck selber ist mehrdeutig, und so bedarf es, ehe man die Haltung der Aufklärung zur Geschichte zu untersuchen beginnt, zuvor einer begrifflichen Klärung dessen, was man unter „Geschichtlichkeit" versteht. In einem weitesten Sinne kann man eine Epoche dann als geschichtlich bezeichnen, wenn sie überhaupt ein spürbares Interesse an der Vergangenheit besitzt. Sein äußeres Kennzeichen wird dieses Interesse darin finden, daß in einem solchen Zeitalter in besonderem Maße Geschichte getrieben wird, historische Werke geschrieben werden. Spricht man in diesem Sinne von „geschichtlich", so meint dies so viel wie „Geschichte treibend". Dieses Interesse an der Geschichte kann die verschiedensten Ursachen haben: etwa die Lust an der reichen Fülle menschlichen Daseins, wie sie sich dem Blick auf die Vergangenheit darstellt, oder den Überdruß am Erfundenen und die Hinwendung zu dem, was wirklich geschehen ist. In einem tieferen Sinne aber wird man eine Epoche dann geschichtlich nennen, wenn sie das Gewesene mit ihrer eigenen Gegenwart in Beziehung setzt, wenn sie sich selber als eine Welle im Strom des geschichtlichen Geschehens begreift. So ist ein Zeitalter in einem zweiten und eigentlichen Sinne „geschichtlich", wenn es die Vergangenheit als den Weg zur Gegenwart und diese als bestimmt durch die Vergangenheit versteht. Die Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart kann weiterhin vielerlei Grade der Intensität besitzen. Im extremen Fall kann die Einsicht in die Bedingtheit des Augenblickes durch die Geschichte so weit gehen, daß dadurch das je gegenwärtige Handeln und Existieren bedeutungslos erscheint. Die Gegenwart wird dann durch die Macht des Gewesenen erdrückt; man lebt in dem Bewußtsein, alles Entscheidende sei schon geschehen. Ein Zeitalter, das in diesem Sinne „geschichtlich" ist, wird man als „historistisch" bezeichnen können. Im Rahmen dieser drei Bedeutungen von „Geschichtlichkeit" ist im 1 Das achtzehnte Jahrhundert und die geschichtliche Welt, Ges. Schriften, III, 1927, S. 209—268. 2 Zur Theorie und Geschichte der Historiographie, 1915. 3 Die Philosophie der Aufklärung, 1932.

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folgenden das Problem der Geschichte, wie es sich für die Aufklärung stellt, zu erörtern. Als charakteristischer Vertreter des aufklärerischen Verständnisses von der Geschichte dient Voltaire. Drei Tatsachen lassen ihn als Repräsentanten seiner Epoche in diesem Felde erscheinen. Einmal hat er selber in umfangreichen Werken Geschichte getrieben und darin über die Prinzipien solchen Tuns Rechenschaft abgelegt. Zum andern hat er eine neue, nämlich die kulturgeschichtliche Betrachtung der Geschichte eingeführt. Zum dritten ist er es, der zuerst den Ausdruck „philosophie de l'histoire" geprägt hat. 2 Aber gibt es denn für Voltaire überhaupt ein Problem der Geschichte in dem Sinne, wie es oben entwickelt wurde? Dafür scheint zwar zu sprechen, daß er der Einleitung zu seinem „Essai sur les moeurs et l'esprit des nations" die Überschrift gibt: „Philosophie de l'histoire" (XI, 1 ff.)4. Geht es ihm aber um Geschichtsphilosophie, so muß er doch notwendigerweise die grundsätzliche Frage nach der Geschichte stellen. Betrachtet man aber den Inhalt jener geschichtsphilosophischen Einleitung, dann zeigt sich, daß Voltaire in ihr im wesentlichen einen Abriß der Geschichte vor Karl dem Großen gibt, durchsetzt mit einigen allgemeinen Bemerkungen. Und diese befassen sich weniger mit der Frage nach dem Wesen des Geschichtlichen oder nach dem Sinn der Geschichte, als vielmehr mit der angemessenen Weise der Geschichtsdarstellung. Daß sein erstes und eigentliches Anliegen war, diese zu erhellen, geht auch aus der Schilderung hervor, die er von der Art gibt, wie er zu seinen historischen Bemühungen angeregt worden sei. In der Vorrede von 1754 zu dem „Essai sur l'histoire universelle", wie er den dritten Band des „Essai sur les moeurs et l'esprit des nations" nannte (XXIV, 41), schreibt er, den Anstoß zum Studium der Geschichte habe ihm eine Dame gegeben, „une personne tres rare dans son stecle et dans tous les stecles". Sie habe gefragt, was es denn für sie als Französin für einen Wert habe, zu wissen, daß Egil der Nachfolger des Königs Haquin in Schweden und Ottoman der Sohn Ortoguls war. Von dieser Frage betroffen, habe er begonnen, mit jener Dame, Madame de Chätelet, Geschichte zu treiben, um sie, wie er an einer andern Stelle sagt, „mit der Geschichtswissenschaft auszusöhnen" (XXIV, 543). Diese Anekdote darf freilich nicht ganz ernst genommen werden. Schon ehe sich Voltaire, von Frau von Chätelet angeregt, 1740 an seine 4 Die Zitate aus Voltaire werden angeführt nach den „Oeuvres completes de Voltaire", ed. Moland, 1877—85. Die römischen Ziffern bedeuten die Nummern der Bände, die arabischen die Seitenzahlen.

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„Philosophie de l'histoire" machte, die er dann 1756 als Einleitung seinem großen Werk „Essai sur les moeurs et l'esprit des nations" voranstellte, hatte er bereits mit seinem zweiten bedeutenden Geschichtswerk, dem „Steele de Louis XIV", begonnen, und schon neun Jahre früher hatte er eine Geschichte Karls XII. von Schweden veröffentlicht. So ist jener Bericht über den Ursprung seiner historischen Studien wohl eher aus Galanterie als aus der Bemühung um biographische Akribie entstanden. Und doch ist er in mehr als einer Hinsicht für Voltaire charakteristisch. Einmal zeigt er, daß es diesem in der Tat vornehmlich um die Frage ging, wie man auf angemessene Weise Geschichte darzustellen habe. Darüber hinaus ist er für den Blickpunkt aufschlußreich, aus dem Voltaire die Geschichte ansieht. Wenn er seine Art der historischen Darstellung einmal als die Weise bezeichnet, in der eine Dame „d'un esprit sup6rieur" die Geschichte mit ihm zusammen studiert habe und in der alle Personen ihres Standes sie studieren wollten (XXIV, 45 f.), so ist damit aufs deutlichste der Standort umrissen, von dem her er die Geschichte betrachtet: es ist die Welt der höfischen Gesellschaft. Sie war, im Zeitalter der Aufklärung, dem einseitigen Interesse an kriegerischen Geschehnissen oder an theologischen Streitigkeiten entwachsen und hatte ihr Bedürfnis nach Bildung entdeckt. Und dazu gehörte ihr auch das Wissen um geschichtliche Ereignisse. So ist die Geschichte in der Sicht Voltaires zunächst ein Gegenstand der Konversation der gebildeten Welt. Daher liegt auch über seinen historischen Werken, in der leichten Anmut der Sprache und der Darstellung und in der überlegenen Ironie, die das Ganze durchzieht, etwas vom Glänze des geistreichen Gespräches im Salon, das Voltaire, „dieser lebendigste aller Menschen", wie ihn Dilthey nennt aufs vollkommenste beherrschte. Von daher wird es nun auch begreiflich, daß Voltaire von einer Geschichtsdarstellung vor allem dies fordert, daß sie unterhaltend sein müsse. Jene Dame, berichtet er, habe in den Historienbüchern nichts als langweilige Details gefunden (XXIV, 42); so komme es darauf an, die Geschichte interessant zu machen. Und darum sagt er auch ausdrücklich, der Historiker habe vor allem zwei Pflichten: „die eine, nicht zu verleumden, die andere, nicht zu langweilen" (XXXVIII, 283). Was kann unter diesem Gesichtspunkt die Geschichte für Voltaire bedeuten? Offenbar nichts weiter als ein Mittel, die Langeweile des gesellschaftlichen Daseins auf eine unterhaltende Weise zu vertreiben, und β Das achtzehnte Jahrhundert . . . , a.a.O., S. 232. 72

zwar durch eine Beschäftigung, die einem das Bewußtsein gibt, daß man seine „Zeit nicht verloren" habe (XXIV, 42). Sie ist Gegenstand eines Spieles, das den Anschein des Ernstes besitzt. So zeigt sich hier, charakteristisch für die Aufklärung, eine eigentümliche Haltung der Geschichte gegenüber: die Freiheit der Unverbindlichkeit. Sie geht den, der sich mit ihr befaßt, nicht unmittelbar an; er bleibt ihr gegenüber in der Distanz, sie läßt ihn unbeteiligt. Daß also das Studium der Geschichte aus den Bedürfnissen der gesellschaftlichen Konversation erwachsen ist, das zeigt, daß sein Ursprung weder in dem Willen liegt, sich durch Befragung des Vergangenen über die eigene Gegenwart zu verständigen, noch in dem Streben nach Befreiung von der Bedrückung durch die Macht des Gewesenen. Und so wäre die Aufklärung, repräsentiert in Voltaire, zwar „geschichtlich" in dem Sinne, daß sie sich mit der Geschichte befaßt, aber sie wäre in tieferer Bedeutung doch „ungeschichtlich". 3 Mit dem bisher Erörterten ist die Frage nach dem Verhältnis Voltaires zur Geschichte freilich erst in einem äußerlichen Sinne beantwortet. Denn was bedeutet es, daß er die Betrachtung des Vergangenen vom Standpunkt des Mannes von Welt aus als „philosophie de l'histoire" bezeichnet? Muß nicht ihm, der diesen Ausdruck allererst geprägt hat, das Philosophische in der Beschäftigung mit der Geschichte das vorzügliche Anliegen gewesen sein? Ehe jedoch diese Frage beantwortet werden kann, ist zunächst zuzusehen, was denn Voltaire unter Geschichtsphilosophie versteht. Wir sind gewohnt, der Geschichtsphilosophie eine doppelte Aufgabe zuzuweisen: einmal soll sie die Kategorien des Historischen und das Wesen der Geschichtlichkeit herausarbeiten; zum andern soll sie sich darum bemühen, den Sinn des geschichtlichen Geschehens zu ergründen. Voltaire aber gibt seiner „philosophie de l'histoire" keine solche besondere Aufgabe. Sie ist nur eine bestimmte Weise, Geschichte zu treiben. Es gibt nicht neben dem Historiker noch den Geschichtsphilosophen, sondern jener selber kann Geschichte entweder naiv betreiben oder in der Weise des Philosophen, „en philosophe" (XI, 3). So geht es zunächst darum, zu begreifen, wie sich denn diese philosophische Art der Geschichtsbetrachtung darstellt. Wieder gibt jene Anekdote Auskunft, die Voltaire über seine Anregung zur Beschäftigung mit der Geschichte erzählt. Jene Dame, die er ausdrücklich als „femme philosophe" bezeichnet, sei aus zwei Gründen von der bisherigen Art, Geschichte zu schreiben, angewidert worden: einmal wegen der „d0tails emuxyeux", der langweiligen Einzelheiten, so73

dann wegen der „mensonges rövoltants", der empörenden Lügen (XXIV, 543). Beides sei ihr unphilosophisch erschienen, und sie habe demgegenüber eine Weise der Geschichtsbetrachtung gesucht, „qui parlät ä la raison" (XXIV, 545). Die Geschichte „en philosophe" zu betreiben, heißt also für Voltaire, die Vernunft zum Maßstab der Darstellung zu machen, und zwar in doppelter Hinsicht, einmal in der Abkehr von dem „Haufen unnützer Tatsachen" (XXIV, 543), sodann in der Ermittlung der historischen Wahrheit. Das erste Erfordernis einer philosophischen Geschichtsbetrachtung ist demnach, daß sie das Wesentliche in den Geschehnissen erfasse und darauf verzichte, gleich der bloß chronistischen Geschichtsschreibung das Detail um seiner selbst willen mitzuteilen. Daher sagt Voltaire, man müsse „die Dinge im Großen sehen" (XXIV, 47). Er will das überhaupt nicht erwähnt wissen, was nur „ein Chaos, eine Anhäufung unnützer Tatbestände, in der Mehrzahl falsch und schlecht verdaut," ist (XXIV, 543); wichtig ist ihm nur, „was die Aufmerksamkeit aller Zeiten verdient" (XIV, 158 f.). Eben diese kleinliche Zersplitterung war es ja, was jene Dame so sehr abstieß; sie sah „nichts als Verwirrung, eine Menge von kleinen Ereignissen ohne Verbindung und ohne Folge, tausend Schlachten, die nichts entschieden haben" (XXIV, 41). Dem dagegen, so meint Voltaire, der die Geschichte „en philosophe" betreibe, könne nichts an diesen „ebenso langweiligen wie unzuverlässigen kriegerischen Einzelheiten" liegen (XXIV, 42); ihm müsse es vielmehr darauf ankommen, den „Faden" zu finden, der es ermögliche, „im Labyrinth der Geschichte" sich zurechtzufinden und so das „Chaos von Ereignissen, Parteiungen, Revolutionen und Verbrechen" zu lichten (XXIV, 547). Statt „eine enorme Fülle von Tatsachen anzuhäufen, von denen die einen immer durch die andern ausgelöscht werden", solle man nur „die wichtigsten und am besten gesicherten auswählen, die den Leser führen könnten" (XXIV, 548). Das zweite, wichtigere Erfordernis der philosophischen Geschichtsbetrachtung im Sinne Voltaires ist die Bemühung um historische Wahrheit. Wiederum wendet er sich hier gegen die traditionelle Geschichtsschreibung; sie ist ihm voll von „unnützen Irrtümern" (XI, 3). „Wenn ein gesunder Kopf die Historie liest, ist es fast sein einziges Geschäft, sie zu widerlegen" (XI, 427). Selbst die noch im Humanismus für unantastbar geachteten antiken Schriftsteller halten vor der Frage nach der historischen Wahrheit nicht stand; zu deutlich tragen ihre Berichte die Spuren der Herkunft aus den Fabeln der Vorzeit an sich. Gegen solche naive Geschichtsschreibung entwickelt Voltaire Ansätze zu einer Lehre von den Prinzipien der historischen Kritik. Sie unter74

scheidet sich freilich von der Quellenkritik im modernen Sinne darin, daß ihr Maßstab außerhistorisch ist. Wahr in den geschichtlichen Berichten kann darnach nur sein, was mit den Wahrheiten in Übereinstimmung steht, die in der Zeit des Geschichtsschreibers anerkannt sind. Daraus ergibt sich ein dreifacher Maßstab des historischen Urteils. Alles das wird verworfen, was „mit der Naturwissenschaft, mit der Vernunft, mit dem Wesen des menschlichen Herzens nicht in Einklang steht" (XXIII, 439). So fallen, nach der Richtschnur der Naturwissenschaft, alle Wunderberichte, deren die profanen wie die theologisch bestimmten historischen Berichte voll sind, unter das Verdikt; „was dem normalen Lauf der Natur widerstreitet, darf niemals geglaubt werden" (XIX, 359). Nach dem zweiten Grundsatz ist jeder Bericht anzuzweifeln, der der Vernunft widerstreitet; Vernunft aber heißt hier soviel wie „les regies du bon sens", die Regeln des gesunden Menschenverstandes; so wird hier das Ideal der aufklärerischen Verständigkeit zum Herrn über die Geschichtsbetrachtung gemacht. Und dieses selbe Ideal, übertragen auf den Bereich des Menschlichen, bestimmt auch den dritten Grundsatz der historischen Kritik; „es wird also erlaubt sein, an allen Ereignissen zu zweifeln, die nicht in der normalen Ordnung der menschlichen Dinge liegen" (XIX, 359); auch im psychologischen Bereich wird so die Einsicht des Zeitalters zum Maßstab für Wahrheit oder Nicht-Wahrheit des Berichteten erhoben. Diese Prinzipien der historischen Kritik reichen freilich nur aus, um den Irrtum in der Geschichtsschreibung ausfindig zu machen, nicht aber, um die historische Wahrheit zu verbürgen. Das ist Voltaire nicht entgangen, und so wird er dazu geführt, sich über das Wesen der Gewißheit im Felde des Geschichtlichen Rechenschaft zu geben. Dabei bleibt es aber bei Andeutungen, deren wichtigste sich in dem Satz ausspricht: „Jede Gewißheit, die nicht mathematische Demonstration ist, ist nur eine äußerste Wahrscheinlichkeit; es gibt keine andere historische Gewißheit" (XIX, 358). Die wesentlichste Leistung Voltaires in diesem Fragebereich ist also die Ausarbeitung kritischer Maßstäbe. Entscheidend ist dabei, daß die Vernunft zum Maßstab dessen wird, was in der Geschichte möglich ist; wir müssen „die Wahrscheinlichkeiten abwägen und uns unserer Vernunft bedienen" (XI, 41). Diese Vernunft selber aber wird in keiner Weise in ihrer historischen Bedingtheit gesehen, sondern auf der Stufe, die sie im Zeitalter Voltaires erreicht hat, verabsolutiert. Darum auch kann die Vergangenheit keine Macht über die Gegenwart besitzen; diese vielmehr, wie sie im Besitz der Maßstäbe der Vernunft ist, ist des Gewesenen dergestalt mächtig, daß sie die Instanz für dessen Wahrheit oder Nicht-Wahrheit ist. Sie läßt aus den Berichten über das Vergangene nur 75

das zu, was sich ihr fügt. Und weil so alles Geschichtliche durch den Filter der gegenwärtigen Verständigkeit hindurchgehen muß, kann es im Vergangenen nichts geben, was überraschend wäre und was die Gegenwart betroffen machen könnte. So bestätigt sich auch in diesem zweiten Gange der Frage nach der Geschichtlichkeit der Aufklärung, daß diese zwar insofern nicht ungeschichtlich ist, als sie Geschichte treibt; was ihr aber fehlt, ist ein Wissen um die geschichtliche Bedingtheit ihrer eigenen Gegenwart oder gar um deren Überwältigtsein durch das Gewesene. Die Vernunft ist es, die ihr die geschichtslose Freiheit von der Geschichte verschafft. 4 Ist es aber so, dann erscheint es rätselhaft, weshalb Voltaire und weshalb die Aufklärung überhaupt Geschichte treiben. Zunächst zeigte sich diese als Gegenstand der geistreichen Konversation; aber warum wirft sich denn die Gesellschaft in jenem Zeitalter unter all ihren möglichen Zerstreuungen gerade auf das Spiel mit der Historie? Sodann stellte sich die philosophische Betrachtung der Geschichte als Aufspüren des Wesentlichen und als kritische Durchleuchtung des Vergangenen dar; aber wiederum: weshalb wendet sich die philosophische Bemühung gerade der Geschichte zu? Voltaire stellt sich ausdrücklich die Frage, welchen Sinn es habe, sich mit der Geschichte zu befassen. Ein Abschnitt aus dem „Dictionnaire philosophique" trägt die Überschrift: „De l'utilit6 de l'histoire" (XIX, 356); an anderer Stelle fragt er: „Welchen Nutzen wird man aus der Historie ziehen?" (XIII, 173). Damit ist der Gesichtspunkt klar ausgesprochen: die Beschäftigung mit der Geschichte muß sich aus dem rechtfertigen, was sie für die Gegenwart beiträgt; die Frage nach dem Sinn wird auf die Frage nach dem Nutzen zurückverwiesen. Die Antwort, die Voltaire gibt, ist zunächst fast tautologisch: Geschichte zu treiben ist darum nützlich, weil wir in solchem Tun „nützliche Wahrheiten" gewinnen können (XI, 3). Dann aber bestimmt Voltaire diese nützlichen Wahrheiten auch sachhaltig: Geschichte als „histoire utile" müßte uns belehren über „nos devoirs et nos droits", über unsere Pflichten und unsere Rechte (XIX, 354). Ihr Nutzen besteht also darin, daß der Mensch aus ihr erfahren kann, was er sein darf und was er sein soll. In dieser Aufgabenstellung für die historische Bemühung ist ein Vierfaches wichtig. Das erste ist, daß die Geschichtsbetrachtung nützlich sein muß für „uns", das heißt für den Menschen. Daher muß, wer sich mit der Ge76

schichte befaßt, um daraus zu lernen, auf diesen sein besonderes Augenmerk richten; so sagt Voltaire, die Devise des Geschichtsschreibers, der sich „en vrai philosophe" mit dem Vergangenen befasse, müsse lauten: „Homo sum, humani nil a me alienum puto" (XVI, 140). Der Mensch, das ist aber nicht nur die hervorragende Persönlichkeit, sondern das sind „wir", das ist der Mensch überhaupt. „Ich betrachte also hier im allgemeinen mehr das Schicksal der Menschen als die Umwälzungen des Thrones. Auf das Menschengeschlecht hätte man in der Geschichte achten müssen; da hätte jeder Schriftsteller sagen müssen: homo sum" (XII, 72). Von dieser Wendung des Blickes, weg von den Berichten über die Taten von Königen und Höfen und hin zu den Schicksalen des „genre humain", erwartet Voltaire eine entscheidende Umwälzung in der Geschichtsschreibung, vergleichbar der Revolution, die die Physik in der Neuzeit erfahren habe (XVI, 140). Zum zweiten ist an der Aufgabe, wie sie Voltaire der Geschichtsschreibung zuweist, bedeutsam, daß es ihr um den Menschen nicht in seinen zufälligen Besonderheiten gehen solle, sondern in seinem Wesen; der eigentliche Nutzen der Historie besteht nicht darin, uns über einzelne mehr oder minder interessante Handlungen von Menschen zu belehren, sondern uns davon Kunde zu geben, was der Mensch ist. Immer wieder betont daher Voltaire, man müsse auf „die Natur des Menschen" zurückgehen (XI, 93). Daher auch sagt er, in jener entscheidenden Umwälzung in der Geschichtsschreibung gehe es darum, daß man das „genre humain" begreife „in jenem interessanten Detail, das heute die Grundlage der philosophie naturelle" ausmache (XIV, 138), also in den philosophischen Einsichten über das natürliche Wesen des Menschen. Das Wesen des Menschen ist aber für die Aufklärung nicht nur der Grundbestand an allgemeinen Bestimmungen, die den Menschen als Menschen auszeichnen; es konstituiert sich vielmehr vorzüglich in dem, was Voltaire die „Rechte und Pflichten" nennt. Darin liegt — und das ist der dritte wesentliche Gesichtspunkt —: der Mensch ist primär gesehen von seiner geistigen Existenz her. So sind für die Geschichtsbetrachtung zuletzt nicht Schlachten und äußere Geschehnisse wichtig, sondern die Schritte, die der menschliche Geist in seiner Vergangenheit getan hat: Geschichte wird zur „Geschichte des Menschengeistes" (XXIV, 42); „je n'examine que l'histoire de l'esprit humain" (XI, 16). Das vierte wesentliche Moment in der Aufgabenstellung Voltaires für die Geschichte besteht schließlich darin, daß der Geist des Menschen von seinen sittlichen Möglichkeiten her verstanden wird. Darin soll ja der Nutzen der Geschichte liegen, daß sie uns über „unsere Pflichten und unsere Rechte" belehre, daß sie also auf das hinweise, was der 77

Mensch tun und sein soll und tun und sein darf. Geschichtsbetrachtung dient also der moralischen Bildung des Menschen. Und dies eben macht auch ihren philosophischen Sinn aus; denn wer die Geschichte „en philosophe" betreibt, der befaßt sich mit ihr in der Abzweckung au! das sittliche Wesen des Menschen; die Aufgabe des Philosophen ist ja für Voltaire vorzüglich die, daß er den Menschen „Beispiele der Tugend" gebe (XX, 196). In diesem Sinne meint es Voltaire, wenn er sagt, die „humanitd" habe ihm seinen Essai diktiert (XXIV, 475). Der Nutzen der Bemühung um Geschichte besteht also, zusammengefaßt, darin, daß man über den Menschen als geistiges und sittliches Wesen belehrt werde. Besitzt aber dann die Geschichte nicht doch eine wesentlichere Bedeutung für Voltaire, als es bisher erschien? Vorhin zeigte sich, daß die Gegenwart in ihrer Vernünftigkeit dergestalt über das Vergangene herrscht, daß sie über dessen Wahrheit oder NichtWahrheit entscheidet. Jetzt aber scheint sich das Verhältnis umzudrehen: die Geschichte bestimmt in der Weise über die Gegenwart, daß sie den, der sich mit ihr befaßt, in seinem Heute belehren kann. Muß dies beides nicht im Widerspruch miteinander stehen? Ist es aber richtig, zu sagen, indem die Geschichte den Menschen belehre, bestimme sie über die Gegenwart? Das wäre doch nur dann der Fall, wenn sie dem, der sich mit ihr befaßt, Neues und Überraschendes über sein Wesen aufschließen könnte. Davon aber ist bei Voltaire nicht die Rede. Die Geschichte kann vielmehr nur Beispiele zur Verdeutlichung dessen liefern, was, wer sich mit ihr beschäftigt, schon von sich selber her, aus philosophischer Einsicht, über Wesen und Bestimmung des Menschen weiß. So kann Voltaire etwa darin einen Nutzen der Historie finden, daß sie „die Verbrechen und das Elend" sichtbar mache und so zur moralischen Wandlung führe (XIX, 357); ob aber das Geschehene Verbrechen oder Wohltat ist, das entscheidet sich aus den gegenwärtigen sittlichen Einsichten. Man müsse, sagt Voltaire deshalb, „diese nützlichen Erkenntnisse in das Gewebe der Ereignisse einflechten"; dies sei „la seule maniere d'6crire l'histoire moderne en vrai politique et en vrai philosophe" (XVI, 140). So bleibt auch hier, in der Frage nach dem Nutzen der Geschichtsschreibung, der Vorrang der Gegenwart vor der Vergangenheit erhalten. Daher auch ist das, was Voltaire zuletzt als das Wesentliche des geschichtlichen Menschen begreift, nicht seine historische Wandelbarkeit, sondern sein immer gleiches Wesen: „Der Mensch ist im allgemeinen immer gewesen, was er ist" (XI, 21). Und so kann Voltaire das Endergebnis seiner Geschichtsdarstellung darin zusammenfassen, „daß alles, was innerlich an die menschliche Natur rührt, sich von einem Ende des Uni78

versums zum andern ähnelt" (XIII, 182). Wiederum bestätigt sich so, daß die Aufklärung „geschichtlich" nur in jenem ersten Sinne ist, sofern sie nämlich Geschichte treibt, nicht aber in den beiden wesentlicheren Bedeutungen, daß sie sich von der Vergangenheit bestimmt oder gar unter deren Macht stehend wüßte. 5 Daß die Geschichtsbetrachtung dergestalt auf den Nutzen für den Menschen zielt, das ist nun auch entscheidend für das Bild, das Voltaire vom historischen Geschehen selber entwirft. Geschichte als „histoire de l'homme" ist in einem ausgezeichneten Sinne menschliche Geschichte: ihr Subjekt sind die Taten des Menschen, sie ist der Schauplatz der menschlichen Freiheit. So nimmt der Gedanke der Souveränität des Menschen, diese Grundkategorie der Aufklärung, auch von der Bemühung um die Geschichte Besitz. Damit grenzt sich Voltaire aufs schärfste gegen alle theologische Deutung der Geschichte ab, wie sie zuletzt noch Bossuet in seinem „Discours sur l'histoire universelle" entwickelt hatte. Dort ist das eigentliche Subjekt des Geschehens nicht der Mensch, sondern Gott; Geschichte ist Darstellung der Taten Gottes, und sie vollzieht sich nach den geheimen Ratschlüssen der göttlichen Vorsehung. Über die Verzeichnung, die der geschichtliche Prozeß in solcher Sicht erhält, gießt Voltaire die ganze Fülle seines Spottes aus. Ein kleines Volk in einem vergessenen Winkel der Erde, „ce malheureux petit peuple juif" (XLI, 437), solle eine derartige Bedeutung besitzen, daß es zum Mittelpunkt des Weltgeschehens geworden sei. „Der berühmte Bossuet... scheint nur darum geschrieben zu haben, damit er uns glauben mache, alles in der Welt sei um des jüdischen Volkes willen geschehen" (XI, 158). Solcher theologischen Geschichtsdeutung gegenüber will Voltaire konsequent Profangeschichte treiben. Seine Aufgabe sieht er nicht in der Ergründung der göttlichen Geheimnisse in ihrem Walten in der Geschichte, sondern darin, die „histoire de 1'homme" darzustellen (XI, 76); und er fügt hinzu: „es ist klar, daß die Geschichte Gottes der der Menschen nicht zu gleichen braucht" (XI, 112). Im letzten Grunde geht es in dieser Auseinandersetzung mit Bossuet darum, daß die Betrachtung der Geschichte unter dem Gesichtspunkt des Endzweckes durch eine Erfassung der natürlichen Ursachen des historischen Geschehens abgelöst werden soll: „wir überlegen hier nur nach den natürlichen Begriffen" (XI, 28). Daher auch wird der Gang der Geschichte, wie ihn Voltaire sieht, nicht durch übernatürliche Eingriffe bestimmt; er hat vielmehr natürliche Wurzeln: Klima, Zufall, Macht, 79

Geld, den Willen der großen Männer, die menschlichen Leidenschaften. Diese weltliche Sicht allein ist imstande, „das Rätsel der Welt zu lösen" (XIII, 178). Nur eine solche profangeschichtliche Betrachtung ermöglicht nach der Meinung Voltaires eine wahrhafte Universalgeschichte; sie erst löst die unnatürliche Verklammerung des Weltgeschehens mit den Vorkommnissen im Lande Palästina, die zwar heilsgeschichtlich von Bedeutung sein mögen, weltgeschichtlich aber ohne jedes Gewicht sind. Bossuets Universalgeschichte ist darum für Voltaire keine wahrhaft allgemeine Geschichte; denn jener „oubliät en effet l'univers dans une histoire universelle" (XXIV, 546). In der Tat öffnet sich nun die Geschichtsdarstellung für die Weite der Welt; Voltaire beginnt, die Inder und Chinesen, für die er, ganz im Geiste seiner Zeit, eine besondere Vorliebe besitzt, in die Weltgeschichte mit einzubeziehen. Profangeschichte aber wird die Geschichte nicht nur in dem Sinne, daß der Historiker statt göttlicher Taten menschliche Ereignisse berichtet; das Wesentliche in der Geschichte ist ja das, was den Menschen als geistige und sittliche Existenz auszeichnet. So wird die Geschichte für Voltaire zur Kultur- und Geistesgeschichte, und er kann als SCI 00 II hauptsächliche Idee" formulieren: „die Sitten der Völker, so viel als möglich, kennenzulernen und den menschlichen Geist zu studieren" (XXIV, 51). Das heißt zum einen negativ: die Berichte von Kriegen und Fürsten werden unwesentlich. Nur diejenigen Herrscher lohnt sich zu kennen, „die das Antlitz der Erde verändert, und insbesondere diejenigen, die ihre Völker besser und glücklicher gemacht haben" (XXIV, 52). Überhaupt treten vor den geistigen Geschehnissen die äußeren Begebenheiten zurück; die „Geschichte der Künste" erhält den Vorrang vor der „Geschichte der Fakten" (XXIV, 43), und wichtig sind nur diejenigen Ereignisse, „die mit den Sitten und dem Geist der Zeit in Zusammenhang stehen" (XIII, 123). Positiv bestimmt Voltaire als die „wahre Geschichte . . . die der Sitten, der Gesetze, der Künste und der Fortschritte des menschlichen Geistes" (XLV, 230). Daher auch lautet der Titel seines großen Hauptwerkes: „Essai sur les moeurs et l'esprit des nations". Dabei versteht Voltaire unter den „Sitten" nicht allein die spezifisch sittlichen Taten des Menschen, sondern auch Religion, Kunst, Wissenschaft, Recht, ja sogar die „usages" (XI, 157), also die Gebräuche oder etwa auch die Arten und Formen der handwerklichen Betätigung. All dies miteinander konstituiert den Geist einer Zeit, um dessen Erfassung es Voltaire in seiner Geschichtsdarstellung geht; so kann er schließlich die wesentliche Aufgabe seiner historischen Bemühungen dahin bestimmen, „unter Fest80

haltung derjenigen (Ereignisse), die die Sitten schildern", aus dem „Chaos" ein „umfassendes, wohlgegliedertes Gemälde" zu entwerfen (XXIV, 42). Mit dieser Vermenschlichung der Geschichte ist ein wesentlicher Schritt in der Richtung auf eine Entwertung der Vergangenheit zugunsten der Gegenwart getan. In der theologischen Geschichtsdeutung wird die jeweilige Gegenwart entscheidend durch die vergangenen Taten Gottes, vorab die Erlösung um die Zeitwende, bestimmt; sie ist, was sie ist, von ihrer Stellung zu ihrer Vergangenheit her. Bei Voltaire aber bleibt, eben um der Emanzipation des Menschlichen willen, von solcher Verhaftetheit an das Gewesene nichts mehr übrig. Geschichte ist nur noch das Feld, auf dem sich der menschliche Geist in seinen vielfältigen Erscheinungsweisen darstellt; die Gegenwart aber trägt in ihrer besonderen Art, den Geist der Menschheit auszudrücken, in sich selber ihren Sinn. Wieder also bestätigt sich die wesenhafte Ungeschichtlichkeit der Aufklärung. 6 Wird aber darauf verzichtet, die Geschichte von den Taten Gottes her zu deuten, dann fällt auch der damit gegebene Sinnzusammenhang weg. Die theologische Geschichtsauffassung verstand das Geschehen so, daß es einheitlich auf den göttlichen Willen bezogen ist und auf einen von Gott gesetzten Endzweck zuläuft. Muß es nicht jetzt, da dieser Bezugspunkt fragwürdig geworden ist, zu einem planlosen und ziellosen Durcheinander werden? Fast hat es den Anschein, als wäre dies das letzte Ergebnis des Blickes, den Voltaire auf die Geschichte wirft. Aufs Ganze gesehen, bietet ihm die Geschichte ein verzweifeltes Bild; sie ist „ein Haufen von Verbrechen, Dummheiten, Elend" (XIII, 177). „Man sieht in der so begriffenen Geschichte die Irrtümer und die Vorurteile sich Zug um Zug folgen und die Wahrheit und die Vernunft verjagen" (XXIV, 548). So kann Voltaire einmal sagen, die Geschichtsschreibung, wie er sie in seinem Essai unternommen habe, bestehe zuletzt nur darin, das „tableau des sottises humaines", das Gemälde der menschlichen Dummheiten, zu entwerfen (XXXVIII, 395). Am Ende freilich bleibt es nicht bei diesem düsteren Bilde; inmitten des Chaos finden sich Spuren des wahren Menschentums, „einige glückliche Zeiten, Behausungen, hier und da verstreut in wilden Wüsten" (XIII, 177). Doch sind ihrer nicht viele; es gibt nur vier Jahrhunderte, die in der Weltgeschichte, wenn sie als Geistes- und Kulturgeschichte verstanden wird, eigentlich zählen, „die in bezug auf die Größe des mensch6 Weischedel

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liehen Geistes Epoche gemacht haben und das Beispiel der Nachwelt sind" (XIV, 155). Es sind die „quatre äges heureux": die Zeitalter des Perikles, des Augustus, der Renaissance und Ludwigs des Vierzehnten. Diesen Zeitaltern fehlt nicht, was die Geschichte im allgemeinen durchherrscht: Laster und Verbrechen. „In der menschlichen Bosheit gleichen sich alle Jahrhunderte" (XIV, 157). Ihre Vorzüglichkeit besteht lediglich darin, daß in ihnen Künste und Wissenschaften besonders hell geglänzt haben; sie sind „ausgezeichnet durch die großen Talente" (XIV, 157). So ist es die hohe Stufe des Geistes, die sie aus den andern Zeitaltern heraushebt. Das Bild der Geschichte, wie es sich Voltaire darstellt, ist also das einer großen Dunkelheit, aus der je und dann kleine Lichtpunkte hervortauchen, eines Meeres von Barbarei mit vereinzelten Inseln der Humanität und der Kultur. Die „glücklichen Zeitalter" steigen herauf und sinken wieder unter; die Rolle der Zeit ist, daß sie „die Sitten bald verdirbt, bald wiederherstellt" (XI, 103). Ist aber der Gang der Geschichte nichts als ein solches Auf und Ab, dann scheint es, als habe sie keine eindeutige Richtung. Muß man dann nicht darauf verzichten, überhaupt nach ihrem Sinn zu fragen? Wäre dies Bild des wechselnden Strömens aber das Letzte, was Voltaire über die Geschichte denkt, dann widerspräche es aufs heftigste dem Bewußtsein, das die Aufklärung von der Bedeutung ihrer eigenen Gegenwart hatte. Schon der Begriff der Aufklärung spricht einen solchen Vorrang aus; so nennt denn auch Voltaire sein eigenes Zeitalter „le stecle le plus 6clair£ qui ffit jamais" (XIV, 155). Damit aber „nähert es sich am weitesten der Vollkommenheit" (XIV, 156). Was die Künste angeht, so unterscheidet es sich für Voltaire freilich nicht von den drei andern glücklichen Zeitaltern; aber es hat vor ihnen voraus, daß es das Zeitalter der „raison" ist (XXVII, 296); „die menschliche Vernunft im allgemeinen hat sich vervollkommnet" (XIV, 156). Hat aber die Gegenwart eine Stufe des geistigen Seins erreicht, die bis dahin noch nie verwirklicht wurde, dann gibt es doch eine eindeutige Richtung des Ablaufs der Geschichte. Daher spricht auch Voltaire das Grundwort des Geschichtsverständnisses der Aufklärung aus, den Begriff des Fortschrittes; es geht ihm um den „progräs de l'esprit humain" (XIV, 159). „Ich will den Fortschritt der Künste und des menschlichen Geistes sehen lassen und nicht die Geschichte der höfischen Intrigen und der Bosheiten der Menschen" (XXXV, 264). Als Aufgabe seiner Geschichtsdarstellung sieht er darum an, „die Auslöschung, die Wiedergeburt und die Fortschritte des menschlichen Geistes" zu zeigen (XXIV, 548). 82

Diese Fortschritte sind freilich langsam und oft kaum spürbar (XI, 29). Und doch zieht sich durch den Gang der Geschichte ein merkliches Wachstum der Vernunft hindurch. Begonnen hat die Menschheit in dunkler Vorzeit, in der „Orakel, Wunder, Ränke der Priester" ihr Dasein bestimmten (XIX, 354). Sie konnte sich aber aus solcher Finsternis herausarbeiten, weil Gott ihr „ein Prinzip universeller Vernunft" gegeben hat (XI, 23); es ist ein „raisonnement naturel de l'ignorance qui commence ä raisonner" (XI, 10). Diese im Menschen angelegte Vernunft setzt sich gegen alle Verdunkelungen, die im Laufe der Geschichte immer wieder über sie hereinbrechen, durch; unterstützt wird sie durch eine „Ordnungsliebe, die im geheimen das menschliche Geschlecht beseelt" (XIII, 180). Mit ihrer Hilfe schreitet die „raison humaine commenc6e" fort zur „raison humaine cultiv6e" (XI, 77). Geschichte ist so für Voltaire das Geschehen, in dem sich in wachsendem Maße das vernünftige Wesen des Menschen durchsetzt. Die Gegenwart ist nicht nur das Prinzip für das Urteil über Wahrheit oder Nicht-Wahrheit des geschichtlichen Geschehens, sondern auch der Sinnpunkt für dieses Geschehen selber. Denn darin eben liegt der Sinn der Geschichte, daß sie sich aus der Dunkelheit der frühen Zeit zum hellen Lichte der gegenwärtigen Vernünftigkeit herausgearbeitet hat. So zeigt sich wiederum die Gegenwart als die entscheidende der Dimensionen der Zeit. Die Vergangenheit ist nur Vorbereitung, die in dem Augenblick ihre Bedeutung verliert, in dem sie in die Gegenwart übergegangen ist; sie ist dann nur noch das Gewesene, das Zurückgelassene, nicht mehr das, was die Gegenwart wirksam bestimmen könnte. Aber muß nicht in solcher Sicht zuletzt die Zukunft die wesentliche Zeitdimension sein? Denn jenes Geschehen der wachsenden Vernünftigkeit kann doch mit dem in der Gegenwart erreichten Stande nicht zu Ende sein; „es ist zu glauben, daß die Vernunft . . . immer neue Fortschritte machen wird" (XXIV, 475). Aber dieser Verweis auf die Zukunft beraubt den gegenwärtigen Augenblick nicht seiner wesentlichen Bedeutung. Das wird aus einer Abgrenzung gegen die eschatologische Sicht auf die Geschichte deutlich; in dieser steht das entscheidende Geschehen noch bevor, und die Gegenwart ist dadurch bestimmt, daß sie darauf wartet. Voltaire jedoch sieht in der Zukunft nichts grundsätzlich Neues gegenüber dem bereits Erreichten; nur der Grad, nicht die Art dessen, was die Gegenwart bestimmt, wird sich noch wandeln; die Vernfinftigkeit wird nur dahin gelangt sein, das, was sie bereits jetzt erreicht hat, noch vollkommener verwirklichen zu können, und die Reste der Dunkelheit noch erfolgreicher abzulegen. So zeigt sich auch in der Frage nach dem Sinn des historischen Ge6*

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schehens, daß die Gegenwart den entscheidenden Gesichtspunkt hergibt. Die Geschichte erhält ihr Sinnprinzip von der Gegenwart her, und sie ist weder bestimmender Faktor noch Macht, sondern das Vergangene, das in die Gleichgültigkeit des Gewesenseins zurückgesunken ist. 7 Was ergibt sich nun aus der Untersuchung der Geschichtsauffassung Voltaires für die Frage nach der „Geschichtlichkeit" und dem historischen Sinn der Aufklärung? Kein Zweifel ist, daß diese in dem Sinne „geschichtlich" ist, daß sie Geschichte treibt und sich um das Vergangene bemüht. Sieht man aber genauer zu, so bedeutet das nichts weiter, als daß sich die allgemeine Lust am Wissen, die die Aufklärung kennzeichnet, auch auf dieses besondere Gegenstandsgebiet „Geschichte" wirft. Geschichte wird zum Thema wie anderes Wissenswerte auch und wird nicht in ihrer besonderen Fragwürdigkeit gesehen; wenn sich ein Mann wie Voltaire mit ihr befaßt, dann geschieht es mit der unbeteiligten Souveränität der geistreichen Gesichtspunkte, die so deutlich ihre Herkunft aus dem Bereich des gebildeten Gesprächs im Salon verrät. Tiefer zeigt sich dieses Übersehen der Besonderheiten des Gegenstandsgebietes „Geschichte" darin, daß die Gegenwart vor der Vergangenheit den Vorrang besitzt und das eigentlich Entscheidende und Bestimmende ist. Sie liefert die Kriterien für Wahrheit oder NichtWahrheit des Berichteten und für Möglichkeit oder Unmöglichkeit des vergangenen Geschehens; so kommt es zu Ansätzen historischer Kritik und geschichtlicher Methodenlehre. Das Wissen, das das Zeitalter vom Menschen und seiner geistigen und sittlichen Aufgabe hat, bestimmt das Bild von der Geschichte; so wandelt sich die theologische Geschichtsdeutung zur Profangeschichte, die Historie der Fakten zur Kulturgeschichte. Die Gegenwart ist es schließlich, von der her sich Sinn und Ziel der Geschichte bestimmen; so tritt an die Stelle der in dem Geschehen sich verwirklichenden göttlichen Zwecksetzung der Fortschritt der Vernunft bis hin zum eigenen Zeitalter. Dieser entscheidende Vorrang der Gegenwart vor der Vergangenheit macht es, daß die Aufklärung, obzwar sie weit in das Gewesene ausgreift, doch in tieferem Sinne ungeschichtlich ist. Sie begreift sich nicht selber als eine Welle in dem mächtigen Strome der Geschichte; der allgemeine Gedanke, daß alles Gewordene eine Herkunft hat, wird zwar nicht bestritten, spielt aber keine Rolle für das Bewußtsein der eigenen Geschichtlichkeit. So ist die Aufklärung nicht „geschichtlich" in jenem zweiten eingangs dargelegten Sinne. 84

Noch weniger kann man von einer „Geschichtlichkeit" der Aufklärung in jenem dritten Sinne sprechen, in dem wir uns heute weithin als von der Übermacht des Gewesenen bedrängt wissen. Sie ist in keiner Weise historistisch, denn sie ist zu tief von dem unvergleichlichen Werte des eigenen Zeitalters durchdrungen, als daß sie das Bewußtsein der Bedingtheit durch die Vergangenheit erschüttern oder auch nur berühren könnte. Das Vergangene ist nicht das machtvoll Weiterwirkende, sondern ist in die Ohnmacht des bloß noch Gewesenen zurückgesunken. Wir werden freilich die Aufklärung nicht, wie dies noch die Romantiker taten, um dieser ihrer wesenhaften Ungeschichtlichkeit willen tadeln. Im Gegenteil: in unserer gegenwärtigen Situation, in der wir in extremem Sinne historisch geworden sind und uns der übermächtig gewordenen Vergangenheit kaum mehr zu erwehren wissen, sind wir zwar sehender geworden als die Aufklärung, aber um den Preis einer tiefen Gefährdung des eigenen Standes. Statt daß wir wie jene in unserer Gegenwart den erhabenen Gipfel sähen, zu dem der mühselige und wechselvolle Aufstieg des bisherigen Geschehens geführt hat, wissen wir uns fast nur noch als Strandgut des historischen Stromes. Und doch wird die Lösung der Fragwürdigkeit, in die wir hineingeraten sind, vielleicht in einer Richtung liegen können, die uns näher an die Haltung der Aufklärung zur Geschichte heranführt. Nicht als ob wir je wieder des zuversichtlichen Glaubens sein könnten, der Gang der Geschichte sei ein Fortschritt bis zur eigenen Gegenwart. Es konnte aber sein, daß wir, gerade im Blick auf das Vergangene, wieder auf das Bleibende und Beständige aufmerksam würden, das in der Tiefe des geschichtlichen Geschehens unbeweglich ruht: das Wesen des Menschen und die Forderungen, die daraus an seine Existenz ergehen. Denn darum geht es letztlich auch Voltaire: „Alles auf der Erde ist im Wechsel; die Tugend allein wandelt sich niemals. Sie gleicht dem Licht der Sonne, das beinahe keinen Anteil an dem gemeinen Stoff besitzt und das immer rein, immer unwandelbar ist, indes die Elemente sich ohne Aufhören vermischen'1 (XI, 138). So müßten auch wir Geschichte treiben, um im Blick auf das Spiel der Veränderungen das Wesenhafte zu begreifen. Dann könnte es vielleicht gelingen, auf die besondere, uns aufgegebene Weise die verlorene Unmittelbarkeit wiederzugewinnen. So wäre die heutige Aufgabe, im wesentlichen Sinne wieder ungeschichtlich zu werden, nicht freilich in der aufklärerischen Blindheit vor der Bedrohlichkeit des Gewesenen, sondern so, daß uns im vertieften Wissen um die eigene Geschichtlichkeit das je und immer gültige Bild des Menschen wieder erstehe. 85

Die Zeit der ursprünglichen Erfahrungen Zum Denken zwischen den beiden Weltkriegen Von der V e r w u n d e r u n g des

Autors

Es gehört zu den bedenkenswertesten Erfahrungen, die man mit einem Menschen machen kann, wenn hinter der Fassade, die er — für das Auge der Mitwelt und ein klein wenig auch für den eigenen Blick — sich zurechtgebaut hat, plötzlich anderes, sonst Verborgenes zum Vorschein kommt. So war es, als mir Peter van Aubel einmal gestand, er habe die Nacht über nicht schlafen können und habe darum nach der „Summa" gegriffen. „Von Thomas?", fragte ich höchst überflüssigerweise, und die Torheit dieser Frage zeigt meine ganze Betroffenheit. Da war also ein Mann, Wirtschaftsprüfer und Wirtschaftspolitiker, großartig beschlagen in allen Sparten des Kalkulierens und Organisierens, des Untersuchens und Lenkens, kundig der verschlungenen Wege der Erwerbskunst und der Staatskunst, die beide schon von Aristoteles aufs höchste gepriesen werden, Chef einer ganzen Gesellschaft von wendigen Wirtschaftsmännern —, da war also dieser Mann van Aubel, und wenn er nachts nicht schlafen konnte, besserte er nicht an der doppelten Buchführung oder an der arg verbesserungswürdigen Kameralistik oder an den mehr oder minder verbogenen Geleisen der Wirtschaft und des Staates herum, sondern — schlug einen Band der „Summa Theologica" des Heiligen Thomas von Aquino auf. Damals war mir das eigentlich mehr von psychologischem Interesse. Heute, wenn ich daran zurückdenke, wird es mir noch in einer anderen Hinsicht ein Anlaß zur Besinnung. Was war es denn, so frage ich mich jetzt, was solche Männer zu solchen von ihrem Tagesberuf her gesehen doch recht unnützen Nachtbeschäftigungen trieb? Warum zogen sie den verschlossenen Scholastiker dem zugänglichen Kriminalroman vor? Wie, wenn diese verwunderliche Tatsache nicht nur diesen bestimmten Menschen charakterisierte, sondern wenn sich in ihr etwas vom Wesen jener merkwürdigen Zeit zwischen den beiden Weltkriegen kundgäbe, in der ich Peter van Aubel traf? War es nur der Zufall, war es nur die absonderliche Neigung eines absonderlichen Individuums, oder war es etwa eine Welle des allgemeinen Zeitgeistes, die das Buch des großen mittelalterlichen Denkers zu dem Wirtschaftsmann trug? 86

Vom H e i l i g e n d e s

Gehirns

Der Heilige Thomas war Theologe und Philosoph. Lassen wir den Theologen beiseite und begnügen wir uns mit dem Philosophen, so wäre hinzuzufügen, daß er einer von besonderer Art war. Keiner von denen, die sich mit dem Art-pour-art-Spiel methodologischer Untersuchungen zufrieden geben, oder die aus weltanschaulichen Bastionen heraus das Pulver ihrer Argumente verschießen. Wo er Philosoph war, war er Metaphysiker. Es ging ihm darum, im Denken den ersten Gründen alles Wirklichen nachzuspüren; er fragte, was denn der Mensch im Grunde seines Wesens sei, was es mit der Welt, diesem merkwürdig vergänglichen und doch bestehenden Gesamt des Seienden, letztlich auf sich habe, und wie es denn wohl um den obersten Grund des Menschen und der Welt stehe. Man sieht: dieser tiefsinnige Kopf war nicht zufrieden damit, das, was ist, in Wahrnehmung und Anschauung, in Denken und Gedächtnis aufzufassen und zu bewahren. Immer trieb es ihn darüber hinaus: zum Ersten und Letzten, zum Gründigen und Abgründigen, zum Unbedingten und Absoluten. Wo er auf die Welt blickte, wurde sie ihm transparent, wo er auf den Menschen schaute, wurde er ihm durchsichtig, und das Durchscheinende nannte er Gott. So also stand es mit diesem Heiligen des Gehirns: er war ein Metaphysiker, er war Philosoph aus metaphysischer Sehnsucht, und er liebte den Grund. Von der V e r l o r e n h e i t der

Metaphysik

Doch nun wird nur um so verwunderlicher, daß der Mann zwischen den beiden Weltkriegen in seinen schlaflosen Nächten zu dem Buch des Metaphysikers griff. Dessen gelassenes Fragen war in geruhsamen Zeiten möglich; — uns ist die Stille längst abhanden gekommen. Wir sind auch weit davon entfernt zu meinen, es sei ohne weiteres möglich, von einer geordneten Welt aus auf ihren obersten Grund zu schließen; — die Ordnung hat sich uns in Unordnung verkehrt, das Gefüge ist aus den Fugen geraten, und nichts scheint mehr in die Tiefe zu weisen. Wenn sich jene metaphysischen Fragen in das Dunkel der Gründe verloren: — wir sind in den Tag hineingestellt, uns hat die große Aufgabe der klarsichtigen Bewältigung der Welt ergriffen. In der hellen Kühle unseres Daseins gibt es keinen Raum mehr für metaphysische Träumereien. Sie waren großartig und bewundernswert, als sie zum erstenmal von den Griechen geträumt wurden; sie waren großartig und bewundernswert, als sie zuletzt noch Hegel träumte; — heute wissen wir: es waren nur Träume. Das sagen sogar die Philosophen selber. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert spricht Wilhelm Windelband im Blick auf die Gegenwart 87

von einer „Erschöpfung der metaphysischen Energie". Knapp zehn Jahre vorher schreibt Wilhelm Dilthey, die Metaphysik sei zwar „eine große geistige Tatsache" und „ein notwendiges Stadium in der geistigen Entwicklung der europäischen Völker", aber sie habe „sich überlebt" und sei daher „seit mehreren Jahrhunderten in einen allmählichen Auflösungsprozeß eingetreten". Jetzt sei es nicht mehr an der Zeit, in neuen metaphysischen Entwürfen zu schwelgen; es komme nur mehr darauf an, „die Metaphysik in ihrem Ursprung, ihrer Macht und ihrem Verfall geschichtlich zu erkennen". Erkenntnistheorie, Psychologie und Gesellschaftswissenschaft müßten an die Stelle jener untergehenden Weltdeutung treten. Freilich wird auch im Beginn unseres Jahrhunderts noch die metaphysische Tradition weitergeführt; aber diese Bemühungen gleiten immer mehr ins Unverbindliche bloßer Privatmeinungen ab oder erschöpfen sich in der nur wenig abgewandelten Wiederholung überkommener philosophischer Positionen. Im ganzen sieht es in dieser Zeit so aus, als habe der leidenschaftliche Kampf Friedrich Nietzsches gegen alles metaphysische Denken zu einem vollen Siege geführt. Denn ihm ist die Metaphysik, diese „gleichgültigste aller Erkenntnisse", nichts als ein „Traum", entsprungen aus „Leidenschaft, Irrtum und Selbstbetrug", und er fordert von der Redlichkeit des freien Geistes, „mit höchster Anspannung seiner Besonnenheit die Metaphysik zu überwinden". Es scheint auch — um noch einige Jahrzehnte weiter zurückzugehen —, als habe Auguste Comte recht behalten, wenn er unter dem lauten Beifall der Zeitgenossen verkündete, die Menschheit habe endlich ihr theologisches und ihr metaphysisches Stadium hinter sich gelassen, und es sei nun der Tag des positiven Zeitalters angebrochen, in dem nicht mehr dumpfer Glaube und ungegründete Spekulation das Denken beherrschen, sondern der Wille, frei und unvoreingenommen den Tatsachen ins Auge zu blicken. V o n H e k u b a s K l a g e und

Trost

Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zeigt im Hinblick auf die Metaphysik eine merkwürdige Verwandtschaft mit dem, was ein Jahrhundert früher vor sich gegangen war. Damals schon stieg vor den Augen des klarsichtigsten unter den zeitgenössischen Denkern die Ahnung eines Unterganges der Metaphysik auf. „Es war eine Zeit", schreibt Kant, „in welcher sie die Königin aller Wissenschaften genannt wurde . . . Jetzt bringt es der Modeton des Zeitalters so mit sich, ihr alle Verachtung zu beweisen, und die Matrone klagt, verstoßen und verlassen, wie Hekuba." Kant selber stimmt freilich nicht in den allgemeinen Ton des Überdrusses ein. Er ist zu tief davon durchdrungen, daß es in der Metaphysik

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um die entscheidenden Anliegen des Menschseins, um „das wahre und dauerhafte Wohl des menschlichen Geschlechts", gehe, als daß er sie leichten Herzens aufgeben könnte. Darum nennt er den „Indifferentismus", dieses Kennzeichen des zeitgenössischen Denkens, „die Mutter des Chaos und der Nacht" und fügt hinzu, es sei „umsonst, Gleichgültigkeit in Ansehung solcher Nachforschungen erkünsteln zu wollen, deren Gegenstand der menschlichen Natur nicht gleichgültig sein kann." Eben deshalb könne man auch „sicher sein, man werde jederzeit zu ihr wie zu einer mit uns entzweiten Geliebten zurückkehren", darum nämlich, weil es zum eigensten Wesen des Menschen gehöre, „durch das Zeitliche nie zufrieden gestellt werden zu können." Schließlich steigert sich Kants Glaube an die Zukunft der Metaphysik, selbst in der Zeit ihres Verfalls, zu dem großartig paradoxen Satz: „Daß der Geist des Menschen metaphysische Untersuchungen einmal gänzlich aufgeben werde, ist eben so wenig zu erwarten, als daß wir, um nicht immer unreine Luft zu schöpfen, das Atemholen einmal ganz und gar einstellen würden." Aber Kant begnügt sich nicht mit solchen allgemeinen Hoffnungen. Er unternimmt es, auf einem neuen Boden noch einmal den Bau der Metaphysik zu errichten: nicht auf dem Felde des theoretischen Nachdenkens, sondern auf dem Grunde des sittlichen Handelns. Hier tritt dem Menschen etwas Absolutes entgegen, eine unbedingte Forderung, die uns „die Erhabenheit unserer eigenen übersinnlichen Existenz" spüren läßt. Noch einmal wird Hekuba getröstet. Und nachdem so im ersten Vorstoß der Überschritt in den Bereich des Übersinnlichen gelungen ist, können die Nachfolger Kants, vorab Fichte, Schelling und Hegel, die Großen des Deutschen Idealismus, ihre gewaltigen und freilich auch gewaltsamen Versuche unternehmen, das Ganze der Wirklichkeit metaphysisch zu begreifen. Hält man sich das vor Augen, dann möchte man wohl vermuten, jene „Erschöpfung der metaphysischen Energie" im Beginn unseres Jahrhunderts werde ebenso vorübergehen wie der „Überdruß" an der Metaphysik zur Zeit Kants, ja, sie sei vielleicht im gleichen Sinne, wie es Kant für den „Indifferentismus" der Zeitgenossen annahm, „das Vorspiel einer nahen Umschaffung" der Metaphysik, und es sei auch heute wieder an dem, daß „eine neue Geburt derselben . . . unausbleiblich bevorstehe". Doch wer aus geschichtlichen Rückblicken Zuversicht für die Zukunft schöpfen wollte, verfiele einer Täuschung. Mag sich in der Geschichte manches wiederholt haben, — oft geschah es doch auch, daß etwas unwiederbringlich in die Vergangenheit hinabsank. So könnte es denn auch sein, daß jene großartige Erneuerung der Metaphysik von Kant bis Hegel nur eine späte Blüte an einem schon allzu alt gewordenen Baum wäre, vielleicht

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gar nur die Euphorie einer geistigen Erscheinung, die sich eben darum so glänzend entfaltet, weil sie den Keim ihres Todes schon in sich trägt. Was also die Situation unseres Jahrhunderts angeht: die Verlorenheit der Metaphysik ist aus sich selber heraus noch keine Gewähr für ihre Wiedererstehung; sie kann auch das Anzeichen eines endgültigen Unterganges sein. Von der Logik des

Schreckens

In der Tat: im Beginn unseres Jahrhunderts wurde die Metaphysik in einer noch weit verhängnisvolleren Weise fragwürdig, als es zur Zeit Kants geschah. Zwar erschien von Peter Wust im Jahre 1920 ein Buch mit dem verheißungsvollen Titel: „Die Auferstehung der Metaphysik". Aber was da als Anzeichen einer neuen Welle metaphysischen Denkens gedeutet wurde, will uns heute viel eher als epigonenhafte Nachwirkung jener großen Zeit von Kant bis Hegel erscheinen. Die beiden Denker, in deren Darstellung das Buch gipfelt, Troeltsch und Simmel, waren allzu bedroht von relativistischen Anfechtungen, als daß ihnen nicht zuletzt der Mut zu eigenen metaphysischen Entwürfen erstickt wäre. Denn inzwischen waren die Fundamente zusammengebrochen, auf denen noch Kant und Hegel ihre denkerischen Gebäude errichten konnten. Kant philosophierte von der Überzeugung aus, es gebe eine einheitliche, unveränderliche Menschennatur; Metaphysik schien ihm darum möglich, weil zu dieser Wesensausstattung des Menschen ein metaphysisches Bedürfnis und eine Ansprechbarkeit von etwas Unbedingtem gehöre. Als dann mit Hegel (und vordem schon mit Herder) in der Entdeckung der Geschichtlichkeit des Menschen auch dieser Rest aufklärerischer Daseinsdeutung versank, blieb doch eines bestehen: die Gewißheit nämlich, daß alles menschliche Geschehen einen einheitlichen Sinn und ein einheitliches Ziel habe, dem es sich, wenn auch auf Umwegen, stetig nähere. So wird noch einmal Metaphysik möglich; die Geschichte wird aus dem absoluten Blickpunkt, vom Standort Gottes her, gesehen; Philosophie wird zur Metaphysik der Geschichte als der Selbstentfaltung des absoluten Geistes. Wie aber unter diesem Gesichtspunkt der Mensch zum bloßen Vollzugsorgan einer übermenschlichen Macht, zum „Geschäftsführer des Weltgeistes", wird, da empört sich das vom Christentum geprägte Bewußtsein des Menschen, in der Unverwechselbarkeit seiner einzelnen Existenz und in der Einmaligkeit seiner Stellung zu Gott er selbst zu sein. Mit dem Satz: „es gibt kein System des Daseins", verwirft Kierkegaard jede metaphysische Konstruktion. Und was da aus der Paradoxie des christlichen Glaubens heraus gesagt wird, das sprechen andere, Feuer90

bach, Marx, Stirner, aus der unmittelbaren Sicht des Menschen auf sein eigenes Dasein aus. Am Eingang der Philosophie kann nicht der Akt stehen, in dem sich ein metaphysisches Bedürfnis in den Blickpunkt des Absoluten versetzt. Ausgangspunkt des Philosophierens ist der Philosophierende selber, als der Mensch, wie er sich hier und jetzt, in dieser bestimmten Welt, in dieser bestimmten geschichtlichen Situation findet. Das hat bedeutsame Folgen für die Möglichkeit metaphysischen Denkens. Wenn es kein Unbedingtes mehr gibt, an das der Mensch sich halten könnte, wenn der einzelne konkrete Mensch in seiner je besonderen Existenz zur Basis des Philosophierens gemacht wird, wenn auch der verzweifelte Sprung Kierkegaards ermattet, dann wird die Wahrheit aufs äußerste fragwürdig; der Relativismus legt sich lähmend über alle Bemühung um unbedingte Gewißheit. Wenn sich zudem zeigt, daß der Mensch an jedem Orte seines geschichtlichen Daseins ein je anderer ist, bis hinab in die Tiefe letzter Daseinshaltungen und Überzeugungen, wenn demnach auch seine Geschichte nicht einheitlich begriffen werden kann, weder von einem Ursprung noch von einem Ziel her, dann muß die Philosophie der Ratlosigkeit des Historismus verfallen. Für ihn, der nun in wachsendem Maße das Denken überflutet, ist nichts charakteristischer als das resignierte Wort, das der alte Dilthey am Ende eines langen Suchens nach dem Sinn der Geschichte und nach dem Gültigen im Dasein des Menschen ausspricht: „Wo sind die Mittel, die Anarchie der Überzeugungen, die hereinzubrechen droht, zu überwinden?" Was hier in der leisen Melancholie des Lebensrückblickes gesagt wird, hat vordem schon Nietzsche in grauenvoller apokalyptischer Zukunftsvision erblickt. Daß „Gott tot" ist, daß damit aller Glaube an absolute Werte hinfällig geworden ist, daß es nichts Unbedingtes gibt, an dem der Mensch Halt gewinnen könnte, die „Überzeugung einer absoluten Unhaltbarkeit des Daseins", „daß alles Geschehen sinnlos und umsonstig ist", — darin sieht Nietzsche die unabwendbare „Heraufkunft des Nihilismus", dieses „unheimlichsten aller Gäste". Was uns bevorsteht, ist eine „lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz", eine „ungeheure Logik von Schrecken", eine „Verdüsterung und Sonnenfinsternis, derengleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat". Und auf die Frage: „Wohin bewegen wir uns?", weiß Nietzsche nur mit der verzweifelten Gegenfrage zu antworten: „Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?" Nietzsche weiß sich mit dieser beklemmenden Sicht auf die Zukunft einsam in seiner Zeit: „Das ist eine furchtbare Neuigkeit, welche noch ein paar Jahrhunderte bedarf, um den Europäern zum Gefühl zu kommen: und dann wird es eine Zeitlang scheinen, als ob alles Schwergewicht aus 91

den Dingen weg sei." Vielleicht aber waren die Ereignisse doch näher, als dieser „Lehrer und Vorausverkündiger" ahnte; weniger als ein Jahrhundert ist vergangen, und schon hat jene furchtbare „Logik von Schrekken" von uns allen Besitz ergriffen. Daß die Dinge ihr „Schwergewicht" verlieren, hat sich in der modernen Naturwissenschaft in einem wörtlicheren Sinne erfüllt, als es Nietzsche gemeint hat; immer mehr zerrinnt das Greifbare, immer fragwürdiger werden die Grundlagen unseres Denkens über die Natur. Und mit der unheimlichen Verbergung der Dinge geht einher, daß der Mensch sich selber immer unbegreiflicher wird. Nirgends gibt es einen sicheren Punkt, von dem her er sich eindeutig beurteilen könnte. Nirgends gibt es ein Festes, auf das er sich stellen könnte: in den Dingen nicht und nicht im Miteinander und am wenigsten an einem Ort außerhalb der Welt. Die Vernunft scheint endgültig abgedankt zu haben. Die Leidenschaft, unverändert zwar in der Ursprünglichkeit ihrer Gewalt, will sich dem unmittelbaren Hinblick entziehen; des sind die politischen Geschehnisse Zeuge, diese maßlosen Ausbrüche des Unkontrollierbaren, getarnt hinter einer maßstablosen Hypertrophie des Verstandes. Selbst der Glaube ist nur noch mit ungeheuerster Anstrengung festzuhalten; das Denken über Gott wird zur Theologie des Paradoxes. In der bildenden Kunst, in der Musik schwindet die Sicherheit überkommener Maßstäbe. So, ortlos geworden, geht der Mensch durch die Geschichte unseres Jahrhunderts, unwissend wohin, schaudernd vor den Perspektiven eines Unterganges, der nicht, wie Spengler meinte, nur die Erstarrung eines einzigen Kulturkreises sein wird, sondern der sich zu einem freventlich selbst heraufbeschworenen Ende der Menschheit überhaupt auszuweiten droht. Das also ist das Ende des Weges, auf dem dem Menschen die Metaphysik, der Standort über der eigenen, endlichen Existenz, abhanden kam. Wir sind unendlich weit von dem stolzen Bewußtsein entfernt, in dem Comte den Untergang des metaphysischen Zeitalters begrüßte, weit auch von der durch die Sorge nur schwach gedämpften Genugtuung Diltheys über den Anbruch der Zeit des geschichtlichen Verstehens. Uns ist der Schrecken in die Glieder gefahren. Und eben das ist es, was zum erstenmal mit voller Deutlichkeit in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen sichtbar wurde. Von der U n w i e d e r b r i n g l i c h k e i t

Eurydikes

Was Wunder, daß man sich nun mit aller Intensität daran machte, das Verlorene wiederzugewinnen. Ich rede freilich nicht von denen, die die grundhafte Erschütterung der Zeit nicht spürten oder geflissentlich übersahen; so geschah es in weiten Bereichen der katholischen Philoso92

phie. Ich meine auch nicht diejenigen, die „Metaphysik" nannten, was in Wahrheit bloß Ontologie des Diesseitigen ist. Eine Durchleuchtung der faktischen Wirklichkeit auf die in ihr geltenden Kategorien hin, eine Begründung der Realität der Außenwelt, wie sie Nicolai Hartmann unternimmt, hat mit jener metaphysischen Sehnsucht, die über das Diesseitige hinauszudringen trachtet, nichts zu tun. Wenn er schreibt: „an die Geheimnisse des Irrationalen zu rühren ist kindischer Übermut", so zeigt das nur, daß er jenes metaphysische Staunen nicht kennt, das in seiner Unmittelbarkeit zwar dem Augenaufschlag eines Kindes gleichen mag, das aber nicht Übermut, sondern der Mut des dem Denken verpflichteten Mannes ist, der die im Dasein gestellten und über das Dasein hinauslangenden Fragen entschlossen angeht. Andere dagegen, Aufgeschlossenere, haben sich mit aller Leidenschaft in den Abgrund metaphysischen Denkens geworfen. Da ist vorab Scheler zu nennen, der große Zwiespältige unter den Philosophen zwischen den beiden Kriegen. Er geht aus von der stillen Gelassenheit, in der Husserl den neuzeitlichen Menschen, der sich der Welt in selbstherrlichem Zugriff bemächtigt, wieder zu jenem Schauen zurückrufen wollte, dem sich die Wesenheiten erschließen. Von daher versucht Scheler, der bodenlos gewordenen Ethik ein neues und sicheres Fundament zu verschaffen, so nämlich, daß er sie in einer Schau der absolut gültigen, an sich seienden Werte einwurzelt. Doch dieser Gedanke stößt sich an der Tatsache, daß ja die Wertungen, sowohl zwischen den Individuen wie zwischen den Zeitaltern, unterschiedlich, ja gelegentlich sogar einander entgegengesetzt sind. Um nun gleichwohl die absolute Gültigkeit der Werte zu sichern und nicht einem haltlosen Subjektivismus zu verfallen, greift Scheler auf die überlieferte Metaphysik zurück; er will die Werte als die Gedanken Gottes begreifen, die sich im Weltgeschehen verwirklichen sollen. Doch diese Deutung, der Tradition entnommen und nicht eigens aus der inneren Notwendigkeit der Sachen selber erwachsen, muß in dem Augenblick zerbrechen, in dem ihre Voraussetzung, die Annahme eines persönlichen Gottes, fraglich wird; das äußere Zeichen dessen ist das in seiner Schlichtheit ergreifende Bekenntnis, das Scheler in die dritte Auflage seines „Formalismus in der Ethik" einfügt; „Es ist der Öffentlichkeit nicht unbekannt geblieben, daß der Verfasser in gewissen obersten Fragen der Metaphysik . . . seinen Standort . . . so tiefgehend geändert hat, daß er sich als einen ,Theisten' (im herkömmlichen Wortsinne) nicht mehr bezeichnen kann." Die Metaphysik als solche gibt Scheler freilich damit nicht auf. Noch einmal entwirft er in der kleinen Schrift „Die Stellung des Menschen im Kosmos" den Grundriß einer metaphysischen Deutung der Welt und des 93

Menschen. Beide werden vom „Weltgrunde" her verstanden, aus dem sie entspringen. In ihm ist von Anbeginn her eine „Urspannung" von machtvollem Drang und ohnmächtigem Geist angelegt. Indem sich diese beiden Momente gegenseitig durchdringen, verwirklicht sich die Gottheit als Welt. Der Mensch aber, „hineingeflochten in das göttliche Werden selbst", hat die Aufgabe, „die Fahne der Gottheit, die Fahne der erst mit dem Weltprozeß sich verwirklichenden Deitas, allen Dingen voranzutragen . . . im Wettersturm der Welt". Doch wie dieser Entwurf das zwischen Geist und Leben ausgespannte Sein des Menschen in das Wesen der Gottheit hineinprojiziert, überspringt er allzu schnell die Schwierigkeiten, in die eine Analogie zwischen dem Endlichen und dem Absoluten geraten muß. So muß um der Ungegründetheit des Ansatzes willen auch dieser zweite Versuch einer Erneuerung metaphysischen Denkens Fragment bleiben. In diesem doppelten Scheitern zeigt sich, daß die Wege des Geistes nicht umkehrbar sind. Das Verlorene kann nicht einfachhin erneuert werden, wenn die Voraussetzungen versunken sind, aus denen heraus es seine Kraft erhielt. Wiedergeburt der Metaphysik kann nicht heißen: Riickwendung zum Gewesenen; sie kann nur bedeuten: Erspüren eines neuen metaphysischen Ganges. Ihn entdeckt aber nur, wer zuvor die Zeit in ihrer metaphysischen Verlorenheit in der Tiefe durchdacht und durchlitten hat. Von

der

Sackgasse

der

Endlichkeit

Das geschieht in der Existenzphilosophie, die in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen weit über die Grenzen der Fachphilosophie hinaus die Gemüter der Mitlebenden bewegte. Nicht zufällig liegen ihre geschichtlichen Ursprünge bei Denkern, die von der Fragwürdigkeit des menschlichen Daseins zutiefst beunruhigt waren: bei Pascal, bei Kierkegaard, bei Nietzsche, Mit ihnen ist die Existenzphilosophie in der Verwerfung der Metaphysik einig. Aber wie sie, wenigstens in ihren konsequenten Vertretern, die Rettung abweist, die Pascal und Kierkegaard im Glauben fanden, wie sie auch die Ansätze zu einer Metaphysik des Lebens, zu denen Nietzsche gelangte, beiseite wirft, da wird sie zur entschlossensten Repräsentantin des Geistes der Gegenwart. Sie widersteht radikal der Versuchung, sich in alte Bergungen zu flüchten, sie wagt es, im Ungesicherten zu verharren, sie wählt die Bodenlosigkeit zu ihrem Boden. Das wird bei keinem der Existenzphilosophen deutlicher als bei Heidegger, dem Tiefsten und Wagendsten unter den Denkern der Gegenwart. In dem, was „Sein und Zeit" vom Menschen aussagt, fühlten die Zeitgenossen ihr eigenes Wissen um das Dasein ausgesprochen: daß der 94

Mensch in verhängnisvoller Weise dem „Man" und seiner „Diktatur" zum Opfer gefallen ist; — daß es darauf ankommt, sich diesem „Verfallensein an die Welt" zu entziehen und „eigentlich" zu werden, will sagen: aus sich selber heraus und aus eigenem freiem „Entwurf" zu existieren; — daß die Möglichkeit des Selbstseins dem Menschen im Abgrund der Angst offenbar wird; — daß er in dieser vor sein wahres Sein gestellt wird, nämlich unabdingbar „in den Tod geworfen", in der Hinfälligkeit alles Haltes an andern nur sich selbst überlassen und im Entgleiten der Dinge .,in das Nichts hineingehalten" zu sein; — daß er sich selber den Sinn seines Daseins setzen muß, und daß ihm die Anweisung für die Gestaltung seines Lebens letztlich nur aus ihm selber kommen kann: als Anruf des Gewissens, das als „das Dasein in seiner Unheimlichkeit" zu ihm spricht; — daß die echte menschliche Haltung der „Mut zur Angst vor dem Tode" ist, der sich entschlossen in seine Freiheit stellt; — daß wir radikal endlich sind, ja daß die Zeitlichkeit das Grundwesen des Menschen ist. Entscheidend für die Frage nach der Metaphysik ist bei alledem, daß hier in voller Konsequenz vom Menschen und nur vom Menschen her gedacht wird. Alles Ausschweifen in das Feld des Übersinnlichen, jeder Versuch, einen absoluten Standort zu erreichen oder auch nur nach „ewigen Wahrheiten" zu fragen, wird verworfen; das gehört für Heidegger zu den „Resten von christlicher Theologie", die „noch längst nicht radikal ausgetrieben" sind. Aber wie nun „das nackte ,Daß' im Nichts der Welt" zum Ausgangspunkt und Ende des Denkens wird, wie alles Woher und Wohin des Menschen in undurchdringliches Dunkel gehüllt bleibt, da ist die Fragwürdigkeit das Letzte: „das Daß seines Da", das dem Menschen „in unerbittlicher Rätselhaftigkeit entgegenstarrt." Philosophie, von dem sich auf die Endlichkeit begrenzenden Blickpunkt des endlichen Menschen aus entworfen, ein Denken, das sich die Möglichkeiten abschneidet, über das Endliche hinauszufragen, unmetaphysisches Denken also im radikalen Sinne, muß im Scheitern enden. Die Philosophie hat sich in die Sackgasse der Endlichkeit verirrt. Und das eben ist die Situation des Philosophierens zwischen den beiden Kriegen. Zwischen dem ohnmächtigen Versuch, das Zuendegegangene zu erneuern, und dem ebenso ohnmächtigen Denken von der Endlichkeit her scheint es keinen Ausweg zu geben. Das ist nicht nur bei Heidegger so. Auch Jaspers spricht es aus: „das Scheitern ist das Letzte". Wo sich unser Denken auf die Welt richtet, gerät es mit innerer Notwendigkeit an den „Abgrund des schlechthin Unbegreiflichen". Und wo wir nach uns selber fragen, zeigt sich: wir kommen zu uns selbst nur so, daß wir den „Grenzsituationen" nicht ausweichen, in die uns das Dasein selber stellt, und in denen uns „der Boden unter den 95

Füßen weggezogen" wird; ihnen gegenüber „bleibt am Ende nichts, als uns zu ergeben". Wieder in anderer Weise macht sich die Verzweiflung am Menschen bei so extremen Vertretern der Lebensphilosophie geltend wie etwa bei Klages: weil die Menschheit auf ihrem durch die ratio bestimmten Wege ins Unwegsame der toten Abstraktion geriet, soll nun die Aufgabe darin bestehen, dem „Geist als Widersacher der Seele" abzusagen und sich dem Chaotischen und Zerstörerischen, eben darin aber auch Schöpferischen anzuvertrauen: dem Leben in seiner drängenden Fülle und Gewalt. Und was in Kunst und Dichtung, in Erziehung und Politik, ja selbst im religiösen Leben dieser Jahre geschieht, — es gibt kaum einen Punkt, an dem nicht die unheimliche Bedrohtheit der Existenz zum Ausdruck käme. Überall wird der Mensch von der Sorge überschattet, hart am Bankerott seines Daseins zu stehen. Vom S t e r n der

Verheißung

Woher kann in dieser Not des Menschen die Rettung kommen? Wer selber einmal in die Ausweglosigkeit des bloß endlichen Denkens verstrickt war, der weiß: das Heil kommt nicht aus der Anstrengung des Willens; was dieser erreichen kann, sind nur wieder menschliche Entwürfe, ebenso fragwürdig und ebenso gefährdet wie diejenigen, die er überwinden will. Die großen Wenden des Geistes kommen über den Menschen. Sie werden ihm geschenkt. Sie sind das Wunder der Geschichte. Der Stern der Verheißung leuchtet aus eigenem Licht. Was der Mensch tun kann, ist nur, sich dem zu öffnen, was als das Neue aufgehen will, und darauf zu achten, ob und wo sich Anzeichen des Kommenden ankündigen. Wer sich so für das Künftige bereitet, dem begegnen schon jetzt — in der Zeit zwischen den beiden Kriegen ebenso wie heute — Spuren einer neuen Ankunft. An vielen Orten geht dem Menschen auf, daß es mit dem im Umkreis des bloß Menschlichen verharrenden und nur auf das Endliche sich richtenden Wissen nicht getan ist, daß es vielmehr entscheidend darauf ankommt, daß sich Fenster zum Absoluten hin auftun. Da sind jene seltsamen Erfahrungen einer Epiphanie der Tiefe, wie sie uns in den bildenden Künsten und in der Musik zuteil werden: im Zerbrechen des Gewohnten und Verfestigten ebenso wie im Erscheinen der ersten Umrisse einer neuen Gestalt. Da ist das Horchen auf die Geheimnisse, wie es in der Dichtung immer wesentlicher wird. Da ist das Wiedererwachen eines unmittelbaren Wissens um die großen Mächte des Daseins: um die Liebe als die innige Begegnung zweier Menschen, in der mehr an-

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wesend ist, als die beiden von sich aus dazutun; um das Schicksal) das sich nie und nimmer in die Summe der Taten der Menschen und der Zufälle der Natur aufrechnen läßt; um das Gewissen, das in der Unbedingtheit seines Anspruches über den Menschen hinausweist. Da ist der Beginn einer neuen Ehrfurcht vor dem, was ist. Da ist das wieder lebendig gewordene Bewußtsein, vom Ruf der Gottheit unmittelbar getroffen zu sein. Da sind die abgründigen Erfahrungen, die uns die Versenkung in das eigene Innere gewährt. Vom Hirten

des

Seins

Wieder ist es Heidegger, in dessen Philosophieren sich diese Wende am eindringlichsten kundgibt. Ihm geht es schon im Beginn seines Nachdenkens letztlich nicht um eine Auslegung des menschlichen Daseins. Was ihn damals wie heute zuinnerst bewegt, ist die Frage nach dem Sein. Wie ihm nun aufgeht, daß uns Grundstimmungen, wie etwa die Angst, Tieferes zu wissen geben als die Kühle des Denkens, da wird er über den bloß menschlichen Standort hinausgeführt. In die Angst geworfen, erfährt der Mensch den Tod als seine eigenste Möglichkeit des Nichtseins und das Hinweggleiten der Dinge als die Nichtigkeit der Welt; die Angst offenbart das Nichts. Aber der Mensch gerät in sie nicht durch eigenes Zutun; er wird in sie gestoßen, und was sie ankommen läßt, ist das Nichts. Das Nichts selber „nichtet". So tritt der Blick des Philosophierenden aus dem in die Angst verfangenen Menschen hinaus und in den Augpunkt des ängstenden Nichts selber. Der Mensch ist nicht mehr Mittelpunkt für sich selbst; er wird zum „Platzhalter des Nichts". Doch was ist das anderes als Nihilismus in seiner übersteigertsten Form? Aber das Denken Heideggers ist damit nicht am Ende; das Nichts ist ihm nur der „Schleier des Seins". Denn nun erhebt sich die Frage, weshalb denn jenes Weggleiten der Welt in der Angst geschieht. Heidegger antwortet: darum, daß im Hinsinken der Dinge der Blick auf das Sein Irei werde. Erst wenn in der Angst das Nichts erfahren wird, wird das bis dahin selbstverständlich hingenommene Sein der Dinge zur Frage; „in der hellen Nacht des Nichts der Angst ersteht erst die ursprüngliche Offenbarkeit des Seienden als eines solchen: daß es Seiendes ist — und nicht Nichts." Das „Sein", von dem Heidegger redet, ist freilich nicht Gott und nicht der Weltgrund im überlieferten metaphysischen Sinne. Es ist das, was es ermöglicht, daß das Seiende — vor der Möglichkeit des Nichts — offenbar werde, ins Licht trete. So ist es „Lichtung". Und diese geschieht nicht um des Menschen, sondern um des Seins selber willen. In sie treten die 97 7 Weischedel

Dinge ein, um offenbar zu werden. In sie tritt der Mensch ein, um die Dinge zu entdecken, um zu sagen, was ist. Das „Sein" ist so die aus eigener Vollmacht sich ereignende Geschichte des Hellwerdens der Welt aus anfänglicher Verborgenheit heraus. Wie es in den Epochen seines geschichtlichen Ganges die Welt je anders eröffnet, schafft es Weltgeschichte. Dem Menschen aber ist die Sorge für das Erscheinen des Seienden im Lichte des Seins anvertraut, er hat den „Anruf des Seins" zu „erhorchen"; er ist der „Hirt des Seins" und als solcher „mehr als der bloße Mensch". So bricht in einem erregenden Geschehen inmitten der Existenzphilosophie in ihrer äußersten Zuspitzung metaphysisches Denken auf. Heidegger verwahrt sich freilich dagegen, daß sein neues „Andenken an das Sein" mit der überlieferten Metaphysik gleichgesetzt werde; diese habe immer nur vom Seienden, und auch von Gott nur als vom höchsten Seienden, geredet, nicht aber vom „Sein" im Sinne der „Lichtung". Wenn es aber das Eigentümliche des metaphysischen Denkens in einem weiteren Sinne ist, daß der Augpunkt nicht im Menschen und seiner endlichen Existenz genommen wird, sondern in dem, was über den Menschen hinaus ist, dann ist auch Heideggers Seinsdenken metaphysisches Denken; er sagt ja ausdrücklich, daß „nicht der Mensch das Wesentliche ist, sondern das Sein", und daß es ihm nicht auf Verwerfung, sondern auf „Verwandlung der Metaphysik" ankomme. Die so verwandelte Metaphysik bleibt aber nicht ungegründet, wie all die vielfältigen Versuche einer Erneuerung traditioneller metaphysischer Gedanken; sie weist sich in einer ursprünglichen Erfahrung aus: der Erfahrung der Angst. V o m L e u c h t e n der

Transzendenz

Nicht anders steht es mit Jaspers. Auch sein Denken bleibt nicht bei der bestürzenden Einsicht in die Unbegreiflichkeit der Dinge und die Rätselhaftigkeit des Menschen stehen. Auch er vollzieht den Überschritt zur Metaphysik im Rückgang auf ursprüngliche Erfahrung. Das unmittelbare Wissen um Freiheit, das das wesenhafte Sein des Menschen ausmacht, deutet zugleich über den Menschen hinaus. Wer sich seiner Freiheit bewußt wird, erfährt ineins damit, daß er den Grund seines Selbstseins nicht aus eigenem Vermögen gesetzt hat. Seine Freiheit kommt ihm wie ein Geschenk entgegen; „wo ich eigentlich ich selbst war . . . , war ich mir in meiner Freiheit zugleich gegeben". So wird der Mensch paradoxerweise gerade an dem Ort seiner äußersten Menschlichkeit, in der Freiheit, eines andern inne, eines Schenkenden, einer tieferen, gründenden Notwendigkeit. Sie ist „über die Existenz des Selbstseins hinaus"; sie ist die „Transzendenz". „Der ganz auf sich Stehende erfährt angesichts der

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Transzendenz am entschiedensten jene Notwendigkeit, die ihn ganz in die Hand seines Gottes legt." Auch bei Jaspers also, nicht anders als bei Heidegger, öffnet sich inmitten des Daseins des Menschen, von der existenzphilosophischen Grunderfahrung her, ein Ausblick über das bloß menschliche, endliche Dasein hinaus. Von diesem Punkte des Überschrittes her entfaltet sich dann ein reiches metaphysisches Denken. Zwar erlaubt das verborgene Wesen der Transzendenz kein unmittelbar aussagendes Wort. Aber dem, der ihr begegnet, kann alles, „ob Natur oder Mensch, ob Sternenraum oder Geschichte", zum Hinweis auf die Transzendenz, zur „Chiffre", werden. Denn Philosophieren „wagt die Dimension, welche Sein im Dasein für den Blick auf Transzendenz zum Leuchten bringt". Von der Saat aus g e p f l ü g t e m

Boden

Mit diesen beiden Beispielen mag es sein Bewenden haben. Sie legen eindrücklich genug Zeugnis ab für das, was sich im Philosophieren der letzten Jahrzehnte vollzogen hat und auch im gegenwärtigen Augenblick noch vollzieht. Wo das Denken sich radikal in seine Endlichkeit verschloß, wo es bis zum Scheitern sich auf den Menschen begrenzte, öffnete sich ein Weg zu metaphysischem Philosophieren. Das Bedeutsame an diesem Wege ist, daß er nicht zum Vergangenen und Überlebten zurückbiegt, sondern ein eigenständig Neues sucht. Er beginnt bei ursprünglichen Erfahrungen, in denen der Mensch über die Verschlossenheit seiner Existenz hinausgreift, von dem ergriffen, was ihn überragt. So findet das Denken eine neue Möglichkeit, inmitten seiner unabdingbaren Endlichkeit einen Blickpunkt außerhalb des Endlichen zu finden und im echten und ursprünglichen Sinne wieder metaphysisches Denken zu werden. Darin liegt nun auch die tiefere Bedeutung der Existenzphilosophie. Sie hat in einer bis dahin nicht erhörten Radikalität das Feld des Denkens von den vielerlei Vorurteilen freigemacht, die ein ursprüngliches Philosophieren behinderten. Über diesem Bemühen geriet sie dann freilich ins Bodenlose, eben damit aber auch ins Offene. Der Philosophierende wurde aufgeschlossen für das, was sich ihm — in der Angst oder im Wissen um Freiheit — ankündigen will. So erhält die Existenzphilosophie, auch und gerade in dem Zerstörerischen, das ihr innewohnt, für den rückschauenden Blick einen positiven Sinn, ja fast eine innere Notwendigkeit. Das anbrechende Neue mußte durch den Engpaß hindurchgehen, in dem die Möglichkeit eines wesentlichen Philosophierens endgültig, verloren zu sein schien; nur so konnte es ihm möglich werden, sich in voller Ursprünglichkeit neu zu entfalten. Die Saat des Künftigen kann nur aus gepflügr

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tem Boden aufgehen. Das heißt aber, daß die Aufgabe der Existenzphilosophie auch weiterhin darin liegen muß, den Weg zu den unmittelbaren Erfahrungen entschlossen zu beschreiten, damit aber auch sich selbst in einer neuen Metaphysik aufzuheben. So zeigt sich am Ende, daß die Jahre zwischen den beiden Kriegen ebenso wie die Zeit bis zur unmittelbaren Gegenwart dazu gedient haben, die Philosophie wieder in ihr wesentliches Anliegen einzusetzen. Darum ist diese unsere Gegenwart, auch im Philosophieren, am Ende keine Epoche des bloßen Verfalls, sondern die Ankündigung einer echten Wende, vielleicht gar einer der großen Kehren der Geschichte des Geistes. Die gegenwärtige und zukünftige Aufgabe der Philosophie aber ist zunächst und vor allem, das Feld der Wirklichkeit in seiner ganzen Weite abzuschreiten und die ursprünglichen Erfahrungen aufzuspüren, die uns über den Bereich des Endlichen hinausblicken lassen. Wenn es uns gelänge, daß wir wieder einer tieferen Ebene der Wirklichkeit ansichtig würden, wenn uns in aller Verzweiflung des gegenwärtigen Daseins ein Haltendes begegnete, wenn wir in aller Erschütterung über die Abgründigkeit der menschlichen Existenz wieder darauf aufmerksam würden, daß uns der Grund alles Seins nahe ist, wenn wir wieder dessen gewiß würden, daß der Mensch aus der Tiefe seines Wesens heraus vor die Geheimnisse gestellt ist, und daß es seine unabdingbare Aufgabe ist, ihnen fragend nachzuspüren, — dann käme aus solchen Erfahrungen heraus die Tiefe des Philosophierens zu neuer Gegenwart, und dann könnte auch wieder der Entwurf einer gegründeten Metaphysik gewagt werden. Freilich in jener Bescheidung, die weiß, daß das endliche Wort niemals des Unendlichen mächtig werden kann und daß wir daher immer die Suchenden, niemals die Vollendenden sind. Dann könnte es auch geschehen, daß wir uns mit neu aufgetanen Augen den großen metaphysischen Denkern der Vergangenheit zuwenden. Nicht um ihre philosophischen Ideen zur Kenntnis zu nehmen, auch nicht, um ihr Denken einfachhin zu erneuern, nicht einmal in erster Linie, um uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Sondern um sie zu fragen, wie sie die Welt und sich selber und den Grund der Welt metaphysisch erfahren haben, und wie es ihnen möglich war, ihre Erfahrungen in das einsichtige Wort zu bringen. Dann sind sie für unser eigenes Fragen nach dem Grunde die großen Vorbilder metaphysischer Erfahrung und metaphysischen Sagens, Aus solchem Suchen heraus mag denn schließlich auch jener Mann, dem diese Überlegungen gewidmet sind, dazu gekommen sein, in seinen schlaflosen Nächten den zerlesenen Band der „Summa Theologica" des Heiligen Thomas von Aquino aufzuschlagen. 100

II

Zum Problem der metaphysischen Erfahrung ι Im Problem der „metaphysischen Erfahrung" 1 geht es um die alte Frage, ob Metaphysik möglich sei, Offensichtlich wäre sie — nicht als grundlose Spekulation, sondern als Wahrheit — dann möglich, wenn es einen Ort gäbe, von dem her sich ihre Aussagen bewahrheiten ließen. Nun ist, was Aussagen über die dingliche Welt bewahrheiten kann, die sinnliche Erfahrung. Entsprechend müßten sich Aussagen über metaphysische „Gegenstände" in einer diesen angemessenen Weise der Erfahrung bewahrheiten lassen, und eben eine solche ist gemeint, wenn von der „metaphysischen Erfahrung" geredet wird. Ihr Verhältnis zu den metaphysischen Aussagen ist aber nicht so zu denken, als ob es sich auf ein nachträgliches Urteil über Wahrheit oder Falschheit beschränkte. Wie vielmehr die sinnliche Erfahrung Ursprung von Aussagen über sinnliche Gegenstände ist, so ist auch die metaphysische Erfahrung, gesetzt, es gibt eine solche, Ursprung metaphysischer Aussagen. Die Frage nach dem Grunde der metaphysischen Wahrheit sucht nach der Möglichkeit eines eigenständigen Ausgangspunktes der Philosophie schlechthin, und darin liegt ihre hohe aktuelle Bedeutung. Wenn die Metaphysik, wie Descartes sagt, die Wurzel der Philosophie ist, dann ist die ihr zugrundeliegende Erfahrung zugleich die Grunderfahrung des Philosophierens überhaupt. Gründet aber die Philosophie in einem solchen eigenständigen Bereich der Erfahrung, dann ist sie nicht darauf angewiesen, sich ihr Fundament von den andern Wissenschaften geben zu lassen und so in deren Abhängigkeit zu geraten, oder sich gar mangels eines eigenen Wahrheitsgrundes dem Offenbarungsglauben anzuvertrauen und als Philosophie aufzugeben. Das Schicksal der Philosophie hängt also davon ab, ob es ihr gelingt, sich in der ihr eigentümlichen Erfahrung einzuwurzeln. 1 Zu seinem Aufsatz über „Wesen und Aufgabe der metaphysischen Erfahrung" (erschienen in: Actes du Xldme Congrds International de Philosophie 1953, Vol. IV, p. 121 ff.) sind dem Verfasser so viele — kritische und zustimmende — Äußerungen zugegangen, daß er sich veranlaßt sieht, das Problem noch einmal in erweiterter und verdeutlichter Form der Diskussion vorzulegen.

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Doch was bedeutet in diesem Zusammenhang „Erfahrung", und inwiefern ist diese „metaphysisch"? Was heißt es weiter, wenn beides zur „metaphysischen Erfahrung" zusammengefügt wird? Wird nicht der Metaphysik nach alter Tradition das Gebiet „jenseits der Erfahrung" zugewiesen? Wenn es aber so ist, dann ist der Begriff der „metaphysichen Erfahrung" in sich selber widersprüchlich und muß sich von innen heraus sprengen. Das wäre in der Tat unvermeidlich, wenn man unter „Erfahrung" lediglich das durch die Sinne vermittelte Berührtwerden von der Außenwelt oder das Innewerden eigener Zustände, Gefühle, Vorstellungen und dergleichen verstehen wollte. Aber dieser Begriff ist zu eng. Er umfaßt zum Beispiel nicht die Erfahrung der Wirklichkeit Gottes, von der der homo religiosus redet. Deren Ort ist zwar das Innere des Menschen; aber die Wirklichkeit Gottes tritt diesem nicht als etwas in der bloßen Selbsterfahrung sich Gebendes entgegen. Nun ist die religiöse Erfahrung freilich ebenso problematisch wie die metaphysische. Aber der Hinweis auf sie zeigt doch, daß der Sprachgebrauch den Begriff der Erfahrung keineswegs bloß auf jene äußere und innere Erfahrung einschränkt. Das Wort „Erfahrung" ist vielmehr zunächst im weitesten Sinne als das dem Erfahrenden in irgendwelcher Weise offene Entgegennehmen eines Begegnenden zu verstehen. Damit ist die Möglichkeit freigegeben, daß es auch eine spezifisch t1 metaphysische" Weise des Entgegennehmens gibt; die Frage nach der metaphysischen Erfahrung ist nicht schon als Frage absurd. Wenn sie die Bezeichnung „metaphysisch" erhält, so ist damit zunächst nicht mehr gesagt, als daß sie diejenige Erfahrung sein soll, aus der, wenn sie vom Denken aufgenommen wird, Metaphysik entspringen kann. Unter „Metaphysik" wird dabei nach der von den Griechen herkommenden Überlieferung diejenige philosophische Disziplin verstanden, in der nach dem Sein des Seienden und nach dem ersten Grunde alles Seienden gefragt wird. Der Einfachheit halber wird im folgenden beides als die Frage nach Sein und Seinsgrund zusammengefaßt; „Sein" ist dabei — im Unterschied zu neueren Terminologien — im traditionellen Sinne als Sein des Seienden verstanden, und „Seinsgrund" bedeutet den Grund, von dem sich herleitet, d a ß das Seiende ist und w a s es ist. 2 Metaphysische Erfahrung als Boden für eine mögliche Metaphysik wäre demnach Erfahrung von Sein und Seinsgrund. Ihr Wesen läßt sich in einer bestimmten Hinsicht noch weiter verdeutlichen. Die Frage ist 104

nämlich, ob sie, was ihre Kennzeichnung als „Erfahrung" zunächst η ahelegt, den Charakter der Unmittelbarkeit besitzt, ob also in ihr Sein und Seinsgrund dem Entgegennehmenden unmittelbar begegnen, so wie ihm ein Ding vor Augen kommen kann. Das ist offenbar nicht der Fall. Der Grund dafür ist im Wesen von Sein und Seinsgrund angezeigt. Sein ist Sein des Seienden, der Seinsgrund ist Grund des Seienden. Das will besagen: das unmittelbar Erfahrbare ist das Seiende. Aber es soll, wenn es metaphysische Erfahrung gibt, in einer spezifischen Weise erfahren werden, nämlich eben „metaphysisch", und das heißt so, daß es in seinem Erscheinen zugleich den Blick auf sein Sein und auf den ersten Grund seines Seins freigibt. Damit grenzt sich die metaphysische Erfahrung von der alltäglichen Erfahrung ab, nämlich von jener oben erwähnten äußeren und inneren Erfahrung, die insofern „alltäglich" genannt wird, als der Mensch alle Tage in ihr lebt. Mit ihr kommt die metaphysische Erfahrung zwar darin überein, daß beide unmittelbar auf das Seiende gehen. Aber während die alltägliche Erfahrung sich darin erschöpft, Seiendes sich begegnen zu lassen, bleibt die metaphysische Erfahrung nicht dabei stehen; ihr wird vielmehr das begegnende Seiende durchscheinend, in der Weise, daß es durch sich hindurch Sein und Seinsgrund zum Vorschein kommen läßt. Von daher läßt sich — in einer ersten Annäherung — auch das Verhältnis der Metaphysik zu den Wissenschaften bestimmen. Auch deren Ausgangspunkt ist die alltägliche Erfahrung — sowohl als solche wie auch so, wie sie sich in das eigens angestellte Experiment hinein fortsetzt. Von da aus gehen dann freilich Wissenschaften und Metaphysik in verschiedener Richtung; ihre Aufgaben sind das Bestimmen des Seienden in der Weite seiner Zusammenhänge auf der einen, das metaphysische Erfahren und Bedenken des Seienden auf der andern Seite. Sofern aber der erste Ansatzpunkt auch der Metaphysik die Erfahrung des Seienden ist, darf sie nicht außer acht lassen, was die Wissenschaften über dieses aussagen; sie liefe sonst Gefahr, schon im Ansatz ihr Gegebenes zu verfehlen. Metaphysik kann also nicht anders als in ständiger Auseinandersetzung mit den Wissenschaften getrieben werden. Aber sie ist darum nicht einfach deren unmittelbare Verlängerung ins Grundsätzliche hinein; zwischen die Erfahrung des Seienden und den metaphysischen Entwurf schiebt sich vielmehr die metaphysische Erfahrung ein, und nur sofern diese die Erfassung des Seienden in die ihr eigentümliche Sicht aufnimmt, wird es möglich, zu metaphysischen Aussagen zu gelangen. Der Seinsgrund, der eine der beiden großen „Gegenstände" der Metaphysik, wird nach alter Tradition auch als das Göttliche bezeichnet. So 105

könnte man geneigt sein, die metaphysische Erfahrung mit der religiösen zusammenzubringen. Wenn man es aber vermeiden will, die Philosophie an die Theologie auszuliefern, kommt es entscheidend darauf an, sich die Verschiedenheit dieser beiden Weisen der Erfahrung deutlich vor Augen zu halten. Ein Unterschied liegt schon darin, daß die religiöse Erfahrung nicht die Einschränkung auf das Göttliche im Sinne des Seinsgrundes kennt; ihr kann die Gottheit auch in vielen anderen Weisen erscheinen. Sodann ist für die metaphysische Erfahrung charakteristisch, daß sich in ihr, wie sich zeigen wird, die Begegnung mit dem Seinsgrund auf die Begegnung mit dem Sein gründet; im Gegensatz dazu ist das Sein kein eigener Gegenstand religiöser Erfahrung. Damit hängt zusammen, daß in der metaphysischen Erfahrung Sein und Seinsgrund so begegnen, wie sie im Seienden anwesend sind. Für die religiöse Erfahrung dagegen ist der Weg über die Erfassung des Seienden zumindest nicht konstitutiv; ja, ihre vollkommene Gestalt findet sie in der unmittelbaren Berührung mit der Gottheit. Soweit ferner die religiöse Erfahrung vom Seienden ausgeht, ist ihr Anknüpfungspunkt je bestimmtes Seiendes — heilige Gegenstände, Worte der Verkündigung, Sakramentsvollzüge —; der metaphysischen Erfahrung dagegen können Sein und Seinsgrund in jedem Seienden entgegentreten. Schließlich gehört es zur metaphysischen Erfahrung, daß sie sich aus sich selber heraus auf philosophische Einsicht verweist; die Intention der religiösen Erfahrung dagegen richtet sich zutiefst nicht auf Erkenntnis, sondern auf das Heil. 3 Metaphysische Erfahrung in dem nunmehr verdeutlichten Sinne ist jedoch bisher nur postuliert. Die Frage ist, ob es auch in der Tat etwas dergleichen gibt. Das geschichtliche Faktum der Metaphysik gibt darauf die nächste Antwort. Es läßt sich zeigen, daß, wo immer in einem ursprünglichen und nicht bloß tradierten Sinne Metaphysik getrieben wurde, metaphysische Erfahrung vorherging, ohne daß sie freilich immer ausdrücklich kenntlich gemacht wurde. Sofern nun die Metaphysik in ihrem formalen Vollzug zunächst Frage nach Sein und Seinsgrund und sodann Antwort auf diese Frage ist, muß auch die metaphysische Erfahrung als der Grund der Möglichkeit der Metaphysik doppelt auftreten. Der metaphysischen Frage muß eine solche Weise metaphysischer Erfahrung zugrundeliegen, in der Sein und Seinsgrund fragwürdig werden, der metaphysischen Antwort eine andere Weise, in der Sein und Seinsgrund selber — wenn auch durch das Seiende hindurch — erfahren werden. Sie bilden gleichsam 106

zwei Stufen metaphysischer Erfahrung, die aber eng aufeinander bezogen sind. Metaphysische Erfahrung der ersten Stufe, sofern sie die Wurzel der metaphysischen Frage ist und mit dieser wiederum die Metaphysik beginnt, steht am Anfang des Geschehens von Metaphysik. In ihr muß, was Gegenstand der metaphysischen Frage wird, fraglich werden: das Seiende im Hinblick auf Sein und Seinsgrund. So ist diese anfängliche metaphysische Erfahrung das Geschehen, in dem in einer bedrängenden Weise das im alltäglichen Umgang zunächst selbstverständlich hingenommene Seiende — die Dinge ebenso wie wir selber — fragwürdig wird, und zwar so, daß dabei zum Problem wird, ob und was es ist und worin sein Sein gründet. Sucht man nach Beispielen aus der Geschichte der Metaphysik, so sieht man sich etwa auf das Staunen verwiesen, jene Grunderfahrung Piatons und des Aristoteles, in der das bislang Vertraute, das unmittelbar erfahrene Sosein der Welt, rätselhaft wird. Man wird auch an das Erlebnis des Hinschwindens der Welt und des eigenen Selbst denken, das dem philosophischen Mystiker widerfährt und das ihn vor die Frage nach dem Sein der Welt und des Selbst und nach dem Grunde dieses Seins bringt. Eigens zum Thema wird die metaphysische Erfahrung der Fraglichkeit im Zweifel des Descartes, in dem Dinge und eigenes Dasein eben im Hinblick auf Sein (Existenz) und Seinsgrund (Gott oder Deus deceptor) zweifelhaft werden. Metaphysische Erfahrung im Sinne des Fragwürdigwerdens des Seienden ist es schließlich auch — um nur noch ein Beispiel aus der unmittelbaren Gegenwart zu nennen —, wenn Heidegger die Grundfrage der Metaphysik, warum überhaupt etwas ist und nicht nichts, aus der Grundstimmung der Angst erwachsen läßt, in der die Hinfälligkeit des Seienden im Ganzen und die Möglichkeit des Nichts offenbar werden. Die bloße Erfahrung der Fraglichkeit des Seienden reicht freilich nicht aus, um daraufhin Aussagen über Sein und Seinsgrund machen zu können. Sie muß durch jene zweite Stufe metaphysischer Erfahrung ergänzt werden, auf der Sein und Seinsgrund selber, so wie sie im Seienden anwesend sind, erfahren werden. Auch dafür bietet die Geschichte der Metaphysik eine Fülle von Beispielen. Man kann etwa auf den Nous des Aristoteles hinweisen, dem sich die ersten Gründe und Ursachen erschließen, oder auf die intellektuale Anschauung Schellings, der sich das Absolute offenbart. Hierher gehört das platonische Erschauen der Ideen ebenso wie das Aufleuchten des unbegreiflich Einen vor dem Auge des Mystikers. Der intuitus des Descartes ist nicht minder metaphysische Erfahrung, als Kants Gefühl der Achtung für das Gesetz, das den Ausblick auf eine intelligible Welt 107

eröffnet. Schließlich kann hier auch die Begegnung mit dem in der Sprache sich darstellenden Sein im Sinne Heideggers genannt werden, wenn man davon absieht, daß dieser in seinen neuerlichen Veröffentlichungen das „Sein" nicht mehr ausschließlich im Sinne des Seins des Seienden versteht. 4 Schon ein flüchtiger Blick auf die Geschichte der Metaphysik zeigt also, daß diese in einer Erfahrung in dem gekennzeichneten doppelten Sinne wurzelt. Aber die Tatsache, daß es Metaphysik und metaphysische Erfahrung gegeben hat, genügt nicht, um über deren Wahrheit zu befinden. So ist denn auch die Metaphysik, und mit ihr die sie gründende Erfahrung, durch ihre ganze Geschichte hindurch problematisch gewesen. Es scheint, als müsse sich die metaphysische Erfahrung, soll sie wahr sein und den Grund der Wahrheit der Metaphysik bilden können, aus sich selber heraus bewahrheiten. Um hier deutlicher zu sehen, ist aber erforderlich, sie eindringlicher als bisher auszulegen. Metaphysische Erfahrung als Erfahrung der Fraglichkeit des Seienden im Hinblick auf Sein und Seinsgrund kann es im Anblick jedes Bereichs der Welt geben. Um ihr Wesen so eindeutig wie möglich zu erfassen, sei ein einfaches Beispiel gewählt, das jeder nachvollziehen kann: die schlichte Betrachtung eines Dinges, in der es lediglich darum geht, daß dieses Ding i s t . Das wird dem Betrachtenden zunächst rätselhaft vorkommen; aber damit steht er bereits an der Schwelle metaphysischer Erfahrung. Was in seinem Sein rätselhaft erscheint, das zeigt damit an, daß es auch nicht sein könnte, und so wird sein Sein fragwürdig. Umfassender und zugleich eindringlicher läßt sich das gleiche im Hinblick auf die Dinge überhaupt erfahren: wenn uns Augenblicke überfallen, in denen die Dinge versinken, die Welt durchscheinend wird und man sich geängstet fragt, ob denn diese und ob wir selber überhaupt sind. Der Blick auf das reine Sein der Dinge endet so in der Erfahrung der Möglichkeit des Nichts, die sich nicht als kühles Raisonnement des Verstandes, sondern als innerste Erschütterung vollzieht. Aus dieser metaphysischen Erfahrung kann sodann die metaphysische Frage in ihrer doppelten Richtung entspringend nach dem so fragwürdig gewordenen Sein und nach dem Grunde dieses so ungegründet erscheinenden Seins. Auch die metaphysische Erfahrung der zweiten Stufe läßt sich an dem genannten Beispiel verdeutlichen. Indem die Dinge fraglich werden, werden sie nicht schlechthin zunichte, sondern beharren im Sein. Es tritt das Paradoxe ein, daß das Ding, bedroht von der umfassenden Mög108

Iichkeit des Nichtseins, sich doch als seiend zeigt, und zwar seiend in der jeweiligen Besonderheit seines Seins; sein Daß-sein und sein Was-sein kommen, eben vor dem Horizont der möglichen Nichtigkeit, in betonter Weise zum Vorschein. Auch das ist kein theoretischer Schluß, sondern eine unmittelbare Erfahrung, und sie läßt sich wiederum eindringlicher am Seienden im Ganzen machen. Wo ich der Hinfälligkeit alles Seienden innewerde, entdecke ich zugleich, daß sich doch immer etwas, und sei es auch nur das eigene Dasein, im Sein hält. Ich erfahre, daß nicht schlechthin nichts ist, und so geht mir das „ist" im Seienden auf. Sein also begegnet ursprünglich als Sichhalten des Seienden über dem offenen Abgrund des möglichen Nichtseins. Wird es in dieser Weise erfahren, dann werden, im daran anknüpfenden Bedenken, metaphysische Aussagen über das Sein möglich. Das andere Moment der metaphysischen Erfahrung der zweiten Stufe, die Begegnung mit dem Seinsgrund, ist damit unmittelbar verbunden. Wenn ein Ding so erscheint, daß es in der Möglichkeit des umfassenden Nichtseins steht, dann wird an ihm zunächst nichts als Hinfälligkeit offenbar, das, was man seine metaphysische Schwäche nennen könnte: daß es die Kraft, sich im Sein zu halten, nicht in sich selber trägt. Wenn sich aber dann zeigt, daß es in paradoxer Weise doch i s t , dann wird deutlich: es hat die Ermöglichung seines Seins nicht aus sich selber, sondern von einem andern her, auf das es in seiner hinfälligen Dauer verweist. Auch das kann eindringlicher im Blick auf das Seiende im Ganzen erfahren werden. Im Hinschwinden der Welt und des Selbst, das doch seltsamerweise nicht zur völligen Vernichtung führt, begegnet ein Gründendes; es wird nicht erschlossen, sondern erfahren. Aus dem über dem Nichtsein sich haltenden Sein der Dinge kommt dem Vernehmenden der tragende Grund mächtig entgegen. Diese Erfahrung ist es, die metaphysische Aussagen über den Seinsgrund möglich macht. So zeigt sich nicht nur, daß, geschichtlich gesehen, metaphysische Erfahrung den faktischen metaphysischen Entwürfen zugrundeliegt. Es ist darüber hinaus jetzt einsichtig, daß sich eine solche Erfahrung in unserem Dasein ständig vollziehen kann. Eine ausgeführte Interpretation müßte nun die mannigfachen Weisen aufzeigen, in denen unsere alltägliche Wirklichkeit fraglich werden kann und ineins damit Sein und Seinsgrund begegnen können. Es wäre von den Grenzen des Denkens ebenso zu sprechen wie von der Begegnung mit der Tiefe der Welt im Anblick der Kunstwerke, vom Gewissen ebenso wie vom Schicksal, von der Liebe ebenso wie von der Versenkung ins eigene Innere. Erst wenn das ganze Feld möglicher metaphysischer Erfahrung durchmessen ist, ist die Basis für einen gegründeten Entwurf der Metaphysik breit genug. Doch im 109

Rahmen dieses Aufsatzes muß es bei den gegebenen Andeutungen sein Bewenden haben. 5 Wenn so die Metaphysik in der metaphysischen Erfahrung gründet, dann kann sie diesen ihren Grund nicht verlassen, ohne sich selbst aufzugeben. Sie ist daher ständig darauf angewiesen, sich an ihm auszuweisen. Das besagt aber, daß sie auch von der ihr zugehörigen Erfahrung her ihre Bewahrheitung erhält. Damit tut sich hinter der Frage nach der Wahrheit der Metaphysik die Frage nach der Wahrheit der metaphysischen Erfahrung auf. Wie alle Erfahrung, so bewahrheitet sich auch die metaphysische Erfahrung nicht durch den Verweis auf anderes, sondern von sich selber her. Sie ist ein Erstes und Unableitbares, sofern in ihr die Sache selber präsent wird. Man kann und muß daher mit der Frage nach der Wahrheit nicht hinter die metaphysische Erfahrung zurückgehen; sie trägt ihre Evidenz in sich selbst. Wahr ist eine Erfahrung insofern, als in ihr etwas Wirkliches begegnet. Nun gehört zum Begriff des Wirklichen ein Doppeltes: einmal, daß es auf den Erfahrenden einwirkt, und zum andern, daß es sich darin als von sich selber her wirksam erweist. Beide Momente treffen auf das zu, was in der metaphysischen Erfahrung präsent wird: Sein und Seinsgrund. Diese werden nicht frei entworfen, sondern als von sich selber her auf den Erfahrenden zukommend entgegengenommen. Entsprechend wird auch die metaphysische Erfahrung nicht als spontanes Tun, sondern als Überwältigtwerden und Ergriffenwerden erlebt. Dies Moment gehört ihr wesensmäßig zu, unbeschadet dessen, daß ihr Vollzug einer bestimmten Existenzhaltung bedarf: jener Muße, die dem Wesenhaften Zeit läßt, im Seienden zu erscheinen, und jenes Aufschwunges, in dem die Befangenheit in das bloß Seiende Überschwüngen und die Ebene der Bereitschaft für das Erschauen der Tiefe erschwungen werden. Verzichtet man also darauf, in einer der Sache unangemessenen Weise den Begriff des Wirklichen auf das raumzeitlich Erscheinende und sinnlich Wahrnehmbare einzuengen, anerkennt man vielmehr, daß es verschiedene Ebenen der Wirklichkeit und dementsprechend auch verschiedene Weisen der Erfahrung von Wirklichkeit gibt, dann muß auch das metaphysisch Erfahrene als Wirklichkeit zugestanden werden. Wenn die metaphysische Erfahrung ihre Evidenz in sich selber trägt, dann heißt das auch: sie bewahrheitet sich zunächst je nur für den Erfahrenden selbst. Gleichwohl löst sie sich nicht in bloße Subjektivität auf. Einmal gibt die Wirklichkeit der Sache, und um so mehr, je inniger sie 110

angeschaut wird, auch dem Denken über die Sache die Direktiven. Das wird dann am deutlichsten, wenn der besonnene metaphysische Denker, wie es seine Verantwortlichkeit erheischt, den immer wiederholten Versuch macht, sich seine Erfahrung in Frage zu stellen; dabei zeigt sich ihm, daß er sie nicht willentlich beiseiteschaffen oder verändern kann, und daß sie so im Kern für die anrennende Skepsis unangreifbar bleibt. Zum andern kann man die metaphysische Erfahrung auch darum nicht bloß als subjektiv verwerfen, weil es möglich ist, im philosophischen Dialog dem Partner den Blick für die Ebene von Sein und Seinsgrund zu öffnen, und zwar nicht durch Überredung, sondern so, daß man der Sache selber den Raum schafft, in dem sie aufleuchten kann. In kritischer Nachprüfung und Gespräch kann sich also die metaphysische Erfahrung wachsend ihrer Wahrheit vergewissern.

6 Aus der metaphysischen Erfahrung entspringt die Metaphysik, ja sie ist nichts anderes als deren denkerische Entfaltung. Nicht als ob sie unumgänglich aus ihr erwüchse; zum Beispiel wird die metaphysische Erfahrung in der Begegnung mit Kunstwerken nicht notwendig zur Metaphysik der Kunst. Zum ausdrücklichen metaphysischen Entwurf kommt es vielmehr erst im Entschluß, das Erfahrene denkend zu durchdringen. Dieser Entschluß ist der Beginn des Philosophierens, indes die metaphysische Erfahrung der Boden ist, aus dem dieses erwächst. Seinen Anstoß erhält der metaphysische Entwurf aus der Erfahrung der Fraglichkeit des Seienden. Den Gehalt seiner Aussagen gewinnt er aus der Erfahrung von Sein und Seinsgrund. So wirken beide Stufen der metaphysischen Erfahrung in der Genesis der Metaphysik zusammen. Aber damit ist deren Ausgangspunkt noch nicht zureichend umschrieben. Sofern sie das Seiende im Hinblick auf Sein und Seinsgrund als fragwürdig erfährt und Sein und Seinsgrund durch das erschütterte Seiende hindurch als dessen Sein und ersten Grund sucht, ist sie auf das Wissen um das Seiende angewiesen. So muß sie die lebendige Welterfahrung ebenso heranziehen wie die Wissenschaften vom Seienden, beides aber so, wie es sich im Medium der metaphysischen Erfahrung verwandelt. Die Erfahrung des Seins kann Ausgangspunkt einer Metaphysik als Ontotogie werden, nicht bloß im formalen Sinne einer Kategorienlehre, sondern so, daß sie das Sein als Sich-halten über dem Nichts bedenkt. In dieser metaphysischen Sicht wird es nicht als tote Substanz, sondern als zeitlicher Prozeß, als Vor-gehen ins Dasein gedacht. Wird es weiter in den verschiedenen Hinsichten bedacht, in denen es vor dem Horizont

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des möglichen Nichtseins erscheint und sich in der konkreten Wirklichkeit darstellt, dann wird es je zum Thema einer regionalen Ontologie: etwa als Vor-gehen des Lebens, das sich gegen das ständige Sterben erhält, oder als Vor-gehen des Geistes, der sich in seinen immerwährenden Untergängen bewahrt. So führt die metaphysische Erfahrung, einsetzend in den einzelnen Bereichen des konkret gewordenen Seins, zur Metaphysik der Natur, des Lebens, des Geistes, der Geschichte, der Kunst. Aus der Erfahrung des Seinsgrundes schließlich kann als oberste Disziplin der Metaphysik eine metaphysische Theologie erwachsen. Ihr muß es darum gehen, in all dem vielfältigen Vor-gehen das Vor-gehende selber zu ergreifen, Wo sie, im Gefolge ehrwürdiger Überlieferung, vom Göttlichen redet, wird sie dieses, sofern es in dem über dem Nichts sich haltenden Seienden waltet, als Ursprung, Urgrund und Abgrund begreifen, zugleich aber, sofern es im menschlichen Geiste anwesend ist, als Rückkehr in sich selber. Dies alles in einer Begrifflichkeit, die sich ebensosehr der unendlichen Ferne zu ihrem Gegenstand bewußt ist, wie sie den Versuch wagt, in endlichen Worten — bejahend und verneinend zugleich — das Absolute zu sagen.2

2 Vgl. dazu die demnächst erscheinende Untersuchung des Verfassers: Der Gott der Philosophen. Über die Möglichkeit einer Philosophischen Theologie.

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Macht und Ohnmacht der Zeit „Wir haben keine Zeit", — das ist der Ausruf, den man an allen Ecken und Enden hören kann. Sei es als Seufzer, sei es als unwillige Ausflucht. Nur wenige Privilegierte gibt es noch, die den Mangel an Zeit nicht kennen. Sogar bei den Gelehrten ist die Muße zur Besinnlichkeit eine seltene Sache geworden. Keine Zeit zu haben, ist die Krankheit des gegenwärtigen Menschen. Um es paradox auszudrücken: unsere Gegenwart ist die Zeit ohne Zeit. Aber wie steht es denn in Wahrheit mit unserem Verhältnis zur Zeit? Ist denn für den, der keine Zeit hat, die Zeit überhaupt nicht mehr da? Sind wir, denen die Zeit ständig entgleitet, wirklich ohne Zeit? Nichts weniger als das. Gerade dann, wenn wir keine Zeit haben, haben wir in erhöhtem Maße mit der Zeit zu tun. Wir leben nach der Uhr. Wir benutzen Terminkalender. Wir treffen Zeitdispositionen. Das ist ein rätselhafter Sachverhalt. Wer keine Zeit hat, spürt mit besonderer Eindringlichkeit den Andrang der Zeit. E r lebt unter Zeitdruck. Er hat vielleicht sogar Zeitangst. Man könnte sagen: wer keine Zeit hat, den h a t die Zeit. Keine Zeit haben, heißt also: die Zeit nicht in der Hand haben. Keine Zeit haben, heißt: so wenig der Zeit mächtig sein, daß man vielmehr unter ihrer Gewalt steht. Eben darum sind wir ja so eifrig darum bemüht, über die Zeit zu verfügen. Unsere Zeitdispositionen sind nichts als Versuche, der Macht der Zeit standzuhalten. Und doch enden wir stets dabei, daß wir keine Zeit haben. All unsere Anstrengungen, die Zeit in die Hand zu bekommen, scheitern. Die Zeit entzieht sich ständig unserem Besitz. Wir wollen über sie verfügen, aber sie verweigert sich unserer Verfügung. Keine Zeit haben, heißt also: ohnmächtig sein vor der Macht der Zeit. Doch worin gründet eigentlich diese Macht der Zeit? Was so gewaltig auf uns einwirkt, muß doch etwas ungeheuer Wirkliches sein. So wäre also die Zeit eine mächtige Wirklichkeit. Wenn wir aber nun genauer zuschauen und uns fragen, was denn das mächtig Wirkliche der Zeit ist, dann stoßen wir wiederum auf einen seltsamen Sachverhalt. Die Zeit hat, genau betrachtet, gar keine Wirklichkeit. Wo könnte denn die Wirklichkeit der Zeit stecken? Etwa in ihr als Zukunft? Aber das Zukünftige ist doch gerade das, was noch nicht wirklich ist. Oder in ihr als Vergangenheit? Aber das Vergangene ist doch gerade das nicht mehr Wirkliche. 113 8 Weiscbedel

Eigentlich wirklich ist doch nur das Jetzt, dieser gegenwärtige Moment. Aber was ist denn dieses Jetzt? Es ist kaum zu fassen, ist etwas, was ständig verschwindet. Kaum daß ich „jetzt" gesagt habe, ist dieses Jetzt schon nicht mehr da, sondern schon wieder vergangen, und also nicht mehr wirklich. Auch das Jetzt, die Gegenwart, hat also keine beständige Wirklichkeit. Eis ist, genau gesprochen, nur die gleitende Grenze zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Aber eine Grenze, ein bloßes Zwischen, ist doch nichts Wirkliches. Fragt man also nach der Wirklichkeit der Zeit, so greift man ins Leere. Weder als Zukunft, noch als Vergangenheit, noch als Gegenwart ist die Zeit wirklich. Genau betrachtet, ist die Zeit so viel wie nichts. Damit aber geraten wir in einen merkwürdigen Widerspruch. Denn eben dieses Unwirkliche, das uns, wenn wir es fassen wollen, in nichts zerrinnt, eben diese selbe Zeit ist es doch, die unser so mächtig ist, daß sie uns in die Unrast wirft und uns ohnmächtig macht. Kann denn das Unwirkliche solche Macht besitzen? Aber vielleicht ist es gerade dieses Unwirklichsein, diese gespenstische Unfaßbarkeit, worin die Macht der Zeit gründet. Nicht nur die greifbaren und faßbaren Dinge haben ja Macht über uns. Gerade das, was uns in seiner Ungreifbarkeit ängstet und bedroht, kann viel mächtiger sein als das deutlich ergriffene Wirkliche. So wäre, was die Zeit zum Herrn über den Menschen macht, eben dies, daß sie keine feststellbare, beständige Wirklichkeit besitzt, daß sie nichts Wirkliches ist. So ist es in der Tat. Das Eigentümliche der Zeit, ihr Wesen und ihre Macht, liegt gerade darin, daß sie nichts Bestehendes ist, daß sie keinen Bestand hat. Ihr Wesen ist das Zerrinnen, das Entgleiten, der ständige Untergang. Die Zeit kommt als Zukunft an, sie tritt dann als der verschwindende Augenblick in den Engpaß der Gegenwart, und sie entgleitet ohne Aufenthalt in die Vergangenheit. Ihr Wesen und Walten ist nichti anderes als dieser unaufhaltsame Zug zum Nichtmehrsein. In ihn reißt sie alles, was ist, mit hinein. Und das eben ist die eigentümlich beängstende Macht der Zeit. Es ist die Kraft, mit der sie alle Dinge in den Untergang mit hineinzieht. Damit erst wird der paradoxe Zusammenhang von Macht und Unwirklichkeit der Zeit begreiflich. Gemessen an der ruhigen Beständigkeit der Dinge ist die Zeit wie nichts. Aber sie ist mächtig als der Drang zum Nichtmehrsein, der als Schatten über allen Dingen liegt. Die Zeit ist selber der Ursprung der Vergänglichkeit, der Hinfälligkeit, der Endlichkeit als Schicksal der Welt. Die Macht der Zeit ist die Macht des Vernichtens. Und so ist sie aller Tage auch unser mächtig. Von ihr getrieben, gehen wir unaufhaltsam unserem Ende zu. Weil wir endliche Wesen in einer endlichen Welt sind, darum hat die Zeit über uns Ge114

wait. Darum auch kann sie uns in die Unrast werfen. Darum haben wir keine Zeit. Aber ist es denn notwendig, so tief in die Metaphysik hinabzusteigen, um die einfache Tatsache, daß wir keine Zeit haben, zu erklären? Liegt es denn nicht so, daß wir darum keine Zeit haben, weil uns die Aufgaben, vor die wir uns gestellt wissen, keine Zeit lassen? Das gilt ja in besonderem Maße für die Gegenwart. Wie der Gang der Geschichte sich immer mehr beschleunigt, wie die Geschehnisse immer überstürzter herandringen, wie die Gefahren immer drohender werden, da geht uns die Zeit aus, um all das Ungeheure zu bestehen und zu bewältigen. Um unserer Verantwortlichkeit willen müssen wir es auf uns nehmen, vor der heranrasenden Zukunft in der Unrast zu leben, unsere Zeit im Dienst am Kommenden zu verzehren. Doch dieser Gedanke der geopferten Gegenwart, so sehr sich in ihm das Ethos des gegenwärtigen Menschen aussprechen mag, hat etwas zutiefst Unheimliches. Denn gerade darin, daß wir um der Zukunft willen ständig den gegenwärtigen Augenblick verlieren, wird die vernichtende Macht der Zeit mit besonderer Eindrücklichkeit wirksam. Wie wir von der sich immer mehr beschleunigenden Zeit in die Zukunft gerissen werden, entgleitet uns der Boden der Gegenwart. Und ehe wir es uns versehen, gelangen wir an das Ende unseres Daseins, fast ohne je wirklich im Augenblick gelebt zu haben. So kommt es denn auch, daß der Gedanke der Endlichkeit und Vergänglichkeit zur herrschenden Idee unseres Zeitalters geworden ist. Allerorten bricht er durch: im Begriff einer endlichen Zeit und eines endlichen Raumes, wie ihn die Relativitätstheorie entwirft; in den astrophysikalischen Überlegungen zum Wärmetod der Welt; in den theologischen Diskussionen zur Eschatologie; in der Rolle, die der Tod in der modernen Dichtung und Philosophie spielt. Wenn Rilke von dem Tod dichtet, der nur als „der eigene Tod" echt ist, wenn Jaspers im Sterben eine der entscheidenden Grenzsituationen sieht, die den Menschen zu seinem eigensten Selbst bringen, wenn der Tod für Heidegger das ist, was uns in die Eigentlichkeit unserer Existenz zu stellen vermag, — dann spricht sich da in der Tiefe der dichterischen und philosophischen Besinnung aus, was als allgemeine Grundstimmung unser Jahrhundert durchzieht: das Gefühl der Endlichkeit. Wir leben nicht mehr, wie es die Neuzeit lange tat, aus dem Pathos des Unendlichen; wir vermeinen, überall das Ende auf uns zukommen zu sehen: das Ende unseres eigenen Daseins, das Ende der Welt, das Ende der Zeit. Und daher wird es äußerst fragwürdig, ob es noch sinnvoll ist, wenn wir ständig dieser trostlosen Zukunft das Opfer der Vernichtung der Gegenwart darbringen. 8·

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Aber ist das das Letzte? Ist der Anblick der unentrinnbaren Vergänglichkeit der tiefste Aspekt, der unseren menschlichen Augen vergönnt ist? Ist die Macht der Zeit die oberste aller Mächte? Das ist die Frage, um die sich die Philosophie der Gegenwart mit aller Leidenschaft müht. Aber nicht nur die Philosophie. In weiten Bereichen geht es dem Menschen heute darum, die Wand der Endlichkeit zu durchstoßen. Wir suchen nach jenen Erfahrungen, in denen sich uns über die zeitliche Wirklichkeit hinaus, die uns rings umgibt, eine tiefere Wirklichkeit enthüllt: die Wirklichkeit des Zeitlosen. Der Glaubende erfährt in der Begegnung mit Gott, daß dieser der Herr der Zeit ist. Erfahrungen, die inmitten unseres Alltages aufbrechen können, lassen uns an das nicht mehr Zeitliche rühren; es sind die Augenblicke, in denen wir — etwa im hingegebenen Anblick eines Kunstwerkes — über uns selbst hinausgehoben werden, oder auch die Augenblicke der tiefen Versenkung in das eigene Innere. Da steht uns die Zeit still. Da erleben wir in dem, was um uns ist, und ebenso in uns selber die Entrückung aus der Zeit. Da rühren wir an das Ewige, das „stehende Jetzt", wie es die alten Philosophen nannten. Vielleicht kann uns daraus auch eine tiefere Einsicht in unser eigenstes Wesen erwachsen. Es ist freilich gewiß: wir werden sterben. Aber ist damit das Dasein unseres Geistes endgültig ausgelöscht? Der Geist hat doch in sich selber etwas, was ihn dem unaufhaltsamen Fluß der Zeitlichkeit enthebt. Auch das Vergangene, das nicht mehr Wirkliche, bewahrt er erinnernd und schafft ihm so eine neue Stätte der Wirklichkeit. Auch das noch nicht Wirkliche, das Zukünftige, holt er in Erwartung, Hoffnung und Furcht in sich herein und gibt ihm so einen Ort schon in der Gegenwart. So sammelt der Geist die Flucht der Zeit in die beständige Ruhe des Augenblicks. So wird er im erfüllten Augenblick der Zeit mächtig. Vielleicht wird man darum auch sagen können: daß der Geist das vermag, hat seinen Grund darin, daß er selber im Zeitlosen seinen Ursprung hat. Wäre es so, dann bekäme die Zeit ein anderes Gesicht. Dann wäre sie nicht das Letzte, nicht das Mächtigste. Dann verlöre sie ihre unwiderstehliche Gewalt über uns. Denn dann wäre sie nur die Erscheinungsform des Ewigen. Was uns als zeitliche und vergängliche Wirklichkeit erscheint, wäre nur der vordergründige Aspekt einer ewigen Wirklichkeit, die sich zwar zeitlich kundtut, die aber selber keiner Zeit und keiner Vergänglichkeit mehr unterworfen ist. Wer sich in solchen Erfahrungen über das Zeitliche hinausschwingen kann, für den bekommt der Augenblick ein anderes Gewicht und eine andere Tiefe. Er ist dann nicht mehr nur das flüchtige und unwirkliche 116

Jetzt, sondern die Stätte der Erscheinung des Ewigen. Dann haben wir im Augenblick Zeit, weil wir im Augenblick mehr als Zeit haben. Selbst wenn wir im äußeren Leben auch weiterhin keine Zeit haben. Denn an der Gehetztheit unseres Daseins mag sich nicht viel ändern. Aber die Unrast ist dann nur eine Sache der Oberfläche. Sie ruht auf dem tieferen Grunde der Ruhe. Wir wissen den Augenblick im Ewigen geborgen. Und in diesen Grund, in dem die Zeit ohnmächtig geworden ist, vermögen wir immer wieder hinabzutauchen, sooft uns die Macht der Zeit bedrängt.

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Die Frage nach der Wirklichkeit Es leuchtet ein, daß am Beginn eines Kongresses eine Frage steht. Nicht ebenso selbstverständlich ist, daß diese Frage, die doch einen Kongreß des Kirchentags einleiten soll, nicht vom Theologen, sondern von einem Philosophierenden entfaltet werden soll, also von einem, der nicht beanspruchen kann, vom Glauben und von der Kirche her zu sprechen. Aber hier gilt es sofort, ein Mißverständnis abzuwehren. Ich kann meine Aufgabe nicht darin erblicken, jene sogenannte „moderne Welt" zu repräsentieren, die an die Kirche Fragen stellt. Denn einmal wird hier selten wirklich gefragt, das heißt, auf Antwort gewartet. Zum andern verteilen sich vermutlich Frage und Antwort nicht fein säuberlich auf die Menschen außerhalb und innerhalb der Kirche. Die Frage kommt also von außen, aber so, daß sie dafür hält, sie sei zugleich — und vielleicht sogar vorzüglich — eine Frage der Kirche und der christlichen Theologie selber. Ist es aber so, dann scheint mir die erste Aufgabe des Kongresses darin zu bestehen, daß beide — die von der Kirche kommen und die zur Kirche kommen — sich miteinander darum mühen, die Frage recht zu stellen. Die Frage recht stellen heißt zunächst: die Schwierigkeiten und die Anstrengung des Begriffs auf sich nehmen, die unausweichlich sind, wenn man ernstlich fragt. Zugleich aber heißt es: sich bescheiden; denn eine so ungeheure Frage, wie es die Frage nach der Wirklichkeit ist, läßt sich nicht in vier Kongreßtagen lösen, geschweige denn in einer kurzen Stunde zureichend entwickeln. Wenn überhaupt etwas gelingen kann, dann höchstens dies, einige Aspekte der Frage nach der Wirklichkeit aufzuzeigen als eine Art Introduktion zu den vertiefenden Diskussionen der kommenden Tage, mit denen zusammen sie erst ihre eigene rechte „Wirklichkeit" erhält. Was heißt: V e r l u s t der

Wirklichkeit?

Nun wissen wir, zumindest seit Kierkegaard, daß es nicht weit führt, wenn man abstrakt nach der Wirklichkeit fragt. So haben denn auch die Verantwortlichen für diesen Kongreß recht daran getan, die Frage nach der Wirklichkeit von Anfang an ins Konkrete zu wenden und zum Ausgangspunkt die Beobachtung zu nehmen, daß in den verschiedensten Bereichen des gegenwärtigen Daseins ein „Wirklichkeitsverlust" sichtbar und spürbar wird. In der Tat: wenn die Frage nach der Wirklichkeit aus 118

der Sorge um den Verlust eben dieser Wirklichkeit erwächst, muß sie eine eigentümliche Dringlichkeit erhalten. Doch was ist eigentlich mit dem „Verlust der Wirklichkeit" gemeint? Offenbar doch nicht, daß es keine „wirklichen", keine „realen" Dinge mehr gebe: keine Tische und Bücher, keine Pflanzen und Berge, keine Autos und Flugzeuge. Dergleichen gibt es auch in unserer Gegenwart, so real sogar, daß wir uns an der Tischkante stoßen oder im Auto verunglücken können. Und doch wird keiner die Empfindung haben, das Wort vom „Verlust der Wirklichkeit" sei ein reiner Widersinn. Was also besagt es ? Man kann — wie gelegentlich vorgeschlagen wird — terminologisch zwischen „Realität" und „Wirklichkeit" unterscheiden; das geht freilich nicht ohne begriffliche Willkür, kann aber der Verdeutlichung dessen dienen, was „Verlust der Wirklichkeit" meint. Die „Realität" eines Dinges wäre dann dessen faktisches Existieren, im Gegensatz dazu, daß es bloß erdichtet oder geträumt sein könnte. Die „Wirklichkeit" eines Dinges besagte demgegenüber, daß es in meiner Gegenwart steht, daß es für mich da ist, daß es zu meiner Welt gehört, genauer: daß es wirksam anwesend ist; eben dies Moment der Wirksamkeit steckt ja auch etymologisch im Wort „Wirklichkeit". So ist zum Beispiel für den, der nicht lesen kann, ein Buch zwar eine „Realität", nämlich als ein faktisches, nicht geträumtes Ding, aber doch keine „Wirklichkeit", sofern es, nämlich als Buch, für ihn, den des Lesens Unkundigen, nicht da, nicht wirksam anwesend ist. So ist ein Auto zwar in jedem Falle ein reales Ding; es kann aber mehr oder weniger wirklich für mich sein, je nach dem, ob ich eines besitze oder nicht. Soviel zur Klärung des Begriffs. Wirklichkeit heißt demnach: Anwesenheit in meiner Welt, wirksames Gegenwärtigsein, Dasein für mich. In diesem Sinne ist von ihr die Rede, wenn man vom „Verlust der Wirklichkeit" spricht. Er betrifft nicht die „Realität" der Dinge und meint keinen Wandel im Sein der Dinge selber. Er betrifft vielmehr deren Naheoder Fernsein, oder genauer: unser Sein bei den Dingen, unser Verhältnis zu ilinen, unser „In-der-Welt-sein" (Heidegger) in seinem Nahsein und Fernsein zu den Dingen, Habe ich die Wirklichkeit verloren, so meint das nicht: die Dinge haben ihre Realität eingebüßt. Es besagt vielmehr: die Gegenwart der Dinge, ihre wirksame Anwesenheit in meiner Welt, ihre unmittelbare Nähe sind geschwunden. Die Dinge sind für mich nicht mehr so da wie ehedem. In unser Sein bei ihnen ist Ferne und Fremdheit gekommen. „Verlust der Wirklichkeit" heißt: Entfremdetsein von den Dingen und zugleich — wir werden es noch sehen — Entfremdetsein von uns selbst. Doch das gilt es nun konkreter zu betrachten. 119

Beginnen wir mit einer uns allen vertrauten, in sich selber aber tiei beunruhigenden Erscheinung; daß wir es heute so schwer haben, der Natur in ihrer Unmittelbarkeit zu begegnen. Überall tritt menschliches Gemachte dazwischen: vor die natürliche Natur hat der Mensch eine zweite, künstliche, eine technische Natur gestellt. Wir haben uns von der Natur entfernt, und im gleichen Maße ist sie uns fremd geworden. Sie ist, als solche, kaum mehr in unserer Welt anwesend. Mag sie auch noch genauso „real" wie ehedem sein: sie hat sich für uns entwirklicht. Haben wir aber dafür nicht einen vollgültigen Ersatz erhalten, darin nämlich, daß uns eine neue, mächtige „Wirklichkeit" umgibt: eben jene technische Welt? Müßte sie, die ihr Dasein doch uns selber verdankt, nicht eben darum in besonderer Weise uns nahe, also in vorzüglichem Maße für uns wirklich sein? Daß dem keineswegs so ist, wissen wir alle. Die technische Welt, so unentbehrlich sie für die Erhaltung unseres Daseins geworden ist, ist doch kein Zuhause für uns; sie und gerade sie erhält immer mehr das Gepräge der Fremde. Wen überkäme nicht dann und wann die Empfindung, in einer gespenstischen Welt zu leben als ein Exemplar des heillos rückständigen Lebewesens Mensch in einer sich immer mehr vervollkommnenden Welt von Apparaten? Günter Anders hat eindrucksvoll auf diese Zusammenhänge hingewiesen1: wie für den gegenwärtigen Menschen, und zwar gerade im Zuge der Perfektionierung seiner technischen Welt, nicht viel anderes übrigbleibt als die „Scham" über die eigene Unvollkommenheit, erwachsend aus der abgründigen Ferne zu den perfekten Geräten; wie ihm die Welt immer mehr zum „Weltphantom" wird; wie ihm in Rundfunk und Fernsehen eine zubereitete Welt, ohne Nähe und Ferne, als die „wirkliche" Welt vorgespiegelt wird; wie ihm die Illustrierten eine spukhafte „Wirklichkeit von heute" anbieten. So ist es ein doppelter Wirklichkeitsverlust, den der Mensch in diesem Felde erleidet. Einmal hat er sich der Natur entfremdet und sich diese damit in die Unwirksamkeit der Ferne gerückt. Zum andern weiß er sich auch in der zweiten, von ihm selber geschaffenen Welt als Fremdling, so sehr, daß ihm diese schließlich selber als phantomatisch erscheint. Ein weiterer Aspekt des Wirklichkeitsverlustes, den gleichfalls jeder kennt. Der Mensch der Gegenwart lebt, genau betrachtet, nicht in einer einheitlichen Welt, sondern in einer Vielheit von Welten: der Welt der Technik und der Welt der Dichtung, der Welt der Frömmigkeit und der Welt der politischen Gegebenheiten. Zwischen diesen Welten aber herrscht ein Streit um die Wirklichkeit, das heißt, um die wirksame Nähe 1 Die Antiquiertheit des Menschen. Uber die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, 1956.

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zum Menschen. Jede drängt sich vor und will das Dasein des Menschen entscheidend oder gar ausschließlich bestimmen. Jede gibt sich für die eigentlich wirkliche aus und will die andere aus der Wirklichkeit verstoßen. Es hat in der Tat, wie es einer der Initiatoren des Kongresses, Hans Hermann Walz, ausdrückt, den Anschein, daß „die Wirklichkeit aus Fetzen besteht". Und was so unseren Alltag bestimmt, findet seine genaue Entsprechung in den modernen Wissenschaften, die ja niemals das Seiende als solches und als ganzes vor Augen bringen können, sondern je nur einen bestimmten Aspekt, und dies um den Preis der Abblendung aller andern möglichen Aspekte. Auch hier kommt die Welt nur im Teilaspekt vor das Auge des Menschen, wird sie nur als Fragment für diesen wirklich. Wollte man den Spuren des Wirklichkeitsverlustes in unserer Gegenwart weiter nachgehen, so müßte man von der Rolle sprechen, die in Kunst und Dichtung das Abrücken vom Gegenständlichen, das Weggleiten ins Unwirkliche und Surrealistische, die Einsamkeit in der schwindenden Welt, der Absturz ins Nichts, das „Warten auf Godot" spielen. Man müßte auch jene höchst reale Möglichkeit des Wirklichkeitsverlustes erwähnen, die in der Atombombe manifest geworden ist, jenem „Gespenst der allgemeinen Vernichtung", wie Einstein sie bezeichnet 2 ; käme sie zu umfassender Anwendung, so wären ja überhaupt unser Sein in der Welt, unsere Wirklichkeit, und ineins damit das Sein der Welt für uns, ihre Wirklichkeit, zu Ende. Wohin man also auch den Blick wendet, überall zeigt sich das gleiche: das nämlich, was ein anderer der Initiatoren des Kongresses, Günter Howe, das „Versinken der Welt ins Bodenlose" genannt hat. Lassen Sie mich, statt aller weiteren Hinweise, nur noch auf eines aufmerksam machen: wie nämlich das Gefühl des gegenwärtigen Menschen von der Unwirklichkeit seiner selbst und seiner Welt den tiefsten Ausdruck da gefunden hat, wo die Philosophie, angeregt durch Kierkegaard, auf die Angst gestoßen ist. In dieser, wie Heidegger sie auslegt, erfährt der Mensch ein doppeltes Nichts: einmal das Nichts des eigenen Daseins, das unentrinnbar dem Tode ausgeliefert ist, und zum andern das Nichts der Welt, die vor dem Auge des Geängsteten haltlos wegsinkt. In beiden Richtungen geschieht Entwirklichung: die Welt rückt dem Menschen fern, wird unwirksam, und er entgleitet sich selber. Ist nun die Angst, wie Heidegger behauptet, ein „Grundgeschehen", in dem der Mensch dessen inne wird, wie es in Wahrheit mit ihm und mit dem Seienden steht, dann heißt das: Nichtigwerden, Entwirklichung, „Hineinge* a.a.O., S. 263. 121

haltenheit in das Nichts" ist der Grundzug des menschlichen Daseins und seiner Welt. Keiner, der diese vielfältige Entfremdung von der Welt, dieses Entschwinden der Wirklichkeit, dieses Zerbrechen der Sicherheit im Dasein, diesen Triumph des Nichts recht bedenkt, wird sich der Sorge entziehen können, daß der Mensch damit an einem gefährlichen und verhängnisvollen Punkte seiner Geschichte angelangt ist. Daraus entspringen denn auch die mannigfachen Bemühungen, den Menschen wieder in der Wirklichkeit zu verwurzeln, ihn in die Nähe zu sich selber und zu den Dingen zu bringen. Wie kommt es aber, daß trotz alledem die Unheimlichkeit des Wirklichkeitsverlustes eher noch zuzunehmen scheint? Vielleicht kommt die Vergeblichkeit solcher Bemühungen daher, daß man meint, es gäbe inmitten der schwindenden Wirklichkeit noch Inseln des verschonten Daseins: etwa in gewissen kulturellen Zirkeln oder in den Gemeinschaften des Glaubens. Wie aber, wenn dies nur eine schöne Illusion wäre, wenn der Verlust der Wirklichkeit nichts unbedroht ließe, wenn er nicht ein hier und da zufällig auftretendes Geschehen wäre, sondern einer geschichtlichen Notwendigkeit entspränge, die nicht nur einzelne Bereiche unseres Daseins, sondern dieses als Ganzes und vom Grunde her bestimmte? Um aber diese Frage beantworten zu können, ist es notwendig, dem Ursprung des gegenwärtigen Wirklichkeitsverlustes nachzuforschen. Die

Herkunft

des Wi r k 1 i ch k e i t s ν e r 1 u s t e s

Sucht man in dieser Absicht nach einem Zeitalter des unzerbrochenen Wissens um Wirklichkeit, des vollen Einklanges des Menschen mit der ihm nahen Welt, so mag man wohl an die Frühzeiten des bewußten Daseins der Menschheit denken, an jene magischen und mythischen Jahrtausende, in denen die Welt darum von so dichter und mächtiger Wirksamkeit erschien, weil sie — ebenso wie der Mensch, der sich fraglos in sie eingebettet wußte — als von dämonischen oder göttlichen Kräften durchwaltet erfahren wurde. Etwas davon ist noch in der anfänglichen griechischen Philosophie spürbar; da sieht sich der Mensch, obgleich als fragend Philosophierender sich leise lösend, doch noch im Einvernehmen mit der Physis, mit der lebendigen Natur, die ihrerseits als das in allem Seienden mächtig anwesende Göttliche verstanden wird. Wirklichkeit bedeutet also für den Menschen dieser frühen Zeiten so viel wie mächtige Anwesenheit des wirksamen Göttlichen in der Welt, die darum selber als die wirksam nahe und umfangende, als die wirkliche empfunden wird. 122

Nun aber hebt ein Prozeß der Entwirklichung an, dessen hauptsächliche Stadien in aller Kürze dargestellt seien. Eine erste, bis heute wirksame Stufe findet sich in jenem Weltverständnis, dessen vorzüglicher Ausdruck das platonische Denken ist. Ausgangspunkt ist der geschärfte Blick auf die Vergänglichkeit alles Seienden, des Menschen sowohl wie der Dinge. Was aber vergänglich ist, ist von Nichtigkeit durchsetzt — es wird einmal nicht mehr sein, so wie es ja auch vordem noch nicht war. Daher kann es nicht das eigentlich Seiende sein. Im strengen Sinne seiend ist nur, was nicht entsteht und nicht vergeht, sondern immer ist; wahres Sein ist Immersein. Eigentlich seiend sind nicht die konkreten Dinge, sondern ihre reinen Gestalten. Eigentlich seiend ist nicht der Baum, der vor meinen Augen steht, sondern die immer gleichbleibende, nicht entstehende und nicht vergehende Idee des Baumes überhaupt; der konkrete Baum dagegen ist nur, sofern er an jenem eigentlich Seienden teilhat. Damit aber hat sich eine merkwürdige Umkehr im Verständnis von Wirklichkeit vollzogen. Was den Menschen unmittelbar umgibt, die Welt der Dinge, seine nächste Wirklichkeit, wird auf eine eigentümliche Weise entleert und entwirklicht. Sie ist nicht mehr der Ort der Anwesenheit in ihr wirksamer göttlicher Mächte, sondern nur die Stätte der Abbilder von etwas, dem allein das Sein im eigentlichen Sinne, das Immersein, und damit auch die wirksame Mächtigkeit zukommt. Wirklichkeit bedeutet also jetzt nicht mehr: die Welt in der unmittelbaren Präsenz des wirksamen Göttlichen. Das Wirksame der Wirklichkeit entzieht sich gleichsam in die Ferne — kaum merklich beginnend bei Piaton, für den das Seiende noch in der Anwesenheit der Idee, die selber göttlichen Wesens ist, seine Wirklichkeit besitzt, immer stärker dann im späteren Piatonismus, und weiterhin überall da, wo das christliche Denken neuplatonischen Geist atmet. Die Welt der Ideen stellt sich als ein eigener Bereich, als die wahre Welt, der nur scheinhaft wirklichen, von Nichtigkeit durchzogenen Welt der Dinge gegenüber. Der paradoxe Gedanke wird gedacht: Das eigentlich wirksam Wirkliche ist nicht das, was für mich „wirklich" ist, das bei mir Anwesende; das eigentlich wirksam Wirkliche ist gerade das meiner „Wirklichkeit" Ferne. Eben darin aber liegt der Grund für die Entwirklichung der hiesigen Wirklichkeit. Denn nun geschieht es, daß der Mensch in dieser Welt, die doch nicht die wahre ist, ein tiefes Gefühl der Verlorenheit empfindet. Er weiß sich ursprünglich zugehörig jener eigentlich wirklichen, jener ewigen Welt. Die hiesige Welt erscheint ihm daher als die Fremde, in der er nicht zu Hause ist und die er im Aufschwung des Denkens oder der Ekstase hinter sich lassen muß, um sich jener eigentlichen Wirklichkeit wieder zu nähern. Überall aber, wo in der späteren Geschichte des Denkens vom Überzeitlichen, Überwirk123

liehen, Übergeschichtlichen die Rede ist — so etwa wenn Kant das wahre Wesen des Menschen darin erblickt, daß er einer übersinnlichen Welt angehört —, werden die Spuren solchen platonischen Denkens sichtbar. Eine zweite wichtige Stufe im Prozeß der Entwirklichung bringt der christliche Schöpfungsgedanke mit sich. Zwar wird in ihm — im Unterschied zum gnostischen Denken, in dem sich die platonische Trennung der beiden Welten radikalisiert — die Heimatlosigkeit dadurch gemildert, daß der Mensch, selber Geschöpf Gottes, sich in der von Gott geschaffenen Welt in gewissen Grenzen zu Hause wissen kann. Gleichwohl ist die Welt auch für das christliche Denken nicht die eigentliche Heimat. Ich übergehe, daß dies weithin mit ihrem Charakter als der sündigen Welt zusammenhängt, und fasse bloß dasjenige ins Auge, was sich unmittelbar mit dem Problem der Wirklichkeit berührt. Da nun zeigt sich: die Welt, und zwar gerade in ihrer Geschöpflichkeit, ist nicht heimatlich, sondern un-heimlich; denn sie entstammt dem Nichts und ist ständig vom Nichts bedroht. Daß sie ist und sich im Sein hält, verdankt sie nicht sich selber, sondern dem, der sie geschaffen und ihr darin Sein verliehen hat; zöge Gott auch nur für einen Augenblick seine Hand von der Welt ab, so versänke diese wieder ins Nichts. Wirklich im eigentlichen Sinne, nämlich wirksam, ist also nur der, der der Welt die Wirklichkeit verleiht; die „Wirklichkeit" der Welt dagegen ist eine abgeleitete, eine geborgte Wirklichkeit. Wirklichsein, ausgesagt von der Welt, heißt nicht: wirksam Anwesendsein, sondern heißt: Gewirktsein. So hat noch jüngst Karl Barth zu zeigen versucht, daß wir hinsichtlich der Wirklichkeit der Welt und unser selbst im Ungewissen tappen müßten, es sei denn, wir gelangten auf dem Umweg über den Glauben an den sich als wahrhaft wirklich Bezeugenden, an Gott den Schöpfer, und das heißt indirekt, zur Gewißheit auch über die hiesige Wirklichkeit. Mit diesem Gedanken der abgeleiteten, geborgten, an das Nichts grenzenden Wirklichkeit der Welt hat der Prozeß der Entwirklichung eine weitere Verschärfung erfahren, zumal da, wo, wie weithin in der christlichen Theologie, der Schöpfungsgedanke sich mit dem platonischen Gedanken der Überwelt verbindet. Das eigentlich wirksam Wirkliche, Gott, ist nicht unmittelbar in der Welt anwesend, so wie es das frühe griechische Denken verstand, aber auch nicht in jener schwebenderen Anwesenheit, wie sie sich im platonischen Gedanken der Teilhabe ausdrückt. Das eigentlich wirksam Wirkliche ist über die Welt erhaben und demgemäß in ihr nur mittelbar, nämlich nur in den Produkten seines Schaffens da, sofern diese von ihrem ersten Urheber Zeugnis ablegen. Das unmittelbar nahe Wirkliche dagegen, die Welt, wird, nun noch radikaler als im platonischen Denken, seines Wirklichkeitscharakters weitgehend entleert; es 124

ist ein keineswegs aus sich selber heraus wirksames, ein fragwürdiges, ein der Nichtigkeit ausgesetztes „Wirkliches". Eine dritte — und nun die entscheidende — Stufe im Geschehen der Entwirklichung setzt mit dem Beginn der Neuzeit ein. Sie entspringt aus einem grundlegenden Wandel im Verständnis des eigentlich wirksam Wirklichen; als solches wird jetzt nicht mehr Gott, sondern der Mensch angesehen. Das geschieht freilich nicht mit einem Schlage und nur selten in voller Konsequenz; die Klagen über die Gottlosigkeit der Neuzeit pflegen an diesem Punkte häufig zu vereinfachen. Die ganze Neuzeit hindurch hält sich das Bewußtsein, das eigentlich Wirkliche sei Gott, das Absolute, die Transzendenz: man denke an Spinoza, an Leibniz, an Schelling, an Hegel, an Jaspers. Und doch wird dieser Gedanke von jenem andern begleitet und häufig unterlaufen, wirklich im strengen Sinne sei doch nur der Mensch, das Subjekt, das „denkende Ding", in dessen Selbstgewißheit Descartes, obgleich selber noch dem Gedanken Gottes als der Wirklichkeit schlechthin verhaftet, sich im radikalen Zweifel rettet. Seinen Höhepunkt findet dieser neuzeitliche Subjektivismus dann im 19. Jahrhundert: beim frühen Fichte, der dem menschlichen Ich die Absolutheit zuspricht;3 bei Feuerbach, der die Theologie durch die Anthropologie ersetzen will; bei Marx, der den Menschen als das sich selbst herstellende Wesen begreift; bei Nietzsche, der an die Stelle Gottes den Übermenschen setzt. Nimmt anstelle Gottes der Mensch den Ort des eigentlich wirksam Wirklichen ein, dann muß das einschneidende Folgen für das Verständnis von der welthaften Wirklichkeit haben. Zwar behält der Begriff der Wirklichkeit in formaler Hinsicht die Bedeutung bei, die er in der schöpfungstheologischen Auffassung hatte: Wirklichsein heißt Gewirktsein. Aber das Wirkende ist nun nicht mehr Gott, sondern der Mensch. Die Dinge gewinnen ihre Wirklichkeit aus ihrem Verhältnis zum menschlichen Subjekt, das sich nun als das Wirklichkeitverleihende versteht, als die „Bezugsmitte des Seienden", als dessen „Maß" und „Richtschnur" 4 . Das drückt sich darin aus, daß das neuzeitliche Denken — wo es konsequent ist — unter der „Wirklichkeit" eines Dinges dies versteht, daß es von einem Subjekt vorgestellt ist. Dieser Gedanke entspringt aus der Beobachtung, daß mir ja die Dinge gar nicht gegeben sind, außer insofern ich mir ihrer bewußt bin. Ihr „wirkliches" Sein ist demgemäß ihr ' Vgl. Wilhelm Weischedel, Der Aufbruch der Freiheit zur Gemeinschaft. Studien zur Philosophie des jungen Fichte. 1939. 4 Heidegger, Holzwege, 1950, S. 81 und 87. 125

Sein im Bewußtsein; Wirklichsein heißt Vorgestelltsein. Die Dinge existieren primär als Objekte für ein Subjekt, das seinerseits das eigentlich Wirkliche ist. Das besagt: die Weltwirklichkeit wird zugunsten des Subjektes radikal entwirklicht. Daß heißt natürlich nicht, daß nun durchgängig behauptet würde, die Dinge seien bloße Hirngespinste des Denkens. Auch Kant hält daran fest, daß sich hinter den „Erscheinungen", also dem Ding als Gegenstand für ein Bewußtsein, noch ein „Ding an sich" verberge. Und doch fügt auch er hinzu, „objektive Realität", das heißt Wirklichkeit für den Menschen, haben die Dinge nur als Erscheinungen, und daß heißt nur in ihrer Beziehung auf ein Subjekt, dem sie erscheinen. Wie sehr dieser Begriff von Wirklichkeit als Vorgestelltsein das neuzeitliche Denken bestimmt, läßt sich an der Fülle der freilich vergeblichen Versuche ersehen, vom isolierten Subjekt aus zu einer Gewißheit über die Realität der Außenwelt, also über deren Wirklichsein außerhalb ihres Vorgestelltseins, zu gelangen. Und wie weit dieser neuzeitliche Wirklichkeitsbegriff bis in die Theologie hinein wirksam wurde, zeigt das Beispiel Schleiermachers, der in seiner „Glaubenslehre" sich daran macht, die Inhalte des christlichen Glaubens &us dem ,1religiösen Bewußtsein" des Christen abzuleiten. Fragt man nach der tieferen Ursache dieser Auflösung der Weltwirklichkeit in das bloße Vorgestelltsein, so wird man sie nirgends anders finden als eben darin, daß das Subjekt sich als das eigentlich und einzig wirksam Wirkliche setzt. Indem es im Vorstellen sich die Dinge vergegenständlicht, will es sie sich verfügbar und berechenbar machen. Im Hintergrund steht der Anspruch des neuzeitlichen Menschen, der Herr der Welt zu sein. Friedrich Gogarten weist eindringlich darauf hin, daß eine der Wurzeln hierfür im christlichen Denken selber liegt, sofern die Freiheit für Gott zugleich Freiheit zum Gebrauch der ihrer immanenten Göttlichkeit entkleideten Welt ist. Während aber diese Freiheit im Glauben gründet und darum auch nur für den Glaubenden gilt, nimmt sie der Mensch der Neuzeit, eben weil er sich für das eigentlich Wirkliche hält, in eigener Vollmacht für sich in Anspruch. Er versteht die Herrschaft über die Welt nicht als den Vollzug eines göttlichen Auftrages, sondern als sein eigenstes, ursprüngliches Recht. Aus diesem Geiste hat er den Weg zu immer unumschränkterer Herrschaft über die Welt angetreten; er versteht die Weltwirklichkeit kaum mehr anders denn als die Stätte der Ausübung seiner Selbstmacht. Und das steigert sich von Jahrhundert zu Jahrhundert, zuletzt in dem atemraubenden Tempo, das wir heute mit Atombombe, Sputnik und Explorer erleben. 126

Der Zusammenhang von Entwirklichung der Welt und Selbstmächtigkeit des Subjekts wird nirgends deutlicher als im Gedanken des Nihilismus, wie ihn Nietzsche als „das größte neuere Ereignis" 5 prophetisch verkündet. Nihilismus als geschichtliches Phänomen heißt fur ihn Zusammenbruch jener platonisch-christlichen Idee einer allein wahren Überwirklichkeit. Die obersten Werte und Ideale, wie sie über dem faktischen Dasein schweben, haben sich in ihrer inneren Kraftlosigkeit, Unwirksamkeit und Nichtigkeit enthüllt. Die „metaphysische" Welt 6 , bis dahin für die „wahre" Welt gehalten, zeigt sich als eine „reine Fiktions-Welt" 7 , als ein „himmlisches Nichts" 8 . Im Augenblick ihres Zerfalls entdeckt der Mensch: „Gott ist tot."· Was angesichts dessen bleibt, ist aber für Nietzsche nicht, wie weithin für die Wissenschaft seiner Zeit, die sinnlich greifbare Wirklichkeit; wer sich an diese klammert, ist ein „Wirklichkeits-Philosophaster" 1 0 . Was bleibt, ist nur — das Nichts. Daher ist die Aufgabe der Zeit: „für das Nichts Gott opfern" 1 1 , und dies aus geschichtlicher Notwendigkeit, nämlich aus dem Selbstzerfall der metaphysischen Welt; denn der Nihilismus ist „die zu Ende gedachte Logik unsrer großen W e r t e und Ideale" 1 2 . Was inmitten des Nichts bleibt, ist schließlich nur der souveräne Mensch, der die neuen Werte setzt und in Freiheit darüber verfügt, was Wirklichkeit und Wahrheit sein soll. Aber eben damit wird die Auflösung der Wirklichkeit in die Subjektivität total. Denn nun gibt es keinen Raum mehr für eine in sich selber bestehende Wahrheit; Wahrheit ist nur „ein Wort für den Willen zur Macht" 1 3 , nur „die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte" 1 4 . Am schärfsten drückt sich dieser Verlust der Wirklichkeit der Welt zugunsten des Subjekts in dem Satz aus: „Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen." 1 5 Doch nun kommt es zu einer merkwürdigen Wende. Die Entwirklichung der Welt, geschehend zugunsten des Subjekts, schlägt auf dieses 5 Die fröhliche Wissenschaft; Kröners Taschenausgabe (im folgenden mit KT bezeichnet), Bd. 74, S. 235. 6 Menschliches, Allzumenschliches; KT Bd. 72, I, S. 21. 7 Umwertung aller Werte; KT Bd. 77, S. 204. 8 Also sprach Zarathustra; KT Bd. 75, S. 32. » Umwertung aller Werte; KT Bd. 74, S. 235. 1 0 Jenseits von Gut und Böse; KT Bd. 76, S. 16. 11 a.a.O., S. 66. 12 Der Wille zur Macht; KT Bd. 78, S. 4. 18 a.a.O., S. 377. 14 a.a.O., S. 343. 15 a.a.O., S. 337.

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zurück. Der Mensch, der sich selber in die Hand nehmen und in solcher Selbstmächtigkeit Herr der Welt sein wollte, entgleitet sich selber. Inmitten der Unwirklichkeit der Welt wird er für sich selber unwirklich, fremd unter den Dingen wird er sich selber fremd. Man kann in dieser Entwirklichung des Subjekts eine vierte Stufe des Wirklichkeitsverlustes sehen; in ihr steht unsere Gegenwart mitten darin. Auch dieses Geschehen hat vielfältige Aspekte, von denen nur einige wenige genannt seien. Etwa der, daß der Mensch im gegenwärtigen Augenblick, in dem er im Begriff steht, seine Weltbeherrschung zu vollenden, zugleich seiner spezifisch menschlichen Wirklichkeit verlustig geht. Er wird dem Mitmenschen und sich selber fremd. Er wird verdinglicht und verdinglicht sich selber. Er wird zum Menschenmaterial, zum bloßen Funktionär der sich immer eigenständiger gebärdenden Technik. Schließlich sieht es so aus, als sei er nur noch ein standardisierter und grundsätzlich durch andere ersetzbarer Teil in der großen Maschinerie der technischen Welt: selber automatisiert, mechanisiert, organisiert, rubriziert, katalogisiert. Kurz: ein Lebewesen, das immer weniger lebt und immer mehr bloß noch gelebt wird; ein Wesen der entwirklichten Ferne zu sich selber: der selbstentfremdete Mensch. Ein anderer Aspekt. Wo der neuzeitliche Mensch sich auf die Spitze seiner Freiheit stellt, entschlossen, diese auf alle Fälle sich zu bewahren, da muß er jegliche Bindung verschmähen. Da er sich in seiner Souveränität selber absolut setzt, kann er ja von außen keine verbindlichen Inhalte für sein Handeln bekommen. Die Freiheit als solche aber gibt von sich aus keine Direktiven für das Tun. Nun erhält sie jedoch nur in der Bindung Wirklichkeit; bindet sie sich nicht, so bleibt sie leere Möglichkeit. Die Freiheit selber also, das Grundprinzip der neuzeitlichen Existenz, stürzt, wenn sie sich radikal auf sich selber stellt, in die Unwirklichkeit ab. Ein Zeichen dessen ist der Schwindel, der den befällt, der es einmal gewagt hat, seine Existenz auf die bloße Freiheit zu gründen. Ein dritter Aspekt. Ist es nicht ein Widerspruch in sich selber, daß der Mensch der Gegenwart, der doch wie keiner vor ihm in der Technik die eigene Macht erfährt, so sehr der Erfahrung der Ohnmacht und des Nichts ausgesetzt ist? Und doch hängt beides in einem tieferen Sinne zusammen. Im Zuge der wachsenden Weltbemächtigung wird die Welt immer unwirklicher — davon war ja eingangs die Rede; in dieser unwirklichen Welt aber verliert der Mensch Ort und Stand; er entgleitet sich selber und gerät ins Bodenlose. Seine Existenz in der gespenstischen Welt wird ihm selber gespenstisch. Es sei hier an das erinnert, was eingangs über die Angst gesagt wurde, so wie Heidegger sie deutet. In ihr, die dem Menschen in der Tiefe auf128

schließt, wie es mit ihm steht, erfährt er, ineins mit der Nichtigkeit der Welt, daß er selber, bedroht von der Unausweichlichkeit des Todes, zuletzt ohnmächtig dem Nichts ausgeliefert ist. Hier also findet die Macht des selbstmächtigen Subjekts ihr Ende. In das „Geworfensein in den Tod" und in die Angst, die davon kündet, hat sich der Mensch nicht selber gebracht; die Macht des Nichts ist mächtiger als die Macht des Menschen. Der Mensch ist vom Grunde her nichtig. Sieht es nicht wie eine schaurige Bestätigung dieser tiefen Einsicht in die Fragwürdigkeit des menschlichen Daseins aus, daß das Instrument der höchsten Macht des Menschen, die Atombombe, zugleich das Werkzeug seiner möglichen Selbstvernichtung sein kann? Im gleichen Maße, wie wir mächtig wurden, sind wir nicht, wie wir meinten, die Herren des Seins, sondern, um noch einmal Günter Anders zu zitieren, die „Herren der Apokalypse" 1 · geworden.

Die U η a u sw e ich 1 i ch k e i t des Verlustes der W i r k l i c h k e i t Das also ist der Weg des Menschen, gesehen unter dem Gesichtspunkt des Problems der Wirklichkeit; das ist die Herkunft des gegenwärtigen Verlustes der Wirklichkeit, der Entfremdung des Menschen von der Welt, von Gott und von sich selber. In der Frühzeit ursprüngliche Nähe zur Welt und Erfahrung ihrer dichten, in der Anwesenheit göttlicher Mächte gegründeten Wirklichkeit. Sodann eine in vier großen Stufen sich vollziehende Entwirklichung: im platonischen Entwurf einer wahren, immerseienden Welt über der bloß scheinhaften rückt das wirksam Wirkliche in die Ferne; im christlichen Verständnis der unmittelbaren Wirklichkeit als der geschaffenen und darum abgeleiteten, ständig vom Nichts bedrohten wird das eigentliche Wirklichsein dem außerweltlichen Gott vorbehalten; im neuzeitlichen Denken wird die Weltwirklichkeit zugunsten des selbstmächtigen Subjekts entleert und entwirklicht; schließlich stürzt das Subjekt selber in die eigene Unwirklichkeit ab. Sieht man auf diesen geschichtlichen Gang des Menschen zurück, so muß er von seinem Ende her als ein Weg des Verhängnisses, des bösen Geschicks, erscheinen. Und für das Erschreckende dieses Weges gibt es keinen berufeneren Zeugen als Nietzsche. Denn was uns mit der „Heraufkunft des Nihilismus", dieses „unheimlichsten aller Gäste", bevorsteht, das ist eine „lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, 18

Die Antiquierthedt des Menschen, S. 239.

129 9 Weischedel

Umsturz", eine „ungeheure Logik von Schrecken", eine „Verdüsterung und Sonnenfinsternis, derengleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat". So lautet denn auch die bestürzte Frage Nietzsches angesichts des Todes Gottes: „Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?" 17 Wenn es aber so ist, stellt sich dann nicht mit äußerster Dringlichkeit die Frage, wie dieses Geschick zu wenden sei? Doch wie könnte es gelingen, inmitten des total werdenden Wirklichkeitsverlustes eine Antwort zu finden? Das ist — jeder, der in der Sorge um die Zukunft lebt, weiß es — das eigentlich Schwierige im Problem der Wirklichkeit. Hier wird darum auch mit voller Deutlichkeit offenbar, daß jedes Reden von Wirklichkeit im gegenwärtigen Augenblick notgedrungen fragmentarisch bleiben muß. Eins nur kann mit voller Sicherheit gesagt werden: eine Wende des Geschicks kann nicht daraus kommen, daß wir die Augen vor dem verschließen, was über uns hereingebrochen ist und was jetzt unsere Gegenwart bestimmt. Eine Wende des Geschicks kann — wenn überhaupt — nur eintreten, wenn wir erst einmal ernst nehmen, was geschehen ist, in aller Unerschrockenheit, selbst angesichts der Möglichkeit eines „Todes Gottes". Die Augen nicht verschließen heißt zunächst: nicht behaupten, was geschehen sei, sei ein bloßer Zufall, sei lediglich das Ergebnis willkürlicher Laune des Menschen. Ernst nehmen heißt aber auch: sich der Auseinandersetzung mit dem Geschehenen nicht dadurch entziehen, daß man sagt: Das ist eben der Weg des sündigen, des gefallenen Menschen; das Geschöpf hat sich selber zum Schöpfer gemacht, und wenn es sich auf diesem Wege in die Unwirklichkeit verirrt hat, so geschieht es ihm recht; wir selber aber stehen — in der Burg des Glaubens — außerhalb dieses Verhängnisses. Vielleicht hat der Glaube die Möglichkeit, die Geschichte der Menschheit als die Folge eines Sündenfalles zu betrachten. Aber gerade dann kann er, als Glaube des homo viator, sich nicht auf einen Ort außerhalb dieser Geschichte zurückziehen. Denn was mit dem Menschen im Sündenfall, und das heißt doch in seinem ersten geschichtlichen Schritt, geschehen ist, bestimmt von da an wesenmäßig seine Geschichte. Diese trägt daher — abgesehen von der Freiheit des ersten Schrittes — etwas von geschichtlicher Notwendigkeit an sich, der sich keiner entziehen kann und die er darum auch in dem, was sie mit sich führt, nicht abweisen kann. Das ist es nun, was, wie ich meine, ein Kongreß, der sich mit dem Problem der Wirklichkeit und des Wirklichkeitsverlustes befaßt, 17

130

Die fröhliche Wissenschaft; KT Bd. 74, S. 141.

sich zur Frage machen muß: ob der gegenwärtige Mensch sich dem verhängnisvollen Geschehen seiner Geschichte dadurch entziehen darf, daß er es von vornherein für einen Irrweg erklärt, oder ob er sich dem Gedanken, es könne darin eine geschichtliche Notwendigkeit walten, stellen muß. Hier nun möchte ich als meine Behauptung aussprechen: das Hereinbrechen von Entwirklichung und Entfremdung ist unser geschichtliches Schicksal, und wir haben es darum auf uns zu nehmen. Denn jener in seinen wesentlichen Stadien geschilderte Weg der Entwirklichung und Entfremdung, den der Mensch eingeschlagen hat, ist der Weg, der ihn hat zum Menschen werden lassen. Wodurch eigentlich ist der Mensch Mensch geworden? Doch offenbar dadurch, daß er von der ihn umgebenden Welt Distanz und Freiheit gewonnen hat, anders als das Tier, das, solange es lebt, in seine Umwelt eingebunden bleibt. Wie aber konnte der Mensch diese freie Abständigkeit erreichen? Durch nichts anderes als dadurch, daß er das, was ihn umgibt, und zuletzt sich selber als den existierenden Menschen in Frage stellte. Der Mensch ist von seinem Wesen her die große Frage an die Welt und an sich selbst, das existierende Fragezeichen im Ganzen des Seienden. Mit einem Wort von Karl Löwith ausgedrückt: „Im selben Augenblick, in dem der Mensch als Mensch zu sich kommt, ist eine Frage in die Welt gekommen."18 Wer aber die Welt in Frage stellt, der macht sie fraglich, der beraubt sie ihrer dichten Anwesenheit, der entwirklicht sie und der wird selber ein Fremdling in ihr. Und weiter: wenn dies aus dem Wesen des Menschen heraus geschieht, dann kann es, einmal in Gang gekommen, aus sich selber heraus nicht haltmachen. So ist die totale Fraglichkeit der Wirklichkeit, wie sie unsere Gegenwart bestimmt, das legitime Ende des Weges des fragenden, sich von der Welt und von sich selbst distanzierenden Menschen. Und weil dem so ist, darum, so meine ich, müssen wir, was mit uns geschehen ist und was uns heute bestimmt, nämlich die entwirklichte „Wirklichkeit heute", als notwendig begreifen und zu ihr als zu unserem Geschick ja sagen. Aber heißt das nicht, sich zum Verhängnis der Entwirklichung und Entfremdung bekennen und sich offenen Auges ins Bodenlose begeben? In der Tat: ich glaube, gerade das müssen wir als das Erfordernis unseres geschichtlichen Augenblicks begreifen, wollen wir nicht hinter das fragende Wesen des Menschen zurückfallen. Die Klagen über den Verlust der Wirklichkeit helfen nicht weiter.Es liegt vielmehr alles daran, daß wir uns, in nüchterner Einsicht, ernstlich in die Fraglichkeit von allem als 1 8 Natur und Humanität des Menschen, in: Wesen und Wirklichkeit des Menschen, Festschrift für Helmuth Plessner, 1957, S. 79.

13t 9·

das Geschick der Gegenwart stellen, daß wir, paradox ausgedrückt, die Entwirklichung der Wirklichkeit als unsere gegenwärtige Wirklichkeit auf uns nehmen, auch und gerade, sofern sie mit einem Verlust der nahen Anwesenheit Gottes verbunden ist. Es steht mir nicht zu, daraus die Konsequenzen für die Haltung der Kirche zur Gegenwart zu ziehen. Wenn aber in den Vorbesprechungen zu diesem Kongreß geäußert wurde, der Protestantismus, der an seinem Verhältnis zur Wirklichkeit kranke, müsse wieder ein Verhältnis zu dieser gewinnen, so möchte ich entgegnen: vor allem tut not, daß er ein Verhältnis zu der über uns hereingebrochenen Entwirklichung gewinne. Vielleicht — doch das ist nur eine Frage, und ich weiß nicht, ob es gut ist, sie zu äußern — vielleicht muß auch der Glaube das Wagnis eingehen, sich als gegenwärtiger auf den Tod Gottes einzulassen, ein Wagnis, das wie ein völliges Aufgeben seiner selbst aussehen mag, das aber möglicherweise die Art ist, wie er heute seinen Karfreitag begehen kann, ohne den es kein Ostern gibt. Wie dem auch sei: wir können nicht so tun, als sei nichts geschehen. Wir können nicht einfach hinter den Zerfall der Wirklichkeit zurückgehen: weder in einer simplen „Wende zum Objekt", wie sie in der Philosophie der Gegenwart hier und da unternommen wird; noch im Entschluß zu einer Erneuerung des platonischen Gedankens einer wahren und immerseienden Welt über der Welt, in der wir faktisch leben; noch gar in der treuherzigen Versicherung, es sei doch alles nicht so schlimm und es sei uns doch noch ein Stückchen unbeschädigter Weltwirklichkeit und eigener fragloser Natürlichkeit verblieben. Was zerbrochen ist, ist zerbrochen, und die Geschichte ist nicht umkehrbar. Wenn der Mensch einmal seine und der Welt tiefe Nichtigkeit entdeckt hat, kann ihm das Wissen darum nicht wieder verloren gehen. Aber — so werden Sie fragen — ist das alles, was philosophierend zu der Frage nach der Wirklichkeit zu sagen ist: daß man deren Fraglichkeit zu übernehmen habe? Ich antworte: J a , das ist alles. Doch liegt Entscheidendes daran, recht zu bedenken, was damit gesagt ist. Die Fraglichkeit als die gegenwärtige Wirklichkeit übernehmen heißt ja nicht: sich auf sie versteifen, aus dem Nichts ein Dogma machen, oder gar sich vergnügt in der Unwirklichkeit einrichten. Sich auf die Fraglichkeit einlassen bedeutet vielmehr: wirklich fragen, und das heißt: auf Antwort aussein, und zwar in der ganzen Leidenschaft, die aus dem Leiden an der Fraglichkeit erwächst. Sich in die totale Fraglichkeit hineinstellen heißt: radikal offensein, heißt: sich vorbehaltlos für eine mögliche Antwort öffnen. So wie es Georg Picht, der Inaugurator des Themas dieses Kongresses, einmal formuliert: das „Wissen der Wahrheit" müsse 132

heute „die Gestalt der offenen Frage" annehmen. 19 Die Frage nach der Wirklichkeit ist also die schicksalhafte Frage, ob wir als die gegenwärtig Existierenden bereit sind, uns fragend zu öffnen. Von dieser tieferen Einsicht in das Wesen des Fragens aus läßt sich im Umriß anzeigen, wie eine mögliche Antwort aussehen müßte. Soll sie Antwort auf die Frage nach der Wirklichkeit sein, eine Frage, die selber aus der Erschütterung im Verlust der Wirklichkeit erwächst, dann müßte sie imstande sein, eben diesen Wirklichkeitsverlust aufzuheben. Nun besteht dieser in der Ferne zu den fraglich gewordenen Dingen und zu der fraglich gewordenen eigenen Existenz. Die erhoffte Antwort müßte demnach die Möglichkeit schaffen, daß der Mensch wieder in die fraglose Nähe zu den Dingen und zu sich selber gelangte, daß er wieder mit der Welt und mit sich selber in Einklang käme. Für ein solches Geschehen offenzusein, darauf kommt, wie mir scheint, im gegenwärtigen Augenblick alles an. Besteht aber das rechte Fragen im Offensein für jene Antwort, die als neue Nähe zu den Dingen und zu sich selber dem Menschen vielleicht zuteil werden kann, dann heißt das: das Philosophieren kann sie nicht spekulierend vorwegnehmen oder gar als formulierte These aussprechen. Wenn die Entwirklichung als ein geschichtliches Ereignis über den Menschen hereingebrochen ist, kann auch eine mögliche Wende dieses Geschicks nur ein geschichtliches, und das heißt, vom heutigen Augenblick her betrachtet, ein zukünftiges Geschehen sein, dessen Kommen der Philosophierende nicht herbeizwingen, dem er höchstens, auf seine Weise mithelfend, den Weg bereiten kann. Rechtes Fragen aus der Fraglichkeit heraus besagt also: Offenstehen für die Zukunft, Horchen auf das, was uns vielleicht als eine neue Weise, Wirklichkeit zu erfahren, zukommen kann. In dem Sinne, in dem Georg Picht sagt: „Der Mensch ist das Wesen, das in der Zukunft der Wahrheit steht, die seine Möglichkeit ist, wenn er nach ihr fragt." 2 0 Aber freilich: diese Offenheit ist fragende Erwartung, und das heißt: sie weiß nicht, ob, was sie erhofft, nicht am Ende ausbleibt. Theologische nach

und p h i l o s o p h i s c h e der Wirklichkeit

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Damit scheint die philosophische Aussage in eine merkwürdige Nähe zu der Weise zu geraten, wie in manchen Äußerungen der gegenwärtigen protestantischen Theologie der Glaube sich begreift, etwa wenn er als „das schlechthin vorbehaltslose Offensein für die Zukünftigkeit" (Go« Die Erfahrung der Geschichte, 1958, S. 54. 8 0 Ebenda. 133

garten) 21 oder als „die freie Offenheit für die Zukunft" (Bultmann)22 bezeichnet wird. Doch besteht, wenn ich recht sehe, zwischen theologischem und philosophischem Verständnis der Zukunft ein entscheidender Unterschied. Beide zwar, der Glaubende wie der Philosophierende, sind offen für die Zukunft. Diese selber aber ist für den Glaubenden nicht im radikalen Sinne der grundsätzlichen Unentschiedenheit offen wie für den Philosophierenden; sie ist vielmehr immer schon entschieden, nämlich in dem schon geschehenen Ereignis des Kommens Jesu Christi. Sofern nun dem Glaubenden von seiner Zukunft her jenes Ereignis als „Wirklichkeit" — und, wie er überzeugt ist, als die entscheidende Wirklichkeit — begegnet, müßte die Theologie des Glaubens in besonderer Weise imstande sein, dem Verlust der Wirklichkeit mit einer gültigen Antwort entgegenzutreten. Die total gewordene Entwirklichung kann aber nur dann wahrhaft überwunden werden, wenn die Verkündigung bedenkt, worauf sie in der Gegenwart zu antworten hat, und das heißt: wenn sie sich auf die Fraglichkeit einläßt. Es könnte also nicht genügen, wenn sie versicherte: in der Zweifelhaftigkeit von allem gibt es doch noch Oasen von unangefochten Wirklichem, Tatsachen, die der Glaube verbürgt und an die sich haltend er sich der Umklammerung durch den Nihilismus entziehen kann. Die Entwirklichung als der Grundzug unserer Gegenwart betrifft ja nicht — oder doch nur sekundär — das faktische Vorhandensein von Dingen oder das faktische Vorkommen von Tatsachen: jene „Realität", wie sie eingangs abgewiesen wurde, weil sie das eigentliche Problem nicht trifft. Der Verlust der Wirklichkeit handelt vielmehr von der Entfremdung und Entfernung des Menschen von der Welt, von Gott und von sich selber. Soll also das Wort des Glaubens die Not der Gegenwart treffen, dann muß es so von Wirklichkeit sprechen, daß es darin eine neue Nähe des Menschen zur Welt, zu Gott und zu sich selber verkündet. Wie es damit steht, sei in einem kurzen Blick auf die Diskussionen um das Wirklichkeitsproblem in der gegenwärtigen protestantischen Theologie verdeutlicht. Offenbar läßt sich Karl Barth ernstlich auf den Verlust der Wirklichkeit ein. Er schreibt: „Wir leben über dem Abgrund der Möglichkeit,... daß es in Wahrheit auch so sein könnte, daß nichts wirklich, das vermeintlich Wirkliche das Nichts ist" 23 , und er spricht in diesem Zusammenhang von einem „nie ganz zu unterdrückenden und besser nicht zu leugnenden latenten und oft genug manifesten Nihilismus der menschlichen Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit, 1953, S. 218. Kerygma und Mythos, II, 1952, S. 203. » Die kirchliche Dogmatik, III, 1. Teil, 1957», S. 396. η

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Existenzweise"24. Ihm nun setzt Barth die These entgegen, die im Glauben erfahrene Wirklichkeit Gottes als des Schöpfers verbürge dem Menschen auch die Wirklichkeit seiner selbst und der Welt und führe so das „prinzipielle Ende des Zweifels"25 herbei. Fragt man nun, ob damit die entscheidende Lösung des aktuellen Problems des Verlustes der Wirklichkeit gefunden ist, so hängt die Antwort davon ab, was hier unter „Wirklichkeit" verstanden wird. Offensichtlich nichts anderes als die „Realität" im erkenntnistheoretischen Sinne, nämlich das reale Vorhandensein: daß die Welt und wir selbst nicht bloß „vorgetäuscht oder geträumt", nicht bloß „Schein" und „leere Fiktion" sind.26 Mit jenem „Nihilismus" ist also der Zweifel an der Realität der Außenwelt und des Ich gemeint, ganz im Sinne des Descartes, mit des sen „Themagebiet" sich Barth denn auch „in nächster Berührung" weiß.27 Er sagt daher auch ausdrücklich, es gehe um „beweisbare und unanfechtbare Wirklichkeit", die Gott der Welt „faktisch" gegeben habe und über die wir daher auch — auf Grund des Glaubens — „faktisch" Bescheid wissen könnten.28 Dementsprechend wird auch die Wirklichkeit Gottes, die die Wirklichkeit von Welt und Ich garantiert, im Sinne eines realen Faktums verstanden. Barth weist zwar ausdrücklich ab, er wolle Gott als „Weltgrund" und „Seinsprinzip" im philosophischen Sinne begreifen.29 Gleichwohl wird dann doch wieder, und zwar als Einsicht des Glaubens, ausgesprochen, Gott sei „der Existenzgrund dessen, was, von ihm verschieden, außer ihm ist." 30 Dieser erkenntnistheoretische Begriff der Wirklichkeit Gottes wird dann freilich von einem andern durchkreuzt, der, wie mir scheint, für die gegenwärtige Wirklichkeitsproblematik fruchtbar ist. Wirklichkeit Gottes bedeutet danach soviel wie „Gottes Sein in der Tat seiner Offenbarung". Aber dies führt, soweit ich sehe, nicht zur grundsätzlichen Ausarbeitung eines genuin theologischen Wirklichkeitsbegriffes. Denn auch von jener „Tat seiner Offenbarung sä^t B&rthf in ihr bezeuge n das Sein Gottes seine Realität", und zwar „nicht nur seine Realität für uns — sondern zugleich und ebenso seine eigene, innere, eigentliche Realität". 31 Bei Barth ist also in ungeklärtem Nebeneinander auf zwei Ebenen von 24 28 28

" « «· Μ

Ebenda. a.a.O., S. 418. a.a.O., S. 395; vgl. a.a.O., S. 27. a.a.O., S. 401. a.a.O., S. 3. a.a.O., S. 13. a.a.O., S. 400. Die kirchliche Dogmatil·, Π, 1. Halbb., 1948s, S. 293.

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Wirklichkeit die Rede, wobei der erkenntnistheoretische Begriff im Sinne des realen Vorhandenseins — Gottes, der Welt und des Menschen — im Vordergrund steht. Dieser Wirklichkeitsbegriff hat aber nur eine entfernte Beziehung zu dem, was im Verlust der Wirklichkeit als dem Geschick des gegenwärtigen Menschen das eigentlich Problematische ist: zu der totalen Entfremdung. Wenn ich recht sehe, gelingt Friedrich Gogarten in diesem Problembezirk ein wichtiger Schritt, und dies einmal, weil er einsieht, daß die Frage nach der Wirklichkeit „für die Theologie . . . eine der wichtigsten, wenn nicht überhaupt die wichtigste ist" 3 8 , zum andern, weil er begreift, daß der Schritt in die Neuzeit und die damit verbundene Selbstauslegung des neuzeitlichen Menschen nicht rückgängig gemacht werden können. Gogarten wendet sich daher aufs schärfste dagegen, daß man in der Theologie weithin noch an jenem erkenntnistheoretischen Wirklichkeitsbegriff festhält: also gegen das Reden von „ .übernatürlicher', faktischer Wirklichkeit", von „real geschehener Tatsächlichkeit" 3 3 , gegen jene „Wahnideen und Phantasmagorien von .objektiver Faktizität', .objektivrealem Geschehen' ". 34 Dergleichen metaphysische Begrifflichkeit könne zwar für die altkirchliche Dogmatik der gemäße Ausdruck gewesen sein; sie entspreche aber nicht mehr dem gewandelten Wirklichkeitsverständnis unserer Zeit, Was aber bedeutet für Gogarten selber „Wirklichkeit", insbesondere „die Wirklichkeit, mit der der Glaube und darum auch die Theologie zu tun hat" 35 , die Wirklichkeit Gottes? Gogarten antwortet: „in gar keinem Fall das, was man eine .objektive', .faktische' Wirklichkeit nennt". 36 Die Wirklichkeit Gottes ist vielmehr eine „Wirklichkeit von worthafter Art", von der man — außerhalb des Glaubens — „nicht nachweisen" kann, „daß sie wirklich da ist" 3 7 , die uns vielmehr, wie Gogarten in der Interpretation Luthers ausführt, „allein zugänglich" ist „in Gottes Für-unsSein". 3 8 Hier wird, wie mir scheint, der fruchtbare Versuch gemacht, das für den Protestantismus so dringliche Problem der Wirklichkeit dadurch zu lösen, daß das dingliche Wirklichkeitsverständnis durch ein spezifisch offenbarungstheologisches ersetzt wird. Wirklichkeit in dem Sinne, wie Die Wirklichkeit des Glaubens, 1957, S. 8. Entmythologisierung und Kirche, 1953, S. 73. » a.a.O., S. 102. 35 Die Wirklichkeit des Glaubens, S. 7. 98 Entmythologisierung und Kirche, S. 98. 37 Die Wirklichkeit des Glaubens, S. 7. 38 a.a.O., S. 148 f. 32

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der Glaube sie erfährt, ist demnach nicht reales Vorhandensein, nicht Bestehen, sondern, wie Gogarten ausdrücklich sagt, „Geschehen". 3 9 Dies Geschehen aber ist seinerseits „worthaft", das heißt, es trägt den Charakter der Anrede. Als solches kann es Wirklichkeit in jener Bedeutung schaffen, die dem gegenwärtigen Menschen abhanden gekommen ist: Wirklichkeit als Überwindung der Fremdheit, als Nähe, als „Für-unsSein". Das betrifft freilich zunächst nur die Wirklichkeit Gottes, die Gogarten, gerade im Hinblick auf die Entfremdung, als die „Wirklichkeit des Gegenüber" 4 0 bezeichnet. Von da aus könnte aber der Versuch unternommen werden, auch in bezug auf das Verhältnis des Menschen zu sich selber und zur Welt eine neue Möglichkeit des glaubenden Wirklichkeitsverständnisses zu begründen. In der Tat finden sich Ansätze dazu in der theologischen Anthropologie der Gegenwart, insbesondere bei den Erörterungen über die Bedeutung des „Du" und des „Nächsten". Auch Gogarten selber gibt in dieser Richtung Andeutungen. Etwa wenn er „die Personalität des Menschen . . . als die Antwort auf das Wort Gottes" 4 1 versteht oder wenn er, im Anschluß an Luther, sagt, dem Glauben gelte „in aller Welt nur das als Wirklichkeit, was von dieser worthaften Art ist, nicht aber irgendwelche sachhafte und darum auch nicht tatsachenhafte .Faktizität' V 2 Der bislang radikalste Schritt in dieser Richtung wird, wenn ich mich nicht täusche, in der „Entmythologisierung" im Sinne von Rudolf Bultmann getan. In ihr geht es ja, nach Gogarten, um „die Wirklichkeit, an die der christliche Glaube glaubt", und des genaueren darum, „daß das überkommene und die kirchliche Verkündigung gemeinhin leitende Verständnis dieser Wirklichkeit entschlossen auf seine Richtigkeit und Sachgemäßheit befragt werden müsse". 43 Wirklichkeit nun ist für Bultmann streng auf Erfahrung bezogen: die Wirklichkeit Gottes auf die Erfahrung des Glaubens im Angeredetsein von Gott. Wenn so der Glaube nicht in der „Begrifflichkeit des objektivierenden Denkens" 4 4 , sondern als „Existenzverständnis" 45 gedeutet wird, so heißt das nicht, daß nun die Wirklichkeit im Sinne einer radikalen Subjektivierung, einer restlosen Rückführung auf das Bewußtsein, also in »» a.a.O., S. 140. 4 0 Der Mensch zwischen Gott und Welt, 1952, S. 146. 4 1 a.a.O., S. 240. 4 2 Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit, 1953, S. 161 f., Anm. 43 Entmythologisierung und Kirche, S. 7. 4 4 Kerygma und Mythos, II, S. 187. « a.a.O., S. 200. 137

extrem neuzeitlicher Weise entwirklicht würde. Bultmann selber weist eindeutig darauf hin, daß der Mensch in der Erfahrung des Angeredetseins nicht nur sich selber, sondern ineins damit Gott als den Anredenden erfährt; beides ist darin verbunden, „daß Gott mich ruft und an mir handelt" 46 . Aber freilich: außerhalb dessen, was der Glaubende an sich selber erfährt, gibt es kein Wissen von Gott; Bultmann formuliert daher paradox: „Gott ist außer mir, sofern er mir — und zwar mich in meiner Existenz umwandelnd — begegnet." 47 Die im Glauben erfahrbare Wirklichkeit wird also entschlossen so gedacht, wie sie allein dem gegenwärtigen Wirklichkeitsverlust entgegengesetzt werden kann: als das Geschehen in der unteilbaren Einheit von Anrede und Angeredetsein, als die Nähe, die die F e r n e überwindet. In den Entwürfen Gogartens und Bultmanns deutet sich, wie mir scheint, etwas von dem an, was im Zeitalter der entwirklichten Wirklichkeit von Seiten der Theologie auf die Frage nach der Möglichkeit einer neuen Weise des Wissens um Wirklichkeit geantwortet werden könnte. Die verlorene Wirklichkeit kann wiedergewonnen, die über den Menschen hereingebrochene totale Entfremdung kann aufgehoben werden, wenn die Wirklichkeit Gottes als seine Nähe zum Menschen verstanden wird, von der aus dieser dann auch wieder in die Nähe zur Welt und zu sich selbst gelangen könnte. Die Frage nach der Wirklichkeit meint dann nicht mehr, ob dieses oder jenes realiter existiert. Sie beantwortet sich darin, daß Wirklichkeit als jenes Geschehen verstanden wird, in dem aus der F e r n e Nähe wird. Der Philosophierende freilich findet sich angesichts dessen in einer problematischen Situation. Er sieht, daß in den Äußerungen jener Theologen ein bestimmtes Geschehen — w e r d e es nun als Wort, als Anrede oder als Begegnung bezeichnet — aus dem allgemeinen Wirklichkeitsverfall herausgenommen, als die eigentliche Wirklichkeit bezeichnet und zum Kristallisationspunkt eines neuen Wissens um Wirklichkeit gemacht wird. Fragt er nun, wie es sich denn begründen lasse, daß sich im Hören des Wortes und in der Begegnung mit der A n r e d e Gottes unbezweifelbare Wirklichkeit ereigne, so erhält er zur Antwort: dessen sei der Glaube gewiß. Die Erfahrung des Glaubens aber ist eine andere als die Erfahrung des Philosophierens. Diesem wendet sich das zerbrochene Verhältnis zur Wirklichkeit nicht im Hören einer Botschaft ins Heile. Der Philosophierende vermag, wie ich vorhin sagte, nicht mehr zu tun, als das Geschick der Entwirklichung auf sich zu nehmen und sich für ein neues Wissen um 4 « a.a.O., S. 188. « a.a.O., S. 55.

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Wirklichkeit, wie es die Zukunft vielleicht bringen kann, offen zu halten. Heißt das, daß der Philosophierende dem Glaubenden das Feld zu räumen hat? Doch wer entscheidet darüber, ob der Zerfall der Wirklichkeit vor jener vor 2000 Jahren verkündeten Botschaft haltzumachen hat? Könnte es nicht sein, daß der Philosophierende, indem er der Fraglichkeit von allem bis zum Äußersten standhält, dem Kommenden angemessener antwortet, gesetzt, dieses Kommende wolle sich in einer neuen Gestalt dem Menschen kundtun? Vielleicht ist die Forderung unseres geschichtlichen Augenblicks nicht, an einer durch lange Tradition gefestigten Daseinsauslegung festzuhalten; vielleicht lautet sie: sich der Radikalität des Fragens auszusetzen. Ich formuliere ausdrücklich: „vielleicht", und will damit sagen: das ist eine Frage, keine Behauptung. Denn es wäre vermessen, wollte der Mensch darüber verfügen, was zukünftig erscheinen kann. Und doch läßt sich ein wenig von dem andeuten, wie sich einem Philosophierenden die Umrisse eines möglichen zukünftigen Wissens um Wirklichkeit darstellen. Das erste ist, daß es eine andere Gestalt tragen wird, als sie das Wirklichkeitsbewußtsein der Neuzeit hatte. In diesem dünkte sich der Mensch in seiner Souveränität als das einzige eigentlich Wirkliche. Dann aber geschah es, daß er sich, gerade in der vollen Entfaltung seiner Selbstherrlichkeit, vor die Nichtigkeit seiner selbst gestellt sah. Eben dies nun könnte der Ausgangspunkt eines neuen Wissens um Wirklichkeit sein, das daraus erwüchse, daß der Mensch sich zu seiner manifest gewordenen Ohnmacht ausdrücklich bekennte, daß er dem selbstmächtigen Wesen des neuzeitlichen Menschen entschieden absagte. Die Bereitschaft zum Hören auf das Kommende, die als die gemäße Haltung der fragenden Existenz dargestellt wurde, ist also nicht nur eine Sache der Philosophierenden, sondern könnte eine Angelegenheit des Menschen überhaupt werden: als der zur Haltung werdende Verzicht auf den Gedanken, die beherrschende Wirklichkeit zu sein. Wenn die Katastrophe der Gegenwart überhaupt gewendet werden kann, dann nur so, daß die Demut die Tugend der Zukunft wird. Damit hängt ein Zweites zusammen. Indem der gegenwärtig Existierende am Ende erfährt, daß sein Machtwille in der Ohnmacht untergeht, wird ihm der Blick dafür frei, daß er selbst weder des Verlustes der Wirklichkeit noch des Herbeikommens eines neuen Wissens um Wirklichkeit Herr ist. Das ist vielmehr ein Geschehen, das mit ihm geschieht, dessen er nicht mächtig ist, das aber über ihn Macht hat. Daß der Mensch dies zu wissen bekommt, ist die tiefere Erfahrung in der Haltung der Demut; ob er es sich wahrhaft zueignet, davon hängt ab, ob das gegenwärtige Geschick des Menschen sich wenden kann. 139

Will der Philosophierende dem weiter nachdenken, so sieht er sich vor die Schwierigkeit gestellt, wie das zu benennen ist, was über Nähe und Ferne, über Wirklichkeit und Entwirklichung Macht hat: jenes schlechthin Wirksame, das ihm nur die demütige Ohnmacht läßt. Die Begriffe, in denen die überkommene theologische Metaphysik sich ausspricht — das Absolute, das höchste Seiende, der Seinsgrund, die prima causa, das Unbedingte —, versagen. Weil sie nicht zum Nichts hin offenstehen, verharren sie noch diesseits des radikalen Verlustes der Wirklichkeit und sind darum selber zum Untergang in der Entwirklichung verurteilt. Sollen sich Worte finden lassen, so müßten es solche sein, die in sich selber darauf verweisen, daß, wovon sie sprechen, dem menschlichen Begreifen entzogen ist. Also etwa das Wort „Geheimnis". Das Geheimnis nämlich, das sich im Verlust der Wirklichkeit, im Hinschwinden der Nähe, als das immer sich Entziehende, als das Rätsel im Grunde der Fragwürdigkeit kundtut; das Geheimnis, das sich als wirksam waltendes sowohl im Zerbrechen der Wirklichkeit, in der Ankunft der Ferne, wie darin verbirgt, daß die zerbrochene Wirklichkeit und mit ihr der entwirklichte Mensch nicht völlig ins Nichts abstürzen, daß vielmehr in aller Ferne zukünftige Nähe nicht unmöglich wird. Es muß offen bleiben, ob die Philosophierenden dieses Geheimnis, das über Wirklichkeit und Unwirklichkeit mächtig ist, noch mit dem ehrwürdigen Namen „Gott" bezeichnen sollten. Geschähe dies, so wäre freilich erforderlich, daß sie, was sie meinen, ausdrücklich abgrenzten: sowohl gegen den Gott der bisherigen Metaphysik wie gegen den Gott der Offenbarung in Jesus Christus. Nicht daß sie damit sagen wollten: hier sind verschiedene göttliche Wesen gemeint. In ihrer Abgrenzung müßten sie vielmehr ausdrücken: Was bislang mit dem Namen „Gott" bezeichnet wurde, erfährt auch der heute Philosophierende, aber in der ihm durch seinen geschichtlichen Augenblick bestimmten eigentümlichen Weise. Gesetzt also, man könne philosophierend von Gott sprechen, und gesetzt ferner, man schaue sich danach um, wo in der Vergangenheit an verwandte Gottes er fahrung angeknüpft werden könnte, dann wäre dies vielleicht da möglich, wo Philosophie und Theologie in ihrer Frage nach der Wirklichkeit bis zum Deus absconditus, zum verborgenen Gott, vorgedrungen sind: jenem Gott, dessen Licht so hell ist, daß es nur als Finsternis erfahren werden kann, und dessen Finsternis so mächtig ist, daß sie als das blendendste Licht begegnet. Im Zeitalter des Verlustes der Wirklichkeit verstanden, wäre der Deus absconditus eben jenes Geheimnis, das in den Geschehnissen der Geschichte, in deren undurchsichtigem Gang zwischen Nähe und Ferne, zwischen Wirklichkeit und Entwirklichung, als die verborgene Tiefe waltet. 140

Ein Philosophieren aus der Erfahrung des Deus absconditus wird freilich an den Rand der bisherigen Möglichkeiten der Sprache gedrängt. Und dies aus der Sache heraus. Denn die gemäße Haltung vor dem Verborgenen ist das Schweigen, und dem Geheimnis begegnet man mit dem Finger auf den Lippen. 48

Die fragmentarischen Andeutungen dieses und des folgenden Vortrages werden weitergeführt in der demnächst erscheinenden Schrift des Verfassers: Der Gott der Philosophen. Über die Möglichkeit einer Philosophischen Theologie.

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Gibt es eine Philosophische Theologie? Die Bemühung um eine Philosophische Theologie ist in unseren Tagen erneut in Fluß geraten, im Zusammenhang mit der großen Selbstbesinnung der Philosophie, die mit der Existenzphilosophie eingesetzt und zu einer Wiedererweckung metaphysischen Denkens geführt hat. Aber diese Bemühung begegnet einer Schwierigkeit, die bis in ihren Grund hinabreicht. Denn daß Philosophische Theologie möglich ist, ist keineswegs selbstverständlich. Hat denn der Philosophierende Recht und Befugnis, von Gott zu reden? In der Tat wird ihm das energisch bestritten, und zwar auf der einen Seite vom christlichen Glauben, der in seiner radikalen Ausprägung behauptet, er allein sei befugt, von Gott zu reden. Das findet seinen erschütterndsten Ausdruck in dem Memorial Pascals, jener merkwürdigen Niederschrift einer entscheidenden religiösen Erfahrung, die man nach dem Tode dieses großen Christen in seinen Rock eingenäht fand. „Gott Abrahams, Isaacs und Jacobs", heißt es hier, und dann, hart und schroff: „nicht der Gott der Philosophen und Gelehrten". Diese Feindschaft des Glaubens gegen das philosophische Reden von Gott geht bis in die Ursprünge des Christentums zurück. Der Apostel Paulus warnt die Gemeinde, sich nicht verführen zu lassen „durch Philosophie und leeren Betrug". Tertullian, einer der scharfsinnigsten Männer der jungen Kirche, nennt die Philosophie ein „Werk der Dämonen". Luther sodann bezeichnet die Philosophie als eine „Lehre der Vernunft und — des Teufels". Und er hat darin bis heute Nachfolger gefunden. Rudolf Bultmann schreibt: „Es bleibt dabei, daß alles menschliche Reden von Gott außerhalb des Glaubens nicht von Gott redet, sondern vom Teufel." Ähnlich äußert sich Karl Barth. Überall also bei diesen streitbaren Theologen wird behauptet: allein der Glaube ist der legitime Zugang zu Gott; die Philosophie dagegen endet in ihrer Frage nicht bei Gott, sondern bei leerem Betrug, bei den Dämonen, beim Teufel. Dies entschlossene Verdammungsurteil kommt seltsamerweise mit einer anderen Bestreitung überein, die innerhalb der Philosophie selber ausgesprochen wird: daß nämlich Philosophische Theologie darum unmöglich sei, weil die Philosophie ihrem Wesen nach atheistisch sei und sein müsse. Einer der Philosophen der Aufklärung, der Baron Holbach, 142

nennt die Vorstellungen von Gott „Chimären". Im 19. Jahrhundert bezeichnet Ludwig Feuerbach Gott als eine „Illusion", die der Mensch erfunden habe. Im gleichen Geiste heißt es bei Nietzsche: „Die Götter sind Dichter-Gleichnis, Dichter-Erschleichnis"; Gott ist „unsere längste Lüge". Und in der Gegenwart sagt Sartre, der Existentialismus gehe davon aus, „daß Gott nicht existiert". So erhebt sich mitten aus dem Philosophieren selber heraus der Protest gegen den Versuch einer Philosophischen Theologie. Unser Thema steht also in einer doppelten Fragwürdigkeit: sowohl die radikalen Fürsprecher des Glaubens, wie die Verkünder einer atheistischen Philosophie stimmen darin überein, daß die Philosophie nicht befugt sei, von Gott zu reden. Doch jene Sätze Nietzsches zeigen zugleich das Gewicht unserer Frage. Daß „Gott tot ist", sagt er, ist „eine furchtbare Neuigkeit"; sie zeigt die Heraufkunft des Nihilismus an. Muß also die Philosophie, wenn sie ehrlich ist, im Atheismus enden? Gibt es nur die Alternative von Glauben oder Nihilismus, und wird zwischen diesen beiden äußersten Möglichkeiten die Bemühung der Philosophie um eine Erkenntnis Gottes heillos zerrieben? Oder vermag die Philosophie doch legitimerweise von Gott zu reden? So zu fragen ist umso dringlicher, als die Philosophie, wenn ihr dieses Thema genommen wird, ihrer zentralen Frage beraubt wird. Schon für die Griechen war die höchste Aufgabe des Philosophierens die Frage nach dem Göttlichen. Das hat sich im Einbruch des Christentums in die griechische Welt noch verstärkt: die Philosophie des Mittelalters ist im Grunde nichts anderes als Philosophische Theologie. Aber auch in der Neuzeit hat die atheistische Strömung nicht vermocht, die Frage nach Gott aus ihrer beherrschenden Stellung zu verdrängen. Selbst Voltaire, der Skeptiker par excellence, versucht sich an einem Gottesbeweis. Hegel behauptet sogar, Gott sei „der eine und einzige Gegenstand der Philosophie". Schließlich ist auch in der Philosophie der Gegenwart das Problem nicht verstummt; das Denken von Gabriel Marcel und Karl Jaspers kreist letztlich um die Frage nach Gott. Die Philosophie hat also immer wieder an entscheidenden Stellen von Gott geredet und eine Philosophische Theologie entworfen. Sollte das nicht ausreichen, Recht und Befugnis zu solchem Tun sicherzustellen und jene beiden Bestreitungen, vom Glauben und vom Atheismus her, abzuweisen? Doch wenn man die Geschichte des philosophischen Gottesgedankens genauer ins Auge faßt, zeigt sich, daß zwar immer und überall von Gott geredet wird, daß aber keineswegs Einmütigkeit darüber herrscht, was denn nun in philosophischer Sicht unter Gott zu verstehen ist. Gott als die Tiefe der Welt, wie ihn die vorsokratischen Philosophen verstan143

den, ist doch offenbar nicht der gleiche wie der Schöpfergott des Thomas von Aquino, Gott als das unbegreiflich Eine im Sinne des Neuplatonismus ist etwas anderes als die waltende Vorsehung, als die die Aufklärung Gott zu begreifen suchte. So ist die Philosophie in ihrer ganzen langen Geschichte nicht zu einem gültigen Begriff Gottes gelangt. Nicht einmal das Dasein Gottes hat sie unwiderleglich beweisen können; zuletzt hat Kant mit aller Schärfe die Unhaltbarkeit der in so vielen Jahrhunderten versuchten Gottesbeweise aufgezeigt. Woran liegt es, daß sich die Philosophen in diesem Punkte so wenig einig werden können? Offenbar daran, daß ihre Aussagen über Gott jeweils von verschiedenen Voraussetzungen ausgehen. Nur wer die jeweilige Voraussetzung akzeptiert, kann auch das als sicher annehmen, was über Wesen und Dasein Gottes daraus gefolgert wird. Wer aber eine andere Voraussetzung zugrunde legt, wird auch zu anderen Konsequenzen getrieben. Der Streit um die rechte Philosophische Theologie ist also ein Streit um die Voraussetzungen. Das sei an zwei Beispielen verdeutlicht, an dem kosmologischen Gottesbeweis des Thomas von Aquino und an dem moralischen Gottesbeweis Kants. Thomas geht, wenn man die Sache etwas vereinfacht, etwa so vor; Alles, was geschieht, hat seine Ursache. Nun kann man in der Kette der Verursachung nicht ins Unendliche zurückgehen. Also muß es eine erste Ursache geben, und diese erste Ursache ist Gott. Inwiefern ist nun dieser Gottesbeweis schlüssig? Doch nur insofern, als man mit Thomas annimmt, es könne keine unendliche Kette von Ursachen geben, die Welt könne nicht von Ewigkeit her bestehen. Kant hat jedoch gezeigt, daß diese Annahme nicht zwingend ist. Wenn nun Thomas gleichwohl ohne weitere Begründung die Möglichkeit eines Rückganges ins Unendliche abweist, so deutet das auf eine für ihn selbstverständliche Voraussetzung hin: daß nämlich die Welt endlich, und das heißt, daß sie geschaffen ist. Damit aber ist implicite bereits das Resultat seines Gottesbeweises vorweggenommen. Denn wenn die Welt von vornherein als geschaffene betrachtet wird, dann freilich folgt mit Notwendigkeit die Annahme eines schaffenden Gottes. Wird aber die Voraussetzung fragwürdig, dann verliert auch der Beweis seine Schlüssigkeit. Kant nun bekämpft diesen Gottesbeweis, und zwar letztlich darum, weil er die Selbstverständlichkeit jener Voraussetzung des Thomas nicht mehr teilt. Doch dann unternimmt er selber einen Gottesbeweis von neuer Art, Er geht davon aus, daß dem Menschen, wenn er sich ernstlich überlegt, wie er handeln solle, eine unbedingte Forderung entgegentrete; das Sittengesetz. Auf Grund dessen nun behauptet Kant: wer sich so als unbedingt beansprucht versteht, der muß notwendig zu der Annahme kom· 144

men, es gebe einen Gott, nämlich als den Garanten der Unverbrüchlichkeit des Sittengesetzes. Wiederum sieht man deutlich, daß Kant zur Gewißheit des Daseins Gottes von einer nicht mehr in Zweifel gezogenen Voraussetzung aus gelangt: eben der, daß dem Menschen, wenn er sich auf ein sittliches Dasein hin entwirft, ein unbedingtes Gebot entgegentrete. Nur wenn man diese Voraussetzung akzeptiert, kann der moralische Gottesbeweis Kants überzeugend sein; verwirft man dagegen die Voraussetzung, dann bricht auch der Gottesbeweis in sich zusammen. So zeigt sich: zwar hat die Philosophie in ihrer Geschichte immer wieder von Gott geredet und Versuche philosophischer Theologie unternommen. Aber diese sind äußerst problematisch, weil sie — wie die Beispiele zeigen — von unerwiesenen, als selbstverständlich angenommenen Voraussetzungen ausgehen. Das heißt aber: das Unterfangen einer Philosophischen Theologie ist nicht nur durch äußere Angriffe bedroht, sondern auch von innen her gefährdet, und diese innere Gefährdung ist bedrohlicher noch als jene äußere. Deshalb nämlich bedrohlicher, weil sie aus dem Wesen des Philosophierens selber entspringt. Diesem widerspricht es, irgendwelche Voraussetzungen unbefragt stehen zu lassen. Philosophieren ist seinem Wesen nach Fragen, und zwar fragt es nicht nach Einzelnem, sondern in den Grund des Ganzen hinab. Es ist radikales, und das heißt: auf die Wurzeln gehendes Fragen. Alles also, worin eine philosophische Aussage wurzeln könnte, jeder feste Grund, jede Voraussetzung muß, wenn recht philosophiert werden soll, in das radikale Fragen aufgelost werden. So kann auch die Philosophische Theologie, wenn sie Philosophieren im echten Sinne sein will, nicht so vorgehen, wie jene früheren Versuche, also etwa Thomas von Aquino und Kant. Sie darf keine noch so selbstverständlich erscheinende Voraussetzung stehen lassen, sondern muß sie alle in die Radikalität ihres Fragens hineinreißen. Das heißt aber doch: die Philosophie — und mit ihr die Philosophische Theologie — gräbt sich immer wieder selber den Boden ab, auf dem sie stehen konnte. Aber dann sind doch jene Angriffe, die von außen her die Philosophische Theologie bedrohen, berechtigt; denn sie treffen in der Tat deren innerstes Wesen. Dann kann der Glaube mit Recht sagen: die Philosophie kommt zu keinen Aussagen über Gott, weil sie sich immer wieder den Boden für solche Aussagen selber zerstört. Und die atheistische Behauptung kann von sich sagen, sie allein bleibe dem wahren Wesen des Philosophierens treu, indem sie keinerlei positive Aussagen macht. Das heißt aber dann: entweder gibt es Philosophische Theologie, die aber auf unausgewiesenen Voraussetzungen beruht und daher unphilosophisch ist; oder die Philosophische Theologie ist im echten Sinne philo10 Weisdiedel

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sophisch, aber dann kommt sie nicht über das bloße Fraglichmachen ihrer Voraussetzungen hinaus. In diesem Dilemma scheint die Philosophische Theologie endgültig zu scheitern. Soll das nicht das letzte Wort sein, und soll es unbeschadet des Anscheines ihrer Unmöglichkeit dennoch eine Philosophische Theologie geben, so müßte sie echt philosophisch sein. Sie müßte also entschlossen darauf verzichten, irgendwelche ihr fremden Voraussetzungen in ihr Denken hineinzunehmen. Ihre einzige Voraussetzung dürfte das Philosophieren selber sein; dieses müßte sich selbst zu seinem Boden machen. Denn nur so ist ein Philosophieren möglich, das seinem Wesen nicht untreu wird. Man müßte also davon ausgehen, daß wir philosophieren, und müßte nun zusehen, ob von dieser einzigen philosophisch erlaubten Voraussetzung aus etwas über den Gegenstand der Philosophischen Theologie, über Gott, gesagt werden kann. Das mag abstrakt klingen. Es soll daher konkreter verdeutlicht werden. Versetzen wir uns in eine Situation, in der einem Menschen alles fragwürdig erscheint, in der die Verzweiflung am Sinn alles Daseins, des eigenen wie des Daseins der Welt, über ihn hereinbricht. In diesem extrem nihilistischen Augenblick bleiben ihm offenbar nur drei Möglichkeiten offen. Entweder er schließt die Augen vor der aufgebrochenen absoluten Sinnlosigkeit und flüchtet sich in eine Bergung; aber ehrlicherweise muß er sich eingestehen, daß dies eine Flucht in die Blindheit ist. Oder er entschließt sich, nichts mehr ernst zu nehmen und mit dem Dasein wie mit seinem eigenen Leben ein ironisches Spiel zu treiben; aber auch dann trägt er dem Ernst seiner verzweifelten Situation nicht Rechnung. Am Ende also scheint ihm nur die dritte Möglichkeit offenzustehen: dem Gedanken der totalen Sinnlosigkeit dadurch zu antworten, daß er sein sinnlos gewordenes Dasein fortwirft; die einzige Konsequenz ist für ihn die Unwiderruflichkeit des Selbstmordes, und keinen, der echt philosophiert, gibt es, der nicht um diese Versuchung wüßte. Und doch gibt es gerade angesichts dieser äußersten Möglichkeit noch eine vierte Weise, wie man dem Gedanken der Fraglichkeit von allem begegnen kann, und das eben ist die eigentlich philosophische Weise. Der Selbstmord bedeutet, daß mit der Vernichtung der eigenen Existenz auch das Fragen abgeschnitten wird. Das Fragen aber will und kann sich der Philosophierende nicht nehmen lassen. So macht er immer wieder den Versuch, im offenen Blick auf die absolute Fraglichkeit von allem zu existieren. Er entschließt sich, gerade angesichts der Möglichkeit der totalen Selbstvernichtung sich in der Offenheit des Fragens zu halten. Und das heißt: weder in eine scheinhafte Bergung noch in ein ironisches Spiel zu flüchten, aber auch nicht das unerträglich gewordene Dasein zu be146

enden, sondern weiter zu fragen, und das besagt: philosophierend zu existieren. Dieser grundlegende Entschluß zum Philosophieren ist gemeint, wenn davon die Rede ist, daß das Philosophieren sich selber voraussetzen müsse und in Wahrheit nur sich selber voraussetzen könne. Aber damit ist offenbar noch nicht viel gewonnen. Alles kommt vielmehr darauf an, ob es dem Philosophieren gelingt, von diesem Ausgangspunkt her, und unter Verzicht auf irgendwelche anderen, von außen herangebrachten Voraussetzungen, zu Antworten zu gelangen, und gar zu den von einer Philosophischen Theologie erwarteten Antworten. Von dieser Frage geleitet, gilt es, noch einmal darauf zu blicken, was es mit dem Philosophieren auf sich hat. Da ist nun wichtig: Philosophieren ist ein Weg, und zwar ein Weg des Erfahrens. Philosophieren besteht nicht darin, worin man so häufig sein Wesen erblickt: daß man Begriffe definiert und Schlüsse zieht. Philosophieren heißt vielmehr: denkend Erfahrungen machen. Und weil das so ist, darum kann auch sein Ursprung nirgend anders liegen als in einer Grunderfahrung. Was diese philosophische Grunderfahrung ist, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, was vorhin über den Ursprung des Philosophierens gesagt wurde. Die Situation, in der das Philosophieren als radikales Fragen einsetzt, ist eben jener Augenblick, in dem nicht dies oder jenes fraglich wird, sondern alles, in dem die Fraglichkeit der Welt überhaupt erfahren wird. Philosophieren im echten Sinne beginnt in jenen Momenten, in denen uns alles, was ist, wie durchscheinend vorkommt, in denen wir erfahren: nichts, was besteht, hat in sich selber Bestand; alles sinkt in den Abgrund der Fraglichkeit hinab. Die philosophische Grunderfahrung ist die Erfahrung der Fraglichkeit der Welt im Ganzen. Doch wie kommt das Philosophieren in diese seine Grunderfahrung der radikalen Fraglichkeit von allem? Die Antwort muß lauten: nicht durch sich selber. Es ist nicht so, daß die Weltwirklichkeit zunächst fraglos gegeben wäre, daß dann das Philosophieren, man weiß nicht warum, an die Welt heranträte und sie, aus eigener Vollmacht, fraglich machte. Die Fraglichkeit von allem drängt sich vielmehr dem Menschen von sich selber her auf, sie ist ursprünglicher als das Fragen, und erst wenn sie ihm entgegentritt, wird der Mensch in das Philosophieren geworfen. Das weiß jeder, der je einmal in das radikale Fragen der Philosophie geraten ist. Die totale Fraglichkeit der Welt, und zwar der Dinge ebenso wie des eigenen Daseins, steht beängstigend vor ihm auf, und nun ist er genötigt, ihr gegenüber selber der Fragende zu werden. Die philosophische Grunderfahrung ist die Erfahrung der uns überfallenden Fraglichkeit der Welt. Doch nun ist wichtig zu sehen, wie denn die Fraglichkeit der Welt in 10·

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der philosophischen Grunderfahrung begegnet. Als fraglich wird offenbar erfahren, ob die Welt überhaupt ist, oder ob sie nicht ist. Ich erfahre also an der Welt ein eigentümliches Schweben zwischen Sein und Nichtsein. Das zeigt sich darin, daß ich, wenn ich eine Aussage über Sein oder Nichtsein der Welt machen will, dabei seltsam hin und her geworfen werde. Sage ich etwa: die Welt ist, dann treibt mich die Erfahrung der Fraglichkeit sofort zu der entgegengesetzten Aussage: sie ist möglicherweise nicht. Sage ich nun aber: es ist überhaupt nichts, so werde ich wiederum auf das Gegenteil gestoßen: daß die Welt möglicherweise doch ist. Die Erfahrung der Fraglichkeit hat also das Eigentümliche an sich, daß sie weder im Sein noch im Nichts Wurzel schlagen kann. Sie bleibt im Schweben, und dies darum, weil das, was in ihr erfahren wird, die fragliche Welt, selber als schwebend zwischen Sein und Nichts erfahren wird. Daher kann man auch sagen: in der philosophischen Grunderfahrung wird die metaphysische Hinfälligkeit der Welt erfahren: daß sie sich nämlich in der Haltlosigkeit hält und im Sichhalten haltlos ist. Diese seltsame Dialektik, die doch nicht ausgeklügelt ist, sondern in der Sache selber liegt, ist nicht einfach zu verstehen. Aber das liegt daran, daß die Sache selber, eben in ihrem Schweben, ungreifbar ist. Man muß daher, wenn man angemessen reden will, vom Geheimnis der Fraglichkeit der Welt sprechen: daß sie ist, und doch an d u Nichts rührt; daß sie nichtig ist, und doch an das Sein rührt; daß sie durch das Nichts gefährdet, und doch nicht in das Nichts verschlungen ist; daß sie ständig vom Nichts bedroht wird, und sich doch über dem Abgrund des Nichts hält. Auf dieses Geheimnis richtet sich das philosophische Fragen, wo es in seine Tiefe gelangt. Darum auch muß das Philosophieren, als radikales, zu den Wurzeln dringendes Fragen, nun nach dem Grunde der Fraglichkeit der Welt forschen. Nach dem Grunde nämlich, der es ermöglicht, daß die Welt nicht schlechthin ist und doch nicht ins Nichts abstürzt, der sie im Schweben zwischen Sein und Nichtsein hält. Damit ist die Philosophie bei ihrem zentralen Problem angelangt. Denn hier entspringt jene Frage, die seit je als die vorzüglichste aller philosophischen Fragen gegolten hat: Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts? Diese Frage aufzuwerfen, ist nicht Sache der Willkür und des Beliebens der Philosophen. Vielmehr wird das Philosophieren von seiner Sache selber dazu getrieben, nach dem Grunde zu fragen. Die Fraglichkeit der Welt verweist von sich selber her auf ihren Grund, und zwar eben darin, daß die Welt den Charakter des Schwebens, des haltlosen Sichhaltens, trägt. Wäre die Welt, wie sie philosophisch erfahren wird, reine Haltlosigkeit, pures Nichts, dann hätte die Frage nach einem Grunde dieses 148

Nichts keinen Sinn. Wäre die Welt dagegen reines Sichhalten, sicheres Bestehen, so wäre auch der Grund gewiß und nicht Gegenstand des Fragens. Nun aber ist die Welt sich haltende Haltlosigkeit und haltloses Sichhalten, und eben darum fordert sie die Frage nach dem Grunde dieses ihres dialektischen Schwebens heraus. Das Geheimnis selber also verweist auf seinen Grund, und das Philosophieren, wenn es denn radikales Fragen ist, muß nach der Wurzel, nach dem Grunde des Geheimnisses forschen. Damit aber sind wir bei der Grundfrage der Philosophischen Theologie angelangt. Denn die Philosophische Theologie sucht ja eben nach dem Grunde von allem, und das heißt jetzt: nach dem, worin die Welt als Ganze in ihrer Fraglichkeit gründet. Die Philosophische Theologie ist also kein nachträglich auf die Philosophie überhaupt aufgepfropfter Zweig; das Philosophieren selber, wo es sich in sich selbst vertieft, wird notwendig zur Philosophischen Theologie. Deren Grundfrage ist freilich jetzt anders gestellt als in der philosophischen Tradition. Der Ausgangspunkt liegt nicht in irgendwelchen Voraussetzungen, sondern im Philosophieren als solchem, und das besagt: in der philosophischen Grunderfahrung, der Erfahrung der Fraglichkeit der Welt. Es wird daher auch nicht in direktem Ausgang von der bestehenden Welt deren Grund gesucht, sondern der Grund ist erfragt als der Grund der Fraglichkeit der Welt. Doch noch ist erst von der Frage der Philosophischen Theologie die Rede, nicht von den Antworten, die diese Frage etwa finden könnte. Darüber sei in Kürze noch ein Weniges angedeutet. Das Erste mag wohl dies sein: wenn die Philosophische Theologie nach dem Grunde des Geheimnisses der Fraglichkeit der Welt forscht, und wenn sie ihn als Gott bezeichnet, dann muß sie Gott selber als Geheimnis, als den verborgenen Grund, verstehen. Das heißt dann auch: sie muß sich darüber klar sein, daß alle unsere Begriffe, die wir ja doch aus der Erfahrung der Welt und der Dinge nehmen, den Grund des Geheimnisses nicht angemessen zu erfassen vermögen. Wenn etwa gesagt wird: die Welt i s t , und Gott ist der Grund der Welt, also muß er selber als das höchste Sein begriffen werden, dann ist dem nicht Rechnung getragen, daß Gott nicht schlechthin der Grund des Seins, sondern der Grund des Schwebens der Welt zwischen Sein und Nichts ist. Oder wenn man sagen wollte: der Mensch ist Geist, also muß auch Gott, der Ursprung des Menschen, als Geist verstanden werden, dann ist wiederum in solcher direkten Analogie das Geheimnis nicht zureichend gewahrt. Es gilt also, in der Ausarbeitung der Philosophischen Theologie eine Sprache zu finden, die unmittelbar aus der Selbstauslegung der philo149

sophischen Grunderfahrung erwächst, und die nicht in Begriffen begreift, sondern denkend auf das Geheimnis und auf seinen Grund hindeutet. Vielleicht kann in solcher Blickrichtung noch ein Zweifes gesagt werden. Gott als unergründliches Geheimnis ist ja nicht völlig verborgen, sondern ist gegenwärtig in dem, was in der philosophischen Grunderfahrung erfahren wird: in der Fraglichkeit der Welt. Indem diese als in Gott gründend verstanden wird, wird Gott als das Gründende offenbar, als das, was das haltlose Sichhalten, das Schweben zwischen Sein und Nichts, ermöglicht. Weil er so in die Erfahrbarkeit kommt, kann die Philosophische Theologie ihn verstehen als das, was als Gründendes in das Gegründete vorgeht: als das gründend Vorgehende. Ein Drittes zeigt sich, wenn man darauf achtet, wodurch das Philosophieren hervorgerufen wird. Vorhin ergab sich: es beginnt in der Erfahrung der Fraglichkeit der Welt. In dieser Erfahrung aber wird Gott als der Grund der Fraglichkeit offenbar. So kann die Philosophische Theologie Gott verstehen als das, was das philosophische Fragen, ja das wesentliche Fragen des Menschen überhaupt, hervorruft, als den Ruf in die Frage, als den Aufruf zum Hinabfragen in den Grund des Geheimnisses. Gott ist das, was den Menschen in sein fragendes Wesen bringt. Ein Viertes: Gott als Aufruf zum Fragen nach dem Grunde ist zugleich das, was das Fragen selber möglich macht. Denn erschiene er nicht in der Fraglichkeit der Welt, so gäbe es auch nicht die fragende Hinwendung zu ihm. So ermöglicht der Grund, indem er in die Frage ruft, zugleich das fragend-philosophierende Existieren, jene einzige Weise, wie der Mensch dem Absturz in das Nichts, dieser seiner großen Bedrohung, zu entgehen vermag. Gott ist das, was dem Menschen im Angesicht des Nichts das Sein ermöglicht. Faßt man die gegebenen Andeutungen in raschem Überblick zusammen, so kann man sagen: die Philosophische Theologie kommt auch auf ihrem rein philosophischen Wege zu Aussagen über ihren Gegenstand, über Gott. Sie kann diesen verstehen als das unerforschliche Geheimnis, als das gründend Vorhergehende, als den Ruf in die Frage und als das Ermöglichende des fragenden Existierens. Es mag auffällig sein, daß in all dem eine gewisse Nähe zum christlichen Gottesgedanken spürbar wird. In der Tat: was hier als Aussagen der Philosophischen Theologie genannt wird, kann man auch in den Worten des christlichen Glaubens aussprechen. Gott als das unergründliche Geheimnis entspräche dann dem Gedanken des Deus absconditus, des Gottes der verborgenen Ratschlüsse. Die Bezeichnung Gottes als des gründend Vorgehenden stünde in Analogie zu der christlichen Idee des Schöpfergottes. Wo die Philosophische Theologie von Gott als dem Ruf 150

in die Frage redet, will ihn der christliche Glaube als den Sohn verstehen, in dem Gott sich dem Menschen zuwendet. Und sofern Gott, philosophisch verstanden, der ist, der die fragende Zuwendung ermöglicht, begreift ihn die christliche Theologie als den Geist, der uns als der Geist der Liebe in alle Wahrheit leitet. Heißt das nun, daß die Philosophische Theologie am Ende zu einer Auslegung des christlichen Glaubens wird? Keineswegs. Der Ausgangspunkt des Glaubens ist ein anderer als der des Philosophierens: nicht die Grunderfahrung der Fraglichkeit der Welt, sondern die Erfahrung einer Begegnung mit Gott. Doch jene seltsame Entsprechung des geglaubten und des philosophisch erfragten Gottes hat vielleicht darin ihren Grund, daß der Mensch beidemale auf das Gleiche hinzielt, daß der Gott der Philosophen und der Gott des Glaubens nicht zwei verschiedene „Götter" sind, sondern ein und derselbe Gott, nur freilich gesehen und erfahren in verschiedenen Weisen des Hinblicks. Am Ende ist es wirklich an dem, daß überall, wo von Gott geredet wird, das Gleiche gesucht wird: dasjenige nämlich, wonach der Mensch im tiefsten Grunde seines Wesens sich ausstreckt. So jedenfalls hat es vor 400 Jahren Sebastian Franck, der große Einsame unter den Theologen der Reformationszeit, ausgedrückt: „Gott ist ein unaussprechlicher Seufzer, im Grunde der Seelen gelegen."

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Vom Sinn des Gebets „Das Beten ist ein abergläubischer Wahn." Dieser Satz Immanuel Kants drückt aufs schroffste die Bedenken aus, die die Philosophen gegen das Gebeterheben. Worin liegt für Kant das abergläubische Wesen des Gebets? Darin, daß in ihm der Mensch versucht, „auf Gott zu wirken", und zwar zugunsten menschlicher Zwecke, also aus Eigennutz; es ist, fährt Kant fort, „ein ungereimter und zugleich vermessener Wahn, durch die pochende Zudringlichkeit des Bittens zu versuchen, ob Gott nicht von dem Plane seiner Weisheit (zum gegenwärtigen Vorteil für uns) abgebracht werden könne". Noch schärfer verurteilt Fichte eine solche Weise des Betens: „Das System, in welchem von einem übermächtigen Wesen Glückseligkeit erwartet wird, ist das System der Abgötterei und des Götzendienstes und so alt wie das menschliche Verderben". Zwei Dinge also sind es, die von diesen Denkern verworfen werden: einmal, daß der Mensch im Gebet auf sein eigenes, kleines Wohlergehen schaut und den erhabenen Gott dafür bemüht, zum andern, und noch gewichtiger, daß Gott als wandelbar gedacht wird, so nämlich, daß menschliches Tun ihn zu einer Änderung seiner Ratschlüsse bestimmen könne. In der Tat zeigt ein Blick auf die Geschichte der Frömmigkeit, daß beide Momente im Gebet eine bedeutsame Rolle spielen. Von den primitiven Völkern über die Religion des Alten und Neuen Testaments bis zur Gegenwart wird unablässig um Gesundheit, Nachkommenschaft, Fruchtbarkeit der Felder und Herden, um Erfolg im Beruf, Sieg über die Feinde und vielerlei dergleichen gebetet. Luther fordert, man solle Gott im Gebet vorhalten „die gemeine, zeitliche Not dieses Lebens auf Erden, daß er uns gebe gnädigen Frieden, gut Regiment und uns behüte vor alallerlei Plage: Krankheit, Pestilenz, teuer Zeit, Blutvergießen, Ungewitter". Und was das zweite Moment angeht, den Gedanken der Wandelbarkeit Gottes, so tritt er nicht nur in frühen Stadien der Religion auf, etwa in jenem Wort Homers: „es wenden ihren Sinn die Götter". Noch bei Luther findet sich jene „Zudringlichkeit", von der Kant spricht; sie geht bis zu leidenschaftlichem Appell und stürmischer Forderung, ja bis zur Drohung gegen Gott. Er betet: „Wie, daß du denn nicht willst Regen geben, weil wir so lange schreien und bitten?" oder: „Laß uns doch dir nicht die Schlüssel vor die Füße werfen; denn so wir zuletzt zornig 152

über dich werden, dir deine Ehre und Zinsgüter nicht geben, wo willst du dann bleiben?" Solch gewaltsames Reden mit Gott kommt aus der Überzeugung von der Macht des Menschen: daß er nämlich, wenn er es nur recht anstelle, Gott dazu nötigen könne, ihm zu Gefallen zu sein. Dahinter steht letztlich der Gedanke, daß Gottes Entschlüsse nicht von Ewigkeit her feststehen, sondern sich wandeln können, wenn der Mensch nur kräftig genug darum bittet. Das spricht Luther auch ausdrücklich aus: „Nach dem Gebet ändert Gott seinen Rat und Vornehmen. Gott ergiebet seinen Willen in unsern Willen. Das Gebet zwinget Gott". Ist das aber die tiefste Ebene, auf der der Fromme sein Beten versteht? Keineswegs. Neben jener Gewaltsamkeit ist in der christlichen Frömmigkeit das Bewußtsein lebendig, daß es dem Menschen nicht ansteht, in dem Augenblick, in dem er dem unendlichen Gott gegenübertritt, auf sich selber und auf die endlichen Bedürfnisse seines Daseins zu blicken und um die Dinge der zeitlichen Wohlfahrt zu bitten. So sagt der Dichter Angelus Silesius: „Wer Gott um Gaben bit't, der ist gar übel dran, / er betet das Geschöpf und nicht den Schöpfer an." Und Meister Eckhart erzählt, um den Gedanken des Eigennutzes abzuweisen, die Geschichte eines Kranken, den man fragte, weshalb er es ablehne, Gott um Genesung zu bitten. Er habe eine dreifache Antwort gegeben: zum ersten, er sei gewiß, Gott hätte die Krankheit nicht zugelassen, es sei denn zu seinem, des Kranken, Besten; zum zweiten, der Mensch müsse wollen, was Gott will, nicht aber müsse Gott wollen, was der Mensch will; habe nun Gott die Krankheit gewollt, so müsse auch der Mensch sie wollen; zum dritten, es sei nicht recht, Gott um solche Kleinigkeiten zu bitten, wie es vor seinen Augen die Genesung eines einzelnen Menschen sein müsse. Damit ist auch schon die religiöse Antwort auf jene Zudringlichkeit und Nötigung des Bittens gegeben. Sie wird fragwürdig vor dem Wort Jesu: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe". Das ist auch die Einsicht, zu der sich zuletzt Luthers stürmischer Geist durchringt; denn am Ende jenes Gebetes, in dem er Gott droht, steht der Satz: „Ach, lieber Herr, wir sind dein, mache es, wie du willst!" Diese sich bescheidende Haltung Gott gegenüber entspricht allein dem philosophischen Gedanken von Gott. Er nun dringt in die ursprüngliche Ebene des Problems vor. Wird Gott als ein Gegenüber verstanden, das der Mensch mit Bitten und Flehen umstimmen könnte, so ist das für den Philosophen zu kurz gedacht. Denn dann wird Gott ein wandelbarer Wille zugesprochen, und er wird damit in Analogie mit dem Menschen gedacht und auf das Niveau des endlichen Daseins herabgezogen. Das meint es, wenn Fichte von „Götzendienst" redet. Wenn der Philo153

soph von Gott redet, dann denkt er an die absolute, über alles Irdische unendlich erhabene Macht, die in keiner Weise in das Endliche verstrickt ist. Die Ewigkeit Gottes wäre mißverstanden, wenn man sie als einen unendlichen Ablauf wechselnder Zustände Gottes begreifen wollte; sie ist ein immer gleiches, unwandelbares Sein Gottes in sich selber. Diesem ewigen Gott gegenüber bleibt dem Menschen nicht zudringliches Bitten, sondern bloß Anerkennung und Anbetung. In diesem Geiste sagt schon in der Antike der Philosoph Seneca: „Das Schicksal vollzieht sein Recht und läßt sich durch keine Bitte bewegen. Höre auf zu hoffen, daß die Schicksalsbestimmungen der Götter durch Beten gebeugt werden." Und noch in unserer Zeit formuliert Rousseau diesen Gedanken so: „Das vollkommene Gebet ist die völlige Resignation in Gottes Willensfügungen". Worauf es also ankommt, das ist, daß der Mensch im rechten Beten von sich selber absehe und seinen Sinn allein auf Gott richte, so sehr, daß schließlich auch der Gegenstand des Gebetes nichts Endliches mehr sein kann. Dem hat der Kirchenvater Augustinus den tiefsten Ausdruck gegeben, wenn er sagt: „Erbitte von Gott nichts als Gott selbst". Freilich, nun erhebt sich die Frage, ob angesichts dessen das Gebet nicht überhaupt sinnlos ist. Denn wenn Gott, der unendlich Erhabene, nach seinem unabänderlichen und ewigen Ratschluß alles bestimmt, WEIS soll es dann noch, daß der Mensch, diese kleine Kreatur, sich an ihn wendet? Wird das nicht ein überflüssiges und im Grunde lächerliches Tun? Oder ist es vielleicht an dem, daß das Gebet einen andern und tieferen Sinn besitzt, als bloß den, ein Wollen und Wünschen des Menschen zu sein? Was also ist das Gebet von seinem Wesen her? Nun zeigte sich schon: der innerste Sinn des Gebetes kann nicht sein, daß der Mensch auf sich selber blicke und seine privaten Interessen ins Spiel bringe. Der Betende muß sich vom Äußerlichen, von seiner Verstrickung in die Welt, abkehren. Er muß alles hinter sich lassen, was ihn bekümmert und mit Sorge beschwert, aber auch all das, was ihn freudig bewegt und leidenschaftlich ergreift. Hier gilt die Weisung des spätmittelalterlichen Predigers Johannes Tauler: „Kehre dich in Wahrheit ab von dir selber und von allen geschaffenen Dingen". Wenn Beten aber nur möglich ist, wo der Mensch sich aus der Zerstreuung herausholt, dann heißt das: es hat den Charakter der Sammlung. Und das im wörtlichen Sinne des Ausdrucks. Zum Gebet gehört es, daß der Mensch sich aus der Ausbreitung in sein weltliches Dasein sammle, und zwar zu sich selber; daß er sich in sein Inneres hereinhole. Das Gebet vollzieht sich aus seinem Wesen heraus als Meditation. Denn Meditieren heißt: über etwas nachsinnen, aber so, daß man dabei in sein „medium", in die innere Mitte gelange. Der Mensch, der betend sich aus der 154

Zerstreuung sammelt, versammelt sich zu der eigensten Mitte. Er tritt aus der Oberflächlichkeit seines alltäglichen Daseins heraus und versenkt sich in sich selber, in den Grund seines Selbst. Beten heißt, wie Albertus Magnus es tiefsinnig ausgesprochen hat: „sich in sich selbst zurücknehmen". Das will dann weiter besagen: zum Gebet gehört die Einsamkeit. Darum gilt hier die Anweisung Jesu: „Wjenn du betest, so geh in dein Kämmerlein!" Das eigentliche, das wahre Gebet ist das Gebet dessen, der sich zu seiner Einsamkeit gesammelt hat. Das öffentliche, das kultische Gebet ist nur in abgeleitetem Sinne Gebet, und es erhält seine Intensität daraus, wie innig sich die zum gemeinsamen Beten Versammelten jeder für sich zu sich selbst gesammelt haben. Von der innerlichsten Weise des Betens und von seiner wesensmäßigen Einsamkeit redet der schöne Vers des protestantischen Mystikers Gerhard Tersteegen: „Man lockt mich in die Wüste ein, / da Gott und ich nur sind allein, / da Geist mit Geist umgehet. / Ο Einsamkeit, so weit, so weit, / von Kreatur und Ort und Zeit! / Das Liebste draußen stehet." So in der Einsamkeit zu sich selbst gesammelt, erfährt der Betende eine eigentümliche Verwandlung. Er merkt, daß er gleichsam in eine andere Ebene seines Daseins entrückt ist. Aber nun nicht so, als sei das nur für den Augenblick, um dann rasch wieder zu vergehen. Der wahrhaft zu sich selber Gesammelte weiß: die Ebene, auf die die Sammlung ihn gebracht hat, ist die eigentliche und wahre Ebene seines Daseins. In ihr will er sich daher gründen und ansiedeln, und zwar für die Dauer, unbeschadet dessen, daß ihn die Alltäglichkeit mit ihren Anforderungen weiterhin beansprucht. Unterhalb alles Treibens in den Geschäften der Welt bleibt ihm die Stille der Versunkenheit. Die großen Religiösen haben es oftmals ausgesprochen: es komme nicht auf den einzelnen Akt des Betens an; das ganze Leben müsse ein Gebet sein. So sagt Augustinus: „Es gibt ein inneres Gebet ohne Unterlaß. Was du auch sonst tun magst, du hörst nicht auf, zu beten". Und das gleiche meint der große griechische Theologe Origenes, wenn er schreibt, das Leben des wahren Frommen sei „ein einziges, zusammenhängendes Gebet". Die Sammlung zu sich selber ist freilich noch nicht das Letzte und Entscheidende im Wesen des Gebetes. Was dieses erst eigentlich zum Gebet macht, ist, daß der Mensch in der Einkehr in sich selber auf die Gegenwart Gottes stößt. Die unabdingbare Voraussetzung alles innerlichen Betens ist der Gedanke, daß der Mensch im Innersten seiner selbst nicht bloß endlicher Mensch ist, sondern daß eben dieses Innerste der Ort der Anwesenheit Gottes ist. Denn das Gebet vollzieht sich, wie Pascal sagt, „in der Präsenz Gottes", und er fährt fort: „Alles, was nicht 155

Gott ist, kann meine Sehnsucht nicht erfüllen. Gott selbst ist es, um den ich bitte und den ich suche". Vielleicht darf man sogar sagen: der Ort der innerlichsten Sammlung des Menschen, die Stelle, an der die Einigung mit Gott geschieht, ist Gott selber. Jedenfalls kommen manche Äußerungen mittelalterlicher Theologen in die Nähe eines solchen Gedankens. So etwa der Satz des Albertus Magnus: „Die ganze Seele ist mit allen ihren Kräften und Vermögen in ihren Herrn und Gott gesammelt, so daß sie mit ihm ein Geist wird und an nichts denkt als an Gott, nichts fühlt und erkennt als Gott". Oder die Worte Taulers, die er aus tiefster Erfahrung des Herzens schreibt: „Das inwendige Gebet heißt wahre Einigung mit Gott, des geschaffenen Geistes Verschmelzen und Versinken in den ungeschaffenen". Das will freilich nicht besagen, daß nun der Mensch im einigenden Gebet faktisch selber Gott würde. Das meinen weder Albertus noch Tauler. Auch in der innigsten Versenkung reißt die Kette der Endlichkeit nicht ab. Der Mensch bleibt selbst in der unmittelbaren Gegenwart Gottes im Herzen doch der, der er ist: der endliche, ohnmächtige, sterbliche Mensch. Und Gott bleibt selbst in den Augenblicken der Verschmelzung das Gegenüber des Menschen: der Unendliche gegenüber dem Endlichen, der Mächtige gegenüber dem Ohnmächtigen, der Ewige gegenüber dem Sterblichen. Echtes Gebet findet daher nur da statt, wo der Mensch sich des Abstandes zu dem bewußt ist, mit dem er im Gebet zusammenkommt. Zum rechten Gebet gehört die Demut. Und es gehört dazu das Wissen, daß das Gebet kein einfaches Einssein mit Gott ist, sondern ein Wechselgeschehen: Erhebung des Menschen und Herabneigung Gottes. Immer muß das Moment der Anbetung erhalten bleiben, soll das Gebet nicht zu der Hybris des Menschen werden, der sich als Gott selber dünkt; es ist ein Hin-zu, es ist Andacht als An-Denken, nämlich als Hin-Denken auf Gott zu. Das hat die Mystikerin Mechthild von Magdeburg in der Schlichtheit ihrer Sprache eindringlich ausgesprochen: „Das Gebet ziehet hernieder den großen Gott in ein klein Herze; es treibet die hungrige Seele hinauf zu dem vollen Gott." Wird das Gebet so begriffen, dann fällt jede Möglichkeit dahin, Gott zwingen zu wollen. Gerade daß der Mensch im Gebet in die Nähe Gottes gelangt, läßt diesem alle Macht und alle Initiative. Denn der Betende versteht sich in Wahrheit so, daß er die Wurzel seines Betens nicht in sich selbst trägt. Erfaßt er im versunkenen Gebet sein Gegenüber als die Macht schlechthin, vor der er in die Ohnmacht seiner kreatürlichen Nichtigkeit versinkt, dann weiß er: diese Macht ist mächtig vor allem menschlichen Tun und vor allem menschlichen Vermögen, auch vor der Möglichkeit, zu Gott zu gelangen. Betenkönnen wird möglich 156

durch Gott selber. Das ist in dem tiefen und rätselvollen Wort Pascals gemeint, wenn er Gott zu der Seele sprechen läßt: „Du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht schon gefunden hättest". Nur weil der Mensch von seinem Wesen her immer schon in der Nähe Gottes ist, oder, anders ausgedrückt, weil Gott immer schon in der Nähe des Menschen ist, nur deshalb kann der Mensch in die Gegenwart Gottes gelangen. Das Gebet, so versteht sich der Fromme, ist der Weg des Menschen zu Gott, und zugleich, tiefer und ursprünglicher noch, der Weg Gottes zum Menschen. So mag denn auch jener jüdische Gottesgelehrte recht haben, der den verwegenen Satz auszusprechen wagte: „Die Menschen meinen, sie beteten vor Gott. Aber das ist nicht so: das Gebet selber ist die Gottheit". Daher kommt es letztlich, daß jedes Wort, das der Mensch im Gebet aussprechen kann, immer schon von der Antwort Gottes überholt ist. Darum wird das Gebet, je innerlicher es wird, umso mehr ins Verstummen getrieben. J e tiefer die Sammlung wird, desto schwerer wird das Sprechen. Am Ende bleibt nur das Schweigen. Die Stille ist der Raum des wesenhaften Betens. Aber das sprachlose Gebet ist das eigentlichste und wahrste Gebet, und zwar darum, weil das Schweigen die wesentlichste der menschlichen Sprachen ist. So ist das Gebet, wie es Franz von Sales in der Paradoxie der tieferen Einsicht bezeichnet, „das Gespräch des Schweigens". Es hat kaum je ergreifender zum Wort gefunden als in dem schlichten Vers Tersteegens: „Nun kehr' ich ein; / Herr, rede du allein / beim tiefsten Stillesein / zu mir im Dunkeln".

157

Abschied vom Bild „Es ist das Schicksal des Menschen, das Metaphysische nur in Bildern ausdrücken zu können". Wer diesem Wort Eduard Sprangers 1 nachsinnt, wird den Grundton einer leisen Resignation nicht überhören können. Warum aber dieses „nur", in dem sich ein „wir wollten wohl, es gäbe mehr als das" verbirgt? Was hat es mit der Eingeschlossenheit des Menschen ins Bild auf sich? Vom

Wesen

des

Bildes

Doch zuvor: was ist ein „Bild"? Was ist sein einheitliches Wesen? Es gibt doch vielerlei Bilder: an den Wänden, in der Sprache, in unserem Vorstellen und Erkennen. Es gibt Urbilder, Vorbilder, Abbilder und Nachbilder. Es gibt Menschenbilder und Weltbilder. Es gibt Sinnbilder, Traumbilder, Erinnerungsbilder. Was ist das Bildhafte in diesen vielfältigen und vielartigen Bildern? Was konstituiert die Bildhaftigkeit des Bildes? Im weitesten Sinne ist das Bild der wesensmäßige Gegenstand eines Anschauens. Solches Anschauen kann sein: leibhaftes Anschauen, etwa eines Bildes im Museum; erinnerndes Anschauen, etwa des Bildes eines verstorbenen Freundes; rein geistiges Schauen, in dem Sinne, in dem wir von einem Weltbild oder von einem ethischen Vorbild sprechen. Bild in dieser Bedeutung, in der es schlechtweg dem Anschauen korrespondiert, ist alles, was sich zeigt: das Sich-zeigende überhaupt. Also nicht nur die Photographie und das Gemälde an der Wand; sondern auch das Bild, das ein Mensch oder eine Landschaft bietet; das Vorbild; das Bild, als das sich die Welt zeigt. Man kann, was der Ausdruck „Bild" meint, auch mit „Anblick" umschreiben: der Anblick, den etwas bietet oder gewährt. Vielleicht trifft es die Sache noch genauer, wenn man statt Anblick „Erscheinung" sagt. Photographie und Gemälde, Mensch und Landschaft, das Vorbildliche und die Welt erscheinen für ein Anschauen. Der weite Begriff des Bildes umgreift also alles, was Gegenstand eines Anschauens und damit Erscheinendes ist oder sein kann. Bildhaftigkeit bedeutet hier: sich darstellen für ein Anschauen, sich zeigen, Anblick bieten, Erscheinung sein. 1

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Gedanken zur Daseinsgestaltung, 1954, S. 172.

Davon ist ein engerer Bildbegriff zu unterscheiden. Das Gemälde an der Wand zeigt sich und zeigt darin zugleich auf ein anderes, als Anblick läßt es zugleich ein anderes erblicken, als Erscheinung bringt es zugleich ein anderes zum Erscheinen: das im Bilde Dargestellte. Als Beispiel diene das Bildnis Kaiser Karls V. von Tizian. Als Bild im weiteren Sinne des Wortes erscheint eine gemalte Gestalt vor einem roten Hintergrund. Aber durch dieses Nächsterscheinende hindurch erscheint zugleich ein anderes: jener Kaiser der Renaissance. Eben dieses doppelte Erscheinen konstituiert die Bildhaftigkeit dieses Bildes. Das Bild im engeren Sinne nun ist es, was wir eigentlich meinen, wenn wir von Bildern reden. In diese Richtung scheint auch die Grundbedeutung des Wortes „Bild" zu weisen, so wie es sich als „bilidi" erstmalig in Bibelübersetzungen und Glossen zu lateinischen Texten der karolingischen Zeit findet. So wird etwa das Wort Christi aus der Geschichte von der Fußwaschung: „exemplum dedi vobis", von Otfried mit „bilidi" übersetzt: die Handlung läßt etwas anderes erblicken. Entsprechend übersetzt der Heliand-Dichter das Wort „imago", mit dem der lateinische Text das Abbild des Kaisers auf der Münze bezeichnet, mit „bilidi", und ebenso werden in den zeitgenössischen Bibelübersetzungen die Gleichnisse Jesu bezeichnet. Überall deutet das Wort auf ein Erscheinendes, das in seinem Erscheinen ein anderes erscheinen läßt. Der engere Bildbegriff ist also offensichtlich auch der ursprüngliche. Das doppelte Erscheinen im Phänomen des Bildes im engeren Sinne läßt sich am ehesten unter dem Gesichtspunkt des „Verweisens" fassen. Das Bild verweist auf das, was in ihm erscheint. Es deutet auf etwas, be-deutet etwas. In solchem bedeutenden Verweisen konstituiert sich seine Bildhaftigkeit. Daher sagt Fichte, „daß ein Bild, als solches, schon seiner Natur nach, keine Selbständigkeit in sich hat, sondern auf ein Ursprüngliches außer ihm hinweist"2. Nun gibt es die verschiedenartigsten Verweisungen. Auch ein Wegweiser verweist: er weist in die Richtung, in die der rechte Weg führt. Doch ist charakteristisch, daß die Sprache dies eher als „Hinweisen" bezeichnet. Darin liegt, daß der Wegweiser von sich selbst wegweist; daher auch wird er in dem Augenblick, in dem die rechte Richtung erkannt ist, gleichgültig. Dieser Eindeutigkeit des Hinweisens gegenüber ist das bedeutende Verweisen des Bildes zweideutig, nämlich zweifach deutend. Das Bild ist kein Hinweis, der nur aus sich hinausweist. Es verweist zugleich auf sich selber und gibt sich darin als die Darstellung dessen kund, was in ihm erscheint. Das Gemälde Tizians weist nicht einfach auf den 2

Die Wissens chaftsl ehre von 1804; Werke, hrsg. v. Mediaus, IV, S. 219.

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Kaiser hin, so, daß es mit diesem Hinweisen seine Funktion erfüllt hätte und wir es nunmehr mit der Sache selber, dem Kaiser, unmittelbar zu tun hätten. Es bleibt, als Bild, ein unmittelbar Erscheinendes, und nur in ihm erscheint das Dargestellte. Doch gilt es, auch das andere festzuhalten: im Bilde kommt das Dargestellte zu seiner Erscheinung, wird es anwesend. Daher kann man, etwas überspitzt, sagen: das Bild „ist" der Kaiser, aber eben in einer besonderen Weise des Anwesendseins, nämlich im Bilde. Hier zeigt sich ein seltsam paradoxes Verhältnis des Bildes zu seinem Dargestellten. Mag das Gemälde den Kaiser auch noch so eindringlich vor Augen stellen, er ist doch nie und nimmer leibhaftig gegenwärtig. Und doch ist er im Bilde anwesend. Faßt man — zugestandenermaßen in terminologischer Willkür — das faktische Dasein als „Gegenwart" und diu Dasein überhaupt, also ζ. B. auch im Bilde, als „Anwesenheit", so wird die Paradoxie voll deutlich: das Bild ist die ungegenwärtige Anwesenheit der Sache selber. Dieses Verhältnis findet sich auch außerhalb der Ebene der Bilder. In einem Botschafter etwa ist das Land, das er vertritt, anwesend, obgleich de facto nicht gegenwärtig. Man nennt dies das Verhältnis der Repräsentation. In gleicher Weise „vertritt" auch das Bild sein Dargestelltes; es ist Repräsentation der ungegenwärtig anwesenden Sache. Allerdings: diese besondere Repräsentation geschieht in der Weise des Bildes, also des Gegenstandseins für ein Anschauen. Der Kaiser ist nicht in seiner leibhaftigen Wirklichkeit anwesend, sondern nur in dem, was an ihm dem Anschauen zugänglich ist. Es findet eine eigentümliche Übersetzung statt, in der die faktische Wirklichkeit in das Medium der reinen Anschaubarkeit aufgelöst und so verwandelt wird. Eben in dieser Verwandlung konstituiert sich die ungegenwärtige Anwesenheit im Bilde. Man könnte einwenden, die bisher gegebene Deutung des Bildes rede, soweit sie sich auf Kunstwerke bezieht, einer überholten Auffassung von Kunst das Wort, dergemäß die Aufgabe eines Bildes darin bestände, die faktische Wirklichkeit abzuschildern. Doch auch in der „ungegenständlichen" Kunst gibt es etwas, was im Bilde zur Erscheinung gelangt. Das Wandgemälde von Theodor Werner in der Berliner Musikakademie, ein abstraktes Bild im reinsten Sinne, schildert keine Wirklichkeit ab; aber auch hier gibt es etwas, worauf das Bild verweist und was ihm sein Bedeuten gibt; der Maler selber nennt es „Rhythmus und Klang". Diese sind ins Bild gebracht, aber wiederum nicht als solche (das Bild klingt nicht selber), sondern in jener Weise der ungegenwärtigen Anwesenheit als bildhafter Repräsentation. Das repräsentierende Vorstellen ist nicht auf den Bereich der Kunst beschränkt. Auch das photographische Bild weist repräsentierend auf 160

das Abgebildete. Auch die Begriffe des Vorbildes und des Urbildes bekommen von daher ihren Sinn. Das Vorbild repräsentiert in der Weise des anschaulichen Entwurfes, was im Wirklichen Gestalt gewinnen soll. DEIS Urbild repräsentiert und läßt gegenwärtig anwesend sein das Wesen dessen, was im Abbild faktische Wirklichkeit ist. Gleicherweise ist ein Weltbild die ungegenwärtige Anwesenheit der Welt in der Weise der Repräsentation. Überall also ist das Bild eine Verweisung, die in sich selber das, worauf sie verweist, dergestalt repräsentiert, daß sie es ungegenwärtig in der Anwesenheit hält. Mit all dem ist freilich das Phänomen des Bildes nicht voll begriffen. Doch lassen sich nunmehr seine wesentlichen Strukturmomente zusammenfassen. Bild im weiteren Sinne ist der wesensmäßige Gegenstand eines Anschauens, Sich-zeigendes, Anblick und Erscheinung. Im engeren und eigentlichen Sinne ist das Bild ein Erscheinendes, das zugleich ein anderes erscheinen läßt. Die Bildhaftigkeit des Bildes wird durch das Moment der bedeutenden Verweisung konstituiert, die sich im Anwesendseinlassen eines Ungegenwärtigen in der Repräsentation, als der Verwandlung in die reine Anschaubarkeit, vollzieht. Darin aber tritt eine im Wesen des Bildes liegende Spannung zutage, die sich vor allem in der Paradoxie des ungegenwärtigen Anwesendseins ausdrückt. Man kann sie auch als die Spannung von Nähe und Ferne bezeichnen. Auf der einen Seite stellt das Bild eine seltsame Nähe zu dem her, worauf es verweist. Die Photographie ruft den geliebten Menschen herbei; das Gemälde Tizians stellt den Kaiser vor Augen; das Bild Theodor Werners bringt Klang und Rhythmus in die Nähe. Und doch sind weder der geliebte Mensch noch der Kaiser noch Klang und Rhythmus selber als solche da. Nähe vermöge der in die Anwesenheit rufenden Repräsentation und Ferne der Ungegenwärtigkeit im bloßen Bildsein verschlingen sich im Wesen des Bildes. Von der M a c h t

des

Bildes

Bisher wurde ein wesentlicher Gesichtspunkt außer acht gelassen: daß die Bilder in einer Beziehung zum Dasein des Menschen stehen. Das klang zwar schon an, als das Bild als der wesensmäßige Gegenstand eines Anschauens bestimmt wurde. Die darin liegende Beziehung auf den Menschen muß aber nun eigens expliziert werden. Man könnte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß Bilder teils durch ausdrückliches Zutun des Menschen, teils ohne solches Zutun entstehen. Aber dieser Unterschied reicht nicht in die Tiefe. Auch das Bild, das sich mir unwillkürlich vor Augen stellt, etwa wenn mir ein« be11 Weis Aedel

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stimmte Wolkenbildung ein Gesicht zu repräsentieren scheint, ist doch ein Bild, das ich mir mache. Immer ist die menschliche Aktivität des Bildentwerfens mit im Spiel. Und nun ist wichtig, zu sehen, daß die Tätigkeit, in der wir uns Bilder machen, unser ganzes erkennendes Dasein durchherrscht. Mit Recht sagt Nicolai Hartmann, daß das Bild „ein notwendiger Wesensbestandteil der Erkenntnisrelation" 4 ist. Wir erblicken das Seiende immer in Bildern vom Seienden. Wir sehen die Welt stets in einem Bilde der Welt. Dem ist Kant tiefer nachgegangen. Die mannigfachen SinneseindrGcke können nicht zur Vorstellung eines Gegenstandes werden, es sei denn, sie werden in die Einheit eines Bildes gesammelt. Das geschieht durch die Einbildungskraft, die „das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild bringen" 4 kann, und ursprünglicher noch durch die transzendentale Einbildungskraft, die die Zeit als „das reine Bild . . . aller Gegenstände der Sinne . . . überhaupt" 5 bildet und eben darin Erfahrung möglich macht. Daß der Mensch darauf angewiesen ist, sich Bilder zu machen, will er die Welt erkennen, wird so von Kant aus dem Wesen des Menschen hergeleitet; denn die transzendentale Einbildungskraft ist „eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele"*. So nimmt es nicht wunder, daß das Bild auch in der grundlegenden Weise der Weltentdeckung, der Sprache, die bestimmende Rolle spielt. Sie ist in ihrem Ursprung Bildentwurf, ist, wie Herder es formuliert, aus dem „Metaphergeist" erwachsen. Diese Herkunft zeigt auch noch die entwickelte Sprache. „Daher", fährt Herder fort, „die starken und kühnen Metaphern in den Wurzeln der Worte" 7 . Das Durchdrungensein vom Bild setzt sich bis in die philosophische Sprache fort. Auch der Begriff trägt das Moment des Bildhaften in sich; er ist, wie Nietzsche sagt, „Residuum einer Metapher" 8 . Daher auch kommt es, daß die Seinsgedanken der großen Philosophen sich in ungeheuren Bildern niedergeschlagen haben: von Parmenides, dem das Sein im Bilde der wohlgerundeten Kugel erscheint, bis zu Heideggers Bild vom Sein als der Lichtung. Nimmt man hinzu, daß auch das Ganze der vom Menschen jeweils entdeckten Welt ihm immer als Bild vor Augen steht, und daß wir darum von „Welts

Metaphysik der Erkenntnis, 19494, S. 47, Kritik der reinen Vernunft, A 120; Werke, hrsg. v. Weischedel (im folgenden mit W W bezeichnet), II, S. 176. 8 a.a.O., Β 182; W W S. 190 f. • a.a.O., Β 180; W W S. 190. 7 Abhandlung über den Ursprung der Sprache; Werke, hrsg. v, Suphan, V, S. 71. 8 Uber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne; Kröners Taschenausgabe, Band 71, S. 613. 4

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bildern" reden, dann wird begreiflich, daß Hamann, zusammenfassend, sagen kann: ,,Ιη Bildern bestellt der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit"·. Denn nicht nur das Erkennen, sondern auch die Daseinsebene, in der es um Glückseligkeit geht, der Bereich des Handelns, ist durchherrscht von Bildern; was ich jeweils tun will, entwerfe ich mir zuvor im Bilde· Doch nicht nur das bewußte Tun ist vom Grunde her durch Bilder bestimmt; noch wirksamer sind im Dasein des Menschen die Bilder, die aus seinem Unbewußten heraufdrängen. Das hat schon Hegel gesehen, wenn er, selber ein lebendiges Bild gebrauchend, von den „im Schacht meiner Innerlichkeit schlafenden Bildern" 10 redet. Was hier noch auf das Individuum und seine vergessenen und doch bewahrten Bilder eingeschränkt wird, weitet sich bei C. G. Jung zum Gedanken der dem Menschen von Urzeiten her einwohnenden und ihn bestimmenden Bilder. Hier kommt in betontem Sinne zum Vorschein, daß das Ursprüngliche im Sein des Menschen das Haben von Bildern ist: „was die Seele gebiert", sind „Bilder" 11 . Sieht man auf die Breite und Tiefe, in der Bilder im Dasein des Menschen wirksam sind, so ist es nicht zuviel gesagt, wenn man von der „Macht der Bilder" redet. Sie sind Mächte im Alltag, etwa in der Gewalt, mit der eine Photographie einen geliebten Menschen in die Nähe rücken kann, so sehr, daß das Bild ebenso Verzückung wie Beklemmung hervorrufen kann. Als Mächte zeigen sich die Bilder weiterhin in der Propaganda, im Film, in den Illustrierten. Oder in religiösen und politischen Bildsymbolen: im Kreuz im Christentum, in der roten Fahne. Wieder in anderer Weise zeigt sich die Macht der Bilder in der Kunst. Bilder können trösten, aber sie können auch erschrecken. Und indem sie im Betrachter die Lust am Ertrinken im Anschauen erwecken, offenbaren sie ihre Kraft der Anziehung. Oder man denke an die Traumbilder und an die unheimliche Macht, mit der sie bis in den wachen Tag hinein den Menschen verfolgen. Oder an Zwangsvorstellungen. Oder an Beseligung und Grauen von Visionen. Und dann die Weltbilder und Menschenbilder. Sie sind ja nicht am Gelehrtenschreibtisch erklügelt. Sie sind Mächte, die über den Menschen hereinbrechen, so sehr, daß sie es vermögen, ihn in blutige Kämpfe zu verstricken. Oft hat es den Anschein, als sei gar nicht der Mensch ihrer mächtig, sondern als seien sie die Herren des Menschen, als handle es sich in den weltanschaulichen, religiösen und politischen AuseinanderAesthetics in nuce; Werke, hrsg. v. Nadler, II, S. 197. System der Philosophie, 3. Teil; Sämtl. Werke, hrsg. v. Glockner, X, S. 333. 1 1 Psychologische Betrachtungen, 1954, S. 45.

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Setzungen nicht so sehr um einen Kampf der Menschen untereinander, als vielmehr um einen Streit der Bilder im Menschen und um den Menschen. So kann man am Ende von einer Dämonie der Bilder sprechen. Denn das Dämonische ist das unfaßbar Mächtige, weit über menschliche Macht. Es ist, als stünde der Mensch ständig unter dem Ansturm von Mächten, die sich ins Bild tarnen. Das mag auch der Grund dafür sein, daß die alttestamentliche Religion die Bilder verbannte. Das Wort des Dekalogs: „Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen", ist der negative Ausdruck für die Erfahrung der Dämonie der Bilder, in denen sich Gottheit und Welt mächtig repräsentieren. Fragt man weiter, wie sich der Mensch im Angesicht der Dämonie der Bilder verhält, so zeigt sich ein merkwürdiger Tatbestand: das Ausstehen der Macht der Bilder geschieht vorzüglich im Entwerfen von Bildern. Das kann den Charakter der Flucht zu Bildern annehmen: ins Wunschbild, wie es Freud deutet, zum imago, wie es Jung ansieht. Daß aber der Mensch vor der Macht der Bilder zu Bildern flieht, das hat, so seltsam es anmuten mag, seinen tiefen Sinn. Eben weil sie mächtig sind, verheißen die Bilder Geborgenheit. Die mächtigen Bilder lassen sich durch mächtige Bilder beschwören. So ist denn auch der Mythos, unter diesem Gesichtspunkt verstanden, Bannung der verworrenen Gesichte der magischen Welt ins mächtige mythische Bild. So tragen auch die Weltbilder noch den paradoxen Doppelcharakter: daß sie das Bedrohende, Beängstigende und Rätselhafte der Welterscheinung ins deutliche Bild bringen und damit dem Menschen Beruhigung versprechen. Von daher lassen sich auch bildende Kunst und Dichtung in einem ihrer wesentlichen Aspekte verstehen. Auch sie sind Bannung des Dämonischen ins Bild, Befreiung von den übermächtigen Gesichten in die gestalteten Bilder. Das Schaffen des Künstlers und Dichters ist, so gesehen, die bildende Antwort auf die Herausforderung durch die Erscheinung der im Begriff unfaßbaren, mächtigen Tiefe des Daseins. So hat Goethe sein Dichten verstanden: „Ich suchte mich von diesem furchtbaren Wesen (dem inneren Dämon) auf meine Weise zu befreien, indem ich mich nach meiner Gewohnheit hinter ein Bild flüchtete." Den dämonisch mächtigen Bildern vermag also der Mensch eigene Bilder, als Weisen der Bemächtigung der Welt, als Vehikel der Freiheit, entgegenzuwerfen. V o m L e i d e n am B i l d Doch worin gründet die doppelte Macht der Bilder; sowohl die Macht, die sie von sich aus über den Menschen ausüben, wie jene entgegenstehende Macht, die es dem Menschen ermöglicht, im Bildentwerfen die 164

Macht der Bilder auszustehen? Liegt dieser Grund vielleicht im Wesen des Bildes selber beschlossen? Das Wesen des Bildes ist Verschlingung von Nähe und Ferne, ist die Paradoxie, daß im Repräsentieren ungegenwärtige Anwesenheit geschaffen wird. Das Wesen des Bildes ist die innere Zweideutigkeit. Daß es erscheint, und mit seinem Erscheinen auf ein anderes hinweist, das in ihm erscheint. Daß es ist, und doch nicht ist, sofern es als Verweisung die eigene Existenz negiert, auf sich verweist als auf das, was nicht selber ist, was es vorstellt. Und dieser Zweideutigkeit des Bildes entspricht die Zweideutigkeit der in ihm repräsentierten Sache. Sie ist anwesend, aber ungegenwärtig. Sie ist anwesend, aber ohne Gewicht und Gewalt, ohne Last und Verpflichtung der gegenwärtigen Wirklichkeit. Sie ist anwesend in der Weise der Unwirklichkeit. Sie ist anwesend — um es nun mit einem Worte zu bezeichnen — in der Weise des Scheins. Die Macht der Bilder — der den Menschen bedrängenden wie der von ihm entworfenen — ist die Macht des Scheins. Weshalb aber kann der Schein solche Macht über den Menschen ausüben? Und wie kommt es, daß dieser dem mächtigen Schein selber Scheinhaftes entgegensetzt und so, wie Kierkegaard sagt, „dichtet, statt zu sein" 12 ? Beides gründet in der Zweideutigkeit des Scheins: daß er ist und nicht ist, daß er zwischen Sein und Nichtsein schwebt. Das gibt dem Schein den Zauber der Verführung. Und dies darum, weil es den Menschen nach dem Schein lüstet, weil er weder Sein noch Nichtsein erträgt, weil er selber ein Wesen des Scheins ist. Bilder sind darum so mächtig über den Menschen, weil sie den Schein geben, unter Enthebung von der Härte des Wirklichen. Gerade ihre Gebrochenheit in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit, ihre ontologische Schwäche, gibt ihnen ihre eigentümliche Macht: daß sie die Nähe bringen, aber so, daß sie doch im Letzten die Gefahr der Nähe vermeiden. So geschieht es, daß der Mensch sich vom mächtigen Schein willig gefangennehmen läßt, und daß er, wo er sich ihm, geängstet, entgegenstellt, nur wieder neuen Schein erzeugt. Der Schein verzaubert den Menschen, und dieser bildet, um der Verzauberung zu entgehen, seinerseits verzaubernden Schein. Er ist der Sklave des Scheins. Auch und gerade in seiner Kunst. Das aber ist nicht Willkür des Menschen. Daß dieser ein Wesen des Scheins ist, entspringt seinem Wesen. Er existiert vom Grunde seines Wesens her in der Ferne zur Wahrheit. Die Wahrheit ist ihm nur im Scheine nahe. Die Wahrheit erscheint, aber indem sie erscheint, verbirgt sie sich zugleich in ihr Erscheinen. Das hat Kant schmerzhaft em12

Die Krankheit zum Tode; Schriften, hr»g. v. Diem u. Rest, S. 109.

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pfunden: zwischen uns und die Dinge an eich selber drängt sich ständig das Bild; wir sind unentrinnbar in die Grenzen des bildhaften Vorstellens eingefangen. So nennt denn auch Nietzsche die Wahrheit „ein bewegliches Heer von Metaphern"1*. Wahrheit ist wohl Unverborgenheit, aber als solche bezogen auf die Möglichkeiten des Menschen, sie zu erlassen, und damit nur durch den Schleier der Bilder hindurch sichtbar. Am Ende ist es so, wie es Fichte als die Sicht des absoluten Idealismus darstellt: „Es ist kein Sein . . . Bilder sind: sie sind das Einzige, was da ist . . . — Bilder, die vorüberschweben, ohne daß etwas sei, dem sie vorfiberschweben; die durch Bilder von den Bildern zusammenhängen, Bilder, ohne etwas in ihnen Abgebildetes . . . Ich selbst bin eins dieser Bilder; ja, ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern. Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, dem da träumt; in einen Traum, der in einem Traume von sich selbst zusammenhängt."" Vielleicht sollte es dem Menschen genügen, dies einzusehen. Vielleicht sollte er, wie Goethe, hier haltmachen: „Und deines Geistes höchster Feuerflug / hat schon am Gleichnis, hat am Bild genug." Und doch: wenn es dem Menschen um die Wahrheit selber geht, dann muB das Eingebanntsein in den Schein und in das Bild sich ihm in das Leiden am Schein und am Bild verwandeln. Das ist die Grundstimmung des Metaphysikers. Er drängt über die Bilder hinaus zum Absoluten selber. Aber wie er sich unentrinnbar ins Bildhafte eingeschlossen sieht, reibt er sich an der Wand des Scheins wund. Aus diesem Leiden am Schein kommt die tiefe Schwermut, die den Metaphysiker auszeichnet, und die sich etwa in den Worten Fichtes ausspricht: „Die Seligkeit" besteht „in der Vereinigung mit Gott, als dem Einen und Absoluten. Wir aber sind in unserm unaustilgbaren Wesen nur Wissen, Bild und Vorstellung; und selbst in jenem Zusammenfallen mit dem Einen kann jene unsere Grundform nicht verschwinden".15 „Immer verdeckt unser Sehen selbst uns den Gegenstand, und unser Auge selbst steht unserm Auge im Wege." 1 · Aus dieser metaphysischen Schwermut erwachsen die verzweifelten Bemühungen der Philosophen und Mystiker, hinter das Bild zurück und zu der bildlosen Wahrheit selber zu gelangen. Ihnen genügt es nicht, Gott in den Spuren, die er in seiner Schöpfung hinterlassen hat, oder in dem a.a.O., S. 611. Die Bestimmung des Menschen; Werke, hrsg. v. Medicus, III, S. 341. 15 Die Anweisung zum seligen Leben; a.a.O., V, S. 173, " a.a.O., S. 183. 18 14

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Bilde, das er dem Sein des Menschen eingeprägt hat, zu erfassen; weder Thomas noch Bonaventura können sich bei den vestigia und den imagines beruhigen. Was hier in der Tiefe der Kontemplation gesucht wird, darum geht es auch den „Bilderstürmern" aller Zeiten. Sie wollen das Verdeckende beiseite räumen, um die Wahrheit selber ergreifen zu können. Doch ihre Mühe scheitert, und sie muß scheitern. Was sich im Zerbrechen der Bilder zeigt, ist nur die Leere; das Heilige als die ständige Anwesenheit Gottes verschwindet ineins mit den Bildern. Tiefer noch reicht die Erfahrung der Mystiker und Philosophen. Thomas zwar bescheidet sich: unmittelbares Erschauen Gottes ist nur im Jenseits möglich. Aber Bonaventura müht sich, das bildlose Erblicken Gottes bereits im Diesseits zu erlangen, und die eigentlichen Mystiker unter den Philosophen gehen den gleichen Weg. Aber auch sie kommen nicht ans Ziel. Was sich jenseits der Bilder zeigt, ist nicht Gott in seinem Sein, sondern Gott als das Nichts. Zeichen dessen ist, daß im tiefsten Akt der Kontemplation auch das Wort versagt. Wenn es um das Erblicken der Gottheit selber, ohne Bild und jenseits der Bilder, geht, zeigt sich: hier gibt es kein Erblicken mehr, weil das höchste Licht, das der Mystiker sucht, in Wahrheit das tiefste Dunkel ist. Denn, sagt Eckhart, „das letzte Ende des Wesens ist die Finsternis oder die Unerkennbarkeit der verborgenen Gottheit". 17 Das Absolute erscheint im Bilde, aber es ist nicht in seinem Insichsein ins Bild zu bringen. Der Preis für den Versuch, ihm in der Bildlosigkeit zu begegnen, ist das Verdämmern des Tages, ist die Nacht. Hier mag der metaphysische Gedanke weiterspinnen. Vielleicht gehört es zum Wesen der Gottheit, daß sie sich nicht anders als im Bilde offenbart. Vielleicht enthüllt hier auch der Gedanke der Inkarnation seine innere Notwendigkeit. Vielleicht ist es so, wie Heidegger es ausdrückt, daß das Sein selber, indem es als Entbergung waltet, zugleich von Verbergung durchzogen ist. Das aber heißt doch, daß wir unentrinnbar in die Bildhaftigkeit eingeschlossen sind, daß der Mensch, auch wo er sich aufs äußerste bemüht, den Ring der Bilder zu durchstoßen, doch dem Scheine verhaftet bleibt. Von d e r Ü b e r w i n d u n g

des

Bildes

Ist das aber das letzte? Müssen wir uns daran genügen, mit Goethe zu sagen: „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben"? Aber hieße das nicht, auf die Wahrheit selber, die nicht mehr nur im Bilde erscheinende, « Vgl. Die deutschen Werke, hrsg. v. Quint, I, S. 252 f. 167

zu verzichten? Doch es bleibt: wir können, aus unserem Wesen heraus, die Mauer der Bilder nicht übersteigen. Gibt es aber nicht doch einen Weg, dem zu entgehen, durch sie endgültig in die Unwahrheit u n d in den Schein gefangen zu sein? Wie, wenn es darauf ankäme, unser Verhältnis zu den Bildern von Grund auf zu ändern? Vielleicht haften wir noch zu sehr tun Anblick der Bilder selber; schauen an, was sie repräsentieren, und nehmen das Repräsentierte als solches für die Wahrheit. Vielleicht müssen wir statt dessen versuchen, mit der Bildhaftigkeit der Bilder Ernst zu machen, inniger als bisher das Bild als Bild zu begreifen: daß sein Wesen darin besteht zu verweisen; das es Gleichnis ist; daß Bilder transparent sind. Vielleicht könnte vor solchem Blick auf die Bilder das aufleuchten, was durch ihre Transparenz hindurchscheint. Das Bild müßte in seinem Eigentümlichsten gesehen werden: daß es nicht sich selber setzt, sondern verweist. So wie Meister Eckhart es ausdrückt: „Das Bild ist nicht sein selber . . . Es hat allein ein Zuhangen und Zuhaften an dem, dessen Bild es ist." 18 Vielleicht führt hier der Begriff des Symbols weiter. Das Symbol unterscheidet sich vom Zeichen, das von sich selber wegweist, dadurch, daß die Sache, auf die es verweist, in ihm anwesend ist. Aber zugleich gehört zu ihm, daß es nicht ein Bildbares abbildet, sondern auf das verweist, was wesensmäßig nicht als solches Bild werden kann. Das Symbol ist die sichtbare Repräsentanz eines Unsichtbaren, die „lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen", wie Goethe sagt. Wird das Bild als Symbol verstanden, dann verschwindet seine dichte Aufdringlichkeit; es ist der Weg, auf dem das Endliche als Transparenz des Unendlichen ergriffen werden kann. Es kommt also gerade nicht darauf an, zu den Bildern zurückzukehren, so wie es Klages und Jung fordern. Nicht um eine Umkehr zur mythischen Existenz, in der das Bild die unüberwindliche Macht ist, k a n n es sich handeln, sondern es geht um die leise Auflösung der Bilder ins weisende Symbol. Wenn wir das begreifen, könnte es vielleicht geschehen, daß wir über den Bann der Bilder hinauskämen. Sie behielten zwar ihre Unhintergehbarkeit, und wir blieben in sie eingeschlossen; aber sie w ä r e n doch, eben in ihrem Symbolcharakter, W e g e zum Absoluten. Wenn nicht alle Zeichen trügen, ist etwas dergleichen heute im Gange. Mehr denn je ist in unserer Zeit die Bilderwelt in Zerfall geraten. „Entbildet sind die Bilder", sagt Werfel. Und Rilke verkündet in den 19

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a.a.O., S. 269.

„Duineser Elegien" als den Auftrag der Erde, das Sichtbare ins Unsichtbare zu verwandeln. Ähnlich steht es mit der gegenwärtigen Kunst. Die Bilder, so wie sie bisher verstanden wurden, sind zerbrochen. Aber damit ist eine neue Weise des Bildseins aufgegangen, in der die Bilder nicht ein Abgebildetes erscheinen lassen, sondern auf das verweisen, was in ihnen und durch sie erspürt werden kann. Sie selber verweigern den Aufenthalt bei ihnen und sind so das reine Unterwegs zu dem, worauf sie deuten. Diesem Verweisen der Bilder nachzugehen, ist eine der vornehmsten Aufgaben der Metaphysik, aber einer Metaphysik in einem neuen Sinne. Das hat ebenso im Betrachten der Kunst zu geschehen, wie im Achten auf die Sprache und ihre Bilder. Aber auch im Anschauen der Bilder, die sich uns unmittelbar zeigen; auch das Bild, das ein Baum bietet, kann zum Symbol werden. Diese Metaphysik ist nicht mehr Metaphysik der erscheinenden Ideen. Denn die Bilder sind ihr nicht mehr Symbole für gestalthafte Urbilder, sondern für die bildlose Tiefe des Absoluten. Aber sie ist auch nicht Metaphysik des Seinsursprunges. Die Weise, in der das Absolute Grund ist, ist nicht kausale Verursachung, sondern sich verhüllende Erscheinung. Solange diese neue Metaphysik aber noch an den Bildern und ihren Verweisungen haftet, hat sie noch nicht ihre letzte Tiefe erreicht. Denn dann berührt sie das bildlose Absolute doch immer nur im Bilde. Darum steht die Kunst im Vorhof der Wahrheit. Eine radikale Metaphysik, als entschlossener Wille zum bildlosen Absoluten, muß auch die Kunst hinter sich lassen; das Leiden am Bild zwingt ihr diesen Schmerz der Trennung auf. Das aber heißt: sie muß den Bildern überhaupt entsagen. Daher ist die metaphysische Erfahrung in ihrer eigentlichen Tiefe nicht Anschauung, auch nicht die intellektuelle Anschauung Schellings, sondern das Berühren des Absoluten, oder vielmehr: das Berührtwerden vom Absoluten. W e r diesen Weg einschlägt, riskiert freilich, daß das dem Absoluten geöffnete Auge so geblendet wird, daß es die Kraft des Sehens verliert. Aber es bleibt die Frage, ob nicht das Schließen des Auges inniger in die Nähe des Absoluten kommt, als das Anschauen im Bilde, in dem sich Nähe und Ferne so wunderlich verschlingen. Und wenn das Ende der metaphysischen Erfahrung die Nacht ist, dann fragt sich zuletzt, ob nicht die Nacht — die Zeit des Angerührtwerdens — tiefer ist, als der Tag.

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III

Die Musen in unserer Welt Stellen wir uns für einen Augenblick vor, wir befänden uns nicht in Berlin, sondern in Athen, und es wäre nicht das Jahr 1957, sondern irgendein Jahr lange vor Christi Geburt. Denken wir uns weiter, dort und damals hätte bereits die löbliche Gewohnheit bestanden, alljährlich eine Musische Woche zu veranstalten. Wie würde wohl der, dem die Aufgabe zugefallen wäre, zur Eröffnung dieser Woche zu sprechen, seine Rede beginnen? Schwerlich anders als so, daß er erst einmal die Musen anriefe und ihren Beistand erflehte. So taten ja auch die Dichter der Alten, ehe sie von dem redeten, was sie zu sagen hatten; etwa Homer, dessen Odyssee anfängt: „Nenne mir, Muse, den M a n n . . . " Wollte ich freilich heute, im Jahre 1957, so oder ähnlich beginnen, so müßte das absonderlich wirken. Man würde mit Recht sagen: ein so archaisches Gewand steht einer Musischen Woche schlecht zu Gesicht. Ein Musenanruf paßt nicht mehr in unsere Welt. Doch damit stehen wir bereits vor der Frage, die in dem Thema „Die Musen in unserer Welt" gestellt ist: wie kommt es, daß wir zwar Musische Wochen feiern, daß wir uns aber scheuen, die Musen, die diesen doch den Namen gegeben haben, eigens in unsere Welt hereinzuholen? Liegt es etwa daran, daß die Musen und unsere Welt zwei unvereinbare Dinge sind? Doch um das zu entscheiden, müssen wir erst einmal zusehen, was es mit beiden auf sich hat. So sei denn zunächst nach dem Wesen der Musen gefragt, sodann nach dem, was unserer gegenwärtigen Welt das Gepräge gibt, und schließlich, ob es bei der Unvereinbarkeit der beiden sein Bewenden haben muß.

Was

die Musen

sind

Was die Musen sind, wissen wir von der Schule her: göttliche Wesen, nicht ganz so hoch gestellt wie die hehren Götter des Olymp, aber immerhin noch weit erhaben über die Sterblichen. Ihre Herkunft freilich ist ein wenig dubios. Das betrifft nicht so sehr ihre Mutter, Mnemosyne, die Göttin des Gedenkens und der Erinnerung. Aber der Vater ist Zeus, und er hat — um mit Mnemosyne die Musen zu zeugen — wieder einmal 173

seine legitime Gattin vergessen. Wir wissen weiter, daß die Alten neun Musen verehrten, und daß sie, wenigstens in späterer Zeit, jeder von ihnen ein bestimmtes Gebiet zuwiesen: der Kalliope das Epos, der Melpomene die Tragödie, der Thalia die Komödie, der Euterpe die Flötenmusik, usw. Wir wissen das aus der Schule, sagte ich. In der Tat sind die neun Musen ein Bestandteil unserer Bildung. So, als Bildungselement, finden wir ihre Bilder in den Museen, die ihrerseits den Musen ihren Namen verdanken, oder in den Foyers der Theater, die man gelegentlich, wenn man sich zum Pathos der gehobenen Sprache versteigt, Musentempel zu nennen pflegt. Wer besonders gebildet ist, wird vielleicht, wenn er das Wort „Musik" hört, daran denken, daß diese Kunstart in vorzüglichem Sinne den Musen geweiht war. So könnte es eine hübsche Arabeske, ein festlicher Schnörkel an der Eröffnungsfeier einer Musischen Woche sein, wenn man eigens dieses Stück Bildung hervorholte und an die Musen erinnerte. Und doch läßt sich dabei ein Gefühl des Unbehagens nicht unterdrücken. Denn der Anruf der Musen hätte jener imaginären Musischen Woche im alten Athen zweifellos eine viel gewichtigere Introduktion gegeben, als es eine rhetorische Floskel am Eingang einer Festrede vermag. Mit der Herbeirufung der Musen stellten die Griechen ihre Kunstausübung in einen umfassenderen und tieferen Zusammenhang. Sie waren in allem Ernste der Überzeugung, wo Kunstwerke entstünden — Dichtung, Architektur, Plastik, Malerei, Musik, Tanz —, sei es letztlich nicht der Mensch, der sie hervorbringe, sondern die Gottheit. Der Künstler, der Dichter schaffe nicht aus eigener Vollmacht; er antworte mit seinem Tun dem, was die Musen ihm zusprechen; ja er sei, genau genommen, nur das Sprachrohr dieser Gottheiten. Die Musen sind für die Griechen die eigentlich Hervorbringenden in der Geburt der Kunstwerke. Daher ruft Homer zu Beginn der Odyssee die Muse herbei, damit s i e — und nicht er, der Sänger — von den Irrfahrten des vielgewandten Helden erzähle. Daher spricht Sophokles von der Muse als der wahren Bauherrin, und Hesiod bekennt, es seien die Musen, die ihm eine „göttlich redende Stimme" eingehaucht haben. Praxiteles schließlich, der Bildhauer, wird nicht als der aus eigenem Auftrag Schaffende bezeichnet, sondern bloß als der „Helfer der Musen". Diese Auffassung vom göttlichen Gewirktsein des menschlichen Tuns beschränkt sich für die Griechen nicht auf den Bereich der Künste in dem engeren Sinne, in dem wir dieses Wort heute verwenden. Überall, wo der Mensch schafft, vermag er das in rechter Weise nur durch den Beistand der Musen und als deren ausführendes Organ. Auch die Philo174

sophie kann, wie Piaton sagt, nicht ohne die Musen die Wahrheit aussprechen; ja, er nennt die Philosophie sogar die wahre Musenkunst. Das Gleiche gilt von den Philologen; in Alexandria schlossen sie sich um ein Musenheiligtum zusammen. Auch von den Erziehern wird berichtet, daß sie, wenn sie ihr W e r k taten, den Musen opferten. J a sogar Staatsmänner bedürfen der Hilfe der Musen; Kalliope, sagt Hesiod, stehe „den ehrwürdigen Königen zur Seite". Um aber von den Herrschern zu den eigentlichen Regenten der Welt fiberzugehen: auch das „Volk der Frauen", sagt Euripides, ist „nicht musenlos". Das also sind die Musen ffir die Griechen: die wahren Schaffenden im Schaffen des Menschen. Und sie sind es als göttliche Wesen. Das besagt: wo etwas aus der Hand des Menschen hervorgeht, ist es eigentlich und wesentlich von der Gottheit hervorgebracht. Im Tun des Menschen und vorzüglich in seinem künstlerischen Tun waltet und wirkt die Gottheit. M a n wird das in seinem ganzen Gewicht nur verstehen, wenn man es im Rahmen der gesamten Weltsicht der Griechen betrachtet. So jedenfalls stellt es der Nestor der klassischen Altertumswissenschaft, Walter F. Otto, in einem eigens der Frage nach den Musen gewidmeten Buche 1 dar. D a wird mit der Eindringlichkeit, in der dieser Meister seiner Wissenschaft das Wesen des Griechentums begriffen hat, gezeigt, was die Verehrung der Musen, dieser „Inbegriff der altgriechischen Religion und Weltanschauung", bedeutet. Die Musen sind Göttinnen; denn das Singen und Sagen, also Dichtung und Kunst, sind „ein göttliches Geschäft, ursprünglich und eigentlich nur von einer Gottheit zu vollbringen". W a s aber sind die Götter für die Griechen? Otto deutet sie als die Repräsent a n t e n des Seins und des Sinnes der Welt, und zwar in den vielfältigen Aspekten, in denen sich Sein und Sinn der Welt dem Menschen offenbaren. So wie der Aspekt des Liebenswerten in Aphrodite, der Aspekt des Herrscherlichen in Zeus erscheint, so in den Musen derjenige Aspekt der Welt, den sie zeigt, wenn sie sich im Singen und Sagen und überhaupt im Schaffen des Menschen kundtut. Dichtung und Kunst sind so „das Olfenbarwerden des Seins der Dinge", „eine göttliche Offenbarung, die es mit seinem Wesen und seiner Herrlichkeit zutage treten läßt". So w i e ja auch Homer von den Musen sagt: „Ihr w ä r e t bei allem dabei und wißt es." Wenn also die Griechen ihr Schaffen auf die Wirksamkeit der Musen zurückführen, so wollen sie damit sagen: Dichtung und Kunst sind Erscheinungen des Seins der Welt, und die Welt ist in ihrer Tiefe göttlichen Wesens. Von daher gewinnt das Tun des Menschen seine tiefere Rechtferti1 Die Musen und der göttliche Ursprung des Singens und Sagens, 1954. Die im Text angeführten Zitate entstammen zumeist diesem Buch.

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gung. Die Musen und ihr Singen und Sagen stehen nicht als schöner Üb er fluß und entbehrliche Zutat am Rande des Daseins; sie gehören notwendig zum Ganzen des göttlichen Seins der Welt. Diese wäre nicht vollendet, gäbe es in ihr nicht auch dies, daß, was wirklich ist, in Dichtung und Kunst ausgesagt und dargestellt wird. Singen und Sagen gehören „zur ewigen Ordnung des Seins der Welt . . . , das erst in ihm (diesem Singen und Sagen) sich vollendet". „Die Dinge und ihre Herrlichkeit m ü s s e n ausgesagt werden, das ist die Erfüllung ihres Seins." So auch können und müssen, im Blick auf die Musen, die Dichter und Künstler ihr Tun als Vollzug eines göttlichen Auftrages verstehen. Und so ist das Musische keine bloße Arabeske, sondern eine der wesenhaften Aufgaben des Menschen, Erfüllung eines Anspruchs, den die Gottheit an ihn stellt: daß er das Sein der Welt ins Bild, in die Sprache, in den Ton bringe. Was

unsere

Welt

ist

Doch Weis nutzt es, sich dieses schöne und bezaubernde Bild der Musenverehrung vor Augen zu stellen? Jene Zeit des Griechentums war zweifellos eine hohe Zeit der Menschheit. Aber sie ist unwiederbringlich dahin. Seit dem Einbruch des Christentums in die Antike ist es nicht mehr möglich, so ohne weiteres die Welt als göttlich gefügt und durchwaltet zu erblicken. Durch das Dasein geht ein Riß, und die Gottheit erscheint dem Menschen nicht mehr unmittelbar in den Weltgestalten und in den Kunstwerken, sondern, wenn sie überhaupt noch in den Weltdingen sichtbar wird, dann höchstens — christlich verstanden — in den kaum merklichen Spuren ihres Geschaffenseins. Wenn das Musische aber so seine Verbindung mit den Musen verliert, wenn die Kunst ihres Aufenthaltes im Bereich der Gottheit und der göttlich durchwalteten Welt beraubt wird, dann muß sie schließlich in die Heimatlosigkeit geraten, in der sie sich heute weiß. Die Kunst, nicht mehr verstanden als Tun der Gottheit und als Aussprache des göttlichen Weltsinnes, büßt ihr wahres, ihr „musisches" Wesen ein; die Welt wird amusisch. So hat es schon im Beginn des Christentums der Geschichtsschreiber Zosimos gesehen. Er schildert, wie beim Brand Konstantinopels im Jahre 404, den der Aufstand des Bischofs Johannes verursacht hatte, auch die Statuen der Musen untergingen, und er fügt hinzu, das sei „eine deutliche Anzeige der über alle Menschen kommenden amousia", also eben des Unmusischwerdens. Das christliche Mittelalter hat dann freilich die Kunst neu gedeutet: als Lobpreis Gottes. Doch im Zuge der Neuzeit verblaßt auch diese Möglichkeit; unsere Welt wird immer mehr zu der ernüchterten und ent176

götterten Welt, in der wir heute leben. Mit den Göttern und dem Gotte aber sind auch die Musen immer weiter aus unserer Welt entflohen und immer tiefer vergessen worden. Was kann denn auch der Gedanke eines Erscheinens der göttlichen Tiefe der Welt in den Kunstwerken und Dichtungen in einer Zeit bedeuten, die keine Zeit hat, auf solche Erscheinungen zu achten? Wir sind in den Betrieb des Tages eingespannt, und dies über die Maßen, fast ohne die Möglichkeit der Muße, in der allein das Tiefere erfahren werden kann. Seit dem Beginn der Neuzeit hat sich der Mensch in wachsendem Maße das Gebot der Genesis, sich die Erde Untertan zu machen, zueigen gemacht. Aber während er darin anfangs noch einen göttlichen Auftrag sah, ist er im Gange der Jahrhunderte immer mehr dazu gekommen, zu meinen, in eigener Vollmacht die Aufgabe der Beherrschung der Erde erfüllen zu können. Und heute träumt er davon, sich zum Usurpator des Weltalls aufzuschwingen. Damit aber hat sich die Haltung des Menschen zu seiner Welt grundlegend verändert. Es geht nun nicht mehr, wie bei den Griechen, darum, den Reichtum der Weltgestalten im schauenden Auge einzufangen; das vorherrschende Vermögen wird der Verstand im Sinne des planenden Berechnens möglicher Wirkungen. Die Welt ist nicht mehr der Ort, an dem etwas Tieferes erscheint, und die Dinge sind nicht mehr das Seiende, in dem dieses Tiefere sichtbar wird. Die Welt ist ein Gefüge von Kausalzusammenhängen, und die Dinge sind Mittel zu den menschlichen Zwecken, die letztlich auf Weltbeherrschung ausgehen. Die Begriffe Erscheinung und Schauen haben den Begriffen Mittel und Verstand Platz gemacht. Und mehr noch: Die Entdeckung, wie weit man auf dem Wege der rationalen Weltbemächtigung kommen kann, hat den Menschen immer mehr in den Taumel des Fortschrittsgedankens hineingerissen. Noch im 18. Jahrhundert sprach man vorab von einem Fortschritt im Moralischen und Geistigen, ja von einem Fortschritt in den Künsten; Voltaire war der große Künder dieses Gedankens. Aber seitdem hat sich die Idee des Fortschritts immer eindeutiger auf das Gebiet der Technik verlegt. Wir sind zwar heute, wenigstens theoretisch, recht skeptisch gegen die Fortschrittsidee geworden; die Ereignisse der letzten Jahrzehnte haben vielen von uns die Augen geöffnet Aber wer könnte sich im alltäglichen Leben der Faszination des Fortschritts entziehen? Wer bewunderte nicht, was der Mensch zu schaffen imstande ist, wer staunte nicht über den Erdsatelliten, der ja auch wirklich ein bewundernswertes Ding ist? So geschieht es, daß auch die, die an der Fortschrittsidee grundsätzlich zweifeln, sich am technischen Fortschritt berauschen. Damit aber preisen sie insgeheim die souveräne Macht des Menschen.

12 Weischedel

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Wo aber soll in einem solchen Denken und in einer solchen Zeit jene rührende Vorstellung der Griechen von den Musen, den eigentlich Schaffenden im Tun des Menschen, noch ihren Ort finden? Denn eine Muse des technischen Fortschrittes — das ist doch offensichtlich ein undenkbarer Gedanke. Ich will nicht das prunkvolle, freilich auch ein wenig abgeblaßte Gewand des Kulturkritikers anlegen, der den Verlust der schönen Vergangenheit beklagt und sich in ohnmächtiger Sehnsucht zu ihr zurückwendet. Es liegt vielmehr alles daran, daß wir sehen, wie es mit unserer Zeit steht. Eine Flucht in die Vergangenheit kann uns nicht helfen. Das Gewesene ist unwiederbringlich, und der Geist der Griechen steht nicht wieder auf. Viel eher gilt es zu bedenken, ob es nicht das unvermeidliche Schicksal ist, das uns die Geschichte auferlegt hat: daß wir zwar noch Musische Wochen feiern können, daß aber dieses unser Tun seltsam gespenstisch geworden ist, weil die Musen in unserer verwandelten, unmusisch gewordenen Welt keinen Platz mehr finden. Vielleicht ist es wirklich an dem, was Hegel vor mehr als hundert Jahren ausgesprochen hat, und was Heidegger an entscheidender Stelle zitiert: „Die Kunst ist nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes." Hegel war einer der wissendsten Geister unter den Philosophen; man wird darum gut tun, sich einen Augenblick der Härte dieses Wortes auszusetzen. Vielleicht also gibt es auf die im Thema gestellte Frage nach den Musen in unserer Welt nur die eine Antwort: die Musen sind nicht mehr da in unserer Welt — nicht mehr wesentlich da; sie sind nur noch ein schöner, aber letztlich entbehrlicher Zierat. Die Musen heute Muß es dabei sein Bewenden haben? Irgend etwas in uns sträubt sich doch offenbar dagegen, nun entschlossen auf das Musische und auf die Kunst zu verzichten, darum, weil unsere ernüchterte Welt ihnen keinen Ort mehr bietet. Irgendwie will uns die Welt verödet erscheinen, wenn wir uns vorstellen, es gäbe in ihr nichts mehr von dem, was als Dichtung und bildende Kunst und Musik auch jetzt noch, wenn auch seltsam unbezogen auf unser sonstiges Dasein, uns anrührt. Doch die Unbestimmtheit solchen Redens von einem „irgend etwas" und einem „irgendwie" legt den Verdacht nahe, es handle sich eben doch nur um eine ästhetische Träumerei, geboren aus der Blindheit für die Erfordernisse des gegenwärtigen Tages. Will man sich darüber klarwerden, so muß man fragen, was uns denn eigentlich fehlen würde, wenn unser Dasein radikal unmusisch würde — 178

wie es ja eines Tages geschehen könnte, wenn auch der so zweifelhafte Rest des Musischen, in dem wir selbst heute noch leben, unterginge. Das aber ist nichts anderes als die Frage, was uns denn die Kunstwerke bedeuten, uns, die wir inmitten der technischen und rationalen Welt der Gegenwart doch nicht auf sie verzichten möchten. Das ist nun freilich ein weites Gebiet, und es kann nur weniges angedeutet werden. Den Ausgangspunkt soll eine schlichte Beobachtung bilden, die zwar geringfügig erscheinen mag, in der jedoch wie im Keime alles Weitere enthalten ist. Versetzen wir uns in eine Situation, in der wir einem Bilde gegenüberstehen, in der Aufmerksamkeit nicht des Kunstgelehrten oder des Ästheten, sondern dessen, der sich von dem Bilde etwas sagen lassen will, also in jener gesammelten Bereitschaft, in der wir von dem Bilde angezogen oder, wie die Sprache treffend sagt, „gefesselt" werden. In einem solchen Augenblicke geschieht etwas Merkwürdiges mit uns. Es ist, als würden wir im Anschauen aus unserer Welt hinausgerückt, ja oftmals recht eigentlich hinausgerissen. Das besagt: wir sind im Umgang mit den Bildern anderswo als in unserer gewohnten Welt, anderswo gerade auch als in jener Welt des Verstandes, der Zwecke und der Technik, die uns sonst umgibt und bestimmt. Eine Bestätigung dessen mag sein, daß uns unsere Welt, wenn wir aus einem solchen Anschauen in sie zurückkehren, fremd erscheinen will. Gesetzt nun, man dürfe diese Erfahrung verallgemeinern, und es geschähe nicht nur dem einen oder anderen Betrachter etwas dergleichen, sondern das gehörte mit zum rechten Anschauen von Bildern, dann erhebt sich die weitere Frage, was denn jenes „anderswo" ist, zu dem hin wir entrückt werden. Sicherlich nicht einfach ein Ort außerhalb der Welt; denn das Kunstwerk bleibt in der Welt, und wir, die Betrachter, mit ihm. Ebensowenig aber das reine Nichts. Denn was uns da vom Bilde her entgegentritt und uns so geheimnisvoll entrückt, ist von einer Intensität, die dem bloßen Nichts nicht zukommen kann. Doch was ist es dann, wohin wir entrückt werden? Wieder kann eine einfache Beobachtung weiterführen. Daß uns nämlich, wenn wir aus dem Augenblick der Versenkung in ein Kunstwerk auftauchen, zumute ist, als hätten sich die verworrenen Verhältnisse unserer gewohnten Welt zurechtgerückt, als sei das Unwesentliche ins Licht und in den Schatten des Wesentlichen getreten. Das heißt nicht, daß uns der Anblick der Kunstwerke in eine harmonische Stimmung versetzte. Es kann durchaus geschehen, daß wir vor einem Bilde zutiefst erschrecken. Aber auch dieser Schrecken, und vielleicht gerade er, bringt uns vor das Wesentliche. Wir merken, wie unwesentlich die kleinlichen Zwiespalte unseres geschäftigen Alltags gegenüber dem sind, was uns aus 179 12*

dem Bilde heraus entgegentritt und zu sich hin entrückt: gegenüber den grundhaften Dissonanzen der Welt überhaupt. Im Anblick der Kunstwerke also wird etwas vom wesenhaften Sein der Welt sichtbar. Das ist keine Konstruktion; wir erfahren es unmittelbar in der Begegnung mit den Bildern und den Musikwerken. Wohin wir im versunkenen Anschauen der Bilder und Plastiken oder im Hören der Musikwerke entrückt werden, ist das Wesen der Welt. Die Kunstwerke sind für den, der ihnen aufgeschlossen begegnet, Offenbarungen der Tiefe der Welt. Und das bestätigt sich in der Erfahrung der Schaffenden, so wie es d u berühmte Wort C6zanne's ausspricht: „Die Farben steigen von den Wurzeln der Welt auf." Damit sind wir, ausgehend von der schlichten Erfahrung im Anblick und im Anhören von Kunstwerken, unversehens wieder in die Nähe der Griechen gerückt. Haben wir also nicht doch ein Recht, von den „Musen in unserer Welt" zu sprechen? In der Tat: wie die Griechen die Kunst erfuhren, und was uns in unserem eigenen Betrachten der Kunstwerke widerfahren kann, zeigt eine nahe Verwandtschaft. Beide Male geht es zuletzt um die Eröffnung der Tiefe der Welt im Kunstwerk. Und wenn die Griechen dies in der Verehrung der Musen aussprachen, dann könnte auch unser abgeblaßter Begriff des Musischen von daher wieder Gewicht und Fülle erhalten. Dann wären Aufgabe und Auftrag des Musischen, von dem Vordergründigen des technischen Alltags den Blick abzulenken und ihn aufzuschließen für die Erfahrung der Tiefe der Welt. Und doch: bei aller Nähe bleibt die Kluft zwischen den Griechen und uns, und wir können sie nicht überspringen. Mögen wir auch, nicht anders als sie, die Kunst und das Musische im Horizont der Tiefe erfahren, so ist doch, was uns heute Tiefe der Welt sein kann und was sie den Griechen war, nicht einfach schlechthin dasselbe. Sie konnten noch in der unmittelbaren Gewißheit leben, was sie erblickten, sei eine Erscheinung der Gottheit, die Welt sei der Ort der Offenbarung der Götter, Uns aber ist die Welt viel zu fragwürdig geworden, als daß wir sie so vertrauend in der Gottheit bergen könnten. Wir haben zu tief erfahren, was Ernüchterung der Weltsicht und Tod der Götter bedeuten. Didier zögern wir auch mit Recht, wenn wir uns dabei ertappen, daß wir religiöse Kategorien auf das Gebiet der Kunst anwenden. Und so können wir auch nicht mehr mit dem Gewicht des ungebrochenen Wortes von den Musen reden. Mit diesem Zwiespalt zwischen unserer Welt und dem Musischen hängt es auch zusammen, daß die Kunst der Gegenwart so weithin das Gesicht des Befremdlichen angenommen hat. Um den Menschen, der im 180

technischen Alltag verloren ist, überhaupt erst wieder darauf aufmerksam zu machen, daß die Welt eine Tiefe hat, muß die Kunst — nicht aus Willkür der Künstler, sondern aus ihrer eigenen geschichtlichen Notwendigkeit heraus — die Kruste des Vordergründigen durchstoßen, die wir in unserem nüchtern gewordenen Dasein um uns gelegt haben. Das Aufstörende und Erschreckende, das Zerbrechen der Gestalten der unmittelbaren Wirklichkeit, ja der Verweis auf das Absurde und das Nichts sind notwendig, soll sich die Kunst in einer Zeit zu Gehör bringen, die im bloß gebrauchenden Umgang mit dem Seienden ihr Genüge findet. Dem muß sich aussetzen, wer die Kunst in unserer Zeit begreifen will; damit muß sich auseinandersetzen, wer ein Kunstwerk gestaltet. Verschließt er davor den Blick, dann wird ihm die Kunst zu einem bloßen Schatten, und die Wirklichkeit bleibt ihm der nüchterne Alltag. Er kann dann nichts tun, als den Versuch zu machen, in zwei ewig getrennten Bereichen zu existieren: im Traumland der weltlosen Musen und in der Wüste der musenlosen Welt. Wenn wir uns aber entschließen könnten, den Träumen abzusagen; wenn wir unsere entgötterte Wirklichkeit ernst nähmen und doch zugleich und immer wieder nach ihrer Tiefe suchten; wenn wir, wo uns ein Werk der Kunst gelingt, dies begriffen als ein Zeugnis der Tiefe der Welt, ineins damit aber es auf uns nähmen, daß unsere Welt kein harmonisches Gefüge, sondern von den großen Widersprüchen zerrissen ist; — wenn dies alles geschähe, dann könnten wir, rückblickend auf die Griechen und doch in einem gewandelten, nämlich dem gegenwärtigen Sinne, vielleicht wieder von den Musen in unserer Welt reden und in neuem Geiste aussprechen, was der Dichter Euripides sagt: „Niemals leben den Musen fern, immer im Glanz der Kränze sein."

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Vom Sinn der gegenwärtigen Kunst In einer Schärfe, wie kaum je in der Geschichte, wird in der Gegenwart um den Sinn der bildenden Kunst gestritten. Von allen Seiten her dringen die Kampfrufe: „Kunst der Zukunft gegen tote Tradition", aber auch: „Bewahrung des Erbes gegen leichtfertige Zerstörung"; „Reines Spiel gegen öde Wirklichkeit", aber auch: „Realität gegen abstraktes Experiment". Dieser Streit ist, in seiner eigentlichen Bedeutung betrachtet, nicht so sehr eine Auseinandersetzung zwischen entgegengesetzten Meinungen über die Kunst, als vielmehr ein Ringen der Kunstwerke selber: darum nämlich, daß und wie sich in ihnen das Wesen der Kunst auf die rechte Weise ausdrücke. Geht man, bereit, sich etwas sagen zu lassen, durch eine Ausstellung, in der Bildwerke der verschiedensten Kunstrichtungen der Gegenwart versammelt sind, so kann es einem vorkommen, als nehme man an einem stummen, doch gerade in seiner Lautlosigkeit unüberhörbaren Dialog der Werke selber teil; ein jedes weist auf sich selber und behauptet, in ihm erfülle sich wahrhaft das Wesen der Kunst, und eben damit bestreitet es den gleichen Anspruch der anderen Werke. Nicht als ob die modernen Bilder in einer programmatischen Weise streitsüchtig wären. Das mag zwiar manchmal zutreffen, gehört aber nicht zu ihrem Wesen als Kunstwerken; als solche ruhen sie gelassen in sich selber. Aber eben in der besonderen Gestalt ihres gesammelten Daseins stehen sie gegen das fremde Dasein anderer Gestalten. Und doch gibt es etwas, worin sich die streitenden Richtungen der gegenwärtigen Kunst einig sind, dies freilich nur in einem vagen und formalen Sinne: daß es die Kunst irgendwie mit Wirklichkeit zu tun habe. Aber was „Wirklichkeit" bedeuten könne, und welche Art von Wirklichkeit es sei, die im Kunstwerk zur Gestalt kommt, darüber eben besteht Uneinigkeit. Der Streit um das Wesen der Kunst ist ein Streit um das Wesen der Wirklichkeit. Damit steht die Kunst der Gegenwart inmitten eines allgemeinen Kampfes um den Sinn der Wirklichkeit, wie er heute mit besonderer Heftigkeit ausgefochten wird: in den Wissenschaften, in der Philosophie, aber auch in der vorwissenschaftlichen Weltauslegung. Der Behauptung, es gehe in der gegenwärtigen Kunst um die Wirklichkeit, scheint zu widersprechen, daß gerade die kampfesfreudigste unter den gegenwärtigen Kunstströmungen die „abstrakte" Kunst ist. 182

Wenn „abstrakt" der Gegenbegriff zu „konkret", und wenn das Konkrete das faktisch Wirkliche ist, dann müßte doch die „abstrakte" Kunst, schon ihrem Begriffe nach, der Wirklichkeit fern sein. Doch das Konkrete, von dem sich die „abstrakte" Kunst absetzt, ist zwar das Wirkliche, aber nicht schlechthin und überhaupt, sondern nur in einem bestimmten Sinne, nämlich dem des unmittelbar anschaubaren Gegenstandes. Gegenständlichkeit und Wirklichkeit sind aber nicht dasselbe. Auch die abstrakte Kunst will, wenn auch unter Absehen vom gegenständlich Konkreten, Wirklichkeit ins Bild bringen; und dies so sehr, daß man gelegentlich die Behauptung hören kann, in ihr komme das eigentlich Wirkliche der Wirklichkeit zum Ausdruck. Was also ist „Wirklichkeit"? Und wie läßt sich von ihrer Bestimmung her der Sinn der gegenwärtigen Kunst deuten? Wir sind zunächst geneigt, das uns unmittelbar Umgebende, die Dinge in ihrer sichtbaren Gestalt, das Greifbare und sinnlich Wahrnehmbare, dazu uns selbst in unserer leibhaften Existenz, als das eigentlich Wirkliche anzusehen. Es drängt sich uns ja in der Macht seines Wirklichseins unmittelbar auf; wie man denn auch, in philosophischer Überlegung, das Wirkliche dahingehend hat bestimmen wollen, es sei das, was unserer Berührung Widerstand leiste. Hält man sich an dieses nächste Verständnis von Wirklichkeit, dann hat die Kunst ihre eindeutige Bestimmung. Ihre Aufgabe ist es dann, das sichtbar und greifbar Wirkliche, die Dinge und den Menschen in ihrer sinnlich wahrnehmbaren Gestalt, ins Bild zu bringen. Sie muß die Welt abschildern, wie sie uns erscheint: in unmittelbarer bildnerischer Nachahmung, wie es die naturalistische Kunst tut, oder gebrochen durch die Einsicht, daß das Erscheinende in der Art seines Erscheinens von den Besonderheiten unseres Sehens abhängig ist, wie es im Impressionismus geschieht. Diese Auffassung vom Wesen der Kunst ist jedoch nicht so selbstverständlich, wie sie lange Zeit erscheinen mochte. Und dies darum, weil auch das Verständnis der sinnlich faßbaren Realität als der eigentlichen Wirklichkeit keineswegs selbstverständlich ist. Ihm steht eine andere Auffassung von Wirklichkeit gegenüber; sie leitet sich vom griechischen, insbesondere vom platonischen Denken her, ist aber nicht auf den philosophischen Gedanken beschränkt, sondern bestimmt, insbesondere unter dem Einfluß der christlichen Weltdeutung, weithin auch die vorphilosophische Auslegung der Wirklichkeit. Ihr gemäß trägt das sinnlich Erscheinende den Grund seines Daseins und seines gestalthaften Aussehens nicht in sich selber. Vielmehr ist, was uns zunächst als das Wirkliche vorkommen will, in Wahrheit nur Nachahmung und Abbild eines Urbil183

des, dem die eigentliche Wirklichkeit und die vollkommene Gestalt zukommen. Dieser wahren Wirklichkeit der Urbilder gegenüber besitzt die Welt der Dinge nur eine scheinhafte „Wirklichkeit". Unter diesem Aspekt erhält die Kunst eine ganz andere Aufgabe, als von jenem ersten Begriff der Wirklichkeit als der sinnlichen Realität her. Ihr Sinn ist es nun, im sinnlich Erscheinenden die Urbilder sichtbar zu machen. Kunst ist Darstellung der „Idee" und des „Ideals". So haben sie Goethe und Schiller, Schelling und Hegel verstanden; so hat noch jüngst Guardini den Sinn der Kunst gedeutet. Doch keine der beiden Auffassungen von der Wirklichkeit hält heute noch stand. Denn diese ist dem gegenwärtigen Menschen in einer in der Geschichte bislang nicht erhörten Weise fragwürdig geworden. Was zunächst das Verständnis der Wirklichkeit als greifbarer Realität angeht, so zeigt sich, daß im Zuge der wachsenden Einsicht in das Wesen der Materie das Zutrauen zu der beständigen Realität der Dinge verloren gegangen ist. Das Wirkliche, sich auflösend in den Widerstreit von Teilchen und Welle, hat sich in eine Ferne entzogen, in die weder Anschauung noch Begriff mehr reichen. Ebensowenig aber kann der Mensch der Gegenwart, wenn er sich aufrichtig selber prüft, in der Wirklichkeit noch den Abglanz des urbildlich Wahren erblicken. Dazu erscheint ihm die Wirklichkeit, und vorab seine eigene, zu verworren und zu rätselhaft, zu sehr dem Nichts benachbart und dem Tode verschwistert. Daraus erwächst der dritte, der gegenwärtige Begriff von Wirklichkeit. Diese ist weder der verläßliche Kosmos der sichtbaren und greifbaren Dinge, noch eine ferne Welt der Urbilder und Ideen. Wirklichkeit ist die gefährdete Welt vor dem Hintergrund des Nichts, die bedrohte Existenz im Zugehen auf den Tod. Wirklichkeit ist das je nur im Augenblick gelingende Sich-halten des Seienden über dem Abgrund der Unwirklichkeit1. Es konnte nicht ausbleiben, daß auch die Kunst in den Wirbel der zerfallenen Wirklichkeit hineingerissen wurde. Wie es ihr denn überhaupt um Wirklichkeit geht, so mußte ihr jetzt die Aufgabe zuwachsen, die gegenwärtige Wirklichkeit, also die gefährdete, dem Nichts und dem Tode ausgelieferte, in die Gestalt zu bringen, ja, wenn dies gelingen könnte, den Prozeß der Entwirklichung der Wirklichkeit selber darzustellen. Nicht die unmittelbare Erscheinung, aber auch nicht ein urbildlicher Sinn sind jetzt das Thema der Kunst, sondern das Nichts als der ständige Abgrund alles Daseins und das von ihm her bedrohte Dasein 1

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Vgl. den Aufsatz: Die Frage nach der Wirklichkeit, S. 118—141.

selber. Dieser Aufgabe versucht die Kunst der Gegenwart auf verschiedene Weise gerecht zu werden: im Expressionismus, bei Picasso, in weiten Bezirken der abstrakten Kunst. Angesichts dieses ihres Schicksals, in die Entwirklichung als den Grundzug der Gegenwart hineingewirbelt zu werden, könnte die Kunst versucht sein, sich, etwa unter dem Schlagwort vom „Verlust der Mitte", an die Restauration einer „heilen" Welt zu machen. Ließe sie sich aber darauf ein, dann vergäße sie in der Rückwendung zum unwiederbringlich Untergegangenen, daß es ihre vornehmste Aufgabe ist, in der Gestaltung des Gegenwärtigen das Künftige heraufzubeschwören. Es ist ihr unabwendbares Geschick, daß sie als die gegenwärtige den Auftrag hat, die Wirklichkeit als die fragwürdige erscheinen zu lassen. Ist aber damit das letzte Wort im Streit um die Kunst gesprochen? Ist der Sinn der gegenwärtigen Kunst nichts als Zerbrechen, Zerstörung, Entwirklichung, nichts als das Nichts? Oder wird nicht, gerade im Untergang des Vordergründigen, der Blick dafür frei, daß sich im Zerbrechen ein Zerbrechendes, im Zerstören ein Zerstörendes, in der Entwirklichung eine tiefere Wirklichkeit, im Nichts das Sein zu offenbaren beginnt? Und ist es nicht eben dies, was uns den Anblick der Werke gegenwärtiger Kunst aushalten läßt? Wäre ihr Sinn nichts als Zerstörung, wir müßten in ihrem Anschauen, wenn wir uns darin ernst nähmen, selber untergehen. Daß wir es ertragen, von ihnen umgeben zu sein, zeigt doch an: in ihnen spricht sich mehr aus als das bloße Nichts. Daß unsere Gegenwart auf der Spur der Entdeckung einer tieferen Wirklichkeit ist, wird dem nicht entgehen, der auf die Zeichen der Zeit achtet. Die Dichtung etwa muht sich, mehr als in der jüngst vergangenen Zeit, auf die Geheimnisse zu horchen und die Sprache in deren Dienst zu stellen. Die Philosophie der Gegenwart, gerade da, wo sie in die nächste Nähe zum Nichts geraten ist, bei Heidegger, vertieft sich in das Rätsel des Seins selber, das hinter dem Nichts wie hinter einem „Schleier" erscheint. Hier und an vielen anderen Orten kündigt sich ein entscheidender Wandel im Verständnis der Wirklichkeit an. Das bislang für verläßlich Gehaltene zeigt sich als unterhöhlt, aber eben darin tritt die tiefere Wirklichkeit hervor. Eine Wirklichkeit freilich, die nicht einfach die Bergung nach der Gefährdung bringt — das wäre die unfruchtbare bloße Rückwendung —, sondern die das Nichts in sich aufgenommen hat und die sich daher nur dem zeigt, der es wagt, sich, um sie zu erfahren, dem Nichts auszusetzen. Damit wird es nun möglich, den Versuch einer Deutung der Kunst der Gegenwart zu machen. Zwar bleibt bestehen: die gegenwärtige Kunst, wo sie in ihr Wesen gelangt ist, zeigt die sichtbare Wirklichkeit 185

als die zerbrechende, sich entwirklichende. Doch eben darin deutet sie aul das hin, was im Zerbrechen der „Wirklichkeit" erscheint: auf die tiefere Wirklichkeit, auf die Wirklichkeit der Tiefe; denn diese kann im geschichtlichen Augenblick der Gegenwart, anders als in vergangenen Zeiten, nur im Untergang der vordergründigen „Wirklichkeit" erscheinen. So ist denn auch der Gang der Kunst in den letzten Jahrzehnten ein ungeheurer Sturm des Zerbrechens des Vordergründigen unter der Kraft des Ursprünglichen und zugleich ein leiser Anbrach des Aufscheinens der Tiefe in den Werken: von der Darstellung des in der Zerstörung wirksamen Mächtigen — im Expressionismus — bis dahin, wo — in der abstrakten Kunst — in der Entsagung allem „Gegenständlichen" gegenüber das reine Zeichensein selber, das Gefüge der Linien und Farben im Spiel seiner inneren Notwendigkeit, zum Vorschein zu kommen beginnt. Dieser Weg der gegenwärtigen Kunst ist freilich, nicht anders als jeder Schritt in das Ungewisse der Zukunft, aber doch heute in besonderer Weise, gefährlich. Doch es ist der Weg dahin, wo, wenn überhaupt, der Mensch in der Fragwürdigkeit seines gegenwärtigen Daseins allein noch hoffen kann, einen paradoxen „Stand" zu gewinnen: nicht in ungefährdeter Geborgenheit, sondern da, wo inmitten der Bedrohung die neue Gestalt der künftigen Welt sich im Umriß zeigt, und wo sie im Mut zur Gefährdung erstritten wird.

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Die Kunst im Unterwegs Wie seit je in ihrer Geschichte, steht die Kunst auch in der Gegenwart im Streit. Von den Schaffenden und den Verstehenden innig und leidenschaftlich bejaht und verteidigt, begegnet sie zugleich dem Unverständnis derer, die sagen, all das, was ihnen heute als Bild und Plastik vor Augen gestellt, als Musikwerk zu Gehör gebracht wird, bleibe ihnen fremd. Ist also die Kunst zur Sache eines engen Kreises absonderlicher Leute geworden? Ist sie in einen abseitigen Winkel gerückt, fern den drängenden Anliegen der Gegenwart? Doch wer je einmal von einem Werk moderner Kunst angezogen und ergriffen wurde, der weiß: hier wird kein ungegenwärtiges Spiel gespielt; hier steht höchst Gegenwärtiges auf dem Spiel; hier geht es um uns selber, auch und gerade in dem, was wir heute sind. Wie kommt es aber dann, daß dieses so intensiv Gegenwärtige auf Unverständnis und Ablehnung einer so großen Zahl von Menschen der Gegenwart stößt? Die Frage nach dem Sinn der gegenwärtigen Kunst mündet ein in die Frage nach der Gegenwart überhaupt. Ist Gegenwart das, was die Schaffenden und Verstehenden darunter begreifen, oder ist sie das, was die Bestreiter und Verächter der modernen Kunst ids das Gegenwärtige vermeinen? Nun hat es mit der Gegenwart eine seltsame Bewandtnis. Das im strengen Sinne Gegenwärtige, der jeweilige Augenblick, ist, genau betrachtet, nichts, ist nur die Grenze zwischen dem ins nicht mehr Wirkliche versunkenen Vergangenen und dem noch nicht wirklichen Zukünftigen, ist nur ein ständig entschwindendes Zwischen. Und doch wissen wir in jedem Augenblick: jetzt sind wir wirklich, jetzt umgibt uns die Fülle der Wirklichkeit. Denn das Gewesene ist noch gegenwärtig, aus ihm heraus leben wir, es ragt mächtig in unser Dasein herein und gibt uns den Reichtum der Gehalte. Aber auch das Zukünftige ist nicht bloß das noch nicht Wirkliche. Wir sind, das Kommende erhoffend oder befürchtend, seiner gewärtig, unsere Entwürfe in die Zukunft hinein bestimmen unser je gegenwärtiges Dasein in seinen Entschlüssen und Handlungen, seinen Begehrungen und Stimmungen. So ist der Augenblick keine leere Grenze, sondern der Ort der mächtigen Anwesenheit des uns nachdrängenden Vergangenen und des auf uns zudringenden Zukünftigen. 187

Beide aber stehen miteinander im Streit, und der Augenblick ist das Feld, auf dem dieser Streit ausgetragen wird. Das Gewesene will beharren. Das Kommende will umgestalten und verwandeln. Das Vergangene verspricht Geborgenheit und Sicherheit. Das Zukünftige ist das Ungewisse und Gefährdende. Was einmal war, können wir uns zueigen machen. Was einstmals sein wird, ist das Unverfügbare. Worum es in diesem Streite geht, das sind wir selber. Vergangenheit und Zukunft dringen auf uns ein und wollen Gewalt über uns gewinnen. Menschliches Dasein ist, was es ist, aus dem Streit zwischen diesen beiden Mächten. Wem wir uns anvertrauen, dem Beharrenden oder dem Verwandelnden, dem Bergenden oder dem Gefährdenden, das ist eine Sache unserer Entscheidung. In diesem Streit hat auch die Kunst ihren Ort. Sie ist in unserer Gegenwart wie in jeder Zeit in einer zweifachen Weise da. Einmal in den hohen Werken der Vergangenheit, die, das Maß gebend, in unsere Tage hereinragen. Zum andern in den jederzeit und heute mit besonderer Intensität unternommenen Versuchen, sich von der Macht des Überlieferten zu lösen und neue Wege zu beschreiten, sich schaffend in die Zukunft hinein zu entwerfen. Aus gegebener und gesuchter Gestalt erbaut sich das eigentümliche Wesen der Kunst einer Zeit. In diesem Sinne ist gegenwärtige Kunst ebenso Dürer wie Picasso, ebenso Bach wie Schönberg, Nun wird auch der tiefere Sinn jenes Kampfes um die Kunst, wie er gegenwärtig ausgefochten wird, offenbar. Immer, wenn die moderne Kunst in verantwortlichem Ernst und nicht bloß aus unverständiger Gleichgültigkeit befehdet wird, geschieht es im Namen des Vergangenen, geschieht es aus der Sorge, daß, was als Gewesenes maßgebend ist, um des ungewissen Neuen willen voreilig verlassen werde. Überall, wo die Kunst überlieferte Formen und Ausdrucksweisen abstößt, geschieht es um der Zukunft willen, geschieht es darum, daß eine Tür ins Unbekannte aufgestoßen werde. Die Haltung zur Kunst der Gegenwart wurzelt also darin, ob wir der Sorge um die Bewahrung des Gewesenen oder der Verantwortlichkeit für die ankommende Zukunft Macht über unser Dasein zugestehen wollen. Kann es aber bei der bloßen Feststellung zweier möglicher Haltungen sein Bewenden haben? Muß man nicht im Kampf um die gegenwärtige Kunst, diesem Streit um Vergangenheit und Zukunft, zu einer Entscheidung kommen? Oder sollen und können wir in gleicher Weise Dürer und Picasso, Bach und Schönberg verehren und lieben? Sollen und können gar die Künstler mit gleichem Recht im Geiste des Vergangenen wie im Geiste des Zukünftigen schaffen? Irgendwie will es uns doch scheinen, 188

als würden wir mit solchem gleichmäßigen Geltenlassen, mit solcher „Gleichgültigkeit", dem Anspruch des Augenblicks nicht gerecht. Doch wie lassen sich Kriterien für eine Entscheidung finden? Eine tiefere Besinnung auf das Wesen der Zeit zeigt, daß in dem von Vergangenheit und Zukunft bestimmten Augenblick die Zukunft einen seltsamen Vorrang besitzt. Was geschähe denn, wenn wir uns darauf beschränkten, nur das Gewesene zu verehren? In der ausschließlichen Bindung an die Vergangenheit raubten wir dem andringenden Künftigen die Möglichkeit, Gegenwart zu werden. Damit käme die Zeit und käme die Geschichte des Menschen zum Stillstand. Der Mensch aber ist ein Wesen des Unterwegs, ein Pfeil, der, einmal abgeschossen, nicht innehalten kann; wenn er zur Ruhe käme, müßte er abstürzen. Wenn der Mensch sich von der Zukunft abschnitte, wäre er nicht mehr Mensch. So ist es das innigste Anliegen des Menschseins, Zukunft zu haben und sich in das Ankommende hinein zu entwerfen. Darum auch ist das Ringen um die Eröffnung zukünftiger Wege der Kunst eine wesenhafte Aufgabe des Menschen. Wer mit Sorge auf die Gefahren blickt, die ein solcher Gang ins Ungewisse mit sich bringt, mag den Schaffenden als Mahner und Warner willkommen sein. Wer sich aber vor dem andringenden Zukünftigen überhaupt versperrt, der wendet sich vom Lebendigen ab und dem Erstarrten zu. Ausschließliche Verehrung und Reproduktion gewesener Kunst ist Stillstand und Tod. Immer bedarf es, im Dasein überhaupt wie im Bereich der Kunst, des Aufbruchs zu neuen Ufern. Daher sind wir der zeitgenössischen Kunst da am tiefsten verpflichtet, wo sie ihre Gestaltung über den Augenblick hinaus ins Zukünftige entwirft. Wie aber, wenn der Weg, auf dem die Kunst unserer Zeit den Menschen führen will, ein Irrweg, ein Weg in den Abgrund wäre? Das kann man freilich nicht schon dadurch beweisen, daß man sieht, wie im Wirbel neuer künstlerischer Versuche die überkommenen Weisen der Kunst, eine nach der andern, zerbrechen. Es gehört zum Wesen des Zukünftigen, daß es das Gewesene durchstößt. Alles Werden ist immer auch Zerstörung. Aber jeder Entwurf in die Zukunft hinein geht ins Ungewisse; das Kommende birgt auch die Gefahr schlechthinniger Zerstörung in sich. Hat man also nicht Anlaß, zu befürchten, daß das, was sich uns heute als Kunst vor Augen stellt, in seiner Radikalität des Zerbrechens die reine Negation, ein Gang ins Nichts ist? Doch wer sich dem Anblick zeitgenössischer Bildwerke öffnet, wer gegenwärtiger Musik Gehör gibt, der spürt, daß über alle Gefährdung und Zerstörung hinaus Anzeichen einer neuen Gestaltung sichtbar werden. Im Abbrechen der Brücken zu der allzu fest umklammernden Ver189

gangenheit werden ins Ungewisse hinein doch schon die Umrisse einer künftigen Kunst entworfen, und ihr gilt der inbrünstige Wille der Schaffenden. Auch sie bleibt Kunst in jenem Sinne, in de^n sie von jeher in den großen schöpferischen Zeiten erschienen ist: als eine der wesentlichen Weisen, wie sich der Mensch die Welt auslegt und deutet, und zwar von ihrem Grunde her. Immer, ehedem wie heute, sind die Werke Zeichen, die auf das geheime Wesen und Walten der Welt weisen. In unserer Gegenwart aber geht mit dem Zeichensein der Werke eine merkwürdige Verwandlung vor sich. Die Zeichen werden immer weniger auf mittelbare Weise gestaltet, immer weniger so dargestellt, wie sie in den Dingen der sichtbaren Welt anwesend sind. Die Kunst drängt mehr und mehr dazu, das reine Zeichensein der künstlerischen Form, nämlich Farbe, Linie, Umriß, Ton als solche, ihre Bestreitungen und Verschlingungen, ihre Kraft des Enthüllens, sichtbar und hörbar zu machen. All das wird aus sich selber heraus unmittelbares Zeichen, weist so vom Vordergründigen der nächst vernommenen Wirklichkeit weg und deutet in die Tiefe der Welt. Sie ist es, die sich dem erschließt, der, gestaltend oder betrachtend, dem Zeigen der Zeichen nachspürt. Mit dieser Wendung zum reinen Zeichen steht die Kunst der Gegenwart nicht allein in unserer Zeit. Auch die Naturwissenschaft hat den Bereich der Dinge in der scheinbaren Dichte und Beständigkeit ihres materiellen Seins durchstoßen und findet nun Funktionen und mathematische Beziehungen, Zeichen für das nicht mehr unmittelbar faßbare Geheimnis der Natur. Auch die Dichtung sucht nach den transparenten Worten, die das Dasein in seinen tieferen, ungreifbaren Vollzügen und Geschehnissen ahnen lassen. Auch die Philosophie forscht im Ganzen der Wirklichkeit nach Zeichen, die auf ein Hintergründiges weisen, das sich freilich noch aller Benennung entzieht. In all dem spüren wir, daß ein entscheidender Wandel unserer Weltsicht vor sich geht. Das Feste wird durchlässig und durchsichtig, das Sichere schwindet, der verhangene Horizont des Greifbaren lichtet sich, Welt weitet sich aus ins nicht mehr Faßbare. Nichts anderes aber ist es, was heute in den Kunstwerken zur Erscheinung kommt. Was als neue Weltsicht auf uns zukommt, das versuchen die Schaffenden, selber erschüttert von den Aussichten ins Unergründliche der Welt, im hinweisenden Zeichen zu gestalten. Im Schaffen sind sie die fernhin Ausschauenden und Horchenden. Ihr schöpferischer Wille ist, das noch Ferne in die Nähe zu bringen, das sich Ankündigende sichtbar und hörbar zu machen. Diese Leidenschaft zur Zukunft erst macht es begreiflich, daß der Kampf um die gegenwärtige Kunst so erbittert geführt wird. Jeder grundhafte Wandel einer Weltsicht kann nur im Erschrecken erfahren werden. 190

So kann es nicht anders sein, als daß die Kunst als Künderin des Kommenden zunächst tief befremdlich wirkt. Man kann auch verstehen, daß viele, besorgt um das, was im Wirbel des Umbruchs aufs Spiel gesetzt wird, sich abwenden und alles daransetzen, die Fäden zur großen Vergangenheit nicht abreißen zu lassen. Aber vor den wesentlichen Wenden des Geistes gibt es kein Ausweichen. Man kann zwar eine Weile das geborgene Dasein bewahren. Die Zeit aber geht weiter, und das Zukünftige kommt unausweichlich heran. Nur wer, im Denken ebenso wie im Gestalten, den Mut zum Ungewissen hat, darf hoffen, das Ankommende zu bestehen. Daß sie sich dem Anruf der Zukunft geöffnet hat, daß sie sich müht, dem Werdenden seine Erscheinung im Zeichen zu verschaffen, daß sie sich am Grundriß der kommenden Weltsicht versucht, darin liegt die große Verheißung der gegenwärtigen Kunst.

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Von der Zukunft der gegenwärtigen Kunst „Von der Zukunft der gegenwärtigen Kunst", — Aber hat denn die Kunst überhaupt noch eine Zukunft? Muß es einem nicht, wenn man durch Ausstellungen moderner Bilder geht, so vorkommen, als sei sie in unserer Zeit an ihr unwiderrufliches Ende gekommen? Das aber kann uns nicht gleichgültig lassen. Die Kunst ist eine der wesentlichen Weisen, wie sich eine Zeit ihren Ausdruck gibt. Wird sie fragwürdig, so heißt das: die Zeit selber ist fragwürdig geworden. Im Geschick der Kunst, in ihrer gegenwärtigen Erscheinungsform und in ihrem zukünftigen Wesen, steht auf dem Spiele, was wir selber sind und sein werden. Dem nachzuspüren, im Bewußtsein des Fragmentarischen solcher Versuche und in der gebotenen Beschränkung auf die moderne Malerei, ist die Aufgabe der folgenden Überlegungen. Die Fragwürdigkeit moderner Bilder spürt man unmittelbar darin, daß sie zunächst seltsam befremdlich auf uns wirken. Wer das leugnen wollte, versperrte sich von vornherein den Zugang zu ihrem Wesen. Befremdung steht am Anfang der Begegnung mit der gegenwärtigen Kunst, und sie bleibt in gewissem Grade auch bei längerem Umgang mit ihr bestehen. Diese Bilder können nicht so ohne weiteres vertraute Gefährten unserer Tage werden, wie es weithin die Werke früherer Meister sind. Immer kommen sie beklemmend, beängstigend, aufregend, vielleicht exzessiv beglückend, vielleicht exzessiv traurig stimmend, jedenfalls aber irritierend und befremdend auf uns zu. Man könnte einwenden, daß auch früher die große Menge der Kunst ihrer Zeit fremd gegenüberstand. Selbst ein so traulicher Maler wie Hans Thoma beklagt sich über die „Wut" der „Philister", die seine Bilder „zu ungewöhnlich und unverständlich" fanden. Aber die Fremdheit des Menschen zu seiner zeitgenössischen Kunst scheint heute umfassender denn je zu sein. Sie betrifft nicht mehr nur den „Philister", sondern alle, auch die, die sich ihr in redlichem Bemühen nahen. Und die Kluft zwischen den Werken und den Betrachtenden scheint tiefer geworden zu sein. Es ist, als entferne sich die Kunst mit zunehmender Geschwindigkeit von der Ebene, auf der überhaupt noch Verstehen und Verständlichkeit möglich sind. Doch mit der Befremdlichkeit geht einher, daß wir in merkwürdig eindringlicher Weise von den Werken der Modernen angegangen werden. Wenn wir uns einmal auf sie eingelassen haben, lassen sie uns nicht los. Es gibt Augenblicke, in denen wir, vor einem Bilde stehend, spüren: da 192

schaut uns ein Stück unser selbst an. Auf geheimnisvolle Weise ist die Fremdheit zugleich Nähe. Wenn nun die Kunst der Gegenwart in geheimer Beziehung zum Wesen des gegenwärtigen Menschen steht, dann ist ihr zwiespältiger Charakter ein Zeichen dafür, daß auch dieser sich selbst in der Unausgewogenheit von Fremdheit und Nähe gegenübersteht. In erschütternder Weise kommt in den Bildern zum Ausdruck, daß wir mit uns selbst nicht einig sind. So haben also diejenigen recht, die so besorgt vom „Verlust der Mitte" reden? Wäre damit lediglich ausgesprochen, der Mensch der Gegenwart stehe mitsamt seiner Kunst in einer Krisis, so könnte man nicht widersprechen. Doch Sedlmayer, der Erfinder dieses Schlagwortes, meint mehr: in der heutigen Kunst werde das Menschenbild entstellt und die geordnete Welt zum Chaos verwandelt. Die tiefere Ursache dieses Vorganges sieht er in einer Störung des Gottesverhältnisses, das die Mitte des Menschen zu bilden bestimmt sei. Nur wo die Beziehung des Menschen zu Gott in Ordnung sei und der Mensch die Welt als Schöpfung und sich selber als Ebenbild Gottes verstehe, könne echte Kunst gedeihen. Das aber, was sich heute als Kunst in den Vordergrund drängt, ist für Sedlmayer nur noch Anzeichen eines tiefgehenden Verfalls. Nun läßt sich in der Tat die moderne Malerei, zumindest in ihren extremen Vertretern, nicht mit jener überlieferten abendländisch-christlichen Weltsicht vereinbaren, deren Grundgedanke es ist, daß in einer festgefügten Ordnung des Seins die Welt nach den Ideen Gottes und der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen sind, und daß sich dies im unmittelbaren Sosein der Dinge und des Menschen ausdrückt. Wenn Picasso ein Gesicht in seine Bestandteile zerlegt und diese aus eigener Vollmacht anders wieder zusammenfügt, dann ist darin zweifellos der nächste Anblick der geschaffenen Welt nicht gewahrt. Das gleiche gilt auch von spezifisch christlichen Bildern moderner Maler, etwa von Nolde oder Rouault. Muß man aber dann nicht doch von Verfall reden? Doch Krisen sind vom Wesen her doppeldeutig: Zerbrechen eines Bestehenden und Raumschaffen für ein Neues. Das bezeugen die großen Umbrüche der Weltgeschichte. So müßte man es auch im Hinblick auf die Krisis der Gegenwart und auf ihren Ausdruck in der modernen Kunst zumindest offen lassen, ob sie ein Ende sind, oder ob sich durch das Zerstörerische hindurch ein Neues durchsetzen will. Überdies fragt sich, ob es so eindeutig nur als frevlerische Empörung verstanden werden kann, wenn jener Gedanke der unmittelbaren Entsprechung von Gott und Welt aufgelöst wird. In ihm spricht sich doch nur eine ganz bestimmte, aus dem Zusammentreffen des jüdischen Got13 Weisdiedel

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tesglaubens mit der griechischen Philosophie entstandene Ausprägung der christlichen Welterfahrung aus. Es wäre aber zu bedenken, ob denn — auch für den Christen — die Begegnung mit Gott nur aus dem Anblick des unzerstörten Seins der Welt erwachsen kann, oder auch und am Ende sogar tiefer aus dem Erlebnis des Zerbrechens der vordergründigen Sicht. So könnte man der Deutung Sedlmayers eine andere entgegensetzen, nach der in den Krisen der Gegenwart die Weltsicht des christlichen Mittelalters mit ihrem Gedanken der Entsprechung zugrunde geht und ein tieferes Verständnis der Ferne Gottes zur endlichen W e l t aufbricht. Das aber hieße, daß die Kunst der Gegenwart kein Ende wäre, sondern, eben in ihrem scheinbar Zerstörerischen, einen der großen Übergänge der Weltgeschichte ankündigte. Das ist freilich vorerst nur eine Denkmöglichkeit, die nur angedeutet wird, um zu zeigen, daß die Verwerfung der modernen Kunst durch Sedlmayer auf einer religiös-weltanschaulichen Vorentscheidung beruht, die keineswegs — und nicht einmal im christlichen Denken — so getroffen werden muß. Wenn es aber zwei derart entgegengesetzte Deutungsmöglichkeiten der zwiespältigen, befremdlich-nahen Kunst der Gegenwart gibt, — wie kann man über ihr wahres Wesen entscheiden? Nicht anders als so, daß man erst einmal ohne Voreingenommenheit darauf achtet, was sich denn in den Bildern der modernen Maler tatsächlich vollzieht und den Grund ihrer seltsam erregenden Befremdlichkeit bildet. Kein Zweifel: es ist die Ablösung von der Darstellung des Soseins der erscheinenden Dinge. Den Beginn dieser Entwicklung mag man bei C6zanne sehen: wie er das optische Erscheinungsbild zugunsten einer betonten Verdichtung und Vereinfachung vernachlässigt. Sie setzt sich bei den „Fauves" fort; Matisse etwa opfert den dekorativen Gesetzen der Farben die Richtigkeit des Gegenstandes, bei Rouault überwältigt die Nächtigkeit der Farbtöne die Dinge. Noch eindrücklicher wird der zerstörerische Angriff auf die sichtbare Welt bei den Malern des deutschen Expressionismus. Die Verzeichnung des geläufigen Wirklichkeitsbildes wird zum bewußten Mittel des Ausdrucks; sie will zu intensiver Darstellung bringen, daß mächtiger als die gewohnte Welt das Ungeheure ist, d u sich im Durchbruch durch jene offenbart; man denke an das tiefe Leuchten der Farben auf den Bildern Noldes, an die Kraft, mit der Franz Marc das W e sen des Tieres oder Kokoschka die Hintergründigkeit des menschlichen Angesichts beschwört. Einen Schritt weiter gehen die Kubisten: Bracque, Picasso, Liger und ihre Nachfolger in Deutschland. Jetzt soll nicht nur das Drängende offenbar werden, sondern die — als geometrisch verstandene — Grundstruktur der Welt. Oder die reale Welt wird in magischen 194

Traum aufgelöst, wie bei Paul Klee, oder in abgründiger Ordnung durcheinandergewirbelt, wie bei den Surrealisten. Das alles mündet schließlich aus in die abstrakte Malerei. An die Stelle der völlig versunkenen Dinge treten als neue „Gegenstände" der Bilder die Farben als solche, die Formen, die Linien, die Umrisse, ihre Spannungen und ihr wechselvolles Spiel, ihre „Klänge". Was ist auf diesem raschen Gang der modernen Kunst eigentlich vor sich gegangen? Selbst der kurze Überblick macht deutlich: es war ein elementarer Drang am Werke, sich von der Fesselung an das erscheinende Bild der Dinge frei zu machen. Unaufhaltsam geht es weg von den Gegenständen und hin zum Ungegenständlichen, weg vom konkreten Ding und hin zur Abstraktion, weg von den Inhalten und hin zu den Formen. So pflegt man denn auch in „Ungegenstandlichkeit", „Abstraktheit" und „Formalismus" die Kennzeichen der modernen Malerei zu erblicken. Nicht ohne einen Unterton von Kritik. „Gegenstandslosigkeit" ist ja Verlust, „Abstraktheit" ist Starre, „Formalismus" ist Leerlauf. So scheint es jetzt — und nun nicht mehr aus theologischen Erwägungen, sondern aus der Betrachtung der Bilder selber heraus —, als sei die Malerei der Gegenwart nicht mehr Kunst im eigentlichen Sinne, sondern nur noch das sterbende Relikt der großen, sich ihrem Ende zuneigenden Geschichte der abendländischen Malerei. Oder steht diesen Verlusten anderes gegenüber, was vielleicht sogar nur durch sie hindurch gewonnen werden kann? Es müßte sich am deutlichsten da zeigen, wo die moderne Malerei ihre bislang extremste Gestalt erhalten hat, bei den abstrakten Bildern. Da ist die nächstgegebene Wirklichkeit völlig untergegangen. Aber auch hier bleibt das Bild, was es immer war: Aussage. Nur daß das Medium der Aussage nicht mehr die gemalten Dinge sind, sondern Farben, Formen, Linien, Umrisse, ihre Spannungen, Spiele und Unterredungen, die innere Notwendigkeit ihrer lebendigen Verhältnisse. Das alles findet sich auch in unserer unmittelbar gegebenen Welt, wenn auch nicht frei, sondern in diese eingebunden. Die Dinge sind rot oder grün oder gelb. In ihren linearen Umrissen grenzen sie sich von anderen Dingen ab. Aber Farben und Linien sind nicht bloß das Trennende. Das rote Ding kommt erst da völlig zum Erscheinen, wo es vor dem dunklen Hintergrund steht. Die Linie des Stammes setzt sich in den Kurven der Äste fort. Linien und Farben zeigen also, in Trennung und Verbindung, die Bezüge, in denen die Dinge zueinander stehen. Das wird dadurch möglich, daß sie selber in bestimmte und geordnete- Beziehungen zueinander treten können. Das Rot leuchtet umso mehr, je dunkler der Hintergrund ist. Der Schwung einer Kurve tritt dann erst eigentlich hervor, wenn er einer Geraden begegnet. Eben das 195 13·

sind jene Spannungen und Spiele, Klänge und Unterredungen der Farben und Formen, der Linien und Umrisse. Diese Bezüge sind es nun, die in der modernen Malerei in wachsendem Maße zum selbständigen Gegenstand werden. Während die Bilder früherer Jahrhunderte sie so darstellten, wie sie in und an den Dingen erscheinen, geht es jetzt darum, sie als solche sichtbar werden zu lassen. Damit wird eine andere Ebene der Wirklichkeit zum Thema der Kunst. Man könnte denken, sie sei die abstraktere im negativen Sinne. In der Tat erreicht man sie durch ein negierendes Tun: indem man nämlich den Reichtum der gegenständlichen Welt hinter sich läßt. Aber dem, der die puren Formen und Farben erblickt, tritt eine Intensität entgegen, wie er sie in der Welt der Dinge kaum je findet; man muß sich nur einmal in das Leuchten und Dunkeln einer Farbe oder in den Schwung einer Linie vertiefen. Hier ist ein Ursprüngliches am Werk, das den Dingen erst die Möglichkeit gibt zu erscheinen. Ohne Farben müßten diese dem Betrachter in eines verschmelzen. Linien und Umrisse grenzen sie voneinander ab und lassen sie als selbständig Seiende erscheinen. Die Bezüge sind also eine Voraussetzung für die Sichtbarkeit der Welt, und ihre Ebene ist ursprünglicher als die Ebene der Dinge. In ihr herrscht kein chaotisches Durcheinander, sondern eine strenge Gesetzlichkeit. Farben vertragen sich oder stoßen sich ab, helfen oder schwächen einander. Linien schneiden sich oder schmiegen sich aneinander an, ergänzen sich oder sprühen auseinander. Die Bezüge sind ineinander gefügt und fügen sich ineinander. So kann man ihre Ebene auch die Ebene des Gefüges nennen, freilich eines nicht statischen, sondern lebendig bewegten Gefüges. Wenn also die abstrakte Malerei ihren „Gegenstand" in den Farben und Formen und in ihren vielfältigen Spielen findet, dann heißt das: im Verzicht auf die Darstellung der Ebene der Dinge will sie die ursprünglichere Ebene des Gefüges zur Erscheinung bringen, rein als solche und nicht nur so, wie sie in den Dingen anwesend ist. Das macht es, daß sie Kunst in einem neuen Sinne ist, und daß sie so befremdlich anders auf uns wirkt als die Malerei früherer Epochen. Von daher lassen sich nun auch die Phasen der modernen Malerei, wie sie der abstrakten Kunst vorhergehen, tiefer verstehen. Auch in ihnen geht es nicht bloß um die Loslösung vom Gegenstand, sondern entscheidender noch um die Gewinnung der Ebene des Gefüges. Das deutet sich schon an, wenn Cezanne fordert, man solle die Natur „gemäß Zylinder, Kugel und Kegel" behandeln. Es wird deutlicher in der geometrischen Mystik der Kubisten. Aber auch die Malerei des Expressionismus ist letztlich nicht bloße Zerstörung. Im Zerbrechen des äußeren 196

Erscheinungsbildes soll das Ungeheure der in den Dingen waltenden Kraft des Ursprünglichen, sollen „die mächtigen Gesetze, die hinter dem schönen Scheine walten" (Franz Marc), zur Erscheinung kommen. Am reinsten vielleicht betritt die andere Ebene Paul Klee in seinen metaphysischen Träumen; „die Farben", sagt er, „steigen an den Wurzeln der Welt a u f . Selbst die verzweifelte Ironie des Surrealismus läßt sich noch als das blinde Suchen nach der Ebene des Gefüges begreifen. Doch wie läßt sich diese Sicht auf die moderne Kunst bewahrheiten? Ist jenes Gefüge, mag es auch ursprünglicher sein als die Ebene der Dinge, nicht doch bloß das tote Gerippe der Welt? Oder ist, wohin den Schaffenden der Gegenwart sein „pochendes Herz" treibt, die „Nähe jenes geheimen Urgrundes . . . , wo das Urgesetz die Entwicklung speist" (Klee), also der Bereich des Ursprungs schlechthin? Die Frage nach der Malerei der Gegenwart entfaltet sich zu einer Besinnung auf das Wesen der Kunst überhaupt. Sie kann freilich nicht in wenigen Sätzen geleistet werden; was zu sagen sein wird, ist eher ein Appell, sich an das zu erinnern, was jeder selbst im Betrachten der Bilder je schon als das Wesen der Kunst erfahren hat1. Die Werke der hohen Kunst holen den Betrachter, wenn er sich darauf einläßt, aus seinem gewohnten Dasein heraus. In der Versunkenheit, die uns vor den Bildern überkommen kann, spüren wir: sie haben eine eigentümliche Kraft, zu sich zu sammeln; sie wollen, daß man in sie versinke. Es geht eine seltsame Macht der Entrückung von ihnen aus. Wenn man sich dem sammelnden und entrückenden Zug der Bilder nicht verschließt, erfährt man, wie sich in diesen etwas öffnet, in ihnen Raum auftut. In dem Maße, in dem ich in das Bild hineingezogen werde, schließt sich mir seine Tiefe auf. Sie ist es, in die hinein der Betrachter entrückt wird. Doch was ist diese Tiefe? Das wird deutlicher, wenn man darauf achtet, daß wir im versunkenen Anschauen eine merkwürdige Verwandlung erfahren. Wir merken sie vor allem dann, wenn wir aus der Versunkenheit wieder auftauchen; im Anschauen der Bilder sind wir anders geworden, als wir vordem waren. Wir wurden aus unserem gewohnten Dasein hinausgerückt und zu unserem wesentlichen Sein gesammelt. Wo wir in die Tiefe der Bilder gelangen, sinken wir zugleich in den Grund unseres eigenen Seins. Die Verwandlung unser selbst ist schließlich mit einer Verwandlung unserer Sicht auf die Welt verbunden. Wer einem Werk der hohen Kunst wahrhaft begegnet ist, dem erscheint die Welt anders, als sie allEine umfassende Darstellung findet sich in der Schrift des Verfassers: Die Tiefe im Antlitz der Welt, Entwurf einer Metaphysik der Kunst, 1952. 1

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täglich vor Augen steht. Sie wird durchsichtig und gibt den Blick au! ihren wesenhalten Grund frei. Wenn aber so der Anblick der Tiefe in den Werken zum Anblick der Tiefe der eigenen Existenz und der Welt führt, dann heißt das: der Grund, von dem die entrückende Wirkung der Bilder ausgeht, ist derselbe, aus dem auch mein Dasein und das Dasein der Welt entspringen: der Ursprung schlechthin, das, was in philosophischer Sprache als das „Absolute" bezeichnet wird. Damit kommt der metaphysische Rang der Kunstwerke zum Vorschein, in dem Sinne, in dem Goethe von ihnen sagt: „Da ist die Notwendigkeit, da ist Gott". Die Frage ist jetzt: ist auch die Malerei der Gegenwart Kunst in diesem absoluten Sinne? Hängt jene Ebene des Gefüges, die sie auf so mannigfachen Wegen zu erreichen sucht, mit der Tiefe im Sinne des Absoluten zusammen? Oder ist es der zeitgenossischen Kunst versagt, das wahre Wesen der Kunst in ihren Bildern zur Erscheinung zu bringen? Diese Frage ist nicht in der bloßen Reflexion zu losen. Man muß vielmehr zusehen, ob man im Anschauen moderner Bilder dasselbe erfährt, was vor den großen Werken der Vergangenheit geschieht. Da nun zeigt sich: wer sich ohne Voreingenommenheit den Bildern gegenwärtiger Maler nähert, dem können Entrückung und Versinken, Wesentlichwerden und Verwandlung der Welt widerfahren, nicht anders, als vor den Kunstwerken vergangener Zeiten. Warum auch sollten ein Stilleben von £έ$3ηηβ, ein kubistisches Porträt von Picasso, ein Spannungsspiel von Farben und Linien auf einem Bilde vonKandinsky weniger Kraft besitzen, die Tiefe zu eröffnen, als etwa eine holländische Bauernszene? Vielleicht kommt sogar in der modernen Malerei, eben weil sie das Gefüge sichtbar machen will, die Kraft des Ursprungs unmittelbarer zum Ausdruck als in früheren Kunstwerken. Vielleicht können Farben und Formen inniger in die Tiefe deuten als die gemalten Dinge. Wenn es so ist, dann läßt sich auch begreifen, weshalb der Betrachter gegenwärtiger Kunst so viel gewaltsamer aus seinem gewohnten Dasein gerissen wird als der Kunstfreund früherer Zeiten. Mit seiner Welt gehen auch die Dinge zugrunde, und er muß den Schmerz über ihr Zersplittern erfahren, damit ihm die Tiefe sichtbar werde. Das also hat es mit der modernen Malerei auf sich: Sie bringt die Tiefe, den ewigen „Gegenstand" der Kunst, auf eine besondere Weise zum Erscheinen: nicht in den im Gefüge gehaltenen Dingen, sondern als Gefüge selber. Sie zerbricht die dingliche Welt, um einer ursprünglicheren Offenbarung des Absoluten Raum zu schaffen. Noch immer bleibt zu fragen, ob der Wille zum Zerbrechen der Dinge nicht doch frevlerisch ist, und ob also die moderne Kunst nun nicht doch 198

am Ende Ausdruck eines Verfalls ist, der dann freilich nicht nur die Kunst, sondern unser Dasein in seinem weitesten Umfang beträfe. Denn in ihrem Versuch, die Ebene des Gefüges zu erreichen, steht die moderne Malerei mit einer Fülle von zeitgenössischen Erscheinungen im Bunde. Dahin gehört nicht nur die moderne Musik, sondern etwa auch die Physik, die ihren Gegenstand immer weniger als beständige Substanz und immer mehr als Funktion begreift, oder die Biologie, die das Lebewesen in wachsendem Umfang von seinen Umweltbezügen her deutet. Auch die Philosophie, wo sie heute wesentlich ist, will die Spaltung in Subjekt und Objekt, die in den Antinomien scheitert, durch ein Denken überwinden, dessen Wahrheit das ist, was den Bezug zwischen beiden gründet. Die Theologie schließlich besinnt sich darauf, daß ihr eigentliches Thema nicht die göttlichen Dinge, sondern die Beziehung Gottes zum Menschen ist. Überall also, wenn auch in je verschiedener Weise, geht es darum, die Ebene der Dinglichkeit zu verlassen und zur Ebene der Bezüge vorzudringen. Und in diesem Wandel des Blickes mag es auch begründet sein, daß sich der Mensch der Gegenwart in seiner Welt so unheimlich fremd weiß. Allzulange hat er sich mit den Dingen eingerichtet, als wären sie beständig; nun wird offenbar, daß die tiefere Wahrheit in den Bezügen ruht. Damit aber verliert er die Geborgenheit in der Dichte der Welt; inmitten der schwindenden Dinge fühlt er sich ausgesetzt und verlassen. Wenn es so den Anschein hat, als kündige sich in dem, was in der modernen Kunst geschieht, ein umfassender Wandel unserer gesamten Weltsicht an, dann wird die Frage erst recht dringlich, ob nicht dies alles Ausdruck eines tiefgehenden Verfalls ist, so daß also die Kunst der Gegenwart ein Zeichen der Erschöpfung des abendländischen Geistes überhaupt wäre. Angesichts dieser bedrohlichen Möglichkeit tritt jener eingangs berührte Zusammenhang zwischen der Kunst der Gegenwart und unserem eigenen gegenwärtigen Dasein ins Spiel. Wenn nicht nur einzelne Zeiterscheinungen, sondern die Gegenwart überhaupt, und das heißt, wir selber als die Gegenwärtigen, nichts als Produkte eines radikalen Verfalls sind, und zwar gerade da, wo wir meinen, im Wesentlichen zu stehen, dann muß, wer dies recht bedenkt, auf jeden Sinn seines geschichtlichen Augenblicks verzichten. Wir müssen dann einsehen, daß wir ohne echte Gegenwart, und das bedeutet, ohne Zukunft sind, und daß die Geschichte uns in diese Sinnlosigkeit gestürzt hat. Ist aber eine solche radikal verwerfende Betrachtung der Gegenwart notwendig, ja ist sie überhaupt möglich? Man kann natürlich die totale Sinnlosigkeit behaupten. Die Frage ist aber, ob dies auch praktisch durchführbar ist, ob man also in einer solchen Haltung existieren kann. 199

Offensichtlich setzen wir in unserem Verhalten ständig und selbstverständlich voraus, unser Tun sei sinnhaft. Selbst die einfachsten Verrichtungen des Alltags sehen wir in umfassenderen Zusammenhängen) von denen her sie ihren Sinn erhalten; anders ist menschliches Leben überhaupt nicht möglich. Die Annahme einer absoluten Sinnlosigkeit widerstreitet also dem, was wir faktisch in unserem Dasein tun. Sie läßt sich zwar nicht theoretisch widerlegen, es läßt sich aber zeigen, daß sie den Menschen bis in den Grund seiner Existenz hinab mit sich selber entzweit und also, wenn nicht auf alle Konsequenz im Dasein verzichtet wird, als praktische Haltung unvollziehbar ist. Wo ich mit mir selbst einig bin, lebe ich in der Gewißheit, daß es einen mich umgreifenden Sinn gibt. Diesen Sinn, innerhalb dessen mein eigenes Dasein sinnhaft ist, kann ich aber nicht abstrakt, sondern jeweils nur in meiner geschichtlichen Situation, als die Forderung der Stunde, erfahren. Nicht daß ich alles, was die Gegenwart anbietet, in Bausch und Bogen zu akzeptieren hätte. Aber was sich in meiner Zeit wesenhaft ans Licht drängt, und was ich so als das mich zutiefst Angehende erspüre, d u kann ich nicht als bloßen Verfall abtun. Es ist der Auftrag, den die Geschichte mir in meiner Gegenwart zuschickt. Was aber ist heute der uns zugeschickte Auftrag? Nichts anderes als das, was sich fiberall, wo das gegenwärtige Dasein wesentlich ist, ankündigt, wenn auch in verschiedener Intensität: daß das Vordergründige zerbrochen werde und der Blick in die Tiefe frei werde. Vor dieser Forderung seines geschichtlichen Augenblicks darf der Mensch der Gegenwart nicht davonlaufen und sich am Vergehenden festklammern. Er muß das Hinfallen der Dinge aushalten und mit dafür Sorge tragen, daß, was diese verstellten, ans Licht komme. Nun ist es der Kunst eigentümlich, vor andern Weisen des wesenhaften Ausdrucks der Gegenwart das Kommende anzuzeigen. Das liegt an ihrer besonderen Nähe zu dem die Geschichte fügenden Ursprung. Die Kunst ist dem Menschen immer voraus. So kann sie ihm auch vorzüglich den Auftrag der Stunde, der immer zugleich der Auftrag des Kommenden ist, vor Augen stellen. Indem sie in der Gegenwart im Zerbrechen der Dinge das Gefüge in ersten Umrissen sichtbar macht, eröffnet sie uns, die wir in das Sein der Dinge verfestigt sind, die Möglichkeit eines neuen Begreifens der Welt: aus dem Gefüge heraus; nicht an der Oberfläche, sondern in der Tiefe. Das ist es, was der Grund des Seins dem Menschen heute in der Kunst zuschickt. Freilich so, daß es oftmals wie Verfall anmutet. Denn das Kommende kündigt sich an, wie sich Neues immer zu melden pflegt: in den Wehen der Geburt. Damit der reine Blick auf die Tiefe der Welt möglich werde,

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muß das Vordergründige untergehen. So zerbröckelt die Kruste der Dinge bei Cezanne, so zerkracht sie im Expressionismus. Aber gerade im Zerbrechen der unmittelbar gegebenen Gestalt öffnet sich der Raum, in dem erscheint, was in den Dingen wirksam ist. Doch weil der Mensch sich gegen die Zerstörung sperrt, kann das Wesenhafte nicht still erscheinen, sondern muß sich in Bildern voll von Gewaltsamkeit darstellen. Daher das Eruptive des Expressionismus, daher der Anschein des Dämonischen, des Chaotischen. Doch dann versucht die Kunst, die wirksame Tiefe selber ins Bild zu bringen, und sie findet ihre Spuren in dem, was als das Ursprünglichere in den Dingen selber anwesend ist: in den Bezügen, den geometrischen Gebilden, den einfachen Formen, den Linien, den Farben. Im Kubismus und in der abstrakten Malerei deuten sich die Umrisse dessen an, was als Gefüge und darin als ursprünglicher Ausdruck der Tiefe erscheinen will, und was in seine Weltsicht aufzunehmen der Mensch der Gegenwart berufen ist. Wie aber steht es um die „Zukunft der gegenwärtigen Kunst"? Vielleicht gibt sich uns, wenn wir auf die Gegenwart hören, schon etwas vom kommenden Wesen der Kunst. Weil die Dinge den Blick auf die Tiefe verstellten, mußte erst einmal das Gefüge als das dem Ursprung Nähere rein als solches, in seiner nackten Weltlosigkeit, erscheinen. Aber das kann nur ein Übergang sein. Der Mensch vermag zwar für Augenblicke auf die Ebene der reinen Bezüge zu gelangen, aber dann wird er, weil er ein welthaftes Wesen bleibt, zur Rückkehr in die Welt gezwungen. Darum ist das reine Erscheinen der Tiefe als Gefüge zwar geschichtlich notwendig, wo die Gefahr der Verstrickung in die gegenständliche Welt groß wird. Aber ihm muß, wenn die Geschichte nicht zuende sein soll, ein anderes Hervorkommen der Tiefe folgen: nicht wie sie in sich selber ist, sondern wie sie Welt bildet. Das heißt nicht, daß die Kunst einfach zur Darstellung der Dinge im überlieferten Sinne zurückkehren dürfte. Sie wird von Welt und Dingen handeln, aber von ihnen als durchfügten. Ihr großes künftiges Thema wird sein: das Absolute im Ernst seines weltbildenden Spiels. Auch dafür gibt es in der gegenwärtigen Malerei schon Ansätze. Freilich nicht so, daß man darauf deuten könnte und sagen: hier ist das Künftige schon Gegenwart· Doch mag es geschehen, daß man vor diesem oder jenem Bilde spürt: hier blitzt etwas vom weltbildenden Absoluten auf. Aber wenn man es fassen will, entzieht es sich wieder. Auch im Anblick der Kunst steht die Gegenwart noch in der Erwartung und nicht im Besitz des Künftigen. Die Aufgabe ist, auf das zu achten, was kommen will, bereit zu sein für die Erscheinungen des Absoluten, und das heißt: auf das Geschehen von Kunst zu merken. 201

Fragment über die Musik Wer je die eigentümliche Ergriffenheit verspürt hat, die uns im Hören großer Musik überkommen kann, der mag sich wohl fragen, was denn da mit solch zarter Gewalt auf uns zudringt. Was vermag uns so zu bannen? Was ist das — die Musik? Musik ist „Sprache", erhält man zur Antwort. So sagt es etwa Hans Mersmann in seinem tiefdringenden Buch über das ,,Musikhören". Für ihn ist sie sogar „die feinste, empfindlichste und zugleich anspruchsvollste Sprache". Andere, Musiker wie Strawinsky, Philosophen wie Schopenhauer, sagen das gleiche; Hegel nennt die Musik noch deutlicher eine „Mitteilung". Musik also ist Sprache, ist Mitteilung. Aber wovon ist in dieser Sprache die Rede? Was wird da mitgeteilt? Was spricht sich in der Musik aus? Wer anders als der Schaffende? Indem wir den Tönen lauschen, hören wir die Sprache Bachs, die Sprache Mozarts, die Sprache Strawinskys, die Sprache Schönbergs. Ihre je eigene, ihre unverwechselbare Sprache. Sie sprechen ihre Empfindungen, ihre Erfahrungen, ihr Betroffensein aus. Aber ist das alles? Höre ich, der Sprache der Musik hingegeben, nichts anderes als das Sprechen Bachs, Mozarts, Strawinskys, Schönbergs? Oder ist da nicht noch mehr? Höre ich nicht im Horchen auf ihre Sprache zugleich mit, daß sie etwas sagen, das ihnen selber gesagt, daß sie von etwas sprechen, das ihnen selber zugesprochen ist? Doch was ist dieses tiefer Gesprochene der Sprache der Musik? Eine Antwort wird man schwerlich anders erhalten, als indem man auf das Hören der Hörenden achtet. Denn das Ohr ist der Ort, an dem die Sprache der Musik ihr Wesen offenbart. Was also hören die Hörenden? Wollte man sagen: sie hören Töne, Tonfolgen, Rhythmen, Klänge verschiedenster Art, so wäre nur ein Äußerliches begriffen. Hören ist mehr als ein bloß akustischer Vorgang. Hören heißt: das Ohr auf tun, heißt: sich etwas sagen lassen. Hören ist Vernehmen dessen, was in der Sprache gesagt wird. Nun ist das Eigentümliche des Hörens von Musik, daß es gestimmtes und durchstimmtes Hören ist. Das gehört ihm unabtrennbar zu. Es ist nicht so, daß ich zunächst ein Musikstück höre, und dann noch, mehr oder 202

minder zufällig, in eine traurige oder heitere, leichtmütige oder erhabene, geängstete oder befreite, entschlossene oder verzagte, beruhigte oder erregte Stimmung gerate; ich vernehme vielmehr in solchem mannigfaltigen Gestimmtsein, und nur in ihm, das, was als Sprache der Musik zu mir dringt. Ungestimmtes Hören mag zwar die Struktur eines musikalischen Kunstwerks begreifen, mag sich vielleicht gar ästhetisch daran vergnügen; aber solange es ungestimmt bleibt, vermag es nicht, dem, was von der Musik her als Sprache laut wird, zu entsprechen und entsprechend zu hören. Das ist denn auch immer wieder gesehen worden, wo man sich eindringlich mit dem Wesen der Musik beschäftigt hat. So sagt Hegel in seiner tiefsinnigen Aesthetik von dem „fortflutenden Strom der Töne", er habe mit dem „träumerischen Elemente vorstellungsloser Empfindung" zu tun, mit den „Tiefen des Gemüts", dem „inneren Sitz aller Bewegungen der Seele"; schließlich spricht er ausdrücklich von der im Hören der Musik hervorgerufenen „Stimmung des Gemüts" als einem „präsenten Ergriffensein des Innern". Die Feststellung, daß die Musik in Stimmung versetzt, so selbstverständlich sie erscheint, deutet auf das Geheimnis der Sprache der Musik hin. Diese spricht, indem sie „stimmt". Freilich darf man die Stimmung nicht im oberflächlichen Sinne einer bloßen Gefühlsaffektion verstehen. Stimmung ist mehr, Stimmung ist, wie dies vor andern Heidegger gezeigt hat, eine Weise, wie der Mensch sich selbst versteht. Und zwar ursprünglich, im Wegfall aller von ihm selber vor sich hingestellten Auslegungen seines Daseins. In der Stimmung erfährt der Mensch, wie es im Grunde mit ihm steht. In der Stimmung wird er unausweichlich vor sich selbst gebracht. Solches geschieht auch im echten Hören der Sprache der Musik. Gestimmtes Hören ist eine wesentliche Weise der Selbstbegegnung. Ein Zeichen dessen ist, daß dem, der sich der Sprache der Musik öffnet, zumute ist, als sinke all das Vordergründige dahin, das ihm im Alltag den Blick auf sich selbst verstellt. Ein anderes Zeichen ist, daß er, wenn er aus dem versunkenen Hören auftaucht, merkt: eine Verwandlung ist mit ihm geschehen, er ist anders, wesentlicher geworden, er ist wahrhaft zu sich selbst gekommen. In der Stimmung, in der ich die Sprache der Musik vernehme, begegne ich mir selber, und zwar nicht in der Zufälligkeit meiner besonderen Individualität, sondern im Grunde meines Seins. Und hierin wurzelt die Macht, die die Musik über den Menschen hat. Darauf sind die Philosophen oftmals aufmerksam geworden. Hegel schreibt, im Hören der Musik werde der Mensch „seinem einfachen 203

Selbst, dem Zentrum seines geistigen Daseins nach in das Werk hineingehoben". Im gleichen Sinne sagt Schopenhauer, daß wir in der Musik ,,das tiefste Innere unseres Wesens zur Sprache gebracht sehen". Aber dieses Selbst, vor das die Musik den Menschen bringt, ist kein isoliertes Ich, kein bloß punktuelles Selbstbewußtsein. Wenn auch dem Gestimmten die Welt des Alltags entgleitet, bleibt er doch ein welthaftes Selbst. Nicht um die Fülle der Dinge freilich geht es in der Stimmung, sondern um das Wesen der Welt, darum, wie sie eigentlich und im Grunde ist. Indem die Stimmung dem Gestimmten enthüllt, wie es mit ihm selber steht, öffnet sie ihm zugleich den Blick für das Sein der Welt. Wiederum geschieht das gleiche in demjenigen Stimmen, das von der Musik ausgeht. Auch hierfür gibt es ein Zeichen: daß uns die Welt verwandelt erscheint, wenn wir aus einem Augenblick hingegebenen Hörens in den Tag zurückkehren; verwandelt nicht darum, weil die Dinge ihr Gesicht und Aussehen geändert hätten, sondern weil uns etwas von der Wesentlichkeit der Welt kund geworden ist, in der die Dinge ruhen. Wer nie erfahren hat, wie sich im Lauschen auf Musik der Blick auf die Welt wandelt, kennt das echte Hören nicht. Denn auch diese Kraft der Verwandlung gehört mit zur Macht der Musik. Vielleicht ist sogar etwas Wahres daran, wenn wir meinen, in der Sprache der Musik das Wesen der Welt selber sich aussprechen zu hören. Dann wäre die Musik in der Tat, und nicht bloß im abgegriffenen Gebrauch des Wortes, Sprache der Welt. So jedenfalls haben es manchmal die Philosophen gesehen. Etwa Schopenhauer, wenn er sagt, Musik sei „Ausdruck der Welt", sie offenbare das „Herz der Dinge". Oder Nietzsche, der in verwandtem Geiste schreibt, die Musik rede „aus dem Herzen der Welt heraus". Das also hat es mit der Sprache der Musik auf sich: sie wird im gestimmten Hören vernommen; stimmend redet sie vom Wesen des Selbst und der Welt. Was aber sagt sie darüber? Was bringt sie davon zur Sprache? Um das zu begreifen, gilt es, erneut auf das Geschehen von Musik zu achten. Es stellt sich dar in den Tönen. Aber was ist ein Ton? Eine Schwingung von bestimmter Frequenz, antworten die Naturwissenschaftler. Doch darum soll es hier nicht gehen. Wichtig ist vielmehr, daß der Ton ein zu uns dringendes Klingen, ein Klang ist. Ein Klang aber, der seine Zeit hat, bemessen in Halben, Vierteln und Achteln, der beginnt und endet. Er tönt eine Weile; dann bricht er ab und gibt einem neuen Tone Raum. Ohne Begrenztheit der Dauer wäre er nicht, was er ist: musikalischer Ton. Hörte er niemals auf, so wäre er nicht Klang, sondern ein 204

lästiges Geräusch. Die Zeitlichkeit also gehört zum Wesen des Tones, und nicht minder zum Wesen der Melodie, des Rhythmus und des ganzen Musikwerkes. Im Anheben und Abbrechen, im Aufklingen und Verschweben, in Beschleunigung und Verlangsamung zeigt die Musik ihr Sein als bemessene Zeit. Aufs prägnanteste drückt das Hans Mersmann aus: „Musik ist Zeit." Eben darin nun offenbart sie dem Hörenden etwas vom Wesen des Selbst und der Welt. Sie stimmt uns zu der Einsicht, daß auch wir selbst und daß auch unsere Welt von bemessener Frist sind. Selbst und Welt sind zeitlich, ja, die Zeitlichkeit ist ihr Wesen. Endlichkeit und Vergänglichkeit bestimmen ihr Sein, und dies bis in den Grund hinab. Das ist es, was wir im Hören der Musik, im Lauschen auf das Klingen und Verklingen der Töne verspüren. Daher auch kommt es, daß über der Musik, auch wo sie im heitersten Spiele sich kundtut, etwas wie eine leise Melancholie schwebt: das Wissen darum, daß auch das Schöne vergeht, daß dem Endlichen keine Dauer beschieden ist, der Schmerz der Vergänglichkeit. In der Zeitlichkeit erschöpft sich jedoch nicht, was die Musik über das Wesen von Selbst und Welt kundtut. In Akkord und Tonfolge, in Takt und Rhythmus, schließlich in der gegliederten Struktur des Musikwerkes als Ganzen stehen die Töne in vielverschlungenen Beziehungen zueinander, in einer Ordnung des Zugleich und des Nacheinander. Musik spricht von Ordnung, und deren geheimes, nie ganz aufzudeckendes Gesetz gehört mit zu dem, was uns im Hören der Musik so mächtig angeht. So kann Strawinsky sagen: „Das Phänomen der Musik ist uns zu dem einzigen Zweck gegeben, eine Ordnung zwischen den Dingen herzustellen, und hierbei vor allem eine Ordnung zu setzen zwischen dem Menschen und der Zeit; diese erreichte Ordnung ist es, die uns auf eine ganz besondere Weise bewegt." Wenn also Musik Sprache der Zeitlichkeit ist, so zugleich Sprache der gegliederten und gefügten Zeitlichkeit, Ordnung der Gleichzeitigkeit und der Zeitfolge, geordnete Zeit. Mit dieser Ordnung hat es eine eigentümliche Bewandtnis. Sie tritt uns im Hören der Musik so entgegen, daß wir den Eindruck haben: sie lebt aus ihrem eigenen Gesetz; was uns begegnet, ist die Ordnung an sich selber und als Macht von eigenem Ursprung. Musik ist, wie Nietzsche sagt, „ein Stück Fatum und Urgesetz". Darum auch hat sie ihr Dasein letztlich nicht von Gnaden des Schaffenden. So wenigstens sieht es Schönberg, wenn er vom Künstler sagt: „Er hat das Gefühl, als wäre ihm diktiert, was er tut. Als täte er es nur nach dem Willen irgendeiner Macht in ihm, deren Gesetze er nicht kennt." 205

Ob man freilich das Recht hat, aus diesem Gefühl der Schaffenden und der Hörenden metaphysische Folgerungen zu ziehen, muß hier offen bleiben. Wäre es erlaubt, dann käme zu besonderer Bedeutung, daß es uns so vorkommt, als seien jenes Gesetz und jene Ordnung nicht in der gleichen Weise der Vergänglichkeit unterworfen wie der klingende Ton. Musik wäre dann nicht nur geordnete Zeit, sondern eine Weise, wie sich die Ordnung selber Ausdruck gibt und sich als Klang in ihr zeitliches Erscheinen bringt. Musik wäre gezeitigte, sich selber zeitigende Ordnung. Wieder gilt es zu fragen, was die Musik als Ordnung über das Wesen von Selbst und Welt aussagt. Offenbar dies, daß auch unser Dasein und das der Welt von einer geheimen Ordnung durcEwaltet sind, der gleich, die sich in der geordneten und ordnenden Sprache der Musik offenbart. Das schafft denn auch die tiefere Beglückung im Hören der Musik, der traurigen ebenso wie der heiteren: daß sich in ihr nicht nur der Schmerz der Vergänglichkeit ausspricht, sondern auch das Dauern der Ordnung; daß die Endlichkeit nicht bloßes Vergehen ist, sondern daß das Endliche, solange es besteht, ein Beständiges erscheinen läßt. Und diese Beglückung ist um so größer, je mehr man spürt, daß sich die Ordnung über dem ständigen Einbruch des Unterganges hält, je mehr sie sich als zeitigende Ordnung empfunden wird. So schafft sie den wesentlichen Trost in der Trauer der Vergänglichkeit. Die Ordnung, gesetzt, man dürfe sie metaphysisch als ein Sein eigenen Ursprungs verstehen, ertönt jedoch nicht als ein unmittelbarer Klang aus dem Himmel, sondern wird durch das Schaffen des Menschen vermittelt. Sie zeitigt sich nicht ohne Dazwischenkunft der menschlichen Freiheit. Darin gründet es, daß wir die unverwechselbare Eigenart der Musik Bachs, Mozarts, Strawinskys, Schönbergs vernehmen können; diese sprechen die Ordnung auf ihre je eigene Weise aus. Aber zugleich gilt doch auch das andere: sie sind nicht Gestalter aus reiner Willkür, sondern selber Hörende, die dem Anruf der Ordnung in Freiheit antworten und ihr Werk als solche freie Antwort schaffen. Auch darin deutet die Musik auf das Wesen des Selbst und der Welt. Daß nämlich die Welt nicht unabänderlich in die Gesetze der ehernen Notwendigkeit eingeschlossen ist, sondern daß in ihr Freiheit wirksam ist, und daß der Mensch in seiner Freiheit daran mitzuwirken hat, die Welt zu gestalten. Er selbst aber steht noch in einer innigeren Weise in der Mitte zwischen Notwendigkeit und Freiheit. Er weiß sich dazu aufgerufen, die Ordnung, die sich ihm in der Musik und an vielen anderen Orten ankündigt, in Freiheit zu verwirklichen, und das heißt vor allem: 206

sein Dasein im Ganzen der großen Ordnung selbst zu gestalten, sich recht in diese zu fügen und dadurch mitzuhelfen, daß die Ordnung sich zeitigen kann. Ein Zeichen dessen ist es, daß uns die großen Entschlüsse unseres Lebens manchmal gerade dann erwachsen, wenn wir selbstvergessen den Tönen der Musik lauschen. Was sich bisher schon andeutete, tritt nun voll zutage: die Wirkung der Musik ist zwiespältig. Zeitentrückte Ordnung und Zeitlichkeit, Dauer und Vergänglichkeit, Notwendigkeit und Freiheit treten dem Menschen gleicherweise im aufgeschlossenen Hören entgegen. Wovon die Sprache der Musik spricht, das ist letztlich diese Spannung, dieser Widerstreit, in dem die sich Befehdenden doch untrennbar in einer verborgenen Einheit gehalten sind. Aus Entzweiung und Versöhnung lebt die Musik. Der Akkord ist Einheit der Gegensätze, und nichts anderes sind das Gegenspiel der Stimmen, ihr Steigen und Fallen, das Fragen und Antworten der Themen und ihrer Durchführungen, die Kontraste der Sätze. Dissonanz und Konsonanz, in einem umfassenderen als im bloß musiktechnischen Sinne verstanden, Schmerz und Heilung und die Zusammenstimmung beider, sind das tiefst Gesprochene der Sprache der Musik. Damit stellt sie den Menschen vor die Einsicht, daß die Welt der Ort des Widerstreites, und daß er selbst zwiespältigen Wesens ist, ausgespannt zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen beständiger Ordnung und haltloser Vergänglichkeit. Denn die Spannung, der sich versöhnende Widerspruch, ist auch das Grundwesen der Welt und des Selbst. Indem die Musik den Menschen in diese Stimmung einstimmt, weist sie ihn in seine wesenhafte Aufgabe: um diesen Zwiespalt zu wissen und ihn in der rechten Weise im Dasein auszustehen. Es könnte sein, daß sich von da aus am Ende noch ein tieferer Aspekt eröffnet. Eine alte russische Legende sagt, als Gott die Töne erschaffen habe, habe der Teufel die Synkope erfunden, als das Zeichen des Aufruhrs gegen die gefügte Ordnung. Aber dann habe der Mensch den Bösen mit seinen eigenen Waffen geschlagen, die Synkope in das Tanzlied aufgenommen und damit das Teufelswerk in die gottgeschaffene Musik eingebracht. Ist also der Mensch, wo er Musik treibt, ein Mittler zwischen Gott und dem Teufel? Ist die Zwiespältigkeit der Musik ein Zeichen ihres Schwebens zwischen den beiden großen Grenzen des Menschen und der Welt? Ob dem so ist — wer weiß es? Über die Synkope, über Gott und den Teufel kann man nur fragmentarisch reden.

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IV

Wesen und Ursprung des Gewissen Es gibt kaum ein Faktum des menschlichen Lebens, über das so widersprechende Ansichten herrschen, wie das Gewissen. 1 Nicht nur die Wissenschaftler — Psychologen, Theologen und Philosophen — stehen in ungeschlichtetem Streite darüber, ob sie das Gewissen als höchstes Prinzip des Handelns anerkennen oder es andern Prinzipien unterwerfen sollen. Auch im Urteil des täglichen Lebens schwankt die Bewertung des Gewissens beträchtlich. Der eine wird von ihm geplagt; der andere pfeift darauf. Einige sind für das Gewissen gestorben; andere haben es sorglos in den Wind geschlagen. Mancher schüttelt es ab, weil es ihm unbequem ist; ein anderer aber möchte alles eher entbehren als sein Gewissen, das ihm zur untrüglichen Richtschnur in der Verwirrung des Lebens dient. Muß es aber bei einer solchen zwiespältigen Betrachtung bleiben? Hängt nicht Entscheidendes für unser Dasein davon ab, daß wir darüber ins reine kommen? Was also ist das Gewissen? Wollen wir uns in dem Gewühl der mancherlei Meinungen einen Weg zur Einsicht in das Wesen des Gewissens bahnen, dann müssen wir uns dieses rätselhafte Ding erst einmal genau anschauen. Wir müssen uns eine Gewissenserfahrung vergegenwärtigen, und zwar eine Erfahrung des bösen oder schlechten Gewissens. Man hat dagegen eingewandt, das ursprünglichste Gewissensphänomen sei nicht das böse, sondern das gute Gewissen; das Gute sei ja doch ursprünglicher als das Böse, das im Zuwiderhandeln gegen das Gute bestehe und also dieses voraussetze. Wenn man jedoch nach der ursprünglichen Erfahrung des Gewissens fragt, muß man an dem Punkte einsetzen, an dem sich einem das Gewissen unmittelbar aufdrängt. Das aber ist eben jene Erfahrung, in der ich durch das Schlagen des Gewissens aufgerüttelt werde, also die Erfahrung des schlechten Gewissens. Genau betrachtet ist übrigens das gute Gewissen nicht viel mehr als die Abwesenheit jenes unmittelbaren Betroffenwerdens, dies also, daß ich keinen Anlaß habe, ein böses Gewissen zu haben. So meint es auch das Sprichwort: „Ein gut Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen." Wobei sich freilich sofort eine tiefe Zweideutigkeit im guten Gewissen offen1 Vgl. zum Problem des Gewissens die Schrift des Verfassers: Das Wesen der Verantwortung, 19361, 1958*.

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bart. Denn warum kann ich mir dieses sanfte Ruhekissen unter den Kopf legen? Möglicherweise deshalb, weil ich mir in der Tat nichts vorzuwerfen habe. Vielleicht aber auch nur darum, weil ich mich gegen den Anruf meines Gewissens abgestumpft habe. Wenn dann eingewandt wird, das Gute sei doch stets dem Bösen übergeordnet, und also auch das gute Gewissen dem bösen Gewissen, dann muß man erwidern: so wenig das gute Gewissen in seiner Zweideutigkeit von vornherein etwas Gutes ist, so wenig ist das böse Gewissen aus sich selber heraus etwas Böses. Es heißt vielmehr darum böse, weil es den Menschen in seinem Bösesein trifft. Wenn es das aber vermag, — sollte es dann nicht am Ende ganz ursprünglich und in einem tieferen Sinne im Guten wurzeln? Doch ehe wir dem weiter nachgehen, müssen wir uns erst einmal eine Erfahrung des bösen Gewissens ausdrücklich vor Augen führen. Dabei will ich keine besonders auffällige Gewissenserfahrung wählen, etwa die des Orestes, den die Furien verfolgten, oder die Geschichte des Judas Ischarioth, oder die Gewissensbisse des Rodion Raskolnikoff. Am eindeutigsten kommt das Wesen des Gewissens da zum Vorschein, wo man es in einem möglichst einfachen Beispiel betrachtet, an einer Erfahrung also, die jedem von uns alle Tage widerfahren kann. Nehmen wir also an, wir gehen von einer angeregten Gesellschaft nach Hause. Wir lassen die Geschehnisse des Abends in uns ausschwingen, wir lassen die Gespräche noch einmal vor unserem inneren Ohr vorüberziehen. Plötzlich stockt uns der Fuß. Wir spüren ein merkwürdiges Erschrecken, eine seltsame Unruhe. Vielleicht wissen wir zunächst noch nicht recht, worauf das alles zielt. Dann aber überkommt es uns: wir haben in der Gesellschaft, von der wir kommen, ein liebloses Wort gesagt. Wir haben unbedacht jemanden gekränkt. Plötzlich erhält der Abend, der eben noch so harmonisch erschien, eine dunklere Tönung. Und nun wissen wir: es ist das Gewissen, das uns schlägt. An dieser Gewissenserfahrung fällt zunächst auf, daß sie den Menschen plötzlich, unvermutet überfällt. Nicht er selbst ruft sie hervor; sie überrascht ihn. Das will es besagen, wenn von der Stimme des Gewissens die Rede ist. Der Ausdruck mutet zunächst seltsam an; das Gewissen spricht ja doch in der Lautlosigkeit des Innern. Aber „Stimme" heißt nicht, daß Laute ertönen. Gemeint ist vielmehr, daß das Gewissen den Menschen aufstört. So wie einen, der auf einen Abgrund zugeht, ein Ruf, eine Stimme erreicht und auf die Gefahr aufmerksam macht, in der er schwebt, so bringt auch die Stimme des Gewissens den, den sie trifft, zum Aufhorchen. Wenn sie ihn mitten in seinem Befangensein in die weltlichen Geschäfte überfällt, ruft sie ihn auf, von dem wegzuhören, was

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ihn gerade in Anspruch nimmt. Sie reißt den Menschen heraus aus der Verflochtenheit in die Welt und bringt ihn, selbst mitten im Getriebe des Alltags, in die Einsamkeit, in der er mit sich selber allein ist. Da aber kann er nicht gelassen bei sich selber verweilen. Der Ruf des Gewissens versetzt ihn vielmehr in eine merkwürdige Unruhe, die sich als deutlich empfundener Schmerz äußert. Das Gewissen klopft nicht sanft an, sondern schlägt auf den ein, den es trifft; daher reden wir vom Schlagen des Gewissens oder vom Gewissensbiß- Die Gewissenserfahrung ist von einer eigentümlichen Traurigkeit durchzogen, die sich bis zur Gewissensangst steigern kann. Ein lateinisches Sprichwort sagt: „Das Gewissen ist sein eigener Henker." Wer sich aber in seiner Gewissenserfahrung selber versteht, sucht den Grund all dieses Quälenden nicht im Gewissen, sondern in seinem eigenen Tun. Er merkt, daß etwas mit ihm nicht stimmt, und daß er darum vom Gewissen geschlagen wird. Sein Verhalten in der Gesellschaft, das ihm vordem fraglos erschienen war, kommt ihm jetzt fragwürdig vor. Das ist es, was wir vom Gewissen her als unsere Schuld zu wissen bekommen, und was mit der Erfahrung des Gewissens notwendig verbunden ist. Das Gewissen offenbart mir: die Lieblosigkeit, die ich mir zuschulden kommen ließ, ist nicht in Ordnung; sie hätte nicht sein sollen. Aber es ist nicht an dem, daß mein Tun erst durch das Gewissen verwerflich würde. Im Hören des Anrufes des Gewissens bekomme ich vielmehr zu wissen, daß es aus sich selber heraus verwerflich ist. Doch der Ruf des Gewissens beschränkt sich nicht darauf, ein einzelnes Tun als schuldhaft und verwerflich zu enthüllen. Er dringt weiter: daß ich so handeln konnte, gründet darin, daß ich so bin, wie ich nicht sein sollte. Wenn eine solche Lieblosigkeit möglich war, muß an meinem Sein etwas nicht in Ordnung sein. Der Gewissensruf hat eine eigentümliche Tendenz vom Tun auf das Sein; wen er trifft, den will er im Innersten seines Seins treffen. Wenn ich ihn sich ausrufen lasse, enthüllt er mir eine tiefe Fragwürdigkeit und Verwerflichkeit meines Seins überhaupt. Und das ist es eigentlich, weis das Gewissen als böses Gewissen erscheinen läßt: daß es sein Nein ausspricht über ein innerstes Bösesein dessen, den es trifft. Eben das wird offenbar vom Anruf des Gewissens her. Darin steckt ein weiteres wichtiges Moment: ich könnte mich nicht als schuldhaft erfahren, ich wüßte überhaupt nicht, daß hier Schuld vorliegt, wenn mir nicht durch das Gewissen ein mögliches Schuldlossein eröffnet würde. Indem ich meine faktische Lieblosigkeit zu wissen bekomme, erfahre ich ineins damit, daß ich hätte liebevoll sein können und liebevoll sein sol213

len. Das Gewissen, das über das verwerfliche Tun und Sein des Menschen sein Nein ausspricht, gibt zugleich damit den Blick frei auf ein mögliches unverwerfliches Tun und Sein, und zwar als ein solches, das ich eigentlich hätte verwirklichen sollen. Ich erfahre meine Schuld unmittelbar als Verfehlung gegen einen Anspruch, der mir durch das Gewissen hindurch, wenn auch auf indirekte Weise, vorgestellt wird. So gibt das Gewissen — zumeist freilich nur in umrißhafter Weise — dem Menschen die Möglichkeit seines richtigen und eigentlichen Seins zu wissen. Das besagt aber: die Möglichkeit seines Gutseins. Wem das Gewissen schlägt, der erfährt zutiefst das Gute, freilich auf die besondere Weise, daß es ihm durch das Nein über die eigene Verwerflichkeit hindurch offenbar wird. Der Horizont, vor dem er sich als schuldhaft versteht, ist eine ursprüngliche, wenn auch mittelbare Erfahrung des Guten. Das böse Gewissen ist, was es ist, nämlich b ö s e s Gewissen, weil es letztlich im Guten wurzelt. Es ist negativ und kritisch auf dem Grunde einer ursprünglichen Positivität. Und eben das kündet sich dem Menschen als die aus ihm selber kommende Stimme des Gewissens an. Damit aber tut sich ein Zwiespalt im Menschen auf. Auf der einen Seite erfährt er sich als schuldhaft, und zwar bis in den Grund seiner Existenz hinab. Auf der andern Seite erfährt er durch die Stimme, die ihrerseits aus dem Grunde der eigenen Existenz hervordringt, die Möglichkeit eines schuldlosen Seins. Wie ist dies Widersprüchliche im Wesen des Menschen zu begreifen? Man muß darauf achten, in welchem Sinne wir diesen beiden Ebenen unseres Seins Wirklichkeit zusprechen. Der faktischen Wirklichkeit nach ist der Mensch, so wie er sich vor dem Anspruch des Gewissens selber •ersteht, bis in den Grund seines Seins hinab schuldig. Jene andere Möglichkeit, gut zu sein, ist dagegen faktisch nicht wirklich. Sie ist ja, wie sich in der Gewissenserfahrung zeigt, die verfehlte, die verspielte Möglichkeit. Sie ist bloßes Seinkönnen. Aber nun doch nicht in der Weise einer gleichgültigen Möglichkeit. Das eigentliche Sein-können stellt vielmehr den Anspruch, faktische Wirklichkeit zu werden; es fordert von mir, daß ich mich ihm gemäß verwandle. Im Hören der Stimme des Gewissens weiß ich: ich hätte schuldlos sein können, ja noch mehr: ich hätte schuldlos sein sollen. Und so zeigt sich: jene zweite Ebene meines Seins will, in der Verwerfung der faktischen schuldig gewordenen Wirklichkeit, selber faktisch wirklich werden. Damit sind wir zum Kern unseres Problems vorgedrungen. Denn die eigentlich erregende Frage ist, was es denn mit jener Ebene des Guten auf sich hat, in der das Gewissen, seiner eigenen Aussage nach, letztlich 214

wurzelt. Mit welchem Recht stellt es dem Menschen die positive Möglichkeit, auf die es durch sein Nein hindurch hinweist, als die eigentliche und wahre, als die von ihm zu verwirklichende, vor Augen? Mit welchem Recht verwirft es von daher das faktische Tun und Sein des Menschen? Die Frage verschärft sich noch, wenn wir darauf achten, daß das Gewissen behauptet, seine Forderung gelte absolut. Das Gewissen gibt vor, eine unbedingte Überlegenheit über den Menschen zu besitzen, den es trifft. Es will unbestrittene Instanz seines Lebens sein. Es gibt sich als inappellabel aus. Was bedeutet eigentlich diese Absolutheit, die zu besitzen die Stimme des Gewissens behauptet? Sie besagt einmal Unabhängigkeit von dem Menschen, zu dem sie spricht. Das zeigt sich darin, daß wir zwar mit Gewalt oder durch Gleichgültigkeit das Gewissen zum Schweigen bringen können, daß wir aber keine Macht darüber besitzen, es anders reden zu lassen, als es von sich aus sprechen will. Ich erfahre ja unmittelbar im Hören der Gewissensstimme: nicht das Gewissen soll sich ändern, sondern ich selber soll mein Dasein verwandeln. Das Gewissen ist also insofern absolut, als es nicht von meinem willentlichen Zutun abhängt, als es unverfügbar ist, als es aus eigener Kraft und Machtvollkommenheit spricht. Die Absolutheit des Gewissens hat aber noch eine tiefere Bedeutung. Wir erfahren die Stimme des Gewissens so, daß sie keine Gründe für das angibt, was sie fordert. Das Gewissen sagt nicht: aus diesem oder jenem Grunde ist das, was du tatest, verwerflich. Es sagt unbedingt und ohne jeden Hinweis auf etwas anderes als es selbst: du bist schuldig, und du hättest so sein sollen, wie es sich dir durch die Verwerfung deines faktischen Seins hindurch zeigt. Damit aber wird die Absolutheit des Gewissens erst recht problematisch. Denn wie ist es möglich, daß im Menschen selber eine absolute Stimme laut wird? Kann sie wirklich bloß der Ruf des Menschen an sich selber sein? Oder muß das Gewissen einen andern, einen selber absoluten Ursprung besitzen? Das ist die entscheidende Frage im Problem des Gewissens, entscheidend nicht bloß für ein Verständnis des Wesens des Gewissens, sondern für das praktische Handeln des Menschen überhaupt. Denn es steht dabei in Frage, ob es unbedingt erforderlich ist, dem Anruf des Gewissens zu gehorchen, auch dann, wenn er mit anderen Forderungen in Widerstreit steht, die uns etwa die Gesellschaft, die traditionelle Moral, die Kirche stellt. Auf dieser Ebene haben sich die grossen sittlichen Konflikte der Geschichte abgespielt und spielen sie sich noch heute ab. 215

Man hat die Frage nach der Absolutheit im Anspruch des Gewissens häufig so beantwortet, daß man sagte, im Gewissen werde die Stimme Gottes laut. Denkt man dabei an den persönlichen Gott im Sinne des Christentums, so findet sich im Gewissen, wenn man es rein als solches betrachtet, kein Anhaltspunkt dafür. Unmittelbar erfahre ich ja nichts anderes als eine aus mir selber heraus mir entgegentretende absolute Forderung. Nur wer auf anderem Wege zu der Überzeugung gelangt ist, überall da, wo sich im endlichen Dasein etwas Absolutes zeige, finde eine Äußerung des als Person zu verstehenden Gottes statt, nur der kann meinen, er dürfe ohne weiteres die Stimme des Gewissens mit der Stimme Gottes gleichsetzen. Die Erfahrung des Gewissens als solche nötigt uns nicht zu der Annahme, in ihr komme Gott zu Worte. Damit aber stehen wir wiederum vor der Frage, wie es denn möglich sein soll, daß dem Menschen in ihm selber so etwas wie eine absolute Forderung entgegentritt. Aber ist die Absolutheit nicht am Ende eine bloße Täuschung? So also, daß es mir bloß so erschiene, als werde eine absolute Forderung laut, daß aber das Gewissen in Wahrheit relativ auf den Menschen wäre? Man kann auf mancherlei Tatsachen hinweisen, die eine faktische Relativität der Gewissensinhalte vermuten lassen. So etwa, daß es dem einen eine Sache seines Gewissens ist, den Kriegsdienst zu verweigern, daß aber ein anderer eben um des Gewissens willen dem Vaterland, wenn es in Gefahr ist, mit der Waffe in der Hand zu Hilfe eilen will. Jeder wird ferner beobachten, daß ihm heute manches wider das Gewissen ist, was er in seiner Kindheit ohne Bedenken als erlaubt empfand. Noch krasser werden die Widersprüche in den Gehalten der Gewissensforderung, wenn man verschiedene geschichtliche Epochen oder verschiedene Kulturkreise miteinander vergleicht. Uns heute will es selbstverständlich vorkommen, daß das Gewissen jeglichen Mord verbietet; aber es hat Zeiten gegeben, denen die Opferung eines Menschen als heilige Handlung erschien; man denke nur an die Geschichte von Abraham und Isaak. Oder, um ein weiteres Beispiel zu nennen: die Griechen und Römer empfanden es keineswegs als gewissenlos, Sklaven zu besitzen; uns aber würde das gegen das Gewissen gehen. Hat also nicht jeder Mensch und haben nicht die einzelnen Zeitalter je ihr besonderes Gewissen? Wenn es aber so ist, — muß dann nicht in der Subjektivität und Relativität der Gewissenserfahrung, in diesem Chaos der Inhalte, alle Verbindlichkeit untergehen? Das ist die ernste Frage, vor die uns das Problem des Gewissens stellt. Gesetzt, die Absolutheit im Gewissen sei eine Täuschung, dann muß gefragt werden, wie es denn zu dieser Täuschung kommt. Nietzsche, der 216

sich eindringlich mit diesem Problem beschäftigt hat, will den Widerstreit zwischen faktischer Relativität und beanspruchter Absolutheit im Gewissen dadurch lösen, daß er das Gewissen historisch erklärt. Er sieht es in jener Vorgeschichte entstanden, in der der Mensch aus einem vormenschlichen in den eigentlich menschlichen Zustand überging. Um für ein Leben in der Gesellschaft gezähmt zu werden, mußten ihm, wie Nietzsche sagt, einige Verbote eingebrannt werden. An sie hat sich der Mensch schließlich so gewöhnt, daß sie ihm zum Instinkt geworden sind. Was ihm ursprünglich von außen her auferlegt wurde, das legt er sich nun selber auf, und so erhält er ein Gewissen. Nur weil der Mensch diesen geschichtlichen Ursprung seines Gewissens vergessen hat, kommt er irrtümlich dazu, die Stimme des Gewissens für etwas Absolutes zu halten. Diese These Nietzsches läßt freilich eine Fülle von Fragen offen. Können wir denn über jene urzeitliche Geschichte des Menschen überhaupt etwas Sicheres aussagen? Ist es ferner erwiesen, daß der Mensch ursprünglich in einem ungeselligen Zustand gelebt hat? Aber mag man das auch zugeben: wer soll denn, ehe es den Menschen im eigentlichen Sinne gab, ihm jene Verbote auferlegt haben, die ihn zu dem gemacht haben, was er ist? Wie ist es weiter denkbar, daß das, was zunächst äußeres Verbot war, zu einem Verbot wird, das der Mensch sich selber auferlegt? Eine genauere Betrachtung der Behauptung Nietzsches zeigt also: sie ist eine in sich selber fragwürdige Hypothese. Aber wenn auch die Lösung Nietzsches nicht befriedigt, — es bleibt doch die Schwierigkeit bestehen, die faktische Verschiedenheit und Widersprüchlichkeit der Gewissensinhalte mit der behaupteten Absolutheit des Gewissensanspruches zu vereinbaren. Noch immer steht also das Gewissen auf dem Spiel, und die Möglichkeit bleibt, es könne eine bloße Täuschung sein, was uns da unbedingt verpflichten will, und was so viele Jahrhunderte lang die Menschen gebunden hat. So muß erneut die Frage nach der Absolutheit des Gewissens gestellt werden. Sie aber weist in einen größeren Zusammenhang hinein. Wir müssen nämlich fragen, ob es denn überhaupt für den Menschen als ein endliches Wesen die Möglichkeit geben kann, etwas Absolutes zu erfahren. Damit sind wir zu der Grundfrage der gegenwärtigen Philosophie vorgestoßen: der Frage, ob der Mensch unwiderruflich in die Schranken seiner Endlichkeit eingeschlossen ist, oder ob er die Möglichkeit hat, darüber hinaus mit etwas in Berührung zu kommen, was nicht bedingt, sondern unbedingt, was nicht endlich, sondern absolut ist. Wenn diese Frage umfassend gestellt wird, wird sich zeigen lassen, daß es in der Tat Orte gibt, an denen der Mensch von etwas angerührt wird, was nicht der 217

bloßen Endlichkeit angehört. So etwa die Begegnung mit der großen Kunst; diese wird als eine Macht der Tiefe erfahren, die den Betrachter verwandelt und über sich selber hinaushebt. So das Staunen vor dem Wunder des Seins, angesichts der Möglichkeit, daß die Dinge auch nicht sein könnten. So das versinkende Hinabtauchen in den eigenen Wesensgrund. So die Erfahrung der echten Liebe, oder die Begegnung mit dem Schicksal. Auf vielerlei Weise vermag der Mensch an etwas zu rühren, was ihm als Wirklichkeit entgegentritt, aber als eine Wirklichkeit von anderer Art, als es die Wirklichkeit seines Alltages ist. Nicht daß wir so in eine Welt hinter unserer realen Welt gelangten. Aber wir stoßen vor in den Grund, aus dem heraus alles ist, was existiert, und der in allem Wirklichen mächtig anwesend ist: in den Seinsgrund. Man kann ihn mit einem ehrwürdigen philosophischen Ausdruck „das Absolute" nennen. So können wir jetzt sagen: das Absolute selber, der Seinsgrund, rührt auf vielfältige Weise den Menschen an. Ist etwa auch die Erfahrung des Gewissens eine echte Erfahrung des Absoluten? Das läßt sich nicht theoretisch beweisen. Es kommt einzig darauf an, zu bedenken, was die Gewissenserfahrung selber darüber sagt, ob mir also das darin erscheinende Gute als etwas entgegentritt, was ich nicht selber mache, sondern was mich als eigenständig Wirkliches überwältigt. Das nun bestätigt die echte Gewissenserfahrung. Jene Unbedingtheit drängt sich mir auf; ich kann nicht über sie verfügen. Das Gewissen gibt sich als etwas zu erkennen, was aus eigener Vollmacht heraus seinen Anspruch erhebt. Auch das Gewissen gehört so zu den Orten, an denen das Absolute selber uns anrührt, an denen wir von jener anderen Wirklichkeit ergriffen werden. Auch in ihm begegnet mir der Seinsgrund selber. Freilich nicht so, wie er mir sonst wohl entgegentritt: als das, was in allem Seienden waltet; aber so, daß er das ist, was mein verfehltes Sein verwirft, was aber zugleich diese meine verkehrte Wirklichkeit zur Umkehr rufen und in neuer Weise gründen will. Wie steht es jetzt mit der Frage nach der Täuschung im Gewissen? Die Antwort deutet sich an. Wenn es richtig ist, daß ich im Gewissen die Sprache des Absoluten vernehme, dann wird alles darauf ankommen, daß ich in mich hineinhorche, um zu erfahren, was das Absolute mir sagen will. Dann werde ich auch, in der Intensität dieses Horchens, ein Maß dafür haben, wieweit ich an die Wahrheit rühre, und wo ich der Täuschung unterliege. Gleichwohl ist damit das Problem der Relativität der Gewissensinhalte nicht gelöst. Es bleibt ja noch bestehen, daß die Gehalte des Gewissens faktisch verschieden sind. Wie ist das mit der Absolutheit vereinbar, 218

die wir doch unmittelbar im Gewissen zu erspüren vermeinen? Aber läßt sich diese Frage anders beantworten als so, daß man annimmt, das Absolute selber, so wie es dem Menschen fordernd gegenübertritt, beanspruche ihn in einer je besonderen Weise? Daß es also mir diesen Auftrag im Gewissen zuschickt, dem andern einen andern; daß es die Griechen anders beanspruchte als die Menschen der Gegenwart? Das Gewissen wäre dann der Ort, an dem der Mensch zutiefst erführe, was ihm vom Absoluten her zugeschickt ist. Damit freilich mündet die Frage nach dem Gewissen ein in die Tiefe der metaphysischen Geheimnisse. Da aber muß sie auch ihre Heimat haben, wenn anders es in ihr um die entscheidende Frage des Menschseins geht.

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Der Mensch im Widerstreit der Menschenbilder Das große Problem, vor das der Mensch in der Gegenwart gestellt ist, ist das, wie er zwei einander entgegengesetzte Forderungen miteinander in Einklang bringen könne: die Ansprüche der Gemeinschaft, in der er existiert, und die Forderungen, die er als einzelner und eigenständiger Mensch für sich selber stellen zu müssen glaubt. Es ist das grundlegende Problem des Einzelnen und des Ganzen, das heute eine besondere Dringlichkeit erhalten hat. Es durchherrscht unser ganzes Dasein, es bedrängt und beunruhigt uns ständig. Am sichtbarsten wird es im Bereich der Politik: als die soziale Problematik in der Innenpolitik, als die Auseinandersetzung zwischen Osten und Westen in der Außenpolitik, die ja nur dann richtig begriffen wird, wenn sie vor dem Hintergrund des großen Kampfes zwischen Individualismus und Kollektivismus gesehen wird. Überall also sind wir vor die Aufgabe gestellt, das Einzelne und das Ganze in das rechte Verhältnis zueinander zu bringen: im engsten Kreis der Familie ebenso wie auf dem Feld des Berufes, im Leben einer Stadt ebenso wie im Ganzen des Staates und der über die Staaten hinausgreifenden umfassenderen Zusammenschlüsse. Dieser Streit um das Einzelne und das Ganze ist jedoch nicht erst in der Gegenwart ausgebrochen. Seit sich zum erstenmal in der Geschichte der Mensch zum Menschen fand, steht er vor der Frage, wie er sich in einer doppelten Bestimmung seines Menschseins zurechtfinden soll: Auf der einen Seite ist er sich dessen bewußt, daß er in sich selber, in seiner Person, den Wert seines Daseins besitzt; er weiß: wenn er sich selber verliert und ganz im Massenbetrieb aufgeht, hat er die entscheidende Aufgabe seines Daseins verfehlt. Auf der andern Seite aber weiß der Mensch doch auch dies, daß er zu seinem eigentlichen Sein erst im Miteinander, in der Gemeinschaft finden kann. In der Vielfalt der Versuche, diese Zwiespältigkeit im eigenen Sein auszutragen, um unter ihrer Last das Dasein zu gestalten, hat sich die Geschichte des Menschen abgespielt. Sie ist das Abenteuer der Experimente des Menschen mit sich selber, mit seiner sich isolierenden und zugleich zur Gesellschaft drängenden Natur, und so ist sie gemischt und gewoben aus Hoffnung und Verzagen, aus Gelingen und Mißlingen, aus Glück und Unglück. Immer wieder ist der Mensch in die Extreme verfallen, und es haben Zeiten der vorherrschenden Betonung der Freiheit des Individuums mit Zeiten der energischen 220

Vorherrschalt des Ganzen abgewechselt. Heute sieht es so aus, als sei wieder einmal alles in der Schwebe, einer Schwebe freilich, die nicht die Ausgeglichenheit einer gelösten Problematik ist, sondern die eben darum so bedrohlich ist, weil im unausgetragenen Streit die Möglichkeit einer Zerstörung der Menschheit am Horizont erscheint. So muß es denn heute mehr denn je darum gehen, daß der Mensch in diesem seinem wesentlichen Grundproblem des Ganzen und des Einzelnen zu einer Lösung komme. Wir wissen alle, daß es von der Bemeisterung dieser Aufgabe abhängt, ob der Mensch überhaupt noch eine Zukunft haben wird. Angesichts dieser Schwere der Problematik kann es nicht die Aufgabe des Philosophen sein, sich unbesehen und voreilig auf die eine oder die andere Seite der Streitenden zu schlagen, mag ihn die politische Wirklichkeit noch so sehr dazu verlocken. Er muß sich zuvor ernstlich besinnen und den tieferen Gesichtspunkt aufsuchen, unter dem eine solche geschichtliche und gegenwärtige Auseinandersetzung betrachtet und entschieden werden muß. Da ist nun wichtig zu sehen: der Streit um die Rechte des Individuums und der Gemeinschaft ist ein Kampf, den nicht nur wir führen, sondern der zugleich um uns selber geführt wird. Wir sind zwar die Streitenden, zugleich aber auch die Umstrittenen. J a man kann sogar sagen: wir sind eher der Kampfplatz als die Kämpfenden. Die Forderung, dem Individuum in der ausgeprägten Gestalt seiner Individualität sein Recht zu gewähren, die Forderung, dem Ganzen die ihm gebührende Stelle einzuräumen, — diese Forderungen treten uns wie eine Art von selbständigen Mächten entgegen, deren wir nicht eigentlich Herr sind, sondern die uns in ihrer Gewalt haben. Wer in dieser Auseinandersetzung darinsteht — und keiner kann sich ihr heute entziehen —, der weiß sich bedrängt von mächtigen Bildern. Sie stellen ihm vor, was der Mensch ist und was er sein soll. Sie wollen darüber bestimmen, wie wir unser Dasein auf dieser Erde einrichten sollen. Sie wollen uns verpflichten und in ihren Dienst nehmen. So meine ich denn, der tiefere Gesichtspunkt, unter dem man die Gegenwart in ihrer verhängnisvollen Wirrnis betrachten könne und müsse, sei der, daß in ihr der Kampf zweier Bilder vom Menschen ausgefochten wird: des einen, in dessen Mittelpunkt die Freiheit des Individuums steht, und des anderen, dessen Zentrum der Gedanke der Bindung an das Ganze bildet. Doch noch haben wir den leitenden Gesichtspunkt nicht in seiner ganzen Weite und in seinem vollen Gewicht gewonnen. Die Situation der Gegenwart ist ja nicht nur darum so kritisch, weil uns die beiden genannten Bilder vom Menschen fordernd gegenübertreten. Wir sind bedrängt von einer Fülle von Auffassungen über das wahre Wesen des Menschen, die 221

aus unserer Vergangenheit mächtig in unsere Gegenwart hereinragen und um uns streiten. Daran liegt es, daß der Mensch in einer Weise ratlos geworden ist, wie es ihm kaum je in seiner Geschichte widerfahren ist. Er stellt die Frage nach sich selber, eindringlich und in voller Verantwortung, vielleicht entschlossener als jemals in seiner Geschichte. Aber er findet keine gültige Antwort. Eine Deutung seines Wesens nach der anderen bietet sich ihm an, und er mag es wohl eine Weile mit ihnen versuchen. Aber dann zeigt sich, daß keine von ihnen imstande ist, die Verwirrung endgültig zu lösen. Es ist das Schicksal unserer Generation, in diesen Kampf der Menschenbilder geworfen zu sein, die um ihn streiten, die in ihm um die Vorherrschaft ringen. Wenn es aber so ist, dann gibt es nichts Dringlicheres, als daß wir uns darauf besinnen, und daß wir danach ausspähen, ob es eine Möglichkeit gibt, in diesem Streite zu einer Entscheidung zu gelangen. In aller Kürze seien die wichtigsten dieser Bilder vom Menschen skizziert, wie sie aus unserer Vergangenheit her mächtig in die Gegenwart hereindrängen und unser Dasein bestimmen wollen. Da ist zum ersten, ehrwürdig in seiner Herkunft, das christliche Menschenbild. Ihm gemäß ist der Mensch ein Geschöpf Gottes, ja das vornehmste der Geschöpfe und Gottes Ebenbild. Zwar ist er verderbt und in die Sünde gefallen. Aber eben damit ist er auch vor die Aufgabe gestellt, sich selbst und die mit ihm gefallene Kreatur wieder Gott darzubringen. In diesem christlichen Bilde vom Menschen kommt alles darauf an, daß dieser sein ganzes Leben als einen Dienst an Gott auffasse, und daß er daran mitwirke, daß die Herrschaft Gottes auf Erden verwirklicht werde. Zuletzt freilich versteht der Glaubende die Zukunft Gottes nicht so sehr als sein eigenes Tun, sondern als das Tun Gottes; dieser selber ist es, der durch den Menschen das Kommen seines Reiches erwirkt. Da ist zum zweiten, ebenso ehrwürdig wie das erste, das Menschenbild, das von den Griechen her auf unsere Gegenwart gekommen ist. Der Mensch ist das vernunftbegabte Lebewesen, und der Sinn seines Daseins besteht darin, daß er die Welt erkenne, daß er die Dinge sichtbar mache, daß er Licht in das Dunkel bringe. Eben in seiner Vernunft besitzt er auch den Maßstab, der ihn in seinem Tun leiten kann. So ist der Mensch in diesem zweiten Bilde die autonome Persönlichkeit, frei auf sich selber stehend und zuletzt nur sich selbst verantwortlich. So haben sich Goethe, Schiller und Humboldt, und so haben sich Kant und die Philosophen des Deutschen Idealismus, Fichte, Schelling, Hegel, verstanden. Und diese Idee der Persönlichkeit ist nicht auf den einzelnen Menschen beschränkt; auch im Ganzen der Geschichte kommt es darauf 222

an, daß in wachsendem Maße die Persönlichkeit verwirklicht werde, in dem Sinne, in dem Fichte sagt: „Der Zweck des Erdenlebens der Menschheit ist der, daß sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte." Da ist zum dritten, schon früh in der Menschheit auftauchend, vor allem aber im Zeitalter der Naturwissenschaft immer mächtiger werdend, das Bild vom Menschen als Naturwesen. Er ist, wie alle Dinge, ein Produkt des Naturgeschehens, mit den anderen Lebewesen zusammen aus einer Urzelle hervorgegangen; je nach der Gesamtkonzeption wird er als die höchste Spitze oder auch nur als ein Nebenzweig am Stamm des Lebens verstanden. Die Vernunft, in jenen anderen Menschenbildern das Ebenbild des göttlichen Geistes oder das eigentliche Wesen des Menschen, ist hier nur so etwas wie eine späte Blüte am Lebensbaum, oder gar eine Sackgasse der Natur, die in einer Art von Fehltritt etwas so Unnatürliches wie den Geist hervorgebracht hat. Der Sinn des Daseins kann in diesem dritten Menschenbild nirgends anders gefunden werden als im Walten der lebendigen Natur; der Mensch ist eine winzige Welle, die auf dem Strom des Lebens dahintreibt. Da ist zum vierten das Bild des Menschen als des Technikers. Auch seine Wurzeln reichen tief in die Vergangenheit hinab, bis zu jenem Wort der Genesis: „Macht euch die Erde UntertanI" Der Mensch wird hier als das Wesen verstanden, dessen Sein nicht so sehr im Erkennen als vielmehr im Handeln liegt. Die Erde ist das Feld seines Tuns, Wissenschaft und Technik sind die Mittel, sich die Natur zu unterwerfen und die gesellschaftlichen Verhältnisse menschenwürdig zu gestalten. Das große Ziel der Geschichte liegt darin, daß der Mensch, Sieger über die Unbilden der Natur und befreit von den Ungerechtigkeiten des gesellschaftlichen Lebens, glücklich und in Eintracht mit seinen Mitmenschen sein Dasein führe. Bei diesen vier Bildern vom Menschen soll es sein Bewenden haben. Freilich sind sie nicht die einzigen, die in unserer Gegenwart um den Menschen ringen; man könnte etwa noch das quietistisch-mystische Menschenbild nennen, das vor allem aus östlicher Religiosität und Philosophie herandringt, und dem gemäß das wahre Wesen des Menschen in der Versenkung in sich selber liegt. Aber die wesentlichen, unsere abendländische Gegenwart bestimmenden Auffassungen vom Menschen sind doch die eben genannten vier großen Bilder: das christliche, d u antike, das naturwissenschaftliche und d u technische. Der Streit nun, den sie um den Menschen führen, wird nicht nur da ausgefochten, wo er vor aller Augen entbrannt ist, also in den großen 223

politischen Auseinandersetzungen oder in den weltanschaulichen Diskussionen der Theologen, der Philosophen, der Soziologen. Seine Einwirkung reicht tie! ins Unsichtbare und Unbewußte hinab. Er durchzieht in vielfältiger Gestalt unseren Alltag, ohne daß wir uns zumeist darüber Rechenschaft ablegen. Das soll ein einfaches Beispiel zeigen: Einer unserer Bekannten stirbt durch einen Verkehrsunfall. Wir fragen nun: was ist es, das uns über die augenblickliche Erschütterung hinaus bewegt? Welche Bilder vom Menschen bestimmen uns, wenn wir über dieses Unglück nachdenken? Das erste ist vielleicht, daß wir nach der Ursache des Unfalls suchen und etwa feststellen, daß die Bremsen versagten, oder daß der Fahrer zu schnell gefahren ist. Wir führen also das Unglück auf die Unvollkommenheit der Technik oder auf die Unzulänglichkeit der staatlichen Regelung der Höchstgeschwindigkeit zurück. Dahinter steht der Gedanke, daß der Mensch dahin kommen müsse, die Dinge technisch noch besser zu beherrschen und die staatlich-gesellschaftlichen Verhältnisse noch vollkommener zu ordnen. Daß hier ein Mensch sterben mußte, hat, wie wir es unter diesem Gesichtspunkt beurteilen, seine Ursache darin, daß die Aufgabe der Bewältigung der Welt bislang noch unzureichend gelöst ist. Was uns dabei vor Augen steht, ist das Bild des Menschen als des Technikers. Wir können den Unfall aber auch in einer anderen Weise betrachten. Hier ist ein Mensch, der eben noch in der Fülle des Lebens stand, und der jetzt nicht mehr ist. Angesichts dessen mag uns der Gedanke der Sinnlosigkeit des Sterbens beschleichen. Was kann denn für ein Sinn darin liegen, daß das Leben sich entfaltet und dann so plötzlich abbricht? Ja, was hat es überhaupt für einen Sinn, daß ein Mensch geboren wird und aufwächst, wenn am Ende nichts anderes steht als der Tod? In diesen Überlegungen verstehen wir den Menschen so, daß der Sinn seines Daseins im Leben als solchem liegt, dem Leben, dem das Sterben wesensmäßig widerstreitet. Was uns dabei bestimmt, ist das Bild des Menschen als eines biologischen Wesens, als eines Naturwesens. Wieder in anderer Weise verhalten wir uns, wenn wir fordern, daß der Fahrer, der das Unglück herbeigeführt hat, zur Rechenschaft gezogen werde. Wir erklären ihn für verantwortlich und, wenn sich herausstellt, daß er fahrlässig gehandelt hat, für schuldig. Wir unterstellen also, daß er die Freiheit gehabt hat, auch anders, nämlich verantwortlich, zu handeln. Jetzt steht uns der Mensch als autonome Persönlichkeit vor Augen. Hinter unseren Überlegungen erhebt sich das Bild des Menschen als des freien Vernunftwesens. 224

Wenn wir dann schließlich zum Begräbnis des Verunglückten gehen, hören wir die Worte: „Es hat Gott dem Allmächtigen also gefallen . . . " Den Unfall, den wir eben noch als Folge eines technischen Versagens, als sinnlosen Abbruch des Lebens, als Wirkung eines freien Tuns sehen wollten, verstehen wir nun als das Ergebnis eines Eingreifens Gottes. Wieder ist es ein anderes Menschenbild, das uns dabei beherrscht: die Idee des Menschen als des Wesens, das in der Hand Gottes steht, über dem die Allmacht Gottes waltet. So durchkreuzen und verflechten sich in der Betrachtung eines und desselben Geschehens ganz verschiedene und sogar sich widerstreitende Auffassungen vom Wesen des Menschen. Zumeist freilich werden wir nicht eigens darauf aufmerksam; wir sind es allzusehr gewohnt, so zii denken, und wir finden nichts dabei. Muß es uns aber nicht aufschrecken, wenn wir einmal darauf gestoßen sind? Können wir uns denn dabei beruhigen, uns in einem Atemzug als bloße Naturwesen und als Geschöpfe Gottes, als freie Persönlichkeiten und als Techniker des Lebens und der Gesellschaft zu verstehen? Muß uns, wenn wir uns denn ernstlich auf uns selber besinnen, ein solches Durchherrschtsein von widersprüchlichen Menschenbildern nicht in uns selber zerreißen? Und selbst wenn wir meinen, uns darüber hinwegsetzen zu können, — es gibt doch Situationen, in denen der Zwiespalt heillos aufklafft. Man denke an den kaum lösbaren Konflikt, in den eben in unseren Tagen einige Atomforscher geraten sind: an den Widerspruch zwischen dem innersten Anspruch des Gewissens und den berechtigten Forderungen der Gesellschaft. In ähnliche Konfliktsituationen, wenn auch selten mit so ungeheuerlichen Konsequenzen, können auch wir je und dann in unserem Dasein geraten. Oder man denke an die Schärfe der politischen Auseinandersetzungen, die ja nichts anderes sind als der Ausdruck des Kampfes der Menschenbilder um die Herrschaft über den Menschen. In all dem zeigt sich, daß es kein einheitliches Bild mehr gibt, an dem wir uns unzweideutig orientieren könnten. Unsere Gegenwart ist, mehr als frühere gesichertere und gegründetere Epochen, in d u Kreuzfeuer mächtiger und sich widersprechender Menschenbilder geraten. Der Mensch der Gegenwart ist zur umstrittensten Gestalt in der bisherigen Geschichte der Menschheit geworden. Es gab freilich auch früher schon Zeiten des Streites um den Menschen. So etwa die Zeit, als bei den Griechen die abendländische Kultur ihren Anfang nahm. Damals mußte die neu heraufkommende Idee der freien Persönlichkeit mit dem untergehenden mythischen Weltbild in Konflikt geraten, mit der Auffassung vom Menschen als dem Wesen, das 15 Welsdiedel

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völlig in die dämonische und göttliche Weltordnung eingefügt ist. Oder man denke an die Zeit des Ausgangs der Antike. Damals mußte eben jene griechische Idee der autonomen Persönlichkeit sich mit dem neuen Gedanken des Menschen als des Geschöpfes Gottes auseinandersetzen. Oder schließlich die Zeit des Endes des Mittelalters, als die Bilder des Menschen als des bloßen Naturwesens und als des Technikers heraufdämmerten und den Gedanken des Menschen als des Geschöpfes Gottes langsam unterhöhlten. Charakteristisch ist, daß diese Zeiten des aktuellen Streites der Menschenbilder immer auch Endzeiten waren. Das heißt aber: sie waren ebenso sehr Zeiten des Unterganges einer überkommenen Weltsicht, wie Zeiten der Heraufkunft eines neuen Bildes vom Menschen. So kommt es zu der Frage, ob vielleicht auch unsere Gegenwart, gerade in ihrer Ratlosigkeit und in der unheimlichen Gewalt ihres Kampfes um den Menschen, nicht nur eine Zeit der Zerstörung, sondern auch eine Zeit des Übergangs zu einer neuen Sicht sein könnte. Wie also steht es mit der Aussicht auf eine Schlichtung des Streites der Menschenbilder? Nun ist eines jedenfalls sicher: das Kommende kann nicht durch einen Gewaltakt herbeigezwungen werden, auch nicht durch einen Gewaltakt des Gedankens. Zwar ist es der Mensch, dem Sorge und Verantwortung fur die Richtung seines geschichtlichen Weges anvertraut sind. Aber er ist der Geschichte nicht mächtig; er kann nicht aus eigener Vollmacht herbeiführen, was von sich selber her noch nicht an der Zeit ist. Was wir aber tun können, das ist, daß wir auf die Zeichen der Zeit horchen, daß wir uns darum mühen, die Umrisse des Künftigen zu erspähen, und daß wir dazu mithelfen, daß es den ihm zukommenden Platz in unserer Wirklichkeit finde. Damit das geschehen kann, ist — will mir scheinen — von unserer Seite her ein Vierfaches erforderlich: Zum ersten bedarf es der Aufgeschlossenheit. Wir dürfen uns nicht blind in eines der überlieferten Menschenbilder verschließen, so, daß wir es für das ausschließliche und endgültige halten. Wir müssen uns vielmehr dafür offen halten, daß sich ein Neues durchringen will. Das ist aber nur das eine. Zum zweiten bedarf es — gerade in Ergänzung zum ersten — der Geduld, die sich davor bewahrt, jedes sich anbietende Neue ohne strengste Prüfung als das wahre Zukünftige zu ergreifen, nur deshalb, weil wir des Wartens überdrüssig sind. Wir müssen es auf uns nehmen, lieber noch eine Weile in der Ungewißheit zu verharren, als daß wir voreilig ein Verkehrtes als das Verpflichtende ansehen. 226

Zum dritten bedarf es im Kampf um das Menschenbild der Redlichkeit, die sich nicht gegen die anderen verhärtet, die anders denken und anders sprechen. Denn wer kann dem andern ins Herz sehen? Das sei vor allem angesichts der Erstarrung gesagt, in die etwa die innerpolitischen Diskussionen in Deutschland geraten sind. Wo hört denn da noch einer auf den anderen? Wo versucht einer noch zu begreifen, was der andere eigentlich meint? Diese Offenheit darf jedoch nicht zu der schwächlichen Haltung des Allesverstehens führen, die selber keinen eigenen Standort mehr kennt. Daher bedarf es zum vierten der Entschlossenheit, die dem notwendigen Streit um das neue Menschenbild nicht in einen faulen Kompromiß hinein ausweicht, und die daher die echte und harte Auseinandersetzung nicht scheut. Doch was ist denn nun dieses Kommende selber? Darfiber ist noch kaum etwas auszusagen. Wäre es schon gegenwärtig, so wären wir vielleicht imstande, es im Begriff zu erfassen und zu deuten. Nun ist es aber das Kommende, und so können wir es nur in den Zeichen, die es in unsere Gegenwart vorausschickt, erahnen. Vielleicht kann uns die Kunst einen Hinweis geben. Es ist ja zu allen Zeiten so gewesen, daß in der Kunst sich schon andeutete, was der Gedanke erst später begriff. Was geschieht denn in dem so seltsam verworrenen und so schwer durchdringbaren Ringen der Kunst unserer Zeit? Zunächst doch offenbar dies, daß das Gewohnte und Vertraute zerbrochen wird. Will das nicht sagen: wir sind mit den geläufigen Weisen, in denen wir die Welt und den Menschen sahen, am Ende? Wir sind unterwegs nach einem neuen Bilde des Menschen und der Welt, und die Kunst spricht das auf ihre Weise aus. Was sie sodann auf diesem ihrem Wege entdeckt, sind die einfachen und ursprünglichen Strukturen der Wirklichkeit: die Linien, die Farben als solche, die reinen Formen, ihre Beziehungen, ihre Antithesen und Synthesen. Sie treten ja in wachsendem Maße an die Stelle dessen, was vordem als die gegenständliche Welt die Bildwerke bestimmte. Will das nicht sagen: im Einfachen der schlichten Bezüge erwächst das neue Bild des Menschen? Aber nun geschieht das Merkwürdige, daß eben durch die Kühle und die scheinbare Abstraktheit solcher Kunstwerke hindurch etwas hervorleuchtet, was uns so anmutet, als spräche uns ein Tieferes an, etwas, das hinter dem Vordergründigen der zerbrochenen Wirklichkeit als gründender Grund ans Licht drängt. Will das nicht sagen: gerade im Rückgang auf die Einfachheit der Bezüge und der Strukturen werden dem Menschen auf eine neue Weise Tiefe und Grund der Wirklichkeit offenbar? 227 15·

Auch in der Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen und des Ganzen, von der die Überlegungen ausgingen, scheint sich etwas Verwandtes anzukündigen. Was uns aus der Vergangenheit als Formen menschlicher Gemeinschaft und Gesellschaft vorgehalten wird, ist, auch da, wo es sich als das Kommende ausgibt, seltsam brüchig geworden; das zeigt etwa die Überlebtheit der traditionellen Parteien und Weltanschauungsgruppen. Aber auch das überlieferte Ideal der Persönlichkeit erscheint merkwürdig verbraucht und paßt nicht mehr recht in unsere gewandelte Welt. In der Verworrenheit unserer Situation helfen also die gewohnten Heilmittel nicht mehr. Wie in der Kunst, so sind sie auch im weiten Bereich der vielfältigen Verhältnisse unseres Daseins unwirksam geworden. Auch hier geschieht ein Rückgang auf die ursprünglichen und schlichten Beziehungen von Mensch zu Mensch. Man mag ihn in jenem einfachen Gedanken der Solidarität sehen, der vielleicht das einzige ist, das in der Fragwürdigkeit unseres Miteinander standhält. Diese Solidarität ist einerseits weit entfernt von der stolzen Einsamkeit der freien Persönlichkeit, die nur auf sich steht und der anderen Menschen nicht bedarf. Sie ist andererseits weniger eng ab die überlieferten Formen der Gemeinschaft, aber auch weniger künstlich und gewaltsam als die gewollten Formen der Gesellschaft. Sie findet sich heute schon in mannigfachen Gestalten: als die Solidarität derer, die miteinander am selben Werk stehen — in der Fabrik, in der Verwaltung, in den Schulen —, als die Kameradschaftlichkeit in den Situationen der gemeinsamen Not, als die Suche nach Möglichkeiten des Geltenlassens trotz des Widerstreites der Ansichten und Haltungen. Und weiter: wie in der Kunst sich Linien, Farben und Formen zu einem Ganzen von Bezügen ordnen, so ist auch die Solidarität kein ordnungsloses Nebeneinander, sondern ein Geflecht in sich sinnvoller Beziehungen. Und schließlich: ebenso wie die Kunst weist auch die Solidarität in die Tiefe; wer sich fragt, weshalb ihm die Notwendigkeit solidarischer Verbundenheit mit den Mitmenschen, wie es heute weithin der Fall ist, als eine selbstverständliche Forderung erscheint, wird zuletzt keinen rationalen Grund mehr angeben können. Er wird entdecken, daß die Notwendigkeit der Solidarität einer tieferen Wurzel erwächst, als bloß dem Gedanken der Zweckmäßigkeit gemeinsamen Handelns. Wir wissen uns der Solidarität verpflichtet, weil wir uns einem Tieferen und Absoluten verantwortlich wissen. Am Ende ist es eben dieser in unserer Haltung zum Ausdruck kommende Verweis auf das Gründende, der es mit sich bringt, daß auch das Denken, wo immer es in der Gegenwart lebendig ist, wieder auf die Frage nach den letzten Gründen unseres Daseins gestoßen wird. Das alles sind freilich nur Andeutungen, keine Rezepte. Aber wer 228

könnte auch meinen, die Verwirrung der Zeit lasse sich durch die Verschreibung von Medikamenten heilen? Dadurch müßte sie nur noch größer werden. Auch die Philosophie hat kein Allheilmittel bereit. Aber sie kann vielleicht eines lehren: daß es sich lohnt, sich zu besinnen, und das heißt, die geduldige und zähe Arbeit des Begriffs auf sich zu nehmen. Und ein letztes: Zeiten des Übergangs sind wartende Zeiten, und in solchen ist entscheidend, daß man die Hoffnung nicht verliere: die Hoffnung, daß sich im verwirrenden Streit der Menschenbilder, wenn er nur ehrlich ausgefochten wird, am Ende doch eines Tages eine Lösung zeige. Denn wer die Hoffnung verliert, verliert auch den Kampf um die Zukunft.

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Recht und Ethik Zur Anwendung ethischer Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Das P r o b l e m von R e c h t und

Ethik1

Wie sich das Recht mit seinen Forderangen und Verboten grundlegend rechtfertigen lasse, ist seit je eines der zentralen Probleme der Philosophie. Immer wieder zeigte sich dabei, daß die Frage nach dem rechtlichen Handeln in den umfassenderen Zusammenhang der Frage nach dem rechten Handeln überhaupt eingebettet ist: das Recht verweist auf die Ethik als den Grund seiner Rechtmäßigkeit. Diesen Zusammenhang hat insbesondere Kant eindringlich betont. Daß überhaupt Recht sein soll, ist, wie er es sieht, nicht aus dem bestehenden Recht als solchem abzuleiten; es entspringt vielmehr aus einem ethischen Postulat: „Das Rechthandeln mir zur Maxime zu machen, ist eine Forderung, die die Ethik an mich tut". 2 Auch auf der Seite der Juristen wird — in Rechtstheorie, Gesetzgebung und Rechtsprechung — das Bedürfnis nach einer ethischen Fundierung des Rechts empfunden. Zeugnis dessen sind die gegenwärtig neu aufgeflammten Diskussionen um das Naturrecht,* aber auch einige neuerliche Beschlüsse des Bundesgerichtshofes, in deren Begründung ethische Begriffe wie „Sittengesetz", „Ordung der W e r t e " , „personhafte Würde", „Verantwortung" und dergleichen eine maßgebliche Rolle spielen. 4 Die Gründung des Rechts in der Ethik wird gelegentlich auch eigens ausgesprochen; so in dem Beschluß vom 17. 2. 54: „Indem die Kuppelei1 Dem Gespräch mit juristischen Kollegen der Freien Universität Berlin, insbesondere den Professoren Arwed Blomeyer, Martin Drath, Ernst Heinitz und Ernst E. Hirsch verdankt der Verfasser wesentliche Anregungen. 2 Kant, Die Metaphysik der Sitten, A 34; Werke, hrsg. v. Weischedel (im folgenden mit WW bezeichnet), IV, 1956, S. 338. * Vgl. dazu Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 19552, Abschn.: „Die Gegenwart". 4 Beschlüsse des Bundesgerichtshofes vom 18.3.52 (betr. Verbotsirrtum, NJW 52/593), vom 23. 12. 52 (betr. Gewissensanspannung, NJW 53/341), vom 17.2.54 (betr. Vorschubleistung bei Geschlechtsverkehr, Juristenzeitung 54/508), vom 10. 3. 54 (betr. Selbstmordversuch, J R 54/425) und vom 14. 7.55 (betr. Bildstreifenhefte, NJW 55/1287).

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tatbestände von Unzucht sprechen, verweisen sie au! einen außerrechtlichen Maßstab, auf eine den Bereich des bloß Rechtlichen überschreitende Norm"; diese aber wird ausdrücklich als ethische Norm, nämlich als „eine solche der Sittlichkeit, des Sittengesetzes", bezeichnet. Dementsprechend heißt es grundsätzlich in dem gleichen Beschluß: „die innere Verbindlichkeit des Rechts b e r u h t . . . auf seiner Übereinstimmung mit dem Sittengebot". Daß das Recht in der Ethik gründet, erhält seine Bestätigung, wenn man darauf achtet, daß es sich verschieden gestalten muß und in der Geschichte ja auch verschieden gestaltet hat, je nachdem, welche Grundauffassung darüber herrscht, worauf es im Dasein des Menschen ankomme, was also von diesem ethisch gefordert sei. Behauptet eine philosophische Ethik etwa, das Entscheidende für den Menschen seien seine Verpflichtungen gegenüber den andern, so folgt daraus eine andere Regelung der rechtlichen Verhältnisse, als wenn eine entgegengesetzte ethische Konzeption den Menschen vorzüglich an seine individuelle Freiheit verweist. So zeigt denn auch der Blick auf die gegenwärtigen Rechtstheorien, daß sie jeweils aus verschiedenen ethischen Grundauffassungen erwachsen. Zum Teil berufen sie sich ausdrücklich auf eine derartige philosophische Grundlage: etwa auf Thomas von Aquino, oder auf Kant, oder auf Max Scheler, oder auf die Existenzphilosophie. Aber auch in der Rechtsprechung, wo eine solche ethisch-philosophische Begründung nicht eigens gegeben wird, steht sie doch häufig unausdrücklich im Hintergrund und wird nur indirekt in den Formulierungen der Entscheidungsgrundsätze sichtbar. So wenn davon die Rede ist, daß die „tonangebenden Schichten" oder die „redlichen Verkehrsteilnehmer" oder die „gerecht und billig Denkenden" maßgebend sein sollen für das, was Recht ist; denn was „tonangebend", was „redlich", was „recht und billig" ist und sein darf, ist wiederum eine Frage, die nur durch eine wertende Entscheidung, also von der Ethik aus, beantwortet werden kann. Selbst da, wo dergleichen nicht einmal mehr in den Formulierungen der Rechtssprache zum Ausdruck kommt, liegt doch den rechtlichen Festsetzungen — als eine Art „Geist der Gesetze" oder als sittlich-rechtliche Überzeugung des Zeitalters oder des Volkes — ethisches Denken zugrunde, im Sinne des jeweils herrschenden Entwurfs dessen, was der Mensch sein und wie er sich demgemäß verhalten soll. Das Recht, in seinem Wesen wie in seiner jeweiligen konkreten Gestaltung, weist also aus sich selber hinaus und — ausdrücklich oder unausdrücklich — auf eine zugrunde liegende Ethik zurück. Fragt man nun, weshalb dies geschieht, so zeigt sich; das Recht sucht in einer vorausgesetzten Ethik eine Sicherheit, die es in sich selber nicht finden zu kön231

nen vermeint. Kann aber der Rückgang in die Ethik ein solches sicheres Fundament geben? Oder erhebt sich nicht an diesem Punkte die tiefer dringende Frage, ob denn die Ethik ihrerseits imstande ist, fraglose Gewißheit zu bieten? Das wäre offenbar dann möglich, wenn das Recht im Rückbezug auf seinen ethischen Grund auf eine einzige, auf d i e Ethik stoßen würde, die als solche entweder zweifellos gewiß oder wenigstens schlüssig erweisbar wäre. Das trifft jedoch keineswegs zu. Dem jeweiligen Recht mag zwar der ethische Grund, in dem es wurzelt, als absolut gesichert erscheinen; aber doch nur so lange, als ihm sein Anspruch, d a s Recht zu sein, nicht von einer andern Rechtsauffassung her bestritten wird. Denn wenn es in dieser Situation auf sein ethisches Fundament verweist und von ihm her sich zu rechtfertigen sucht, kann ihm sein Widerpart mit dem gleichen Anspruch auf ausschließliche Geltung eine andere rechtsgründende Ethik entgegenstellen. Mit dem Hinweis auf die Ethik wird also der Streit der Rechtsauffassungen nicht geschlichtet; er entbrennt vielmehr neu und grundsätzlicher auf der Ebene ethischer Grundüberzeugungen. Das gleiche zeigt sich, wenn man die Sachlage von der Seite der Ethik her betrachtet. Die Philosophie stellt nicht eine einzige, absolut gültige Ethik, sondern eine Mannigfaltigkeit von ethischen Entwürfen zur Verfügung, die freilich zumeist, jede für sich, den Anspruch auf absolute Geltung erheben. Sie stehen, wie der Gang der Geschichte der Philosophie und ebenso die gegenwärtigen Diskussionen um die ethischen Prinzipien dartun, miteinander in ständiger Auseinandersetzung. Wer — um ein Beispiel zu nennen — mit Kant der Auffassung ist, es gebe nur ein formales unbedingtes Sittengesetz und keine eindeutig erkennbaren, absoluten und zugleich sachhaltigen Gebote, muß dem ethischen Ansatz Schelers widersprechen, der im Gegensatz dazu behauptet, derartige materiale Prinzipien des sittlichen Handelns — die „Werte" — seien evident erkennbar.5 Der Widerstreit zwischen den verschiedenen Gestaltungen und Theorien des Rechts ist also durch den Rückgang auf ihren ethischen Grund nicht entschieden, sondern führt auf einen tieferen Widerstreit im Felde der Ethik selbst. Das heißt aber: der Rechtsdenker und der Philosoph befinden sich in der gleichen Verlegenheit: daß ihnen nämlich, wenn sie ernstlich nach einer Begründung ihrer Aussagen suchen, der Boden unter den Füßen weggezogen wird. 5 Vgl. die im folgenden gegebene genauere Analyse dieser beiden ethischen Grundpositionen.

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Wenn aber so der Philosoph, wie es seine Aufgabe als eines kritischen Befragers aller vorläufigen Sicherheiten ist, die Fragwürdigkeit einer ethischen Fundierung des Rechts eigens aufzeigt, — macht er dann nicht zum Unheil das ohnehin Fragwürdige noch fragwürdiger, und leistet er nicht jenen skeptischen und nihilistischen Tendenzen Vorschub, die daraus den Schluß ziehen, es verlohne sich nicht, sich ernstlich mit solchen doch notgedrungen scheiternden ethischen Begründungen zu befassen? Aber wohin müßte das führen? Am Ende doch dahin, daß das grundlos gewordene Recht sich auf die Zufälligkeit der subjektiven Ansichten der Gesetzgeber und Gesetzesausleger, und schließlich gar auf die Willkür der jeweiligen Machthaber gründete. In der Tat: die philosophische Frage ist eine gefährliche Sache. Philosophieren ist aus seinem Wesen heraus radikales, an die Wurzeln gehendes Fragen, und wer sich darauf einläßt, dem kann es geschehen, daß ihm der Boden unter den Füßen weggezogen und alles in den Wirbel der Fraglichkeit hineingerisseix wird. Aber das ist nicht alles, und d u ist nicht das Letzte. Das Philosophieren setzt sein radikales Fragen dazu in Gang, daß es eine Antwort, und zwar eine gültige und begründete Antwort finde. Wie aber kann es dahin gelangen, wenn es nicht erst einmal alle vorfindlichen Antworten im Feuer des radikalen Fragens daraufhin geprüft hat, ob sie standhalten, oder ob sie nur einen trüglichen Schein von Gewißheit an sich tragen? Die if Skepsis" des Philosophen ist also nicht Leidenschaft für den Zweifel um des Zweifels willen. Sie entspringt vielmehr aus dem Willen, zur Wahrheit und zu letzten Wahrheiten zu gelangen, doch in der Sorgfalt, die alle sich anbietenden Wahrheiten, auch die selbst gefundene, kritisch prüft. Wenn der Philosophierende auf diesem seinem Wege manche Antworten, die Gewißheit und unfragliche Einsichtigkeit für sich beanspruchen, und die vielleicht den Zeitgenossen lieb geworden sind und unentbehrlich erscheinen, in ihrer inneren Fragwürdigkeit aufdeckt, so geschieht das nicht, um das Bestehende einzureißen und in der totalen Zerstörung die windige Fahne eines radikalen Skeptizismus aufzupflanzen, sondern in der Absicht, im Enthüllen der Scheinhaftigkeit der vorläufigen Sicherheiten die wahre und gründende Gewißheit zu entdecken. Das aber heißt: der Rechtsdenker und der Philosoph gehen zwar verschiedene Wege, aber sie sind in der gleichen Sorge verbunden: das Recht in einer ethischen Gewißheit zu gründen, die sicher standhält und gegen die Anstürme der bloßen Skepsis gefeit ist. Die Natur

der

Sache

Könnte man den Schwierigkeiten einer philosophischen Grundlegung des Rechts nicht dadurch entgehen, daß man ein ganz anderes, den 233

Fragwürdigkeiten des Ethischen entzogenes Prinzip heranzöge, etwa die „Natur der Sache"? In jedem gesetzlich zu regelnden Rechtsgebiet und in jedem juristisch zu beurteilenden Fall geht es ja um bestimmte Tatbestände, und aus diesen ergeben sich mehr oder minder eindeutige Gesichtspunkte für die zu treffende Entscheidung, die damit offenbar der Problematik der Ethik enthoben wird. In der Tat gibt es weite Bereiche des Rechts, insbesondere des Zivilrechts, in denen das Prinzip der Natur der Sache im Sinne der gegebenen und nicht gedeuteten Tatsachen von hoher Bedeutung ist, und in denen daher das Bedürfnis nach einer ethischen Fundierung nicht das gleiche Gewicht hat wie in anderen Zweigen des Rechts, etwa dem Strafrecht. Aber auch in diesem gilt, daß eine Entscheidung nicht die Tatbestände vergewaltigen darf. So schränkt sich unter diesem Gesichtspunkt die Frage nach Recht und Ethik zweifellos ein; man kann nicht schematisch alles Recht von nichts anderem als von ethischen Prinzipien abhängig machen. Gleichwohl bleibt die Frage, wie weit die Natur der Sache als gründendes Prinzip trägt, und wie weit dennoch der Rückgriff auf eine ethische Grundlage erforderlich ist. Für dieses Problem bieten wiederum die angezogenen Entscheidungen des Bundesgerichtshofes einen Anknüpfungspunkt. In dem Beschluß vom 17. 2. 54 wird gefordert, „daß sich der Verkehr der Geschlechter grundsätzlich in der Einehe vollziehe", und zwar „weil der Sinn und die Folge des Verkehrs das Kind ist", und weil „nur in der Ordnung der Ehe und in der Gemeinschaft der Familie . . . das Kind gedeihen und sich seiner menschlichen Bestimmung gemäß entfalten" kann. Sieht man zunächst davon ab, daß noch weitere — und tiefer greifende — Begründungen, nämlich von ethischer Art, gegeben werden, ja daß schon der Begriff der „menschlichen Bestimmung" weiter reicht, und kristallisiert man vorerst nur eines der Momente rein heraus, so zeigt sich, daß hier neben den ethischen Begründungen auch noch so etwas wie die Natur der Sache zu der grundsätzlichen Forderung der Einehe und von da aus zu rechtlichen Festsetzungen gelangen läßt. Als natürliche Gegebenheiten werden vorausgesetzt: daß „die naturhaft nächste Beziehung der Geschlechter . . . folgenreich" ist, d. h. daß aus ihr ein Kind erwachsen kann, das dem Verkehr der Geschlechter allererst seinen „Sinn" gibt, und auf dessen Gedeihen und Entfaltung es ankommt. Diese in der Natur der Sache liegenden Tatsachen fordern, wie nun geschlossen wird, Ehe und Familiengemeinschaft und des genaueren die Einehe und führen so am Ende zu den rechtlichen Konsequenzen, die in dem Beschluß angegeben sind. Sieht man jedoch den so herauspräparierten Gedankengang genauer 234

an, so zeigt sich, daß er unschlüssig ist. Einmal ist es eine erst noch zu erweisende Voraussetzung, daß der Verkehr der Geschlechter ausschließlich vom Kinde her seinen „Sinn" erhält. A b e r selbst wenn das zugestanden würde, bliebe noch offen, ob der Hinblick auf Gedeihen und Entfaltung des Kindes ausreicht, um die Notwendigkeit der Einehe zu begründen. Mehrehen schließen, wie geschichtliche Beispiele und noch heute der Brauch bei manchen außereuropäischen Völkern zeigen, grundsätzlich die Möglichkeit angemessener Kinderaufzucht nicht aus. Das Postulat der Einehe läßt sich also aus der Natur der Sache nicht überzeugend folgern: soll es gültig sein, so muß es aus ganz anderen Wurzeln erwachsen, wie ja auch in der T a t der angezogene Beschluß noch weitere und gewichtigere Begründungen gibt. Die eigentliche Problematik im Begriff der Natur der Sache zeigt sich freilich erst, wenn man darunter nicht bloß die den Einzelfall bestimmenden, konkret feststellbaren Tatbestände versteht, sondern in einem umfassenderen Sinne die menschliche Situation überhaupt in ihren grundlegenden Wesenszügen. In dieser Bedeutung spricht Coing von der „Natur des Menschen und der Welt, in der er lebt"; er versteht darunter im einzelnen „die Natur des Menschen, seine natürlichen Fähigkeiten, Triebe, Willensziele usw., so wie sie bei den verschiedenen Altersstufen in Erscheinung treten", sodann „die Beschaffenheit der Umwelt des Menschen", und schließlich „die eigenartige Sachgesetzlichkeit . . . , die den einzelnen Tätigkeitsbereichen und Gemeinschaften des Menschen eigen ist", also etwa „für das Familienrecht das Wesen der Ehe".® Entsprechend weist Welzel auf „bestimmte ontologische Grundgegebenheiten" hin, „an die jede denkbare Wertung gebunden ist und die darum jeder Wertung feste Grenzen setzen"; als Beispiele nennt er „die ontologische Struktur der Handlung" und „die sachlogische Struktur der Schuld". 7 Ohne Zweifel sind dies determinierende Momente für Rechtsetzung und Rechtsprechung; kein Gesetzgeber und kein Richter wird Entscheidungen treffen wollen, die mit der Natur des Menschen und seiner Welt sowie mit den Sachgesetzlichkeiten und ontologischen Grundgegebenheiten in Widerspruch stehen. Die Frage ist nur, wie weit derartige allgemeine Feststellungen ausreichen, wenn es sich darum handelt, in praxi Recht zu setzen und Recht zu sprechen. Dazu ist doch notwendig, daß zuvor gesagt sei, was denn nun die Natur des Menschen sei, was die Natur der Welt, in der er lebt, und worin das Wesen der Ehe oder die Struktur von Schuld und Handlung zu erblicken seien. Nichts von alle8 7

Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 119—121. Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 197.

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dem ist jedoch in selbstverständlicher Eindeutigkeit gegeben. Gehört etwa, wie Aristoteles meint, zur Natur des Menschen, daß es Freie und Sklaven gibt, oder macht allein die Freiheit einen unabdingbaren Bestandteil des Wesens des Menschen aus? Spielt in der menschlichen Welt das Eigentum die entscheidende Rolle, oder hat es nur dienenden Charakter? Hat man das Handeln des Menschen als selbstverantwortbar und frei zu betrachten, oder muß man eher das andere Moment berücksichtigen, daß menschliches Tun immer motiviert und damit unfrei ist? Ist Schuld nur Schuld gegen andere, oder gibt es auch eine Schuld des Menschen gegen sich selbst, und am Ende gar auch eine Schuld gegen die Gottheit? Und was ist schließlich das wahre, der Natur der Sache entsprechende Wesen der Ehe? Diese offenen Fragen zeigen, daß, was mit dem Sein des Menschen zu tun hat, nicht einfachhin vor Augen liegt und als solches eindeutig festgestellt und rechtlichen Entscheidungen zugrunde gelegt werden kann. Was der Mensch jeweils ist, entscheidet sich auf dem Grunde seiner vorgegebenen Wesensstrukturen je von daher, was er aus sich macht, und als was er sich versteht. In der Tat hat sich der Mensch ja auch auf den Stufen seines geschichtlichen Daseins je verschieden begriffen und war demgemäß je von verschiedener Wesensart; der Mensch unter dem unbedingten Anspruch Gottes, wie ihn das Judentum sah, ist ein anderer als der griechische Mensch des Geöffnetseins für Reichtum und Tiefe der Welt. Damit hängt weiter zusammen, daß auch die Welt bei gleichbleibender Grundverfassung dennoch für den Menschen jeweils so ist, wie er sich in ihr versteht, und wie er sie sich auslegt. Und was schließlich die Ehe und was Handlung und Schuld bedeuten, hängt ebenfalls davon ab, wie der Mensch sich selbst und seine Welt deutet. Hier aber greift nun das Moment des Ethischen entscheidend ein. Denn Selbstdeutung und Weltauslegung sind keine Sache neutraler und uninteressierter Theorie. In ihnen ist vielmehr immer schon und wird je neu darüber entschieden, was menschliches Dasein sein soll, und worauf es in ihm letztlich ankommt. Das aber ist nichts anderes als die Grundfrage der Ethik, die demgemäß den Horizont der Selbstdeutung und Weltauslegung bildet. Mit dem bloßen Verweis auf die Natur des Menschen und seiner Welt, auf Eigengesetzlichkeiten und Grundgegebenheiten ist also das Entscheidende noch nicht getan. Sie mögen immer in Rechtsetzung und Rechtsprechung eine determinierende Rolle spielen, in dem Sinne, daß keine Festsetzung sie überspringen darf. Sobald es sich jedoch um Entscheidungen über konkrete Daseinsverhältnisse und gar, wie auf der Ebene des Rechts, um verbindliche Entscheidungen handelt, tritt wieder236

um die Ethik mit ihrer Grundfrage nach dem Woraufzu des Daseins ins Spiel. Das haben auch Coing und Welzel, wo sie nach der Reichweite des Gedankens der Natur der Sache fragen, gesehen. Zwar scheint sich, sagt Coing, der „Begriff ,Natur der Sache' zu der Vorstellung einer durchgehenden Ordnung der Dinge zu erweitern", so daß das darauf gegründete „Naturrecht . . . eine Spiegelung der Ordnung" werden könnte, „die in den Menschen und Dingen selber liegt". Aber dieser Gedanke wird wesentlich eingeschränkt. „Zwar ist die Erkenntnis der Seinszusammenhänge, der menschlichen Natur, der Gesetzlichkeit der sozialen Prozesse für die Schaffung eines gerechten Rechtes unentbehrlich . . . Was wir aber aus der Betrachtung der ,Natur der Sache' selbst nicht gewinnen können, ist die Einsicht in eine geschlossene Ordnung". Es gibt freilich „gewisse Strukturen . . . , an welche die rechtliche Ordnung anknüpfen kann und muß. Aber die Feststellung dieser Strukturen enthebt uns nicht der Aufgabe, selbst wertend und ordnend einzugreifen". Im Hintergrund rechtlicher Festsetzungen steht daher letztlich nicht die Natur der Sache, sondern eine „sittliche Entscheidung . . . , die ihrerseits auf eine bestimmte Wertung zurückgeht".8 Worin aber Coing die Prinzipien einer solchen ethischen Wertung sieht, und ob sie der philosophischen Frage standhalten, davon wird noch zu sprechen sein. Ähnlich sieht auch Welzel, daß die von ihm herangezogenen ontologischen Grundgegebenheiten, mag auch ihre Herausarbeitung für die Rechtstheorie von wesentlicher Bedeutung sein, als solche doch nicht ausreichen, um das Fundament rechtlicher Entscheidungen zu bilden. Zwar gibt es „auf diesem ontologischen und sachlogischen Felde . . . ,ewige Wahrheiten', die kein Gesetzgeber der Welt abändern kann"; aber dieser ist an sie doch nur gebunden, „wenn er ihren Grundsatz erst einmal übernommen hat". Und das heißt: sie können ihn „nur ,relativ' binden, nämlich bedingt dadurch, welche von ihnen er ale Grundsatz wählt", und sie „zwingen ihn überdies . . . , eine von ihnen zu wählen".' Das Wählen solcher grundlegenden Sichten auf das Dasein ist aber eben die zentrale Aufgabe der Ethik. Welzel greift sie freilich nicht ausdrücklich auf. Doch zeigt auch seine Behandlung der Frage, daß er über die Ebene einer „Natur der Sache" hinaus in die Dimension verwiesen wird, in der die Grundlegung des Rechts erst eigentlich zum Problem wird.

β a.a.O., S. 122—128. • a.a.O., S. 198.

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Das h u m a n i s t i s c h e

Menschenbild

Auch in dem oben angezogenen Beschluß des Bundesgerichtshofes vom 17. 2. 54 ist es, genau betrachtet, nicht so sehr die Natur der Sache, mit der die Forderung der Einehe begründet wird, als vielmehr ein bestimmtes, ethisch geprägtes Bild vom Menschen. Im Anschluß an die Behauptung, daß „der Sinn und die Folge des Verkehrs das Kind ist", wird ausgeführt: „um seinetwillen und um der personhaften Würde und der Verantwortung der Geschlechtspartner willen ist dem Menschen die Einehe als Lebensform gesetzt". Des weiteren heißt es: „nur in dieser Ordnung und in dieser Gemeinschaft nehmen sich die Partner so ernst, wie sie es sich schulden"; im gleichen Sinne ist anschließend von „der ehelichen Gemeinschaft zweier einander achtender . . . Partner" die Rede, in der allein sich „die naturhaft nächste Beziehung der Geschlechter . . · sinnvoll erfüllen" könne. Hinter diesen Aussagen steht offensichtlich ein bestimmtes leitendes Bild vom Menschen: daß zu ihm eine in seiner Personhaftigkeit gegründete Würde ebenso gehöre wie die Verantwortung für andere, und zwar einmal für das Kind in seiner „menschlichen Bestimmung", zum anderen für den Geschlechtspartner, dem gegenüber die Verantwortung den Charakter des geschuldeten Ernstnehmens und der Achtung trage. Von diesem Wesensbild des Menschen her wird dann die Einehe als notwendige Lebensform gefordert. Der anthropologische Hintergrund, von dem her der Bundesgerichtshof argumentiert, wird noch deutlicher, wenn man den Beschluß vom 18. 3. 52 heranzieht. Hier wird nämlich die Verantwortung, die dem Menschen als Wesensmoment zugesprochen wird, genauer bestimmt, und zwar so, daß sie einmal dem Begriffe nach auf mögliche Schuld bezogen und so mit dem Gewissen als dem innersten Ort des Schuldbewußtseins in Zusammenhang gebracht, daß zum anderen die Schuld ihrerseits auf Können, Entscheidung, Freiheit und sittliche Selbstbestimmung zurückgeführt wird. Das meinen offensichtlich die Sätze: „Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, daß der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden". Demgemäß ist der Mensch „jederzeit in die verantwortliche Entscheidung gerufen, sich als Teilhaber der Rechtsgemeinschaft rechtmäßig zu verhalten". „Hierzu bedarf es der Anspannung des Gewissens." Damit hat das den Entscheidungen des Bundesgerichtshofes zugrunde238

liegende Bild vom Menschen seinen Umriß erhalten. Die entscheidenden Momente sind Freiheit, verstanden als sittliche Selbstbestimmung, und Verantwortlichkeit, die den Mitmenschen achtet; dies beides verleiht dem Menschen seinen Charakter als Person und seine eigentümliche Würde. Diese Auffassung vom Menschen hat eine lange Geschichte; ihre großartigste Ausprägung hat sie im Zeitalter der deutschen Klassik erhalten und wurde hier am eindringlichsten von Kant begründet. Dieser geht in seiner Ethik davon aus, daß dem Menschen, der um das rechte Handeln bemüht ist und sich demgemäß daran macht, „Maximen" für sein Tun zu entwerfen, ein Gebot entgegentritt, das ihn unbedingt verpflichtet, ein „unbedingtes praktisches Gesetz". Kant legt entscheidendes Gewicht darauf, daß es sich dabei nicht um ein bloß subjektives Prinzip handle, sondern um ein „Faktum", das „sich für sich selbst uns aufdringt", und das daher „unleugbar" sei. Was dieses Gesetz gebietet, spricht die Formel des „Kategorischen Imperativs" aus; „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich ids Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne". 10 Von diesem seinem ethischen Grundansatz aus wird Kant zu zwei Folgerungen geführt, die für seine Auffassung vom Menschen charakteristisch sind. Einmal nämlich gewinnt er vom Gedanken des unbedingten Gebotes her die Gewißheit, daß die Freiheit eine Wesensauszeichnung des Menschen ist; denn wenn sich der Mensch als unbedingt verpflichtet versteht, muß er sich auch als frei begreifen; ohne ein Können wäre ein Sollen, und gar ein unbedingtes Sollen, sinnlos.11 Damit will Kant freilich dem Menschen keine schrankenlose Selbstherrlichkeit zusprechen. Zwar versteht er die Freiheit als „Autonomie", aber diese ist nicht „das Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln". In Wahrheit autonom ist der Mensch vielmehr nur dann, wenn er sich frei zum Gehorsam gegen das moralische Gesetz entschließt. 12 In dieser wesenhaften, an die Einsicht in das unbedingte Gebot gebundenen Freiheit sieht Kant auch den Sinn der dem Menschen eigenen „Würde" 14 und seiner „Persönlichkeit". 14 Zum andern erwächst aus dem Gedanken des Sittengesetzes auch die Forderung der Verantwortlichkeit. Schon in dem Begriff der „allgemeinen Gesetzgebung" in der angeführten Formulierung des Kategorischen 10 11 12 1S 14

Kritik der praktischen Vernunft, A 52—56; WW, IV, S. 139—142. Vgl. a.a.O., A 6 und A 54; WW, IV, S. 108 u. 140. Vgl. Metaphysik der Sitten, A 27; WW, IV, S.332I. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Β 79; WW, IV, S. 69. Meaphysik der Sitten, A 22; WW, IV, S. 329.

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Imperativs ist der Mitmensch mitgedacht. Das tritt noch deutlicher in einer zweiten Fassung des moralischen Grundgesetzes hervor. Das Wesen der Freiheit, die zur „Menschheit" des Menschen gehört, wird hier genauer dahin bestimmt, daß dieser nicht als Mittel für fremde Zwecke benutzt, sondern als Selbstzweck verstanden werden müsse, und zwar gelte diese Forderung auch für das Verhalten den Mitmenschen gegenüber. Daher sagt Kant: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest".15 So zeigt sich: hinter den Entscheidungen des Bundesgerichtshofes und hinter der Ethik Kants steht das gleiche Menschenbild. Seine wesentlichen Grundzüge sind: Freiheit als sittliche Selbstbestimmung, Gewissen, Personsein, menschliche Würde, Verantwortlichkeit für den Mitmenschen. Die Frage ist nunmehr, ob von da aus eine zureichende Grundlegung des Rechts möglich ist. Dieses Problem muß bei Kant, der sich eigens um einen solchen Nachweis bemüht, deutlicher zutage treten, als in jenen höchstrichterlichen Entscheidungen, die aus ihrer Aufgabenstellung heraus die vorausgesetzte Idee des Menschen undiskutiert im Hintergrund stehen lassen können. Wie also gewinnt Kant den Übergang von der ethischen zur rechtlichen Ebene? Zunächst so, daß er aus seinem ethischen Grundgedanken den allgemeinen Begriff des Rechts ableitet. Wenn es, ethisch gesehen, darauf ankommt, daß der Mensch in Freiheit sich einer allgemeinen Gesetzgebung füge, dann kann das nicht bloß für die Innerlichkeit sittlicher Entschlüsse gelten, sondern muß sich auch im faktischen Tun auswirken. An diesem Punkte nun wird das ethische Prinzip zum Rechtsgebot; denn „Gesetze der Freiheit, so fern sie nur auf bloße äußere Handlungen und deren Gesetzmäßigkeit gehen, heißen . . . juridisch".16 Daher bestimmt Kant das Recht als den „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann".17 Auch die Rechtsphilosophie Kants ist also vom Gedanken der freien, sich selbst bestimmenden und unter einer allgemeinen Gesetzgebung für die Freiheit der andern mit verantwortlichen Persönlichkeit her konzipiert. Doch mit dieser allgemeinen Bestimmung ist die Frage nach der Gründung des Rechts in der Ethik noch nicht zu Ende; denn noch ist damit nicht das Tor zu sachhaltigen rechtlichen Aussagen geöffnet. Es « Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Β 66 f; WW, IV, S. 61. 1β Metaphysik der Sitten, A 7; WW, IV, S.318. » a.a.O., A 33; WW, IV, S. 337.

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kommt vielmehr jetzt darauf an, was denn in concreto zu der im Begriff des Rechts geforderten und ethisch verwurzelten Freiheit gehört, und wie sich ihre Zusammenstimmung mit der Freiheit der andern unter einem allgemeinen Gesetze in der Praxis des Rechtslebens auswirken kann. Hier kommt Kant jedoch nicht mehr mit dem a priori aus der sittlichen Freiheit des Menschen deduzierten Rechtsgrundsatz aus. Er muB vielmehr, „um . . . die Folgerungen aus den allgemeinen moralischen Prinzipien zu zeigen", einen neuen Bestimmungsgrund einführen, nämlich „die besondere Natur des Menschen, die nur durch Erfahrung erkannt wird"18. Das Interesse gilt nunmehr dem Menschen nach seiner Existenz in Raum und Zeit, also nicht „bloß nach seiner Menschheit, als von physischen Bestimmungen unabhängiger Persönlichkeit", sondern als einem „mit jenen Bestimmungen behafteten Subjekt".1* Unversehens aber drängt sich damit die Empirie, das Dasein des leibhaften Menschen in der Vielfalt seiner welthaften Bezüge, ja sogar in der Beschränkung auf die geschichtliche Situation des Zeitalters, als zweiter wesentlicher Bestimmungsgrund so in den Mittelpunkt, daß die konkreten rechtlichen Festsetzungen eher von daher als aus dem ethisch-rechtlichen Prinzip ihre Begründung finden. Auch Kant kennt also so etwas wie die „normative Kraft des Faktischen". Es steht mit der „Rechtslehre" Kants in dieser Hinsicht nicht anders als mit seiner „Tugendlehre"; denn auch in dieser muß er, um zu sachhaltigen Aussagen über das rechte Handeln zu gelangen, auf die Empirie zurückgreifen. Die sittliche Person, die nur als Zweck an sich selbst betrachtet werden darf, kann — wenigstens hier auf Erden — nicht anders denn als empirischer Mensch existieren. Daher ist eine Beeinträchtigung dieses empirischen Menschen, etwa indem man ihn als bloßes Mittel behandelt, zugleich eine Verletzung seiner, sofern er Träger der sittlichen Persönlichkeit ist, und damit indirekt auch ein Angriff auf diese.20 Erst mit Hilfe dieses Zwischengedankens sind konkrete sittliche Gebote und Verbote möglich; es kommt jetzt darauf an, in jedem einzelnen Falle zu fragen, ob denn der Mensch, und zwar als das die Persönlichkeit in sich tragende, leibhafte Wesen, als Selbstzweck oder als Mittel gebraucht werde. Das führt freilich gelegentlich zu höchst verwunderlichen Folgerungen. So wird etwa deduziert, nicht nur der totale Selbstmord sei unbedingt verboten, sondern auch alles, was zum „partialen Selbsta.a.O., A 11, WW, IV, S. 321. « a.a.O., A 48; WW, IV, S. 347. 2® vgl. a.a.O., A 73; WW, IV, S.555. 18

16 Weischedel

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morde" gehöre, etwa dies, „sich eines integrierenden Teils als Organs berauben (verstümmeln), ζ. B. einen Zahn zu verschenken oder zu verkaufen, um ihn in die Kinnlade eines andern zu pflanzen";21 dabei benutze ich ja einen Teil meiner empirischen Existenz, auf die sich die Persönlichkeit gründet, als bloßes Mittel. Gewichtiger ist, wenn Kant — im gleichen Zusammenhang — die „kasuistische" Frage stellt: „Ist es Selbstmord, sich (wie Curtius) in den gewissen Tod zu stürzen, um das Vaterland zu retten?" Die Antwort im Sinne Kants muß sicherlich lauten: es ist Selbstmord; denn der Mensch ist „zur Erhaltung seines Lebens . . . durch seine Qualität als Person verbunden".** Damit wird jedoch der Gedanke des Lebens — freilich als des Trägers der sittlichen Persönlichkeit — zu einem mächtigeren Prinzip, als die Idee der sittlichen Persönlichkeit selber, die ja unter Umständen durchaus fordern könnte, daß man β ein Leben für eine größere Sache hingibt und also — Kantisch gesprochen — als Mittel gebraucht,4* An diesen und ähnlichen Versuchen Kants, konkrete ethische Anweisungen zu geben, zeigt sich: aus dem bloßen Kategorischen Imperativ ist keine sachhaltige Tugendlehre abzuleiten. Die gleiche Problematik entsteht nun auch, wo es um das Verhältnis des allgemeinen Rechtsprinzips zu sachhaltigen rechtlichen Bestimmungen geht. Dies wird wiederum am deutlichsten an den Beispielen, deren Kant freilich in seiner Rechtsphilosophie nur wenige gibt. So wird etwa auf die Frage: „wie weit erstreckt sich die Befugnis der Besitznehmung eines Bodens?", geantwortet: „so weit, als das Vermögen, ihn in seiner Gewalt zu haben", reicht. Damit aber wird ein konkreter geschichtlicher Tatbestand, nämlich der jeweils erreichte Ausbildungsgrad der Herrschaftsmittel des Menschen („z. B. so weit die Kanonen vom Ufer abreichen"), zum Bestimmungsgrund einer der Intention nach rechtsphilosophisch abgeleiteten Festsetzung.*4 Ausdrücklicher noch kommt der Einfluß zeitgenössischer sozialer Auffassungen auf die Rechtsbestimmungen zum Vorschein, wenn Kant etwa die „lebenswierige Versorgung" der Beamten postuliert,*5 oder wenn er behauptet, Gesellen, Dienstboten, „alles Frauenzimmer", Hauslehrer usw. seien zwar, „als Menschen", frei und gleich, wegen ihrer faktischen „Abhängigkeit von dem Willen anderer" könnten sie jedoch bloß passive, nicht aktive Staatsbürger sein.*6 Das auffälligste Beispiel ist 1 1 ebenda. ** a.a.O., A 72; WW, IV, S. 554. M vgl. hierzu Welzel, a.a.O., S. 169 ff. M a.a.O., A 87 f. u. A 9 4 f ; WW, IV, S.375 u. 381. * 5 a.a.O., A 190 f; WW, IV, S. 449. M a.a.O., A 167; WW, IV, S. 433 f.

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schließlich die These Kants, „wider das gesetzgebende Oberhaupt des Staates" gebe es „keinen rechtmäßigen Widerstand des Volkes". Diese Behauptung wird nicht aus dem Rechtsprinzip als solchem begründet, sondern aus dem in diesem Zusammenhang seltsamen Gedanken, „der Ursprung der obersten Gewalt" sei „für das Volk . . . uner for schlich", weshalb dieses „nicht anders urteilen" dürfe, „als das gegenwärtige Staatsoberhaupt... es will". Das Faktum der jeweiligen Herrschaftsverhältnisse wird damit zur verbindlichen Norm gemacht, und dies so sehr, daß Kant hinzufügt, „wenn eine Revolution einmal gelungen" sei, so könnten „die Untertanen . . . sich nicht weigern, derjenigen Obrigkeit ehrlich zu gehorchen, die jetzt die Gewalt hat". Das heißt aber, grundsätzlich betrachtet: „der Herrscher im Staat hat gegen den Untertan lauter Rechte und keine (Zwangs-)Pflichten". Damit wird jedoch ein Gedanke preisgegeben, den Kant doch selber aus dem allgemeinen Rechtsgesetz ableitet und dem Begriff des Staates zugrundelegt: die gegenseitige Verpflichtung aller in ihm Vereinigten, so daß der „Staatsbürger" „keinen Oberen im Volk" anerkennt, „als nur einen solchen, den er eben so rechtlich zu verbinden das moralische Vermögen hat, als dieser ihn verbinden kann".27 Die Unschlüssigkeit der Ableitung konkreter Rechtsetzungen aus dem allgemeinen Rechtsprinzip sei schließlich — um der Parallele mit dem Beschluß des Bundesgerichtshofes vom 17. 2. 54 willen — am Beispiel der Kantischen Deduktion des Eherechtes gezeigt.28 Kant behauptet, wenn man einmal das Faktum des Geschlechtsverkehrs voraussetze, sei die Ehe, auch im rechtlichen Sinne, notwendig, und zwar vom Grundsatz des Rechts und damit indirekt vom ethischen Grundgebot her; „wenn Mann und Weib einander ihren Geschlechtseigenschaften nach wechselseitig genießen wollen, so müssen sie sich notwendig verehelichen, und dieses ist nach Rechtsgesetzen der reinen Vernunft notwendig." Der Nachweis einer solchen Notwendigkeit stößt jedoch insofern auf eine Schwierigkeit, als die naturhafte Basis der Ehe dem ethischen Grundsatz widerspricht. Denn „in diesem Akt macht sich ein Mensch selbst zur Sache, welches dem Rechte der Menschheit an seiner eigenen Person widerstreitet". Kant nennt jedoch eine ff Bedingung", unter der dies gleichwohl geschehen darf: „daß, indem die eine Person von der anderen gleich als Sache erworben wird, diese gegenseitig wiederum jene erwerbe; denn so gewinnt sie wiederum sich selbst und stellt ihre Persönlichkeit wieder

28

16·

a.a.O., A 165—182; WW, IV, S. 432—443. Vgl. dazu a.a.O., A 106—111; WW, IV, S. 389—393. 243

her". Wie jedoch die aus der Perspektive Kants heraus ethisch verwerfliche Tatsache, daß der Mensch sich zum Mittel erniedrigt, dadurch aufgehoben werden kann, daß die Benutzung als Mittel gegenseitig geschieht, ist weder aus sich selbst heraus einsichtig, noch wird es von Kant eigens begründet. In die Deduktion der Ehe und des Eherechts schleicht sich somit eine unerwiesene Behauptung ein. Überdies ist, selbst wenn man die Schlüssigkeit des Kantischen Arguments unterstellen wollte, damit noch nicht die Notwendigkeit der Ehe erwiesen, sondern lediglich die einer Gegenseitigkeit des Geschlechtsverkehrs, wie sie ja schon in der Natur der Sache liegt. Noch eine weitere Voraussetzung liegt der Kantischen Argumentation zugrunde: „es ist aber der Erwerb eines Gliedmaßes am Menschen zugleich Erwerbung der ganzen Person, — weil diese eine absolute Einheit ist". Auch hier wird offenkundig, wie Kant von der Ebene des Sittengesetzes und des darin gegründeten allgemeinen Rechtsgebotes, und das heißt zugleich vom Gedanken der ethischen Persönlichkeit abgeht und seine Argumente aus der Ebene des empirischen Menschen holt; denn um diesen handelt es sich ja eindeutig bei „der unzertrennlichen Einheit der Glieder an einer Person". Aus den beiden genannten Voraussetzungen zieht Kant den Schluß: „folglich ist die Hingebung und Annehmung eines Geschlechts zum Genuß des andern nicht allein unter der Bedingung der Ehe zulässig, sondern auch allein unter derselben möglich". Im weiteren wird sodann die Ehe ausdrücklich als Monogamie postuliert, und zwar aufgrund der gleichen Dialektik von Teil und Ganzem und von Mittel und Selbstzweck: „denn in einer Polygamie gewinnt die Person, die sich weggibt, nur einen Teil desjenigen, dem sie ganz anheimfällt, und macht sich also zur bloßen Sache". Diese Folgerung bricht jedoch zusammen, wenn die Voraussetzungen, auf denen sie basiert, sich als unbegründet erweisen. In der Tat lassen sie sich weder aus dem ethisch-rechtlichen Grundgebot ableiten, noch sind sie aus sich selber heraus unmittelbar einsichtig. Die Kantische Deduktion der Notwendigkeit der Monogamie zeigt sich somit als brüchig. Nun ist ihr Ausgangspunkt der gleiche wie der des angezogenen Beschlusses des Bundesgerichtshofes: der Gedanke des Menschen als der freien und verantwortlichen Persönlichkeit. Wenn aber Kant beim ausdrücklichen Versuch einer Begründung scheitert, wenn sich überdies zeigt, daß er überhaupt von seinem Begriff des Menschen her nicht ohne weiteres zu konkreten Rechtsetzungen kommen kann, dann wird die Behauptung des Bundesgerichtshofes, personhafte Würde und Verant244

wortung müßten mit Notwendigkeit zum Postulat der Einehe und zur Abweisung jedes außerehelichen Verkehrs der Geschlechter führen, fragwürdig, und um so fragwürdiger, als sie ohne Begründung, und als wäre sie selbstverständlich, ausgesprochen wird. Das wird schließlich auch von der Erfahrung bestätigt. Betrachtet man unvoreingenommen die tatsächlichen Verhältnisse des menschlichen Daseins, so wird man nicht immer Würde und Würdelosigkeit eindeutig auf eheliche und nichteheliche Verhältnisse verteilt finden, wie sich auch Verantwortung für den Partner und Achtung vor der Freiheit der Person in manchen außerehelichen Verhältnissen eher finden lassen als in vielen Ehen. Das heißt aber: die Ehe als solche macht das Verhältnis der Geschlechter nicht zu dem, wozu es unter dem Gedanken der Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen werden soll. Doch selbst wenn es möglich wäre, aus diesem Begriff des Menschen ohne Hinzunahme weiterer Voraussetzungen konkrete Rechtsetzungen abzuleiten, bliebe noch immer das tiefergreifende Problem, ob denn dieses Menschenbild selber überhaupt die eindeutige Einsichtigkeit besitzt, die ihm in den Entscheidungen des Bundesgerichtshofes stillschweigend zuerkannt wird. Wiederum zeigt der Blick auf Kant, daß dem nicht so ist; denn sein Begriff vom Menschen als der freien und verantwortlichen Persönlichkeit steht keineswegs undiskutiert an der Spitze seines ethischen und rechtlichen Denkens. Oben2* wurde bereits darauf hingewiesen: Kant gewinnt die Gewißheit der Freiheit erst daraus, daß der Mensch sich als unbedingt beansprucht erfährt, und diese Erfahrung ist für ihn dadurch gesichert, daß sich in ihr das Sittengesetz als ein „Faktum" gibt, das „sich für sich selbst uns aufdringt." Doch mit diesem Hinweis auf das Faktische ist die Gültigkeit des Sittengesetzes und der darin gegründeten Freiheit noch nicht ausreichend erwiesen. Denn daß ich das Sittengesetz als Faktum erfahre, beruht seinerseits auf einer Voraussetzung; es zeigt sich nämlich nur dem, der sich ernstlich dazu entschlossen hat, Prinzipien des rechten Handelns zu finden. Das aber ist kein anderer als der Mensch, der sich zum sittlichen Dasein entschlossen hat, und der weiß, daß es darin auf sein eigenes Tun und auf seine Entscheidung ankommt, also eben der freie und verantwortliche Mensch. Demnach steckt bereits im Ausgangspunkt Kants — im Keime wenigstens — das gleiche, was am Ende als Resultat gewonnen wird. Und das heißt: sein ethischer Begriff vom Menschen ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Voraussetzung. Das findet darin seine Bestätigung, daß sich der Begriff vom Men» Vgl. S. 239. 245

sehen, wie er der Kantischen Ethik und Rechtslehre zugrundeliegt, und wie er zugleich das Leitbild des Zeitalters der Klassik ist, erst im Laufe einer langen Geschichte der Selbstbesinnung des Menschen herausgebildet hat. Ursprünglich von den Griechen entdeckt, hat er sich sodann mit römischen und christlichen Elementen angereichert, um schließlich als das humanistische Bild vom Menschen als der „Persönlichkeit" seine volle Gestalt zu gewinnen. Doch ist er niemals unbestritten geblieben. Immer auch hat der Mensch andere Möglichkeiten gefunden, sich selbst zu verstehen: etwa von der Eingebundenheit in die Gemeinschaft her, der sich der Einzelne willenlos zu fügen habe, oder unter dem Gesichtspunkt der biologisch verstandenen Daseinsbehauptung. Gerade heute treten diese beiden anderen Deutungen machtvoll auf: die eine in dem Menschenbild, wie es den totalitären Staatsauffassungen zugrundeliegt, die andere in den anthropologischen Fundamenten der Lebensphilosophie mit ihren Auswirkungen bis ins Politische hinein. Der Begriff vom Menschen als der freien und verantwortlichen Persönlichkeit ist also keine Selbstverständlichkeit, auch kein unmittelbar einsichtiger oder schlüssig erweisbarer Gedanke, sondern eine Voraussetzung; freilich als solche nicht willkürlich erfunden, sondern uns aus unserer Geschichte überkommen, und gleichwohl ihrem Ursprung nach aus einer geschichtlichen Entscheidung des Menschen erwachsen. Im Gange ihrer Geschichte hat sich die abendländische Menschheit daraufhin entworfen, unter anderen Möglichkeiten, das Wesen des Menschen zu deuten, auch und vorzüglich die humanistische zu ergreifen. Diu mag man bejahen oder verwerfen; wichtig ist nur, sich darüber klar zu sein, daß Bejahung wie Verwerfung auf einer Entscheidung für eine bestimmte Gestalt unserer Geschichte beruhen. Wenn also Kant in philosophischer Begründung, und wenn in seinem Geiste der Bundesgerichtshof unreflektiert auf dieses Menschenbild das Recht gründen wollen, dann heißt das: sie haben keinen aus sich selber heraus evidenten Tatbestand zugrundegelegt, sondern in der Wahl dieser Voraussetzung eine bestimmte Entscheidung getroffen; sie gründen ihre rechtlichen Postulate auf einen Entschluß, nämlich darauf, den Menschen als die freie und verantwortliche Persönlichkeit zu wollen. Ob sie zu Recht oder zu Unrecht gerade diese Entscheidung gefällt haben, muß später erörtert werden. Für jetzt kommt es allein darauf an einzusehen: vom humanistischen Menschenbild aus ist es nicht möglich, rechtliche Folgerungen von unbestreitbarer Gültigkeit zu ziehen, und zwar aus dem doppelten Grund: wegen der mangelnden Evidenz der Voraussetzung und wegen des Scheiterns der Ableitung konkreter Rechtsetzungen aus ihr. In der Tat ist denn auch in den angezogenen Entscheidungen des Bun246

desgerichtshofes dies noch nicht das letztlich maßgebende Prinzip; es wird vielmehr eine weitere Begründung versucht, die es nun zu untersuchen gilt. Die unbedingte

Wertordnung

Eingangs, anläßlich der Erörterung des grundsätzlichen Verhältnisnisses von Recht und Ethik, wurde darauf bereits hingedeutet.50 In dem Beschluß des Bundesgerichtshofes vom 17. 2. 54 wird ja gesagt: „Indem die Kuppeleitatbestände von Unzucht sprechen, verweisen sie auf einen außerrechtlichen Maßstab, auf eine den Bereich des bloß Rechtlichen fiberschreitende Norm". Soll also die Auffassung des Bundesgerichtshofes von der Gründung des Rechts in der Ethik zur vollen Klarheit gebracht werden, so muß deutlich gemacht werden, was denn mit jenem „Maßstab" und mit dieser „Norm" gemeint ist. Der Bundesgerichtshof zieht zur Erläuterung eine seit den Griechen mit ihrer Problematik von ph^sis und nömos geläufige Unterscheidung heran. Bei jener „Norm" handle es sich nämlich nicht um ein „Gebot der bloßen Sitte, der bloßen Konvention", sondern um „eine solche der Sittlichkeit, des Sittengesetzes". Der entscheidende Unterschied liege in der verschiedenen Herkunft ihrer Verbindlichkeit. „Gebote der bloßen Sitte, der Konvention, leiten ihre (schwache) Verbindlichkeit nur aus der Anerkennung derjenigen her, die sie freiwillig anerkennen und befolgen; sie gelten nicht mehr, wenn sie nicht mehr anerkannt und befolgt werden; sie ändern ihren Inhalt, wenn sich die Vorstellung über das, was die Sitte verlangt, ändert". Sie sind daher „bloße dem wechselnden Belieben wechselnder gesellschaftlicher Gruppen ausgelieferte Konventionalregeln". Mit andern Worten: die Normen der bloßen Sitte sind abhängig von den menschlichen Vorstellungen von dem, was sich gehört, und damit auch von deren geschichtlichem Wandel. Demgegenüber wird von den „Normen des Sittengesetzes" gesagt: „sie gelten unabhängig davon, ob diejenigen, an die sie sich mit dem Anspruch auf Befolgung wenden, sie wirklich befolgen und anerkennen oder nicht; ihr Inhalt kann sich nicht deswegen ändern, weil die Anschauungen über das, was gilt, wechseln". Ist aber ihre Geltung nicht vom Menschen und vom geschichtlichen Wandel seiner Vorstellungen abhängig, so heißt das: sie „gelten aus sich selbst heraus", sie haben eine „unbedingte Geltung", ihre Verbindlichkeit leitet sich von etwas her, was dem Menschen „vorgegeben" ist, was er demgemäß nicht selber hervorbringt, sondern nur „hinzunehmen" hat, nämlich von einer „Ordnung der Werte", die, weil sie aller »® Vgl. S. 230 f. 247

Subjektivität enthoben ist, auch als „objektiv geltende und verpflichtende Wertordnung" bezeichnet wird. So wird denn zusammenfassend von den Normen des Sittengesetzes gesagt: „Ihre (starke) Verbindlichkeit beruht auf der vorgegebenen und hinzunehmenden Ordnung der Werte und der das menschliche Zusammenleben regierenden Sollenssätze". Die Eindringlichkeit, mit der diese Zusammenhänge betont werden, macht deutlich, daß der Bundesgerichtshof hier den eigentlichen Ort sieht, an dem das Recht in der Ethik gründet. In der Tat: wenn eine unbedingte Wertordnung und, in ihr wurzelnd, aus sich selber heraus geltende Normen des Sittengesetzes einsichtig gegeben sind, und wenn sie sich zudem inhaltlich konkretisieren lassen, dann ist die Schwierigkeit einer zureichenden Fundierung richterlicher Entscheidungen von der Art, wie sie der Bundesgerichtshof in den angezogenen Fällen zu treffen hatte, behoben. Raum für Zweifel und Irrtum gibt es dann nur noch darin, wie man die vorgegebenen absoluten Normen sachgerecht anzuwenden hat. Das ist offenbar die Meinung des Bundesgerichtshofes. So wird in dem Beschluß vom 17. 2. 54 die unbedingte Forderung der Einehe aus dem Sittengesetz und damit letztlich aus der absoluten Wertordnung abgeleitet. Denn es kann „nicht zweifelhaft sein, daß die Gebote, die das Zusammenleben der Geschlechter und ihre geschlechtlichen Beziehungen grundlegend ordnen, und die dadurch zugleich die gesollte Ordnung der Ehe und der Familie (in einem entfernteren Sinne auch die des Volkes) festlegen und verbürgen, Normen des Sittengesetzes sind". „Indem das Sittengesetz dem Menschen die Einehe und die Familie als verbindliche Lebensform gesetzt und indem es diese Ordnung auch zur Grundlage des Lebens der Völker und Staaten gemacht hat, spricht es zugleich aus, daB sich der Verkehr der Geschlechter grundsätzlich nur in der Ehe vollziehen soll". Das ist GSf WäS fi die sittliche Ordnung will", und es gilt so sehr, daß hinzugefügt wird: „die unbedingte Geltung der ethischen Norm läßt keine Ausnahme zu". Der Beschluß vom 10. 3. 54 stellt eine weitere konkrete, aus dem Sittengesetz abgeleitete Forderung auf: „Es kann nicht bestritten werden, daß gegenseitige Hilfe in Notfällen einem von jeher bestehenden sittlichen Gebot entspricht". Schließlich fügt der gleiche Beschluß noch hinzu, daß „jeder Selbstmordversuch — von äußersten Ausnahmefällen vielleicht abgesehen — vom Sittengesetz streng mißbilligt ist, da niemand selbstherrlich über sein eigenes Leben verfügen und sich den Tod geben darf". Sieht man von der kleinen Unsicherheit ab, die sich in der letztgenannten Formulierung findet („von äußersten Ausnahmefällen vielleicht abgesehen"), so lassen die Äußerungen des Bundesgerichtshofes seine grundsätzliche Auffassung deutlich erkennen: eine unbedingte Wertordnung ist einsichtig gegeben, und aus ihr lassen 248

sich konkrete, für Gesetzgebung und Rechtsprechung maßgebende Vorschriften herleiten. Das ist freilich, genauer besehen, höchst fragwürdig, und wiederum verweist die tiefere Problematik auf das Gebiet der philosophischen Grundlegung. Den Hintergrund des Gedankens der unbedingten Wertordnung bilden nämlich offensichtlich die Prinzipien der materialen Wertethik Max Schelers und Nicolai Hartmanns,'1 die alte, insbesondere bei den Griechen und in der mittelalterlichen Scholastik entwickelte Gedanken in einer der nachkantischen Problemsituation entsprechenden Form wieder lebendig gemacht haben. In der Tat dringt der Ausgriff auf die materiale Wertethik in das Zentrum der ethischen Diskussion der Gegenwart vor; seit Kants Entwurf einer Ethik der freien Persönlichkeit ist kein gleich gewichtiger Versuch einer philosophischen Grundlegung der Ethik mehr unternommen worden. Die Frage ist daher, ob die materiale Wertethik ein zureichendes Fundament für grundsätzliche rechtliche Entscheidungen bilden kann. Dabei soll sie vorzüglich in der ursprünglichen Gestalt, die ihr Scheler gegeben hat, untersucht werden, da Hartmann bei aller Differenzierung im einzelnen doch im Grundsätzlichen von Scheler abhängig ist, ja, wie sich zeigen wird, am entscheidenden Punkte hinter diesem zurückbleibt. Der Ausgangspunkt des ethischen Denkens Schelers ist die gleiche Sorge, die auch den Bundesgerichtshof in seiner Bemühung um eine ethische Fundierung des Rechts bewegt: daß nämlich in der Gefährdung durch einen „haltlosen Relativismus"32 keine verbindlichen ethischen Aussagen mehr möglich zu sein scheinen. In dieser Situation kann ein bloß formales Sittengesetz im Sinne Kants, „jene furchtbar erhabene Formel in ihrer Leere", 33 nicht weiterhelfen, da aus ihm keine konkreten Anweisungen zu gewinnen sind. Demgegenüber will Scheler die Ethik auf sachhaltige, „materiale" Prinzipien gründen, nämlich die „Werte", etwa Tapferkeit, Wahrhaftigkeit, Nächstenliebe, Heiligkeit. Sie nun lassen sich, wie Scheler meint, einsichtig erkennen, und zwar nicht nur ihren Wertgehalten nach, sondern auch in einer „Rangordnung, die in ihrem Wesen selbst gegründet ist", 34 und dergemäß etwa „die geistigen Werte eine höhere Wertreihe" sind „als die vitalen Werte, die Werte des Heiligen eine höhere Wertreihe als die geistigen Werte". 35 3 1 Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 19273. — Nicolai Hartmann, Ethik, 1926. 3 1 Scheler, a.a.O., S. XI. 3 3 a.a.O., S. 2. ** a.a.O., S. 20 » a.a.O., S. 109.

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Die Werte und ihre Rangordnung können darum das Fundament einer gültigen Ethik bilden, weil sie nach Schelers Auffassung nicht subjektiv sind, also nicht aus einer Wertschöpfung des Menschen entspringen oder überhaupt auf dessen Dasein relativ sind. Sie bestehen vielmehr „unabhängig von aller Organisation bestimmter Geisteswesen".M Scheler schreibt ihnen daher „objektive Existenz" zu,*7 nämlich als der „an sich bestehenden Werte", und redet dementsprechend auch von einer „an sich bestehenden sittlichen Wertordnung",38 einer „absolut objektiven Rangordnung der Werte".*' Diese ist „etwas absolut Invariables",40 eine „ewige Ordnung".41 Indem nun die philosophische Ethik diese „absoluten sittlichen Werte" 42 aufdeckt und darstellt, wird sie der Gefahr des Relativismus Herr und macht als „absolute, apriorische . . . Ethik", im Unterschied zur Ethik Kants, „eine wahre Begründung sittlicher Entscheidungen und Gesetze für solche möglich".43 Der Grundgedanke der Ethik Schelers zeigt deutlich seine Verwandtschaft mit der These des Bundesgerichtshofes. Gelingt es nun, wie Scheler behauptet, und wie Hartmann ausführlich darlegt, die Werte und ihre Rangordnung eindeutig zu bestimmen, dann sind Gesetzgebung und Rechtsprechung der Sorge um eine gültige Begründung ihrer Entscheidungen enthoben. Alles hängt somit davon ab, ob die Behauptung von der absoluten Gültigkeit der Werte und ihrer Rangordnung einsichtig gemacht werden kann. Doch wie soll der Mensch dessen gewiß werden, daß die Werte in der Tat nicht sein eigenes Produkt sind, sondern objektive Existenz besitzen, und daß es eine ebenso objektive Rangordnung unter ihnen gibt? Scheler antwortet: das wird in der Unmittelbarkeit der „Werterkenntnis" erfahren, die „sich im Fühlen, Vorziehen, Lieben und Hassen wesensnotwendig vollzieht", und die von einer „eigenen Evidenz" begleitet ist.44 Sie ist „eine Erfahrungsart, deren Gegenstände dem ,Verstände' völlig verschlossen sind . . . , eine Erfahrungsart aber, die uns echte objektive Gea.a.O., S. 268. » a.a.O., S. 96. M a.a.O., S. 513. »· a.a.O., S. 94. 4 · a.a.O., S. 86. 4 1 a.a.O., S. 262. « a.a.O., S. 331. « a.a.O., S. 261 f. 4 4 a.a.O., S. 65 f. M

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genstände und eine ewige Ordnung zwischen ihnen zuführt, eben die Werte und eine Rangordnung zwischen ihnen. Und die Ordnung und die Gesetze dieses Erfahrens sind so bestimmt, genau und einsichtig wie jene der Logik und Mathematik."46 Wenn mir also etwa die Nächstenliebe im Wertfühlen gegeben ist, dann kann ich, meint Scheler, gar nicht anders, als daß ich sie als Wert verstehe. Ebenso zeigt sich mir im unmittelbaren Fühlen der Mord evidentermaßen als Unwert. In dem gleicherweise ursprünglichen „Vorziehen" schließlich, in dem „das Höhersein eines Wertes . . . gegeben" ist, und das seinerseits durch eine „intuitive Vorzugsevidenz" ausgezeichnet ist,4" erfahre ich mit Sicherheit, daß etwa der Wert der Heiligkeit die geistigen Werte überragt. Die „Evidenz und die objektive Seinsgültigkeit unseres Werterfassens"47 also vergewissert uns der Objektivität der Werte und ihrer absoluten Rangordnung. Nun ist es mit dem Fühlen und Vorziehen von Werten freilich eine merkwürdige Sache. Nicht alle werden über das, was sie als Wert oder Unwert, und was sie als höheren oder niederen Wert empfinden, die gleiche Auskunft geben. Wenn Scheler „das Heiligsein der Person" als „den höchsten Wert" bezeichnet,48 und wenn er behauptet, es sei ein „Vorzugsgesetz, daß Lebenswerte Heiligem und geistigen Werten , . . untergeordnet seien"4*, so nennt Nietzsche in striktem Gegensatz dazu die „Heiligkeit... eine Symptomen-Reihe des verarmten, entnervten, unheilbar verdorbenen Leibes" 50 und erklärt seine „Feindschaft gegen alles und alle, die den Wert des Lebens zu verdächtigen suchen".51 Vergleicht man ferner verschiedene Zeitalter und Kulturkreise miteinander, so zeigen sich auch da unüberbrückbare Gegensätze. Die Wertvorstellungen Homers etwa sind ersichtlich andere als die der christlichen Zeit, das Ethos der Chinesen unterscheidet sich von dem der Israeliten. Es gibt also inter subjektive und geschichtliche Verschiedenheiten, ja sogar Widersprüche im unmittelbaren Erfassen von Werten und Wertrangordnungen. Das aber läßt sich offensichtlich nicht mit der These von der absoluten Evidenz der Werterkenntnis vereinbaren. Der „Satz von der Subjektivität und der Relativität aller Werte", jene „hartnäckige Überzeugung der

« a.a.O., S. 262. 4 8 a.a.O., S. 85 u. 87. « a.a.O., S. 279. 4 8 a.a.O., S. 512.. « a.a.O., S. 324. M Umwertung aller Werte, Kröners Taschenausgabe, Bd. 77, S. 259. 5 1 Kröners Taschenausgabe, Bd. 83, S. 477.

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Philosophie fast der ganzen modernen Welt", 5 * scheint somit gegenüber der These Schelers von der Objektivität der Werte und ihrer Rangordnung Recht zu behalten. Dieser Bedrohung seiner grundlegenden Auffassung weicht Scheler nicht aus. Ja, er bringt selber Beispiele für die geschichtliche Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit der Wertungen. „Wem zeigte nicht die eingehendere Analyse, daß das in der altindischen Kastenordnung und Religion lebendige Ethos radikal . . . verschieden ist von dem des griechischen Volkes oder dem der christlichen Welt? Wer sähe nicht, daß ζ. B. die Tatsache, daß die Römer vor Ennius den Wucher verwerflicher fanden als den Diebstahl, oder daß die alte deutsche sittliche und rechtliche Wertschätzung den Raub für besser als den Diebstahl hielt, auf grundverschiedene Vorzugsregeln zwischen gewissen Arten des vitalen Wertes (Mut, Mannhaftigkeit) und Nutzwert hindeutet?". Dementsprechend weist Scheler hin auf den „Wandel der sittlichen Ideale" und auf „die wesenhafte Geschichtlichkeit..., d i e . . . das Ethos . . . als Erlebnisform der Werte und ihrer Rangordnung besitzt". Gleichwohl behauptet er weiterhin, es liege „auch in dieser radikalsten (Relativität* der sittlichen Wertschätzungen keinerlei Grund zur Annahme eines Relativismus der sittlichen Werte und ihrer Rangordnung selbst".·* In der Begründung dieser These kann Scheler freilich nicht mehr an einer sittlichen Evidenz in dem naiven Sinne festhalten, demgemäß jeder berechtigt sein könnte, das, was ihm jeweils im Wertfühlen als gewiß erscheint, ohne weiteres zu einem objektiven Wert zu verabsolutieren. Scheler nimmt vielmehr nun einen umfassenderen Gesichtspunkt ein, von dem allein aus er die individuelle und geschichtliche Variation der Wertungen zusammenschauen zu können meint. So behaupteter: jeder Mensch und jedes Zeitalter begreifen nur einen je begrenzten Ausschnitt aus dem Wertreich, das als Ganzes nur von allen Menschen und allen Zeitaltern insgemein erfaßt werden kann. Es gibt also zwar eine griechische und eine christliche, eine indische und eine israelitische Wertperspektive, aber diese stehen nicht in Widerstreit miteinander, sondern sind nur je verschiedene Aspekte auf das eine und gleiche Wertreich, dergestalt, „daß das volle und adäquate Erleben des Kosmos der Werte und seiner Rangordnung . . . wesenhaft an eine Cooperation verschiedener und sich eigengesetzlich historisch entfaltender Formen des Ethos geknüpft ist". M Scheler, a.a.O., S. 272. w a.a.O., 312—315. M a.aO., S. 314. M

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Dieses Zusammenwirken der Zeitalter nun spielt sich in einer „sinnvollen Ordnung" ab,56 und zwar in einer Ordnung des geschichtlichen Nacheinander; denn den sittlichen Werten ist „die .Geschichtlichkeit* ihrer Erfassung . . . wesentlich".5* Das bedeutet, daß die jeweils spätere Zeit einen der früheren unbekannten höchsten Wert entdecken kann, dem sie sodann das bisherige Wertsystem unterordnet, ohne es im einzelnen anzutasten. Wenn also etwa das Christentum die Heiligkeit als höchsten Wert versteht, macht es den höchsten Wert der Griechen, die Gerechtigkeit, nicht zu einem Unwert, sondern nur zu einem Wert zweiten Ranges. In der „Entdeckung und Erschließung .höherer' Werte" kehrt sich die Wertskala nicht um; „indem das Ethos .wächst', werden nicht die Vorzugsgesetze des alten zerstört", es wird lediglich „das ältere Wertreich in seiner Gesamtheit hierdurch relativiert."67 So ist nach Schelers Auffassung unter diesem Gesichtspunkt die Verschiedenheit der Wertsichten und deren geschichtlicher Wandel kein Einwand gegen die Objektivität der Werte und ihrer Rangordnung. Das „zunächst wie eine Palette mit umgestürzten Farbentöpfen erscheinende Reich dieser Wertschätzungen" bekommt vielmehr „den Sinnzusammenhang eines grandiosen Gemäldes . . . , auf dem man die Menschheit, so bunt gegliedert sie ist, . . . eines Reiches objektiver, von ihr und ihren Gestaltungen unabhängiger Werte und deren objektiver Rangordnung liebend, fühlend und handelnd sich bemächtigen und sie in ihr Dasein hereinziehen sieht".S8 Die Widerlegung des relativistischen Einwandes durch den Gedanken eines sinnvollen Nacheinander je höherer Wertentdeckungen kann freilich nur so lange als schlüssig erscheinen, als das Faktum der Wertrevolutionen nicht gewichtig genommen wird, also die Tatsache, daß ja doch in der Geschichte oftmals Werte früherer Zeitalter, die inzwischen entthront worden waren, zu erneuter Geltung gelangt sind. Wenn Scheler etwa festzustellen meint, im Christentum habe sich der neu entdeckte Wert der Heiligkeit die Werte des Geistes und des Lebens endgültig untergeordnet, dann steht dem entgegen, daß es doch auch im christlichen Abendlande Zeiten gegeben hat, in denen diese niederen Werte wieder an die Spitze gestellt wurden: die Vernunft in der Aufklärung, das Leben im Beginn unseres Jahrhunderts. Sowohl die Aufklärung wie die Lebensphilosophie und die ihr entsprechende Geisteshaltung behaupten jedoch mit der gleichen Überzeugtheit wie Scheler, daß die von ihnen erblickte Wertordnung die wahre und letztlich gültige sei, und daß 88 58 57 88

a.a.O., S. 306. a.a.O., S. 514. a.a.O., S. 316. a.a.O., S. 306 f.

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die christliche Wertordnung durch sie überholt sei. Das heißt aber: wenn Scheler meint, die von ihm postulierte Rangordnung der Werte sei dadurch gesichert, daß ihr späteres Hervortreten im Gange der Geschichte auch ihre höhere Wahrheit erweise, dann geschieht dies aufgrund einer recht gewaltsamen Bewertung der historischen Phänomene. Scheler bezeichnet denn auch in der Tat all jene Umkehrungen der christlichen Wertung als „Wert- und Vorzugstäuschungen", als „Fälschungen und Umstürze von früher den objektiven Wertrangordnungen bereits angemessenen ethischen Beurteilungsformen und Maßstäben", als „Täuschungen . . . , die zur Herrschaft eines falschen Ethos und ihm entsprechender ,Scheinwerte' führen". Doch woher nimmt Scheler den Maßstab, an dem er messen kann, was die wahre Einsicht in die absolute Wertrangordnung ist, und was „Täuschung", „falsches Ethos" und „Scheinwerte" sind? Seine Antwort lautet: daraus, daß man die „ .gemeinten Evidenzen des Ethos der Zeit selbst noch an den puren Selbstgegebenheiten sittlicher Werte und Wertverhältnisse einer Kritik unterwirft".®· Damit ist Scheler jedoch wieder auf seinen Ausgangspunkt zurückgeworfen; denn in ihrer „puren Selbstgegebenheit" sollen ja die Werte und ihre Rangordnung im Wertfühlen und im Vorziehen als den Weisen der unmittelbaren Werterkenntnis erscheinen. Blickt man auf die ganze Argumentation zurück, so zeigt sich: Scheler will die unmittelbare Werterkenntnis, die angesichts der individuellen und geschichtlichen Verschiedenheiten und Gegensätzlichkeiten der Wertungen vom Relativismus bedroht ist, dadurch sichern, daß er jene These vom geschichtlichen Hervortreten des je höheren Wertes zuhilfe ruft; aber diese Behauptung läßt sich aus der bloßen unvoreingenommenen Betrachtung der historischen Phänomene nicht unmittelbar ableiten, sondern hat selber nur Bestand, wenn man alles, was ihr widerspricht, als Werttäuschung bezeichnet. Doch über das, was Werttäuschung ist, entscheidet wiederum jene unmittelbare Werterkenntnis mit ihrer fragwürdigen Evidenz. Das heißt aber: der Gedanke der unmittelbaren Werterkenntnis gibt der Behauptung, daß darin eine absolute Wertrangordnung entdeckt werde, keine ausreichend gesicherte Begründung. Am Ende zeigt sich somit: das eigentliche Prinzip der materialen Wertethik ist keine aus sich selber heraus evidente Einsicht, sondern die jeweilige Werterkenntnis des Philosophen, die sich, ohne dies begründen zu können, als absolut ausgibt. Das wird vollends deutlich, wo Scheler und Hartmann daran gehen, in concreto eine Tafel der Werte zu entwerfen. Diese sieht bei beiden ganz verschieden aus, und doch berufen 69

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a.a.O., S. 317 u. 320.

sich beide auf die Evidenz ihrer Werterkenntnis. Für Scheler ist der Wert des Heiligen einsichtigerweise „die letzte (und zwar die oberste) Wertqualität in der Rangordnung der Werte";®0 Hartmann dagegen weiß nichts von einem Wert der Heiligkeit, ja er behauptet, wir kennten überhaupt „keinen obersten Einheitswert"*1. Er wiederum findet, die „Fernstenliebe", nämlich eine „Liebe, die dem kommenden Menschen gilt, so wie er dem Lebenden in der Idee faßbar wird", sei dem Werte nach „höher als Nächstenliebe", und er verweist dabei ausdrücklich auf „das Wertgefühl" als „die alleinige erkennende Instanz, welche die Projektion auf der Höhenskala ablesen" kann;** im Gegensatz dazu sagt Scheler, „die Wertüberordnung der utopischen ,Fernstenliebe' . . . über die .Nächstenliebe' " sei „ausschließlich ein Werk des . . . Ressentiments (d. h. eine ideologische Umformung des Hasses gegen den .Nächsten')".** Dieser offene Widerstreit in den Wertungen macht die Behauptung der beiden Denker, sie erschauten evidentermaßen eine an sich bestehende, objektive Rangordnung, aufs höchste fragwürdig. Die materiale Wertethik besitzt keineswegs das sichere Fundament, das ihre Entdecker ihr zusprechen. Das gleiche zeigt sich, wo die materiale Wertethik unmittelbar in eine rechtsphilosophische Grundlegung übernommen wird, wie dies etwa bei Coing geschieht. Er bezeichnet es als „evident, daß eine Friedensordnung höher zu werten ist als bloße Spielregeln für den Kampf, Sicherheit wiederum höher als bloßer Nicht-Kampf, Gerechtigkeit schließlich höher als sie alle".*4 Doch diese Festsetzungen begegnen demselben grundsätzlichen Einwand, wie die Wertethik selber. Welzel hat daher recht, wenn er schreibt: ,, Coing . . . hat seine obersten Rechtsgrundsätze . . . nicht aus der Scheler-Hartmannschen materialen Wertethik ableiten können, sondern . . . der historischen Lage der letzten 150 Jahre entnommen".*" Wenn aber so die materiale Wertethik in ihrem Versuch, die Evidenz einer an sich bestehenden Wertrangordnung zu begründen, scheitert, dann wird auch die These des Bundesgerichtshofes, einer solchen „vorgegebenen und hinzunehmenden Ordnung der Werte" seien sichere Prinzipien für rechtliche Entscheidungen zu entnehmen, äußerst zweifelhaft. Wie es auch immer mit dem Gebot der Einehe und dem Verbot des Selbstmordes stehen mag, eines ist deutlich: der bloße Hinweis auf eine vermeint" ·* *s *4 *s

a.a.O., S. 302. Ethik, S. 266. a.a.O., S. 445 u. 497. Wesen und Formen der Sympathie, 19231, S. 117, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 36. Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 181, Anm. 23.

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lieh evidente Wertrangordnung reicht nicht aus, um die Gültigkeit jener Normen zu gewährleisten. Solange nicht geleistet ist, was Scheler und Hartmann nicht gelang, solange also die vorausgesetzten ethischen Prinzipien nicht gesichert sind, fehlt den daraus gezogenen rechtlichen Folgerungen die sichere Grundlage. Doch mit dieser kritischen Feststellung ist die Frage nach der Gründung des Rechts in einer absoluten Wertethik noch nicht an ihr Ende gelangt. Es entsteht vielmehr jetzt das Problem, wie es denn kommt, daß ein so scharfsichtiger Denker wie Scheler jenes brüchige Fundament für einen sicheren Grund halten konnte. Das liegt nun daran, daß seiner Ethik — im Unterschied zu der Hartmanns, dessen Wertreich ungegründet in der Luft hängt — eine metaphysische Voraussetzung zugrundeliegt. Sie kommt deutlich zum Vorschein, wenn Scheler etwa das Reich der Werte — soweit diese den bloßen Lebenswert übersteigen — „ .übermenschlich' und in seinem positiven Sinne ,göttlich' " nennt,** oder wenn er den Gedanken „eines unendlichen persönlichen Geistes und der vor ihm stehenden ,Welt der Werte'" ausspricht.*7 Geht man diesen Äußerungen nach, so zeigt sich, daß Scheler die Werte ihrem Ursprung nach als Gedanken Gottes versteht, im Sinne n der unendlichen Fülle des Guten, das vor dem Blicke des göttlichen Geistes ausgebreitet ist".* 8 Gott denkt also im Anbeginn die Ideen der Tapferkeit, der Nächstenliebe, der Heiligkeit und stellt sie dem Menschen als Werte vor Augen, damit dieser sie im Gange seiner Geschichte verwirkliche. Im Hintergrunde der Wertethik Schelers steht somit der Gedanke des Augustinus, daß die Geschichte von Gott nach seinen Ideen geleitet werde, und steht letztlich der christlich umgewandelte Platonismus. So kann denn Scheler schließlich im Zuge seiner ethischen Überlegungen von einem „göttlichen Heilsplane" sprechen,69 wie denn überhaupt seine philosophische Gesamtkonzeption ihre tiefere metaphysische Wurzel in dem Gedanken besitzt, daß „das Reich aller möglichen Wesenheiten" — und damit auch der Wertwesenheiten — „in Gott" seinen ursprünglichen Ort hat, so daß „das Wesen dieser geschaffenen Welt in seinem Ideenreich vorgebildet" ist,70 und daß „die erschauten Wesenheiten . . . den Sinn eines ideellen ewigen Modelles" besitzen, „nach dem Gott . . . die Welt schuf und erhält". 71 Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, S. 283, «7 a.a.O., S. 94. 6 8 a.a.O., S. 511, Anm. 1. 6 9 ebenda. 7 0 Wesen und Formen der Sympathie, S. 152. 7 1 Vom Ewigen im Menschen, 1. Bd., 2. Halbbd., 19232, S. 343. 66

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Nur vor dem Horizont dieses christlichen Denkens wird es begreiflich, daß Scheler es für evident halten kann, daß die Heiligkeit der höchste Wert ist. Noch umfassender gründet hier überhaupt die Evidenz, die er der Werterkenntnis zuspricht: weil die Werte aus dem Willen Gottes mit dem Menschen und mit der Welt entspringen, darum und nur darum sind sie dem menschlichen Belieben entzogen, darum und nur darum sind sie absolut gültig. So ist die materiale Wertethik Schelers zwar nicht philosophisch erweisbar, aber sie ist eine philosophische Formulierung der platonisch-christlichen metaphysischen Ethik, und sie bezieht ihre Gültigkeit aus der vorausgesetzten Wahrheit der christlichen Grundüb erz eugung • Das ist nun auch der tiefere Hinfergrund, vor dem die grundsätzlichen Aussagen des Beschlusses des Bundesgerichtshofes vom 17. 2. 54 stehen. Wenn da von einer „vorgegebenen und hinzunehmenden Ordnung der W e r t e " die Rede ist, wenn von daher die Einehe absolut verbindlich gemacht wird, und wenn der Beschluß vom 10. 3. 54 den Selbstmord unbedingt verwirft, dann geschieht das letztlich aus der Überzeugung von der absoluten Verbindlichkeit der christlichen Ethik. Das läßt sich zusätzlich dadurch erhärten, daß ja von anderen metaphysischen und religiösen Voraussetzungen aus weder die Einehe geboten, noch der Selbstmord verboten sind. Auf den christlichen Horizont dieser höchstrichterlichen Entscheidungen weist ferner die Tatsache hin, daß in dem Beschluß über den Selbstmord zwar gesagt wird, die „gegenseitige Hilfe in Notfällen" entspreche „einem von jeher bestehenden sittlichen Gebot", daß aber hinzugefügt wird: „die Hilfe für den notleidenden Nächsten war insbesondere immer ein zentrales Gebot der christlichen Lehre". Auch in dem Beschluß vom 23. 12. 52 kommt etwas davon zum Ausdruck, wenn zwischen den Wertvorstellungen eines fremden Kulturkreises und denen der eigenen Rechtsgemeinschaft unterschieden wird, und wenn diese als die „sittlichen und rechtlichen Grundanschauungen des westeuropäischen Kulturkreises", und das heißt doch wohl: als die christlich geprägten ethischen Anschauungen, bezeichnet werden. Schließlich führt der Beschluß vom 14. 7. 55 in ähnlichem Sinne aus: „Eine Schrift oder Schriftenreihe gefährdet Jugendliche dann sittlich, wenn sie nach ihrer mutmaßlichen Richtung in jungen Menschen den Aufbau der unserer christlich-abendländischen Weltanschauung . . . entsprechenden sittlichen Wertvorstellungen . . . erschwert". So machen auch die Äußerungen des Bundesgerichtshofes selber offenkundig, daß der Gedanke einer „Ordnung der Werte", die „aus sich heraus" gelten soll, nicht, wie behauptet wird, aus einer evidenten Einsicht erwachsen ist, sondern aus dem Rückgriff auf die christliche Ethik.

17 Weisdiedel

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Es steht demnach mit der Frage nach einer unbedingten Wertordnung nicht anders, als oben beim Problem des Menschenbildes: beide Male zeigt sich, daß den Entscheidungen des Bundesgerichtshofes metaphysische Voraussetzungen zugrundeliegen: das eine Mal die humanistische Idee der freien und verantwortlichen Persönlichkeit, das andere Mal die christlichen Wertvorstellungen. Beide zusammen machen das ethische Fundament unserer abendländischen, durch Griechentum und Christentum geprägten Welt aus. Die tieferdringende Analyse hat jedoch deutlich gemacht: diese humanistisch-christliche Idee ist in ihren beiden Grundmomenten eine Voraussetzung und keineswegs ein selbstverständliches, aus sich selber heraus einsichtiges und aus sich selber heraus gültiges ethisches Prinzip. Der ethisch-rechtliche Skeptizismus und s e i n e Ü b e r w i n d u n g Damit wird die Situation des Rechts gegenüber der Ethik voll deutlich. Wenn Gesetzgebung und Rechtsprechung erwarten, daß ihnen die philosophische Ethik ein gültiges und verpflichtendes Menschenbild und eine absolut geltende Wertrangordnung zur Verfügung stelle, auf die sie ihre Entscheidungen sicher gründen könnten, dann werden sie notgedrungen enttäuscht. Denn die Philosophie muß ehrlicherweise zugeben, daß sie selber dergleichen nicht in fragloser Gewißheit besitzt. Wo daher auf der Seite des Rechts unbesehen derartige Voraussetzungen zugrundegelegt werden, da muß die Philosophie in ihr Amt als kritischer Grenzwächter eintreten und muß zeigen, daß, was sich als selbstverständlich gültig ausgibt, in Wahrheit aus bestimmten metaphysischen Behauptungen entspringt, die keineswegs undiskutiert gewiß sind. Die Philosophie muß diese Aufgabe übernehmen, unbeschadet dessen, daß sie die Intention anerkennt, nach einer Zeit der Rechtsunsicherheit wieder zu einer haltbaren Grundlegung des Rechts zu gelangen. Denn sie wird aus der Sache heraus zu der Frage gedrängt, ob denn mit bloßen apodiktischen Behauptungen in der Tat ein festes Bollwerk gegen den andrängenden Skeptizismus errichtet ist, zumal, wenn diese Behauptungen, wo sie im Zusammenhang mit rechtlichen Entscheidungen auftreten, auf eine Begründung verzichten, und wenn eine solche Begründung, wo sie auf dem philosophischen Felde versucht wird, scheitert. Leistet aber die Philosophie damit nicht dem ethischen und rechtlichen Skeptizismus Vorschub, und ist das nicht eine allzu gefährliche Sache, gerade in der gegenwärtigen Situation des Rechts? In der Tat: die Philosophie bliebe im Skeptizismus stecken, wenn sie sich nur auf 258

Kritik und Aufdeckung unbegründeter Voraussetzungen beschränken wollte. Ihre Aufgabe erstreckt sich jedoch weiter. Wenn sie vonseiten des Rechts zuhilfe gerufen wird, darf sie sich dem nicht entziehen, sondern muß die Not und die Frage des Rechts zu ihrer Not und zu ihrer Frage machen. Das heißt aber: die Philosophie muß nun ihrerseits sagen, worauf denn Gesetzgeber und Richter letztlich ihre Entscheidungen gründen können. Sie muß daher erwägen, ob es nicht vielleicht an dem ist, daß zwar die letzten Prinzipien des Rechts nicht absolut evident gemacht werden können, daß aber das, was in den angezogenen Entscheidungen des Bundesgerichtshofes tatsächlich vorausgesetzt wird, nämlich die abendländisch-christlichen Vorstellungen vom Menschen und von den sittlichen Werten, dennoch zu Recht den Ausgangspunkt rechtlicher Festsetzungen bilden darf. Unsere Rechtsentscheidungen werden ja im Geschichtsraum der abendländischen Welt getroffen. Entspricht es also nicht der faktischen Situation, daß deren Grundgedanken zur Basis des Rechts unserer Zeit gemacht werden? Freilich, man müßte dann auf die Behauptung verzichten, es handle sich dabei um absolute Prinzipien von übergeschichtlicher Geltung. Man müßte deutlich aussprechen — was ja, wie sich zeigte, an manchen Stellen der Entscheidungen des Bundesgerichtshofes, im Widerstreit mit entgegengesetzten Äußerungen, bereits anklingt —: daß de facto die besonderen abendländisch-christlichen Gedanken vom Menschen und von den sittlichen Werten vorausgesetzt werden. Aber wenn das ehrlicherweise eingestanden wäre, wäre offenbar alles in Ordnung. Doch hier erhebt sich ein Bedenken. Die Ethik der abendländischen Kultur ist ein so vielfältiges und vieldeutiges Gebilde, daß sich die Frage erhebt, welche ihrer Prinzipien denn nun die legitimen Voraussetzungen für Rechtsprechung und Gesetzgebung bilden können. Sind es die des Humanismus der Freiheit, oder die der christlichen Sittenlehre? Und wenn es um die Freiheit gehen soll, wie ist sie zu verstehen: im Sinne Kants, als Gehorsam gegen ein unbedingtes Gebot, oder im Sinne Nietzsches, als Souveränität des freien Geistes? Aber auch die christliche Sittenlehre ist nicht eindeutig. Beschränkt sie sich auf den Dekalog, etwa ergänzt durch das Gebot der Nächstenliebe? Oder ist, wie Scheler will, die christliche Ethik eine umfassende Auslegung der Schöpfungsordnung Gottes? Oder gilt hier die Lehre protestantischer Theologen von der r a dikalen Verderbnis der menschlichen Natur, dergemäß auch alle ursprüngliche sittliche Einsicht verfinstert ist? In all dem zeigt sich: die Berufung auf das abendländisch-christliche Erbe enthebt nicht der Entscheidung über den verpflichtenden Gehalt dieser Tradition. 259 17·

In der Tat hat der Bundesgerichtshof in den untersuchten Beschlüssen eine solche Entscheidung getroffen. Einmal hat er sich den Gedanken der freien und verantwortlichen Persönlichkeit zueigen gemacht. Zum anderen — und das ist noch gewichtiger — hat er in der These von der „vorgegebenen und hinzunehmenden Ordnung der Werte" die christliche Ethik nur in einer ganz bestimmten Ausprägung zugrundegelegt: sofern sie nämlich den Anspruch erhebt, den Schöpfungswillen Gottes, wie er sich in den Werten und ihrer Ordnung dem Menschen vor Augen stellt, auszudrücken. Was in den Entscheidungen des Bundesgerichtshofes als ethisches Prinzip vorausgesetzt wird, ist somit nur ein einzelner Zweig des abendländisch-christlichen ethischen Denkens. Wenn der Bundesgerichtshof sodann aus den vorausgesetzten ethischen Grundprinzipien konkrete Normen ableitet, zeigt sich, daß die Einseitigkeit noch sehr viel weiter reicht. Nun wird etwa, in dem Beschluß vom 17. 2. 54, die Einehe, und zwar in ihrer vollen Ausschließlichkeit, dergemäß „sich der Verkehr der Geschlechter grundsätzlich nur in der Ehe vollziehen soll", als Norm des Sittengesetzes verstanden. Daß sich dieses Postulat nicht ohne Hinzunahme weiterer Voraussetzungen aus dem Gedanken der freien und verantwortlichen Persönlichkeit ableiten läßt, wurde oben am Beispiel Kants deutlich. Aber auch aus einer zugrundegelegten absoluten Wertordnung läßt es sich nicht bruchlos folgern; dafür spricht unter anderem, daß weder Scheler noch Hartmann die Ehe unter den ethischen Werten erwähnen oder aus solchen ableiten. Gleichwohl behauptet der Bundesgerichtshof einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Wertordnung und der unbedingten Forderung der Einehe; diese gehört ja zu den „Normen des Sittengesetzes", und deren Verbindlichkeit „beruht auf der vorgegebenen und hinzunehmenden Ordnung der Werte". Wie aber aus dieser die Forderung der Ausschließlichkeit des ehelichen Geschlechtsverkehrs mit Notwendigkeit hervorgehen soll, wird nicht gesagt. Das heißt aber: wiederum hat der Bundesgerichtshof eine Vorentscheidung getroffen; unter den verschiedenen Ausprägungen der abendländisch-christlichen Ethik hat er diejenige ausgewählt, die in der Abweisung jeglicher Laxheit extrem konsequent ist. Damit aber erhebt sich die ernste Frage, ob ein höchstes Gericht und ob ein Gesetzgeber berechtigt sind, ethische Normen als unbedingt verbindlich ihren Entscheidungen zugrundezulegen, wenn diese Normen weder aus sich selber heraus evident sind, noch eine philosophische Rechtfertigung finden, und wenn sie überdies nur eine nicht eigens begründete Auswahl aus der abendländisch-christlichen ethischen Tradition darstellen. Doch woran sollen sich Gesetzgeber und Richter halten, wenn ihnen 260

so vom Philosophen ständig der Boden unter den Füßen weggezogen wird? Denn sie müssen ja werten und sich entscheiden, und zwar jeweils im unwiderruflichen Augenblick. So müssen sie auch wissen, von woher sie werten und von woher sie entscheiden und urteilen sollen und können. Sollen sie etwa in Ermangelung eines absoluten Maßstabes das sittliche Empfinden der Zeit zur Richtschnur nehmen? Aber auch das führt in unüberwindliche Schwierigkeiten. Denn wer dürfte sich zutrauen, eindeutig zu formulieren, was in der Gegenwart zu recht für richtig gehalten wird? Eine bloße Statistik darüber, was der Durchschnitt der Menschen einer Zeit als verbindlich ansieht, könnte ja nicht zum Ziele führen; damit fiele die verpflichtende Kraft des Rechts einer laxen Durchschnittsmoral des Sichgehenlassens zum Opfer. Sobald man aber darangeht, nicht den Durchschnitt der Wertungen aller Menschen der Gegenwart, sondern bloß die Ansichten der „tonangebenden Schichten" oder der „gerecht und billig Denkenden" zugrundezulegen, steht man, wie eingangs gezeigt, vor der Aufgabe, werten zu müssen, und damit wiederum vor dem Problem, woher man das Prinzip der Wertung nehmen soll. S o hat es den Anschein, als ende angesichts des Scheiterns einer Gründung des Rechts in einer absoluten Ethik und angesichts des Unzureichenden eines Rückgriffs auf ein vages sittliches Allgemeinbewußtsein die philosophische Überlegung nun doch in der reinen Skepsis. Wenn es aber so ist, bleibt dann für Rechtsprechung und Gesetzgebung etwas anderes übrig, als eine gewaltsame Lösung in dem Sinne, wie sie der Bundesgerichtshof findet: nämlich sich aus eigener Vollmacht ein Stück Tradition herauszugreifen, es zu verabsolutieren und so als gültigen Maßstab den rechtlichen Entscheidungen zugrundezulegen? Da es sich um ein Stück der christlichen Tradition handelt, konnte sich der Bundesgerichtshof vielleicht darauf berufen, daß die Verbindlichkeit seiner Grundsätze im Glauben gründe; denn für diesen besitzt ja das aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineingesprochene „Wort" den Charakter eines unbedingten Anspruches. In diesem Sinne postuliert Erik Wolf „die radikale Ausrichtung der natürlich-vernünftigen Rechtserkenntnis nach dem , W o r t ' . . . gemäß den grenzsetzenden und richtunggebenden Weisungen der Heiligen Schrift". 72 Aber damit käme es zu einer Verpflichtung doch nur für die Menschen desselben Glaubens. Auf dem Felde des profanen Rechtes dagegen ist es erforderlich, daß die maßgebenden Festsetzungen grundsätzlich die Zustimmung auch derer 7 2 Erik Wolf, Rechtsgedanke und biblische Weisung, 1948, S. 28; zit. nach Welzel, a.a.O., S. 183.

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finden müssen, die nicht die gleiche Art des Glaubens besitzen. Das heißt aber: außerhalb des Glaubens bleibt die Frage nach dem Recht einer Verabsolutierung jenes Stückes christlich-abendländischer Tradition offen. Sie führt mit innerer Notwendigkeit in umfassendere Problemzusammenhänge, denn sie läßt sich nur beantworten, wenn geklärt ist, wie der Mensch überhaupt aus seinem Wesen heraus sich zu seiner Tradition zu verhalten hat, und das heißt, wie es mit seiner Geschichtlichkeit beschaffen ist. Gesetzgeber und Richter befinden sich hier in keiner anderen Situation, als es die ist, in der jeder Mensch grundsätzlich steht. Vielleicht also können aus der eindringlicheren Frage nach dem Wesen des Menschen im Hinblick auf sein Verhältnis zur Tradition zwar keine absoluten Normen im Sinne eines statischen Naturrechts, aber doch Direktiven für das rechte Verhalten im Bereich von Rechtsprechung und Gesetzgebung erwachsen. Mit dem Menschen nun steht es so, daß er, als geschichtliches Wesen, das, was er ist und sein kann, nur zu einem geringen Teil aus sich selber heraus ist, zum weit überwiegenden Teil aber aus dem Erbe, das er überkommen hat, und das ihm die Gehalte seiner Existenzmöglichkeiten vorgibt. Das besagt: er ist seiner Tradition verpflichtet und darauf angewiesen, auf sie zu hören. Könnte er — was freilich faktisch unmöglich ist — aus eigener Vollmacht die Kontinuität mit seiner Geschichte abbrechen, so stürzte er ins Leere und wäre nicht mehr Mensch. Doch ein zweites muß hinzugefügt werden. Der Mensch ginge seines Menschseins auch dann verlustig, wenn er sich nur und ausschließlich durch seine Geschichte bestimmen ließe. Zum Wesen des Menschen gehört auch dies, daß er sich in eine Zukunft hinein zu entwerfen hat. Das aber heißt: er muß das noch nicht Dagewesene, das Zukünftige gestalten. Verzichtete der Mensch darauf, und verstünde er seine Zukunft nur als bloße Repetition des Vergangenen, so stünde die Geschichte still, und der Mensch erstarrte in der gewesenen Gestalt. So steht der Mensch zwischen bestimmender Vergangenheit und zu entwerfender Zukunft mitten inne, aber so, daß es weithin bei ihm selber steht, in welchem Umfang er das Erbe der Geschichte in seine Gegenwart aufnehmen und in welche Richtung hinein er die Zukunft gestalten will. Wie immer es mit der objektiven Erweisbarkeit der menschlichen Freiheit stehen mag, — im konkreten Augenblick erfahren wir ständig, daß wir die Verantwortung für den Schritt aus der Vergangenheit in die Zukunft hinein auf uns zu nehmen haben. Damit aber wird der Mensch aus seinem geschichtlichen Wesen heraus vor das Problem der Ethik gestellt; denn diese wurzelt ja in der 262

Frage des Menschen nach dem, was er sein soll. Auch hier maß daher die doppelte Ausrichtung der menschlichen Existenz, ins Gewesene und ins Künftige hinein, wirksam werden. Wollte sich der Mensch allein den überkommenen Normen verpflichten, so würde er sich ausschließlich an der Vergangenheit orientieren, und die Zukunft würde ihm zu einer bloßen Wiederholung des Gewesenen. Das hieße jedoch: er verriete das andere Moment in dem ihm aus seinem Wesen heraus zugesprochenen Auftrag: das noch nicht dagewesene Künftige zu entwerfen. Damit aber käme die Geschichte zum Stillstand. In der Tat wäre es niemals zu einer Geschichte des Menschen gekommen, wenn er stets nur nach rückwärts geblickt und nicht immer wieder gefragt hätte, welches die neuen Verpflichtungen sind, die er auf sich zu nehmen hat. So sind denn auch die großen geschichtlichen Wandlungen des Menschen stets von neuen ethischen Entwürfen begleitet und geleitet gewesen. Denn immer wieder hat sich der Mensch in entscheidenden historischen Augenblicken die Frage gestellt, wohin es mit ihm gehen solle, und was sein künftiges Gesetz sein könne. Wenn nicht alle Anzeichen trügen, stehen wir gerade heute im Zeichen eines solchen umstürzenden Wandels des Menschen. Eben die Krisis, in die unser ethisches und rechtliches Bewußtsein geraten ist, und in der wir noch nicht sagen können, wohin es mit dem Menschen gehen soll, ist dafür Zeuge, ebenso aber auch die Leidenschaft, in der der rechte Weg gesucht wird, mag sie sich auch, wie in den erörterten Entscheidungen des Bundesgerichtshofes, vorzeitig in einem vermeintlichen Wissen um absolute Werte beruhigen wollen. In einer solchen geschichtlichen Situation ist es die Aufgabe all derer, die sich für den Menschen und seine Zukunft verantwortlich wissen, miteinander nach der neuen Verbindlichkeit Ausschau zu halten. Und das heißt: auch Gesetzgeber und Richter dürfen sich nicht starr an das überkommene klammern, sondern müssen an der Suche nach den neuen Maßstäben mitwirken. Doch noch einmal meldet sich ein Bedenken. Wenn die neuen Normen erst gesucht werden müssen, wenn sie noch nicht greifbar und verfügbar sind, bleibt dann nicht alles in der Unsicherheit? Können sich aber Gesetzgebung und Rechtsprechung auf das Ungewisse gründen? Muß der Richter nicht eindeutiges, gültiges, verbindliches Recht sprechen? Sicherlich. Hier mag denn wohl ein Unterschied zwischen dem Juristen und dem Philosophen liegen. Was diesem obliegt, ist vorzüglich die Frage nach dem Kommenden. Der Jurist dagegen muß aus dem Wesen seines Amts heraus vor allem darauf blicken, was etwa von dem Überkommenen sich als auch weiterhin gültig in die Zukunft mit überneh263

men lasse und demgemäß der gegenwärtigen Rechtspraxis zugrundegelegt werden könne. Keiner von beiden aber darf über der Betonung des einen Momentes das andere vergessen. Der Philosoph darf nicht übersehen, daß er in aller Zuwendung zu den neuen Verbindlichkeiten doch dem Vergangenen verhaftet bleibt und sich daher mit ihm auseinandersetzen muß. Gesetzgeber und Richter aber dürfen in all ihrem notwendigen Haften an der Tradition diese doch nicht verabsolutieren, sondern müssen auf den geschichtlichen Wandel des Menschen achten und sich daher für das offenhalten, was als neue Ethik und, darauf gegründet, als neues Recht ans Licht drängen will. So müssen sie auch, wenn der Augenblick gekommen ist, das Wagnis neuer Entscheidungen eingehen, in dem Bewußtsein, daß es ein Wagnis ist, aber doch in der Hoffnung, damit dem zu entsprechen, was die Aufgabe unserer geschichtlichen Stunde ist. Geschieht dies, dann könnte es sein, daß im fruchtbaren Streite des Juristen und des Philosophen die Umrisse des kommenden Rechts allmählich sichtbar werden. Doch wo liegt die Gewähr dafür, daß ein solcher Entwurf ins Ungewisse hinein nicht der Willkür und dem bloßen Belieben ausgeliefert wird? Ist die Suche nach dem unbekannten Neuen nicht doch eine viel zu vage Sache, als daß man um ihretwillen die schöne Sicherheit im vermeintlichen Besitz absoluter Normen aufgeben dürfte? In der Tat: die Ebene fragloser Gewißheit ist hier, wo es um die Geschichtlichkeit des Menschen und um sein Verhältnis zu der von ihm zu verantwortenden Zukunft geht, aufgegeben. Aber was dazu zwingt, ist die Redlichkeit des Denkens, d u der Grenzen des menschlichen Wissens ansichtig geworden ist. Und doch ist der Mensch nicht aller Möglichkeiten der Vergewisserung beraubt. Wie es im Leben des Einzelnen geschehen kann, daß er, wenn er unter höchster Anspannung seiner Verantwortlichkeit in sich selbst hineinhorcht und zugleich auf die Zeichen der Zeit achtet, des rechten Weges gewiß werden kann, so steht es auch da, wo eine Zeit sich auf die Suche nach der neuen Ethik und dem neuen Recht begibt. Wenn die Verantwortlichen nur erst einmal die Sorge um das Künftige in sich wach werden lassen, wenn sie sich entschlossen den Blick freimachen von all dem, was ihnen die Sicht verstellt, und was ihnen vielleicht zu einer lieben Gewohnheit geworden ist, und wenn sie dann den Schritt zu tun wagen, der sich ihnen als der richtige aufdrängt, dann mag man die Zuversicht haben, daß die so entworfene Zukunft nicht der bloßen Willkür, sondern einer tieferen, im Geschick des Menschen ruhenden Notwendigkeit entspringt. Freilich, diese Zuversicht hat nicht den Charakter einer erweisbaren Gewißheit. Doch die großen Entschlüsse des Menschen erwachsen auch 264

nie aus bloß neutralen Feststellungen, sondern aus der ungewissen Gewißheit des Gewissens. Wer sich aber ihr anvertraut, in der steten Sorge, das Rechte zu verfehlen, der darf vielleicht auch dessen gewiß sein, daß er darin nicht allein gelassen ist, sondern daß ihn das leitet, was er in Stunden der Besinnung unmittelbar erspüren kann, und was der Philosoph in Ehrfurcht das Absolute nennt. Ist damit der ethische und rechtliche Skeptizismus überwunden? Nein, wenn man meint, ihn nur dadurch besiegen zu können, daß man ihm eine absolute Wahrheit entgegenstellt. Ja, wenn man der wesensmäßigen Situation des Menschen Rechnung trägt und die ständige verantwortliche Suche nach dem Gültigen als die einzige Weise betrachtet, in der der Mensch als endliches Wesen sich zu der Wahrheit verhalten kann.

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Wahrheit und Unwahrheit der öffentlichen Meinung Als Sokrates dazu verurteilt wird, den Schierlingsbecher zu trinken, ist ebensosehr die öffentliche Meinung im Spiel, wie die Wahrheit auf dem Spiele steht. Angeklagt ist einer, der von sich sagt, er „spreche die Wahrheit", ja „die ganze Wahrheit". Ihm gegenüber stehen die Ankläger, von Piaton zwar mit Namen genannt, in Wirklichkeit aber nur die Wortführer einer ungreifbar anonymen Menge. „Es ist nicht einmal möglich, ihre Namen zu wissen und zu nennen", heißt es in der „Apologie"; „wenn ich mich verteidige, muß ich geradezu mit Schatten kämpfen und muß widerlegen, wo keiner antwortet". Die Ankläger also sind die Vielen, die doch niemand sind, kurz: die öffentliche Meinung. Von ihnen aber sagt Sokrates: „sie haben nichts Wahres gesagt". Offenbar also zeigt der Prozeß des Sokrates paradigmatisch, was es mit dem Verhältnis von Wahrheit und öffentlicher Meinung auf sich hat. Die öffentliche Meinung steht wider die Wahrheit. Und wo sie ihre ganze Macht einsetzt, muß die Wahrheit untergehen. Im Widerstreit mit der öffentlichen Meinung ist der Weg der Wahrheit der Gang zum Tode. Schaut man jedoch genauer zu, dann verliert der Sachverhalt seine Eindeutigkeit. Denn so, wie sie eben dargestellt wurden, sehen die Dinge nur aus der Perspektive des Verurteilten und seiner Anhänger aus. Die öffentliche Meinung hat aber ihre eigene Perspektive; sie hält, was sie sagt, ihrerseits für die Wahrheit. In der Tat: mag sie sich im Falle des Sokrates getäuscht haben, es gibt doch genügend Beispiele dafür, daß sie zur Vorkämpferin der Wahrheit geworden ist; man denke etwa an die Affäre Dreyfus. Ist aber das Verhältnis der öffentlichen Meinung zur Wahrheit zweideutig, dann genügt es nicht, auf Beispiele hinzuweisen; dann muß diesem Verhältnis grundsätzlicher nachgefragt werden. Was die öffentliche Meinung ist, muß sich zeigen, wenn man darauf achtet, wie sie uns begegnet. Man sitzt etwa in der Bahn und hört, wie die Mitreisenden sich über die letzte Konferenz der Großmächte unterhalten; fast alle sind sich im Blick auf Rußland darüber einig: „Verhandeln hat einem solchen Partner gegenüber keinen Sinn"; einer versucht zu widersprechen, kommt aber gegen die einhellige Ansicht der anderen nicht auf. Fährt man dann in der Taxe nach Hause, so sagt der Fahrer das gleiche: „Verhandeln hat keinen Sinn"; auch er ist befremdet, 266

wenn man nicht sofort zustimmt. Kauft man sich schließlich eine Zeitung, dann steht auch dort in der gleichen apodiktischen Ausdrucksweise: „Weiteres Verhandeln ist sinnlos". Hier tritt also eine Meinung auf, mit dem Anspruch, die richtige und maßgebende zu sein. Und diese Meinung hat insofern den Charakter des „öffentlichen", als sie nicht die besondere, individuelle Meinung der einzelnen Leute in der Bahn, des Taxifahrers oder der Zeitungsschreiber ist, sondern — in einer noch näher zu bestimmenden Weise — irgendwie die Meinung aller, oder wenigstens der Mehrzahl der Mitmenschen. Dergleichen öffentliche Meinungen gibt es die Fülle; kein Ding auf dieser Welt bleibt von ihnen unangetastet. Politik, Verbrechen, Sport, Mode, Ehe, Wissenschaft, Kunst, Religion, — alles kann Gegenstand der öffentlichen Meinung sein und ist es in der Tat auch weithin. Über alles, was man denken, glauben, wollen, tun, unterlassen kann, hat die Öffentlichkeit eine Meinung. Doch wer ist diese „Öffentlichkeit"? Wer ist das Subjekt der öffentlichen Meinung? „Alle, oder wenigstens die Mehrzahl der Mitmenschen", wurde oben gesagt. Doch das ist zu unbestimmt. Denn über die Zweckmäßigkeit von Verhandlungen haben die Amerikaner zu gewissen Zeiten vermutlich eine andere Meinung als die Russen, wenigstens was die jeweilige Mehrheit dieser Völker betrifft. Und was die Ehe angeht, so denken die Mohammedaner im allgemeinen anders darüber als die Menschen unseres Kulturkreises. Subjekt der öffentlichen Meinung sind also nicht die abstrakten „Alle" oder auch nur die Mehrzahl aller Mitmenschen, sondern jeweils die Mehrzahl der Menschen eines bestimmten Bereiches, sei dies ein Volk oder eine Stadt, ein bestimmter Kulturkreis oder ein bestimmtes Zeitalter, seien dies die Fabrikarbeiter oder die Angestellten oder die Theaterleute oder etwa auch die Angehörigen einer Universität. Ebenso abstrakt wäre es, dieser Mehrzahl den Einzelnen entgegenzusetzen, der in allen Fällen seine besondere, individuelle Meinung besitzt. Denn ein solches totales Individuum gibt es nicht; der Einzelne, mag er in bestimmter Hinsicht seine privaten Auffassungen haben, gehört in anderer Hinsicht doch auch zum Subjekt der öffentlichen Meinung. Auch wer über die Zweckmäßigkeit von Verhandlungen eine eigene, von der Mehrheit abweichende, ihr vielleicht sogar widersprechende Auffassung hat, wird doch etwa in der Wahl seiner Krawatten sich danach richten, was „man" trägt. Wir alle sind somit das Subjekt der öffentlichen Meinung, und wir sind es auch wieder nicht. Wir sind es oder sind es nicht, je nach dem, wie wir uns zu den andern verhalten. Reden und handeln wir, wie die 267

andern reden und handeln, dann wirken wir insofern an der Konstitution der öffentlichen Meinung mit. Versuchen wir dagegen, unsere individuelle Auffassung zu äußern, dann treten wir aus der Öffentlichkeit und aus ihrem Meinen hinaus; und dies umso mehr, je ausdrücklicher wir uns unsere besondere Ansicht errungen haben. Will man daher wissen, was es mit der öffentlichen Meinung auf sich hat, so ist zu fragen, wie sich der Mensch da darstellt, wo er nicht aus sich selber heraus existiert, sondern sich im Denken und Tun nach den andern richtet. Die Beantwortung dieser Frage wird es ermöglichen, die Wesensmerkmale der öffentlichen Meinung herauszustellen. Sofern wir zum Subjekt der öffentlichen Meinung gehören, reden und handeln, denken und urteilen wir, wie man redet und handelt, wie man denkt und urteilt. Wir verhalten uns also wie der Durchschnitt der andern. So ist die Durchschnittlichkeit das erste Wesensmerkmal der öffentlichen Meinung. Diese selber hat eine Vorliebe für das Durchschnittliche, für das, was jedermann begreifen und erleben kann. Zwar interessiert sie sich auch und gerade für das Außergewöhnliche; nicht umsonst sind die Illustrierten voll von Berichten über die Märchenkaiserin Soraya und über das unglückliche Königskind Margaret. Aber auch das Ungewöhnliche wird in der öffentlichen Meinung auf das Niveau des Durchschnittlichen gebracht: die arme Kaiserin hat Kummer wie unsereiner; der Prinzessin widerfährt, was jedem von uns passieren kann: sie kann ihren Geliebten nicht bekommen. Der Drang zur Nivellierung bestimmt auch weithin die öffentliche Meinung an den Universitäten. Gerade die Vorlesungen, von denen man glaubt, man könne in ihnen etwas Besonderes sagen, pflegen zumeist die wenigst besuchten zu sein; serviert man dagegen die gängige Ware in griffiger Form, möglichst noch mit etwas Sentimentalität und Pathos garniert, dann strömt das Volk. Als Kuno Fischer das Denken der grossen Philosophen auf die Ebene der durchschnittlichen Verständlichkeit nivellierte, war er von allem Glänze akademischen Ruhmes umstrahlt. Zur gleichen Zeit fand Wilhelm Dilthey, der wie wenige seiner Zeit auf der Spur neuer Entdeckungen war, kaum Hörer für seine Vorlesungen. Ein zweites Wesensmerkmal der öffentlichen Meinung, verbunden mit der Durchschnittlichkeit, ist die Oberflächlichkeit. Der öffentlichen Meinung genügt es zumeist, die Dinge, über die sie sich äußert, im allgemeinen und obenhin zu kennen. Sich auf eine Sache einzulassen, oder gar nach deren Gründen zu forschen, erfordert Zeit; die öffentliche Meinung hat aber nicht die Zeit, zu verweilen; sie muß von einem zum andern 268

eilen, dean sie muß, um mitreden zu können, von allem etwas wissen. Überhaupt ist ihr alles Gründliche verhaßt; wer lange schweigt, kommt in den Verdacht, nichts zu sagen zu haben. Indem aber alles, worüber die Öffentlichkeit eine Meinung hat, nur obenhin verstanden wird, wird es allmählich zum Selbstverständlichen. Jeder tiefere Gedanke wird traktiert, als wäre es ein Kinderspiel, ihn zu begreifen, ja gar ihn zu konzipieren. Das schwer Errungene wird zum Schlagwort. Schließlich erblickt die öffentliche Meinung das Zeichen wahrer Bildung und echter Lebendigkeit nur noch in der souveränen Handhabung von Schlagworten. Damit hängt das dritte Wesensmerkmal der öffentlichen Meinung zusammen: ihr Hang zu Allgemeinurteilen. Sie gibt sich wenig Mühe mit der Entzifferung und Deutung der differenzierten Wirklichkeit; das Feld, auf dem sie sich mit Vorliebe tummelt, sind die Pauschalurteile. In der Politik ergeht sie sich gern in der Form des uniformierenden Singularis: „der" Russe, „der" Ami. Ohne viel Überlegung wird alles in Schwarz oder Weiß eingeteilt; „der" Russe ist, was er auch tun mag, stets voller Hinterhältigkeit, „der" Deutsche dagegen will, auch wo er Machtpolitik treibt, doch immer das Beste für die ganze Menschheit. Die Scheu vor einer ernstlichen Prüfung der Dinge äußert sich in einem vierten Wesensmerkmal der öffentlichen Meinung: ihrer Liebe zum Schein. Die Öffentlichkeit ist gerne bereit, Vergehen zu tolerieren, solange nur der äußere Anschein des Anstandes aufrecht erhalten wird. Ja, sie berauscht sich sogar an Glanz und Glück eines erfolgreichen Lebens, auch wenn sich mit Händen greifen läßt, daß es sich auf brüchigen Fundamenten aufbaut. So wurden die Führer des Dritten Reiches bewundert, solange sie Erfolg hatten, und all das Schreckliche, auf dem sich diese Erfolge aufbauten, wurde geflissentlich übersehen. So kann man noch heute, wenn die Rede auf die Verfolgung der Juden kommt, den Einwand hören: „aber die Autobahnen . . . ! " Daß die Öffentlichkeit sich mit dem Scheine begnügt, führt auf ihr fünftes Wesensmerkmal: die Leichtgläubigkeit. Sie redet denen, die sich dem äußeren Ansehen nach ausgewiesen haben, unbesehen nach. Daher etwa muß ein akademischer Lehrer, dem seine Schüler willig das Ohr leihen, sich aufs ernstlichste prüfen, ob dies um der Überzeugungskraft seiner Sache willen geschieht, oder etwa nur darum, weil seine Worte im Glänze eines vollen Hörsaales glaubhafter erscheinen, als sie es von sich aus sind. Auch sich selber gegenüber ist die öffentliche Meinung leichtgläubig. Sie mag zwar zunächst ihre Ansichten noch mit einiger Vorsicht äußern. Wenn sie aber lange genug darüber geredet hat, verschwindet ihr auch der letzte Rest von Zweifel. Sie suggeriert sich selber die Gewißheit, 269

und was erst noch Hypothese war, wird unmerklich zur unumstößlichen Wahrheit. Das sechste Wesensmerkmal der öffentlichen Meinung mag man in ihrer Neugier erblicken. Weil sie alles nur obenhin ergreift, räumt sie keiner Sache die Macht ein, sie festzuhalten und auszufüllen. Sie ist novarum rerum cupidissima; sie braucht stets anderes und Neues und ist immer schon beim Kommenden, ehe sie noch mit dem Gegenwärtigen fertig geworden ist, ja auch nur sich ernstlich damit befaßt hat. Daher rührt es, daß selbst das noch nicht ausreichend Durchdachte, kaum ist es in das Licht der Öffentlichkeit getreten, auch schon als veraltet empfunden wird. Dem wahrhaft Neuen und Zukunftsvollen gegenüber pflegt sich freilich die öffentliche Meinung zu verschließen. Ihre Neugier kreuzt sich mit einem eigentümlichen Hang zum Gewohnten, der ihr siebentes Wesensmerkmal ausmacht. Sie liebt es, in den ausgefahrenen Geleisen ihres Meinens zu verharren. Darum kann, wem die Öffentlichkeit einmal einen Makel angehängt hat, sich schwer davon befreien, auch wenn sich herausstellt, daß er unschuldig war. Daher auch wird ein kühner politischer Gedanke fast immer in der Öffentlichkeit zunächst verlästert und diffamiert, während Schlagworte, wie etwa das Motto: „Keine Experimente", des Erfolges bei der großen Menge sicher sein können. Ändert die öffentliche Meinung doch einmal ihre Ansicht, dann geschieht es kaum je aufgrund besserer Einsicht, Nur in wenigen Fällen war es ein Zeichen echter Umkehr, zumeist vielmehr Ausdruck einer auf den eigenen Vorteil gerichteten Gesinnung, wenn der zweite Weltkrieg, von dem 1939 behauptet wurde, er sei uns aufgezwungen worden, 1945 umgekehrt als der frevelhaft vom Zaun gebrochene bezeichnet wurde. So gehört als achtes Wesensmerkmal zur öffentlichen Meinung ihre Bereitwilligkeit, sich um des Nutzens willen zu ändern, ihre utilitaristische Wandelbarkeit. In all dem kommt das Bedenklichste an der öffentlichen Meinung zum Vorschein, ihr neuntes Wesensmerkmal: die Inhumanität. Zwar führt sie ständig die „Menschlichkeit" im Munde. Aber sie betätigt ihre Vorliebe dafür zumeist nur in der Erregung von Sentimentalität und in der Befriedigung der Sensationsgier. Wenn ein Film das Schicksal eines Negerkindes in Deutschland schildert, ist die öffentliche Meinung gerührt; aber es fällt ihr nicht ein, ihr Verhalten diesen Kindern gegenüber zu ändern. Man denke ferner an die Beurteilung des unehelichen Kindes in der Öffentlichkeit, oder an die Bedenkenlosigkeit, ja die heimliche Schadenfreude, mit der die öffentliche Meinung in Deutschland die Diskriminierung der Juden entgegennahm. Man hört dergleichen inhumane 270

Urteile auch heute noch an Stammtischen und in Verkehrsmitteln, aber auch — in den Wandelgängen der Hochschulen. Mit der Inhumanität hängt das zehnte Wesensmerkmal der öffentlichen Meinung zusammen: ihre Flucht vor der Verantwortung. Wenn ein öffentliches Gerede um einen Menschen entsteht, und es stellt sich nachher heraus, daß nichts daran war, dann will niemand zugestehen, die Verfemung ausgesprochen oder ihr auch nur schweigend zugestimmt zu haben. Daraus mag es sich erklären, daß 1945 kaum einer sich dazu bekannte, Nationalsozialist gewesen zu sein. Wo die Dinge kritisch werden, und wo es gilt, für seine Worte und Taten, und gar für eine Schuld einzustehen, hat sich die öffentliche Meinung immer schon davongeschlichen. Dies mögen, in aller Kürze genannt, die hervorstechendsten Merkmale der öffentlichen Meinung sein: Durchschnittlichkeit und Oberflächlichkeit, Hang zu Allgemeinurteilen und Liebe zum Schein, Leichtgläubigkeit, Neugier, Hang zum Gewohnten und utilitaristische Wandelbarkeit, Inhumanität und Flucht vor der Verantwortung. Das alles aber erhält seine eigentümliche Bedrohlichkeit daraus, daß die öffentliche Meinung kein gleichgültiges und harmloses Phänomen des menschlichen Daseins ist, sondern eine Sache von äußerstem Gewicht. Denn sie ist eine Macht, vielleicht sogar d i e Macht im Dasein des Menschen. Als solche gibt sie sich zunächst da kund, wo sie von außen an uns herantritt: im Urteil der Menge. Machtvoll entscheidet sie über Ehre und Ansehen wie über Schande und Schmach. Man denke an die schleichende Gewalt des gesellschaftlichen Boykotts und man vergesse nicht, daß es auch einen politischen Boykott gibt, selbst an den Universitäten. Oder man erinnere sich daran, wie die von der Öffentlichkeit so bereitwillig akzeptierte Verfemung der Juden zu einer Macht über Leben und Tod wurde; niemand, der das miterlebt hat, wird den verängstigten Blick dieser Mitmenschen vergessen können, oder auch die Dankbarkeit, wenn einmal einer, was selten genug geschah, den Boykott durchbrechen konnte. Doch es bedarf nicht des Blickes in die Vergangenheit. Derartiges bahnt sich auch heute wieder an, und keineswegs nur in der Form eines neuen Antisemitismus. Zwei Waffen sind es, die die öffentliche Meinung von außen her mit Vorliebe zur Durchsetzung ihrer Macht anwendet: die Diffamierung und die Auslieferung an die Lächerlichkeit. Was die Diffamierung angeht, so versteht es die öffentliche Meinung aufs trefflichste, Worte, die an sich nichts als Bezeichnungen von Tatbeständen sind, zu Schmähworten umzugestalten. So geschieht es in katholischen Gegenden weithin mit 271

dem Ausdruck „Protestant", in protestantischen mit dem Wort „Katholik". So verwendet die Öffentlichkeit Wörter wie Η Jude", „Kapitalist", „Kommunist" unbesehen als Schimpfworte, und die Macht dieses Vorgehens erweist sich daran, daß den dadurch Abgestempelten kaum Möglichkeiten bleiben, sich mit ihrer Sache überhaupt noch zu Gehör zu bringen. Was ferner die Geschicklichkeit der öffentlichen Meinung betrifft, mit der sie den selbständig Denkenden lächerlich zu machen versteht, so ist ein unvergeßliches Beispiel dessen der Kampf Kierkegaards gegen die Indolenz seiner Zeit, der im Gelächter über seine dünnen Beine unterging. Bedenkt man die Macht dieser beiden Waffen, so dürfte der Ausspruch Mirabeaus nicht ganz abwegig sein, die öffentliche Meinung sei „der absoluteste aller Tyrannen". Subtiler, aber darum eher noch gefährlicher ist die Macht, die die öffentliche Meinung von innen her ausübt. Man darf, sagt sie, gewisse Dinge nicht sagen und nicht tun. Man unterläßt sie deshalb, zunächst aus Vorsicht und um nicht aufzufallen. Unvermerkt aber gelangt man selber dazu, es für richtig zu halten, daß derartige Dinge nicht gesagt und nicht getan werden. Damit aber ist man von innen her der Macht der öffentlichen Meinung verfallen. Das gleiche geschieht, wenn ein ununterbrochchener Strom von Propaganda den Menschen dazu bringt, das Propagierte allmählich zu glauben: sich das angepriesene Waschmittel zu kaufen oder den politischen Gegner von vornherein für ein moralisch verwerfliches Subjekt zu halten. Die innere Macht der öffentlichen Meinung ist wirksamer als ihre äußere Macht, und zwar darum, weil sie an vieles in uns selber anknüpfen kann: vorab an unsere Geltungssucht und an unsere Angst vor Mißachtung. Wir hoffen ja insgeheim auf Zustimmung und Billigung, auf Ehre und Ansehen in der Öffentlichkeit. Wir müssen, wenn wir uns selber ehrlich prüfen, zugestehen, daß wir oft eher zu Konzessionen geneigt sind, {ils daß wir es wagten, einen Kampf aufzunehmen, von dem wir annehmen müssen, daß wir in ihm von vornherein die Unterlegenen sind. Häufig sind wir sogar glücklich, wenn wir nicht gezwungen sind, eine eigene, und gar noch eine gefährliche Meinung zu äußern. Hier aber, in der Geltungssucht und in der Angst, befestigt die öffentliche Meinung am sichersten ihre Herrschaft über den Menschen. Wie steht es aber dann mit dem Verhältnis der öffentlichen Meinung zur Wahrheit? Was haben Durchschnittlichkeit und Oberflächlichkeit, was haben Hang zu Allgemeinurteilen und Liebe zum Schein mit der ernsten Suche nach der Wahrheit zu tun? Was Leichtgläubigkeit, Sucht nach dem Neuen, Abschließung ins Gewohnte und Geläufige, Wan272

delbarkeit um des Nutzens willen? Was Inhumanität und Flucht vor der Verantwortung? Offenbar hat die öffentliche Meinung keinerlei positives Verhältnis zur Wahrheit; ja sie scheint sogar aufs engste mit der Unwahrheit verbunden zu sein. Es gibt freilich gelegentlich auch dies, daß sich die öffentliche Meinung für die Wahrheit einsetzt; so wurde eingangs an die Affäre Dreyfus erinnert. Ist es aber wirklich an dem, daß sie von sich aus und aus eigener Initiative sich auf die Seite der Wahrheit geschlagen hätte? Oder waren es nicht doch ursprünglich Einzelne, zunächst selber von der Öffentlichkeit Verfemte, denen es gelang, diese aufzurütteln: in der Affäre Dreyfus Zola und Clemenceau? Offenbar also gibt es kein originäres Gewissen der öffentlichen Meinung. Was man als solches bezeichnen könnte und gelegentlich auch bezeichnet hat, ist immer nur das Gewissen einzelner Verantwortlicher, die sich der öffentlichen Meinung bedienen, um ihre Einsicht in der Wirklichkeit durchzusetzen. Nun läßt sich auch das Verhältnis der öffentlichen Meinung zur Wahrheit genauer bestimmen. Es wäre zu einfach gesehen, wollte man sagen, sie sei schlechthin der Wahrheit feind und der Lüge zugetan. Sie ist vielmehr zweideutig inbezug auf Wahrheit und Unwahrheit; sie läßt sich für beide gebrauchen. Und doch deuten ihre Wesensmerkmale eher auf die Seite der Unwahrheit als auf die der Wahrheit; ja gerade ihre Zweideutigkeit entfernt sie von der Wahrheit. In deren Dienst kann sie daher nur treten, wenn Einzelne sie dem näcbf ten Verweilen in der Lüge und im Schein entreißen. Das liegt im Wesen des Meinens selber begründet. Denn zu diesem gehört, daß man zwar überzeugt ist, die Wahrheit zu reden, daß man aber nicht jene Gewißheit besitzt, die nur aus der ernsthaften Nachprüfung und aus der Erforschung der Gründe erwachsen kann. In diesem Sinne hat Piaton das Meinen als ein Mittleres zwischen Wissen und Unwissenheit verstanden und seinen inneren Bezug zum Schein aufgezeigt, der bloß zufällig an das Wahre rührt. Ähnlich kennzeichnet Hegel die öffentliche Meinung. Sie enthält zwar in der „Form des gesunden Menschenverstandes" die „sittliche Grundlage", aber doch nur in der „Zufälligkeit des Meinens, seiner Unwissenheit und Verkehrung". Und er schließt: indem „in der öffentlichen Meinung . . . Wahrheit und endloser Irrtum . . . unmittelbar vereinigt ist, so ist es mit dem Einen oder dem Andern nicht wahrhafter Ernst." Doch worin gründet es letztlich, daß die öffentliche Meinung so zweideutig sich von der Wahrheit abwendet? Darin, daß es ihr, mag sie sich auch noch so oft auf die Wahrheit ihrer Äußerungen berufen, im Grunde überhaupt nicht um die Wahrheit geht. Was sie interessiert, ist nichts als 273 18 Weiidiedel

ihr Interesse; opinio und optare entstammen derselben Wurzel, und Hegel bringt zurecht die Meinung mit dem zusammen, was „mein" ist. Der öffentlichen Meinung geht es letztlich nur um den Vorteil derer, die ihr anhängen; sie ist stets geneigt, für wahr zu halten, was ihr von Nutzen ist. So war die Öffentlichkeit im Dritten Reich davon überzeugt, wahr und gerecht sei, was dem Volke nütze. So werden auch heute weithin Lüge und Verleumdung im politischen Kampfe nicht nur geduldet, sondern sogar gefördert, weil das eigene Interesse, etwa das der Partei, vor der Pflicht zur gerechten Beurteilung des Gegners den Vorrang habe. Konsequenterweise bezichtigt die öffentliche Meinung daher auch den, der anderer Meinung ist, egoistischer Motive, wenn sie ihn nicht überhaupt durch Diffamierung zum Schweigen zu bringen versucht. Das Richtige im Sinne des Vorteilhaften wird in der öffentlichen Meinung Herr über das Richtige im Sinne des Wahren, weshalb denn auch die sogenannten Meinungskämpfe, selbst wenn sie bei den Begründern der weltanschaulichen Positionen einer ehrlichen Bemühung um die Wahrheit erwachsen, zu Interessenkämpfen werden, sobald die Öffentlichkeit davon Besitz ergreift. Eben darin also besteht die Zweideutigkeit der öffentlichen Meinung: weil es ihr nur darauf ankommt, ihre Interessen durchzusetzen, wird es ihr gleichgültig, ob dies auf dem schwereren Wege der Wahrheit oder auf dem leichteren der Unwahrheit geschieht. Worin besteht angesichts dessen die Aufgabe derer, denen es ernstlich um die Wahrheit geht? Müssen sie sich nicht von jener zweideutigen und so sehr der Unwahrheit sich zuneigenden öffentlichen Meinung abwenden? Die Frage ist jedoch, ob sie, wenn sie sich vornehm aus der Öffentlichkeit zurückziehen, ihrer Aufgabe der Wahrheit gegenüber gerecht werden. Denn wenn es um diese geht, dann heißt das zugleich: es geht darum, daß sie nicht in der Verborgenheit der Innerlichkeit bleibe, sondern kundwerde und sich der Lüge gegenüber behaupte. Wer für die Wahrheit eintritt, muß sich der Zweideutigkeit stellen und sich mit ihr in den Kampf einlassen; auch auf die Gefahr hin, daß er von der öffentlichen Meinung diffamiert und am Ende vernichtet wird. So jedenfalls hat Sokrates seine Aufgabe verstanden: als das Gebot des Gottes, seine Mitbürger aus dem lässigen Verweilen im Meinen aufzustören und auf die Wahrheit aufmerksam zu machen. Eben dadurch hat er sich den Zorn der öffentlichen Meinung zugezogen und mußte sterben. Wer aber gegen die öffentliche Meinung und für die Wahrheit kämpft, der muß vorab gegen sich selber kämpfen: gegen diejenigen Momente

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in seinem Innern, in denen er selbst der öffentlichen Meinung verhaftet ist. Nur wer sich bemüht, vor sich selber ganz wahr zu sein, hat die Freiheit, sich gegen die Welt der Meinung zu wenden. Daher auch wird, wer glaubt, eine Wahrheit entdeckt zu haben, und wer dann merkt, daß sie die Zustimmung der Öffentlichkeit findet, erschreckt innehalten und bei sich selber bedenken, ob es denn auch wirklich eine Wahrheit ist, was er entdeckt hat. Im Kampf gegen die Übermacht der öffentlichen Meinung mögen wir oftmals mutlos werden. In der Verzweiflung über die scheinbare Aussichtslosigkeit aller Bemühung gibt es keine objektive Gewißheit, wohl aber den Glauben an die Kraft des Geistes, den Hegel so ausdrückt: die „Wahrheit ist es, vor der die Meinung erbleicht".

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Zum Atomproblem Der Philosophierende hat es schwerer als andere, au! die uns alle bedrängende, durch die Existenz der Atombombe gestellte Frage eindeutig zu antworten. Die Philosophie hat ja unter den anderen Wissenschaften, aber darüber hinaus im menschlichen Dasein überhaupt, eine Art von Wächteramt auszuüben: sie muß unablässig darauf hinweisen, daß man es sich mit den Antworten nicht leicht machen darf, daß man die Fraglichkeit und die Fragwürdigkeit von allem und jedem lang und innig bedenken muß. Folgt daraus nicht, daß sich der Philosophierende von den politischen Entscheidungen fernhalten sollte, die doch durch allzuvieles Fragen in die Gefahr geraten, die Eindeutigkeit zu verlieren, ohne die ein Handeln nicht möglich ist? Daß dies für die Philosophierenden nicht möglich ist, ja daß es tief unphilosophisch ist, weiß ich und wissen manche mit mir aus bitterster Erfahrung. Meine Generation hat es in dem für sie bislang entscheidensten Augenblick ihrer Geschichte erfahren, im Jahre 1933. Da wurde deutlich, daß es Situationen gibt, in denen man sich entscheiden muß, in denen die Unentschiedenheit auch eine Entscheidung, und zwar die verhängnisvollste Entscheidung ist. Sich nicht entscheiden, heißt ja: die Gestaltung der Dinge denen überlassen, die nicht fragen und sich nicht besinnen. Und so lernten wir damals, daß es für den, dem es um das Fragen geht, also gerade für den Philosophierenden, unausweichlich ist, in den großen Situationen eindeutig J a oder Nein zu sagen. Mir scheint, daß wir heute wieder in einer solchen unbedingten Situation stehen. Ich habe mir die Dinge lange überlegt und bin dahin gekommen, zu sehen: in dieser Situation kann ich nicht anders als Nein sagen. Aber ich füge hinzu: ich sage dieses Nein als mein Nein, mein persönliches Nein. Denn auch das gehört zu der echten, aus langem Fragen geborenen Entscheidung, daß man ihrer zwar gewiß ist, aber nicht im Sinne einer streng beweisbaren Gewißheit. Sie ist nicht ohne Gründe — und eben von denen, die mich zu meiner Entscheidung gebracht haben, will ich im folgenden berichten —; aber sie stellt ihre Gründe zur Diskussion, in der Offenheit, die zum Sinn unseres akademischen Daseins gehört. In einem ersten Teil werde ich mein Nein präzisieren. Ein zweiter Teil wird die Gründe darlegen, die mich dazu geführt haben, und zwar zunächst) sofern sie in einem Vorfeld liegen: im Bereich des Problems

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der Risiken. In einem dritten Teil soll sodann das Grundsätzliche des Problems, wie ich es sehe, zur Sprache kommen. 1 Zunächst also habe ich zu sagen, wogegen sich mein Nein richtet. Die Antwort, die ich gebe, ist konkret: mein Nein richtet sich gegen die atomare Aufrüstung der Bundesrepublik; genauer: gegen den Beschluß zur atomaren Aufrüstung der Bundesrepublik in diesem Augenblick. Vielleicht hatten Sie erwartet, ich hätte allgemeiner gesprochen: daß mein Nein dem Atomtod gelte. Aber diese Antwort erscheint mir zu selbstverständlich und darum zu unverbindlich. Den Atomtod, und an seinem möglichen Ende die Vernichtung der Menschheit, will keiner, es sei denn der entmenschte Mensch. Den Atomtod wollen weder die Opposition noch die Regierungsparteien, weder die Amerikaner noch die Russen. Dazu brauche ich daher auch nicht ausdrücklich Nein zu sagen. Vielleicht auch wundern Sie sich, daß sich mein Nein auf die atomare Aufrüstung der Bundesrepublik beschränkt und nicht gegen die Atombombe als solche richtet. Gerade der Philosophierende, so werden Sie denken, müßte grundsätzlich sprechen; ihm, wenn irgend jemandem, müßte die volle ethische Verwerflichkeit dieser Waffe unzweifelhaft sein; er, wenn irgend jemand, müßte eindeutig sagen: sie anzuwenden, ja in Konsequenz dessen auch schon sie zu besitzen und als Drohung zu verwenden, ist verbrecherisch. Ich zögere, so zu sprechen, und ich gestehe, daß ich darüber betrübt bin, daß ich zögern muß. Die Atombombe ist ein entsetzliches Ding, und ich wünschte nichts lieber, als daß sie niemals erfunden worden wäre; wer sich Hiroshima und Nagasaki vor Augen hält, wird nicht anders denken können. Was mich gleichwohl zögern läßt, ist ein Doppeltes. Einmal will mir nicht recht einleuchten, daß zwischen den „konventionellen" Waffen und den Atomwaffen tatsächlich eine so große qualitative Differenz besteht, daß man eindeutig sagen könnte: jene sind noch zu akzeptieren, diese aber müssen verworfen werden. Eine nicht mehr voll kontrollierbare Waffe, die nicht nur militärische Ziele, sondern die Zivilbevölkerung trifft, ist fürchterlich. Aber steht es denn mit der Vernichtung „militärischer Ziele" anders? Das neutrale Wort „Ziel" täuscht doch nur darüber hinweg, daß es sich auch dabei um Menschen, und zumeist um nicht gerade freiwillig zu potentiellen militärischen Zielen gewordene Menschen handelt. Das heißt also: der Unterschied zwischen dem „bösen" und dem „guten" oder „gerade noch erträglichen" Krieg wird problematisch; die „Humanisierung" des Krieges, so begrüßenswert 277

sie an sich selber ist, ist doch insofern eine fragwürdige Sache, ids etwas, was nicht potentiell human ist, auch nicht wirklich humanisiert werden kann. Damit aber erhebt sich die ernste Frage, ob der Ausdruck „verbrecherisch" nur dem Atomkrieg, oder nicht vielmehr dem Krieg überhaupt als einer Weise des Tötens von Menschen zukommen müßte. Diese Frage aber ist zu vielschichtig, als daß sie mit dem einfachen — und freilich, wo ein Mensch es im Risiko der eigenen Existenz verwirklicht, höchst eindrucksvollen — Argument beantwortet werden könnte: die Tötung von Menschen ist verbrecherisch; Krieg ist Tötung von Menschen; also ist der Krieg verbrecherisch. Der zweite Grund, der mich zögern läßt, die Ablehnung der atomaren Bewaffnung auf die These von ihrem verbrecherischen Charakter zu gründen, ist der, daß ich ja dann auch darauf bestehen müßte, daß diese verbrecherischen Waffen so rasch wie möglich vernichtet würden; denn wer einsieht, daß das Werkzeug, das er in der Hand trägt, verbrecherisch ist, der muß doch darauf sehen, sich alsbald seiner zu entledigen. Das bieße aber konkret: wir müßten in dem politischen Bereich, zu dem wir gehören, darauf hinwirken, daß die atomaren Waffen vernichtet werden, und zwar unbedingt, ohne Rücksicht auf das, was die Gegenseite tut. Damit aber entsteht das Problem, ob man einen solchen radikalen Verzicht auf das atomare Gleichgewicht, der eine Weltherrschaft der dann einzig übrig bleibenden atomaren Macht in den Bereich des Möglichen rücken würde, wünschen kann und darf. So ist es also das Dilemma der absoluten ethischen Entscheidung, daß sie, wenn sie nicht bloß Theorie bleibt, und wenn sie sich ehrlich ihren Konsequenzen stellt, den politischen Realitäten begegnet, die möglicherweise und vielleicht sogar einsichtigerweise verhindern, daß sie zur Tat werden kann. Darum also kann ich nicht das allgemeine ethische Postulat aufstellen: die Atomwaffen sind als solche verbrecherisch und müssen darum schlechthin und sofort abgeschafft werden, auch wenn dies nur einseitig geschehen kann. Darum kann ich nur die konkrete Forderung aussprechen: die Bundesrepublik soll sich nicht mit atomaren Waffen ausrüsten. Daß ich aber hinzufüge: in diesem Augenblick, ergibt sich mit innerer Notwendigkeit aus dem Gesagten. Wenn ich nicht ohne Bedenken die atomare Abrüstung des Westens und die damit verbundene Aufhebung des atomaren Gleichgewichts fordern kann, dann muß ich auch zugeben: ich kann es nicht ausschließen, daß einmal eine Situation eintreten könnte, in der neu erwogen werden müßte, ob die Bundesrepublik sich nicht doch an der Herstellung des Gleichgewichts beteiligen müßte. Einer solchen Situation könnte ich freilich nur zustimmen, wenn ich die Gewißheit erlangt hätte, daß alle anderen Möglichkeiten — von denen noch zu sprechen sein

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wird — sich als wirkungslos erwiesen haben. Dann könnte der Augenblick kommen, in dem ich — und dies freilich in Verzweiflung über den Verlust der Menschlichkeit — sagen müßte: alles ist vergebens; jetzt ist es unvermeidlich, daß auch wir uns mit Atombomben ausrüsten. Ich füge hinzu: es erscheint mir unwahrscheinlich, daß diese Situation eintreten wird. Aber ehrlicherweise kann ich sie nicht völlig ausschließen. Daher muß ich mein Nein auf den Beschluß zur atomaren Aufrüstung der Bundesrepublik in diesem Augenblick beschränken. Daß ich aber dazu Nein sagen muß, ist mir gewiß, dieses Nein ist ein entschiedenes Nein.

2 Um mein Nein zu begründen, komme ich noch einmal darauf zurück, daß keiner den Atomtod will. Denn das Unheimliche der gegenwärtigen Situation liegt ja gerade darin, daß aus dem allen gemeinsamen Willen, den Atomtod zu vermeiden, die entgegengesetzten Konsequenzen gezogen werden. Darin besteht auch der Unterschied zwischen den Jahren 1958 und 1933. Gegen das, was damals hervorbrach, mußte, wer es durchschaute, eindeutig Stellung nehmen. Uber das J a oder Nein aber, das heute zur Entscheidung steht, zu befinden, ist schwieriger, weil beides aus der gleichen Wurzel entspringt: aus der Sorge um die Rettung des Menschen. Das muß man sehen, und man darf sich die Dinge nicht durch Diffamierung des Gegners zu leicht machen. Ich frage nun zunächst, was denn andere dazu geführt hat, zur atomaren Aufrüstung der Bundesrepublik J a zu sagen — nicht gerade freudig, wie sie selber sagen, aber doch dem Notwendigen sich fügend. Zunächst sei wiederholt: ihr Ausgangspunkt ist — wie ich überzeugt bin — die echte Sorge um die Vermeidung des Atomtodes. Auch der nächste Gedankenschritt hat etwas Bestechendes. Wenn der Atomtod droht, muß ich doch vor allem darum besorgt sein, daß mein Vaterland davon verschont bleibe. Und nun geht, wenn ich recht sehe, die Argumentation so weiter: um vom Atomtod verschont zu werden, muß Westdeutschland erstens selber so aufrüsten, daß es einem möglichen Angriff gewachsen ist, und zweitens, was ja damit zusammenhängt, es muß sich die Sympathien seines starken Verbündeten erhalten. Beides aber erfordert in der gegenwärtigen politischen und militärtechnischen Situation die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen. Diese Argumentation beruht in einzelnen Punkten auf der Deutung von Fakten, die vermutlich nicht ganz eindeutig sind: ζ. B., ob die Amerikaner ä tout prix auf unserer atomaren Aufrüstung bestehen würden. Doch davon wissen wir Nicht-Politiker nur wenig. Was ich dagegen zu

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fragen habe, ist, welche Konsequenzen sich aus dieser Entscheidung für das Ja und aus ihrer Begründung ergeben, und wie ich mich zu diesen Konsequenzen zu stellen habe. Die Konsequenzen nun sind, wenn ich recht sehe, teils sicher, teils ungewiß. Eine sichere, weil in der Natur der Sache liegende Konsequenz scheint mir zu sein, daß eine atomare Bewaffnung der Bundesrepublik das Wettrüsten verstärken wird; sei es durch eine parallele atomare Aufrüstung der östlichen Nachbarn, sei es durch eine verstärkte Rüstung Rußlands. Die nächste Konsequenz hat nicht den gleichen Grad von Gewißheit. Sie lautet: das wachsende Wettrüsten verstärkt die Gefahr der kriegerischen Entladung. Man wird einwenden: eben die Rüstung soll ja der Sicherung des atomaren Gleichgewichts dienen, das wiederum die wechselseitige Vernichtung verhindert. Ich gestehe, daß ich mich von der Schlüssigkeit dieses Gedankenganges nicht überzeugen kann. Mir scheint es unwahrscheinlich zu sein, daß ein auf Wettrüsten — und damit faktisch auf dem Willen zum Vorsprung — beruhendes Gleichgewicht auf die Dauer stabil bleiben kann. Mir scheint es ferner evident zu sein, daß die Gefahr einer kriegerischen Entladung in dem Maße wächst, in dem kleinere Staaten — und dazu gehört auch unsere Bundesrepublik — mit atomaren Waffen ausgerüstet werden. Wie nahe überdies bei einem hohen Stand der beiderseitigen Atomrüstung die Gefahr eines kriegerischen Konfliktes aus Mißverständnissen ist, haben wir neulich anläßlich der Diskussion um die Patrouillenflüge erschreckend erfahren. Aber zugegeben: über den Zusammenhang des Wettrüstens mit der Verstärkung der Kriegsgefahr kann, wer auf diesem Gebiet nicht Fachmann ist, keine ganz eindeutige Auskunft geben. Ich muß mich daher mit der Behauptung der Wahrscheinlichkeit begnügen, die freilich, wie sich zeigen wird, für meine Entscheidung ausreichend ist. Die nächste Konsequenz scheint mir wiederum sicher zu sein. Gesetzt, das Wettrüsten führe zur kriegerischen Entladung: dann wäre höchst nahe, was wir doch alle vermeiden wollen: die Vernichtung der Menschheit, oder doch wenigstens großer Teile der Menschheit. Ich wiederhole die gesamte Gedankenkette: Sorge um die Vermeidung des Atomtodes; Schutz des Vaterlandes; Ja zur atomaren Aufrüstung. Konsequenzen daraus: verstärktes Wettrüsten; mögliches — und, wie mir scheint, wahrscheinliches — Näherrücken der Gefahr eines atomaren Krieges; in diesem Falle teilweiser oder vollständiger Untergang der Menschheit, Damit aber steht das J a zur atomaren Aufrüstung der Bundesrepublik vor einem seltsam paradoxen Ergebnis. Die Absicht, den Atomtod zu 280

vermeiden, führt die Möglichkeit — oder die Wahrscheinlichkeit — herbei, daß eben dieser Atomtod eintritt. Das aber heißt: der Weg des J a ist nicht, wie manchmal behauptet wird, risikolos, sondern enthält selber jenes Risiko, vor dem uns bange ist. Man wird einwenden: auch der andere Weg — der Weg des Nein — ist nicht ohne Risiko. Es könnte doch sein, daß der Gegner die Bundesrepublik eben darum, weil sie nicht atomar aufgerüstet ist, überfiele, versklavte oder gar mit Atombomben vernichtete. Ich gebe zu: auch hier steckt ein Risiko. Ich persönlich halte es zwar für geringer als das andere; aber daß es ein Risiko ist, bleibt bestehen. Daher auch brauchen wir darüber nicht lange zu reden. Wichtig nämlich ist, daß damit die Frage erst in ihre eigentliche Schärfe gebracht ist. Wenn beide Möglichkeiten der Entscheidung das Risiko der Vernichtung mit sich führen, dann kommt es letztlich nicht mehr auf die Abwägung der politischen Zweckmäßigkeiten an. Dann steht die Frage im Grundsätzlichen, und das heißt: da, wo die Philosophie zu ihrem Wort aufgerufen ist. Hier hat denn auch meine Entscheidung für das Nein ihre wahre Wurzel. 3 Blicken wir noch einmal auf die Argumentationskette zurück, an deren Ende das J a steht. Sie gründet sich auf den Gedanken der Verantwortlichkeit für den Schutz des Vaterlandes. Und sie behauptet, um dessetwillen müsse man die atomare Aufrüstung, auch mit ihren Risiken, auf sich nehmen. Man pflegt in diesem Zusammenhang das Beispiel des Räubers heranzuziehen, vor dem man sich doch auch mit den besten Waffen, die man sich beschaffen kann, schützt. Das Beispiel hat in der Tat etwas Bestechendes. Ich gestehe, daß ich mich als Student — wie viele meiner damaligen Freunde — eine Zeitlang mit dem Gedanken eines konsequenten Pazifismus befreundet habe, und daß ich noch heute darüber traurig bin, daß er in unserer Welt offenbar — vorläufig wenigstens — nicht durchzuführen ist. Aber wer Verantwortung für andere trägt, erfährt: es gibt Situationen, in denen es unumgänglich wird, diejenigen, deren Schutz einem anvertraut ist, zu verteidigen. Das Beispiel ist also eindeutig. Aber das Problem steckt auch nicht im Beispiel als solchem, sondern in seiner Übertragung auf die gegenwärtige politische Situation. Die Frage ist doch, ob wir so sicher sind, daß der politische Gegner ohne weiteres unter den Begriff des Räubers zu subsumieren ist. 281

Mißverstehen Sie mich nicht. Ich mache mich mit dieser Frage nicht zum Anwalt des Kommunismus. Als ich vor fünf Jahren den Ruf an die Freie Universität annahm, habe ich meine Entschiedenheit manifestiert, mich nicht auf die Unfreiheit einzulassen. Aber ich frage: darf ich unter der Voraussetzung handeln, daß der politische Gegner ein Räuber und nur ein Räuber ist, solange ich dieser Voraussetzung nicht völlig sicher bin. Die Frage ist ernst, ja von wahrhaft tödlichem Ernste. Denn auf der Voraussetzung, daß der Gegner ständig auf dem Sprunge stehe, uns zu überfallen, gründet sich doch das Ja zur atomaren Aufrüstung, und dieses Ja enthält in sich das Risiko, von dem ich sprach. Und nun gebe ich zu: es kann sein, daß die Russen nur auf die Gelegenheit warten, Westdeutschland zu überfallen. Das kann sein — aber ist es auch sicher? Haben wir die Dinge ausreichend geprüft? Könnte es nicht sein, daß die Behauptung der Russen, sie handelten aus Angst vor einer Einkreisung, mehr ist als bloße Tarnung? Könnte es nicht sein, daß der Rapackiplan zu mehr dienen soll, als bloß dazu, den Westen einzuschläfern? Könnte es nicht sein, daß hinter dem Stop der Atomwaffenversuche mehr steckt als bloß ein taktisches Manöver? Nun kann ich deutlicher sagen, wie ich zu meinem Nein komme. Ich frage nämlich, ob nicht die anscheinende Unvermeidlichkeit des Kreislaufs des Wettrüstens mit seinem, wie mir scheint, wahrscheinlichen, wie es andern erscheint, bloß möglichen Ende in der atomaren Vernichtung daher kommt, daß man von der Voraussetzung ausgeht, der Gegner sei jener Räuber des Beispiels, von dem man sicher ist, daß er nur auf unsere Vernichtung aus ist, gegen den man sich daher mit allen Mitteln schützen muß — auch mit den Mitteln der Atomwaffen, auch auf die Gefahr hin, daß er dann seinerseits im Gegenzug sich zu immer tödlicheren Waffen entschließt? Und nun liegt, wenn ich recht sehe, das Verhängnisvolle der gegenwärtigen Situation darin, daß Entscheidungen getroffen werden, ehe das Recht zu dieser Voraussetzung ausreichend geprüft ist. Geprüft werden aber könnte es nur so, daß man sich zunächst einmal darauf einließe, über das, was der andere sagt und vorschlägt, ernstlich zu reden, unter der bis zum Erweis des Gegenteils festgehaltenen Hypothese, es sei ernst gemeint, was er sagt und vorschlägt. Das ist, wie mir scheint, die einzig sinnvolle Alternative zu der drohenden Möglichkeit des Atomtodes, und ich meine, wir sollten sie mit aller Entschlossenheit ergreifen. Sich auf ein ernstnehmendes Gespräch einlassen aber bedeutet konkret: es sich nicht von vornherein dadurch abschneiden, daß man den Kreislauf des Wettrüstens durch die Aufrüstung der Bundesrepublik befördert. Zugunsten eines solchen Gespräches läßt sich eine ganze Reihe von 282

Gründen anführen. Schon allein dies, daß man auf diesem Wege in einer so bedrohlichen Situation wie der heutigen die wahre Gesinnung des anderen vielleicht deutlicher sehen kann, wäre den Entschluß zum Gespräch wert. Vielleicht ist ferner die Überlegung nicht ganz abwegig, daß auch die Russen möglicherweise, wie wir selber, mehrere Seelen in ihrer Brust tragen, und daß sie darum verschieden antworten, je nachdem, wie man sie anredet. Offenbar gibt es ja auch innerhalb der sowjetischen Führung Fraktionen; unsere Bereitschaft zum ehrlichen Verhandeln könnte also vielleicht die Gruppe ermutigen, die ihrerseits die gleiche Bereitschaft besitzt. Aber all das rechtfertigt zwar die Zweckmäßigkeit, zeigt aber noch nicht die innere Notwendigkeit, miteinander ohne die Voraussetzung des totalen Mißtrauens zu reden. Tiefer scheint mir diese Notwendigkeit darin begründet zu sein, daß das Gespräch in dem gekennzeichneten Sinne das Fundament ist, auf dem der Westen steht und mit dem er fällt. Wenn ich etwas von dem verstehe, was unser abendländisches Dasein bestimmt, so ist es doch wohl das, was die Griechen als den Logos entdeckten. Logos aber — das hat uns Piaton gelehrt — ist immer dial6gesthai, Miteinandersprechen; und in ihm gewinnt und bewahrt der Mensch seine Menschlichkeit. Dieses Miteinanderreden, als ein Grundzug unseres abendländischen Wesens, ist aber nur möglich, wenn man bis zum eindeutigen Beweis des Gegenteils den andern als einen möglichen Gesprächspartner versteht. Das aber heißt: man muß, wiederum bis zum eindeutigen Beweis des Gegenteils, voraussetzen, er meine es ernst mit dem, was er sagt. Das ist, scheint mir, der tiefere Ort, von dem aus die gegenwärtige Situation beurteilt werden sollte. Das ist auch der Punkt, von dem her ich zu meinem Nein gekommen bin- Denn nun erhebt sich die Frage: Haben wir im Felde des Politischen dieses unser abendländisches Wesen wirklich bis zuletzt bewahrt? Können wir mit gutem Gewissen sagen: wir haben alles getan, ohne Erfolg; wenn es nun im Gefolge des Wettrüstens zum atomaren Tod kommen sollte, sind wir unschuldig? Oder müssen wir uns sagen: ein Teil der Schuld an der Verhärtung der Fronten, an dem das Gespräch abschnürenden Mißtrauen, kommt auch unserem Verzicht darauf zu, den Forderungen unseres abendländischen Wesens bis zum Äußersten Raum zu geben? Noch einmal tritt dem ein Einwand entgegen. Bringt die Forderung, bis aufs äußerste das Gespräch zu versuchen und darum mit der atomaren Aufrüstung hintanzuhalten, nicht ein allzu großes Risiko mit sich? Es gibt ja hier eine doppelte Möglichkeit. Entweder, das Gespräch gelingt, und die Gefahr läßt sich bannen. Oder aber: das Gespräch mißlingt, und dann ist es vielleicht zu spät dafür, sich noch vor der Verskla-

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vung oder dem Untergang zu retten. Dann ist es vielleicht sogar für immer mit der Möglichkeit vorbei, das zu verwirklichen, was ich als die Wurzel des Abendländischen kennzeichnete: das offene Gespräch. Dieses Risiko — ich sagte es schon — darf man nicht ableugnen. Zwar fügte ich hinzu, mir persönlich erscheine es schwächer als das andere, das mit dem Wettrüsten verbunden ist. Aber es bleibt ein Risiko. Und nun kommt es zu der Frage: darf ich mir und darf ich insbesondere denen, die mir anvertraut sind, zumuten, dieses Risiko einzugehen? Wieder eine Frage auf Leben und Tod. Ich kann ihr nur mit einer Gegenfrage antworten, die freilich ebenso ernst ist. Wenn das Wettrüsten und das mit ihm verbundene Mißtrauen überhaupt einmal überwunden werden soll, — muß dann nicht einer den Anfang machen und — ins Ungewisse hinein und im vollen Bewußtsein des Risikos — versuchen, ob man nicht vielleicht doch in vorsichtigem Vertrauen miteinander reden kann? Und weiter: wenn ich davon überzeugt bin, daß dies und gerade dies zu geschehen hat, — wem anders darf ich das Risiko zumuten als mir selber und den Meinigen? Zumal ich denke, daß wir Deutschen vor andern Völkern Anlaß hätten, einmal um einer guten Sache willen etwas zu riskieren. Vielleicht verstehen Sie jetzt, daß mein Nein keine bloße Negation ist, sondern ein J a in sich enthält. Das J a dazu nämlich, im vollen Bewußtsein der Gefährlichkeit den Weg zu gehen, zu dem wir vom Grunde unseres abendländischen Daseins her bestimmt sind: bis aufs Äußerste uns für das Gespräch des Menschen mit dem Menschen offen zu halten. Dieser Versuch kann gelingen, er kann aber auch scheitern. Scheitert er, so haben wir uns wenigstens nicht selbst verraten. Gelingt er, dann eröffnet sich vielleicht die Möglichkeit für eine Zukunft. Lassen Sie mich ein Letztes hinzufügen: ich glaube an diese Zukunft. Und zwar darum, weil ich tief überzeugt bin: es gibt zwar in der Geschichte dies, daß ein Volk von außen her unterging. Aber viel sicherer gehen die Völker dann unter, wenn sie ihrem Auftrag zuwider handeln. Wo aber ein Volk dem treu bleibt, was ihm als seine Aufgabe zugewiesen ist, da, so glaube ich, braucht es die Hoffnung nicht zu verlieren.

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