Traum und res publica: Traumkulturen und Deutungen sozialer Wirklichkeiten im Europa von Renaissance und Barock 9783050055916, 9783050045689

Der Band analysiert die Bedeutung von Träumen, deren Interpretation bis zum 17. Jahrhundert noch stark in der Kontinuitä

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German Pages 400 Year 2009

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Traum und res publica: Traumkulturen und Deutungen sozialer Wirklichkeiten im Europa von Renaissance und Barock
 9783050055916, 9783050045689

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Peer Schmidt, Gregor Weber (Hg.) Traum und res publica Traumkulturen und Deutungen sozialer Wirklichkeiten im Europa von Renaissance und Barock

Institut für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg Colloquia Augustana Herausgegeben von Johannes Burkhardt, Theo Stammen und Wolfgang Ε. J. Weber

Band 26

Traum und res publica Traumkulturen und Deutungen sozialer Wirklichkeiten im Europa von Renaissance und Barock Herausgegeben von Peer Schmidt und Gregor Weber Redaktion: Elisabeth Böswald-Rid, Tobias Brenner und Stefan Paulus

Akademie Verlag

Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung

Einbandabbildung: „Jakob und die Himmelsleiter", aus: Das Allte Testament Deutsch, Martin Luther [Übers.], Wittenberg 1523. Gotha, Forschungsbibliothek: Theol. 2° 00033/01.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-05-004568-9 ISSN 0946-9044

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2008 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Jochen Baltzer, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Vorwort Die vorliegende Beiträge gehen mehrheitlich auf eine Tagung zurück, die unter dem Titel „Traum und Politik. Deutungen sozialer Wirklichkeiten im Europa des Barock" vom 13. bis zum 15. Oktober 2005 am Institut für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg stattfand. Die überaus anregende Diskussionsatmosphäre - sie wurde nachhaltig durch die Sektionsleiter Johannes Burkhardt, Silvia Serena Tschopp (beide Augsburg), Aloys Winterling (Basel) und Martin Zimmermann (München) befördert - hat uns ermutigt, die Fragestellung als Ganze und einzelne Beiträge nunmehr in gedruckter Form vorzulegen. Die Beiträge von Maria Jordan Arroyo und Dorothea Scholl wurden zur Ergänzung bzw. Vervollständigung des thematischen Spektrums nachträglich aufgenommen. Es bleibt noch mehrfacher Dank abzustatten: Elisabeth Böswald-Rid, Tobias Brenner und Stefan Paulus vom Augsburger Institut für Europäische Kulturgeschichte für vielfältige Hilfe bei der Tagung und die Betreuung des Manuskripts, außerdem Monika Leetz (Erfurt), Stefanie Kraus, Christopher Schliephake und Ines Schuster (alle Augsburg) für die zuverlässige Unterstützung bei den Korrekturen. Die Gesellschaft der Freunde der Universität Augsburg sowie die KurtBösch-Stiftung halfen mit, die Tagung zu ermöglichen. Die Gerda Henkel Stiftung hat in großzügiger Weise sowohl die Tagung als auch die Drucklegung gefördert. An die Herausgeber der ,Colloquia Augustana' ergeht unser Dank für die Aufnahme des Bandes in die Reihe ebenso wie an Herrn Manfred Karras, der den Band von Seiten des Akademie Verlags betreute. Vor allem aber danken wir den Autoren, die sich auf die Thematik, für die vielfach erst einmal Grundlagenarbeit geleistet werden mußte, eingelassen haben und die trotz vielfacher anderer Aufgaben der eingegangenen Manuskriptverpflichtung bereitwillig nachgekommen sind.

Erfurt/Augsburg, Pfingsten 2008

Peer Schmidt und Gregor Weber

Inhaltsverzeichnis Traumkulturen in den frühneuzeitlichen Gesellschaften. Eine Einführung Peer Schmidt und Gregor Weber

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Träume und ihre Deutung. Kontinuitäten und Rezeptionen von der Antike zur Renaissance Gregor Weber

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Literatur Träume in der deutschsprachigen Barockliteratur Manfred Engel

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Literarisches Träumen im Frankreich der Frühen Neuzeit. Inszenierung, Kritik und Apologie des Traums zwischen Ronsard und Racine Bernhard Teuber

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Phantastische Topographien und bizarre Totengespräche: Zur Poetik und Politik des Traums in der italienischen Renaissance- und Barockliteratur Dorothea Scholl

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Traumleben - Traumpolitik. Calderons Konzeption des Traums in ,La vida es sueno' Gerhard Poppenberg

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Unquiet Slumbers'. Traum und Politik bei Shakespeare Andreas Höfele

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Kunstgeschichte Traum und Politik in der Malerei und Graphik des 16. und 17. Jahrhunderts Jan Harasimowicz

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Inhaltsverzeichnis

Geschichte ... oder Daniel würde zum Lügner, das ist nicht möglich. Zur Deutung des Traums des Nebukadnezar im frühneuzeitlichen Reich Wolfgang E. J. Weber

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Traumglaube und Traumkritik im älteren deutschen Luthertum. Eine Skizze Ulman Weiß 227 Wan er auch aufwachet/ ihm eben ist/ als einem der aus der Schlacht entrunnen. Träume im Dreißigjährigen Krieg Peer Schmidt

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Trösten, hoffen, rächen. Traumdiskurse im Alltag. Träume und Offenbarungen des Nicolaus Drabicius und ihre Verbreitung durch Johann Arnos Comenius Marion Kintzinger

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Zwischen Wunder, Aberglaube und Fiktion. Der Traum als politisches Medium in Frankreich, 1560-1620 Ciaire Gantet

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Francisco Μοηζόη and "The Good Sleep". The Theological Interpretation of Dreams in Sixteenth-Century Spain Maria V. Jordän Arroyo

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The limited political relevance of dreams in two Lutheran realms. Observations from Scandinavia in the 17th and 18th centuries Holger Berg

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Dormir, voila done notrefelicite. Zu Louis Sebastien Merciers ,L'An 2440' Peter Burschel

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Register

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Traumkulturen in den frühneuzeitlichen Gesellschaften. Eine Einführung Peer Schmidt und Gregor Weber

Unsere heutige Be-Deutung des Traums ist maßgeblich von der Psychoanalyse geprägt; sie basiert - immer noch - auf den grundlegenden Arbeiten Sigmund Freuds und Carl Gustav Jungs. Zentral für dieses Verständnis ist die Auffassung, das im Schlaf Erlebte als Spiegel seelischer Befindlichkeiten zu erkennen, als Ausdruck individueller Introspektion und Situierung des Einzelnen in seiner Umwelt, oder aber als Ausdruck überzeitlicher Archetypen.1 Ein solches, vornehmlich auf das Individuum zentriertes Traumverständnis stellt historisch gesehen jedoch nur eine Form der Wertung und Einordnung des im Schlaf Erfahrenen dar. Von der Antike bis in die Frühe Neuzeit war man davon überzeugt, daß der träumende Mensch bzw. seine Seele in einem besonderen Zustand sei, der dazu befähige, im Prinzip auch Botschaften göttlichen oder zumindest übersinnlichen bzw. übernatürlichen Ursprungs zu empfangen. Die dem Schlafenden verheißenen Mitteilungen waren keineswegs nur und vornehmlich von individueller Bedeutung. Vielmehr besaßen jene nachts vermittelten Bilder und Botschaften in erster Linie Relevanz für die Öffentlichkeit, die religiöse Gemeinschaft, die kulturelle Gruppe und vor allem auch für das Staatswesen. Diese Auffassung von der gesellschaftlichen Bedeutung der Träume reichte bis weit in das 17. Jahrhundert und damit bis in die Hochphase des Barock hinein. Die Tradition, wonach im Schlaf übersandte Zeichen als an Gesellschaft und politische Gemeinwesen adressierte Prognostica zu interpretieren sind, läßt sich bis in die Antike zurückverfolgen. Sie manifestiert sich vor allem darin, daß insbesondere den Träumen sozial hochgestellter Personen, etwa Königen und Kaisern, besondere Beachtung geschenkt wurde, was sich deutlich in der Überliefe-

Vgl. dazu die Beiträge in: Der Traum - 100 Jahre nach Freuds Traumdeutung. Hg. von Brigitte Bothe. Zürich 2000; Thomas Auchter: Der Traum als Königsweg zum Unbewußten. 100 Jahre psychoanalytischer Traumdeutung. In: Theologie und Psychologie im Dialog über den Traum. Hg. von Thomas Auchter, Michael Schlagheck. Paderborn 2003. S. 171-232; Hans Dieckmann: Träume als Sprache der Seele. Einfuhrung in die Traumdeutung. Königsfurt 2001.

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rungslage widerspiegelt.2 Dem liegt die Vorstellung zugrunde, daß charismatische oder besonders exponierte Personen - sie verfügten über Macht, und von ihnen war eine Vielzahl anderer Menschen in ihrem Schicksal abhängig - in einer exklusiven Beziehung zu den Göttern standen.3 Artemidor formuliert dies in seinem Traumdeutungsbuch (Oneirokritikon) aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert explizit: Es ist nun vollends unmöglich, daß sich bei einem unbedeutenden Menschen entgegen seinen Fähigkeiten ein Traum über große Staatsangelegenheiten einstellt. Diese Theorie wird von dem Umstand widerlegt, daß diese Träume persönlich sind und nur für die Träumenden in Erfüllung gehen, es sei denn, ein Kaiser oder hoher Beamter oder sonst einer von den Großen sieht es. Denn diese haben die Aufgabe, für das Gemeinwesen Sorge zu tragen, und sie können einen Traum darüber erwarten, nicht wie Privatleute, denen wenig anvertraut wird, sondern wie Herrscher und Leute, die sich für das Allgemeinwohl um die öffentlichen Angelegenheiten kümmern.4 Darüber hinaus wurden freilich auch solche Träume von Einzelpersonen beachtet, die sich - mit positiver oder negativer Prognostik - auf eine gesellschaftlich exponierte Person bezogen. Das Christentum und der lateinische Kulturkreis führten diese Tradition des privilegierten Träumens (Le Goff) samt seiner gesellschaftlichen Relevanz fort, wobei das Wissen auch durch die Heilige Schrift, etwa im Alten Testament durch die Träume Daniels und Jakobs, weitergetragen wurde.5 Die Geburt Jesu Christi wurde im Schlaf prophezeit (Mt 1,20), die drei Könige erhielten die Weisung, bei ihrer Rückkehr aus Bethlehem nicht zu Herodes zu gehen (Mt 2,2Iff.), und auch 2

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Dies impliziert keineswegs, daß Personen aus anderen sozialen Schichten nicht träumten, aber deren Träume wurden in aller Regel nicht aufgezeichnet, dazu Gregor Weber: Kaiser, Träume und Visionen in Prinzipat und Spätantike. Stuttgart 2000. S. 8f. Die Überlieferung beginnt hier mit Homers Ilias (2,1-83), als Zeus dem achaiischen Oberkommandierenden Agamemnon einen Verderben bringenden Traum (2,6) sandte, um die festgefahrene Handlung wieder in Gang zu bringen. Für unseren Kontext ist die Reaktion des greisen Nestor besonders wichtig: Hätte uns diesen Traum ein anderer Achaier berichtet, hätten wir Lug ihn genannt und eher uns abgewendet. Aber es sah ihn, der sich der beste Achaier zu sein rühmt (2,80-82); dazu Christine Walde: Traumdarstellungen in der griechisch-römischen Dichtung. München, Leipzig 2001. S. 19-31. Am Beginn der griechischen Literatur (um 700 v. Chr.) steht somit die Erfahrung, daß Träume durchaus trügerisch sein konnten. Artem. 1,2,10,21-27, dazu Gregor Weber: Artemidor und sein ,Publikum'. In: Gymnasium. 106. 1999. S. 209-229. Artemidor zufolge sind Träume von Privatpersonen' nur dann von Relevanz für die Gemeinschaft, wenn diese Träume vielen zur gleichen Zeit zuteil wurden. Vgl. Jacques Le Goff: Das Christentum und die Träume (2. - 7. Jahrhundert). In: Jacques Le Goff: Phantasie und Realität des Mittelalters. Stuttgart 1990. S. 271-322 und 4 0 1 ^ 0 8 , hier S. 272f. Zum Alten Testament: Jean-Marie Husser: Le songe et la parole. Etude sur le reve et sa fonction dans l'ancien Israel. Berlin, New York 1994; Reinhard G. Kratz: Die Visionen des Daniel. In: Schriftauslegung in der Schrift. Hg. von Reinhard G. Kratz. Berlin, New York 2000. S. 219-236; Scott B. Noegel: Dreams and Dream Interpreter in Mesopotamia and in the Hebrew Bible (Old Testament). In: Dreams. A Reader on religious, cultural and psychological dimensions of dreaming. Hg. von Kelly Bulkeley. Hampshire 2001. S. 45-71.

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bei der Ausbreitung des Christentums spielten, wie etliche Passagen in der neutestamentlichen Apostelgeschichte' zeigen, Traumanweisungen eine wesentliche Rolle.6 Teile der frühmittelalterlichen Christianisierung, wie die Ermordung des Merowingerkönigs Chilperich durch seine Brüder oder die Teilung des Mantels durch den Heiligen Martin, in diesem Fall durch Jesus selbst angestoßen, wurden ebenfalls durch einen Traum vermittelt - nicht zu vergessen Konstantins auf einem Traum basierende Inanspruchnahme des Christengottes für den Sieg über Maxentius an der Milvischen Brücke, mit dem der Durchbruch des Christentums auf der politischen Ebene verbunden ist.7 Ein weiteres Bindeglied bei der Vermittlung gräko-latinischen Wissens stellten insbesondere die Traumdeutungsbücher dar, deren Entstehung aus dem Bemühen heraus zu erklären ist, die reichhaltige Symbolwelt zu systematisieren und mit einer sachkundigen Deutung der nicht selten bedrohlich wirkenden und peinigenden Träume Sicherheit für die Zukunft zu gewinnen. Aus der Antike überliefert ist einzig das bereits genannte Oneirokritikon des Artemidor von Daldis, der den Anspruch erhebt, sämtliches bis dato publizierte Auslegungsmaterial gesammelt und verarbeitet zu haben. Während Artemidor uns in der Rezeption erst wieder in der Renaissance begegnet, wurden in der lateinischen Spätantike und im byzantiQ

nischen Osten vornehmlich stark vereinfachte Deutungsschlüssel verwendet. Die Spätantike vererbte uns auch den in die babylonische Zeit zurückreichenden Traum Daniels, der in der Bibel festgehalten und in einer Reihe von Handschriften und schließlich Inkunabeln im Verlaufe des Mittelalters tradiert wurde.9 Durch alle Epochen hindurch bestand freilich ein zentrales Problem in der anthropologischen Grunderfahrung, daß sich die Träume teils erfüllten, teils als trügerisch erwiesen.10 Dies zog wiederum die Frage nach ihrer Herkunft nach sich. Hergestellt wurde ein Bezug zum Übernatürlichen (Gott/Götter, Engel, Dä6

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Ein Überblick bei Klaus Seybold: Der Traum in der Bibel. In: Traum und Träumen. Traumanalysen in Wissenschaft, Religion und Kunst. Hg. von Therese Wagner-Simon, Gaetano Benedetti. Göttingen 1984. S. 32-54; außerdem Bernhard Heininger: Paulus als Visionär. Eine religionsgeschichtliche Studie. Freiburg u.a. 1996; Marco Frenschkowski: Traum und Traumdeutung im Matthäusevangelium. Einige Beobachtungen. In: Jahrbuch für Antike und Christentum. 41. 1998. S. 5-47; Guy G. Stroumsa: Dreams and Visions in Early Christian Discourse In: Dream Cultures. Explorations in the Comparative History of Dreaming. Hg. von David Shulman, Guy G. Stroumsa. New York, Oxford 1999. S. 189-212; G. Weber (Anm. 2) S. 52-55. G. Weber (Anm. 2) S. 274-294; außerdem die Beiträge in: Konstantin der Große. Imperator Caesar Flavius Constantinus. Hg. von Alexander Demandt, Josef Engemann. Darmstadt 2007. Vgl. dazu G. Weber in diesem Band. Maria Wittmer-Butsch: Zur Bedeutung von Schlaf und Traum im Mittelalter. Krems 1990. S. 176-181, wo 82 lateinische, 14 volkssprachliche Handschriften und 38 Inkunabeln aufgeführt werden. Für den Versuch der Unterscheidung auch in terminologischer Hinsicht, was freilich nicht zu einer einheitlichen Benennung der entsprechenden Phänomene führte, vgl. G. Weber (Anm. 2) S. 31-34 und 40f.

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monen), d.h. den Träumen kam aufgrund des Verständnisses als Botschaft (Hilfe, Ermahnung, Warnung, Drohung) eine prognostische Relevanz zu.11 Gerade diese Form von Träumen wurde zum Gegenstand erheblicher Kontroversen zwischen den Intellektuellen, wie man anschaulich anhand von Ciceros Schrift De divinatione mitsamt den entsprechenden Pro- und Contra-Argumenten nachvollziehen kann.12 Denn Träume wurden seit der Antike auch auf natürliche Ursachen zurückgeführt, die man sowohl im somatisch-medizinischen Bereich als auch in der Seele des Menschen sah. Für die Entscheidung darüber, welche Art von Traum jeweils vorliege, suchte man stets nach eindeutigen Kriterien.13 Insbesondere zeigte das Christentum diesbezüglich eine große Ambivalenz, die die Traumkultur fortan begleiten sollte, da eine neuartige Differenzierung zwischen ,guten' und ,bösen', sprich teuflischen Träumen eingeführt worden war.14 Hatte schon die Antike zwischen physisch bedingten Träumen (meist Alpträumen wegen körperlichen Unwohlseins) 15 und metaphysischen, von der Gottheit vermittelten Trauminhalten unterschieden, so fragte das Christentum gezielt und in mitunter unterstellender Weise nach dem ,Bösen': 16 Da der Traum aber nicht immer göttlichen Ursprungs sein mußte, vielmehr auch den Verführungen des Teufels geschuldet sein konnte, sollte fortan die Orthodoxie gewahrt werden. Schon das Alte Testament warnte vor den Verlockungen des Bösen (Lev 19,26; Dtn 13,2^1). So suchte die sich formierende offizielle Kirche sehr früh, die durch Träume vermittelten Botschaften zu kontrollieren,17 zumal sich selbsternannte 11 12

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Dazu G. Weber (Anm. 2) S. 34-40. Nicholas Denyer: The Case against Divination. An Examination of Cicero's De Divinatione. In: Proceedings of the Cambridge Philological Society. 31. 1985. 1-10; Mary Beard: Cicero and Divination. The Formation of Latin Discourse. In: Journal of Roman Studies. 76. 1986. S. 33^t6; Malcolm Schofield: Cicero for and against Divination. In: Journal of Roman Studies. 76. 1986. S. 47-65; Carlos Levy: De Chrysippe ä Posidonius. Variations stoiciennes sur le theme de la divination. In: Oracles et propheties dans l'antiquite. Hg. von Jean-Georges Heintz. Paris 1997. S. 321-343. Vgl. Mark A. Holowchak: Interpreting Dreams for Corrective Regimen. Diagnostic Dreams in Greco-Roman Medicine. In: Journal of the History of Medicine. 56. 2001. S. 382-399; mit Bezug zum 17. Jahrhundert: Alice Browne: Dreams and Picture-writing. Some Examples of this Comparison from the Sixteenth to the Eighteenth Century. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes. 44. 1981. S. 90-100. Zur - folgenreichen - neuen Aufgliederung Tertullians Schrift De anima 45—49 vgl. Domenico Devoti: AH'origine dell'onirologia cristiana (con particolare riferimento a Tert., de an. 45^19). In: Augustinianum. 29. 1989. S. 31-53. Zu den Alpträumen vgl. Wilhelm H. Roscher: Ephialtes. Eine pathologisch-mythologische Abhandlung über die Alpträume und Alpdämonen des klassischen Altertums. Leipzig 1900; Le cauchemar dans les societes antiques. Hg. von Jean-Marie Husser, Alice Mouton. Erscheint Paris 2008. J. Le Goff (Anm. 5); G. Stroumsa (Anm. 6). Eine knappe Übersicht über die - letztlich wirkungslosen - Verbote auf verschiedenen Synoden bei G. Weber (Anm. 2) S. 54 mit Anm. 192-195. Für den größeren Kontext wichtig: Marie Theres Fögen: ,Die Enteignung der Wahrsager'. Studien zum kaiserlichen Wissensmonopol in der Spätantike. Frankfurt a. M. 1993.

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Propheten und Charismatiker immer wieder auf Träume beriefen und damit ihre Handlungen, etwa die Begründung einer neuen ,Sekte', legitimierten. 18 Doch das Christentum selbst hatte die individuelle Traumkultur geradezu befördert - als religiöse Introspektion des Einzelnen, der sich um sein Seelenheil sorgte. 19 Allerdings blieb diese persönliche Frömmigkeitssuche in der Frühen Neuzeit stets eingebunden in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge bzw. theologische Deutungsmuster. 20 Daß die religionspolitische Kontrolle letztlich erfolglos blieb, läßt sich nicht nur daran ersehen, daß die Traumkultur - nicht nur die individuelle - eben seit dem Mittelalter fortlebte, sondern auch daran, daß sowohl das intellektuelle als auch das alltagspraktische Interesse an dem Phänomen ,Traum' als solchem nach wie vor ungebrochen waren - bei den einfachen Menschen, an den Höfen, in den verschiedenen kirchlichen bzw. religiösen Kontexten. Der Traum als historisches Phänomen und im Sinne einer handlungsorientierenden sowie legitimierenden Deutungsleistung kultureller und politischer Phänomene berührte in der Frühen Neuzeit mehrere zentrale Bereiche des Geschichtsverständnisses. 21 So galt der Traum als Prognosticon für kommende, ,reale' Zeiten. Ohne eine entsprechende geschichtstheologische und mentale Disposition ist die Rezeption antiker und christlicher Träume, ebenso die Kontinuität ihrer Deutung als auf die Gemeinschaft gemünzte Botschaften freilich nicht zu verstehen. Eine aus der Antike in Mittelalter und Frühneuzeit hinüber reichende psychosoziale Prädisposition, die den Traumdeutungen realhistorischen Wahrheitscharakter zubilligte, bildete den Hintergrund für die kollektive Akzeptanz dieser sinnstiftenden Ausdrucksformen und Interpretationen der sozialen Wirklichkeit. 22 Die auf dem Traum und seinen wesensverwandten Ausdrucksformen basierenden Deutungsmuster und Zukunftsprognosen stießen dabei sowohl an den Höfen und beim gelehrten Publikum als auch beim ,gemeinen Mann' auf Akzeptanz. Insbesondere die literaten Kreise der frühneuzeitlichen Gesellschaft ließen sich von der Rezeption antiker sowie christlicher Traumbilder (z.B. Artemidor, Jakob und die Himmelsleiter) leiten oder doch zumindest anregen. Ihre Diffundierung in weitere Kreise der Bevölkerung, wie z.B. bei der durch die Danielspro18

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Dazu Patricia Cox Miller: Dreams in Late Antiquity. Studies in the Imagination of a Culture. Princeton, New Jersey 1994; Isabel Moreira: Dreams and Divination in Early Medieval Canonical and Narrative Sources: The Question of Clerical Control. In: The Catholic Historical Review. 89. 2003. S. 621-642. G. Stroumsa (Anm. 6) S. 205. Dazu jetzt auch Andreas Bähr: Furcht, divinatorischer Traum und autobiographisches Schreiben in der Frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. 34. 2007. S. 1 32. Vgl. hierzu Marion Kintzinger: Träumend auf der Suche. Übergangsformen historischen Denkens im 17. Jahrhundert. In: Dimensionen der Historik. Geschichtstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Geschichtskultur heute. Jörn Rüsen zum 60. Geburtstag. Hg. von Horst Walter Blanke, Friedrich Jaeger und Thomas Sandkühler. Köln, Weimar, Wien 1998. S. 221-236. Für die Rezeption im Mittelalter vgl. G. Weber in diesem Band.

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phetie begründeten Legitimation des Alten Reiches und den Heilserwartungen der Puritaner in der Englischen Revolution, ist freilich ebenso belegt.23 Zu beobachten ist außerdem eine ungebrochene Beliebtheit und vor allem weitgehende Rezeption von Traumdeutungsbüchern,24 aber auch eine Verselbständigung der ohne Antiken- oder direkten Bibelbezug auskommenden Traumkultur, die vom Alltag geprägt war. Die in vielfältigen Textsorten und ästhetischen Ausdrucksformen handgeschriebenen und gedruckten Chroniken und Traumberichten, EgoDokumenten, Theaterstücken, Gemälden und Graphiken - festgehaltenen bzw. tradierten Träume, aber auch Visionen im Wachzustand deuteten die Zeitgenossen als offengelegte, verargumentierte Geschichte sowie als Legitimation für Gegenwart und Zukunft.25 Bis in das 17. Jahrhundert suchte man nach transzendenten Herrschaftsbegründungen, in denen wie in der Danielsprophetie im Reich die göttliche, durch einen Traum vermittelte Legitimation eine zentrale Rolle spielte. Dies wird beispielsweise ferner unter Karl V. und Philipp II. deutlich, als die spanische Monarchie z.B. auf die Aeneas-Sage und weitere antike Mythen zurückgriff, in denen immer auch die über Träume vermittelten Botschaften eine Rolle spielten.26 Als Karl I. von Spanien zum Kaiser Karl V. gewählt wurde, verfaßte sein Großkanzler Gattinara ein nicht mehr überliefertes Büchlein, das die Herrschaft Karls mit Bezugnahme auf einen Traum rechtfertigte.27 Beispielhaft für dieses Medium imperialer Legitimation ist des weiteren die nächtliche Weissagung an die Mutter König Philipps II.

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Zur Aufzeichnung ganzer Traumsequenzen im England des 17. Jahrhunderts vgl. Peter Burke: L'histoire sociale des reves. In: Annales (ESC). 28. 1973. S. 329-342, hier S. 334339 (dt. Die Kulturgeschichte der Träume. In: Peter Burke: Eleganz und Haltung. Berlin 1998. S. 37-62). Sie wurden z.T. mit einer neuen Einleitung versehen und als eigenes Werk ausgegeben, dazu Peter-Andre Alt: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit. München 2002. S. 56ff., außerdem G. Weber in diesem Band. Zur generellen Valenz von Träumen als historische Quellen vgl. Reinhart Koselleck: Terror und Traum. Methodologische Anmerkungen zu Zeiterfahrungen im Dritten Reich. In: Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1989. S. 278-299. Marie Tanner: The Last Descendant of Aeneas. The Hapsburgs and the Mystic Image of the Emperor. New Haven 1993. Tanner geht auf die Traumdimension nicht eigens ein, doch ist diese im Gesamtkontext, so z.B. bei der Rezeption der Konstantinlosung „In hoc signo vinces", nicht zu übersehen. Conscripsit Mercurinus libellum ad divum Carolum regem tunc catolicum, orationem super hiis supplicatoriam continentem, somnium interserens de futura orbis monorchia ac furto christianorum triumpho in personam ipsius divi Caroli, quem et Cesarem et maximum omnium monarcham variis rationibus futurum predixit... . Mercurinus di Gattinara. In: Historia vite et gestorum per dominum magnum cancellarium (Mercurino Arborio di Gattinara), con note, aggiunte e documenti. Hg. von Carlo Bornate. In: Miscellanea di storia italiana. 3 Ser. 17. 1915. S. 233-568, hier S. 266.

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von Spanien, die vor ihrer Niederkunft geträumt habe, sie gebäre eine Weltkugel. 28 In Form eines literarischen Traums und im Stile der Panegyrik feierte Luis de Camöes in seinem Nationalepos „Os Lusiadas" die portugiesischen Seefahrten und das lusitanische Imperium, eine onirische Botschaft, die König Manuel I. widerfuhr. 29 In diesen Zusammenhang gehört auch der angebliche Traum von Ludwig XIV., für dessen Interpretation 20.000 louis ausgesetzt wurden und den man als polemische Erfindung aus dem protestantischen Milieu ansieht. 30 Freilich wurde auch Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen in Träume gekleidet, so z.B. in der Frage der Reichsverfassung, deren Reform sich der erzbischöflichmagdeburgische Rat Hans von Hermannsgrün in einem „Somnium" erhoffte. 31 Im spanischen Imperium, das ab den 1580er Jahren eine Phase schwieriger Momente (Loslösung der Niederlande, Niederlage der Armada) durchlebte, zirkulierten eine Reihe von Träumen, in denen Zeitgenossen ihre Sorgen über das Schicksal der Monarchie zum Ausdruck brachten; auch unverhohlene Kritik an der Madrider Politik wurde in nächtlichen Botschaften artikuliert.32 Auch wenn die systematische Aufarbeitung der Bedeutung von Träumen für die Legitimation frühneuzeitlicher Monarchien und Staatswesen noch aussteht, muß doch festgehalten werden, daß im Verlauf des 17. Jahrhunderts und im Zeitalter der Aufklärung immer stärker ökonomistisch eingefarbte Legitimationsstrategien aufkamen, die die vornehmlich theologisch begründeten Imperiumsentwürfe ablösten und dem Traum so gut wie keinen Platz mehr ließen. 33 Bei der Frage nach der zeitlichen Verortung der allmählichen Ablösung dieser kollektivpsychologischen Disposition kommt somit insbesondere der Mitte des 28

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Peer Schmidt: Das Bild Philipps II. im Reich und in der deutschsprachigen Historiographie. In: Austria - Hispania II. Die Epoche Philipps II. (1556-1598). Hg. von Friedrich Edelmayer. Wien, München 1999. S. 11-56. Luis de Camöes: Os Lusiadas, Canto IV. Nachdruck der Ausgabe Lissabon 1572. Hildesheim 1984. Gazette de Paris vom 11. November 1689, dazu Burke (Anm. 23) S. 334; Marianne Carbonnier-Burkard: Le predicant et le songe du roi. In: Etudes theologiques et religieuses. 62. 1987. S. 1 9 ^ 0 ; Gautier (Anm. 59) S. 13, dort noch weitere Fälle aus dem französischen Königshof. Für Frankreich ferner Alexandre Y. Haran: Le lys et le globe. Messianisme dynastique et reve imperial en France ä Taube des temps modernes. Seyssel 2000. S. 169-173. Hermann Wiesflecker: Der Traum des Hans von Hermannsgrün, eine Reformschrift aus dem Lager König Maximilians I. In: Festschrift für Karl Eder. Innsbruck 1959. S. 13-32. Claudia Märtl: Zum Traum des Hans von Hermannsgrün. In: Zeitschrift für historische Forschung. 14. 1987. S. 2 5 7 - 2 6 4 . Miguel Aviles: Suenos ficticios y lucha ideolögica en el Siglo de Oro. Madrid 1981; Richard L. Kagan: Lucrecia's Dreams. Politics and Prophecy in the Sixteenth-Century Spain. Berkeley 1990; Maria V. Jordan Arroyo: Sonar la Historia. Riesgo, creatividad y religion en las profecias de Lucrecia de Leon. Madrid 2007, sowie fur das 17. Jahrhundert Ronald Cueto: Quimeras y suenos. Las profetas y la monarquia catölica de Felipe IV. Salamanca 1994. Antony Pagden: Lords of all the World. Ideologies of Empire in Spain, Britain and France, c. 1500-1800. N e w Haven, London 1995; Peer Schmidt: Spanische Universalmonarchie oder „teutsche Libertät". Das spanische Imperium in der Propaganda des Dreißigjährigen Krieges. Stuttgart 2001.

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17. Jahrhunderts als letztem Höhepunkt und Beginn des langsamen Abklingens besondere Bedeutung zu. Dieser Verlust intersubjektiver Sinndeutung mittels der Träume wirft eine Reihe von Fragen auf. Diese betreffen z.B. das Zurücktreten der Geschichtsprophetie und die damit einhergehenden Prozesse der Bibelkritik, Säkularisierung und der Verzeitlichung. 34 Aus mentalitätsgeschichtlicher Sicht ist hier ferner an die ambivalente Traumhaltung Descartes' zu denken, dessen drei literarisch ausgestaltete Träume große Aufmerksamkeit erfahren haben, da sie in scheinbarem Widerspruch zum sonstigen aufgeklärten Duktus der Werke des Philosophen stehen: 35 Sie lassen sich gleichwohl als Beleg dafür werten, daß die Begründung und Veranschaulichung essentieller Lebensentscheidungen nach wie vor im Kontext der Berufung auf Träume stehen konnte. Doch nicht erst seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bzw. seit der Aufklärung findet sich eine veränderte Einstellung gegenüber dem übernatürlichen Ursprung von Träumen, wie Michel Foucault dies postulierte. 36 Bereits antike Zeitgenossen hatten aufgrund von Erfahrungen mit trügerischen Träumen, von ausbleibenden Erfüllungen der Traumdeutungen und aus grundsätzlichen Erwägungen heraus Träumen jegliche prognostische Relevanz und jeglichen Zukunftsbezug abgesprochen: Erfolgreiche Kommunikation mit den Göttern bedurfte immer wieder der Bestätigung. 37 Für eine Skepsis bzw. Leugnung der Relevanz von

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Arno Seiffert: Der Rückzug der Prophetie von der neueren Geschichte. Studien zur Geschichte der Reichstheologie des frühneuzeitlichen deutschen Protestantismus. Köln, Wien 1990; Jonathan I. Israel: The Radical Enlightenment. Philosophy and the making of modernity, 1650-1750. Cambridge 2001. Vgl. John O. Wisdom: Three Dreams of Descartes. In: International Journal of Psychoanalysis. 28. 1947. S. 11-18; Heinz Quiring: Der Traum des Descartes. Eine Verschlüsselung seiner Kosmologie, seiner Methodik und der Grundlage seiner Philosophie. In: Kantstudien. 46. 1954—55. S. 135-156; Jacques Barchilon: Les songes des Descartes du 10 novembre 1619 et leur interpretation. In: Papers in French Seventeenth Century Literature. 11:20. 1984. S. 99-113; Charles D. Minahen: ,Olympian Vertigo'. Deconstructing Descartes' Reconstruction of the 'Trois songes'. In: Symposium. A Quarterly Journal of Modern Literatures. 41/2. 1987. S. 127-139; Frangoise Meitzer: Descartes' Dreams and Freud's Failure, or, The Politics of Originality. In: The Trial(s) of Psychoanalysis. Hg. von Frangoise Meitzer. Chicago 1988. S. 81-102; Fernand Hallyn: Olympica. Les songes du jeune Descartes. In: Le songe ä la Renaissance. Hg. von Frangoise Charpentier. Saint-Etienne 1990. S. 4151; Peter Holland: 'The Interpretation of Dreams' in the Renaissance. In: Reading Dreams. The Interpretation of Dreams from Chaucer to Shakespeare. Hg. von Peter Brown. Oxford 1999. S. 125-146; außerdem Bernhard Teuber in diesem Band. Vgl. Manfred Engel: Traumtheorie und literarische Träume im 18. Jahrhundert. Eine Fallstudie zum Verhältnis von Wissen und Literatur. In: Scientia Poetica. 2. 1998. S. 97-128; The Dream and the Enlightenment. Le Reve et les Lumieres. Hg. von Bernard Dieterle, Manfred Engel. Paris 2003. Vgl. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. 10. Aufl. Frankfurt a. M. 1993. S. 240-253. Für ein Beispiel aus hellenistischer Zeit vgl. Urkunden der Ptolemäerzeit 70, 6-13 u. 28-30, dazu Gregor Weber: Traum und Alltag in hellenistischer Zeit. In: Zeitschrift für Religionsund Geistesgeschichte. 50. 1998. S. 22-39.

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Träumen steht vor allem Epikur und seine Schule, 38 insgesamt überwog jedoch ein positiver Umgang. Bereits mit dem 16. Jahrhundert setzte dann ein allmählicher Wandel ein, der schließlich im 18. Jahrhundert zu einem grundlegenden Paradigmenwechsel führte: Ärzte, Psychologen, Philosophen und auch einige Theologen verloren den Glauben an übernatürliche, d.h. prophetische und ermahnende Träume. Dies fand seinen Niederschlag in theologischen Traktaten, Lexika, medizinischem Schrifttum und in der Philosophie, gespiegelt wiederum in Dichtung und Drama. 39 Die Reformation schärfte nicht minder den kritischen Blick auf die Traumkultur, wie sich an Luthers Ablehnung onirischer Botschaften ablesen läßt. Statt dessen wurden neue Modelle gesucht, um natürliche Träume zu erklären. Dahinter stand ein Mißtrauen gegenüber jeder Form von übernatürlicher Intervention sowie eine grundlegende Kritik an der traditionellen Religion und allen Formen von ,Aberglauben'. Freilich ist die frühere Form des Umgangs mit Träumen nie völlig aus dem Bewußtsein und der Praxis verschwunden, sie blieb nicht zuletzt in der Transformation in Form von Visionen erhalten. Auch wenn die frühere These vom schleichend einsetzenden , Entzauberungsvorgang' mit dem Niedergang des Prodigien- und Magieglaubens, den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und ersten Säkularisierungstendenzen 40 - sie alle werden im Verlauf des 17. Jahrhunderts allmählich spürbar - neuerdings zunehmend Kritiker findet, ist doch auffallig, daß eben die Traumkultur zwar nicht aufhörte zu existieren, wie eben dies jene Vertreter des „Decline of Magic" postul i e r t e n , daß aber dennoch die mentale Disposition, Träume als Medium kollektiver Schicksalsprophetie bzw. als Teil der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit zu akzeptieren, an ihr Ende gelangte. Der Glaube an göttlich vermittelte Traumbotschaften war spürbar abgeschwächt, und der Traum rückte deutlich in die Sphäre des Individuellen ab, 41 um schließlich jenem Traumverständnis den Weg zu bereiten, das Sigmund Freud versuchte, in psychoanalytischer Weise zu 38

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Epikur zufolge sind Träume zwar Wirklichkeit, sie verkünden aber nicht die Wahrheit und sind eine rein private Erfahrung, dazu Carlo Brillante: Studi sulla rappresentazione del sogno nella Grecia antica. Palermo 1991. S. 78ff.; vgl. auch den Überblick bei Patrick Kragelund: Dreams, Religion and Politics in Republican Rome. In: Historia. 50. 2001. S. 5 3 95. Andrew Kitt: The Miraculous Body of Evidence. Visionary Experience, Medical Discourse, and the Inquisition in the Seventeenth-Century Spain. In: Sixteenth Century Journal. 36/1. 2005. S. 7 7 - 9 6 , außerdem den Beitrag von Maria Jordan Arroyo in diesem Band. Paul Hazard: La crise de la conscience europeenne. Paris 1935; Keith Thomas: Religion and the Decline of Magic. Studies in Popular Beliefs in Sixteenth- and Seventeenth-Century England. N e w York 1973; Jean de Viguerie: Le miracle dans la France du XVIIe siecle. In: XVIIe siecle. 140. 1983. S. 3 1 3 - 3 3 1 ; Michaela Schwegler: ,Erschröckliches Wunderzeichen' oder ,natürliches Phänomen'? Frühneuzeitliche Wunderzeichenberichte aus der Sicht der Wissenschaft. München 2003; Alexandra Walsham: Miracles and the CounterReformation Mission to England. In: The Historical Journal. 46/4. 2003. S. 779-815; Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts. Hg. von Hartmut Lehmann, Anne-Charlott Trepp. Göttingen 1999. Hierzu A. Bahr (Anm. 20).

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systematisieren.42 Jene Welten des Zaubers und der Magie, die für das 18. Jahrhundert und die Moderne neuerdings stärker referiert werden, zeigen zwar Zeitströmungen auf, doch ist nachzufragen, ob einstmals zentrale Teile der Anthropologie hier nicht doch bis 1800 eher an die Ränder gedrückt werden.43 Auch wenn man für die Aufklärung und ihre Epoche neuerdings eine gewisse Offenheit gegenüber den Welten der Phantasie und Magie attestiert, so blieb die Einschätzung, was Träume anbelangt, doch äußerst ambivalent. Obgleich die mantischen Träume weiter zurückgedrängt wurden - Spinoza hatte die Propheten als phantasiegeleitete Persönlichkeiten eingestuft44 ist hinsichtlich der individuellen Träume dennoch eine - wenn auch mit Vorbehalten verbundene - Wertschätzung zu beobachten: Sie galten wie bei Descartes' im Traum erfahrenen Aufruf zur Wissenschaft als Erkenntnismittel von Intuition und Sensibilität, deren Inhalte, von der Vernunft und Kritik geprüft, dem Einzelnen Orientierung und Weg zum Wissen weisen konnten.45 Insgesamt läßt sich aber die mentalitätsgeschichtliche Umstrukturierung nicht übersehen. Abzulesen ist sie auch an der Neuformierung der Frömmigkeitsformen. So machte die „lebensweltlich verankerte Frömmigkeit des Barock" (Schlögl) einer stärker interiorisierten und dabei auch ,entzauberten' Religiosität Platz, die stärker auf das Individuum abhob. Dies verhinderte allerdings im katholischen Milieu nicht, daß z.B. bei Prozessionen bestimmte theatralische' Elemente seitens der Gläubigen fortbestanden und durchaus goutiert wurden. Allerdings vollzog sich insgesamt eine stärkere Rationalisierung und Säkularisierung der Glaubensäußerungen 46 Wenn Peter L. Berger und Thomas Luckmann hinsichtlich der heutigen Wirklichkeit des Alltags festhalten: Ihre Intersubjektivität trennt die Alltagswelt scharf 42

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Grundlegend: Lester G. Crocker: L'analyse des reves au 18e siecle. In: Studies on Voltaire and the 18th Century. 23. 1963. S. 271-310; Jean-M. Goulemot: Apercus du reve au siecle des Lumieres. In: Revue des Sciences Humaines. 82:211. 1988. S. 237-244. Aufmerksamkeit für jene Strömungen der Magie und Mirakel in: Wunderwelten. Religiöse Ekstase und Magie in der Moderne. Hg. von Nils Freytag, Diethard Sawicki. München 2006. Auch wenn sich z.B. für den ,Hexenglauben' bis ins frühe 20. Jahrhundert Belege finden lassen, vgl. Owen Davies: Hexereivorwürfe im England des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In: Ebd. S. 143-163, so wird man doch von einer veränderten, gesamtgesellschaftlichen Kontextualisierung dieses Phänomens als zu Beginn der Frühneuzeit auszugehen haben, wo ein Großteil der Bevölkerung und der Gelehrten mittels dieses Phänomens mobilisiert werden konnte. So sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, daß (vgl. Wolfgang Petz: Die letzte Hexe. Das Schicksal der Anna Maria Schwägelin. Frankfurt a. M. 2007) die letzte Hexe in Oberdeutschland in der Fürstabtei Kempten 1775 hingerichtet wurde; im selben Zeithorizont (1782) wurde in der Schweiz - einst einer der Ursprangsorte europäischer Hexenverfolgung - der letzte Hexenprozeß geführt. Benedict de Spinoza: Theological-Political Treatise. Edited by Jonathan Israel. Translated by Michael Silverthorne, Jonathan Israel. Cambridge 2007. S. 13-42, bes. S. 27. P.-A. Alt (Anm. 24) S. 127-159. Für die katholische Welt Rudolf Schlögl: Glauben und Religion in der Säkularisierung. Die katholische Stadt - Köln, Aachen, Münster - 1700-1810. München 1995. Kap. III, Zitat S. 327.

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von anderen Wirklichkeiten, deren ich mir bewußt bin. Ich bin allein in der Welt meiner Träume,47 dann kommt hierin jene heutige Individualisierung zum Ausdruck, die dem 17. Jahrhundert noch nicht selbstverständlich war; eben diesen allmählich einsetzenden Wandlungsprozeß gilt es aber im Auge zu behalten. Dieser Band nimmt die Bedeutung von Träumen als Deutungsmuster sozialer Wirklichkeiten im Europa von Renaissance und Barock in den Blick. Mit der Renaissance und der Hochphase des Barock, die sich der Rezeption der Antike bzw. deren Einbindung in die christlichen Kulturen verschrieben haben, 48 umfaßt er jene Epochen, in denen Träumen Aussagen von kollektiver Bedeutung zugesprochen wurden. Der Traum konnte eine res sacra, aber auch eine res publica sein und in die res publica hinein wirken. Die Renaissance mit ihrem Antikenbezug und der Begriff des Barocks sind dabei nicht allein literatur- oder kunstgeschichtlich zu verstehen, sondern sie nehmen einen bewußt interdisziplinär ausgerichteten Epochenbegriff auf, der auch - insbesondere für den Barock - von der Geschichtswissenschaft in jüngster Zeit wieder verstärkt rezipiert wurde. 49 Barock steht für Widersprüchliches: Geometrie bzw. Ordnungsstreben kombinierte sich mit üppiger Ornamentik, die neostoizistische Affektenlehre bestand neben einer ausladenden Festkultur. So darf der Barock als jene Epoche gelten, in der die Sinnlichkeit der Erfahrung mit der rationalen Durchdringung eine Symbiose einging, aber auch in Konflikt geriet. Fragt man nach dem Forschungsstand zu Träumen in der Neuzeit, so erbrachte die Sichtung der Publikationen zu diesem Themenbereich einen signifikanten Befund. 5 0 Für die literaturwissenschaftliche Seite der Thematik läßt sich eine Forschungslage fassen; hingegen erweist sich die geschichtswissenschaftliche und noch mehr die kultur- und mentalitätsgeschichtliche Facette, zu der bislang nur einige wenige Studien in Aufsatzform vorliegen, als deutliches Desiderat. So wurde in der Literaturwissenschaft von Peter-Andre Alt ein erster Gesamtentwurf für die Zeit von der Renaissance bis in die Moderne publiziert, der vornehmlich die deutschsprachige Literatur in den Blick nimmt; auch liegt von Manfred Engel

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Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Mit einer Einleitung zur deutschen Ausgabe von Helmuth Plessner. Frankfurt a. M. 1980. S. 25. Vgl. Helmut Krasser u.a.: Art. Barock. In: Der Neue Pauly. 13. 1999. Sp. 393^117; zur Abgrenzung vgl. außerdem Andreas Tönnesmann: Art. Renaissance. In: Der Neue Pauly. 15/2. 2002. Sp. 702-714. Schon älteren Datums sind die historischen Epochenzuweisungen bei Walther Hubatsch: ,Barock' als Epochenbezeichnung? In: Archiv fur Kulturgeschichte. 40. 1958. S. 122-137; Jose Antonio Maravall: La cultura del El barroco. Anälisis de una estructura histörica. 6. Aufl. Barcelona 1996. S. 23-51. Siehe ferner Rosario Villari: Der Mensch des Barock. In: Der Mensch des Barock. Hg. von Rosario Villari. Frankfurt a. M. u.a. 1997. S. 7-15, hier S. 8f.; jüngst Heinz Duchhardt: Barock und Aufklärung (Oldenbourg Grundriß der Geschichte. Bd. 11). München 2007. S. 82-92. Vgl. die auch für die Moderne aktualisierte Online-Datenbank „Dreams of Antiquity" von Gregor Weber: http://www.gnomon.ku-eichstaett.de/dreams.

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eine Reihe signifikanter Studien vor. Darin geht es zum einen u m eine Rekonstruktion der verschiedenen Traumtheorien aus Medizin, Philosophie und A n thropologie, zum anderen um die Techniken und Strategien, mit Hilfe derer sich die Literatur der Frühen Neuzeit diese Theorien aneignete. 5 1 Ein weiterer Strang der Forschung befaßt sich mit der Rezeption des mittelalterlichen Traummaterials durch Shakespeare. 5 2 Dabei werden vor allem die Kontextualisierung des Materials in der Alltagskultur und die hohe Diversifizierung der Traumtypen in den verschiedenen Dramen herausgestellt. Calderon hingegen entwirft in La vida es sueno den Traum als intaktes Sinnbild des Lebens, bei dem die Reflexion über die moralischen Konsequenzen aus dem eigenen Handeln die zentrale Rolle spielt. 53 Der geschichtswissenschaftliche Forschungsstand zur frühneuzeitlichen Traumkultur weist bislang keine Monographien auf, die in systematischer W e i s e diesem Phänomen nachspüren. In den Aufsätzen werden einerseits Traumsequenzen v o n Einzelpersonen oder Gruppen und deren Kulturspezifität mit der Prävalenz bestimmter Themen - z.B. Tod und Bestattung, Kirche, Könige, Kriege, Beleidigungen des Träumers - behandelt oder das Traumverständnis verschiedener Konfessionen bzw. religiöser Sekten in den Blick genommen; 5 4 andererseits wurden in Fallstudien einzelne literarische Gattungen und Bildzeugnisse analysiert. 55 D e s weiteren wird in Einzelstudien zur Magie und zum Hexenritt in Süd-

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P.-A. Alt (Anm. 24). Zu den Arbeiten von Manfred Engel vgl. dessen Beitrag in diesem Band, wo in Anm. 1 die entsprechenden Publikationen aufgeführt sind. Vgl. Manfred Weidhorn: Dreams in Seventeenth-Century English Literature. The Hague 1970, bes. S. 77ff.; Majorie B. Garber: Dream in Shakespeare: From Metaphor to Metamorphosis. New Haven 1974; Hildegard Hammerschmidt-Hummel: Die Traumtheorien des 20. Jahrhunderts und die Träume der Figuren Shakespeares. Heidelberg 1992; außerdem A. Höfele in diesem Band. Jaime Ferran: El sueno es vida. In: Calderon. Hg. von L. Garcia Lorenzo. Madrid 1983. S. 421^132; Anthony N. Zahareas: The Sense of an Ending in La vida es sueno. The Historical Function of a Metaphor in Calderon. In: Hispanic Essays in Honor of Frank P. Casa. Hg. von Robert. A. Lauer, Henry W. Sullivan. New York 1997. S. 264-277; Gerhard Neumann: Traum und Transgression. Schicksale eines Kulturmusters: Calderon - Jean Paul Ε. T. A. Hoffmann - Freud. In: Transgressionen. Literatur als Ethnographie. Hg. von Gerhard Neumann, Rainer Warning. Freiburg 2003. S. 81-122. Vgl. P. Burke (Anm. 23); Hans-Jürgen Goertz: Träume, Offenbarungen und Visionen in der Reformation. In: Reformation und Revolution. Beiträge zum politischen Wandel und den sozialen Kräften am Beginn der Neuzeit. Festschrift für Rainer Wohlfeil. Hg. von Rainer Postel, Franklin Kopitzsch. Wiesbaden 1989. S. 171-192; Dieter Fauth: Träume bei religiösen Dissidenten in der frühen Reformation. In: Religiöse Devianz in christlich geprägten Gesellschaften. Vom hohen Mittelalter bis zur Frühaufklärung. Hg. von Dieter Fauth, Daniela Müller. Würzburg 1999. S. 71-105; M. Kintzinger (Anm. 21); Ciaire Gantet: Le songe (der Traum) et les savoirs dans L'Allemagne moderne. In: Bulletin de la Mission historique frangaise en Allemagne. 38. 2002. S. 235-253; Dies.: Les representations politiques de l'espace imperial dans les 'reves' et les 'visions' fictifs, de la guerre de Trente ans ä la fin du XVII siecle. In: Histoire, economies, societes. 1. 2004. S. 25-37. Marianne Zehnpfennig: Traum und Vision in Darstellungen des 16. und 17. Jahrhunderts. Diss. Tübingen 1979; Jacques Thuillier: La peinture frangaise du XVIIe siecle et le reve. In:

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europa dem Traum Aufmerksamkeit zuteil, so in den Arbeiten Carlo Ginzburgs. 56 In der südeuropäischen Frühneuzeitforschung spielen nächtliche Botschaften immer auch in Bezug auf die (vor allem) weibliche Religiosität eine Rolle, da geistlich erweckte Frauen ihr Sendungsbewußtsein aus Träumen und Visionen bezogen. 57 Dabei ist freilich zu beachten, daß im frühneuzeitlichen Spanien der Konnex zwischen Traum und Hexerei bzw. religiöser Heterodoxie von der Inquisition sehr vorsichtig beurteilt wurde, vorsichtiger als z.B. im Reich. 58 Zum Forschungsstand gehört auch ein Themenheft der Zeitschrift , Revue des Sciences Humaines' (1988), das sich in mehreren Aufsätzen Aspekten der Traumthematik für Frankreich im 17. Jahrhundert widmet. 59 Gefragt wurde jeweils nach der sozialen Verortung der Träumenden, sowohl in der Elite als auch in der Volkskultur, nach der Traumtheorie und der Instrumentalisierung durch christliche Sekten, nach der sprachlichen Umsetzung und Überlieferungslage, weniger hingegen nach der Kontextualisierung im politisch-sozialen Bereich. Insgesamt sind also über Einzelaspekte hinaus keine entwicklungsgeschichtlichen Faktoren berücksichtigt worden, die den o.g. Wandel erklären helfen. Auch wenn für das 16. und 17. Jahrhundert noch eine Lücke besteht, so wird doch von einem Teil der Forschung in jedem Falle - wie oben angedeutet - eine Persistenz des Traumes auch in der Aufklärung postuliert. Angesichts des dargelegten Forschungsstands soll in diesem Band ein Beitrag zu einer Bestandsaufnahme der frühneuzeitlichen Traumkulturen geleistet werden, wobei der Schwerpunkt auf Literatur und Geschichte liegt. Die Annäherung an dieses Phänomen erfolgt unter Beachtung des Verhältnisses von ,Traum und Gesellschaft' in interdisziplinärer, europaweit angelegter Weise.

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Revue des Sciences Humaines 82:211. 1988. S. 2 0 1 - 2 1 1 ; Marion Kintzinger: Wirtshausgeschwätz. Traumerzählungen in der politischen Publizistik des 17. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für historische Forschung. 29/4. 2002. S. 5 6 1 - 5 9 6 . Carlo Ginzburg: Die Benandanti. Feldkulte und Hexenwesen im 16. und 17. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1980, bes. S. 186-207; Ders.: Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte. Frankfurt a. M. 2003. S. 11-43, 73-86. R. Kagan (Anm. 32); Adelina Sarriön: Beatas y endemoniadas. Mujeres ortodoxas ante la Inquisicion espanola. Madrid 2003, bes. S. 2 5 0 - 2 6 0 . Der prominenteste Fall liegt um 1600 mit dem Baskenland vor, einer Provinz mit eigenen Freiheiten, deren Kleinräumigkeit den oberdeutschen Territorien, die das Zentrum der Hexenprozesse bildeten, nicht unähnlich ist. Freilich ging der Inquisitor mit den bei dieser Häresie verbundenen Träumen sehr zurückhaltend um, vgl. Gustav Henningsen: The witches' advocate. Basque witchcraft and the Spanish Inquisition, 1609-1614. Reno 1980. Zu dem in der spanischen Welt sehr vorsichtig gehandhabten Konnex von Hexenwesen und Schlaf bzw. Traum vgl. auch Arij Ouweneel: The Flight of the Shepard. Microhistory and psychology of cultural resilience in Bourbon Central Mexico. Amsterdam 2005. S. 3 2 - 3 3 ; ferner Wolfgang Behringer: Hexen. Glaube - Verfolgung - Vermarktung. 3. Aufl. München 2002. S. 6 3 - 6 7 . Das gesamte thematische Spektrum bei Jean-Luc Gautier: Reve en France au XVIIe siecle. Une introduction. In: Revue des Sciences Humaines. 82:211. 1988. S. 7 - 2 4 .

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Gregor Weber untersucht in seinem Beitrag, welche Kontinuitäten und Brüche bei der Wahrnehmung von Träumen, ihrer Deutung und gesellschaftlichen Relevanz zwischen Spätantike und Renaissance vorliegen. Vor allem antike Traumdeutungsbücher wurden stark rezipiert, freilich christlich umgedeutet; die hier überlieferten ,Bilder' erweisen sich über ihren Symbolgehalt als wesentlich für die Erfassung der sozialen Fundierung der jeweiligen Gesellschaften. Träume in politischem Kontext sah man als signifikant an, weshalb auch Diskussionen über unterschiedliche Traumarten keinen Eingang in die entsprechende Überlieferung fanden. Durchgängig tritt ebenso Kritik an Träumen und ihrer Deutung zutage, wobei die zahlreichen Verbote kirchlicherseits nur belegen, daß jeglicher Kontrolle kein Erfolg beschieden war. Darüber hinaus nahm die Beschäftigung mit Träumen auf medizinischem Hintergrund zu, ebenso die Verbindung von Traumdeutung und Astrologie. Manfred Engel verweist darauf, daß eine systematische Aufarbeitung der Traumproblematik für die deutschsprachige Barockliteratur noch aussteht. In einem ersten Versuch widmet er sich dem höfisch-historischen Roman, dem Trauerspiel und der Traumsatire bzw. dem pikaresken Roman. Als vorläufiges Resümee steht fur Engel u.a. fest, daß natürliche Träume mit einem Diskursverbot versehen sind, wohingegen übernatürliche Träume klaren Regeln und Schematisierungen folgen. „Traumdichtungen haben ihre eigene, stabile Regelpoetik", hält Engel fest. Bernhard Teuber entfaltet in seinem Beitrag zum literarischen Träumen im frühneuzeitlichen Frankreich ein eindrucksvolles Panorama der Inszenierung, Kritik und Apologie des Traums zwischen Ronsard und Racine. Er vermag - anhand ausgewählter Textbeispiele von Du Beilay, Ronsard, Saint-Amant, Corneille, Sorel, Descartes, Pascal und Racine - zu zeigen, wie der Traum gerade in dem als Hort des Rationalismus angesehenen Frankreich in eine komplexe kulturelle Ökonomie eingeflochten war, so daß oft auch noch die Kritik am Traum unterschwellig als dessen Apologie gelesen werden kann. Der Traum wurde als „ein ästhetisches, näherhin als ein literarisches Faszinosum" verstanden und geradezu inszeniert, so Teuber. Dem Traum in der italienischen Renaissance- und Barockliteratur ist der Beitrag von Dorothea Scholl gewidmet. Dabei treten die großen Potentiale der literarischen Traumdarstellungen deutlich hervor, ebenso der gezielte Umgang mit dem Leser. Herausgearbeitet wird auch eine kulturelle Dimension als wesentliches Merkmal der behandelten Texte, indem fiktionalisierte Träume die Möglichkeit bieten, kulturelle Errungenschaften und Kunstwerke zu beschreiben sowie neue Entdeckungen literarisch zu verarbeiten. Außerdem erfahren Bezüge zur zeitgenössischen französischen Literatur eine eingehende Würdigung. Gerhard Poppenberg geht in seinem Beitrag von Sigmund Freuds Begriff des Traumlebens aus, den er auch in dem Stück des spanischen Theaterautors Calderon de la Barca „La vida es sueno" angewandt sieht. Gemäß des Themas des Theaterstückes bilden Traum und Wirklichkeit eine Einheit; für beide Formen des Daseins gelten dieselben Werte, dieselben Maßstäbe. Auch bei Shakespeare, der sich der antiken und mittelalterlichen Traumtradition bediente,

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gilt - so kann Andreas Höfele zeigen - diese Einheit von Traum und Wirklichkeit. Die im gelehrten Diskurs des 16. und 17. Jahrhunderts vorkommenden Distinktionen wissenschaftlicher' Traumtypologien treffen hingegen bei ihm nicht zu. In dichterischer Freiheit bedient und vermengt der englische Dramatiker verschiedene Traumtypen, immer mit dem Ziel, sie der Wirklichkeit als gleichwertig gegenüberzustellen. Für Calderon und Shakespeare galt gleichermaßen, daß sie die Traum-Wirklichkeit-Symbiose nicht nur auf das Individuelle bezogen, sondern sie prononciert in einen politisch-gesellschaftlichen Kontext stellen. Im einzigen kunsthistorischen Beitrag fragt Jan Harasimowicz nach den Umsetzungen des Zusammenhangs von Traum und Politik in der Malerei und Graphik des 16. und 17. Jahrhunderts. Vornehmlich biblische oder biblisch inspirierte Motive, dazu in einem unmittelbar kirchlichen Kontext, erfreuten sich einiger Beliebtheit. Von besonderem Interesse sind dabei die verschiedenen, durchaus widersprüchlichen modernen Interpretationszugänge, die sich auch auf die Frage beziehen, ob im Einzelfall ein politischer Kontext bzw. gar eine Instrumentalisierung vorliegt. Jene in der Literatur zu findende Parallelisierung von Wirklichkeit und Traum findet ihren Niederschlag auch in der kollektiven Verortung der Träume und ihrer politisch-gesellschaftlichen Relevanz. Wolfgang E. J. Weber geht von einem der prominentesten legitimatorischen Träume aus, der aus der Antike stammend bis in die Frühe Neuzeit rezipiert wurde: der Traumdeutung Daniels der vier Weltreiche. In seinem auf das , Reich' bezogenen Beitrag - die Untersuchung der Relevanz der Danielsprophetie für viele Staaten des frühneuzeitlichen Europa stellt noch immer ein Desiderat dar - weist er nach, wie die historia sacra einer profangeschichtlichen Deutung von Herrschaft zunehmend weichen mußte. Ulman Weiß analysiert die Diskussionen im Luthertum, die von des Reformators Verurteilung der Träume geprägt waren. Doch war diese Ablehnungsfront keineswegs einheitlich. Nicht nur, daß Luther selbst die Danielsprophetie hochhielt, Melanchthon schloß sich dem negativen Urteil über die onirischen Botschaften nicht an und kommentierte darüber hinaus eine Artemidor-Ausgabe. Daß sich schließlich das Traumerleben im Dreißigjährigen Krieg nicht von den Lehrvorgaben der lutherischen Theologie und Kirchenorganisation einfangen ließ, macht Peer Schmidt in seinem Beitrag deutlich. Zwar bediente sich die herrscherliche Propaganda immer wieder der Träume, doch zwischen 1618 und 1648 waren es insbesondere evangelische Autoren, die ihre Träume zu Papier und zum Druck brachten. Nicht wenige arbeiteten auf sehr individuelle Weise - aber eben öffentlich mittels des Buchdruckes - das Kriegsgeschehen auf. Der starken Präsenz des Traums im Alltag geht auch Marion Kintzinger nach, in deren Beitrag ebenfalls protestantische Träumer eine besondere Rolle spielen. Bei ihr finden Träumer aus Ostmitteleuropa und aus dem Kreis um Arnos Comenius besondere Aufmerksamkeit. In diesen Beiträgen wird deutlich, wie sehr Träume, trotz ihrer gesellschaftlichen Relevanz, eben auch Zeugnisse individueller Krisenbewältigung waren.

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Im europäischen Rahmen fragt der Beitrag von Ciaire Gantet nach dem Traum in Frankreich. Im Zentrum dieses Aufsatzes stehen dabei das Verhältnis von Traum und Alltag und vor allem die Diskussion der Mediziner über Träume, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts als Ausdruck von Melancholie gedeutet wurden. Nicht anders verliefen zeitgleich die Diskussionen über Träume in der hispanischen Welt, wo - wie Maria V. Jordan Arroyo zeigt - der Inquisitor Francisco Μοηζόη ähnliche Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Träume äußerte, wie man sie nördlich der Pyrenäen formulierte. Die Frage, inwieweit die evangelische Seite träumte, obwohl dies eigentlich verpönt war, durchzieht einige Beiträge dieses Bandes, so auch jenen von Holger Berg zu den skandinavischen Königreichen. Zwar postuliert der dänische Historiker, daß man z.B. am schwedischen Hof wenig träumte - oder doch träumen sollte - , doch zeugt sein Beitrag durchaus von einer reichen Traumkultur.60 Peter Burschel geht abschließend der Frage nach den Traumdiskussionen im 18. Jahrhundert vor dem Hintergrund aufgeklärten Vernunftverständnisses nach. Anhand des 1771 veröffentlichten utopischen Romans ,L'An deux mille quatre cent quarante' von Louis Sebastien Mercier (1740-1814) zeigt er das produktive Verhältnis von Traum und Politik im 18. Jahrhundert auf, wobei die Akzentverschiebung nun im Sinne einer ,offenen Zukunft' und in Richtung Utopie liegt. Sicherlich hätten in diesem Band Aspekte der Imperiumslegitimation noch eingehendere Berücksichtigung verdient gehabt. Ebenso stellt sich die Frage nach z.B. neoplatonischen Rezeptionen, die der Traumkultur einen besonderen Platz einräumen, aber auch nach der Bedeutung des für die Affektkontrolle plädierenden Neostoizismus. Die Behandlung dieser Themenkomplexe muß einer weiteren Beschäftigung vorbehalten bleiben. Auch ist im Verlauf der Diskussionen deutlich geworden, daß die Traumkultur nicht an den Grenzen Europas halt machte, sondern vielmehr in den atlantischen Raum, in die angelsächsischen und romanisch kolonialisierten und geprägten Kulturen Amerikas ausstrahlte.61 Dennoch wird aus den Beiträgen deutlich, wie sehr immer auch individuelle Träume eine Rolle in politisch-konfessionell-kulturellen Krisenzeiten spielten, eine Tendenz, an der theologische Vorgaben und Verurteilungen der onirischen Botschaften nichts ändern konnten.62 Immer dann, wenn die protestantischen Konfessionen besonders bedroht waren, wie z.B. zu bestimmten Zeiten des Dreißigjährigen 60

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Vgl. hierzu auch die Beispiele bei Günter Barudio: Gustav Adolf - der Große. Eine politische Biographie. Frankfurt a. M. 1982. S. 268-277. Zur Traumkultur im kolonialen Lateinamerika demnächst: La cultura del sueno en Iberoamerica (siglos XVI-XVIII). Hg. von Sonia V. Rose, Peer Schmidt und Gregor Weber (im Druck). Vgl. jüngst Renate Dürr: Prophetie und Wunderglauben - zu den kulturellen Folgen der Reformation. In: HZ. 281. 2005. S. 3-32; Andreas Bähr: Träumen von sich. Imaginative Selbstverortung und der Raum der ,Person' in den Traumerzählungen der europäischen Frühen Neuzeit. In: Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell. Hg. von Andreas Bähr, Peter Burschel, Gabriele Jancke. Köln, Weimar, Wien 2007. S. 273-287.

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Krieges, im Böhmen kurz vor und nach der Herrschaft des Winterkönigs oder im England der Revolutionen, waren Träumer besonders lebhaft vertreten, die es nicht dabei beließen, das nächtlich Erfahrene für sich zu behalten, sondern dies auch öffentlich machten. Später sollte die weitgehende Individualisierung des Geträumten einsetzen.

Träume und ihre Deutung. Kontinuitäten und Rezeptionen von der Antike zur Renaissance* Gregor Weber Jürgen Malitz zum 4. Januar 2007

1. Einführung Aus althistorischer Sicht stellt sich die Frage, wie man in den tausend Jahren von 600 bis 1600 mit dem Phänomen ,Traum und Traumdeutung' umgegangen ist und welche Relevanz ihm in den Gesellschaften dieser Zeit zukam.1 Außerdem ist in den Blick zu nehmen, wie sich für Träume und ihre Deutung in diesen Jahrhunderten der Bezug auf die Antike, deren Gedankenwelt und Literatur dargestellt hat. Insgesamt wird es um Kontinuitäten und Brüche, Rezeptionen und kreative Fortentwicklungen jenseits reiner Aneignung gehen. Denn das Thema ,Traum und Politik' ordnet sich in Traditionsstränge ein, die - im Barock bereits beginnend - durch die Aufklärung einen ersten Bruch erfuhren, bevor mit der modernen Psychoanalyse an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert etwas definitiv Neues begann. Es wird dementsprechend nicht mit Hilfe psychoanalytischer Kategorien an das fragliche Material herangegangen, sondern das jeweils zeitgenössische Traumverständnis in den Blick genommen, das von kollektivem Wert und sozialer Signifikanz der Träume geprägt ist. Träume wurden nämlich bis zu besagtem Einschnitt entweder als prognostisch relevant oder als grundsätzlich irrelevant angesehen und sollten keine Auskunft über das Innenleben des Träumers oder gar über Schichten seiner Vergangenheit geben.2

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Für Hinweise und Diskussionsanstöße danke ich den Tagungsteilnehmern, vor allem Peer Schmidt, für die eingehende Diskussion des Manuskriptes Steffen Diefenbach und für die Korrektur Ines Schuster. Zur philosophiehistorischen und mediävistischen Perspektive: Thomas Ricklin: Der Traum der Philosophie im 12. Jahrhundert. Traumtheorie zwischen Constantinus Africanus und Aristoteles. Leiden 1998. S. 2-13; Guntram Haag: Traum und Traumdeutung in mittelhochdeutscher Literatur. Theoretische Grundlagen und Fallstudien. Stuttgart 2003. S. 1131. Dies soll den Wert von Träumen als individuelle (religiöse) Erfahrung nicht schmälern (Jean-Claude Schmitt: The Liminality and Centrality of Dreams in the Medieval West. In: Dream Cultures. Explorations in the Comparative History of Dreaming. Hg. von David

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Für eine sinnvolle Behandlung der Thematik müßte man vier zentrale Bereiche analysieren, die allesamt Teile der gesellschaftlichen Diskurse über Träume und ihre Deutung gewesen sind: die Traumtheorie, die Traumberichte in unterschiedlichen literarischen Gattungen, die TraumdewiMHgsliteratur und schließlich die politischen bzw. sozialen Kontexte von Träumen. Im folgenden stehen die beiden letztgenannten Bereiche im Zentrum, weil sie iur die Frage der Rezeption am ergiebigsten und auch wichtigsten sind. Dabei wird jeweils eine Linie von der Spätantike ausgehend durch das Mittelalter mit verschiedenen Phasen bis in die Renaissance gezogen und zum Schluß versucht, Aussagen über die jeweilige gesellschaftliche Relevanz zu treffen.3 Die beiden ersten Bereiche werden nach definitorischen Vorüberlegungen wenigstens in ihren zentralen Aspekten skizziert.

2. Deflnitorische Vorbemerkungen (a) Der Begriff ,Traum' wird in Abgrenzung zur , Vision' verwendet, wobei der Schwerpunkt auf den Zustand des Schlafens im Unterschied zur Vision im Wachzustand gelegt wird. Bereits in der Antike bestand das Problem, festzustellen und zu umschreiben, in welchem Daseinszustand eine Botschaft oder Offenbarung übermittelt wurde, zumal die Übergänge zur Vision im Traum fließend sind.4 Zudem haben sich die Autoren verschiedener literarischer Genera keineswegs an die Einteilungen der Theoretiker gehalten. Allerdings zählte die Wachvision

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Shulman, Guy G. Stroumsa. New York, Oxford 1999. S. 274-287, hier S. 274f.); aus autobiographischem Material, das jedoch nicht aus modernen therapeutischen Motiven angelegt wurde, läßt sich eine Art Psychogramm des Träumenden erstellen. Zu verschiedenen Phasen im Mittelalter, was die Haltung den Träumen und ihrer Deutung gegenüber angeht: Th. Ricklin (Anm. 1) S. 6f. Dabei steht außer Zweifel, daß dem 12. Jahrhundert bzw. den vorausgehenden Jahrzehnten eine Scharnierfunktion zukam, weil es von der Aneignung griechischen und arabischen Denkens und von der Wiederentdeckung der früheren lateinischen Traumform bestimmt war, dazu Sonja Schlemm: Zwischen Machtinteresse und Offenbarung. Der Traum im Mittelalter. In: Wege nach Weimar. Hg. von Gerhard Nasdala. Fernwald 2001. S. 95-106, hier S. 95. Bereits die antiken Klassifizierungen schließen die klare, unverschlüsselte und direkte Anzeige der Zukunft in Träumen mit ein (siehe unten S. 28-30). Zum kontrovers behandelten Problem: Nora Chadwick: Dreams in Early European Literature. In: Celtic Studies. Hg. von James Carney, David Greene. London 1968. S. 33-50, hier S. 33-36; Klaus Speckenbach: Von den troimen. Über den Traum in Theorie und Dichtung. In: ,Sagen mit sinne'. Festschrift für Marie-Luise Dittrich zum 65. Geburtstag. Hg. von Helmut Rücker, Kurt Otto Seidel. Göppingen 1976. S. 169-204, hier S. 178; Peter Dinzelbacher: Die Visionen des Mittelalters. Ein geschichtlicher Umriß. In: ZRGG. 30. 1978. S. 116-128, hier S. 117f.; Wolfgang Haubrichs: Offenbarung und Allegorese. Formen und Funktionen von Vision und Traum in den frühen Legenden. In: Formen und Funktionen der Allegorie. Hg. von Walter Haug. Stuttgart 1979. S. 243-264, hier S. 243f.; Isabel Moreira: Dreams, Visions, and Spiritual Authority in Merovingian Gaul. Ithaca, London 2000. S. 5-10. G. Haag (Anm. 1) S. 19, zufolge sperrt sich die Darstellung von Visionen gegen die Einfügung unter die Träume.

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mehr, wie bereits in der Spätantike formuliert wurde, weil sie eine außergewöhnliche Erfahrung darstellte und die Zukunft klar anzeigte, während ein Traum jedermann, unabhängig von Alter, Geschlecht und Sozialstatus, zuteil werden konnte und gedeutet werden mußte. Man wird davon auszugehen haben, daß mitunter eher von einer Vision gesprochen und auf bestätigende Elemente wie den Überlieferungsgang sowie bedeutende beteiligte Persönlichkeiten hingewiesen wurde, wenn der moralische Wert des Visionärs, seine göttliche Erwählung und Heiligkeit betont werden sollten 5 - was den Wert der Traumüberlieferung in keiner Weise schmälert. 6 (b) Schon im Falle von Traum und Traumdeutung in der Spätantike trafen sich zwei Traditionsstränge. 7 Zum einen die pagane Tradition, die mit Homer im 8. Jahrhundert vor Christus begann: Zu ihr haben zahlreiche prominente Autoren mit Traumerzählungen, theoretischen Überlegungen und Traumdeutungsbüchern beigetragen, wobei substantielle Anregungen aus dem römischen Kulturkreis nahezu ausblieben. 8 Zum anderen die christliche Tradition, die sich auf etliche Passagen aus dem Alten und dem Neuen Testament gründete und mit der sich viele Kirchenväter auseinandersetzten. 9 Für beide Traditionen, pagan wie christlich, gilt, daß sich Enthusiasten und Skeptiker, was Träume und ihre Deutung angeht, gleichermaßen zu Wort gemeldet haben. 10 Angesichts einer sich zunehmend verfestigenden kirchlichen Hierarchie führte die Erfahrung, daß Träume

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K. Speckenbach (Anm. 4) S. 179; W. Haubrichs (Anm. 4) S. 244; J.-C. Schmitt (Anm. 2) S. 28Iff. So auch I. Moreira (Anm. 4) S. 7. Jacques Le Goff: Das Christentum und die Träume (2. - 7. Jahrhundert). In: Phantasie und Realität des Mittelalters. Hg. von Jacques Le Goff. Stuttgart 1990. S. 271-322 und S. 401408; Paul E. Dutton: The Politics of Dreaming in the Carolingian Empire. Lincoln, London 1994. S. 33-35. Zu den Gründen: Gregor Weber: Kaiser, Träume und Visionen in Prinzipat und Spätantike. Stuttgart 2000. S. 46f. und 56f. Zum christlichen Hintergrund: Guy G. Stroumsa: Dreams and Visions in Early Christian Discourse. In: Dream Cultures. Explorations in the Comparative History of Dreaming. Hg. von David Shulman, Guy G. Stroumsa. New York, Oxford 1999. S. 189-212; G. Weber (Anm. 8) S. 52-55 mit weiteren Hinweisen; S. Schlemm (Anm. 3) S. 95f. Zum bekannten Traum in Ep. 22,30 des Hieronymus: Κ. Speckenbach (Anm. 4) S. 175; J. Le Goff (Anm. 7) S. 271; Patricia Cox Miller: Dreams in Late Antiquity. Studies in the Imagination of a Culture. Princeton, New Jersey 1994. S. 205-231; G. Haag (Anm. 1) S. 22-24. Zur bildlichen Umsetzung im 15. und 16. Jahrhundert: Marianne Zehnpfennig: Traum und Vision in Darstellungen des 16. und 17. Jahrhunderts. Diss. Tübingen 1979. S. 25f.; Daniel Russo: Humanist und Christ. Der Traum des hl. Hieronymus in der italienischen Kunst des 15. Jahrhunderts. In: Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien. Hg. von Agostino Paravicini Bagliani, Giorgio Stabile. Stuttgart 1989. S. 137-148; Silvia Volterrani: L'occhio di Morfeo. Per una tipologia di immagini di sogno neH'emblematica cinquecentesca. In: La metamorfosi del sogno nei generi letterari. Hg. von Silvia Volterrani. Florenz 2003. S. 51-67.

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auch eine göttliche Botschaft übermitteln konnten, zu einer folgenreichen Diskussion darüber, wer überhaupt zu den privilegierten Träumer gehören durfte.11 (c) Behandelt man Träume als historische Quellen, wird rasch die Frage nach ihrer Historizität gestellt, d.h. ob sie so stattgefunden haben bzw. als authentisch gelten können.12 Freilich gab und gibt es keine Testmöglichkeit zur Unterscheidung in reale und fiktive Träume. Denn man ist abhängig von dem, was ein Träumender erinnert und als seinen Traum formuliert, was ein Autor als einen inzwischen auch mehrfach mündlich weitererzählten - Traumbericht überliefert, wenn er ihn nicht gar erfunden hat. Auf die letzte Möglichkeit weisen allein sachliche Fehler wie etwa die kontextuelle Unmöglichkeit hin, doch konnte ein kompetenter Autor sein Material als stimmig und den Konventionen entsprechend gestalten - und wer vermag auszuschließen, daß nicht auch etwas Bizarres oder Unkonventionelles zutreffen könnte?13 Gleichermaßen liegt mit der textlichen Überlieferung auch ein Selektionsprozeß vor, insofern jenseits des Zufallsprinzips nur jeweils das in die Überlieferung Eingang fand, was als relevant erachtet wurde.14

3. Der Ausgangspunkt und seine Rezeption: Theorie und Gattungen (a) Das systematisierende Nachdenken über Träume hatte eine lange Tradition:15 Man stellt fest, daß es Träume gab, deren Deutung sich in der Zukunft bewahrheiten sollte und die deshalb als wahr angesehen wurden, und solche, die sich als trügerisch und falsch erwiesen haben. Fragte man weiter, warum sich das so verhielt, so stieß man auf Unterschiede bei der Herkunft der Träume:16 Sie konnten von den Göttern oder von Gott, mitunter vermittelt durch die Seele, gesandt sein und dann auf Zukünftiges verweisen. Urheber konnten aber auch Dämonen oder der Teufel sein - oder sie verdankten sich der Entstehung aus der Seele oder dem Körper des Menschen. Diese Überlegung führte zu einer Einteilung der Träume nach ihrer Wertigkeit, wobei die antiken Autoren auch terminologisch unterschiedliche Akzente setzten. Bekannt sind hier die Einteilungen, die - basierend 11 12

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I. Moreira (Anm. 4) S. 225. Vgl. neuerdings den Versuch von William Harris: Constantine's Dream. In: Klio. 87. 2005. S. 488-494. Dazu P. E. Dutton (Anm. 7) S. 23f. und G. Weber (Anm. 8) S. 10-13. Dies war abhängig von verschiedenen Faktoren: Nicht nur hat man vor allem auf Träume von Monarchen und anderen sozial exponierten Personen geachtet, auch ,Nichtiges' konnte für einen bestimmten Erzähl- oder Argumentationszusammenhang bedeutsam sein. K. Speckenbach (Anm. 4) S. 169f.; Giulio Guidorizzi: L'interpretazione dei sogni nel mondo tardoantico. Oralitä e scrittura. In: I sogni nel Medioevo. Hg. von Tullio Gregory. Rom 1985. S. 149-160, hierS. 150. G. Guidorizzi (Anm. 15) S. 152f.

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auf Philon, Artemidor und Tertullian17 - vor allem Macrobius in seinem Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis,x% Augustinus in verschiedenen Schriften 19 und Gregor der Große in den Dialogi vorgenommen haben. 20 Alle diese Schriften waren im Mittelalter wirkmächtig, 21 allerdings ist die Intensität dieser Präsenz umstritten.22 Es gilt zu fragen, inwieweit die Aufgliederung nicht die Unsicherheit

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Zu Philon: K. Speckenbach (Anm. 4) S. 170; Sofia Torallas Tovar: Sobre la clasificacion de los suenos de Filon de Alejandria y sus implicaciones posteriores. In: CFC(G). 9. 1999. S. 191-212. Zu Artemidor: Gregor Weber: Artemidor und sein ,Publikum'. In: Gymnasium. 106. 1999. S. 209-229; Christine Walde: Antike Traumdeutung und moderne Traumforschung. Düsseldorf 2001; Glen W. Bowersock: Artemidorus and the Second Sophistic. In: Paideia. The World of the Second Sophistic. Hg. von Barbara Ε. Borg. Berlin, New York 2004. S. 53-63. Zu Tertullian: J. Le Goff (Anm. 7) S. 291-293; Cox Miller (Anm. 10) S. 66-70 und S. 206f.; Peter-Andre Alt: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit. München 2002. S. 47-53. Zu ihm: K. Speckenbach (Anm. 4) S. 171 f.; W. Haubrichs (Anm. 4) S. 245; G. Haag (Anm. 1) S. 49f.; P.-A. Alt (Anm. 17) S. 53-55. Macrobius unterscheidet Träume ohne Nutzen und Bedeutung (insomnium/enhypnion mit den Quellen: Seele, Körper, Zufall; visum/phantasma als unstete und trügerische Form) von wahren und weissagenden Träumen (oraculum/chrematismos mit der klaren Anzeige eines künftigen Ereignisses durch Verwandte, Heilige oder Gott selbst; visio/horama als klares Bild der Zukunft; somnium/oneiros mit der deutungsbedürftigen Zukunft in verhüllter Form). Zu ihm: Martine Dulaey: Le reve dans la vie et la pensee de Saint Augustin. Paris 1973.; K. Speckenbach (Anm. 4) S. 175f.; W. Haubrichs (Anm. 4) S. 245f.; J. Le Goff (Anm. 7) S. 298-304; Carsten Röhnert: Traumbücher. Eine gattungsgeschichtliche Betrachtung: Artemidor und seine Erben. Erlangen-Nürnberg 1995. S. 61; S. Schlemm (Anm. 3) S. 96f. Augustinus entstammte einer Region, in der Träume im allgemeinen Bewußtsein massiv präsent waren. Anders als noch im Kontext seiner Konversion und des Traumes seiner Mutter brachte er in De genesi ad litteram 12 eine erhebliche Skepsis zum Ausdruck, insofern die Dreiteilung ex deo, ex diabolo, ex nobis nach Kriterien der Unterscheidung rief, die Unsicherheit verschärfte und eine neue kirchliche Elite an Träumern beförderte. Rezipiert wurde die Lehre von den drei Bewußtseinsarten: visio corpora/w/sensuelle Perzeption, visio spiritualislgeistige Imagination, visio intellectualis/mentale Erkenntnis abstrakter Wesenheiten durch den Verstand, dazu W. Haubrichs (Anm. 4) S. 247 und S. 256f. Zu ihm: K. Speckenbach (Anm. 4) S. 175f.; W. Haubrichs (Anm. 4) S. 246; J. Le Goff (Anm. 7) S. 311-316. Gregor (Dialogi 4,50) erweiterte die Einteilung Augustins durch die Einführung von Mischkategorien zu einem Sechsersystem, was die Angst vor Agitationen des Teufels und der Dämonen noch verstärkte. Denn nur besonders Begnadete vermochten die Formen sachgemäß zu unterscheiden, weshalb grundsätzlich vor Träumen gewarnt wurde. Zur Zuspitzung dieser Einteilung bei Isidor von Sevilla: J. Le Goff (Anm. 7) S. 313f.; G. Haag (Anm. 1) S. 53f. Zur Rezeption von Gregor dem Großen: K. Speckenbach (Anm. 4) S. 175f. Zur MacrobiusRezeption: Alison Μ. Peden: Macrobius and Mediaeval Dream Literature. In: Medium Aevum. 54. 1985. S. 59-73; Albrecht Hüttig: Macrobius im Mittelalter. Ein Beitrag zur Rezeption der Commentarii in Somnium Scipionis. Frankfurt a. M. 1990. K. Speckenbach (Anm. 4) S. 172 mit einigen vermutlich beeinflußten Autoren; J. Le Goff (Anm. 7) S. 295f.; G. Haag (Anm. 1) S. 27-29; zur umstrittenen Augustinus-Rezeption: I. Moreira (Anm. 4) S. 7f.

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im Umgang mit dem Phänomen und das Mißtrauen noch verstärkt hat.23 Zwar sah man in der Folgezeit den Traum immer noch als zentrales Medium an, in dem sich Gottes Gegenwart und die Ewigkeit berührten,24 doch hat nicht zuletzt die Übersetzung der griechischen und arabischen Texte im Gefolge der Eroberung von Konstantinopel,25 vor allem der bis dahin unbekannten Aristoteles-Schriften über Schlaf und Traum, dazu beigetragen, daß der Körper als solches und seine Zerlegung in verschiedene Funktionsweisen eine nachhaltige Auswirkung auf die Erklärung der Träume nach sich zogen.26 Bereits in der medizinischen Literatur hatte es Abhandlungen über die Verwendung der Traumdeutung zu Diagnosezwecken gegeben, die einer kritischen, rationalistischen Tendenz verpflichtet waren.27 Die theoretische Basis bestand in der Überlegung, daß sich physiologische Vorgänge innerhalb des Körpers, vor allem Fehlfunktionen, in der Traumtätigkeit niederschlugen und bei kompetenter Deutung Aufschluß über die Ursachen geben konnten. Verstärkt hat auch die neuplatonische Philosophie über verschiedene Divinationsformen nachgedacht, in deren Kontext auch der spätere christliche Bischof Synesios vom Anfang des 5. Jahrhunderts zu sehen ist.28 Sein stark rhetorisiertes Traumbuch war angeblich in einer Nacht und auf Traumgeheiß geschrieben worden, und er war es auch, der 23

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Ein wichtiges Indiz liefert die baldige Auflösung der Terminologie, besonders fur visum und somnium: J. Le Goff (Anm. 7) S. 310; G. Haag (Anm. 1) S. 29; J.-C. Schmitt (Anm. 2) S. 278: „The growing complexity of the typology expresses a heightened awareness of the difficulty in ascertaining the origin, and thus the value, of dreams." Diese Begegnung stellte man sich als Besitznahme des Körpers oder Entrückung der Seele vor: Agostino Paravicini Bagliani, Giorgio Stabile: Einleitung. In: Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien. Hg. von Agostino Paravicini Baggiani und Giorgio Stabile. Stuttgart, Zürich 1989. S. 7-8, hier S. 8. Zu den arabischen Texten: Hans H. Lauer: Art. Traum. In: Lexikon des Mittelalters. 8. 1997. S. 962-964, hier S. 962f.; Sara Sviri: Dreaming Analyzed and Recorded. Dreams in the World of Medieval Islam. In: Dream Cultures. Explorations in the Comparative History of Dreaming. Hg. von David Shulman, Guy G. Stroumsa. New York, Oxford 1999. S. 252273. Th. Ricklin (Anm. 1) S. 13f. und S. 4 1 1 ^ 1 3 , dort auch zu möglichen Gründen, besonders zum Interesse an den Inhalten aus dem Bewußtsein eines eigenen Defizits heraus. Vgl. bereits Hildegard von Bingen, der zufolge durch die Gnade Gottes integren Menschen die Zukunft in Träumen zuteil wurde, wobei physiologische Vorstellungen deutlich zutage treten, dazu S. Schlemm (Anm. 3) S. 98; J.-C. Schmitt (Anm. 2) S. 279. Ps.-Hippokrat. Schrift peri diaitas IV, Galen De dignatione ex insomniis Uber Κ. VI, 832835, Oreibasios, dazu J. Le Goff (Anm. 7) S. 276. Wolfram Lang: Das Traumbuch des Synesius von Kyrene. Übersetzung und Analyse der philosophischen Grundlagen. Tübingen 1926; J. Le Goff (Anm. 7) S. 281f.; G. Guidorizzi (Anm. 15) S. 153-157; Charles Lacombrade: Sinesio. II 'Trattato sui sogni'. In: II sogno in Grecia. Hg. von Giulio Guidorizzi. Bari 1988. S. 191-207; Karl Brackertz: Die VolksTraumbücher des byzantinischen Mittelalters. München 1993. S. 209. Zu Porphyrios, Iamblichos, Calcidius und zum Neuplatonismus: Francis X. Newman: Somnium. Medieval Theories of Dreaming and the Form of Vision Poetry. Diss. Princeton 1963. S. 59-79; K. Speckenbach (Anm. 4) S. 170f.; G. Guidorizzi (Anm. 15) S. 153 mit Anm. 14; J. Le Goff (Anm. 7) S. 279 und S. 283f.

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betonte, daß nicht einmal ein Tyrann die Träume verhindern könne, wenn er nicht den Schlaf verböte. Für Synesios stellte die Traummantik einen adäquaten Weg zu Gott dar, wobei allerdings der Traumsymbolismus von Person zu Person variiert und Träume deshalb keinerlei soziale Relevanz besitzen. Er sieht das sorgfaltige Anlegen eines Traumtagebuchs als erforderlich an, damit überhaupt ein Wert für die Prognostik erzielt werden kann. Über die 1210 und 1215 in Paris erlassenen Verbote, die neu bekannten Positionen des Aristoteles zu lehren, weil sie im Gegensatz zu den christlichen Überzeugungen verstanden wurden, setzte man sich schon bald hinweg. 29 Eine wesentliche Rolle spielten bei dieser Entwicklung die Dominikaner, allen voran Albertus Magnus (1200-1280), der durch weitere Aufgliederungen in astrologischem Kontext beide Positionen zusammenzubringen versuchte: 30 In seiner Hierarchisierung der Träume blieb denjenigen, die der göttlichen Offenbarung dienten, nach wie vor die größte Bedeutung vorbehalten, doch wurde naturwissenschaftlichen Erklärungen eine immer wichtigere Rolle eingeräumt. 31 Vor allem haben fortan auch andere Autoren die Traumdeutung stärker mit astrologischen Vorstellungen verknüpft. 32 Mit dem Mediziner Arnold von Villanova, einem Schüler von Thomas von Aquin, rückt außerdem, basierend auf der antiken Viersäftelehre, die diagnostische Auswertung der Träume wieder stärker in das Bewußtsein. 33 Für die Renaissance ist nun eine reichhaltige Editions- und Übersetzungstätigkeit der genannten Werke der Traumtheorie zu verzeichnen, was sich in einer beachtlichen Manuskripttradition für Macrobius, Synesios und andere bis in das 16. Jahrhundert hinein äußert. 34 Zu beobachten ist außerdem eine immer engere Verbindung der klassischen mit der medizinischen Tradition, erkennbar an Ver-

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Robert E. Lernen Himmelsvision oder Sinnendelirium? Franziskaner und Professoren als Traumdeuter im Paris des 13. Jahrhunderts. In: HZ. 259. 1994. S. 337-367, hier S. 343-345 und passim; S. Schlemm (Anm. 3) S. 98f. Maria E. Wittmer-Butsch: Zur Bedeutung von Schlaf und Traum im Mittelalter. Krems 1990. S. 143-149 und S. 187f.; Hildegard Hammerschmidt-Hummel: Die Traumtheorien des 20. Jahrhunderts und die Träume der Figuren Shakespeares. Heidelberg 1992. S. 24; R. E. Lerner (Anm. 29) S. 346-350; C. Röhnert (Anm. 19) S. 62; S. Schlemm (Anm. 3) S. 99f.; Beat Näf: Traum und Traumdeutung im Altertum. Darmstadt 2004. S. 175. Albertus Magnus war in der Substanz seiner Einteilung nicht weit von Augustin und Macrobius entfernt, nennt beide jedoch nicht, dazu Th. Ricklin (Anm. 1) S. 10f.; zu Constantinus Africanus: B. Näf (Anm. 30) S. 175. Vinzenz von Beauvais, Wilhelm von Aragon und Arnald v. Villanova, dazu L. Thorndike: A History of Magic and Experimental Science During the First Thirteen Centuries of Our Era. New York 1923. S. 301f.; Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 183f.; Richard L. Kagan: Lucrecia's Dreams. Politics and Prophecy in Sixteenth-Century Spain. Berkeley 1990. S. 3; G. Haag (Anm. 1) S. 57-59. H. Hammerschmidt-Hummel (Anm. 30) S. 24; C. Röhnert (Anm. 19) S. 62f.; S. Schlemm (Anm. 3) S. 100. A. Hüttig (Anm. 21) S. 167-173; kritisch zur Präsenz von Macrobius: G. Haag (Anm. 1) S. 52-54.

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suchen, eine Physiologie des Traums zu erstellen.35 Es liegt folglich ein umfangreiches Textcorpus mit stets wiederkehrenden Themenfeldern der Traumtheorie vor.36 Ein Problem sollte sich freilich durch die Jahrhunderte hindurch als konstant unlösbar erweisen: Es stellte sich bei Träumen, die als prognostisch relevant angesehen wurden, fast immer erst später heraus, ob eine Deutung in Erfüllung ging, was zu einer notorischen Unsicherheit im Umgang mit dem Phänomen führte.37 Dies schließt nicht aus, daß dieser Aspekt in der Literarisierung gezielt eingesetzt wurde. (b) Träume wurden in unterschiedlichen literarischen (und auch bildlichen) Gattungen berichtet. Für die Antike waren dies vor allem Geschichtswerke und Biographien, ebenso Autobiographien, außerdem das Epos und verschiedene lyrische Formen. Gar nicht so selten wurde auch in Inschriften und gelegentlich auch in bildlicher Form auf Träume hingewiesen, was ebenso für Papyri gilt, in denen sich Träume innerhalb von Privatbriefen oder gar als Traumtagebücher erhalten haben.38 Wichtig sind die Funktionen: In der Dichtung, die einen mythologischen oder fiktionalen Rahmen evozierte, wurden Träume dazu verwendet, Spannungsbögen aufzubauen, auf den Leser oder Hörer einzuwirken und Personen zu charakterisieren; gerade Täuschungen durch Träume spielen innerhalb der literarischen Strategie eine wesentliche Rolle.39 Historiographie bzw. Biographie haben anderweitig überliefertes Material aufgenommen, wobei Erfindungen nicht auszuschließen sind. Eine wesentliche Rolle spielt hier die persönliche Präferenz des jeweiligen Autors: Während etwa Thukydides im 5. Jh. v. Chr. in seiner Darstellung des Peloponnesischen Krieges ganz ohne Träume auskommt und fast keine Hinweise auf religiöse Praktiken gibt, fuhrt Cassius Dio im 3. Jh. n. Chr. die Tatsache seiner historiographischen Tätigkeit an sich auf Träume zurück und überliefert reichhaltiges Material, um die Herrschaft des Kaisers Septimius Severus als vorherbestimmt zu legitimieren. Die Aufnahme von Träumen in ein solches Werk 35

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Jean-Luc Gautier: Reve en France au XVIIe siecle. Une introduction. In: Revue des Sciences Humaines. 82. 1988. S. 7-24, hier S. 14f.; Christian Gehrke: Vorfreudiges Träumen. Geschichte des Traums von der Antike bis zur Romantik. In: Wege nach Weimar. Hg. von Gerhard Nasdala. Fernwald 2001. S. 87-94, hier S. 90f.; J.-C. Schmitt (Anm. 2) S. 281, verweist für die Physiologie vor allem auf Descartes. Daß von ihm und anderen vorwiegend Aristoteles rezipiert wurde, verwundert nicht. Fran^oise Charpentier: Avant-propos. In: Le songe ä la Renaissance. Hg. von Frangoise Charpentier. Saint-Etienne 1990. S. 5-7, hier S. 6, benennt die folgenden Themen: Herkunft der Träume, Wahrhaftigkeit, Abhängigkeit von der persönlichen Konditionierung des Träumenden, Umstände des Traumes, Unterschied zwischen Traum und Vision. Zudem hielt die pagane wie christliche Literatur genügend Beispiele bereit, in denen die Götter oder gar der biblische Gott trügerische Träume übermittelten: K. Speckenbach (Anm. 4) S. 174f.; J. Le Goff (Anm. 7) S. 273. Dazu Gregor Weber: Traum und Alltag in hellenistischer Zeit. In: ZRGG. 50. 1998. S. 2239; Gregor Weber: Träume und Visionen im Alltag der römischen Kaiserzeit. Das Zeugnis der Inschriften und Papyri. In: Quaderni Catanesi. n.s. 4—5. 2005-06. S. 55-121. Christine Walde: Die Traumdarstellungen in der griechisch-römischen Dichtung. München, Leipzig 2001.

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kann also denselben Sinn haben w i e in der Dichtung, sie kann aber auch bestimmte Handlungen des Träumenden rechtfertigen oder verstehen helfen. In diesen

Kontexten finden sich, ähnlich w i e in der mittelalterlichen Literatur,

keine A u s s a g e n zur Traumtheorie, sondern verschiedene Arten v o n Träumen selbst. 4 0 Einen stark ausgeprägten B e z u g z u m K o n v e r s i o n s g e s c h e h e n w e i s e n die Träume in den zahlreichen Heiligenviten auf, die später als Bestätigung des eing e s c h l a g e n e n W e g e s angesehen werden. 4 1 In d i e s e m Z u s a m m e n h a n g sind auch der N e u b a u oder die monumentale Erweiterung einer Kirche s o w i e die Hilfe während eines Kirchenbaues zu nennen

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ebenso bildliche Darstellungen v o n Träu-

m e n - e t w a in K o d i z e s , Glasfenstern, Fresken und auf Kapitellen - mit einer zusätzlich beglaubigenden Wirkung. 4 3 A u ß e r d e m w e i s e n w e s e n t l i c h e Teile der ,weltlichen' lateinischen und volkssprachlichen Literatur des Mittelalters Träume auf. Hierzu zählen das Rolandslied des P f a f f e n Konrad ( 1 1 7 0 ) , 4 4 der französische Rosenroman, 4 5 Parzifal und Lancelot, 4 6 i m Bereich der englischen Literatur (mit

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K. Speckenbach (Anm. 4) S. 176f., unterscheidet sinnliche, täuschende und mantische Träume, während teuflische Traumtäuschungen in der deutschen Dichtung nicht bekannt zu sein scheinen. Träume erhalten zudem seit dem 12. Jh. „zunehmend eine formale, Aussage und Verlauf der Handlung konstituierende Funktion", so Η. H. Lauer (Anm. 25) S. 963. W. Haubrichs (Anm. 4) S. 255f., der auch die Visionen als Zeugnis für die Begnadung eines Heiligen und göttliche Erwähltheit ansieht. Zur entsprechenden Tradition, von der Visio Baronti (678/79) zur Visio Thurkilli (1206): Peter Dinzelbacher: Art. Visio(n), -sliteratur. B. Ikonographie. In: Lexikon des Mittelalters. 8. 1997. Sp. 1734—1747; Jenseitsreisen mit der Schau von Himmel und Hölle, beides zu didaktischen Zwecken, sind hier besonders verbreitet. Dazu Carolyn Μ. Carty: The Role of Medieval Dream Images in Authenticating Ecclesiastical Construction. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte. 62. 1999. S. 45-90. Dabei kann es sich um aus der Bibel bekannte Szenen (vgl. Jean-Claude Schmitt: Bildhaftes Denken. Die Darstellung biblischer Träume in mittelalterlichen Handschriften. In: Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien. Hg. von Agostino Paravicini Bagliani, Giorgio Stabile. Stuttgart 1989. S. 9-24; Giuliana Pasucci: , Visio et Somnium' nel manoscritto silvestriano 212. In: Sogno e racconto. Archetipi e funzioni. Hg. von Gabriele Cingolani, Marco Riccini. Florenz 2003. S. 97-112), ebenso politische bzw. zeitgenössische Anspielungen handeln, dazu M. Zehnpfennig (Anm. 10) S. 1-10 und S. 21-23. Der Träumende wird dabei meist liegend und mit geschlossenen Augen im Gegensatz zum Visionär mit offenen Augen dargestellt. P. Dinzelbacher (Anm. 41) Sp. 1747, zufolge ist die Visionsliteratur eher selten illuminiert, dagegen finden sich „öfter visionäre Einzelszenen in Heiligenviten"; noch seltener sind Schauungen historischer Visionäre in der Monumentalmalerei. Zu den Träumen und zur französischen Vorlage (,chanson de Roland'): Karl-Ernst Geith: Die Träume im Rolandslied des Pfaffen Konrad und in Strickers Karl. In: Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien. Hg. von Agostino Paravicini Bagliani, Giorgio Stabile. Stuttgart 1989. S. 227-240. Kathryn L. Lynch: The High Medieval Dream Vision. Poetry, Philosophy and Literary Form. Stanford 1988; Eberhard König: ,Atant fu jourz, et je m'esveille'. Zur Darstellung des Traums im Rosenroman. In: Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien. Hg. von Agostino Paravicini Bagliani, Giorgio Stabile. Stuttgart 1989. S. 171-182; Herman Braet: Der Roman der Rose, Raum im Blick. In: Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien.

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einer bemerkenswerten Konzentration an Traumdichtung zwischen 1350 und 1400) Chaucer,47 Langlands , Vision of Piers Plowman' und der Pearl-Dichter,48 schließlich in Italien Dante und Boccaccio.49 Überall sind klare Strategien erkennbar: Die Autoren nützen Träume zum Aufbau von Spannung, informieren die Leser, damit sie mehr wissen als die Protagonisten, lassen letztere in der Unsicherheit zurück, ob sich die Träume erfüllen. Prophetische Träume waren am beliebtesten, weil sie am Beginn erzählt werden konnten und sich das folgende Geschehen dann als Erfüllung derselben gab.50 Träume stellten einen verbreiteten Bezugsrahmen in literarischen Texten dar, weil ihnen eine größere Bedeutung als das alltägliche Leben zukam. Die Träume und ihre Deutung sind deshalb in einen spezifischen kulturellen Kontext zu stellen:51 Hierbei ist evident, daß mit Heiligenviten und Inkubationsberichten eine

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Hg. von Agostino Paravicini Bagliani, Giorgio Stabile. Stuttgart 1989. S. 183-192; G. Haag (Anm. 1) S. 42. K. Speckenbach (Anm. 4) S. 177f. und S. 180-192; Mireille Demaules, Christiane Marchello-Nizia: Träume in der Dichtung. Die Ikonographie des ,Lancelot-Graal' (13. - 15. Jh.). In: Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien. Hg. von Agostino Paravicini Bagliani, Giorgio Stabile. Stuttgart 1989. S. 209-226. Zu Chaucers ,Book of the Duchess', ,House of Fame', ,Parliament of Fowls' und .Legend of Good Woman': Constance B. Hieatt: The Realism of Dream Visions. The Poetic Exploitation of the Dream-Experience in Chaucer and his Contemporaries. Paris 1967; James Winny: Chaucer's Dream-Poems. New York 1973; Anthony C. Spearing: Medieval DreamPoetry. Cambridge 1976; B. A. Windeatt: Chaucer's Dream Poetry. Sources and Analogues. Cambridge 1982; Wilhelm G. Busse: Träume sind Schäume. In: Traum und Träumen. Inhalt, Darstellung und Funktion einer Lebenserfahrung. Hg. von Rudolf Hiestand. Düsseldorf 1994. S. 43-65; Stefania D'Agata D'Ottavi: Sogno e scrittura in Chaucer. In: Sogno e racconto. Archetipi e funzioni. Hg. von Gabriele Cingolani, Marco Riccini. Florenz 2003. S. 148-159. K. L. Lynch (Anm. 45); Peter Brown: On the Borders of Middle English Dream Vision. In: Reading Dreams. The Interpretation of Dreams from Chaucer to Shakespeare. Hg. von Peter Brown. Oxford 1999. S. 22-50. Zu Dante: Allen Mandelbaum: ,Ruminando e mirando'. La Capra di Dante. In: I linguaggi del sogno. Hg. von Vittore Branca, Carlo Ossola, Salomon Resnik. Florenz 1984. S. 407416; Dino S. Cervigni: Dante's Poetry of Dreams. Florenz 1986; Andrea Desiderio: Un sogno, un risveglio: Dante e Jaufre. In: Sogno e racconto. Archetipi e funzioni. Hg. von Gabriele Cingolani, Marco Riccini. Florenz 2003. S. 42-56. Zu Boccaccio: Pierre Blanc: Vision d'amour et lumieres du reve: Decameron, IV, 5; IV, 6; IX, 7. In: Reves et recits de reves. Hg. von Claudette Perrus. Paris 1997. S. 89-116; Gabriele Cingolani: 'Una cosa oscura e terribile'. Boccaccio, Decameron, IV,6. In: Sogno e racconto. Archetipi e funzioni. Hg. von Gabriele Cingolani, Marco Riccini. Florenz 2003. S. 70-83. Später wurde die Gestaltung des latenten Traumgedankens wichtiger: Thomas Eicher: Nur geträumt. Traumtexte der deutschsprachigen Literatur seit der Aufklärung. Dortmund 1997. S. 12f. und S. 15, dort auch zu typischen und untypischen Elementen bei der Darstellung von authentischen Träumen. Vgl. das methodische Plädoyer von Anthony C. Spearing: Introduction. In: Reading Dreams. The Interpretation of Dreams from Chaucer to Shakespeare. Hg. von Peter Brown. Oxford 1999. S. 1-21, hier S. 3, „to place dreams and their interpretation more exactly in

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erhebliche Wirkung angezielt war - und dies auch, wenn das vermeintliche Traumereignis schon vergleichsweise lange vergangen und nicht nachprüfbar war. Entscheidend blieb, daß im Sinne eines Werbeeffektes ein prominentes Ereignis oder eine prominente Person mit dem entsprechenden Ort oder Heiligtum verbunden war.52 In der Renaissance nahm die Vielfalt der Traumkontexte noch zu: „They continued to be used as literary constructs to frame material not easily acceptable when presented directly."53 Diese Entwicklung verdankte sich auch dem Interesse an Träumen und ihrer Deutung aus der Antike,54 zumal die Beschäftigung mit der Antike überhaupt gerne mit der Vorstellung von Traumerlebnissen verbunden war.55 Es entstand ein ganzes Netz von Beziehungen und Gattungstraditio-

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specific cultural contexts, which means in turn to define those contexts more exactly through the inclusion of new material and new understanding." Dies verhält sich ähnlich auch bei den Heilungsinschriften im Temenos des Asklepieion von Epidauros mit entsprechender priesterlicher Redaktion, dazu Lynn R. LiDonnici: The Epidaurian Miracle Inscriptions. Text, Translation and Commentary. Atlanta, Georgia 1995. In diesem Zusammenhang sei auf das Tafelbild des Großen Mariazeller Wunderaltars (um 1520) verwiesen, das eine Traumerscheinung des Hl. Wenzel zeigt, der Heinrich, dem Markgrafen von Mähren, die Heilung verspricht, dazu Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 21-23 (mit Abb. 1). A. C. Spearing (Anm. 51) S. 15f. (mit Belegen). Schriften über Typen von Divination und Magie, die auch Abrisse über antike Traumdeutung enthielten, wurden immer wichtiger: B. Näf (Anm. 30) S. 178 mit Anm. 623, verweist auf den spanischen Dominikaner Lope de Barrientos (1382-1469) mit einer Gliederung der Mantik, den Philologen Joachim Camerarius (1500-1574) mit einem kurzen zusammenfassenden Abriß und D. Iosephus Maria Maraviglia mit einem Werk über Divination (1662). Mehrere Auflagen erzielte Benedictus Pererius mit einem Werk über verschiedene superstitiones (Ingolstadt 1591, dazu Barbara Mahlmarm-Bauer: Die Bulle contra astrologiam iudicariam von Sixtus V., das astrologische Schrifttum protestantischer Autoren und die Astrologiekritik der Jesuiten. Thesen über einen vermuteten Zusammenhang. In: Zukunftsvoraussagen in der Renaissance. Hg. von Klaus Bergdolt, Walther Ludwig. Wiesbaden 2005. S. 142-222, hier S. 189f. und S. 205-215) sowie der Melanchthonschüler Caspar Peucer (1525-1602) über Divination mit acht Ausgaben zwischen 1553 und 1607 (Commentarius de praecipuis generibus divinationum, dazu Walther Ludwig: Zukunftsvoraussagen in der Antike, der frühen Neuzeit und heute. In: Zukunftsvoraussagen in der Renaissance. Hg. von Klaus Bergdolt, Walther Ludwig. Wiesbaden 2005. S. 9-64, hier S. 20-36. B. Näf (Anm. 30) S. 179, führt Francesco Colonnas Hypnerotomachia Poliphili an, 1499 bei Aldus Manutius in Venedig erschienen (dazu Giorgio Agamben: II sogno della lingua. Per una lettura del Polifilo. In: I linguaggi del sogno. Hg. von Vittore Branca, Carlo Ossola, Salomon Resnik. Florenz 1984. S. 417-430; Gilles Polizzi: Le songe de Poliphile. Renovation ou metamorphose du genre litteraire. In: Le songe ä la Renaissance. Hg. von Franijoise Charpentier. Saint-Etierme 1990. S. 85-97; Aleida Assmann: Traum-Hieroglyphen von der Renaissance bis zur Romantik. In: Die Wahrheit der Träume. Hg. von Gaetano Benedetti, Erik Homung. München 1997. S. 119-144, hier S. 123f.); außerdem wurden Metaphern und Formulierungen aus der Antike immer wieder zitiert, etwa bei Calderon, Rabelais, Shakespeare, in Joachim du Beilays (1522-1560) ,Songe' (dazu Guy Demerson: Le songe de J. du Beilay et le sens des recueils romains. In: Le songe ä la Renaissance. Hg. von FranQoise Charpentier. Saint-Etienne 1990. S. 169-178; Ludwig Schräder: Joachim Du Beilays ,Son-

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nen,56 wobei sich bereits hier nachdrücklich die Frage nach der Verbindung der Diskurse stellt: Zwar lassen sich bei etlichen Autoren Belege für alle fünf Traumarten nach Macrobius finden, doch ist dieses Raster „für die Erfassung und Deutung des äußerst differenzierten Traummaterials und seines Beziehungsgeflechts zum Wacherleben der Charaktere" eher unbrauchbar.57 In diesen Texten ist freilich kein Interesse an einer Rekonstruktion der Überlieferung als solcher erkennbar, sondern entsprechende Motive werden abgewandelt und für eigene Zwecke eingesetzt.58

4. Traumdeutungsliteratur Das einzige erhaltene Traumbuch aus der Antike hat Artemidor von Daldis im 2. Jh. n. Chr. auf Griechisch verfaßt. Artemidor tritt in seinem fünf Bücher umfassenden Werk mit dem Anspruch auf, alles bisherige Wissen über Traumdeutung zusammengetragen zu haben. Beigesteuert hat er selbst nicht nur eine Traumtheorie, sondern ebenso deutungspraktische Anwendungen. Drei Aspekte sind zentral: Einmal die Anordnung der Traumsymbole nach Sachgegenständen von der Geburt des Menschen bis zu seinem Tod; dann die Abhängigkeit der Deutung vom Sozialstatus des Träumenden, insofern es einen Unterschied macht, ob ein freier Bürger oder ein Sklave, ein Mann oder eine Frau träumt; schließlich eine exakte Anamnese des Träumenden, bei der dessen persönliche Verhältnisse, das Alter, seine Gewohnheiten usw. zur Sprache kommen. Dahinter stand das Bemühen, Sicherheit bei der Deutung zu erzielen. Fragt man nach der Wirkweise und Akzeptanz dieses Vorgehens, stößt man auf die Schwierigkeit, daß Autor und Werk in der Folgezeit nicht zu greifen sind. Statt dessen kam es zu einer Vereinfachung der Deutung und einer Aufspaltung in zwei Stränge.59 Diesen ist gemeinsam, daß

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ge' (1588) - eine Vision des Untergangs. In: Traum und Träumen. Inhalt, Darstellung und Funktion einer Lebenserfahrung. Hg. von Rudolf Hiestand. Düsseldorf 1994. S. 85-109), bei der mexikanischen Schwester und Dichterin Sor Juana Ines de la Cruz (1649-1695), bei Descartes, der von antiken Autoren träumte, oder bei Sir Thomas Browne (1605-1682). W. Haubrichs (Anm. 4) S. 243, verweist auf die „Wechselwirkung von impliziter Zeichenhaftigkeit, Symbolstruktur der Träume bzw. der Visionen und expliziter allegorischer Formung der Texte, auf die Rückbezüglichkeit von Offenbarungspotential und Exegesebedürftigkeit innerhalb der Gattungstradition." Am Beispiel von Shakespeare: H. Hammerschmidt-Hummel (Anm. 30) S. 23. Dies gilt auch für bildliche Umsetzungen, etwa das Aquarell ,Traumgesicht' (1525) von Albrecht Dürer, der seine Träume auch weiter erzählte: Peter Burke: L'histoire sociale des reves. In: Annales (ESC). 28. 1973. S. 329-342, hier S. 334; M. Zehnpfennig (Anm. 10) S. 15-17; Joachim Poeschke: Dürers ,Traumgesicht'. In: Traum und Träumen. Inhalt, Darstellung und Funktion einer Lebenserfahrung. Hg. von Rudolf Hiestand. Düsseldorf 1994. S. 187-206. Jutta Grub: Das lateinische Traumbuch im Codex Upsaliensis C 664 (9. Jh.). Eine frühmittelalterliche Fassung der lateinischen Somniale-Danielis-Tradition. Kritische Erstedition mit Einleitung und Kommentar. Frankfurt a. M. 1984. S. XXVI.

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die Traumsymbole nun alphabetisch angeordnet sind und der soziale Kontext des Träumenden fast völlig ausfällt. Offenbar war Artemidors Vorgehen mit den Differenzierungen zu komplex; 6 0 ein einfach strukturiertes und kürzeres Buch ließ sich auch besser verbreiten. Ein Traditionsstrang betrifft den griechischsprachigen byzantinischen Osten zwischen dem 9. und dem 13. Jahrhundert: Überliefert sind Werke unter den Namen Astrampsychos und Pseudo-Nikephoros, Germanos und - vorgeblich arabisch - Achmet. 61 Solche Traumbücher befanden sich im Gepäck von umherziehenden Kaisern bzw. waren in Konstantinopel erhältlich und wurden auch konsultiert. 62 Der andere Traditionsstrang betrifft den lateinischen Westen, geht vielleicht auf griechische Vorlagen zurück und erfuhr im Hochmittelalter volkssprachliche Übersetzungen und Adaptationen. 63 Auch hier bleiben die Verfasser, die eine Säuberung von unchristlichen Inhalten vornahmen, anonym. In wie weit mündliche Traditionen und so genannter Volksglauben, abweichend von der offiziellen kirchlichen Linie, hier eingeflossen sind, wird kontrovers diskutiert. 64 Drei Formen solcher Traumbücher lassen sich unterscheiden: 65 1. Traumkalender und Mondtraumbücher, bei denen nicht der Trauminhalt, sondern der Zeitpunkt des Traums entscheidend war. 66 2. Traumlosbücher, bekannt unter dem Gattungsnamen somniale Ioseph. Sie waren nach dem berühmten Deuter des Pharaos im

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Zur drastischen Reduktion und Verarmung und zum symbolischen Umschwung: G. Guidorizzi (Anm. 15) S. 157f. und S. 170. Zu Achmet: K. Speckenbach (Anm. 4) S. 173; C. Röhnert (Anm. 19) S. 70-72, mit Zweifeln am Rückgriff auf arabische Quellen; eine umfassende Analyse bei Maria Mavroudi: A Byzantine Book on Dream Interpretation. The Oneirocriticon of Achmet and its Arabic Sources. Leiden 2002; B. Näf (Anm. 30) S. 174f., zufolge wurde das Buch von einem Christen im 10. Jahrhundert verfaßt. G. Guidorizzi (Anm. 15) S. 160; K. Brackertz (Anm. 28) S. 206 mit Anm. 6; P. E. Dutton (Anm. 7) S. 34. Zu den verschiedenen Einflüssen - pagan, christlich und später arabisch: C. Röhnert (Anm. 19) S. 60f. und 63f.; Zur Manuskripttradition (lateinisch seit dem 9. Jh., englisch seit dem 11. Jh.): Nigel F. Palmer, Klaus Speckenbach: Träume und Kräuter. Studien zur Petroneller ,Circa instans'-Handschrift und zu den deutschen Traumbüchern des Mittelalters. Köln 1990. S. 128f. sowie S. 194 mit dem Hinweis, daß „die Traumbücher häufig in lat./dt. Mischkodizes Aufnahme gefunden haben"; G. Haag (Anm. 1) S. 45. Steven F. Kruger: Dreaming in the Middle Ages. Cambridge 1992. S. 14. Zur Einteilung: Steven R. Fischer: Das Somniarium. Ein mittelalterliches Traumbuch. Bern 1989. S. 92; S. Schlemm (Anm. 3) S. 101; Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 172-181; N. F. Palmer, K. Speckenbach (Anm. 63) S. 123-210, wo noch ein vierter Typ - nach Rhazes (S. 183-193) - aufgenommen ist, bei dem es nicht um Prognostik der Träume geht, sondern - durchaus in antiker Tradition (Anm. 27) - um die Auswertung von Träumen „mit Hilfe der Lehre von den vier Kardinalsäften für die Diagnose von Krankheiten" (S. 124). Dazu N. F. Palmer, K. Speckenbach (Anm. 63) S. 152-160, dort auch zu den im 16. Jahrhundert entstandenen Traumtafeln.

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Buch Genesis benannt und erfreuten sich beachtlicher Verbreitung. 67 Bei ihnen war ebenfalls nicht der Trauminhalt, sondern der Umstand des Träumens bedeutsam. Nach der Verrichtung eines Gebetes schlug man eine beliebige Seite in einem Gebetbuch auf, schaute nach dem ersten Buchstaben und sah unter diesem in einem Traumlosbuch nach. 3. Traumdeutungsbücher, in denen man den Trauminhalt unter einem bestimmten Stichwort nachsehen konnte und zukünftige Ereig68

nisse angezeigt bekam. Diese Bücher werden als somnialia Danielis bezeichnet, benannt nach der bekannten Gestalt im alttestamentlichen Danielbuch und vermutlich in das 7. Jahrhundert zurück reichend. Sie haben den erhaltenen Manuskripten zufolge die größte Verbreitung gefunden, 69 was nicht zuletzt an der einfachen Handhabung - stichwortartige Deutung und ein Satz zur Signifikanz gelegen haben dürfte. 70 In Umfang und Inhalt weichen die erhaltenen Exemplare nicht nur erheblich voneinander ab, sondern weisen auch interne Widersprüche auf. 71 Verbreitung und Benutzung von zwei Adaptationen sind weniger hoch zu veranschlagen. Es handelt sich um den Liber Thesauri occulti des Pascalis Romanus von 1165, der Auszüge von Artemidor und Achmet in lateinischer Sprache aufgriff, doch in der Einleitung deutlich formuliert, daß Träumen nicht zu trauen sei.72 Etwa zur gleichen Zeit wurden am Hof des byzantinischen Kaisers Manuel Komnenos die Traumbücher von Achmet und einem gewissen Apomasar durch Leo Tuscus ins Lateinische übersetzt. 73 Neben diesen Texten gab es keine eigenständigen mittelalterlichen Traumbücher, 74 da das Verhältnis dem Medium gegenüber zwiespältig war. Zwar blieb die Übereinstimmung mit der Bibel Maßstab auch für die Traumdeutung, doch bestand das Mißtrauen gegenüber mantischen Praktiken als paganen Relikten unverändert fort. Denn die in der christlichen Spätantike begonnene Tradition kirchlicher Verbote von Divinationsformen, dar67

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Josef Werlin: Das Traumbuch des armen Nikolaus von Prag. In: Stifter-Jahrbuch. 8. 1964. S. 195-208, hier S. 196; N. F. Palmer, K. Speckenbach (Anm. 63) S. 161-182; C. Röhnert (Anm. 19) S. 72f.; G. Haag (Anm. 1) S. 46f. Albertus Magnus zitiert diese Gattung als Autorität, nach der Träume zu interpretieren sind, dazu S. F. Kruger (Anm. 64) S. 15. L. Thorndike (Anm. 32) S. 295f.; Alf Önnerfors: Über die alphabetischen Traumbücher (Somnia Danielis) des Mittelalters. In: Medievalia. Abhandlungen und Aufsätze. Hg. von Alf Önnerfors. Frankfurt a. M. u.a. 1977. S. 32-57 (urspr. Eranos. 58. 1960. S. 142-158); K. Speckenbach (Anm. 4) S. 173f. mit Anm. 32; S. R. Fischer (Anm. 65) S. 95-112; Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 178-180; G. Haag (Anm. 1) S. 45. J.-C. Schmitt (Anm. 2) S. 275f., verweist auf Gegensätze wie GewinnHucrum - Verhist/damnum, Glück/Unglück. Beispiele bei J. Grub (Anm. 59) S. XXVIIf.; C. Röhnert (Anm. 19) S. 67f. Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 181f.; N. F. Palmer, K. Speckenbach (Anm. 63) S. 125f.; S. F. Kruger (Anm. 64) S. 16; B. Näf (Anm. 30) S. 175. L. Thorndike (Anm. 32) S. 292f.; K. Speckenbach (Anm. 4) S. 173; Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 181f.; N. F. Palmer, K. Speckenbach (Anm. 63) S. 125-127; G. Haag (Anm. 1) S. 45. C. Röhnert (Anm. 19) S. 65f.

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unter der Traumdeutung, setzte sich im Mittelalter fort und verfestigte sich bis zur Indexierung von Traumbüchern und zur Inquisition - ein deutliches Zeichen ihrer Wirkungslosigkeit. 75 Allerdings wissen wir kaum etwas über die Deutepraxis und über die agierenden Personen, nicht einmal, ob und wie diese Bücher zur Lektüre und zum Selbstversuch eingesetzt wurden, oder ob es sich um Geheimwissen handelte, das nur professionelle Deuter exklusiv gegen Geld anwandten. 76 Vielleicht ist in dieser Frage weiter zu kommen, wenn die Kontexte der überlieferten Schriften genauer in den Blick genommen werden. Das Interesse an der antiken Überlieferung in der Renaissance und der Buchdruck haben die weitere Verbreitung von Traumbüchern begünstigt - trotz theologischer und juristischer Bedenken und Verbote. 77 Zu unterscheiden ist zwischen reinen Übersetzungen und Adaptationen, bei denen antike Texte unverändert oder mit Auslassungen und Zusätzen versehen unter einem anderen Autorennamen verbreitet wurden. 78 Die Tradition der somnialia Danielis wie auch der byzantinischen Traumbücher bestand fort. Bekannt sind zahlreiche lateinische, griechische und volkssprachliche Drucke bis in das 16. Jahrhundert hinein, u.a. das 1508 in Augsburg gedruckte ,Traumbuch des armen Nikolaus von Prag', in dem knappe Deutungen zu Stichworten von Α bis Ζ angeblich aus vielen Schriften zusammengestellt wurden. 79 Nach 1550 sind derlei somnialia kaum mehr erschienen und waren seit 1570 Bestandteil umfassender Divinationsbücher: 80 Offenkundig verlor man angesichts der neuen Manuskriptfulle das Interesse an den einfachen Deutungen. Hingegen zog Achmet wieder die Aufmerksamkeit auf sich: Eine italienische Übersetzung wurde 1525 in Venedig gedruckt, eine neue lateinische erschien 1577 von Johannes Löwenklau, in Deutsch dann 1604. Aber auch seine Wirkung blieb begrenzt, da die dreigeteilten Deutungen - für den Mann, die Frau

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Hierzu siehe unten Anm. 148. Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 184-189; namentliche Hinweise auf Besitzer und Deuter bei N. F. Palmer, K. Speckenbach (Anm. 63) S. 196f. und S. 206f. Die Schließung der paganen Tempel in der Spätantike dürfte auch einen harten Schlag für die mündliche Traumdeutung bedeutet haben, wenngleich es schwer zu sagen ist, inwieweit die Deutepraxis im Verborgenen weiter bestand. Ein Teil des kulturellen Wissens ist dennoch in Büchern bewahrt worden: Vor allem in Ägypten und Syrien ging über die vorhandenen Materialien ein beträchtlicher Einfluß auf die arabische Oneirokritik aus. Fran?ois Berriot: Cles des songes fran9aises ä la Renaissance. In: Le songe ä la Renaissance. Hg. von FranQoise Charpentier. Saint-Etienne 1990. S. 21-31, hier S. 21 f. Eine erste Übersicht samt Auswertung bei Richard Cooper: Bibliographie d'ouvrages sur le songe jusqu'en 1600. In: Le songe ä la Renaissance. Hg. von Franijoise Charpentier. SaintEtienne 1990. S. 255-271, hier S. 270f. Marjorie B. Garber: Dream in Shakespeare: From Metaphor to Metamorphosis. New Haven 1974. S. 8f. mit Hinweisen auf weitere Traumbücher; J. Werlin (Anm. 67); Felizitas Fuchs: Von der Zukunftsschau zum Seelenspiegel. Eine Studie zur Traumauffassung und Traumdeutung am Beispiel deutschsprachiger Traumbücher. Aachen 1987. S. 103f.; N. F. Palmer, K. Speckenbach (Anm. 63) S. 142f.; S. Schlemm (Anm. 3) S. lOlf. F. Fuchs (Anm. 79) S. 102f.

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und den Kaiser - zu wenig differenziert erschienen.81 Dies gilt auch für das frühe deutsche Traumbuch des Hans Lobenzweig von 1452, das sich der Kirche gegenüber - verstärkt durch Bibelstellen - deutlich absicherte. 82 Über eine Einteilung nach Sachgruppen hinaus wurde die Vorlage des Pascalis Romanus in Dialogform umgearbeitet und die medizinische Nützlichkeit betont. Aufgrund der Kombination eines physiologischen mit einem theologischen Ansatz und der daraus resultierenden Zwiespältigkeit konnte jedoch eine wirksame Hilfe für die Praxis nicht erreicht werden. Artemidor, dessen Wirkmächtigkeit im Mittelalter zwar angenommen wird, von dem aber keine Handschriftentradition bekannt ist, erlebte eine wahre Renaissance: 83 1492 brachte Ianos Laskaris ein Artemidor-Manuskript von Kreta nach Italien, das 1518 erstmals auf Griechisch in Venedig gedruckt wurde, unter anderem zusammen mit der Traumschrift des Synesios, die bereits 1516 publiziert worden war. 84 1539 erschien es in einer lateinischen Übersetzung durch Janus Cornarius (Basel), 1546 Französisch in Lyon, 1644 Englisch mit 24 Auflagen bis 1740. 1540 wurde Artemidor nach der lateinischen Cornarius-Übersetzung durch den Mediziner Walter Hermann Ryff ins Deutsche übersetzt und bei Balthasar Beck in Straßburg gedruckt. 85 Ryff nahm Kürzungen, Auslassungen und Umdeutungen im Text vor und gab die Übersetzung als eigenes Werk aus. Von Ryff bzw. Artemidor sind bis zum Ende des 16. Jahrhunderts insgesamt 78 deutsche Ausgaben bekannt, deren praktische Verwendbarkeit durch Ryffs Vorrede und ein Register erheblich gesteigert wurde. Ryff konzedierte diagnostische Möglichkeiten der Traumdeutung, was im Zeithorizont - etwa Scaligers Übersetzung und Kommentierung der pseudo-hippokratischen Schrift über die Träume von 1539 zu sehen ist.86 81 82

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K. Speckenbach (Anm. 4) S. 173; C. Röhnert (Anm. 19) S. 72. S. R. Fischer (Anm. 65) S. 93; Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 182; N. F. Palmer, K. Speckenbach (Anm. 63) S. 126; C. Röhnert (Anm. 19) S. 73-83, demzufolge eine anonyme expositio sompniorum aus dem 13. Jahrhundert die Vorlage abgab, dazu L. Thorndike (Anm. 32) S. 297-300. Keith Thomas: Religion and the Decline of Magic. Studies in Popular Beliefs in Sixteenthand Seventeenth-Century England. London 1973. S. 129f.; Μ. B. Garber (Anm. 79) S. 8; K. Speckenbach (Anm. 4) S. 172f.; B. Näf (Anm. 30) S. 177. Synesios wurde bereits im 14. Jahrhundert durch Nikephoros Gregoras kommentiert, dann 1489 von Marsilio Ficino ins Lateinische übersetzt. Thomas Rahn: Traum und Gedächtnis. Memoriale Affizierungspotentiale und Ordnungsgrade der Traumgenera in der Frühen Neuzeit. In: Ars Memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400-1750. Hg. von Jörg J. Berns, Wolfgang Neuber. Tübingen 1993. S. 331-350; C. Röhnert (Anm. 19) S. 83-89; B. Näf (Anm. 30) S. 177; bes. Ludger Grenzmann: Traumbuch Artemidori. Zur ersten Übersetzung ins Deutsche durch W. H. Ryff. Baden-Baden 1980. S. 61-64, mit Überlegungen zum Leserkreis, der vermutlich im Umfeld der Straßburger Wiedertäufer zu sehen ist. In der Einleitung findet sich eine vorzügliche Problemanalyse, vgl. auch den Schluß der Einleitung: concludendum est et a Deo posse somnia demitti, dazu B. Näf (Anm. 30) S. 177f., ebenso zur Kommentierung des Somnium Scipionis durch Juan Luis Vives. Zu

Träume und ihre Deutung

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R y f f s T r a u m b u c h fand w e i t e r e V e r w e n d u n g . Ein K o m p i l a t o r hat es 1 5 7 0 mit einer K u r z f a s s u n g v o n M e l a n c h t h o n s P o s i t i o n zur Traumdeutung als „Erinnerung e n M e l a n c h t h o n s " h e r a u s g e g e b e n . Darin wird der Wert v o n

prognostischen

T r ä u m e n für Christen anerkannt, d o c h die Ü b e r e i n s t i m m u n g mit der B i b e l z u m e n t s c h e i d e n d e n Kriterium erhoben. 8 7 Z u s a m m e n g e s t e l l t ist auch e i n e A u s w a h l b e rühmter Träume aus der A n t i k e als B e w e i s für die Richtigkeit

weissagender

Träume. E i n e Fortentwicklung stellt das v o n H i e r o n y m u s Cardanus verfaßte Traumbuch dar ( 1 5 6 2 , deutsch 1 5 6 3 ) , das sich p o l e m i s c h mit der entsprechenden Schrift d e s S y n e s i o s auseinander setzt u n d a u f Artemidor und A c h m e t B e z u g nimmt. Eigenständigkeit suggeriert der Autor mit der B e h a u p t u n g , d i e Vorläufer hätten alles ungeordnet präsentiert und v e r f ü g t e n über keine adäquate M e t h o d e . 8 8 D e r E r f o l g g a b i h m recht, da er b i s in das 18. Jahrhundert hinein n e b e n Artemidor und anderen als Autorität geführt wurde. A u c h i m 17. Jahrhundert riß die Traditio n v o n Traumdeutungstraktaten, die sich in e r h e b l i c h e m M a ß e der A u s f ü h r u n g e n verschiedenster V o r g ä n g e r bedienten, nicht ab. 8 9 Insgesamt bestand j e d o c h kein g r o ß e s Interesse an der G e s c h i c h t e der Traumdeutung, sondern es g i n g darum,

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88

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Scaligers Schrift (und anderen) ausführlich: Patrick Dandrey: La medecine du songe au XVIIe siecle. In: Revue des Sciences Humaines. 82:211. 1988. S. 67-101, hier S. 72-85; Amneris Roselli: I sogni di Ippocrate nell'interpretazione di Giulio Cesare Scaligero. In: II sogno raccontato. Hg. von Nicola Merola, Caterina Verbaro. Vibo Valentia 1995. S. 137150. Zu Melanchthons Position, in der Träume nach ihren Ursachen unterschieden und in ihrem prognostischen Wert anerkannt, jedoch für gefährlich gehalten werden: F. Fuchs (Anm. 79) S. 99f.; Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 171; W. Ludwig (Anm. 54) S. 29f. mit Anm. 50. Zum Traumbuch: Th. Rahn (Anm. 85) S. 331f.; C. Röhnert (Anm. 19) S. 84 und 89-94; P.-A. Alt (Anm. 17) S. 56-60; B. Näf (Anm. 30) S. 177. Zum Holzschnitt des Lucas Cranach d.J. ,Traum des Melanchthon' (1547): M. Zehnpfennig (Anm. 10) S. 17-20. Eine zunehmende Rolle spielen medizinische Erklärungen, denen zufolge Träume über das Temperament des Träumenden Aufschluß geben, dazu H. Hammerschmidt-Hummel (Anm. 30) S. 24f. Synesiorum somniorum omnis generis insomnia explicates libri quattuor, dazu Otto Gotthardt: Die Traumbücher des Mittelalters. Eisleben 1912. S. 5-13; Μ. E. WittmerButsch (Anm. 30) S. 171; H. Hammerschmidt-Hummel (Anm. 30) S. 24; C. Röhnert (Anm. 19) S. 94; P.-A. Alt (Anm. 17) S. 61-68; B. Näf (Anm. 30) S. 178. Die Nähe zu Synesios war nicht allein durch den gelehrten Kommentar, sondern durch die Analyse von zahlreichen eigenen Träumen gegeben. Zu Thomas Hills "The Most Pleasaunte Art of the Interpretacion of Dreames": Κ. Thomas (Anm. 83) S. 129f.; A. C. Spearing (Anm. 51) S. 17. Zu den Schriften von Scipion Dupleix (1606) und La Mothe Le Vayer (1643), in denen u.a. das Problem behandelt wird, warum Träume früher - anders als jetzt - als gottgesandt angesehen wurden: J.-L. Gautier (Anm. 35) S. 9f. und 18f.; P. Dandrey (Anm. 86) S. 88-96; Yves-Marie Berce: La raison des songes, chez Scipion Dupleix (1606). In: Revue des Sciences Humaines. 82:211. 1988. S. 123-131. Descartes war der sicheren Auffassung, daß die Träume übernatürlichen Ursprungs sind, während die Deuter der Renaissance meist von einem natürlichen Ursprung ausgingen, dazu A. C. Spearing (Anm. 51) S. 14f.

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das Vorhandene, etwa die Deutungen Artemidors, fortzuschreiben und an neue Gegebenheiten anzupassen.90 Es fällt auf, daß - ähnlich wie im Mittelalter, aber anders als in der Antike91 professionelle Deuter, sofern wir sie fassen können, einen astrologischen Hintergrund hatten bzw. enge Verbindungen zu professionellen Medizinern bestanden, was für ein engeres Zusammenrücken der entsprechenden Divinationsformen 92

steht. Ob damit eine zunehmende Verunsicherung der Menschen hinsichtlich ihrer irdischen und jenseitigen Zukunft verbunden war,93 läßt sich nicht vorschnell bejahen, da sich für Epochen der antike Geschichte Zuschreibungen wie ,Zeitalter der Angst' o.ä. als problematisch erwiesen haben. Artemidor wirkte thematisch und methodisch fort, da die Gliederung nach Lebensbereichen erhalten blieb und - gerade mit Blick auf Deutungsprinzipien wie Analogieschlüsse und die Interpretation nach dem Gegenteil - neu mit Symbolgehalt, ebenso mit einem stärkeren Hang zum Moralisieren, aufgeladen wurde.94 Das Ausmaß der Anwendung von Traumdeutungsschlüsseln, die auch nur der Erbauung gedient haben könnten, durch Kleriker und Bürgerfamilien im konkreten Alltag ist schwer zu bestimmen. Allerdings wissen wir für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts, daß demjenigen, der sich in Lyon für Träume und ihre Deutung interessierte, reichhaltiges Schrifttum zur Verfügung stand.95 Wer sich der Mühe unterzog, diese Schriften zu lesen und praktisch für sich nutzbar zu machen oder gar andere dabei unterstützte, sei dahingestellt.96 Wenn im 18. Jahrhundert Traumbücher mit dem einfachen Volk assoziiert wurden, so steht dies mit der generellen Diskreditierung des Mediums in Zusammenhang und sagt nichts über dessen reale Verwendung 90 91 92

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B. Näf (Anm. 30) S. 174. Th. Ricklin (Anm. 1) S. 8f. K. Thomas (Anm. 83) S. 130. Vgl. auch den Hinweis bei P.-A. Alt (Anm. 17) S. 70 auf die Magia Naturalis des Giambattista della Porta (gedruckt 1585, deutsch 1612), in der sich „zahlreiche Rezepte für Speisen, die jeweils unterschiedliche Traumwirkungen erzeugen sollen", befinden. F. Berriot (Anm. 77) S. 31. F. Berriot (Anm. 77) S. 23-27. Das Traumbuch „L'art et jugement des songes et visions nocturnes" des Arztes Anselme Julian um 1550, Scaligers Kommentar zur pseudo-hippokratischen Schrift, MacrobiusEditionen, lateinische und französische Artemidor-Übersetzungen sowie in einer Schrift des Arztes Auger Ferrier eine lateinische Kompilation aus Ps.-Hippokrates, Synesios und Galen - mit dem Ziel, die Relevanz von Träumen für die Indikation des Körpers aufzuzeigen, dazu F. Berriot (Anm. 77) S. 28-30; Richard Cooper: Deux medecins royaux onirocrites. Jehan Thibault et Auger Ferrier. In: Le songe ä la Renaissance. Hg. von Franijoise Charpentier. Saint-Etienne 1990. S. 53-60, hier S. 56-58. Weitere Belege, auch für das 17. Jahrhundert, bei Lise Andries: L'interpretation populaire des songes. In: Revue des Sciences Humaines. 82:211. 1988. S. 49-64, hier S. 49-51. L. Andries (wie Anm. 95) S. 59 zitiert Anselme Julian {Le palais du prince du sommeil, S. 79): „,Les songes des Roys ne prognostiquent que batailles, que conquetes, ruine ou accroissement de leurs Royaumes, famines, pestes & tremblements de terre.' Pour les gens du peuple, ,Leurs songes se bornent dans une mediocre etendue de leurs affaires domestiques'", was mit einer statusbezogenen Deutung in Verbindung gebracht wird.

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aus. 9 7 Immerhin k e n n e n wir Traumdeuter an d e n K ö n i g s h ö f e n und w i s s e n v o n Traumbüchern in k ö n i g l i c h e n B i b l i o t h e k e n , 9 8 w a s für eine p o l i t i s c h e R e l e v a n z der Traumdeutung spricht. 9 9

5. Politische Kontexte von Träumen Schaut m a n die für d e n U n t e r s u c h u n g s z e i t r a u m relevanten Z e u g n i s s e a u f d i e Frage hin durch, w e l c h e n Personen überhaupt Träume z u g e s c h r i e b e n wurden, stößt m a n a u f e i n e n h o h e n Anteil an Mitgliedern v e r s c h i e d e n e r Eliten: H e i l i g e , M ö n c h e , Kleriker, Päpste und K ö n i g e . D i e s e r B e f u n d b e s a g t nicht,

daß allein

d i e s e Personenkreise träumten, d e n n die Eigenart der Träume bestand gerade darin, daß sie sich nicht verbieten ließen und j e d e m zuteil w e r d e n konnten - nur d i e D e u t u n g konnte m a n zu sanktionieren versuchen. Freilich w u r d e n fast nur die Träume der genannten Eliten (oder s o l c h e , die auf sie b e z o g e n w a r e n ) a u f g e z e i c h n e t und als überlieferungswert erachtet. 1 0 0 D i e s e n Personen w u r d e eine derartige A u f m e r k s a m k e i t nicht zuteil, w e i l ihre Träume als b e s o n d e r s authentisch a n g e s e h e n wurden, 1 0 1 sondern w e i l sie den Göttern b z w . d e m christlichen Gott nahestanden. Ihre Träume waren also v o n Interesse, w e i l ihre C h a n c e n größer

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Vgl. das Zedler'sche Lexikon (1745) zum Traumbuch (Verfasser nicht namentlich gekennzeichnet): „ein unter den gemeinen Leuten sehr gebräuchliches gedrucktes Büchlein", dazu F. Fuchs (Anm. 79) S. 106f. Dies suggeriert dessen Verwendung im Sinne des Somniale Danielis durch die unteren Schichten, dazu C. Röhnert (Anm. 19) S. 94f. Für den weiteren Kontext: Manfred Engel: ,Träumen und Nichtträumen zugleich'. Novalis' Theorie und Poetik des Traums zwischen Aufklärung und Hochromantik. In: Novalis und die Wissenschaften. Hg. von Herbert Uerlings. Tübingen 1997. S. 143-168, hier S. 146f.; P.-A. Alt (Anm. 17) S. 130f. F. Berriot (Anm. 77) S. 21, nennt Jehan Thibault als ,medecin ordinaire et expositeur' von Karl V. und Franz I.; er verweist auf eine ,Exposicion des songes' in der Privatbibliothek der Margarete von Österreich sowie auf Interpreten und Astrologen im Umfeld von Katharina de Medici (dazu auch Robert J. Knecht: Catherine de' Medici. London, New York 1998. S. 220-223), an deren Hofsich auch der Künstler Giorgio Ghisi (1520-1582) befand, von dem ein Bild ,11 sogno di Raffaello' stammt, dazu Peter Davidson: II sogno di Raffaello. In: Sogno e racconto. Archetipi e funzioni. Hg. von Gabriele Cingolani, Marco Riccini. Florenz 2003. S. 160-173; für Italien im 16. Jahrhundert vgl. Marina Beer: Sognare a corte. Trattati di oneirocritica della Controriforma italiana. In: Educare il corpo, educare la parola nella trattatistica del Rinascimento. Hg. von Giorgio Patrici, Amedeo Quondam. Rom 2003. S. 271-296. - Für die Antike erfahren wir sowohl von Traumbüchern, die konsultiert wurden, als auch von Deutespezialisten, die man befragen konnte; bei Konstantin waren es z.B. Priester. F. Charpentier (Anm. 36) S. 6. Eine Analyse des Visionsmaterials bei P. Dinzelbacher (Anm. 4) S. 125f.: Anfangs habe es sich bei den Visionären beinahe ausschließlich um Männer, Laien und Geistliche, gehandelt, in der zweiten Phase im Verlauf des 13. Jahrhunderts glich sich das Geschlechterverhältnis mehr als aus. So Macrobius anhand des somnium Scipionis, dazu G. Weber (Anm. 8) S. 8f. mit Anm. 55.

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waren, entsprechender Träume teilhaftig zu werden.102 Denn ihr Ausgang, sofern er als prognostisch relevant erachtet wurde, bestimmte nicht nur ein individuelles Schicksal, sondern war für weitere Kreise wichtig. Bereits Artemidor zufolge waren die Träume anderer dann politisch relevant, wenn vielen dieser Traum zuteil wurde.103 Träumende Könige und Kaiser stehen in einer langen Tradition, die mit Homer begann und über Alexander, Augustus und Nero bis in die Spätantike reichte. Die Kontexte sind sehr verschieden: Sie reichen von Träumen der Eltern vor der Geburt des künftigen Herrschers, in denen auf sein Schicksal voraus gewiesen wird, über Träume von der Verheißung der Herrschaft und von der Erringung eines Sieges, bis hin zu Charakterisierungen der Ausübung der Herrschaft und Träumen vom nahenden Ende - auch in Form von Alpträumen.104 Besonders häufig sind Träume im Zusammenhang mit Herrscher- und Dynastiewechseln überliefert, ebenso im Kontext des Todes. Aus dem spätantiken Material ist Konstantin herauszuheben, dessen bei Lactanz überlieferter Traum vor der Schlacht an der Milvischen Brücke viele Ausgestaltungen erfuhr und mit der Konversion des Kaisers zum Christentum in Verbindung gebracht wurde. Auch von einigen Nachfolgern Konstantins, etwa von Iulian und Iustinian, ist Material überliefert, bei Iulian in autobiographischem und historiographischem, dann gegen den Apostaten gerichtetem Kontext. Es bestätigt sich mehrfach, daß die Mitteilung von Träumen durch die Herrscher selbst nicht ungewöhnlich ist, wenngleich die mutmaßliche Herkunft der Träume sowie deren Verbreitung jeweils separat zu klären sind. Die Traumwelt wurde christlich: Nicht nur erscheinen Apostel, Heilige und Bischöfe im Traum, auch Reliquien werden aufgefunden und Nachfolger göttlich bestimmt.105 Die Träume der Kaiser und anderer von ihnen stehen im Kontext von Legitimierung, Aitiologie und postumer Abrechnung. Parallel dazu sind zwei Entwicklungen zu beobachten: Einmal eine immer stärkere Konzentration von Träumen und Traumfiguren auf Heilige und Märtyrer im Sinne eines Elitisie102 103

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P. E. Dutton (Anm. 7) S. 27f. Zwar führt er selbst dafür keine Beispiele an, doch hat die antike und frühmittelalterliche Literatur einige Fälle solcher Massenträume bewahrt, dazu G. Weber (Anm. 8) S. 9 mit Anm. 58. Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 268 verweist noch auf die von Jakob v. Vitry überlieferten Träume der muslimischen Bevölkerung im Hl. Land kurz vor der Eroberung Akkons 1191 durch die Kreuzritter; vor allem Christus, Maria und verschiedene Heilige hätten zur Konversion aufgerufen. Träume konnten für den Herrscher nach beiden Richtungen, stabilisierend und schädigend, ausschlagen, wobei sich jeweils die Frage nach der Herkunft und der Verbreitung des Traumes stellt. Moses und die Patriarchen des Alten Testamentes hatten klare Visionen erhalten, bei Königen und Propheten nahm die Rätselhaftigkeit zu, während pagane Herrscher wie der Pharao der Deuter bedurften, dazu J.-C. Schmitt (Anm. 43) S. 20-22; J. Le Goff (Anm. 7) S. 273. Zu Träumen im Kontext einer Abtwahl im mittelalterlichen England (1182): Busse (Anm. 47) S. 64f.

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rungsprozesses; 1 0 6 dann Versuche v o n Kaiser und Kirche, der Tendenz Verbreitung esoterischer Praktiken Herr z u werden. 1 0 7

zur

Privilegiertes Träumen kam in der Spätantike und danach k e i n e s w e g s an ihr Ende, w e n n g l e i c h bislang keine Übersicht über alle mit Herrschern im weitesten Sinne verbundenen Träume vorliegt, schon gar nicht nach Zeit und R e g i o n differenziert. 1 0 8 Ausgespart werden hier diejenigen Träume, die v o n Mitgliedern der Elite im Kontext v o n geistlichen B e r u f u n g e n und Heilungen, auch in inkubatoris c h e m Kontext, s o w i e v o n privaten Prophezeiungen überliefert sind. 1 0 9 D i e s gilt auch für die aus spanischen Inquisitionsprotokollen g e w o n n e n e n 4 0 0 Träume der einundzwanzigjährigen Lucrecia de Leon. 1 1 0 D i e s e s Material als s o l c h e s ist in Erinnerung z u behalten, weil es für eine erhebliche Verbreitung und einer geradez u kumulativen Wirkung v o n Träumen steht - trotz des W i s s e n s , daß Träume auch teuflischen Ursprungs und trügerisch sein können. 1 1 1 Im f o l g e n d e n erfolgt eine Orientierung an den Traummotiven. 1 1 2 Zunächst geht es u m Träume i m Kontext der Geburt, mit denen auf das künftige Schicksal hing e w i e s e n wird. Papst Sixtus IV. ( 1 4 7 1 - 1 4 8 4 ) ließ den N e u b a u des römischen 106 107 108

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Zur Elitisierung: J. Le Goff (Anm. 7) S. 305-311; P.E. Dutton (Anm. 7) S. 34f. Siehe unten S. 53f. Im 16. Jahrhundert blieb das Interesse an der Traumdeutung im Zusammenhang mit Herrscherpersönlichkeiten weiterhin virulent, dazu F. Berriot (Anm. 77) S. 21. Dazu Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) passim, u.a. S. 277f. und S. 296f. zu Bischof Ulrich von Augsburg; außerdem die Einleitung und die Texte bei Klaus Herbers, Lenka Jirouskovä, Bernhard Vogel: Mirakelberichte des frühen und hohen Mittelalters. Darmstadt 2005; für das frühe Mittelalter vgl. die eingehende Analyse des Materials bei I. Moreira (Anm. 4) S. 108-135. Traumberichte in weltlichem Kontext sind eher selten und auf das spätere Mittelalter und die Folgezeit beschränkt, vgl. Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 291-295. Der Prozeß dauerte vermutlich von 1590 bis nach 1595, vgl. R. L. Kagan (Anm. 32) S. 3f.: „Lucrecia's supporters claimed her dreams were divinely inspired prophecies, messages sent to God to caution Philip and his ministers. In early modern Europe prophecies were commonly promulgated to consolidate support for a new monarch or regime." Th. Ricklin (Anm. 1) S. 16f. Darüber hinaus gelingt es nur selten, Aspekte aus der mündlichen und volksnahen Tradition einzufangen. Das Material bei K. Thomas (Anm. 83) S. 642; Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 201209; I. Moreira (Anm. 4) S. 225f. Im 16./17. Jahrhundert gab es mit dem Schlafen auf Friedhöfen bzw. mit einer Bibel unter dem Kopf eine vergleichbare Praktik, dazu P. Burke (Anm. 58) S. 334; J. Le Goff (Anm. 7) S. 293. Das Motiv des Heiligen als Schlachtenhelfer bei verschiedensten Herrschern, das in der Spätantike christlich umgedeutet wurde, verlor nicht an Attraktivität; allerdings handelt es sich dabei weniger um wirkmächtige Träume, sondern um Visionen und Modi des direkten Eingreifens, etwa Angriffe der Engelsscharen oder ein aktives Mitkämpfen der Heiligen, dazu Frantisek Graus: Der Heilige als Schlachtenhelfer. Zur Nationalisierung einer Wundererzählung in der mittelalterlichen Chronistik. In: Festschrift für Helmut Beumann. Hg. von Kurt-Ulrich Jäschke, Reinhard Wenskus. Sigmaringen 1977. S. 330-348; bes. Klaus Schreiner: ,sygzeichen'. Symbolische Kommunikationsmedien in kriegerischen Konflikten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Sprachen des Politischen. Medien und Medialität in der Geschichte. Hg. von Ute Frevert, Wolfgang Braungart. Göttingen 2004. S. 20-94.

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Spitals Santo Spirito mit Stationen seiner Lebensgeschichte ausmalen.113 Ein Fresko zeigt den Traum seiner schwangeren Mutter Luchina, in dem die Heiligen Antonius und Franziskus dem ungeborenen Kind Gewand und Gürtel der Franziskaner überreichen.114 Dieser Traum wurde auch vom Historiographen des Franziskanerpapstes vermerkt. Die Funktion des Traumes, der sich motivisch in eine lange Reihe einordnet, dürfte in der Rechtfertigung der einfachen Abkunft des Papstes zusehen sein, der dazu wegen des von ihm gepflegten Nepotismus unter Druck geraten war.115 Indem die beiden Heiligen bereits vor der Geburt im Traum aktiv wurden, erfuhren Mutter und Sohn durch die Vorherbestimmung eine Aufwertung, auch wenn es nicht um das Papsttum ging. Dieses wird in einem Traum von der Verheißung der Herrschaft umgesetzt: Aeneas Piccolomini, der spätere Papst Pius II. (1458-1464), berichtet in seiner Geschichte Kaiser Friedrichs III. (1440-1493) von einem Gespräch des Habsburgers mit Papst Nikolaus V. (1447-1455) über Träume. Friedrich sei von Nikolaus, damals Bischof von Bologna, gekrönt worden, habe den Traum aber erst auf seinen Aufstieg zum Kaiser gedeutet, als Nikolaus Papst geworden war.116 Nikolaus habe den Kaiser wegen dieser Begebenheit nicht getadelt, sondern auf Wahrträume aus der Antike hingewiesen und einen eigenen Traum angefügt: Sein Vorgänger Eugen IV. habe ihn in der Nacht vor seinem Tod mit Tiara und Mantel eingekleidet, da er eine Pilgerfahrt zum Hl. Petrus zu unternehmen habe. Hier ist wichtig, daß Nikolaus V. in Felix V. einen auf dem Basler Konzil gewählten Rivalen hatte, dem gegenüber die Traumdesignation durch den Vorgänger eine klare Botschaft darstellte. Selbst wenn beide Träume erfunden wären, ging der Autor der Gesta Frederici III davon aus, sich und sein Erzählanliegen damit nicht zu diskreditieren. Die Überlieferung der beiden Träume ist um so bemerkenswerter, als Piccolomini darauf hinwies, daß „skeptische Zeitgenossen Träume und ihre Deutung nach Daniel oder Macrobius ablehnten."117 Diese Passage bietet einen wichtigen Hinweis darauf, daß Traumdeutungsbücher tatsächlich benutzt wurden, auch wenn man über den Personenkreis nichts erfährt. Reichhaltiges Traummaterial liegt für das Motiv der Ausübung von Herrschaft vor: Gregor von Tours berichtet von zwei Träumen, die sich auf den Merowingerkönig Chilperich (537-584) beziehen. Gregor informierte Chilperichs Bruder

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Zu Francesco della Rovere: August Franzen, Remigius Bäumer: Papstgeschichte. 2. Aufl. Freiburg 1978. S. 275-277. Zu den Träumen von (schwangeren) Müttern: Francesco Lanzoni: II sogno presago della madre incinta nella letteratura medievale e antica. In: Analecta Bollandiana. 45. 1927. S. 225-261; Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 326f. Ingeborg Walter: Der Traum der Schwangeren vor der Geburt. Zur Vita Sixtus' IV. auf den Fresken in Santo Spirito in Rom. In: Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien. Hg. von Agostino Paravicini Bagliani, Giorgio Stabile. Stuttgart 1989. S. 125-136; S. Schlemm (Anm. 3) S. 103. Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 170f. und S. 316. Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 171 mit Anm. 414.

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Guntram über einen eigenen Traum (per visionem somnii inspexi), demzufolge er König Chilperich - von ihm als „Nero und Herodes unserer Zeit" (Historia Francorum 6,46) bezeichnet - mit Tonsur sah, der auf einem schwarz ausgeschlagenen Bischofsstuhl herumgetragen wurde, schwach von Lampen und Kerzen beleuchtet. Er deutete den Traum, über dessen Zeitpunkt man nichts erfährt, als Hinweis auf den Tod, der als gerechte Strafe für die Bosheit des machtgierigen Chilperich - diskreditiert als „Bischof der Kirche des Antichrist" - angesehen wurde." 8 Der König steuerte daraufhin einen eigenen Traum bei (vidi ... visionem), auch hier ohne chronologische Fixierung, in dem Chilperich von drei verstorbenen Bischöfen des burgundischen Regnum - Tetricus von Langres, Agroecula von Chalon und Nicetius von Lyon - in Ketten gefesselt hereingebracht und vor eine Art Tribunal gestellt wurde; obwohl zwei Bischöfe für die Bestrafung und anschließende Freilassung votierten, setzte sich der dritte mit seinem Votum, dem Feuertod, durch: Und da sie solche Worte wechselten und noch viel und lange untereinander haderten, sah ich in der Ferne einen Kessel auf dem Feuer stehen, der war ganz glühend. Da ergriffen sie den unglücklichen Chilperich, während ich Tränen vergoß, brachen ihm die Glieder und warfen ihn in den Kessel. Und alsbald wurde er in dem siedenden Wasser so zerkocht und aufgelöst, daß auch nicht die geringste Spur von ihm übrig blieb. Der Text gibt keine Deutung, sondern bemerkt nur: Als dies der König erzählt, staunten wir (admirantibus nobis), und da das Mahl beendet war, erhoben wir uns. Weiterhin wird die emotionale Zerrissenheit des träumenden Guntram erwähnt, und die Traumsymbolik - schwarze Farbe und Feuertod - knüpft eng an antike Vorbilder an. Über Ursprung und Echtheit des Traums wird nicht reflektiert, er beinhaltet aber, weil die drei verstorbenen Bischöfe ihn glaubhaft machen, eine Rechtfertigung von Chilperichs Ermordung und gleichzeitig die Exkulpierung des Bruders von der Rachepflicht. Darüber hinaus wird durch die sich gegenseitig bestätigenden Träume ein Freund Gregors, Bischof Theodor von Marseille, vom Vorwurf entlastet, Chilperichs Ermordung betrieben zu haben. 119 König Heinrich I. von England (1068-1135, König seit 1100), jüngster Sohn von Wilhelm dem Eroberer, sah angeblich fünf Jahre vor seinem Tod (1130) im Traum, wie ihn die Stände der Gesellschaft - Bauern, Ritter und geistliche Würdenträger - nacheinander attackierten, was in einem Manuskript auch bildlich 1,8

119

Historia Francorum 8,5; dazu Giselle de Nie: Views from a Many-Windowed Tower. Studies of Imagination in the Works of Gregory of Tours. Amsterdam 1987. S. 285-287; Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 348-350; P. E. Dutton (Anm. 7) S. 35f.; Martin Heinzelmann: Gregor von Tours (538-594). ,Zehn Bücher Geschichte'. Historiographie und Gesellschaftskonzept im 6. Jahrhundert. Darmstadt 1994. S. 58; Claude Carozzi: Le voyage de l'äme dans l'au-delä d'apres la litterature latine (Ve - XIIIe siecle). Rom 1994. S. 64—66; I. Moreira (Anm. 4) S. 95-99. G. de Nie (Anm. 118) S. 286f.; Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 350.

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umgesetzt wurde.120 Der Traum, dessen Überlieferungsstationen en detail erzählt werden, diente der Charakterisierung des Königs, der angeblich angsterfüllt aufschrie und dem sein Arzt die Sühnung der Sünden anriet. Außerdem beinhaltete er eine Warnung, indem die kommende Unordnung der Gesellschaft angesichts der Usurpation von Heinrichs Neffen, Stephan von Blois (1135), vorweggenommen wird. Der Traum zeigt ein Leitbild auf, nämlich die Verteidigung der gesellschaftlichen Ordnung im Bund mit der sakralen Ordnung, womit es nicht um eine historisch exakte Anzeige des Kommenden, sondern um symbolische Elemente zur Sinndeutung geht.121 Karl der Große hat als Träumer eine enorme Fernwirkung weit über seinen Tod hinaus ausgeübt. Er war auf zwei Ebenen mehrfach Gegenstand von Träumen und Visionen: Zum einen stammen aus karolingischer Zeit über zwei Dutzend Traumvisionen mit politischem Inhalt, meist von Mönchen und Klerikern. Nach Karls Tod brachte diese Literatur mit Hinweisen auf Verfehlungen Karls Sorge und Hoffnung der Zeitgenossen zum Ausdruck.122 Zum anderen wird Karl der Große als ein König dargestellt, der mit prophetischen Träumen begabt war.123 Glasfenster in der Kathedrale von Chartres aus der Zeit nach 1215 stellen in Ausgestaltung des altfranzösischen Rolandliedes und anderer Schriften wie Pseudo-Turpin Szenen dar, in denen auf Karls erfolglosen und desaströsen Spanienzug von 778 angespielt wird:124 Einmal tritt Karl als Traumfigur in einem Traum Konstantins auf und verspricht Hilfe im Kampf gegen die Sarazenen;125 dann träumt Karl selbst, der Heilige Jakobus fordere ihn zur Befreiung seines Grabes in Santiago de Compostela auf. Daraus wird ein Missionsauftrag für den Westen abgeleitet, zumal Karl in anderen Zusammenhängen als erster Santiago-Pilger erscheint.126 Diese 120

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Überliefert in der Chronik des Johannes von Worcester; eine ausführliche Analyse bei Claude Carozzi: Die drei Stände gegen den König: Mythos, Traum, Bild. In: Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien. Hg. von Agostino Paravicini Bagliani, Giorgio Stabile. Stuttgart 1989. S. 149-160; Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 255f. Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 257, stellt einen Bezug zu Heinrichs Nachfolgeregelung her, derzufolge er in Ermangelung eines männlichen Thronerben seine Tochter Mathilde/Maude zur Nachfolgerin erklärte und damit bei seinen Untertanen auf erheblichen Widerstand stieß. J.-C. Schmitt (Anm. 2) S. 276f.; bes. umfassend P. E. Dutton (Anm. 7); Max Kerner: Karl der Große. Entschleierung eines Mythos. Köln, Weimar, Wien 2000. S. 173-178; zur Quellenlage insgesamt: Wolfgang Spiewok: Karl der Große als Mäzen und literarische Figur. In: Das , Rolandslied' des Konrad. Hg. von Danielle Buschinger, Wolfgang Spiewok. Greifswald 1996. S. 1-13. Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 109 mit Anm. 231. DazuM. Kerner (Anm. 122) S. 157-180. Konstantin selbst wird zur Traumfigur im Kontext von Auseinandersetzungen innerhalb der russischen Orthodoxie: Hans Hecker: Gottes Wille, himmlische Träume und die Reise der Weißen Mitra von Rom nach Novgorod. In: Traum und Träumen. Inhalt, Darstellung und Funktion einer Lebenserfahrung. Hg. von Rudolf Hiestand. Düsseldorf 1994. S. 129-152. Colette Deremble-Mannes: Die Traumwelt der Legenden in den Glasmalereien von Chartres. In: Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien. Hg. von Agostino Paravicini

Träume und ihre Deutung

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Konstruktionen gehören in den Kontext einer ,Renaissance' Karls im 12. Jahrhundert während der Konkurrenz zwischen Staufern und Kapetingern: Karl in seiner Verbindung mit dem ersten christlichen Kaiser und mit dem Heiligen Jakobus wird mit guten Taten für die Rechtfertigung eigener Ansprüche verbunden und dies - nicht nur hier - auch visualisiert. Ein Zusammenhang mit dem Pilgerweg und französischen Ansprüchen wird außerdem in einer Erscheinung Karls im Kontext des Baues von Cluny III hergestellt; zwar fand das relevante Ereignis bereits über 400 Jahre zuvor statt, doch ließ sich auf diese Weise Karls Erbe auf seinen aktuellen Nachfolger übertragen. 127 Auch Todesträume konnten instrumentalisiert werden, wenngleich sie - denkt man an den Traum Heinrichs II. von Frankreich (1547-1559) am Vorabend seines Todes, seine Insignien würden von Mönchen und den Volksmassen mit Füßen getreten 128 - gerne als Indizien für das nahende Ende genommen wurden. Dem späteren Kaiser Karl IV. von Luxemburg (1316-1378, Kaiser seit 1355) wurde im Alter von siebzehn Jahren im oberitalienischen Terenzo bei Parma eine Traumsequenz zuteil, von der er in seiner Autobiographie ausführlich berichtete. 129 In diesem Traum wird vor einer eindrucksvollen Kulisse mit zahllosen Engeln die Kastration und der Tod des verwandten Dauphin von Vienne dargestellt, was eine Deutung als Strafe für den ausschweifenden Lebenswandel und Warnung für die Lebenden erfuhr. Der Tod des Verwandten bestätigte sich dann in der Wachwelt, obwohl (oder: weil) Karl wegen seines Traumglaubens massiv getadelt worden war. 130 Der ansonsten als rational bekannte Karl zog insofern Konsequenzen, als er später für den Ort des Traums eine Kirchenstiftung und die Erneuerung der Marienliturgie verfugte. Die Begebenheit gehört zu Bestrebungen Karls, sich als ein Herrscher darzustellen, der bereits in jungen Jahren direkter göttlicher Botschaft gewürdigt wurde, und hieraus klare legitimatorische Unterstützung zu ziehen. 131 Träume der Päpste wurden noch in anderen Kontexten virulent: Nicht nur hat Papst Eugen III. im 12. Jahrhundert die Hl. Hildegard von Bingen ausdrücklich zu ihren Träumen und Visionen ermutigt, sondern der Traum von Papst Innozenz III. (1198-1216) aus dem Jahre 1210 gehört zu den berühmtesten und einfluß132 reichsten Träumen des Mittelalters überhaupt. Innozenz träumte, daß der Kir-

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Bagliani, Giorgio Stabile. Stuttgart 1989. S. 41-54, hier S. 4 5 ^ 7 und S. 50; C. M. Carty (Anm. 42) S. 65-73, bes. S. 73; zu weiteren bildlichen Wiedergaben des Motivs und schriftlichen Quellen: M. Kerner (Anm. 122) S. 158 und S. 169f. Carolyn Μ. Carty: Dreams in Early Medieval Art. Diss. Ann Arbor 1991. S. 146. Seine Frau, Katharina von Medici, träumte, ihr Ehemann verlöre ein Auge und hätte ein blutüberströmtes Gesicht, dazu R. J. Knecht (Anm. 98) S. 57f. Peter Dinzelbacher: Der Traum Kaiser Karls IV. In: Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien. Hg. von Agostino Paravicini Bagliani, Giorgio Stabile. Stuttgart 1989. S. 161-170; Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 279f. und S. 355-359. Eine politische Interpretation bei Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 357f. mit Anm. 824. Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 359. Neben biblischen Träumen ist dieser Traum im 13. und 14. Jahrhundert am meisten verbreitet: Julian Gardner: Päpstliche Träume und Palastmalereien. In: Träume im Mittelalter. Iko-

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chenbau der Lateranbasilika einzustürzen drohte, was allein ein kleiner Mönch verhindern konnte, der selbst zum Eckpfeiler wurde. Während einer Audienz für Franziskus von Assisi mit seinen Freunden, bei der es um die Bestätigung der Ordensregel und die Erlaubnis zur Wanderpredigt ging,133 erkannte Innozenz in Franziskus den Mönch aus seinem Traum wieder. Das Wissen um diesen prophetischen Traum muß - trotz einer Lücke zur Niederschrift von 37 Jahren - auf einen Bericht des Papstes zurückgehen. Der biographische Kontext legt es nahe, daß der gelehrte Innozenz den Kommentar des Macrobius kannte;134 da sich jedoch um diese Zeit auch einiges traumkritisches Schrifttum im Umlauf befand, ist die Offenlegung des Traums um so bedeutsamer einzuschätzen. Obwohl der päpstlichen Position zufolge „Offenbarungen, die Änderungen in der Kirchenverfassung vorschreiben, ... nach der Zeit der Apostel nicht mehr vorkommen können", wurde Innozenz' Traum nicht in Frage gestellt - nicht zuletzt deswegen, weil in der Folgezeit auch kein Papst gegen den Franziskanerorden vorging.135 Bekannt sind nicht nur künstlerische Ausgestaltungen der Begebenheit, etwa in Assisi selbst, sondern auch die spätere Aneignung des Traums durch den Dominikanerorden, der ebenfalls von Innozenz unterstützt worden war. Hieran wird die Zielrichtung des Traums, unabhängig von seiner Authentizität, deutlich: Die Gründung eines neuen Ordens - sichtbar an der Bestätigung der Ordensregel soll nicht nur durch den Papst beglaubigt werden, sondern auch durch Gott als eine höhere, Traum sendende Macht. Die Evozierung einer dramatischen Szenerie - denkt man an den drohenden Einsturz der Kirche - und die spätere Einfügung des Hl. Petrus als Traumfigur sind daher nur folgerichtig.136 Eine Grundvoraussetzung bestand in der Akzeptanz dieser Träume als prognostisch, unabhängig davon, wer - Heilige oder historische Personen - in ihnen auftrat und ob sie gedeutet wurden. Dies konnte sich auf die unmittelbare Zeitge-

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nologische Studien. Hg. von Agostino Paravicini Bagliani und Giorgio Stabile. Stuttgart 1989. S. 113-124, hier S. 115. Zur Quellenlage: Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 246f. Zu Lothar von Segni, bei seiner Wahl 37 Jahre alt, unter dem auch das 4. Laterankonzil abgehalten wurde, vgl. A. Franzen, R. Bäumer (Anm. 113) S. 197-205. Die Mehrheit der Kardinäle war offenkundig gegen eine neue Ordensgründung eingestellt: Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 246f. Zur Macrobius-Rezeption im 12. und 13. Jahrhundert: A. Hüttig (Anm. 21) S. 75-166. R. E. Lerner (Anm. 29) S. 366f. Von Interesse wäre zu wissen, inwiefern sich die Publikation päpstlicher Träume über das 15. Jahrhundert hinaus fortgesetzt hat und welchen Intentionen sie verpflichtet war, dazu Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 246: „Daß derartige Berichte nicht häufig sind, liegt wohl daran, daß die Autorität des Papstes wenigstens in geistlichen Dingen seit dem Hochmittelalter auch ohne nächtliche Offenbarungen allgemein anerkannt wurde." Chiara Frugoni: Die Träume in der Legende der drei Gefährten. In: Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien. Hg. von Agostino Paravicini Bagliani, Giorgio Stabile. Stuttgart 1989. S. 73-90, hier S. 80-83; Carlo Berteiii: Römische Träume. In: Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien. Hg. von Agostino Paravicini Bagliani, Giorgio Stabile. Stuttgart 1989. S. 91-112, hier S. 91f.; S. Schlemm (Anm. 3) S. 102f.; R. E. Lerner (Anm. 29) S. 35 lf. mit Anm. 28; J. Gardner (Anm. 132) S. 113-124, hier S. 114-119.

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Deutung

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schichte beziehen, etwa mit dem Vorgänger als Traumfigur, ebenso auf längst verstorbene Personen. Deutlich tritt die Legitimierung bestimmter Handlungen und der Herrschaft als zentraler Focus zutage, sowohl im kirchlichen als auch im weltlichen Bereich.137 Dies betrifft - über die behandelten Beispiele hinaus - die Einfuhrung von Neuerungen jeglicher Art, die durch Träume angekündigt, bestätigt und legitimiert werden konnten.138 Auffallend ist, daß in höherem Maße als in der Antike Träume die Ausübung einer Herrschaft betrafen, sowohl legitimierend als auch kritisierend. Verfehlungen werden zusammen mit moralischen Wertungen besonders thematisiert. Dabei wird auch auf Doppelträume zurückgegriffen, bei denen entweder zwei Personen träumen oder eine Person zwei (oder mehr) Träume aufzuweisen hat - klar in bestätigender und verstärkender Absicht. Freilich war nicht jedes derartige Ereignis oder jede Handlung mit einem Traum verbunden, d.h. es bestand kein Zwang zu einer solchen Ausgestaltung.139 Aussagen darüber, in welchen Kontexten und warum sich Träume finden und wann nicht, lassen sich nicht treffen bzw. unterstellen die Konstruktivität von Träumen. Eine ,Traumflut' wäre zu Lasten der Aussagekraft gegangen. Was die Authentizität des Materials angeht, liegen hier, denkt man an die Rezeption Karls des Großen oder den Traum des Kurfürsten Friedrichs des Weisen im Kontext von Luthers Thesenanschlag, Umdeutungen und Perspektivwechsel in legitimatorischer Absicht vor:140 Auch der Verweis auf Hunderte von Jahren zurückliegende Begebenheiten stellte kein Problem dar - im Gegenteil, die Bezugnahmen ergaben ein Netz an Anknüpfungspunkten. Festzustellen ist jedenfalls auch ein Interesse der Träumenden, auf die eigene Position glaubhaft hinzuweisen, und anderer Personen, prominente Träumende für sich und die eigenen Interessen zu vereinnahmen. Was dann in die Überlieferung Eingang fand und als beachtenswert angesehen wurde, war nicht nur dem Zufall der Überlieferung geschuldet, sondern auch der Selektion nach Relevanz.141 137 138 139

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Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 359. J.-C. Schmitt (Anm. 2) S. 274f. Hinzuweisen ist auch auf Prophezeiungen, die sich nicht auf Träume gründeten, dazu R. L. Kagan (Anm. 32) S. 2ff. mit weiteren Belegen für Spanien. Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 371: „Dieser hohe Stellenwert Schloß mehr oder weniger bewußte Manipulationen, ja sogar Fälschungen zugunsten politischer oder materieller Interessen nicht aus." Zum Traum des Kurfürsten: Hans Volz: Der Traum Kurfürst Friedrichs des Weisen vom 30./31. Oktober 1517. Eine bibliographisch-ikonographische Untersuchung. In: Gutenberg-Jahrbuch. 12. 1970. S. 174-211; C. Röhnert (Anm. 19) S. 101f.; Th. Rahn (Anm. 85) S. 3 4 5 - 3 4 7 ; siehe bes. den Beitrag von Peer Schmidt in diesem Band. Auch in der Epik gaben Träume einen erzählerischen Rahmen ab, um Mißstände anzuprangern oder einen Herrscher konkret anzugehen; dies spricht nicht nur für das Prestige, das Träumen in einem solchen Kontext zukam, sondern macht auch die Botschaft unangreifbar und potentiell göttlich legitimiert. Dies betrifft im 14. Jahrhundert den ,Songe du Vergier', gestaltet als Dialog zwischen clerc und chevalier (1378) im Zusammenhang mit Karl V. von Frankreich (Text in: Marion Schnerb-Lievre: Le Songe du Vergier, edite d'apres le manuscrit Royal 19.C. IV de la British Library. Paris 1982, dazu Gabriella Almanza Ciotti: Le Songe du Vergier. In: Sogno e racconto. Archetipi e funzioni. Hg. von Gabriele Cingolani,

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6. Schluß Kehren wir zu den eingangs gestellten Fragen zurück, welche Relevanz dem Phänomen ,Traum und Traumdeutung' in den genannten 1000 Jahren zukam und wie sich der Bezug zur Antike darstellt. Träume wurden vielfach festgehalten: Das Spektrum reicht von Ausgestaltungen in allen literarischen Genera über theoretische Abhandlungen in verschiedenen Kontexten bis hin zu Traumdeutungsbüchern. Bei diesen liegt eine deutliche Kontinuität zu antiken bzw. spätantiken Vorbildern vor: Sie wurden in einer beeindruckenden Editionstätigkeit vielfach übersetzt und durch Abschriften und Drucke verbreitet, man hat sie jedoch an problematischen Stellen christlich umgedeutet und auch als eigene Werke ausgegeben.142 Träume in politischem Kontext folgten vielfach ähnlichen Intentionen und Konstruktionsabsichten wie in der Antike, freilich mit Umakzentuierung bei den Motiven. Für die behandelten Diskurse - Traumdeutungsbücher und die in politischen Kontexten überlieferte Träume - stellt sich die Frage nach Übereinstimmungen und gegenseitigen Beeinflussungen, etwa dergestalt, ob sich die überlieferten Träume mit Hilfe der damals bekannten Theorien besser verstehen und mit Traumbüchern erschließen lassen.143 Einflüsse von Diskussionen über unterschiedliche Traumarten sind nicht festzustellen, sondern die Träume haben sich immer als signifikant erwiesen,144 was auch mit dem Zeitpunkt ihrer Publikation zusammenhängt. Auf Traumbücher wird selten Bezug genommen. Zwar ließ sich mit Hilfe der somnialia Danielis oder des Ryff sehen Artemidortextes das eine oder andere Traumsymbol ausdeuten,145 doch werden in klarer Kontinuität zur Antike die Träume von den Protagonisten meist gerade nicht im Detail gedeutet. Traumerzählungen in Chroniken oder Viten weisen keine Elemente aus Traumbüchern auf, sondern berücksichtigen Träume als individuelle Erfahrung

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Marco Riccini. Florenz 2003. S. 122-132), dann den ,Songe du vieil Pelerin' von Philippe de Mezieres (1327-1404) im Zusammenhang mit den Königen Richard II. von England und Karl VI. von Frankreich (dazu und zu weiteren Träumen im Kontext der Kreuzzüge: Rudolf Hiestand: Der Kreuzzug - ein Traum? In: Traum und Träumen. Inhalt, Darstellung und Funktion einer Lebenserfahrung. Hg. von Rudolf Hiestand. Düsseldorf 1994. S. 153-185) sowie einen Bericht des Ritters Hans von Hermansgrün mit Blick auf die Zustände unter Kaiser Maximilian I. (mit Friedrich Barbarossa als Traumfigur, dazu Claudia Märtl: Zum ,Traum' des Hans von Hermansgrün. In: Zeitschrift für historische Forschung. 14,3. 1987. S. 257-264), vgl. Jeannine Quillet: Songes et songeries dans Γ art de la Politique au XlVe siecle. In: Les Etudes Philosophiques. 3. 1975. S. 328-349; Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 359f. G. Haag (Anm. 1) S. 204-207. Vgl. G. Haag (Anm. 1) S. 1 If. Bernard Dieterle, Manfred Engel: Introduction. In: The Dream and the Enlightenment. Le reve et les lumieres. Hg. von Bernard Dieterle, Manfred Engel. Paris 2003. S. 9-18, hier S. 10: „only prophetic or admonitory dreams had been the object of extensive reports, explanations, and interpretations", bezogen auf Mittelalter und Frühe Neuzeit. Zur umstrittenen Wirkung der somnialia Danielis auf die mittelalterliche Literatur vgl. A. Önnerfors (Anm. 69) S. 48-57.

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oder in ihrer sozialen Situation. Hingegen bewahren die Traumbücher tausende isolierter Bilder, die ohne Kontext, einer alternativen Logik verpflichtet, interpretiert wurden. 146 Diese Bilder stellen exzellente Quellen für das Verständnis der symbolischen Manifestationen einer Epoche sowie für die soziale Fundierung einer Gesellschaft dar.147 Ein durchgängiges, auf den ersten Blick gegenläufiges Moment stellt die Kritik an Träumen und ihrer Deutung dar, die in konkreten Verboten, vor allem kirchlicherseits, gipfelte - nicht zuletzt deswegen, weil sich Sekten und häretische Gruppierungen des Mediums zur eigenen Legitimierung bedienten. Es läßt sich eine lange Liste an Synoden, Konzilien und Dekreten zusammenstellen, die vom ersten Konzil von Ankyra - obwohl dort von Träumen gar keine Rede ist - über die ,Admonitio generalis' Karls des Großen bis hin zur Indizierung einiger Traumschriften für katholische Gläubige im 16. Jahrhundert reicht.148 Diese betrafen, etwa im Decretum Gratiani aus dem 12. Jahrhundert, keineswegs nur die Traumdeutung - benannt als somnalia scripta, et falso in Danielis nomine intitulata („von Traumbuchschriften und sonstigen falsch im Namen Daniels betitelten Werken verdächtig und abzulehnen") - , sondern jegliche mantische Betätigung und drohten Laien die Exkommunikation, Geistlichen die Absetzung von Ämtern an. 149 Als besonders suspekt sah man die Astrologie an; 150 auch wurden explizit kritische Schriften verfaßt.151 Die zahlreichen, jeweils erneuerten Verbote zeigen 146

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J.-C. Schmitt (Anm. 2) S. 276: „The logic of narrative and interpretation of dreams in these sources is, generally speaking, quite different from that of the keys." Wenn keine Beziehungen bestehen, stellt sich die Frage, ob die Diskurse in unterschiedlichen sozialen Kontexten geführt wurden und deshalb einander nicht berührt haben, oder ob sie nebeneinander her existierten und man bewußt anders verfuhr. S. R. Fischer (Anm. 65) S. 101-106. Hinweise bei G. Guidorizzi (Anm. 15) S. 151f.; J. Le Goff (Anm. 7) S. 288-291; Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 187; jetzt bes. Isabel Moreira: Dreams and Divination in Early Medieval Canonical and Narrative Sources. The Question of Clerical Control. In: The Catholic Historical Review. 89. 2003. S. 621-642, hier S. 627-634. Für das 17. Jahrhundert: J.-L. Gautier (Anm. 35) S. 16f., der darauf verweist, daß immer noch mit dem Fortwirken göttlicher und somit signifikanter Träume gerechnet wurde: „La tendance de l'Eglise au XVIIe siecle est ä la minoration du nombre des songes divins. Elle s'accentue apres 1660." Zu Polydorus Vergilius De prodigiis et sortibus (gedr. Basel 1553): G. Haag (Anm. 1) S. 43f. Dazu G. Guidorizzi (Anm. 15) S. 152; G. Weber (Anm. 8) S. 54; Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 108f. und S. 187 mit Anm. 468; N. F. Palmer, Κ. Speckenbach (Anm. 63) S. 200-205; S. F. Kruger (Anm. 64) S. 11-13; B. Näf (Anm. 30) S. 176. S. F. Kruger (Anm. 64) S. 13; Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 371. Bes. Johannes von Salisbury (1115-1180), Policrat. 2,17, dazu C. B. Hieatt (Anm. 47) S. 27-29; Μ. E. Wittmer-Butsch (Anm. 30) S. 134-138 und S. 185f.; B. Näf (Anm. 30) S. 175; Th. Ricklin (Anm. 1) Kap. II; J.-C. Schmitt (Anm. 2) S. 279; G. Haag (Anm. 1) S. 55-57; W. Ludwig (Anm. 54) S. 45^-7. Als Gefahr wurde auch die Möglichkeit der dämonischen Intervention während des Träumens angesehen, dazu Maria Jordan Arroyo: Francisco Μοηζόη y ,el bien dormir': la interpretation teolögica de los suenos en la Espana del siglo XVI. In: Cuadernos de Historia Moderna. 26. 2001. S. 169-184.

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jedoch, daß die Intention, Träume und ihre Deutung unter Kontrolle zu bringen, letztlich nicht fruchtete und man den Konzilsbeschlüssen keine Geltung verschaffen konnte.152 Gleichzeitig betätigten sich unverändert Priester als Traumdeuter.153 Auf zwei Veränderungen sei noch hingewiesen: Seit der Renaissance kann man eine Zunahme der in der Antike bekannten Tendenz beobachten, sich auf medizinischem Hintergrund mit Träumen zu beschäftigen, die auf physiologischen Ursachen beruhen, und nach Erklärungsmustern dafür zu suchen, nicht zuletzt im Individuum selbst.154 Zugenommen hat auch die Verbindung von Traumdeutung und Astrologie, die bereits aus dem Mittelalter bekannt ist, während fur die griechisch-römische Kultur eine stärkere Separierung der Divinationsformen zutrifft. In diesen Zusammenhang gehört, daß Traumdeuter immer mehr verschwinden bzw. in Ärzten und Astrologen aufgehen; diese Entwicklung sollte sich im Laufe des 17. Jahrhunderts noch einmal zuspitzen.

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K. Brackertz (Anm. 28) S. 206; J.-C. Schmitt (Anm. 2) S. 275; W. Ludwig (Anm. 54) S. 58-63; B. Mahlmann-Bauer (Anm. 54) S. 159-166. R. L. Kagan (Anm. 32) S. 37; I. Moreira (Anm. 148) S. 641 macht für die Zeit des Mittelalters deutlich, daß „nowhere do we encounter specific instructions that lay dreamers must consult the clergy on their dreams." B. Dieterle, M. Engel (Anm. 144) S. 10-12.

Literatur

Träume in der deutschsprachigen Barockliteratur1 Manfred Engel

Da die Traumdichtung der deutschsprachigen Barockliteratur noch nie im Zusammenhang untersucht wurde, versuche ich, eine erste, notgedrungen schematiDer Aufsatz ist Teil eines größeren Forschungsprojekts zur Kultur- und Literaturgeschichte des Traumes, aus dem bisher u.a. die folgenden Publikationen hervorgegangen sind: (1) Traumtheorie und literarische Träume im 18. Jahrhundert. Eine Fallstudie zum Verhältnis von Wissen und Literatur. In: Scientia Poetica. 2. 1998. S. 97-128; (2) The Dream in Eighteenth-Century Encyclopaedias. In: The Dream and the Enlightenment/Le Reve et les Lumieres. Hg. von Bernard Dieterle, Manfred Engel. Paris 2002. S. 21-51; (3) ,Träumen und Nichtträumen zugleich'. Novalis' Theorie und Poetik des Traums zwischen Aufklärung und Hochromantik. In: Novalis und die Wissenschaften. Hg. von Herbert Uerlings. Tübingen 1997. S. 143-168; (4) Geburt der phantastischen Literatur aus dem Geiste des Traumes? Traum und Phantastik in der romantischen Literatur. In: Phantastik - Kult oder Kultur? Aspekte eines Phänomens in Kunst, Literatur und Film. Hg. von Christine Ivanovic, Jürgen Lehmann, Markus May. Stuttgart, Weimar 2003. S. 153-170; (5) The Theory of the Dream in Romantic Anthropology. In: Romantic Dreams. Hg. von Sheila Dickson, Mark Ward. Glasgow 1998. S. 1-15; (6) Naturphilosophisches Wissen und romantische Literatur. Am Beispiel von Traumtheorie und Traumdichtung der Romantik. In: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. von Lutz Danneberg, Friedrich Vollhardt u.a. Tübingen 2002. S. 65-91; (7) Frührealismus und romantisches Erbe. Mythos, Traum und Märchen bei Karl Immermann. In: Zeitschrift für deutsche Philologie. 114. 1995. S. 199-218; (8) ,Ich hatte über Nacht einen merkwürdigen Traum.' Traumnotate und Traumtheorie in Hebbels Tagebüchern. In: Hebbel Jahrbuch. 61. 2006. S. 7-24; (9) Der literarische Traum im Spätrealismus am Beispiel C. F. Meyers. In: Conrad Ferdinand Meyer. Die Wirklichkeit der Zeit und die Wahrheit der Kunst. Hg. von Monika Ritzer. Tübingen 2001. S. 74-93; (10) ,Wo Es war, soll Ich werden.' Sigmund Freud, ,Die Traumdeutung'. In: Dennoch leben sie. Verfemte Bücher, verfolgte Autorinnen und Autoren. Zu den Auswirkungen nationalsozialistischer Literaturpolitik. Hg. von Reiner Wild u.a. München 2003. S. 113-124; (11) Traumnotat, literarischer Traum und traumhaftes Schreiben bei Franz Kafka. Ein Beitrag zur Oneiropoetik der Moderne. In: Träumungen. Traumerzählungen in Literatur und Film. Hg. von Bernard Dieterle. St. Augustin 1998. S. 233-262; (12) Literatur-/Kulturgeschichte des Traumes. In: Dream Images in German, Austrian and Swiss Literature and Culture. Hg. von Hanna Castein, Rüdiger Görner. München 2002. S. 13-31; (13) Jeder Träumer ein Shakespeare? Zum poetogenen Potential des Traumes. In: Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder. Hg. von Rüdiger Zyrrtner, Manfred Engel. Paderborn 2004. S. 102-117.

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sehe und skizzenhafte tour d'horizon. 2 Um das (quantitativ sicher noch nicht ausreichende) Textmaterial zu strukturieren, verwende ich zwei für das Literatursystem bzw. den Traumdiskurs der Zeit grundlegende Kategorisierungen: (1) Zu den Grundprinzipien des regelpoetisch normierten Literatursystems des Barock gehört die genera dicendi-Lehre, grob gesprochen also die Unterscheidung zwischen hoher und niederer Literatur. Aus der hohen Literatur werde ich Traumdichtungen im höfisch-historischen Roman und dem Trauerspiel behandeln, aus der niederen Literatur Traumsatiren/ -allegorien und Traumdichtungen im niederen (tendenziell pikaresken) Roman. 3 (2) Der Traumdiskurs ist bis ins 18. Jahrhundert hinein dominant geprägt durch die Unterscheidung zwischen übernatürlichen und natürlichen Träumen. Erstere in antiker Tradition oniros bzw. somnium genannt - werden in der christlichen Reformulierung der antiken Traumtheorie von Gott (oder auch vom Teufel) eingegeben oder entspringen doch wenigstens einem höheren Vermögen der körperbefreiten Seele. Letztere - in antiker Tradition als enhypnion bzw. insomnium bezeichnet - lassen sich dagegen aus der psychophysischen Disposition des Träumers, den Zuständen seines Körpers und/oder seiner Seele erklären. Prinzipiell sind bis ins 18. Jahrhundert hinein nur übernatürlich-prophetische Träume literaturfähig.

1. Der Traum im höfisch-historischen Roman Der deutschsprachige höfisch-historische (auch: heroische) Barockroman folgt dem für ganz Europa gattungsprägenden Muster von John Barclays ,Argensis' (1621), die sich ihrerseits wiederum am spätantiken Vorbild der ,Aithiopika' des Heliodor (3. Jh. n. Chr.) orientiert. Die Romane dieses Typus sind meist sehr 2

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Peter-Andre Alt: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit. München 2002, widmet dem Barock nur zwei knappe Kapitel zum Drama und zur Lyrik (S. 92-124). Vgl. außerdem Stefan Niessen: Traum und Realität. Ihre neuzeitliche Trennung. Würzburg 1993; Thomas Rahn: Memoriale Affizierungspotentiale und Ordnungsgrade der Traumgenera in der frühen Neuzeit. In: Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400-1750. Hg. von Jörg Jochen Berns, Wolfgang Neuber. Tübingen 1993. S. 331-350; Marianne Zehnpfennig: ,Traum' und Vision' in Darstellungen des 16. und 17. Jhds. Diss. Tübingen 1979 [zur Malerei]. - Zur englischen und französischen Traumdichtung des 17. Jahrhunderts gibt es bereits grundlegende Überblicksdarstellungen: Manfred Weidhom: Dreams in 17th Century English Literature. The Hague 1970; Walter Pabst: Funktionen des Traums in der französischen Literatur des 17. Jhds. In: Zeitschrift für französische Literatur. 66. 1956. S. 154-174; Rever en France au XVIIe siecle. Revue des Sciences Humaines. 82/211. 1988. Ausgegrenzt habe ich dabei die Lyrik. Hier dominiert der erotische Traum. Zu Textbeispielen vgl. die (allerdings mit einem sehr weitgefaßten Traumbegriff arbeitende) Anthologie: Der Träume Wirklichkeit. Eine Anthologie deutschsprachiger Traumgedichte. Erster und zweiter Teil: Vom Barock bis zur Klassik. Hg. von Ingemarie Manegold, Eckart Rüther. Höxter 2000; zur Analyse vgl. P.-A. Alt (Anm. 2) S. 112-125.

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umfangreich (daher auch teuer), komplex aufgebaut und setzen erhebliches Bildungswissen voraus, sind also Lesestoff für eine Gesellschafts- und Bildungselite. 4 Zu deren Bildungsbesitz gehören unter anderem auch das antike Traumwissen 5 und seine christliche Reformulierung. 6 In höfisch-heroischen Romanen finden sich viele Träume, die das komplette Arsenal antiker übernatürlicher Traumformen ausschöpfen; auch der Inkubationstraum fehlt dabei nicht. Ich habe ein Beispiel aus Daniel Caspar von Lohensteins 1689/90 erschienenem Roman ,Heldenmüthige Liebes- und Lebens-Geschichte von dem theuren Freyheits-Beschirmer des bedrängten alten Deutschlandes Arminius oder Herrmann und seiner Durchlauchtigen Thußnelda' ausgewählt, der zahlreiche (im Register eigens nachgewiesene) Träume enthält.7 Der Inhalt des Buches kann hier nicht nacherzählt werden - dazu ist es zu lang (man hat ausgerechnet, daß die Lektüre bei einem täglichen Lesepensum von zehn Stunden zwei Monate in Anspruch nehmen würde) 8 und die (gattungstypische) Verschränkung unterschiedlicher Handlungsstränge zu komplex. 9 Der ausgewählte (Doppel-)Traum entstammt aber einer halbwegs überschaubaren Episode (Teil II, Buch 4): Die Griechin Astree soll bei einem schurkischen Komplott von Römerfreunden mithelfen und die germanische Fürstin Adelgunde durch einen Zaubertrank unfruchtbar machen, um so ihre Heirat zu verhindern. Als Belohnung wird ihr eine prächtige Perlenkette versprochen. Astree bereitet den Trank zu; in der Nacht vor der geplanten Verabreichung aber träumt sie,

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Knappe Überblicksdarstellungen auf dem derzeitigen Forschungsstand bieten etwa: Dirk Niefanger: Barock. Stuttgart, Weimar 2000. S. 176-194; Albert Meier: Der Heroische Roman. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. von Albert Meier. München 1999 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jh. bis zur Gegenwart. Bd. 2). S. 300315. Meier weist daraufhin, daß der teuerste Barockroman, Lohensteins ,Arminius', acht Reichstaler kostete, was dem Monatsgehalt eines mittleren städtischen Beamten entsprach (S. 304). Zur knappen Darstellung von Traumwissen und Traumdichtung der Antike vgl. Laura Hermes: Traum und Traumdeutung in der Antike. Zürich. Düsseldorf 1996; Gregor Weber: ,Zweifach sind die Tore der wesenlosen Träume ...' Traum und Traumdeutung in der Antike. In: Theologie und Psychologie im Dialog über den Traum. Hg. von Thomas Auchter, Michael Schlagheck. Paderborn 2003. S. 13—48; S. Niessen (Anm. 2) S. 5-26, dort auch zur Wiederentdeckung und Modifikation dieses Wissens in der Renaissance (bes. S. 87-103). Vgl. S. Niessen (Anm. 2) bes. S. 37-54. Die Ausgabe erschien postum, bearbeitet und vollendet vom Leipziger Theologen Christian Wagner und von Hans Caspar und Daniel Caspar Lohenstein (dem Bruder und dem Sohn des Autors). Zitiert wird im folgenden nach dem Reprint der Erstausgabe (Leipzig 1689/90): Hildesheim, New York 1973 (mit einer Einführung von Elida Maria Szarota). A. Meier (Anm. 4) S. 304. Eine ausführliche Inhaltsangabe findet sich in: Leo Cholevius: Die bedeutendsten deutschen Romane des siebzehnten Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur. Unveränderter reprographischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1866. Darmstadt 1975. S. 313^108.

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sie wäre in Thessalien/ [...] und vergiftete einen Brunn; über dieser Beschäfftigung aber käme zu solchem Brunnen eine überaus schöne Schlange/ welche auf dem Rücken gleichsam mit Perlen überstückt war/ und am Kopfe zwey Ohrgehencke trug. Diese streichelte Astree/ und weil sie so kirre [zahm] war/ hieng sie selbte umb den Hals; von welcher sie aber im Augenblicke erwürgt ward (S. 610). Nach ihrem Erwachen versucht Astree, aus naheliegenden Gründen, sich davon zu überzeugen, daß ihr Traum natürlichen Ursprungs, also ein bloßes enhypnion war: Die seltsame Traumchimäre könnte ja aus der Erinnerung an Wasserstellen und die dort anzutreffenden Tiermißgeburten entstanden sein; vielleicht ließe sie sich aus den für Träumen charakteristischen Ideenverbindungen erklären (wir würden heute von Traumverdichtungen sprechen), die eine ganz natürliche, da rein physiologische Ursache haben: Sintemal im Schlaffe die vielen Gedancken in das enge Gewölbe des Gehirns/ wie die Dünste der Erden in die Lufft empor stiegen/ und wenn sich ein Gedancke an den andern stiesse/ so seltzame Träume gezeugt würden (ebd.). Dann aber erinnert sich Astree an übernatürliche Träume, wie sie als gottgesandt in der Bibel überliefert, aber auch für Alexander, Kaiser Augustus, Pompeius und andere bezeugt sind. Außerdem regt sich nun ihr Gewissen. Vielleicht also doch ein übernatürlicher Wahr- und Warntraum? Schließlich siegt die Habsucht: Es muß ein natürlicher Traum gewesen sein,10 sagt sie sich, am nächsten Tag wird sie den Zaubertrank verabreichen. Noch in der gleichen Nacht hat Astree jedoch einen zweiten Traum: Diesmal werden die Buchstaben ihres Namens so vertauscht, daß sie auf griechisch du wirst gehenckt werden bedeuten (S. 611). Nun ist kein Zweifel mehr möglich: Der Traum warnt autoritativ vor den bösen Folgen der bösen Tat. Astree fuhrt daher das geplante Verbrechen nicht aus, findet aber einen Trick, um doch an ihre Belohnung zu kommen: Sie teilt dem Auftraggeber einfach mit, das Werk sei vollbracht - und fügt eine Probe des Tranks bei, die dieser erfolgreich an einem Tier testet. Am Ende siegt dann freilich die poetische Gerechtigkeit, wie es der Grundsemantik des höfisch-historischen Barockromans entspricht: Fortuna erweist sich als Providentia, die alles zum besten fügt und die Machenschaften Astrees und ihrer Auftraggeber vereitelt.11

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Dabei stützt sich Astree wiederum auf ein topisches Argument aus der natürlichen Traumerklärung der Zeit (das übrigens belegt, daß Freuds Auffassung vom Traum als ,Wächter des Schlafes' eine lange Vorgeschichte hat): Wie die Natur uns des Tages mit wahren Bildern ermunterte/ damit wir nicht einschlieffen; also unterhielte sie uns des Nachts mit falschen Erscheinungen/ womit man nicht zu zeitlich erwache (S. 610). Dabei wird auch eine Erfüllung (genauer: eine Beinahe-Erfüllung) des Traumes nicht vergessen: Als Astree sich überführt sieht, versucht sie, sich mit einem Schal zu erdrosseln (S. 618).

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Das ist ein völlig schulgerecht gestalteter übernatürlicher Symbol-Traum mit 12

der zum Traumtyp gehörigen Minimal-Traumhaftigkeit. Der Tagesrest (die versprochene Perlenkette) und der Kontext machen seine Bedeutung für Leser wie Träumerin überdeutlich. Auch die anfängliche Fehldeutung des Traumes durch Astree ist topisch (und ein topisches Mittel zu ihrer moralischen Diskreditierung). Ebenso typisch ist die Doppelung des Traumes zur Bedeutungsverstärkung. Daß Lohenstein das antike Traumschema geradezu zitathaft erfüllt, ist ja durch die zahlreichen herbeizitierten Traumbeispiele geradezu explizit markiert. Lohenstein verarbeitet also Bildungswissen, wie es der enzyklopädischen Tradition des Genres entspricht, und zeigt dabei, wiederum ganz schulgerecht, seine Virtuosität in originellen Variationen und Ergänzungen: in der psychologischen Vertiefung der Deutungsüberlegungen 13 zu einem Konflikt zwischen Habsucht und Gewissen, in der Kombination zweier Träume mit unterschiedlichen Aussagemodi (symbolisch-implizit und anagrammatisch-explizit) und, natürlich, in der trickreichen Lösung, die Astree findet.

2. Der Traum im barocken Trauerspiel In der Gattungshierarchie des Barock steht das Trauerspiel an höchster Stelle. Das prädisponiert die Gattung zum Gebrauch übernatürlich-prophetischer Träume, die zudem seit der griechischen Tragödie zum festen Inventar der hohen Dramenform gehören. 14 Mein zweites Textbeispiel stammt aus einem Drama von Andreas Gryphius mit dem Titel ,Catharina von Georgien. Oder bewehrete Beständigkeit' (Entstehung ca. 1646/7, uraufgeführt 1651, Erstdruck 1657).15 Wir werden hier alle wesentlichen Elemente des vorgestellten Grundschemas wiederfinden, angereichert allerdings um eine Innovation, die das Traumverfahren auf noch raffiniertere Weise an die für die Epoche zentrale Kulturtechnik der Allegorese bindet. Hier zunächst eine Inhaltsangabe en miniature: Stoffgrundlage ist ein historisches Ereignis aus dem Jahre 1624. Catharina, christliche Königin von Armenien und Georgien, begibt sich mit zugesichertem freiem Geleit ins Lager des mohammedanischen Herrschers von Persien. Schah Abbas ist bei Gryphius als barock-typischer Tyrann dargestellt, also ganz der Willkürherrschaft seiner Affekte

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Hier: das chimärenhafte Aussehen der Schlange und der plötzliche Umschlag von Zahmheit zu Aggressivität. Übernatürliche Träumer transportieren eine objektiv wahre Botschaft, sagen also nichts über den Charakter des Träumers aus; daher erfolgt ihre psychologische Vertiefung traditionell über die Deutungsüberlegungen der Figur. Im barocken Lustspiel scheinen Träume dagegen nicht gebräuchlich zu sein. Im folgenden zitiert (mit Angabe von Akt, Vers und Seitenzahl) nach der am leichtesten zugänglichen Ausgabe: Andreas Gryphius: Catharina von Georgien. Hg. von Alois M. Haas. Stuttgart 1975 u.ö.

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unterworfen: Da er sich in Catharina verliebt, bricht er sein Versprechen und hält sie jahrelang gefangen. Catharina, eine barock-typisch tugendstarke Märtyrerin, widersetzt sich dem Liebesdrängen des Königs, wird schließlich grausam gefoltert und verbrannt. Das Drama spielt, der klassizistischen Regel von der ,Einheit der Zeit' folgend, an Catharinas letztem Lebenstag. Der Traum wird in der vierten Szene des 1. Aktes berichtet. Die Träumerin Catharina erzählt ihn am Morgen ihrer treuen Dienerin Salome, als diese mit frisch geschnittenen Rosen eintritt, um eine gute Nachricht zu überbringen: Die Befreiung scheint nahe. Bevor sie dies tun kann, deutet Catharina die Rosen als vanitasSymbol. Die Blumen schlagen dann gleich die Brücke zum Traum aus der vergangenen Nacht, diesmal nicht als Tagesrest, sondern als Erinnerungsanlaß: Im Traum sah sich Catharina in ihren heimatlichen Palast versetzt. In vollem Festschmuck wurde sie zum Thron geführt. Sobald sie sich dort niedergelassen hatte, veränderte sich alles: Als ich den Stul bestigen Sah' ich in einem Nu die gantze Pracht verfligen / Den Diamanten Glantz der auff dem Kleide spilt In Perlen gantz verkehrt. Vnd (wie mich dünckt.) ich fiihlt Daß die besteinte Cron die mich vor disem schmückte Diß mein geängstet Haupt mehr als gewöhnlich drückte / Biß mir das klare Blut von beyden Schiäffen lif / Vnd ich an statt der Cron nur Rosen-Aest ergriff/ Verdorrte Rosen-Aest /die als ein Krantz gewunden Fest vmb die Stirn gedruckt auf meinen Haren stunden. Der Purpur riß entzwey / der Zepter brach als Glaß / Ich glaubte daß ich selbst auff scharffen Dornen saß / Vil suchten mir vmbsonst mitleidend beyzuspringen; Noch mehr hergegen mich in höchste Qual zu bringen; Biß mich ein frembder Mann nicht ohne Pein anliff Vnd als mit einem Sturm vmb beyde Brüst' ergriff. Ich fiel gantz von mir selbst. Doch als die Furcht vergangen: Fand ich mich Salome! Ο mit was Lust! vmbfangen. Weit schöner als wenn ich in höchster Zirat ging / Weit höher als da ich Gurgistans Cron empfing. Mein weisses Kleid schaut ich von Diamanten schüttern Chach Abas voll von Furcht vor disen Füssen zittern Ein jeder rieff: Glück zu! der Die so groß gemacht Biß das Geschrey den Schlaff vns auß den Augen bracht (I, V. 329-352; S. 27). Es folgt der topische (und topisch falsche) Deutungsversuch, hier im Zwiegespräch zwischen Catharina und ihrer Dienerin: Salome liest den Traum als Vordeutung auf die nahe Befreiung und kann endlich ihre guten Nachrichten anbrin-

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gen. Das führt die Handlung weiter, so daß Catharina selbst sich zur Deutung nicht äußern muß. 16 Der Traum erfüllt sich am Schluß des Stückes in Catharinas Hinrichtung, die, christlich gesehen, natürlich eine Befreiung und Verklärung ist. Kurz zuvor gibt Catharina explizit die richtige Traumdeutung: Itzt wird der Traum erfüllet Der / als vergangene Nacht vns Sorg vnd Schlaf vmbhüllet / Auff diesen Auß gang wiß. Gurgistans Reich ist hin! Wir haben von der Cron nur Dornen zu Gewin! Nur Dornen! die wir noch als alle Lust verschwunden Den Rosenblättern gleich / auff disem Har gefunden Die Thränen filen vns als Perlen auf die Schoß /17 Als dieser Augenbrun schir vnauffhörlich flöß. Der Purpur ist entzwey / der Zepter gantz zustücket; Als man vns von dem Thron in Staub vnd Stock gedrücket! Vmbsonst sind Meurab / Reuß vnd Tamaras bemüht Zu wenden vnser Leid das vnauffhörlich blüht / Vnd täglich fruchtbar wird. Der endlich an vns setzte Vnd auß den Dornen riß / vnd (wie es schien) verletzte; Ist (Zweifels ohn) der Tod. Die Lust die vns empfing Als der geschwinde Sturm der Wetter vberging Zilt auf das seel'ge Reich das JEsus vns erworben. Auff! Gott schenkt vns die Cron wenn wir / wie Er gestorben! (IV, V. 353-370; S. 97f.). Also nochmals ein schulgerechter übernatürlicher Traum - etwas detaillierter ausgeführt, deutlich traumhafter gestaltet (also mit glaubwürdiger Traumstruk-

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Das ist wichtig, da falsche Deutungen in der Regel als Zeichen der Verblendung und Verstockung gelten, den Deuter also diskreditieren. Immerhin versucht Salome hier keine natürliche Deutung des Traumes, wie Astree es tat, denn diese indiziert eine ebenso schuldhafte wie verhängnisvolle Weltverfallenheit. Daß geträumte Perlen Tränen bedeuten, hatte Gryphius bereits bei der Erzählung des Traumes mit Verweis auf mehrere Traumbücher und Beispielträume in einer seiner Anmerkungen ausdrücklich kommentiert, die so zugleich Aufschluß über die Quellen seines Traumwissens gibt: Perlen bedeuten bey den Traum-außlegern Threnen. Pseudo Salomon, lib 5. Qui videt sibi adduci sarginas (lego sarcinas) Margaritarum, signißcat Dolorem aut Ploratum sortem. c.14. Astrampsych. in Oneirocrit. Ol μάργαροι δηλουσι δακρύων ρόον. Perlen bedeuten Threnen-ßüsse. Schier eben dise Wort sind der Traumaußlegung Nicephori Patriarchae Constantinopol. Ob wol Achmet vnd Artemidorus widerwertiger Meinung. Besihe Cordanum in Synesianis. P. C. Hoß. in der Lebensbeschreibung Henrichs deß Grossen. Oöck had sy ghedröomt, (die Königin Maria Medices) toen men besigh was met hare kröon van ghesteente op te maken, dat alle de grote demanten waren verändert in Perlen. (S. 122f.).

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tur)18 und mit der üblichen, hier natürlich christlich akzentuierten, Funktionalisierung: dem Verweis auf eine göttliche Schicksalsmacht, die über allem waltet.19 Die zitierte Traumdeutung belegt jedoch - besonders offensichtlich im Motiv der Dornenkrone - , daß sich die Semantik dieses Traumes nicht in der reinen Vorausdeutung erschöpft. Gryphius' allegorischer Traum ist polysemisch angelegt, was offensichtlich an die Bibelauslegungstechnik des mehrfachen Schriftsinnes anknüpft.20 Ich illustriere das an nur einem der Traummotive: Die direkte Bedeutung, also der sensus litteralis, ist natürlich Catharinas Hinrichtung und ihr Eingang ins Paradies. Hier steht der Mann, der Catharinas Brüste umfaßt, für den sie mit Zangen folternden Henker. Der sensus typologicus, auf den vor allem die Dornenkrone hindeutet, weist Catharinas Märtyrertum als Christusnachfolge aus; hier läßt sich der fremde Mann durchaus auch als Christus selbst sehen (diese Bräutigamsmetaphorik wird von Catharina ja explizit verwendet).21 Der sensus moralis verweist auf die gebotene Beständigkeit gegenüber Schicksalsschlägen und die gebotene Tugendhaftigkeit gegenüber sinnlicher Versuchung; hier ließe sich der fremde Mann als Schah Abbas, der erotische Versucher, deuten. Im sensus anagogicus schließlich, der auf das gewonnene ewige Leben hindeutet, ist der fremde Mann, wie Catharina ja selbst sagt, der Tod. Die ansatzweise vorgeführte Traumdeutung belegt eine erfolgreiche kulturelle Eingemeindung des antiken Traumglaubens, die Gryphius sehr viel nachdrücklicher betrieben hat als Lohenstein: Der übernatürliche Traum wird zum Ehrenzeichen einer christlichen Königin und Märtyrerin - und die antike Onirokritik zur bibelgeschulten Schriftauslegungskunst.

3. Traumsatire, Traumallegorie und der pikareske Roman Diese dritte Textgruppe gehört der niederen Literatur an und weist auch in Struktur wie Funktion ihrer Traumdichtungen eine Reihe signifikanter Affinitäten auf. Obwohl es auch hier einige gattungsprägende Mustertexte gibt, ist die Gestal18

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Gemäß der klassizistischen Poetik gilt für das Drama nachdrücklich das Gebot der vraisemblance; daher ist es auf psychologische Plausibilität verpflichtet. Wobei hier vom Traum für die Träumerin keine Handlungsimpulse ausgehen - die richtige Traumdeutung ist nur ein Indiz für das Erreichen von ,Beständigkeit' (constantia). Der Traum ist so funktional eher auf den Leser gerichtet, dem er die metaphysische Dimension des Geschehens signalisiert. Außerdem erfüllt er natürlich durch die Klammer von Vorausdeutung - Erfüllung den poetologischen Zweck einer formalen Integration des Textes. Auf diesen Bezug verweist bereits Karl Pestalozzi: Der Traum im deutschen Drama. In: Traum und Träumen. Traumanalysen in Wissenschaft, Religion und Kunst. Hg. von Therese Wagner-Simon, Gaetano Benedetti. Göttingen 1984. S. 81-101, bes. S. 84f., deutet im einzelnen aber anders. Es ist nicht winselns Zeit / glaubt! es ist jauchtzens wert //Daß vnser Bräutigam vns die Marter-Cron beschert (IV, V. 335f. S. 96).

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tungsfreiheit deutlich größer als in den z w e i bisher behandelten Genres; z u d e m gibt es hier, vor allem im Spätbarock, eine Reihe v o n Variationen und Innovationen, die auf die Aufklärung vorausdeuten. Traumsatire und Traumallegorie 2 2 sind i m 17. Jahrhundert besonders populäre Textformen. M a n hat ihre Entstehung, w o h l zu Recht, als eine Art Schwundstufe der mittelalterlichen Traumvision erklärt, 23 einer v o m 12. bis 14. Jahrhundert wohletablierten Gattung, 2 4 als deren berühmtestes Beispiel Dantes ,Divina C o m media' (entstanden 1 3 0 7 - 1 3 2 1 ) gilt. 2 5 Z u m prägenden Vorbild werden i m Barock die , S u e n o s ' v o n Q u e v e d o , 2 6 gesamteuropäisch verbreitet in der französischen Übersetzung v o n 1633. D i e N a c h und Weiterdichtung der , S u e n o s ' durch Johann Michael M o s c h e r o s c h gehört z u den populärsten Werken der deutschen Barockliteratur. Der Doppel-Titel der 1 6 4 0 - 4 7 erschienenen S a m m l u n g lautet: , V i s i o n e s de D o n Q u e v e d o . Wunderliche und Wahrhafftige Gesichte Philanders v o n Sittewalt'. 2 7

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Ich werde beide Textsorten der Einfachheit halber zusammen behandeln; ihre Verschränkung ist im 17. Jahrhundert häufig, wobei die Akzentsetzung variieren kann (Traumsatiren mit allegorischen Zügen / Traumallegorien mit satirischen Zügen). So etwa Heinz Klamroth: Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Traumsatire im 17. und 18. Jh. Diss. Bonn 1912. Vgl. Kathryn L. Lynch: The High Medieval Dream Vision. Poetry, Philosophy, and Literary Form. Stanford 1988. Als bekannteste Texte werden genannt: „the Roman de la Rose, most of Chaucer's early poetry, the major works of Guillaume de Machaut, the Middle English Pearl, Piers Plowman"; insgesamt soll es über 225 solcher Dichtungen gegeben haben (S. 1). Allerdings nur honoris causa - denn die ,Commedia' enthält zwar einige Träume (im Purgatio-Teil IX, 19-6, XVIII, 145-XIX, 64; XXVII, 91-114), ist aber als Ganzes natürlich kein Traum. In der christlichen Tradition der Traumdichtung, deren höchste Form die Traumvision ist, ist allerdings die Grenze zwischen Traum und Vision grundsätzlich nur höchst unscharf markiert. Gegenstand solcher Traumvisionen, in denen sich bereits allegorische und satirische Tendenzen mischen können, sind etwa Höllen- und Himmelsreisen, aber auch die moralisch-philosophische Gestaltung von Grundthemen wie der Liebe oder dem menschlichen Heilsweg. Zum Verhältnis zwischen der ,Commedia' und der Gattungstradition der Traumvision vgl. K. L. Lynch (Anm. 24) S. 146-162. Der für eine für das Jahr 1610 geplante, dann aber von der Zensur verhinderte Ausgabe vorgesehene Originaltitel lautet: ,Suenos y discursos de verdades descubridoras de abuso, vicios y enganos en todos los oficios y estado del mundo'. Die Publikationsgeschichte ist überaus kompliziert: Bis 1627 kursieren nur Abschriften, 1627/28 erscheinen vier Raubdrucke, die auch frühe Satiren Quevedos beinhalten. Eine autorisierte Ausgabe wird erst 1631 publiziert (die früheren Drucke landeten auf dem Index), sie enthält die fünf ,Suenos' und sechs weitere Prosasatiren; eine Ausgabe, die nur die ,Suenos' umfaßt, gibt es im ganzen 17. Jhd. nicht. Zu Entstehung, Druckgeschichte und Analyse vgl. Ilse Nolting-Hauff: Vision, Satire und Pointe in Quevedos ,Suenos'. München 1968. Voller Titel in der Ausgabe Straßburg 1642 (wie bei Barock-Titeln häufig, existieren mehrere, sehr unterschiedliche Varianten): ,Visiones de Don Quevedo. Wunderliche und Wahrhafftige Gesichte Philanders von Sittewalt. In welchen aller Welt Wesen/ aller Manschen/ Händel mit ihren Natürlichen Farben/ der Eitelkeit, Gewalts, Heuchelei und Thorheit/ bekleidet: öffentlich auff die Schauw geführet/ als in einem Spiegel dargestellet/

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Reiches Material für den Traumforscher also, so möchte man meinen. Das ist allerdings nur bedingt richtig. Schon bei Quevedo sind selbst in der Kerngruppe der fünf ,Suenos y discursos' nur drei als Träume markiert,28 außerdem werden die ,Suenos' in der Zeit immer zusammen mit anderen, nicht einmal im Titel als Traum markierten Satiren Quevedos veröffentlicht. Bei Moscherosch, der ohnehin von Gesichten, also Visionen, spricht, gibt es noch weniger explizite Traummarkierungen. Die Grenze zwischen Traumsatire und einfacher Satire ist also nonexistent; man kann per Traum eine visionäre Höllenreise machen - oder durch irgendeinen Erdspalt dorthin gelangen. Das liegt daran, daß in der Moralsatire der Zeit das vraisemblance-Gebot weitgehend aufgehoben ist. Man könnte nun immerhin vermuten, daß Traumsatiren ihren Autoren besondere poetische Lizenzen geben, also besonders kühne phantastische und groteske Gestaltungen ermöglichen. Die finden sich dort in der Tat - aber sie finden sich ebenso gut in nicht als Traum markierten Satiren: Wo die Darstellung der Wachwelt nicht dem Wahrscheinlichkeitsgebot unterliegt, gelten die Lizenzen einer traumhaften Schreibweise eben auch außerhalb des Traumes. Wie sieht es nun im Pikaroroman aus, der, zumindest in seiner klassischspanischen Form, ja wenigstens rudimentär dem vraisemblance-Gebot untersteht? Im Regelfall finden sich hier überhaupt keine Träume, keine übernatürlichen, aber auch keine natürlichen. Letztere können zwar en passant erwähnt werden, sind aber nie zu einer detaillierten Traumerzählung ausgestaltet.29 Einen Sonderfall stellt Hans Jakob Christoph von Grimmelshausens Roman ,Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch' dar (erschienen 1668/69),30 den man als Pikaroroman mit höheren Ambitionen bezeichnen könnte. Der Hauptteil

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und von Männiglichen gesehen werden'; vgl. den Reprint dieser Ausgabe: Johann Michael Moscherosch: Visiones De Don Quevedo. Hildesheim, New York 1974. Drei der Texte tragen den Titel,'Träume' - ,Sueno del juicio final', ,Sueno del infierno' und ,Sueno de la muerte' - , aber nur zwei davon haben einen Traumrahmen (der ,Sueno del Infierno' ist eine nicht als Traum markierte Höllenwanderung nach dem Vorbild Dantes). So träumt in Johannes Beers (Pseudonym: Zendorii a Zendoriis) ,Die teutschen WinterNächte' (1682) eine Figur, die sich vor Bestrafung fürchtet und am Vorabend eine ihm bedrohlich erscheinende Gestalt wahrgenommen hat, die vermummet wie ein Henker war (ein Tagesrest), die ganze Nacht von nichts als Henken und Köpfen, also daß ich oftermalen aufwachte und mir selbst nach dem Kopfe ßihlete, ob er noch an seiner alten Stelle stünde oder nicht', Johannes Beer: Die teutschen Winter-Nächte & Die kurzweiligen Sommer-Täge. Zwei Romane. Hg. von Richard Alewyn. Frankfurt a. M. 1985. S. 194 und S. 197 (Buch III, Kap. 12). Wie in zahlreichen Barocktexten findet sich auch bei Beer - dem enzyklopädischen Charakter der Barockliteratur entsprechend - eine pointierte Zusammenfassung von wesentlichen Aspekten des zeitgenössischen Traumwissens (vgl. ,Kurtzweilige SommerTäge'. Buch VI, Kap. 11, S. 828f., wo zwischen Prcesagium und Phantasma unterschieden wird). Hier wiederum zitiert nach der am leichtesten zugänglichen Ausgabe: Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus teutsch. Hg. von Volker Meid. Stuttgart 2001.

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des Textes ist prinzipiell (wenn auch nicht in jedem Detail) durchaus auf die Regeln eines Basisrealismus verpflichtet, nicht dagegen die umfangreiche ,Continuatio', in der die allegorische Schreibweise immer größeren Raum einnimmt. Hier wird auch ein sehr langer Traum von einer Höllenreise (Kap. 2-8; S. 583-620) mit eingelagerter Moralitäts-Allegorie (einem Wettstreit zwischen Geiz und Verschwendung) erzählt, der sich in den hochallegorischen Ko-text der ,Continuatio' aber geradezu bruchlos einfügt, also keinerlei traumspezifische Differenzqualitäten aufweist. Im Hauptteil des Romans findet sich nur der bekannte Kriegsbaum-Traum (Buch I, Kap. 15-18). 31 Träumer ist der junge Simplex, der eben eine brutale Auseinandersetzung zwischen Bauern und Soldaten miterlebt hat. Das ist der Tagesrest, der auch in Traumsatiren und Traumallegorien nur selten fehlt. Vor dem Einschlafen, so erzählt Simplex, lagen mir die Sachen, so ich denselben Tag gehöret und gesehen, ohn Unterlüß im Sinn, ich dachte nicht soviel um Essenspeis und meiner Erhaltung nach, als derjenigen Antipathia, die sich zwischen Soldaten und Bauren enthält; doch konnte meine Alberkeit nichts ersinnen, als daß ich schlosse, es müßten ohnfehlbar zweierlei Menschen in der Welt sein, so nicht einerlei Geschlechts von Adam her, sondern wilde und zahme wären, wie andere unvernünftige Tier, weil sie einander so grausam verfolgen (S. 59). Es folgt der Traum, 32 in dem sich die Bäume um das Haus jäh verwandeln. Sie werden zu allegorischen Kriegsbäumen: auf jedem Gipfel säße ein Cavallier, und alle Äst wurden anstatt der Blätter mit allerhand Kerlen geziert; von solchen hatten etliche lange Spieß, andere Musketen, kurze Gewehr, Partisanen, Fähnlein, auch Trommeln und Pfeifen. Dies war lustig anzusehen, weil alles so ordentlich und fein gradweis sich auseinander teilete; die Wurzel aber war von ungültigen Leuten, als Handwerkern, Taglöhnern, mehrenteils Bauren und dergleichen, welche nichtsdestoweniger dem Baum seine Kraft verliehen, und wieder von neuem mitteilten, wann er solche zuzeiten verlor; ja sie ersetzten den Mangel der abgefallenen Blätter aus den ihrigen, zu ihrem eigenen noch größeren Verderben; benebens seufzeten sie über diejenige, so auf dem Baum saßen, und zwar nicht unbillich, dann

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Einen Sonderfall stellt ein Hexensabbat dar, durch den Simplex sich von Fulda nach Magdeburg versetzt sieht (Buch II, Kap. 17, S. 181-183). Im Kontext einer ausführlichen Diskussion der Wahrscheinlichkeit dieser Episode, in der Grimmelshausen/Simplex ironisch und metafiktional die poetische Freiheit des Autors gegen das vraisemblance-Gebot behauptet (Kap. 18), erwägt der Erzähler zwar, daß es sich um einen Traum gehandelt haben könnte (S. 186f.), diese Plausibilisierungsoption bleibt aber ungenutzt - ein weiterer Beleg für die Unnötigkeit von Traummarkierungen in einer Gattung, die durch die Konventionen der Satire von der Wahrscheinlichkeitsforderung befreit ist. Wie bei Wahrträumen häufig, erfolgt auch hier die Traummarkierung nur unter Vorbehalt: da dünkte mich, gleichwie in einem Traum (S. 59).

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der ganze Last des Baums lag auf ihnen, und druckte sie dermaßen, daß ihnen alles Geld aus den Beuteln, ja hinder sieben Schlossen herfurgieng; wann es aber nicht herfür wollte, so striegelten sie die Commissarios mit Besemen, die man militärische Exekution nennete, daß ihnen die Seufzer aus dem Herzen, die Tränen aus den Augen, das Blut aus den Nägeln, und das Mark aus den Beinen herausgienge; noch dannoch waren Leut unter ihnen, die man Fatzvögel [Spaßvögel] nennete, diese bekümmerten sich wenig, nahmen alles auf die leichte Achsel, und hatten in ihrem Kreuz anstatt des Trosts allerhand Gespei [Gespött] (S. 59). Grimmelshausens Kriegsbaum-Allegorie ist natürlich eine Variante der bekannteren Allegorie vom Ständebaum, wie ihn etwa der sogenannte Petrarca-Meister, ein unbekannter Augsburger Holzschnitzer, dargestellt hatte: Grimmelshausens Kriegsbaum ist eine Allegorie der Ständegesellschaft im Krieg. Soweit ist der Text also eine durchaus konventionelle Traumallegorie. Ebenso konventionell, wenn auch originell variiert, ist die Durchführung. Der Traum ist dreigeteilt: Zunächst wird der Baum in seinem hierarchisch angeordneten Personal und dessen Tun ausführlich beschrieben (wie oben teilweise zitiert); dann kommt es zu einem Streitgespräch zwischen einem alten Feldwebel, der sich darüber beklagt, als Nicht-Adeliger nicht in den Offiziersrang aufsteigen zu können, und einem Verfechter dieser Ständeschranke mit dem sprechenden Namen Adelhold. In diesem Streitgespräch wird deutlich, daß Grimmelshausens Zeitkritik immer zwei Ebenen hat: eine sozialkritische (die Ständeordnung ist ungerecht, und diese Ungerechtigkeit potenziert sich noch im Krieg) und eine christlichmoralische (auch in einer gerechteren Ständeordnung bliebe der Mensch in seinem weltverhafteten Tun sündig). Letzteres erweist sich daran, daß der Feldwebel keineswegs als positive Identifikationsfigur gezeichnet ist: Er pflegt seine Soldaten wie die Hund zu verprügeln (S. 68) - sein Aufstieg zum Offizier würde also die Weltverhältnisse auch nicht zum Guten wenden. Im dritten und letzten Teil vereinigen sich die Kriegsbäume zu einem einzigen: Als ich so zusähe, bedauchte mich, alle diejenigen Bäum, die ich sähe, wären nur ein Baum, auf dessen Gipfel säße der Kriegsgott Mars und bedeckte mit des Baums Asten ganz Europam; wie ich davorhielte, so hätte dieser Baum die ganze Welt überschatten können, weil er aber durch Neid und Haß, durch Argwohn und Mißgunst, durch Hoffart, Hochmut und Geiz, und andere dergleichen schöne Tugenden, gleichwie von scharfen Nordwinden angewehet wurde, schiene er gar dünn und durchsichtig, dahero einer folgenden Reimen an den Stamm geschrieben hat: Die Steineich durch den Wind getrieben und verletzet, Ihr eigen Ast abbricht, sich ins Verderben setzet:

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Durch innerliche Krieg und brüderlichen Streit 33 Wird alles umgekehrt, und folget lauter Leid (S. 68). Vom gewaltigen Lärm erwacht Simplex - und wird an seinen Traum keinen weiteren Gedanken verschwenden. Die Besonderheit des Kriegsbaum-Traumes liegt darin, daß seine Einkleidung als Traum durchaus eine klare Funktion hat. Es ist nicht die eines Allegorie- oder Satiresignals, das bei Traumeinkleidungen in der niederen Barockliteratur ohnehin funktionslos wäre, da alle Lizenzen der onirischen Schreibweise auch in Nicht-Traum-Texten zur Verfügung stehen. Es ist auch nicht die einer höheren Wahrheitsgarantie, wie sie ein übernatürlicher Traum durchaus haben könnte (und bei Lohenstein wie Gryphius ja auch hatte); ein solcher ,höherer' Ursprung des Traumes wird aber nirgends thematisiert. Mittelbar fungiert die Traummarkierung aber in der Tat als Autorisierungssignal - nämlich als Indizierung der direkten, autoritativen Autorenrede. In dem als Ich-Erzählung angelegten Roman dient die Traumeinkleidung dem Autor als Mittel, sich - unter Ausschaltung des Helden und Erzählers, also sozusagen hinter dessen Rücken - , direkt an den Leser zu wenden und ihm eine Aussage zu vermitteln, die den Wissenshorizont von Simplex deutlich übersteigt. 34 Ich hatte bereits darauf hingewiesen, daß sich in der niederen Erzählliteratur des Barock in den letzten Jahrzehnten der Epoche einige Veränderungen ergeben. Auf zwei Beispiele dafür will ich wenigstens kurz eingehen. 1683 erscheint anonym eine Sammlung von sieben Prosatexten mit dem Haupttitel ,Deß Weisen Mannes Politische Träume'. 35 Der Titel verbindet das Buch mit einer vor allem von den Universitätsprofessoren Christian Weise und Johannes Riemer in den 70er Jahren begründeten Sonderform des Pikaroromans, dem sogenannten politischen Roman' (wobei das Wort politisch' natürlich nicht in un-

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Durch solche Verspassagen, die dem Traum verschiedentlich eingefügt sind, verknüpft Grimmelshausen seine Traumallegorie mit der Kulturpraxis der Emblematik: Das erzählte Traumbild entspricht der pictura, die Verspassagen der subscriptio. So enthält der Passus auch Ausdrucksmittel, die Simplex nicht zur Verfügung stehen, wie Verspassagen und lateinische Zitate. An anderen Stellen des Romans hat Grimmelshausen solche den Bewußtseinsstand des Ich-Erzählers überschreitenden Einschübe anders gestaltet - etwa in der Erzählung Jupiters' oder der Mummelsee-Episode. Deß Weisen Mannes politische Träume/ worinnen Einer klugen Seelen weitaußsehende Gedancken/ und Bey dieser Zeiten Lauff sich begebenden Menschlichen Welt-Händeln/ In lebendiger Aufführung der Tugenden und Laster herrliche Bilder/ Uberauß anmuthig und erbaulich zu lesen/ vorgestellet werden. Frankfurt 1683. Die Titel der Kapitel (und Träume) lauten: ,Der Traur-Aufzug' (S. 8 - 9 2 ) , ,Kinder (sind) Vätter' (S. 9 3 - 1 6 2 ) , ,Das gemengete Thier Chimaera' (S. 162-202), ,CHAOS oder der gemengte Klumpe' (S. 2 0 2 - 2 2 8 ) , ,Der Circe Haus' (S. 2 2 8 - 2 4 9 ) , ,Meteora oder Unvollkommenes Gemenge' (S. 2 4 9 - 2 5 8 ) , ,Die flüchtige Gottseligkeit' (S. 258-311).

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serem Sinne gemeint ist; eher geht es um den Erwerb von Welterfahrung und Menschenkenntnis).36 Die politischen Träume' sind nach dem folgenden Grundschema angelegt: Am Anfang der Kapitel wird (meist) ein Traum erzählt, und zwar vom Träumer selbst, einem weisen Mann namens Hermias. Danach versuchen sich der Träumer und sein Freundeskreis an dessen allegorischer Auflösung und diskutieren das im Traum erkannte (moralische, philosophische oder Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens betreffende) Problem. Im zweiten Text, betitelt ,Vätter (sind) Söhne', beispielsweise, erzählt Hermias einen langen Traum, in dem er sich ins frühe Rom versetzt findet und eine Versammlung des Senats mit altehrwürdigen Ratsherren beobachtet. Plötzlich betritt die Parze Klotho den Raum, als welche / wie die Poeten tichten / des menschlichen Lebens Fadem in Händen hat / und der thörichte Pöbel solches ehemals davor gehalten. Ihr Gesichte war ernst und fast unversöhnlich: ihr Gang wandte sich bald nach dieser / bald nach jener Seiten / und kehrete sich mancherley herum / daß man nicht wissen konnte / welchen sie angreiffen würde. Sie war eine grimmige Botschafterinne: dann nachdem sie mitten im Platz getretten /schlug sie unter den Vättern etliche /die noch vermögenes Alters waren /mit einer cypressenen Ruthe / die sie in der Hand fiihrete / zuerst sänfftiglich /folgends sie erinnernde / wie ihr Lebens-Fadem am Rocken zu Ende gelanget / und vermöge des Verhängnüsses der Tod vor der Thür sey. Daß ihre Worte nicht gefehlet / solches erwiese der Tod der Vätter / welche das Verhängnüß geordnet hatte. Alle verfielen sie auff einmahl aus ihren helfenbeinern Stühlen / und machten durch ihren Tod die Versammlung zu einem Traurplatz, Hierauff lieff die Clotho mit geschwinden Tritten den gantzen Saal durch und murmelte / ich weiß nich was / innerhalbes bey ihr selbst / als ob ihr verbotten wäre zu sprechen / und zeigete mit drohenden Händen und Augen so viel an / daß es denen andern nicht besser ergehen würde / womit sie gleich verschwand. Bald darauff dauchte mir / wie eine große Menge Männer diese erledigte Stühle wiederumb einnahmen; von selbigen aber wurden nur wenige zugelassen / denen andern ward befohlen zu warten / was ihnen das Glück mit noch offener Hand noch dieser Zeit bescheren würde. Ein Wunder war es anzusehn / wie Kinder / welche die Kinder-Schuh kaum abgelegt / mit großem Unwillen der Männer / aber gar zu unzweitiger Glückseligkeit / der alten Stellen betreten / und in prächtigen Violbraunen Röcken einhergehend / ihre Säugammen und Tragewärter zu ihrer Freude einluden. Nicht lang hernach traten diese Bübchen auff die helfenbeinerne Stühle / die denen kleinern Leibern viel zu weit und breit waren / so daß die Diener sie drinnen anhalten musten. Hierauff war der Ampt-Diener beruffen die Würde zu bestätigen; der auch mit einem öffentlichen Außruff denen eine gewisse Straffe ankündigte / welche diese also vom

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Bekannte Beispiele sind etwa Weises ,Die drei ärgsten Ertz-Narren in der ganzen Welt' (1673) und Riemers .Politische Maulaffen mit allerhand Scheinkluger Einfalt' (1679).

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Glück zu diesem Ehrenstande Erhobene / nicht vor Vätter erkennen und annehmen würden (S. 95-97). Die Enträtselung des Traumes fallt den versammelten Diskutanten nicht leicht; erst über einen Fall im Bekanntenkreis - der Sohn des Kaufmanns Sabinian ist schon als Kind zum Abt ernannt worden und trägt seither violbraune Kleidung (S. 98) - findet man die Auflösung: Der Traum versinnbildlicht die beständige Gewohnheit bei vornehmen Geschlechtern (S. 99), den jüngeren oder ungeliebteren Sohn zum Abt zu ernennen, um die ganze Erbschaft ungeteilt an den älteren oder geliebteren übergeben zu können. Es folgt ein langes Gespräch, in dem die Verwerflichkeit dieser Praxis und ihre schädlichen Folgen ausfuhrlich erörtert werden. Wiederum handelt es sich hier um die kulturelle Neu-Eingemeindung einer traditionellen Traumdichtungsform, diesmal um eine tendenziell frühaufklärerische:37 Die Traumallegorie wird zum Ausgangspunkt eines aufklärerischräsonierenden Gesellschaftsspiels. Mein letztes Textbeispiel ist eine Premiere der besonderen Art. Zumindest meinen Recherchen nach handelt es sich um das erste Auftreten ausführlich erzählter natürlicher Träume in der deutschen Barockliteratur. Fundort ist ein in der ersten Auflage 1696 erschienener Roman Christian Reuters mit dem Titel ,Schelmuffskys Curiose und sehr gefährliche Reiße-Beschreibung zu Wasser und Land'. 38 Wiederum haben wir es mit einer Variante des Pikaroromans zu tun; der Held ist hier ein Nichtsnutz und Aufschneider, der sich selbst aber für einen großen Mann hält. Reuter schrieb das Buch als Student - nebenbei gesagt: im Karzer - , und Studenten waren wohl auch, wenigstens unter anderem, das angezielte Lesepublikum. In der zweiten Auflage dieses Romans finden sich gleich zwei natürliche Träume, von denen der erste hier im Volltext zitiert sei:39 37

Offensichtlich ist in den .Politischen Träumen' die Barock-typische Phantastik zugunsten des allegorischen Gehaltes stark reduziert, der Umfang der gesprächsweisen Erörterungen überwiegt bei weitem den der kurzen Traumerzählungen. Nicht umsonst ist das Buch einer der wenigen Barocktexte, die, an die natürlichen' Traumerklärungen von Aristoteles und Galen/Hippokrates anknüpfend (S. 13-18), den Glauben an prophetisch-übernatürliche Träume explizit verneinen: Wie du weißest/ so steck ich mit dem gemeinen Mann nicht in einerley Aberglauben/ welcher aus Bemerkung der nächtlichen Traumgesichter künfftige Dinge deutet. Ο närrische Propheten! als welchen ihre Sinnen/ wann sie am wenigsten bey sich selbst seyn/ eine Weissagung eingetreuffelt hat/ dabey nicht mehr Göttliches Liechtes ist/ als was der Schreck- und das unruhige nächtliche Gesichte mit sich gebracht hat (S. 18f.).

38

Die stark überarbeitete und um einen zweiten Teil erweiterte Zweitfassung erschien 1696/97 mit dem leicht abweichenden Titel: ,Schelmuffkys Wahrhafftige Curiöse und sehr gefährliche Reisebeschreibung Zu Wasser und Lande'; hier zitiert nach der Ausgabe: Christian Reuter: Schelmuffsky. Abdruck der Erstausgaben im Paralleldruck. Hg. von Wolfgang Hecht. Halle 1956 (Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. u. XVII. Jhs.). Der zweite Traum steht im zweiten Kapitel des zweiten Teils (S. 85f.; in der Originalausgabe: S. 16-18).

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Einen artigen Traum hatte ich selbe Nacht. Denn mich träumete/ wie daß ich nach den Abtritte meines Bier-Weges gehen wolte/ und kunte denselben nicht finden/ und fand ihn auch nicht/ weil ich nun über der Tafel vorigen Abend ein Bißgen starch getruncken und Scherz und Ernst beysammen war/ so kam mirs in Traume nicht anders für/ als wenn einer von Laqvaien ein groß silbern Faß getragen brächte/ und sagte: Junker hier haben sie was. Damit so griff ich zu und meinte nun der Tebel hohlmer nicht anders das Faß würde mir aus der Noth helffen/ und halff mir auch im Traume aus der Noth. Aber wie ich des Morgens früh aufwachte ey Sapperment! was hatte ich in Traum vor Händel gemacht/ ich schwamm der Tebel hohlmer bald in Bette/ so naß war es unter mir. Doch wars endlich noch gut/ daß ich nicht gar mit der gantzen Schule im Traume gegangen war/ sonst würde ich nicht gewust haben/ auf was für Art solcher Fehler im Traume hätte können bemäntelt werden/ so aber blieb ich in Bette brav lange liegen und trocknete es so artig unter mir wieder/ daß es auch niemand gewahr wurde/ was ich gemacht hatte. Hierauf stund ich auf und ließ mich wieder ankleiden/ wie ich nun fertig war/ schickte der grosse Mogol zu mir/ ließ mir einen guten Morgen vermelden/ und wenn mir was angenehmes geträumet hätte solte es ihn lieb zu hören seyn [...]. Ich war hierauf geschwinde mit einer Antwort wieder fertig und ließ ihn sehr artig wieder sagen: Wie daß ich nemlich sehr wohl geschlaffen/ aber was das träumen anbelangete/ so hätte ich keinen guten Traum gehabt/ denn der Angst-Schweiß wäre mir im Traume so ausgefahren (S. 60f.). Mit einem solchen Text wird dem natürlichen Traum aber keineswegs Literaturfähigkeit attestiert. Im Gegenteil: Wer derartige Träume hat und, vor allem, diese auch noch öffentlich kundtut, der diskreditiert sich selbst - und genau das ist die Funktion dieser Traumeinlagen im Roman.

4. Zusammenfassung Die systematische Untersuchung der Traumdichtungspoetik der deutschsprachigen Barockliteratur steht erst am Anfang. Ich habe versucht, erste Grundlinien zu skizzieren. Abschließende Urteile würden aber eine deutlich größere Materialbasis voraussetzen, als sie ein kurzer Aufsatz erschließen kann. Mein schmales Textkorpus dürfte jedoch ausreichen, um erste Thesen für ein kulturwissenschaftliches Fazit zu formulieren. Der Kulturwissenschaftler interessiert sich primär für die kulturelle Arbeit am Traum als einem Irritativum, einem anthropologischen Skandalon, mit dem Kultur umzugehen hilft. Das kann etwa geschehen durch Traumtheorien und durch Funktionsbestimmungen, die den Traum in kulturelle Sinnsysteme einbinden,

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durch Diskursregeln und Kulturtechniken, die den Umgang mit Träumen regeln, durch Gestaltungen von Träumen in Kunst und Literatur usw. 40 Wie sieht es nun mit der gesamtkulturellen und besonders der literarischen Arbeit am Traum in der Hochkultur des Barock aus? 1. Der Barock greift (teils durchgängig tradierte, teils in der Renaissance wiederentdeckte) antike und mittelalterlich-christliche Errungenschaften der Traumkultivierung auf und paßt sie der eigenen Kultur und ihren allegorisch-emblematischen Sinnstiftungsstrategien an. Dieser gesicherte und kulturell sicher eingemeindete Bildungsbesitz dürfte mit einiger Wahrscheinlichkeit auch normprägend für die barocke Traummentalität und das ganz persönliche Umgehen mit Träumen gewesen sein. 2. Was die Domestizierung des Traumes angeht, so erscheint die barocke Hochkultur als wohlbefriedetes und wohl-poliziertes Terrain. Natürliche Träume unterliegen einem erfolgreich durchgesetzten Diskursverbot (das ja auch Reuter nicht aufhebt, sondern mittelbar bekräftigt); die allein vorkommenden übernatürlichen Träume folgen klaren Regeln und Schematisierungen; Traumdichtungen haben ihre eigene, stabile Regelpoetik. Damit arbeitet die barocke Traumdichtung mit an einer Traumkultivierung qua Ausgrenzung und Allegorisierung. 3. Das ist allerdings nur eine Seite der Wahrheit. Die Barockhochkultur ist eine Kultur mit verschiedenen, aber gleichermaßen anerkannten Registern. Und zu diesen gehört auch eine zwar durch satirisch-allegorische Normen teildomestizierte, aber dem Sinnlichen, Körperlichen, Burlesken, Grotesken und Phantastischen breiten Raum gebende, sozusagen karnevaleske Kulturprovinz. Der Traum hat in ihr zwar nur mittelbares Gastrecht - vor allem über die Traumsatire - , das kulturelle Anarchiepotential, dessen Teil er ist, kann sich hier aber recht freizügig entfalten. 41

40 41

Vgl. Nr. 12 und 13 meiner in Anm. 1 genannten Publikationen. S. Niessen (Anm. 2) hat zu Recht daraufhingewiesen, daß sich die Grenze zwischen Traum und Wachwelt verbindlich erst dort schließt, wo die Wirklichkeit als in sich kohärent und naturgesetzlich-kausal geordnet definiert wird, also im aufklärerischen Weltbild. Erst dann wird der Traum zu einer exklusiven Enklave für das rationalistisch Ausgegrenzte und Verdrängte. Im Barock hat das Irrationale noch einen sehr viel breiteren ontologischen Spielraum, dessen Grenzen weniger durch die Regeln des Verstandes als vielmehr durch das kategorische Gebot metaphysisch-moralischer Sinnhaftigkeit markiert sind. Dessen Geltung bleibt in der deutschsprachigen Barockliteratur unverhandelbar. In der französischen dagegen findet sich im 3. Buch von Charles Sorels ,La Vraie Histoire comique de Francion' (1623, überarbeitete Ausgaben 1626 und 1633) die sicher kühnste Traumdichtung des 17. Jahrhunderts, denn hier werden alle Lizenzen des Traumes radikal ausgeschöpft: die Entlastung von moralischen Geboten und Tabuierungen ebenso wie die von der Verpflichtung auf rationale Kohärenz und ideelle Transparenz.

Literarisches Träumen im Frankreich der Frühen Neuzeit. Inszenierung, Kritik und Apologie des Traums zwischen Ronsard und Racine Bernhard Teuber La vida es sueno - ,Das Leben (ist) ein Traum': Unter diesem dem Spanier Calderon entlehnten Motto wird häufig das Welt- und Selbstverständnis der Barockkultur ganz allgemein subsumiert - im Europa des 17. Jahrhunderts und noch darüber hinaus, so man die von Spanien und Portugal hinzugewonnenen Kolonien in Übersee mit berücksichtigt. 1 Wenn wir uns allerdings von der Iberischen Halbinsel herkommend über den Kamm der Pyrenäen ostwärts, also nach Frankreich, begeben, ändern sich die Gegebenheiten grundlegend. Nicolas Boileau (1636— 1711), ein maßgeblicher Literaturtheoretiker der französischen Klassik, zeichnet als er in seiner ,Dichtkunst' von 1674 über das Drama spricht - die Opposition zwischen Spanien und Frankreich folgendermaßen:

39

Un rimeur, sans peril, delä les Pyrenees, Sur la scene en un jour renferme des annees.

45

Mais, nous, que la raison a ses regies engage 2 r Nous voulons qu 'avec art I 'action se menage.

39

[Ein Reimeschmied mag gefahrlos jenseits der Pyrenäen auf der Bühne viele Jahre in einem Tag zusammenzwingen.

[

( 45

]

)

Doch wir, welche die Vernunft auf ihre Regeln verpflichtet, wir wollen, daß man die Handlung mit Kunstfertigkeit gestaltet.]

Das Selbstverständnis und die Selbstilisierung der Franzosen tendieren demnach - zumindest in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts nach der Niederschlagung der Fronde und der endgültigen Konsolidierung der Herrschaft Ludwigs XIV. - dazu,

2

Siehe hierzu den Beitrag von Gerhard Poppenberg in diesem Band. Nicolas Boileau: Art poetique III, 38f. und 44f. (1674). In: Ders: (Euvres completes. Hg. von Fran^oise Escale. Paris 1966. S. 170.

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Frankreich als einen Hort der Vernunft (raison) zu feiern, der sich gerade dank seiner Vernünftigkeit von den kulturellen Hegemonialmächten Italien und Spanien abhebe. Mit der Aufwertung der raison zum alleinigen Maßstab von Wahrheitssuche und Wahrheitserkenntnis geht in Frankreich eine Abwertung der Formen sinnlicher Wahrnehmung und sinnlich gestützter Einbildungskraft - imagination und fantaisie - einher, zu denen die Träume und Traumbilder wesentlich dazugehören. Reverie - wörtlich: ,Träumerei' - ist eine Tätigkeit des Geistes, die sich nicht auf klare und distinkte Ideen oder Begriffe bezieht, sondern auf Gestalten, die sich durch obscuritas und confusio, durch Undeutlichkeit, durch Vagheit, durch einen Mangel an Wahrhaftigkeit und substantiellem Sein, ja wir könnten mit einem moderneren Begriff sogar sagen: durch Fiktionalität auszeichnen. Die französische Klassik wäre damit als geistesgeschichtliche Epoche und als kulturelle Formation nicht etwa durch die barocke Faszinationskraft des Traums und durch die Apologie der Traumbilder definiert, sondern gerade durch den Ausschluß oder zumindest durch die entschiedene Abwehr alles Traumhaften, durch eine grundsätzliche und generalisierte Kritik des Traums. Es ist kein Geringerer als Michel Foucault, der diese an sich traditionelle Sicht der französischen Klassik in seinem Buch über die Geschichte des Wahnsinns von 1961 mit neuen Argumenten unterfuttert hat. Seiner These von der Exklusion und der Austreibung des Wahnsinns aus der französischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts, die er an der Errichtung des berüchtigten Höpital g0n0ral 1656 in Paris belegt,3 verknüpft er mit einer Descartes-Lektüre, der zu Folge der Philosoph in seinen Meditationen dem Subjekt die Möglichkeit zu träumen zwar durchaus zugestehe, den Traum aber grundsätzlich ebenso wie den Wahnsinn aus dem vernünftigen Wissen ausschließen wolle.4 Foucaults Deutung hat es in der Folge zu einer verschiedentlich zitierten Kontroverse innerhalb der französischen Postmoderne geführt.5 Denn bereits 1963 widersprach Jacques Derrida in einem im Folgejahr veröffentlichten Vortrag Foucault vehement, indem er zu zeigen suchte, daß Descartes den Traum keineswegs für weniger verrückt als den Wahnsinn halte, sondern daß Descartes gerade umgekehrt im Traum eine nochmals gesteigerte Form des Wahnsinns erkenne, die umso unbeherrschbarer sei, als sie allnächtlich jeden Menschen überfalle.6 Aus solch einer Traumsituation heraus, so 3

4

5

6

Michel Foucault: Histoire de la folie ä l'äge classique (1961). Neuausgabe. Paris 1972. S. 56-59. Vgl. Rene Descartes: Meditationes I—II. In: Ders.: Meditationes de prima philosophia (1641), Lateinisch-deutsch. Hg. und übers, von Lüder Gäbe. Durchgesehen von Hans Günter Zekl. Hamburg 1977. S. 30-40 und 40-61. Vgl. Shoshana Felman: Foucault/Derrida. Folie et logos (1974). In: Shoshana Felman: La Folie et la 'Chose litteraire'. Paris 1983. S. 35-54; Didier Eribon: Michel Foucault (19261984). Paris 1989. S. 144-147. Jacques Derrida: Cogito et histoire de la folie (1964). In: Jacques Derrida: L'Ecriture et la Difference. Paris 1967. S. 51-97. Foucault hat auf Derridas Kritik an seiner DescartesLektüre in einem ausführlichen Aufsatz repliziert, welcher der Zweitausgabe der Histoire de la folie als Nachwort beigegeben wurde: Michel Foucault: Mon corps, ce papier, ce feu

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Derrida, entwickle Descartes die Vergewisserung des Selbst im Denken, die im ,Discours de la methode' von 1637 ihren berühmten Ausdruck gefunden hat: Je pense done je suis. - Ego cogito ergo sum.7 Das, was im klassischen Zeitalter vordergründig von der Ordnung ausgeschlossen wird - der Wahnsinn und erst recht der Traum - , wird demnach für Derrida zum Fundament des klassischen Rationalismus, des kartesischen allzumal: Der Rationalismus gründe gewissermaßen selbst in der sinnenverhafteten Irrationalität der Traumwelt, von der er sich eigentlich absetzen und gegen die er sich gerade behaupten wolle. In den folgenden Überlegungen wird Derridas Denkbewegung in der Gestalt aufgenommen, daß wir den Traum gerade nicht als das schlechthin Andere der klassischen Kultur in Frankreich interpretieren, gerade nicht als jenen Fremden, jenen alien im Sinne von Stephen Greenblatt, an dem sich das Selbst der klassischen Kultur abarbeitet, um sich dann diesem alien entgegenzusetzen und ihn einfach in ein Draußen zu relegieren. 8 Vielmehr geht es darum, zu zeigen, wie der Traum - ungeachtet aller wohlfeilen Traumkritik - in eine komplexe kulturelle Ökonomie eingeflochten ist, so daß oft auch noch die Kritik am Traum unterschwellig als dessen Apologie gelesen werden kann. Wiewohl kaum eine Epoche den Traum so kritisch betrachtet hat wie der französische Rationalismus, so gilt doch, daß diese Kritik ohne den Traum nicht auskommt; daß sie ihn nicht nur voraussetzt, sondern geradezu feiert - und zwar als ein ästhetisches, näherhin als ein literarisches Faszinosum. Im folgenden möchte ich meine These auf der Grundlage eines Parcours durch eine Reihe exemplarischer Textausschnitte verdeutlichen, in denen Traumsituationen inszeniert werden, und ich versuche dabei eine ,kleine Geschichte' zu erzählen, deren Stationen uns von Ronsard zu Racine, das heißt: vom Scheitelpunkt der französischen Renaissance zum Gipfelpunkt des sogenannten Klassischen Zeitalters führen sollen. 9

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(1972). In: Michel Foucault: Dits et ecrits. Hg. von Daniel Defert und Francois Ewald. Paris 1994. Nr. 102. Bd. II. S. 245-268. R. Descartes: Discours de la methode IV (1637) - Dissertatio de methodo IV (1644, übers, von Etienne de Courcelles). In: (Euvres de Descartes. Hg. von Charles Adam und Paul Tannery. Bd. VI. Paris 1983. S. 32 resp. S. 558. Vgl. Stephen Greenblatt: Renaissance Self-fashioning. From More to Shakespeare. Chicago, London 1980. S. 9. Umfangreiches und noch immer nicht überholtes Material zur Thematik bietet die Sondernummer der Revue des Sciences Humaines 211. 1988/3. Die Ausgabe trägt den Titel: Rever en France au 17e siecle. Eine stärker auf den innerliterarischen Aspekt orientierte Untersuchung bietet bereits sehr viel früher Walter Pabst: Funktionen des Traums in der französischen Literatur des 17. Jahrhunderts. In: Zeitschrift fur französische Sprache und Literatur. 66. 1956. S. 154-174.

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1. Traum und erotisches Vorspiel bei Du Beilay und Ronsard 1552 veröffentlicht Pierre de Ronsard (1524—1586) seine Amours betitelte Sonettsammlung, in der er erstmals mit Petrarca und dessen italienischen Nachfolgern, aber auch mit seinem Weggefährten Joachim Du Beilay (1522-1560) zu wetteifern sucht. Das von der Tradition vorgegebene und von Ronsard übernommene LiebesSchema ist per definitionem frustrierend: Der Dichter hat sich in eine schöne Dame verliebt, der er abgöttisch ergeben ist und der es gelingt, all seine gegensätzlichen Affekte - im Guten wie im Bösen - auf sich zu ziehen. Der Dichter erinnert sich der Begegnungen und Bilder der Schönen; er möchte von ihr erhört werden und sie sowohl seelisch-geistig als auch körperlich besitzen. Doch die schöne Dame weist ihn ab, entzieht sich ihm oder stirbt gar. Die erotische, durchaus sinnlich begehrende Liebe bleibt unerfüllt - vor allem bei den Italienern. Es ist vor diesem Hintergrund keineswegs unwichtig, daß sowohl Du Beilay in seiner Sammlung L Olive von 1549 als dann auch Ronsard in den oben erwähnten Amours das sinnliche Begehren des Liebenden sehr viel ausdrücklicher thematisiert als die petrarchistischen Vorgänger in Italien.10 Es kann dies insbesondere durch Verweise auf mythologische Gestalten und Liebespaare geschehen, denen jene Vereinigung gelingt, die dem Dichter vorenthalten bleibt. Vor allem aber fuhren Du Beilay und Ronsard ein in dieser Drastik zuvor wenig gebräuchliches Motiv in die entsagungsvolle Schmerzliebe der Petrarchisten ein: Dem Liebenden träumt es, daß er seine Geliebte umarme, daß er neben ihr liege, daß diese sogar bereit sei, sich ihm hinzugeben, bis dann doch der Schläfer kurz vor dem schönsten Augenblick erwacht und erkennt, daß die geträumte Geliebte ein bloßes Trugbild war, das sich ihm wieder entzogen hat. Betrachten wir eine exemplarische Ausgestaltung dieses erotischen Traummotivs bei Ronsard:

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Si mille ceilletz, si mille litz j 'embrasse, Entortillant mes bras tout alentour, Plus fort qu 'un cep, qui d'un amoureux tour La branche aymee impatient enlasse: Si le souci ne jaunist plus ma face, Si le plaisir fonde en moy son sejour, Sij 'ayme mieulx les ombres que le jour,

Siehe zu diesem Gesichtspunkt bereits ausdrücklich Rainer Warning: Petrarkistische Dialogizität am Beispiels Ronsards. In: Die Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania. Hg. von Wolf-Dieter Stempel und Karlheinz Stierle. München 1987. S. 327-358. Erst kürzlich wurde zum Thema eine gesamtromanistisch orientierte Studie vorgelegt von Stephan Leopold: Die Erotik der Petrarkisten. Poetik, Körper, Subjekt in romanischer Lyrik der Frühen Neuzeit. München 2006 (unveröffentlichte Habilitationsschrift an der Universität München, Druck in Vorbereitung).

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Songe divin, cela vient de ta grace, Avecque toy je volleroys aux cieulx, Mais ce portraict qui nage dans mes yeulx, Fraude tousjours ma joye entrerompue Et tu me fuis au meillieu de mon bien, Comme I 'esclair qui se finist en rien, Ou comme au vent s 'esvanouit la nue.11 [Wenn ich tausend Nelken, tausend Lilien umarme, indem ich meine Arme rundherum schlinge, fester als ein Weinstock, der in einer liebestollen Windung die geliebte Rebe voller Ungeduld umklammert; wenn der Liebeskummer mein Gesicht nicht mehr gelb färbt, wenn die Lust in mir ihre Wohnstatt nimmt, wenn ich die Schatten lieber habe als das Tageslicht, göttlicher Traum, dann kommt dies von deiner Huld. Mit dir würde ich zu den Himmeln fliegen, doch das Abbild das in meinen Augen schwimmt, täuscht immerfort meine Freude und unterbricht sie. Und du fliehst mich inmitten meines Glücks, wie der Blitz, der sich zu Nichts auflöst, oder wie die Wolke, die sich im Wind verflüchtigt.]

Der Sprecher des Sonetts befindet sich im Traum. Er meint, er umschlinge seine Geliebte ebenso eng, wie sich der topische (hier männlich gedachte) Weinstock in offenkundiger Enallage - um die (weiblichen) Rebzweige windet. Die Zeit der Entsagung, die ihren physiognomischen Ausdruck im gelb gefärbten Gesicht des hoffnungslos Verliebten findet, scheint vorüber; endlich darf er die Lust der Liebe verspüren, die ihn zum Himmel führt, und das Erlebnis einer solchen Nacht ist ihm lieber als der heilichte Tage. Doch der Dichter erkennt in Vers 8 dann eben auch, daß ihm dieses euphorische Erleben von einem göttlichen Traum geschenkt ist: Erst produziert der Traum vor dem inneren Auge das täuschend echte Bild der Geliebten, dann aber manifestiert sich dieser Sinneseindruck als bloße Täuschung: Das Bild zerstiebt und verflüchtigt sich wie ein Blitz oder eine Wolke. Der Sprecher ist offenbar erwacht und findet sich ohne Geliebte allein in seinem Bett wieder.

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Pierre de Ronsard: Les Amours (1552-1584). Hg. von Marc Bensimon und James L. Martin. Paris 1981. Sonett XXIX (1552). S. 70. Bei Ronsard wird das Traumthema gleich in einer ganzen Serie von Gedichten abgehandelt, welche die Sonette Nr. XXVIII, XXIX und XXX umfaßt und später (immer noch in der Ausgabe von 1552) eine Fortsetzung in Nr. CI und (vermutlich) Nr. CII findet. Das Vorbild stellt das Sonett Nr. XIV dar bei Joachim Du Beilay: L'Olive (1549). Hg. von E. Caldarini. Genf 1974. S. 69f.

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Im kulturellen Wissen der Renaissance hatte die aus der Antike ererbte Typologie der Träume noch weithin Bestand.12 Der antiken Auffassung zu Folge waren trügerische Nachtträume (das ενύπνων respektive das insomnium) oder phantastische Tagträume zwischen Wachen und Einschlafen (das φάντασμα respektive das visum) von wahren, prophetischen Arten des Traums zu unterscheiden. Zu den Letztgenannten gehörten der ονειρος respektive das somnium (ein verschlüsselter Nachttraum, dessen kunstfertige Auslegung eine wahre Bedeutung zu Tage zu fordern versprach), der χρηματισμός respektive das oraculum (ein Traum, in dem eine hochgestellte Persönlichkeit dem Träumer in einer Rede die Zukunft autoritativ offenbarte) und das όραμα respektive die visio (die wahrheitsgetreue Schau eines künftigen oder zumindest unbekannten Sachverhalts im Traum). Im Französischen des 16. und 17. Jahrhunderts wird der prophetische oder auslegbare Wahrtraum (im Sinne des somnium) gerne als songe, der unzuverlässige, von Tagesresten durchsetzte Traum (im Sinne des insomnium) dagegen als reve bezeichnet.13 Der zu entschlüsselnde Traum (somnium) konnte nun wiederum nach Macrobius - wie schon bei Homer in der ,Odyssee' und bei Vergil in der ,Aeneis' verbürgt - entweder aus der hörnemen oder aus der elfenbeinernen Pforte treten. War die Pforte aus Horn, ließ sich die Wahrheit in verhüllter Form erahnen, so wie dünnes Horn für das Licht durchlässig ist; war die Pforte jedoch aus Elfenbein, blieb die wahre Bedeutung des Traums verborgen, so wie ja auch das Elfenbein keinerlei Licht hindurchschimmern läßt: Der Traum aus der elfenbeinernen Pforte gewinnt demnach Merkmale eines unzuverlässigen insomnium. Bei Du Beilay und Ronsard wird in den einschlägigen Gedichten ausdrücklich die Herkunft des Traums thematisiert: Bei Du Beilay erreichen die geballten Empfindungen der Liebeslust den Träumer durch die elfenbeinerne Pforte: Lors que d'amour les plaisirs amasses / Entrent en moy par la porte d'yvoire.14 Bei Ronsard fragt sich der Träumende hingegen, aus welcher Pforte der Traum denn ,herabgeflossen' sei, um seiner Seele Erleichterung von ihren Liebesqualen zu verschaffen: De quelle porte es-tu coulle des cieulx /Pour soulager les peines de 12

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Der locus classicus zur Typologie der Träume findet sich im spätantiken Kommentar des Macrobius zum Somnium Scipionis. Vgl. Macrobi commentarii in somnium Scipionis 1,3. Hg. Franciscus Eyssenhardt. 2. verb. Aufl. Leipzig 1893 (Erstausg. 1856). S. 473^-77. Nicht nur das ganze Mittelalter hindurch, sondern auch in Renaissance und Früher Neuzeit war das Werk des Macrobius ein wichtiger Bestandteil des geistigen Horizonts. Allein in der Bayerischen Staatsbibliothek finden sich davon elf verschiedene Ausgaben vom 16. bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts (1521, 1526, 1527, 1528, 1535, 1538, 1556, 1560, 1585, 1597, 1607), manchmal in mehreren Exemplaren. Vgl. hierzu auch Gregor Webers Beitrag in diesem Band sowie Ders.: Kaiser, Träume und Visionen in Prinzipat und Spätantike. Stuttgart 2000; Ders.: ,Zweifach sind die Tore der wesenlosen Träume ...' Traum und Traumdeutung in der Antike. In: Theologie und Psychologie im Dialog über den Traum. Hg. von Thomas Auchter und Michael Schlagheck. Paderborn 2003. S. 13—4-8, hier S. 20f. Vgl. hierzu ausführlicher Pierre-Alain Cahne: Reve et songe. Lexique et Ideologie. In: Revue des Sciences Humaines. 211. 1988/3. S. 193-198. Du Beilay (Anm. 11) XIV, 3f.

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mon ame?x5 Nehmen wir Ronsards vorgeblichen Zweifel vor der Folie von Du Beilays Aussage, dann handelt es sich erwiesenermaßen um eine rhetorische Frage. Der Traum kommt aus der elfenbeinernen Pforte und ist unzuverlässig, denn auch im Wachleben erfährt der Liebende immer nur Ablehnung von Seiten der Geliebten. Bereits bei Macrobius lesen wir ja - wiederum unter Berufung auf Vergil daß die Verliebten zu insomnia neigen, die von ihrer cura amoris, ihrem ,Liebeskummer', ausgelöst würden und sich beim Erwachen verflüchtigten. 16 Somit müßte es sich auch in den Liebessonetten Ronsards und Du Beilays um geradezu klassische Wunscherfüllungsträume handeln, die dem Liebenden im Traum zu gewähren vorgeben, was ihm das Wachleben gerade versagt. Doch zugleich stilisieren, ja auratisieren Ronsard und Du Beilay ihre Traumgeschichte zu veritablen Wahrträumen, die womöglich als göttliche Botschaften und Prophezeiungen zu deuten sind. Du Beilay spricht von einer Situation ,tiefen Schlafes, den man für himmlisch halten muss': Le fort sommeil que celeste on doit croyre ...,17 und Ronsard preist seinen Traum als ,göttlichen Boten, der Balsam auf seine Wunden gießt', als ,Dolmetsch und Herold der Götter': Ange divin, qui mesplayes embasme, / Le truchement & le herault des Dieux ... l8 Somit wäre auch eine zweite Lesart denkbar, nämlich daß der Traum nicht nur eitle Wunscherfüllung ist, sondern Ankündigung einer verheißungsvollen und glücklicheren Zukunft, die freilich innerhalb der Gedichtsammlung an keiner Stelle greifbare Wirklichkeit wird. Für solche Zwecke borgen Du Beilay und Ronsard sich die Autorität des mantischen Vokabulars und machen zum Urheber solcher Träume nicht allein eine pathologische Befindlichkeit, nämlich die Liebeskrankheit im Sinne des amor hereos, sondern Amor selbst in seiner auratischen Würde als Gott der Liebe. Zudem ermöglicht ein solcher Rekurs auf den Traum die hedonistische Ausgestaltung erotischer Szenen, die angesichts des ansonsten eingeforderten Ideals einer entsagenden Liebe in der Dichtung unvorstellbar und - vor allem unsagbar geblieben wären. 19 In den hier vorgestellten Traumgedichten verbindet sich somit ein feierlicher Appell an die geglaubte Autorität der Traumbilder mit einer gewissen Ironie, die den grundsätzlich trügerischen Charakter des Träumens in Rechnung stellt. Das was als bloßer reve, als bedeutungsloses insomnium, verworfen werden könnte, erhält doch auch die Aura eines ernstzunehmenden songe, also eines prophetischen somnium, einer visio gar, zugesprochen, worin eine zukünftige Erfüllung des Liebessehnens zwar nicht schon vorweggenommen, aber zumindest in Aussicht gestellt wird. Der Traum ist flüchtiger Schein, aber zugleich auch Vorahnung, gewissermaßen Vorspiel einer erotischen Begegnung, die bislang noch

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Ronsard (Anm. 11) XXX, 3f. Vgl. noch einmal Macrobius in somnium Scipionis I, 3. Du Beilay (Anm. 11) XIV, 1. Ronsard (Anm. 11) XXX, lf. Hierzu ausführlich S. Leopold (Anm. 10).

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ausgeblieben ist. In solcher Unentschiedenheit, die zu ihrer einen Voraussetzung das grundsätzlich optimistische Vertrauen in die Wahrheitsfähigkeit des Träumens hat und die andererseits die Zuverlässigkeit der einzelnen Traumbotschaften doch immer wieder in Zweifel zieht, verharren die hier erläuterten Gedichte - und sie sind in dieser ambivalenten Haltung durchaus paradigmatisch für die epistemologische Konfiguration der französischen Renaissance insgesamt. Der Traum ist interessant für sie und verdient gedeutet zu werden, gerade weil sich nicht ausschließen läßt, daß er trotz aller zu unterstellenden Täuschung dennoch einen Zugang zur Wahrheit versprechen könnte.

2. Traum und melancholische Sinnestäuschung bei Saint-Amant Von der Oszillation, ja Unentscheidbarkeit zwischen Wahrheit und Täuschung, wie sie die Literatur der französischen Renaissance zu kennzeichnen scheint, entfernen sich die Autoren des 17. Jahrhunderts. Eine der prominenteren Ausarbeitungen der Traum- und Visionsthematik findet sich bei Antoine Girard, Sieur de Saint-Amant (1594-1661), der von den Literarhistorikern zu den Vertretern der Vorklassik und damit auch zur kleinen Schar französischer Barock-Dichter gezählt wird. In einem seiner längeren Poeme, das um 1624 entstanden sein muß und unverkennbar den Ton einer Horazischen Satire oder Epistel anschlägt, berichtet ein Ich-Erzähler namens Clidamant seinem Freund Damon über seine allnächtlich wiederkehrenden Traumphantasien und über die darauf folgende depressive Stimmung bei Tage, die durch das unwillkürliche Gedenken an seinen kürzlich verstorbenen Schriftsteller-Freund Lysis noch gesteigert wird. Hinter Lysis, so die Kommentatoren, verberge sich der keine 25 Jahre alt gewordene Francois de Moliere, der als Autor des heroisch-galanten Romans Polyxene in die Erinnerung eingegangen ist. Unabhängig von der Huldigung an den Freund und literarischen Weggefahrten, mit dem der aus 232 paarreimenden Alexandrinern bestehende Text nach dem Erwachen des Ich-Erzählers Clidamant endet, scheinen jedoch dessen nächtliche Phantasien und Traumbilder im Mittelpunkt zu stehen, denn nach ihnen ist das kleine Werk als Les Visions benannt; und in der Tat erweist sich der Sprecher als durchaus disponiert für Traumerlebnisse, denn er charakterisiert sich von Anfang an als unheilbaren Melancholiker: Le coeur plein d'amertume, et Γ Arne ensevelie Dans la plus sombre humeur de la melancholie,

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Damon je te descris mes travanx intestins, 20 Oü tu verras I 'effort des plus cruels Destins.

[Das Herz voll Bitternis und die Seele begraben / in der dunkelsten Stimmung der Melancholie / beschreibe ich dir, mein Damon, die Leiden meiner Eingeweide, / woran du sehen wirst, daß mir mit aller Macht die grausamsten Schicksalsschläge zusetzen.] Die Befindlichkeit des Sprechers rührt von einer Disproportion seiner Körpersäfte (.humeurs) her, nämlich von einem Überschuß an schwarzer Galle (melancolie), der - wie sich zeigen wird - schädliche Dämpfe im Körper aufsteigen läßt, die das Gehirn vernebeln und ihm phantastische Sinneseindrücke vorgaukeln. Daß das Krankheitsbild der Melancholie gemeint ist, wird auch aus einem weiteren Sachverhalt deutlich: Jede Nacht schleppt sich ein großer, ausgemergelter, schwarzer Hund vor Clidamants Tür und beginnt heftig zu bellen, so daß die gesamte Nachbarschaft dies fur ein böses Vorzeichen nimmt und keinen Schlaf finden kann. Der Hund gehört zu den emblematischen Begleitgestalten der Melancholie. Darum ist er bereits auf Dürers berühmtem Kupferstich Melencolia I von 1514 und auf einschlägigen Nachfolgearbeiten zu sehen."1 Clidamant, der offenbar bereits im Bett liegt und keine Ruhe finden kann, ist gleichfalls erschrocken: Die Haare stehen ihm sogar zu Berge, und in dieser angstvollen Stimmung beginnt er, sich düsteren Phantasien hinzugeben: 15

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Moy qu 'un sort rigoureux outrage ά tout propos, Et qui ne puis gouster ny plaisir, ny repos, Les cheveux herissez, j 'entre en des resveries De contes de Sorciers, de Sabaths, de Furies, J'erre dans les Enfers, je röde dans les Cieux, L 'Arne de mon Ayeul se presente ä mes yeux, Ce Fantosme leger coiffe d 'un vieux suaire, Et tristement vestu d 'un long drap mortuaire, A pas ajfreux et lents s 'approche de mon lit, Mon sang en est glace, mon visage en paslit, De frayeur mon bonnet sur mes cheveux se dresse, Je sens sur l 'estomach un fardeau qui m 'oppresse, Je voudrois bien crier, mais je I 'essaye en vain, II me ferme la bouche avec sa froide main,

Saint-Amant: Les visions. Ä Damon. Vers. 1-4. In: Ders.: (Euvres. Hg. von Jacques Bailbe, Jean Lagny. Paris 1967. S. 125-136, hier S. 125. Im Ausgang von Saint-Amants biblischer Moses-Dichtung bietet eine weiterführende Studie zum Autor Dorothee Scholl: Moyse sauve. Poetique et originalite de l'idylle hero'ique de Saint-Amant. Paris, Seattle 1995. Vgl. Raymond Klibansky, Erwin Panofsky, Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst (englisch 1964). Übers, von Christa Buschendorf. Frankfurt a. M. 1990. S. 406-522, hier S. 453.

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Puis d'une voixplaintive en I'air esvanoüye, Murmurant certains mots funestes ά I 'oiiye, Me predit mes malheurs, et long temps sans sgiller Me contemple debout contre mon oreiller Je voy des feux volans, les oreilles me cornent; Bref mes sens tous confus I 'un I 'autre se subornent En la credulite de mille objets trompeurs Formez dans le cerveau d'un excez de vapeurs, Qui s 'estant empare de nostre fantaisie, La tourne en moins de rien en pure frenesie. Souvent tout en sueur je m 'esveille en parlant, Je saute hors du lit I 'estomach patelant ,..22

[Ich, dem ein unbarmherziges Geschick bei jeder Gelegenheit übel mitspielt / und der weder Vergnügen noch Ruhe zu kosten vermag, / ich beginne mit gesträubten Haaren meinen Träumereien nachzuhängen / von Hexenmärchen, Hexensabbat und Furien. / Ich irre umher in der Unterwelt, ich streife durch die Himmel. / Die Seele meines Urahnen erscheint vor meinen Augen. / Dies flüchtige Gespenst mit einem alten Leichentuch als Kopfbedeckung und von einem langen Totenhemd bekleidet, / nähert sich mit grässlichen und langsamen Schritten meinem Bett. / Mein Blut gefriert, mein Gesicht erblasst, / vor Furcht erhebt sich meine Nachthaube über die sich sträubenden Haare, / ich spüre auf dem Magen eine Last, die mich bedrückt. / Ich möchte gerne schreien, doch ich versuche es vergeblich. / (Das Gespenst) schließt mir mit seiner kalten Hand den Mund. / Dann - mit klagender Stimme, die in der Luft verhallt, - / murmelt er gewisse unheilverkündende Worte ins Ohr. / Er sagt mir mein Unglück voraus, und eine lange Weile, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, / betrachtet er mich, während er vor mir am Kopfkissen steht. / Ich sehe Irrlichter, die Ohren rauschen mir. / Kurzum: meine Sinne sind verwirrt und verleiten sich gegenseitig dazu, / leichtfertig an tausend trügerische Gegenstände zu glauben, die in unserem Gehirn von einem Übermaß an Dünsten gebildet werden, / das sich unserer Einbildungskraft bemächtigt / und sie im Nu in reinen Irrsinn verwandelt. // Oft wache ich schweißgebadet auf, / springe mit zuckendem Magen aus dem Bett...] Zunächst verfällt der Erzähler in einen angsteinflößenden Wachtraum {visum): Erinnerungen und Einbildungen von unheimlichen Erzählungen über böse Zauberer (sorciers), über Hexenversammlungen (sabbats) und Furien (furies) beschäftigen ihn. Doch allmählich scheint dieser Wachtraum, der Elemente aus der kollektiven Imagination aufgreift, überzugehen in ein regelrechtes insomnium, in einen Nachttraum. Das Gespenst (fantome) des Urgroßvaters erscheint in Leichentuch (suaire) und Totenhemd (drap mortuaire) gehüllt und nähert sich dem Lager des 22

Saint-Amant (Anm. 20) Les Visions 15-40. S. lOf.

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Träumenden: Die Vision artet zum Alptraum aus, der ihm Magendrücken verursacht. Das Symptom hatte bereits Macrobius beschrieben: In hoc genere est εφιάλτης quem publica persuasio quiescentes opinatur inuadere et pondere suo pressos ac sentientes grauare.23 - ,Zu dieser Art (von Träumen) gehört der Alp, von dem allgemein angenommen wird, daß er die Schlafenden überfallt und bei ihnen, indem er sie mit seinem Gewicht belastet, ein Gefühl der Bedrückung auslöst.' Das Gespenst verkündet dem Clidamant eine unheilvolle Botschaft, die dessen Schrecken noch vermehrt, ihm vor den Augen Irrlichter flackern und die Ohren dröhnen läßt. Doch alle diese Sinneswahrnehmungen, die geträumten Bilder und Geräusche, sind unzuverlässig (objets trompeurs). Sie entstehen im Gehirn in Folge eines Übermaßes an Dämpfen (exces de vapeurs), welche eine wirklichkeitsabbildende und harmlose Phantasie (fantaisie) in eine gefährliche, die Wirklichkeit entstellende Phrenesie (frenesie) überführen. Hinter den Bildern des Traums ist keine tiefere Wahrheit verborgen, sondern er erweist sich als substanzlose Täuschung, aus der Clidamant schweißgebadet erwacht. Im Fortgang des Erlebnisses greift er nach seinem Zunder und entflammt mit großer Mühe ein Holzscheit. Der Schwefelgeruch läßt ihn nicht nur die Welt teuflischer Dämonen assoziieren, sondern im bläulichen Licht der stinkenden Flamme zeichnet sich an der Wand eine schattenhafte Gestalt ab. Als er hinter sich auch noch ein Seufzen vernimmt und sich umwendet, meint er sogar einen Knochenmann zu erkennen: Au trovers de ce feu puant, bleüastre et sombre / J'entrevoy cheminer la figure d'un ombre, / J'entens passer en l'air certains gemissements, / J 'advise en me tournant un spectre d'ossements.24 Ohnmächtig fällt der Erzähler zu Boden und wird von seinem Hauswirt und den herbeieilenden Nachbarn mühsam wiederbelebt. Doch statt in den freundlichen Helfern seine Mitmenschen zu erkennen, hält Clidamant den Kreis für eine Versammlung von Gespenstern. Als auch noch der Mond aufgeht und mit seinem bleichen Licht die Szenerie bescheint, sieht er bewegliche Bilder, die ihn anzugreifen scheinen. Er zückt sein Schwert und zerhackt damit die Luft, wie einst der schlaftrunkene Don Quijote die Weinschläuche aufgeschlitzt hat. Die immer wieder erwähnten Schatten, die im Licht des Holzscheits, dann auch des Mondes unheimliche Gestalten annehmen, erinnern frappant an die Bilder einer Laterna magica, wie sie im Laufe des 17. Jahrhunderts in Mode gekommen ist.25 Doch der unsanft aus seinem Alptraum gerissene Melancholiker kann nicht ohne weiteres zwischen Wachen und Träumen, zwischen wirklicher Gestalt und trügerischem Schattenbild unterscheiden. Wie der Traum (insomnium) seinen Sinnen die Er23 24 25

Macrobi commentarii in somnium Scipionis 1,3. Saint-Amant: Les Visions 50-53. S. 128. Zur Laterna magica vgl. Ulrike Hick: Geschichte der optischen Medien. München 1999. Die ursprüngliche Erfindung der Laterna magica wird fur das Jahr 1656 angesetzt und dem niederländischen Physiker Christiaan Huygens zugeschrieben. Es gab aber offenkundig Vorformen. Auf jeden Fall wird in Saint-Amants Gedicht so etwas wie ein Effekt der Laterna magica zur Darstellung gebracht.

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scheinung des Großvaters vorgegaukelt hat, so vermag er auch im Wachzustand nicht die Wirklichkeit, sondern lediglich grausige Simulacra zu erkennen, die er allerdings fälschlich fur die Realität hält. Ursache dieser Verwechslung sind die Dynamik des Traums und die Physiologie des Melancholikers. Ein solcher Traum vermittelt dem Träumer keine Lehre, es sei denn die Lehre, daß er sich vor dem Irrtum des Traumes hüten muß. Aber zugleich kann der Traum zur Quelle komischer Lust werden, denn Clidamant, der sich selbst mit keinem Geringeren als mit dem Don Quijote des Cervantes vergleicht, gibt als Melancholiker, der den falschen Bildern des Traums und den trügerischen Sinneseindrücken des Wachseins auf den Leim geht, einen ebenso komisch scheiternden Helden ab, wie es auch Cervantes' ,Ritter von der traurigen Gestalt' war. Über beide darf das Publikum in heiteres Gelächter ausbrechen.26 Doch heiter und belachenswert ist der Traum, weil er dem Subjekt eine Welt bloß vortäuscht, die in ihrer tieferen Wahrheit von derselben Substanz- und Körperlosigkeit ist wie das illusionsstiftende Bild einer Laterna magica.

3. Traum und Ursprung des Theaters bei Corneille Wenn wir in Belegen des beginnenden 17. Jahrhunderts, sei es schon durch die Sache selbst gedeckte Anspielungen auf die Technologie der Laterna magica, sei es zumindest die Imagination solch eines medialen Dispositivs ausmachen können, dann scheint das Ziel einer solchen Apparatur darin zu bestehen, Bilder zu produzieren, die in offenkundiger Analogie zur Halt- und Substanzlosigkeit der Traumgesichte stehen. Wie das von überschüssigen Körpersäften und Dämpfen vernebelte Gehirn visa oder φαντάσματα zu produzieren beginnt, die vor seinem inneren Auge erscheinen, so können auch optische Apparaturen vergleichbare Schemen produzieren, die vom äußeren Auge wahrgenommen und fälschlich für wahr gehalten werden. Es bildet sich eine Vorstellung von dem heraus, was später als Phantasmagorie bezeichnet werden sollte, und solch eine Phantasmagorie avant la lettre erweist sich als Extension und Exteriorisierung des Traums.27 Vor diesem Hintergrund erhält eine wohlbekannte Szene aus Frankreichs berühmtester Barock-Komödie eine neue Qualität. Die Rede ist von L 'Illusion comique, dem überaus erfolgreichen Stück des Pierre Corneille (1606-1684), das 1636 seine Uraufführung erlebte. Zu Anfang sucht Pridamant den Zauberer Aleandre in 26

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Zur Rezeption von Cervantes' Don Quijote im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts vgl. Horst Weich: Don Quijote im Dialog. Zur Erprobung von Wirklichkeitsmodellen im spanischen und französischen Roman (von ,Amadis de Gaula' bis Jacques le fataliste'). Passau 1989. Auf die Entwicklung von der Laterna magica zur Phantasmagorie geht ein: Christian Wehr: Von Baudelaire zu Bunuel. Poetisches und mediales Sehen in der nachromantischen Moderne (Antrittsvorlesung an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt vom 22. Januar 2007). Publikation in Vorbereitung.

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dessen Grotte auf. Pridamant hat vor einigen Jahren seinen Sohn Clindor verstoßen und möchte sich, da er diese Handlung inzwischen bereut, nach dessen Schicksal erkundigen. Aleandre verspricht ihm darauf, daß er ihm die Lebensgeschichte seines Sohnes mit Hilfe seiner Zauberkunst veranschaulichen könne. Aleandre 150

Toutefois, si votre äme etait assez hardie, Sous une illusion vous pourriez voir sa vie, Et tous ses accidents devant vous exprimes Par des spectres pareils a des corps animes: II ne leur manquera ni geste niparole.

[

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]

Quoi qui s 'offre ä nos yeux, η 'en ayez point d 'effroi; De ma grotte surtout ne sortez qu 'apres moi: Sinon vous etes mort. Voyez dejä paraitre Sous deux fantömes vains votre fils et son maitre1%

[Doch wenn Eure Seele kühn genug wäre, / könntet ihr mit Hilfe einer Täuschung sein Leben [seil, das Leben Eures Sohnes] sehen / und alle Begebnisse würden vor Euch dargestellt / durch Gespenster, die wie belebte Körper aussehen. / Es wird ihnen weder an Bewegungsfähigkeit noch an Redegabe fehlen. [ ] Was auch immer sich Euren Augen darbieten mag, erschreckt nicht! / Vor allem aber: Verlasst meine Grotte erst hinter mir. / Anders seid Ihr tot. Seht doch wie schon unter der Gestalt / nichtiger Trugbilder Euer Sohn und sein Meister erscheinen.] Aleandre möchte an der Rückwand seiner Grotte Pridamants Sohn und dessen Gefährten mit Hilfe einer Sinnestäuschung' (illusion) als , Gespenster' auftreten lassen, die man dennoch für ,belebte Leiber' (spectres pareils ά des corps animes) halten werde. Der Vater stimmt diesem angeblich lebensgefährlichen Vorschlag zu, und alsbald kündigt Aleandre das Erscheinen des Sohnes und seines Meisters in Gestalt ,zweier nichtiger Trugbilder' (sous deux fantömes vains) an. Das Arrangement erinnert an die schattenhaften Erscheinungen in Piatons Höhlengleichnis, 29 und damit ist auch klar, daß es sich weniger um ein Theaterspiel denn um ein optisches Arrangement handelt, welches substanz- und körperlose Simulacra vorführt, um damit die Sinne der Zuschauer zu illusionieren. Solche Illusionierung ist durchaus die Aufgabe des Zauberers, der als ein praestigiator dank seiner Taschenspielertricks den Zuschauern etwas vorgaukelt, was nicht wirklich ist. Doch solche Illusionierung ist zugleich auch die Wirkung von insomnium und visum, die gewissermaßen als Taschenspieler der Sinne und der Imagination operieren, um dem inneren Auge und dem inneren Ohr etwas Nichti-

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Pierre Corneille: L'Illusion comique (1636). I. Akt. 2. Szene resp. II. Akt. 1 Szene. In: Ders.: Theatre complet. Hg. von Jacques Maurens. Paris 1968. Bd. I. S. 449 resp. S. 452. Plat. Pol. 7,514a-517a.

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ges vorzutäuschen. In ihrer Haltlosigkeit fallen hier die fantömes vains der äußeren optischen Apparatur und die ,eitlen Traumgesichte' (vana somnia), die vor dem inneren Bildschirm des Subjekts ablaufen, zusammen, denn nicht von ungefähr wird solchen Traumbildern schon im Bericht von der Unterweltfahrt des Aeneas eine charakteristische .Nichtigkeit' (vanitas) attestiert:

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In medio ramos annosaque bracchia pandit ulmus opaca, ingens, quam sedem somnia uulgo uana tenere ferunt, foliisque sub omnibus haerentV)

[In der Mitte breitet ihre Äste und bejahrten Arme / eine schattige, riesige Ulme aus; diese, so berichtet man allgemein, / hätten die nichtigen Träume zu ihrer Wohnstatt, und sie hängen (dort) unter allen Blättern.] Die magische Kunstfertigkeit des Zauberers Aleandre erweist sich als ein Dispositiv, welches den Zuschauern ein exteriorisiertes, gegebenenfalls sogar kollektives Traumerlebnis bescheren kann. In der Folge der Komödienhandlung erfahren wir dann nach und nach, daß Pridamants Sohn Clindor zuerst Soldat wird und dem Haudegen Matamore dient; Clindor verliebt sich in die schöne Isabelle und vereitelt die Intrigen der Rivalen. Es gelingt ihm, Isabelle für sich zu gewinnen und zu heiraten. Später verschreiben sich die beiden, wie man im letzten Akt sehen wird, dem Schauspielerberuf und verdienen damit gutes Geld. Die Zaubervorführung des Aleandre ist eine Form des Spiels im Spiel, und sie wird darum zu Recht gern als eine Metapher oder gar Allegorie für das Theater gedeutet, zumal am Ende des Stücks der Vater anerkennt, daß sein Clindor ein ebenso ehrenwertes wie einträgliches Metier gewählt hat. So manifestiert sich in Corneilles Stück der epochale Wunsch der zeitgenössischen Stückeschreiber, das Theater als Institution zu nobilitieren und es mit den Regeln der höfisch geprägten honnetete kompa31 tibel zu machen. Der allegorische respektive metaphorische Konnex, über den Theater und onirische Illusion miteinander verbunden sind, hat gleichwohl einen komplexeren Aufbau, als man gemeinhin vermutet. Gewiß ist die Zaubervorstellung des Aleandre Theater auf dem Theater, und sie kann darum als das verbum translatum eines verbum proprium verstanden werden, welches mit der Institution des Theaters zusammenfiele. Doch unsere bisherigen Überlegungen geben zu erkennen, daß wir den Sachverhalt auch in einer umgekehrten Richtung lesen können: Basis wäre demnach zunächst das Traumerlebnis selbst, welches dem inneren Auge Phantome zu sehen gibt, die äußerlich inexistent und nur mit Hilfe der Einbildungskraft zu erfassen sind (insomnii vel visi imaginatio). Doch ein solches 30 31

Verg. Aen. 6, 282-284. Zur sozialgeschichtlichen Situierung des Stücks, welche die Frage nach der Anerkennung des Theaters einschließt, vgl. Peter Bürger: Die frühen Komödien Pierre Corneilles und das französische Theater um 1630. Eine wirkungsästhetische Analyse. Frankfurt a. M. 1971.

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Traumerlebnis wird sodann externalisiert und mit Hilfe von Aleandres magischen Künsten - man könnte auch sagen: mit Hilfe einer optischen Installation - für die äußeren Sinne sichtbar und erlebbar gemacht und auf die Wand der Höhle projiziert, wo die Phantasmen als medial erzeugte Reflexe in optisch wahrnehmbarer Gestalt erscheinen (spectrorum manifestatio). Im dritten Schritt zeigt sich dann, daß eine solche Projektion in gewisser Weise Vorbild für die Institutionalisierung des Theaters selbst ist (theatri institutio). War man davon ausgegangen, daß der Zaubertrick Aleandres Metapher für das Theater ist, so kann man nunmehr eine inverse Abfolge postulieren, wie sie das folgende Schema anzeigt: Insomnii vel visi imaginatio

Spectrorum manifestatio

Theatri institutio

(Inneres Traumerleben)

(Optische Installation)

(Institutionalisierung des Theaters)

Das Theater ist Mimikry einer optischen Illusion, die ihrerseits schon die Veräußerlichung eines inneren Traumerlebnisses darstellt. So konstatieren wir einen Prozeß mehrfacher Übertragung (translatio): Ein inneres Traumgesicht (verbum proprium) wird substituiert durch ein optisches Trugbild (verbum translatum), welches metaphorisch für den Traum steht; und das institutionalisierte Theater, welches hieraus erwächst, ist schließlich so etwas wie eine Metapher zweiten Grades (verbum iterum translatum) für das optische Trugbild. Die für jede Metapher konstitutive Ähnlichkeitsbeziehung zwischen dem Proprium und dem Translatum liegt in diesem Fall in der substanz- und körperlosen Scheinhaftigkeit, die sich Traum, optische Projektion an der Höhlenwand und Theateraufführung auf der Bühne teilen. Wenn Gerhard Poppenberg formuliert, daß Literatur „die öffentliche Gestalt der Träume" und Literaturkritik die „öffentliche Traumdeutung" • 32

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sei, dann kommt Comeilles Inszenierung des Verhältnisses zwischen dem primären Traumerleben und der sekundären Gespensterbeschwörung oder gar Theateraufführung einem solchen Verständnis sehr nahe, denn in den beiden letztgenannten Übertragungen - Projektion und Bühnenspiel - finden die Bilder des Traums einen repräsentierbaren und kollektiv beobachtbaren Ausdruck. Damit formuliert Corneille in seiner Illusion comique, die am Übergang von der barockvorklassischen zur klassischen Dramaturgie steht, nicht nur eine engagierte Apologie des Theaters gegen seine Kritiker, sondern er schreibt dem Theater zudem eine imaginäre Genealogie zu, die von der Institution des Theaters über die traumähnlichen Bilder einer magischen Projektion auf die Realität des Träumens selbst zurückweist und damit ironischerweise im Medium der dramatischen Fiktion das Theatralische aus dem Onirischen als seinem eigentlichen Ursprung herzuleiten sucht. 32

Vgl. nochmals in diesem Band G. Poppenberg.

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4. Traum und groteske Gegenwelt bei Charles Sorel Der Bezug des Theaters zu einer Traumvision vergleichbarer Art, wie sie SaintAmant beschrieben hat, stellt sich in der Illusion comique nur vermittelt her. Expliziter erfolgt die Diskussion des Zusammenhangs von Unterhaltung und Traumthematik in jenem Glanzstück onirischer Literatur, das wir in der ,Histoire comique de Francion' des Charles Sorel (1599/1602-1674) aus dem Jahre 1623 vorfinden.33 Das heute bekannteste Werk des produktiven Schriftstellers ist sein ,Berger extravagant' (1627), eine Parodie auf Cervantes, wo der verrückte Protagonist nicht Ritter wie Don Quijote, sondern Schäfer zu sein meint. Doch auch in seiner Histoire comique de Francion befaßt sich der Autor mit Themen, die Gegenstand der Satire und der Parodie werden. Held des Geschehens ist Francion, der auf der Suche nach seiner geliebten Laurette ist, die mittlerweile den impotenten Valentin geheiratet hat. Erst im letzten der sieben Bücher des Romans wird das Paar zueinander finden. Im zweiten Buch muß Francion auf seiner Reise in einem Gasthaus übernachten, wobei es zu allerlei burlesken Zwischenfällen kommt, wie sie an solcherlei Orten üblich sind. Dennoch findet Francion zwischen all den Ereignissen die Gelegenheit, einen denkwürdigen Traum zu tun, dessen Verlauf er während einer Kutschenfahrt am nächsten Morgen seinem Reisegefährten, einem burgundischen Edelmann, erzählt. Obwohl der Edelmann dem Francion sofort anbietet, er werde dessen Traum wohl zu deuten wissen, zweifelt dieser von vornherein an einer solchen Möglichkeit; und am Ende bietet der Edelmann zwar ein Handvoll von Erklärungen für einzelne Traumepisoden an, doch es ist offenkundig, daß diese weder Francion selbst noch den Leser zufrieden stellen können. Erst in der erweiterten Zweitausgabe von 1626 werden dem Edelmann zusätzliche Kommentare zu einzelnen Abschnitten des Traums in den Mund gelegt, die gleichwohl nur bedingt überzeugen können. In der Drittausgabe von 1633 behauptet schließlich der auktoriale Erzähler, nach seiner Auffassung zeige sich im ständigen Wechsel und in den Peripetien des Traumabenteuers die Unbeständigkeit von Francions Lebensfuh-

33

Wir benutzen die Ausgabe Charles Sorel: Histoire comique de Francion Bd. 1-7. Hg. von Yves Guiraud. Paris 1979. An weiterführender Literatur zum Francion seien genannt: F. Bobertag: Charles Sorel's ,Histoire comique de Francion' und ,Berger extravagant'. In: Zeitschrift für neufranzösische Sprache und Literatur. Bd. 3. 1882. S. 228-258; Ivanna Bugliani: L'elemento comico nel ,Francion'. In: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa. Serie II. Bd. 35. 1966. S. 27-55; Wolfgang Leiner: Le Reve de Francion. Considerations sur la cohesion interieure de l'Histoie comique de Sorel. In: La Coherence interieure (Etudes sur la litterature fran9aise du XVIIe siecle presentees en hommage ä Judd D. Herbert). Hg. von J. van Baelen und D. L. Rubin. Paris 1977. S. 157-175; Bernhard Teuber: Sprache, Körper, Traum. Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit. Tübingen 1989. S. 282-304.

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rung generell. Auch im Wachzustand lasse er sich auf scheinhafte und trügerische Situationen ein: [...] et pour moy je ne concluds rien autre chose, sinon que ceux qui se laissent empörter aux vanitez de ce monde, y pensent eternellement, et que jamais leur sommeil η 'est paisible. Je diray bien mesme que je croy qu 'ils dorment et qu 'ils resvent toujours, car tout ce qu 'ils voient η 'est qu 'illusion et tromperie34 [(...) und was mich betrifft, so schließe ich daraus nichts Anderes, als daß diejenigen, die sich von den Nichtigkeiten der Welt treiben lassen, ständig daran denken und daß ihr Schlaf niemals friedlich ist. Ich möchte wohl sagen, daß ich sogar glaube, daß sie fortwährend schlafen und träumen, denn alles, was sie sehen, ist nur Schein und Trug.] Trotz solcher Anleihen bei einer überkommenen Tradition der Traumerklärung, die in den späteren Ausgaben des Romans noch zusätzlich profiliert worden sein mag, um der Zensur zu entgehen, erweist sich Francions Traumrede letzten Endes als nicht deutbar. Der Träumer erzählt nämlich von seinem Traum unter der ausdrücklichen Prämisse, daß er dem Wunsch seines Zuhörers lediglich entspricht, um Vergnügen zu bereiten, nicht aber um zu belehren: Je m 'en vay done vous contenter, dit le pelerin, combien que je soye asseure qu'Artemidore mesme demeureroit camus en une chose si difficile. [...] Monsieur, puisque vostre bei esprit desire estre recree par des resveries, je m 'en vay vous en raconter les plus extravagantes qui ayent jamais este entendues,35 [Ich werde Euch also zufrieden stellen, sagte der Reisende, wiewohl ich sicher bin, daß selbst Artemidor angesichts einer so schwierigen Aufgabe verdutzt wäre. ... Mein Herr, da Euer schöner Geist danach verlangt, durch Träumereien unterhalten zu werden, werde ich euch die irrsinnigsten erzählen, von denen man je gehört hat.] In der Tat handelt es sich beim alsbald folgenden Traumbericht, der immerhin rund fünfzehn Druckseiten umfaßt, um die ausführliche und vergnügliche Schilderung einer Wanderung durch eine phantastische Welt: Der Protagonist durchquert nach und nach die drei Bereiche des Wassers, des Himmels und der Erde, lernt dabei eine Vielzahl von Gestalten kennen und erlebt dabei auch selbst einige Metamorphosen. Immer wieder begegnet er einer schönen Dame, die man als Verkörperung der von ihm heiß ersehnten Laurette betrachten könnte, wiewohl dies nirgends ausdrücklich gesagt wird. Die Einschlafsituation legt nahe, daß eine Reihe von Bestandteilen dieses Traums wiederum als Tagesreste zu verstehen sind: Je me laissay empörter ä une infinite de diverses pensees, et bastis des incomparables desseins touchant mon amour et ma fortune, qui sont les deux tyrans 34 35

Ch. Sorel (Anm. 33) III S. 358f. Fußnote 91. Ch. Sorel: Francion. III. S. 136.

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qui persecutent ma vie,36 [Ich ließ mich von einer Unmenge unterschiedlicher Gedanken mitreißen und schmiedete unvergleichliche Pläne, die meine Liebe und mein Schicksal betrafen, welche die beiden Tyrannen sind, die mich mein Leben lang verfolgen.] Aber die Geschehnisse gehen doch in diesen Tagesresten nicht auf. In den Traumbildern zeigen sich Anspielungen auf das ptolemäische Weltbild und den Sonnenwagen, der die Erde umkreist; auf das Ritual des Hexensabbats, an dem der Teufel in Gestalt eines Ziegenbocks teilnimmt; auf heidnische Riten, mit denen Venus als Patronin der entjungferten Frauen und Vulcan als Patron der gehörnten Ehemänner verehrt werden; schließlich begegnen wir Inszenierungen des grotesken, mitunter zerstückelten und dann wieder rasch zusammengesetzten Leibes, wie er von Michail Bachtin beschrieben wurde. Dieser groteske Leib kann erotische Reize besitzen und genießen, aber er kann auch grausamen Qualen ausgesetzt werden.37 Betrachten wir die folgende Episode: Pourtant je tombay [ä travers une large piece de verre qui se cassa et m 'escorcha encore toutes les jambes] en un lieu oü je ne me froissay point du tout. La place estoit couverte de jeunes tetons collez ensemble deux ά deux, qui estoient comme des batons, balons sur lesquels je me plus longtemps ά me rouler. Enfin m 'estant couche laschement sur le dos, une belle Dame se vint agenouiller aupres de moy, et me mettant un entonnoir en la bouche et tenant un vase me dit qu'elle me vouloit faire boire d'une liqueur delicieuse. J'ouvrois desjä le gosier plus large que celuy de ce Chantre qui avalla une souris en beuvant, lorsque s'estant un peu relevee, elle pissa plus d'une pinte d'urine, mesure de sainct Denis, qu 'elle me fit engorger. Je me relevay promptement pour la punir et ne luy eus pas si tost bailie un soufflet, que son corps tomba tout en pieces.38 [Trotzdem fiel ich seil, durch eine ausladende Glasscheibe hindurch, die zerbrach und an der ich mir auch noch überall die Beine aufschnitt an einen Ort, wo ich in gar keiner Weise unsanft aufschlug. Die Stelle war bedeckt von knospenden Mädchenbrüsten, jeweils paarweise aneinandergefügt, die wie Ballons waren; ich machte mir einen Spaß daraus, zwischen diesen Ballons eine lange Zeit herumzurollen. Als ich mich schließlich faul auf den Rücken gelegt hatte, kam eine schöne Dame und kniete neben mir nieder. Sie steckte mir einen Trichter in den Mund, hielt ein Gefäß und sagte mir, daß sie mich von einer köstlichen Flüssigkeit trinken lassen wolle. Ich sperrte meinen Schnabel schon weiter auf als jener Kantor, der beim Trinken eine Maus verschluckt hatte. Da richtete sie sich ein wenig auf und schlug mehr als eine Pinte Harn ab, nach dem Maß von Saint-Denis, die sie mich hinunterschlucken ließ. Flugs 36 37

38

Ch. Sorel: Francion. III. S. 136. Vgl. Michail Bachtin: Die groteske Gestalt des Leibes. In: Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Übers, von Alexander Kaempfe. Frankfurt a. Μ. 1990. S. 15-23. Das Kapitel entstammt Bachtins Buch über Rabelais (russisch 1965). Ch. Sorel (Anm. 33) III. S. 145f.

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stand ich wieder auf, um sie zu strafen, und kaum hatte ich ihr eine Ohrfeige verabreicht, als auch schon ihr Leib in lauter Stücke fiel.] Wenn Bachtin als Charakteristikum des grotesken Leibes den wechselseitigen Austausch mit der Umwelt und mit anderen Körpern benennt und gleichermaßen die Aufnahme wie die Ausscheidung von Nahrung und Flüssigkeit postuliert, dann haben wir es in Francions Traum über weite Strecken hin mit dem Musterexemplar einer so verstandenen Groteske zu tun, und wir erkennen auch, warum nach Maßgabe der zeitgenössischen Anstandsliteratur Träume dieser Art überhaupt nicht erzählt werden sollten. So heißt es bei Giovanni della Casa in seinem Galateo von 1558: Male fanno ancora quelli che tratto tratto sipongon a recitare i sogni loro con tanta affezione e facendone si gran maraviglia, ch 'e uno isfinimento di cuore a sentirli,39 [Schlecht tun schließlich auch diejenigen, die bei erstbester Gelegenheit ihre Träume mit so großer Begeisterung und als wäre es etwas so Wunderbares erzählen, daß einem fast das Herz stehen bleibt, wenn man ihnen zuhört.] Dem Traum unterstellt Deila Casa in aller Regel eine grundlegende ,Torheit' (sciocchezza), und deswegen wird die Rede darüber aus der höfischen Konversation weitestgehend verbannt. So gesehen ist es kein Zufall, wenn ein Traumbericht, der durch keine herkömmliche Hermeneutik der Traumdeutung mehr einzuholen ist, gerade in einer Histoire comique wie derjenigen von Francion zum Gegenstand der literarischen Kommunikation gemacht wird. Die Histoire comique ist eine Erzählgattung, die sich den höfischen Normen, wie sie von , Ehrenhaftigkeit' (honnetete) und , Schicklichkeit' (bienseances) verkörpert werden, gerade zu entziehen sucht und stattdessen eine unhöfische, manchmal regelrecht absurde Gegenwelt zu modellieren sucht.40 Darum auch kann man sie der karnevalesken Literatur zurechnen, in welcher per definitionem eine verkehrte Welt in Szene gesetzt und vom Publikum belacht wird. In der Tat spielt das Lachen eine wichtige Rolle im Text: Immer wieder erschallt Gelächter innerhalb der berichteten Traumepisoden, und dieses dient zugleich dem lesenden Publikum als Anregung, es den Figuren der von Francion geträumten Welt gleichzutun. Belacht werden hierbei vor allem die Unvernunft und die Widersinnigkeit der grotesken Welt, die der Traum errichtet; denn Francions Traum besitzt alle Merkmale des sinnlosen insomnium. So vermag die epistemologische Sinnlosigkeit und Nichtigkeit einer geträumten Gegenwelt Eingang in die Literatur zu finden und die Unterhaltung der Leserschaft 39

40

Giovanni della Casa: Trattato [...] cognominato Galateo o w e r o de' costumi. In: Ders.: Prose scelte. Hg. von S. Ferrari. Florenz 1957. Kap. 11. S. 21. Der Traktat wurde nach wenigen Jahren auch ins Französische, Spanische und Lateinische, später sogar ins Deutsche übersetzt. Zum komischen Roman des 17. Jahrhunderts in Frankreich vgl. Bodo Morawe: Der Erzähler in den ,Romans comiques'. In: Neophilologus. 47. 1963. S. 187-197; Harald WentzlaffEggebert: Der französische Roman um 1625. München 1973; Horst Weich, Klaus Dirscherl: Der komische Roman des 17. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur. 95. 1985. S. 1-25.

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zu befördern, nicht etwa trotz, sondern gerade wegen der notorischen Unvernunft, von der sie gezeichnet ist.

5. Der paradoxale Ausschluß des Traums bei Descartes Das ästhetische Kapital der Traumbilder, wie sie in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts in literarischen Texten oder auch auf der Bühne inszeniert werden, besteht darin, daß dank entregelter Einbildungskraft (vielleicht auch dank entsprechender mediengestützter Installationen) sichtbar und anschaulich wird, was sich letztlich nicht auf die sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit des Wachlebens zurückfuhren oder mit ihr problemlos vermitteln läßt. Vielmehr macht gerade umgekehrt die Inexistenz des in den Traumbildern Vorgestellten und Dargestellten das Faszinosum des Onirischen aus, und die Literatur hält Nischen bereit, in denen das Inexistente zur Ansicht gelangen oder auch zum Gegenstand des Gelächters werden kann. So gesehen gehorcht die literarische Traumrede weniger einer Poetik der ontologisch fundierten Mimesis, der Imitatio oder der Nachahmung, die (wie es somnium, oraculum oder visio versprechen) das Seiende abbildet oder nachbildet und die für die aristotelisch geprägte Ästhetik der Frühen Neuzeit weithin verbindlich ist, sondern es geht gerade umgekehrt um eine Poetik der sozusagen meontologisch begründeten Imagination, die (wie es bei insomnium und visum der Fall ist) das Nichtseiende (griechisch τό μή öv), das Absurde und das Phantastische zum Gegenstand der Einbildung und der Gestaltung macht. Nicht Wunder zu nehmen braucht es also, daß die Reflexion über den Traum implizit immer zugleich auch Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen der Fiktion ist. Doch die verhaltene Aufwertung und Wertschätzung des nichtigen Traums im Bereich der ästhetischen und literarischen Modellbildung steht im Horizont einer philosophischen Kritik an der Unvernunft des Traums, wie sie sich nachhaltig bei Rene Descartes (1596-1650) in dessen schon erwähnten ,Meditationes de prima philosophia' von 1641 artikuliert. In seiner ersten Meditation fragt Descartes nämlich nach der Zuverlässigkeit evidenter Sinneswahrnehmungen. Zunächst meint er, daß er seine Eindrücke im Wachzustand klar von den Wahnvorstellungen jener Melancholiker unterscheiden könne, denen eine fehlgeleitete Imagination völlig absurde Sachverhalte vorspiegelt. Doch dann wird dem Philosoph klar, daß er selbst in jeder Nacht noch sehr viel ungewöhnlichere Bilder schaut und daß die Unmittelbarkeit des Sinneneindrucks keineswegs die Wahrheit der damit verbundenen Vorstellung garantieren kann: Sed forte quamvis interdum sensus circa minuta quaedam et remotiora nos fallant, pleraque tarnen alia sunt, de quibus dubitari plane non potest, quamvis ab iisdem hauriantur: ut iam me hie esse, foco assidere, hiemali toga ese indutum, chartam istam manibus contrectare et similia; manus vero has ipsas to-

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tumque hoc corpus meum esse, qua ratione posset negari? nisi me forte comparem nescio quibus insanis, quorum cerebella tarn contumax vapor ex atra bile labefactat, ut constanter asseverent vel se esse reges, cum sunt pauperrimi, vel purpura indutos, cum sunt nudi, vel caput habere fictile, vel se totos esse Cucurbitas, vel ex vitro conflatos; sed amentes sunt isti, nec minus ipse demens viderer, si quod ab iis exemplum ad me transferrem. Praeclare sane, tamquam non sim homo, qui soleam noctu dormire et eadem omnia in somnis pati, vel etiam interdum minus verisimilia, quam quae isti vigilantes; quam frequenter vero usitata ista, me hie esse, toga vestiri, foco assidere, quies nocturna persuadet, cum tarnen positis vestibus iaceo inter strata41 [Indessen - mögen uns auch die Sinne mit Bezug auf zu kleine und entfernte Gegenstände bisweilen täuschen, so gibt es doch am Ende sehr vieles andere, woran man gar nicht zweifeln kann, wenngleich es aus denselben Quellen geschöpft ist; so zum Beispiel daß ich jetzt hier bin, daß ich, mit meinem Winterrock angetan, am Kamin sitze, daß ich dieses Papier mit den Händen betaste und Ähnliches; vollends daß diese Hände selbst, daß überhaupt mein ganzer Körper da ist, wie könnte man mir das abstreiten? Ich müsste mich denn mit ich weiß nicht welchen Wahnsinnigen vergleichen, deren ohnehin kleines Gehirn durch widerliche Dünste aus ihrer schwarzen Galle so geschwächt ist, daß sie hartnäckig behaupten, sie seien Könige, während sie bettelarm sind, oder in Purpur gekleidet, während sie nackt sind, oder sie hätten einen tönernen Kopf, oder sie seien gar Kürbisse oder aus Glas; - aber das sind eben Wahnsinnige, und ich würde ebenso wie sie von Sinnen zu sein scheinen, wenn ich mir sie zum Beispiel nehmen wollte. Vortrefflich! - Als ob ich nicht ein Mensch wäre, der des Nachts zu schlafen pflegt, und dem dann genau dieselben, ja bisweilen noch weniger wahrscheinliche Dinge im Traum begegnen, als jenen im Wachen! Wie oft doch kommt es vor, daß ich mir all diese gewöhnlichen Umstände während der Nachtruhe einbilde, etwa daß ich hier bin, daß ich, mit meinem Rocke bekleidet, am Kamin sitze, während ich doch entkleidet im Bette liege!] Als paradigmatisch für die Situation des Träumens erscheinen dem Descartes nicht orakelhafte Wahrträume, sondern offenkundige Wahnträume im Sinne der insomnia oder der Einbildungen Geisteskranker und möglicherweise vermeidet er gerade darum im lateinischen Text den auratischen Terminus somnium zu Gunsten der weniger profilierten Ausdrücke somnus ( , S c h l a f ) oder nocturna quies (.nächtliche Ruhe'). In der Folge seiner Argumentation wird der Philosoph dann eine Möglichkeit herausfinden, wie sich für das Subjekt trotz allgegenwärtiger Täuschungen ein Weg eröffnet, der es ihm gestattet, im reinen Denken einen Selbstbezug zu sich herzustellen und sich so seiner selbst im Denken zu vergewissern. Allein Descartes' Methode der Selbstvergewisserung, die ihrem Prinzip 41

R. Descartes (Anm. 4) I, 4f. S. 32f. Ebenda auch Gäbes hier übernommene Übersetzung.

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nach auch im Traum gültig wäre, weil sie auch noch dessen Eigenheiten gerecht wird, führt im Verlauf seiner Meditationen dank fortschreitender Deduktion und lückenloser Verkettung aller Sinneseindrücke dazu, letztlich sicherzustellen, daß das Subjekt gerade nicht träumt, sondern in einem vernünftigen Wachzustand auf der Grundlage des Denkens sowohl die Welt wie auch Gott als deren letzten Verursacher zu erkennen vermag. Im beschriebenen Sinn vollzieht Descartes zweifelsohne einen Ausschluß nicht nur des Wahnsinns, wie Foucault meinte, sondern eben auch noch des Traums aus dem Bereich des vernünftigen Denkens. Allerdings operiert er hierbei, wie Derrida gezeigt hat, paradoxerweise nicht in Absehung, sondern in Anerkenntnis der Ubiquität und Universalität traumgesteuerter Imaginationen.42 Gerade weil der Traum die unvermeidliche Quelle von Täuschungen aller Art ist, kommt es darauf an, sich vor den Illusionen des Traums zu feien. Insofern hängen das stete Risiko des Träumens und das probate Heilmittel der Maxime Ego cogito ergo sum in Wahrheit eng zusammen: Der Traum wird mit einer historisch neuartigen Radikalität zum Anderen des Denkens gemacht, aber gerade darum kann sich das täuschungsfreie Denken immer nur mit Rücksicht auf das illusionsverhaftete Träumen konstituieren. Interessanterweise läßt sich die Affinität zwischen wahnhaftem Traum und Selbstvergewisserung im Cogito, wie sie Descartes vornimmt, nicht nur im Konzeptuellen, sondern auch im Biographischen aufzeigen. Adrien Baillet, der durch seine 1691 veröffentlichte Biographie unter dem Titel Vie de Monsieur DesCartes bekannt ist, berichtet von einem Konvolut von lateinischen Notizen aus Descartes' Jugendzeit, das heute verloren ist.43 Er findet darin eine später hinzugefügte Randbemerkung in Descartes' eigener Handschrift, wo es heißt: X. Novembris 1619, cum plenus forem Enthousiasmo, & mirabilis scientiae fundamenta reperirem (fee.44 [Am 10. des November des Jahres 1619, als ich voll des Enthusiasmus war und die Grundlagen einer wunderbaren Wissenschaft fand.] Descartes befand sich zu dieser Zeit, wie er im zweiten Teil seines ,Discours de la methode' von 1637 berichtet, in Deutschland. Er wollte sich dem Heer des bayerischen Herzogs anschließen, war aber gezwungen, den Winter in Neuburg an der Donau zu verbringen und widmete sich in der Ofenstube seines Quartiers wissenschaftlichen Studien, die ihn zur Methode des generalisierten Zweifels und zur Grundlegung des Cogito fuhren sollten. In der Nacht zum Martinsfest vom 10. auf den 11. November hatte er drei aufeinanderfolgende Träume, die er in seiner verlorengegangen Schrift mit dem Titel Olympica aufzeichnete und ausdeutete. Baillet hatte diesen Text noch vor Augen und übersetzte ihn ins Französische:

42 43

44

Zur Debatte zwischen Foucault und Derrida vgl. S. Felman und D. Eribon (Anm. 5). Vgl. Gerard Simon: Descartes, le Reve et la Philosophie au XVIIe siecle. In: Revue des Sciences Humaines. 211. 1988/3. S. 133-151. R. Descartes: Olympica. In: (Euvres de Descartes. 10. Paris 1974. S. 179.

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II [seil. Descartes] nous apprend que, le dixieme de Novembre mil six cent dixneuf, s 'έίαηί couche tout rempli de son enthousiasme, & tout occupe de la pensee d 'avoir trouve ce jour Ιά les fondemens de la science admirable, il eut trois songes consecutifs en une seule nuit, qu 'il s 'imagina nepouvoir etre venus que d 'enhaut. Apres s 'etre endormi, son imagination se sentit frappee de la representation de quelques fantömes qui se presenterent ά lui, & qui l'epouvanterent de telle sorte que, croyant marcher par les rues, il etoit oblige de se enverser sur le cote gauche pour pouvoir avancer au lieu oü il vouloit aller, parce qu 'il sentoit une grande foiblesse au cote droit, dont il ne pouvoit se soutenir,45 [Er (seil. Descartes) teilt uns mit, daß, als er sich am 10. November 1619 voll der Begeisterung niedergelegt hatte und noch ganz mit dem Gedanken beschäftigt war, daß er an jenem Tag die Grundlagen einer bewundernswerten Wissenschaft entdeckt habe, er in einer einzigen Nacht drei aufeinanderfolgende Träume hatte, die seiner Ansicht nach nur von oben her hatten kommen können. Nachdem er eingeschlafen war, fühlte sich seine Einbildungskraft von der Darstellung einiger Trugbilder ergriffen, die ihm erschienen und ihn so sehr erschreckten, daß er - während er doch glaubte, durch die Straßen zu gehen, - gezwungen war, sich zur linken Seite hin zu wenden, um an den Ort voranzuschreiten, wohin er gehen wollte, weil er eine starke Schwäche auf der rechten Seite fühlte, wo er sich nicht halten konnte.] Im ersten Traum bläst ein starker Sturm, vor dem Descartes in der Kirche eines Kollegs Schutz suchen will; im Hof trifft er auf einen Mann, der ihm eine Melone zu übergeben scheint; während die anderen Menschen stehen, ist Descartes gekrümmt und muß mit aller Macht gegen die Naturgewalt des Windes ankämpfen. Im zweiten Traum erfüllt Descartes ein großer Schrecken, und er vernimmt einen lauten Donnerschlag. Als er die Augen aufschlägt, meint er über seine Kammer verteilt Funken glimmen zu sehen, die es ihm erlauben, einzelne Gegenstände zu unterscheiden. Im dritten und letzten Traum schließlich schlägt Descartes ein Buch auf, das sich als Wörterbuch oder Enzyklopädie erweist. Kurz darauf hält er eine Gedichtsammlung in Händen, worin er nach dem Ausonius-Gedicht Quod vitae sectabor iter? sucht, ohne es jedoch zu finden. Noch im Traum beginnt Descartes den Traum auszulegen: Ce qu 'il y α de singulier ά remarquer, c 'est que, doutant si ce qu 'il venoit de voir etoit songe ou vision, non seulement il decida, en dormant, que c 'etoit un songe, mais il en fit encore I 'interpretation avant que le sommeil le quittät.46 (Was eine besondere Bemerkung verdient, ist die Tatsache, daß er, während er noch zweifelte, ob das soeben Gesehene Wahrtraum oder Vision sei, nicht nur entschied, daß es ein Wahrtraum sei, sondern daß er auch die Auslegung vornahm, noch bevor ihn der Schlaf wieder verließ.) 45

46

Adrien Baillet: Vie de Monsieur Des-Cartes. In: CEuvres de Descartes. Bd. X. Paris 1974. S. 179. A. Baillet: Vie de Monsieur Des-Cartes (Anm. 44) S. 184.

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Descartes hat seit drei Monaten keinen Wein mehr getrunken, und er befindet sich schon seit mehreren Tagen in einer außergewöhnlichen Stimmung des Enthusiasmus. An den ausgelassenen Feiern, die am Vorabend des Martinstages in Neuburg wie überall sonst üblich sind, nimmt er nicht teil. Vielmehr geht er mit der festen Erwartung zu Bett, sein Genius werde ihm einen wichtigen Traum offenbaren. Descartes hat also allen Grund, die verborgene Wahrheit seines Traums zu erforschen und ihn als Initiation in einen neuen Lebensabschnitt zu betrachten, welcher der Entwicklung seiner mirabilis scientia gewidmet sein soll und letztlich die Schule des kartesischen Rationalismus begründen wird. Bereits am nächsten Tag legt Descartes das Gelübde ab, eine Fußwallfahrt zur Muttergottes von Loreto zu unternehmen, welches er allerdings erst 1623 auf einer Italienreise erfüllen wird. Jedenfalls berichtet Baillet, daß Descartes den Sturmwind einem Genius malignus zugeschrieben habe, der ihn gegen seinen Willen in die Kirche hätte treiben wollen (möglicherweise ins College de la Fleche, wo er bei den Jesuiten studiert hatte), während die Melone für ihn ein zurückgezogenes Leben auf dem Lande versinnbildlicht habe. Der Schrecken des zweiten Traums habe die Reue seines Gewissens über begangene Verfehlungen, der Donnerschlag aber das Versprechen bedeutet, der Geist der Wahrheit werde nunmehr von ihm Besitz ergreifen und ihm seine Schätze öffnen. In der Enzyklopädie des dritten Traums erkennt er schließlich die Berufung zur Wissenschaft und in der Gedichtsammlung die Verbindung der Philosophie mit der Weisheit, ja möglicherweise sogar mit der Moraltheologie. In Descartes' Vertrauen auf die Aussagekraft seines eigenen Traums, den er zwar nicht als zuverlässige visio, das heißt als Schau auf eine anderswo oder anderswann existente Wirklichkeit, wohl aber als interpretationswürdiges somnium, welches dem Träumer eine wichtige Botschaft übermittelt, einstuft, bekundet sich eine auffallige Paradoxie. Dank diesem Traum fühlt sich Descartes vom esprit de verite (, Geist der Wahrheit') ergriffen und in Besitz genommen: Fortan wird er sein Leben einer rigorosen recherche de la virite (,Suche nach der Wahrheit') weihen, die ihren konzeptuellen Gipfelpunkt im Discours de la methode und in den Meditationen erreicht.47 Ein solches Erkenntnisprogramm möchte dem Subjekt einen Platz frei von den Anfechtungen durch Imagination, Wahnsinn oder Traum verschaffen; doch die Anregung, ja die Berufung hierzu kommt selbst aus einer Traumerfahrung. Der Wunsch nach dem Ausschluß des Traums ist im Traum geweckt worden. Es erscheint darum folgerichtig, daß Gerard Simon in seiner Studie zu Descartes' Träumen die Unvereinbarkeit zwischen einer frühen und einer späteren Phase postuliert, so als habe der Philosoph einen Paradigmenwechsel vollzogen, der ihn von einer im 16. Jahrhundert noch weit verbreiteten 47

Descartes verfaßt sogar einen eigenen Traktat unter dem Titel: La Recherche de la verite. In: Ders.: (Euvres de Descartes (Anm. 44) S. 489-532. Später wird auch Nicolas Malebranche (1678-1715) sein aus drei Büchern bestehendes Hauptwerk, das 1674 und 1675 erscheint, De la recherche de la verite betiteln.

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Wertschätzung des Traums zu einem rationalistischen Traumkritiker habe werden lassen. 48 Eine solche Annahme ist natürlich plausibel, und sie entspricht auch dem Bild, welches sich die Philosophie- und Wissensgeschichte, Foucault eingeschlossen, seit jeher von Descartes zurechtgezimmert hat. Gleichwohl besteht eine andere Möglichkeit der Lektüre: Es könnte sein, daß Descartes wie seine Vorgänger auch noch um die Mitte des 17. Jahrhunderts insgeheim zwischen Wahrträumen einerseits und Wahnträumen andererseits unterscheidet (somnia, oracula, visiones vs. insomnia et visa), so daß die Kritik an Imagination, Wahnsinn und Traum wohl insomnia et visa, nicht aber somnia, oracula, visiones träfe. Demnach würde ein verschwiegener Kern des Irrationalismus im Herzen des Rationalismus selbst fortbestehen, die philosophische Kritik am sinnlosen Traum würde sich nicht allein aus der Vernünftigkeit des Wachlebens, sondern genauso gut aus der höheren Vernunft einer göttlichen, übernatürlichen Offenbarung im Medium des prophetischen Traums speisen. Den Schritt zur rigorosen Ablehnung, zum definitiven Ausschluß des Traums aus dem Bereich des Wissens und des Wißbaren hätte somit nicht schon der epistemologisch zwiespältige Descartes vollzogen, sondern allenfalls eine spätere Generation von weit radikaleren Rationalisten, wie sie sich dann wohl unter den Frühaufklärem finden werden. Descartes aber wäre - in einer solchen Perspektive - Kritiker und Apologet des Traums in einem: Den Ausschluß des Traums aus dem Wissen setzte er aus seinem eigenen Traumerlebnis heraus ins Werk.

6. Die negative Anthropologie des Traums bei Pascal Eine zu Descartes keineswegs konträre Auffassung vom Traum bekundet sich, anders als man erwartet hätte, im Grunde genommen auch bei Blaise Pascal (1623-1662). Denn die Unhintergehbarkeit von offensichtlich onirischen oder zumindest imaginären Apprehensionen ist für Pascal ein ebenso bedeutsames wie brisantes Thema. Wenn es Descartes darum geht, die Gefahr von Imagination und Traum auf philosophischem Weg und im Rekurs auf die Methode des systematischen Zweifels zu bannen, ist der Fokus bei Pascal ein anderer. Die Imagination ist für ihn die Versucherin des mondänen, sündhaften Menschen, der sich von Gott entfernt hat. Insofern stehen eine Welt imaginärer Repräsentationen und eine auf die Gewißheit des christlichen Glaubens gegründete Existenzweise einander gegenüber, die eigentlich ohne Einbildung und Traumbilder auskommen könnte. Es liegt jedoch auf der Hand, daß der durch die Erbschuld geschädigte Mensch seiner conditio humana, für welche Sündhaftigkeit konstitutiv ist, nicht entrinnen kann, daß er vielmehr an die Sünde und damit auch an illusionäre Repräsentation

48

Vgl. G. Simon (Anm. 43).

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gekettet bleibt.49 Es verschiebt sich demnach die zunächst theologische Argumentation ins Moralistische, und Pascal gibt zu erkennen, daß ein gesellschaftliches Leben ohne trügerische Imagination - folglich auch ohne Traum - unvorstellbar wäre.50 So formuliert er pointiert im sogenannten Imaginations-Fragment der Pensees, die erstmals 1670 veröffentlicht wurden: Imagination. C'est cette partie dominante dans l'komme, cette maitresse d'erreur et de faussete, et d'autant plus fourbe qu'elle ne l'est pas toujours, car eile serait regle infaillible de verite si eile l'etait infaillible du mensonge. Mais etant le plus souvent fausse, eile ne donne aucune marque de sa qualite, marquant du meme caractere le vrai et le faux. Je ne parle pas des fous, je parle des plus sages et c 'est parmi eux que I 'imagination a le grand droit de persuader les hommes. La raison a beau crier, eile ne peut mettre le prix aux choses.51

[Einbildungskraft. Sie ist der herrschende Teil im Menschen, diese Meisterin des Irrtums und der Falschheit, und sie ist um so hinterhältiger, als sie es nicht immer ist; denn sie wäre unfehlbare Regel für die Wahrheit, wenn sie dies (seil, unfehlbare Regel) für die Lüge wäre. Aber wiewohl sie am häufigsten falsch ist, gibt sie kein Erkennungszeichen ihrer Eigenart und bezeichnet das Wahre und das Falsche mit demselben Merkmal. Ich spreche nicht von den Irren, ich spreche von den Allergelehrtesten, und gerade in ihrem Kreis hat die Einbildungskraft das volle Recht, die Menschen zu überzeugen. Die Vernunft mag laut schreien, sie vermag nicht den Kaufpreis der Dinge zu bestimmen.] Wenn freilich allüberall mit der Wirksamkeit der Einbildungskraft zu rechnen ist, dann nehmen Wirklichkeit und Wachleben Züge des Traums an, und im Letzten ist der Traum vom Wachzustand kaum mehr zu unterscheiden. So heißt es in Pascals Auseinandersetzung mit den Pyrrhonisten, deren Argumente er ausführlich referiert, in Bezug auf das Träumen: [...] De sorte que la ηιοϊίϊέ de la vie se passant en sommeil, par notrepropre aveu ou quoi qu 'il nous en paraisse, nous η 'avons aucune idee du vrai, tous nos sentiments itant alors des illusions. Qui sait si cette autre moitie de la vie

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Zur augustinisch geprägten Theologie der Erbsünde, die für eine Vielzahl von Schriftsteilem der Klassik bedeutsam ist, vgl. Jean Lafond: La Rochefoucauld. Augustinisme et litterature. Paris 1977. Zur unterschwelligen, gleichwohl widersprüchlichen Rehabilitation der Imagination bei Pascal vgl. Martina Maierhofer: Zur Genealogie des Imaginären. Montaigne, Pascal, Rousseau. Tübingen 2003. Blaise Pascal: Pensee 82 ed. Brunschvicg (= 78 ed. Sellier). In: Ders.: Les Provinciales. Pensees et opuscules divers. Hg. von Gerard Ferreyrolles, Philippe Sellier. Paris 2004. S. 854f. (dort Zählung nach Sellier).

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oü nous pensons veiller η 'est pas un autre sommeil un peu different du premier, dont nous nous eveillons quand nous pensons dor miri2 [(...) Da sich demnach die Hälfte des Lebens im Schlaf abspielt, wie wir selber eingestehen oder einzugestehen meinen, haben wir keinerlei Vorstellung von der Wahrheit, denn zu diesem Zeitpunkt sind ja all unsere Empfindungen Täuschungen. Wer weiß, ob jene andere Hälfte des Lebens, da wir zu wachen meinen, nicht ein neuerlicher Schlaf ist, der sich ein wenig vom ersten unterscheidet und aus dem wir erwachen, wenn wir einzuschlafen meinen.] Wie immer die einschlägige, meist geistesgeschichtlich ausgerichtete Forschung den Sachverhalt beurteilen mag: Pascal scheint hier keineswegs die skeptische Auffassung der Pyrrhonisten zu bestreiten, sondern er fuhrt sich und seinen Leser in die Aporien einer Welt, in der es kein verläßliches Kriterium der Unterscheidung von Wachen und Träumen gibt, so daß dem Subjekt angesichts der Allgegenwart von Schein und Illusion nur ein einziger Ausweg bleibt: Man muß die Wette auf die Wahrheit des Glaubens abschließen. Welt und Gesellschaft selbst aber gehorchen nach Pascals radikaler Ansicht einer unverrückbaren Logik des Traums, und in diesem Sinne zeichnet sich bei ihm eine eminent negative Anthropologie des Traums ab, die nicht etwa nur das Metaphysische, sondern zunächst einmal das Mondäne, Soziale und Kulturelle in den Blick nimmt, um es kritisch als eine Konstruktion zu entlarven, die auf nichts anderes denn Schein, Imagination und Traumhaftigkeit gegründet ist.53

7. Traum und absolutistischer Staat bei Racine Man kann den epistemologisch prekären Status des Traums, dessen bedrohliche Macht sich als unhintergehbar erweist und der darum allenfalls Bestandteil einer negativen Anthropologie sein kann, zur Folie nehmen, um vor ihrem Hintergrund die wahrscheinlich prestigeträchtigste Modellierung des Traumgeschehens in der französischen Klassik näher in Augenschein zu nehmen. Die Rede ist von der ,Athalie', dem zweiten biblischen Drama des Jean Racine (1638-1699). Auf Bitten von Madame de Maintenon, der morganatisch geehelichten Gattin Ludwigs XIV., schrieb er das Stück fur die Demoiselles de Saint-Cyr. Das waren Waisenmädchen, deren Väter als Offiziere gedient hatten. Zu ihrer Versorgung wurde auf Kosten der Krone ein Pensionat errichtet, über welches die fromme Madame de

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B. Pascal: Pensee 434 ed. Brunschvicg (= 164 ed. Sellier). S. 854f. (Zählung nach Sellier). Zur sogenannten negativen Anthropologie der französischen Klassik vgl. Karlheinz Stierle: Die Modernität der französischen Klassik. Negative Anthropologie und funktionaler Stil. In: Französische Klassik. Theorie, Literatur, Malerei. Hg. von Karlheinz Stierle, Fritz Nies. München 1985. S. 81-133.

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Maintenon das Patronat übernahm.54 Eine öffentliche Lesung der ,Athalie' fand am Vorabend des Dreikönigstags 1691 in Anwesenheit des Königs statt. Wie im erfolgreichen Vorgängerstück ,Esther' von 1689 greift Racine, der sich nach seiner Ernennung zum Geschichtsschreiber des Königs vom Theater zurückgezogen hatte, einen Stoff aus den Geschichtsbüchern des Alten Testaments auf, um ihn in der strengen Form einer klassischen Tragödie zu gestalten.55 Die Ereignisse fallen in die Zeit der Teilung des Reiches zwischen Juda im Süden mit der Hauptstadt Jerusalem und Israel im Norden, aber auch in die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern des Baal-Kults und des israelitischen Eingottglaubens. Ahab, König des Nordreichs (871-852 v. Chr.), hat die tyrische Prinzessin Isebel (französisch in Entsprechung zur Vulgata Jezabel) geheiratet, die in Israel den Baals-Kult einfuhren möchte und in einem spektakulären Fenstersturz ihr Leben läßt; ihren Leichnam fressen die Hunde. Isebels Tochter Atalja (Athalie) heiratet Joram, den König von Juda (847-845), und fördert dort ebenfalls den Baal-Kult. Nach dem Tod Jorams regiert der gemeinsame Sohn Ahasja ein Jahr lang, wird dann getötet, und seine Mutter Atalja übernimmt die Regentschaft (845-840). Um ihre Macht zu sichern und die Dynastie des Königs David gänzlich auszulöschen, läßt sie alle Nachkommen Ahasjas - ihre eigenen Enkelkinder - töten. Nur der Säugling Joasch (Joas) wird von seiner Tante väterlicherseits gerettet, die zugleich Frau des Hohenpriesters Jojada (Joad) ist. Sie versteckt Joasch im Salomonischen Tempel zu Jerusalem. Nach einigen Jahren wird er gesalbt und zum rechtmäßigen König von Juda ausgerufen. Er regiert das Südreich von 840 bis 801. Racines Drama setzt ein, als Athalie nach dem Massaker an der Nachkommenschaft ihres Sohnes auf dem Höhepunkt ihrer Macht steht und Joas bereits das Vernunftalter erlangt hat (bei Racine ist er neun bis zehn Jahre). Gegenstand des Stücks ist demnach der Niedergang der Usurpatorin Athalie sowie im Gegenzug dazu Salbung und Thronbesteigung des Erben Joas. Hierzu kommt es dank einer Intrige der Priesterschaft, die in einen bewaffneten Aufstand gegen die Königin mündet. Athalie wird zwar auf ihren Wunsch hin in den Tempel eingelassen, dort aber gefangen genommen und abgeführt, um außerhalb des heiligen Bezirks getötet zu werden. Damit steht der Herrschaft des rechtmäßigen Königs Joas nichts mehr im Wege. Die biblische Überlieferung selbst stellt Jezabel und Athalie mit ihrem Anhang als Ausbund des Gottwidrigen dar, und sie erkennt in der Thronbesteigung des 54

55

Vgl. die Sondernummer unter dem Titel: Tricentenaire de la fondation de la maison royale de Saint-Cyr. In: Revue de l'Histoire de Versailles et des Yvelines. 74-75. 1990-1991; zur biblischen Dichtung im Frankreich der Klassik allgemein vgl. Jean-Robert Armogathe: Le Grand siecle et la Bible. Paris 1989. Die zu Grunde liegenden Begebenheiten aus der Geschichte des Reiches Juda werden berichtet im II. Buch der Könige (Kapitel 9-12) sowie im II. Buch der Chronik (Kapitel 2223). Racine konnte sich aber auch auf die entsprechenden Passagen in Bossuets Discours sur l'Historie unverselle von 1681 stützen, wo diese Geschichte als Beweis für die undurchdringlichen Wege göttlicher Vorsehung gedeutet werden.

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Joasch das Wirken göttlicher Gerechtigkeit. Diese offizielle Deutung findet auch bei Racine eine gewisse Bestätigung in den Schlußworten des Hohenpriesters, wenn es - in einer offenkundigen Hinwendung zu den Waisen unter den Darstellerinnen und im Publikum - heißt, daß Gott selbst die Könige nach strengem Maßstab richtet, den Unschuldigen ein unbarmherziger Rächer und den Waisenkindern ein liebender Vater ist.56 Dennoch liegt das eigentlich provozierende Element von Racines Dramaturgie anderswo: Trotz der Greueltaten, die den Beginn ihrer Regierung begleitet haben, wird Racines Athalie in der Exposition des Stücks als eine zunächst erfoglreiche und ganz zuletzt tragisch scheiternde Herrscherin gezeichnet, der man ein gewisses Verständnis entgegenbringt. Ihr ist es gelungen, die Gewalt einzudämmen, das Reich zu konsolidieren und sich die Anerkennung der Nachbarländer zu erwerben. Athalie erstrebt sogar einen gewissen Ausgleich zwischen dem Baal-Kult, den sie selbst praktiziert, und dem Eingottglauben der Israeliten, den sie zumindest duldet. Der gewissermaßen politische Toleranzgedanke auf Seiten der Herrscherin, der von der rigorosen Priesterschaft des Tempels zu Jerusalem kategorisch verworfen wird, lädt dazu ein, in Racines Version der ,Athalie' (wie schon zuvor in seiner ,Esther') einen Reflex auf die wenige Jahre zuvor erfolgte Widerrufung des Toleranzedikts von Nantes zu erblicken.57 Denn es geht im biblischen Bericht wie in der zeitgenössischen Wirklichkeit um die mögliche oder eben unmögliche Koexistenz zweier Kulte innerhalb eines einzigen Staatsgebildes. Athalie, die nach dem Muster einer absoluten Fürstin herrscht und sich als maitresse souveraine (,souveräne Herrin') bezeichnet,58 nimmt im Laufe der Handlung zunehmend tragische Züge an. Verstrickt in die Unheilsgeschichte des Hauses Ahab, in das ihre Mutter eingeheiratet hat, und mit dem Blut Unschuldiger befleckt, ist sie dennoch bereit, im Interesse einer Befriedung der politischen Situation den ihr fremden Kult der Israeliten zu respektieren. Allerdings erwartet sie im Gegenzug ein gewisses Wohlverhalten auf Seiten der Priester- und Levitenschaft, insbesondere beim Hohenpriester Joad. Die komplexe Kräftekonstellation, in der Athalie ihre Staatskunst zu beweisen sucht, gerät außer Kontrolle, als Athalie von einem mehrfach wiederkehrenden Traum heimgesucht wird, in dem ihr zunächst das Gespenst der Mutter Jezabel erscheint, um ihr die Rache des israelitischen Gottes zu prophezeien. Als die Tochter die Mutter umarmen will, zerfallt deren Gestalt zu Knochen und Fleisch56

57

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Vgl. Jean Racine: Athalie (1691). V. Akt. 8. und letzte Szene. Vers 1413-1416. In: Ders.: Theatre complet. Hg. von Jacques Morel und Alain Viala. Paris 1980. S. 759. Die unbedingte Treue der Israeliten zu ihrem Gott kann entweder mit der Glaubensfestigkeit der Hugenotten oder aber der Jansenisten verglichen werden; Athalie hingegen repräsentiert in diesem Konflikt eine Staatsraison, die sich für die Wahrheitsansprüche der Religion nicht mehr wirklich interessiert. Zu Racines Jansenismus grundlegend vgl. Lucien Goldann: Le Dieu cache. Etude sur la vision tragique du monde dans les ,Pensees' de Pascal et dans le theatre de Racine. Paris 1956. Vgl. J. Racine: Athalie. II. Akt. 5. Szene. Vers 483. S. 713.

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fetzen, die an ihren unwürdigen Tod erinnern. Unmittelbar darauf tritt ein unbekannter Knabe in priesterlichen Gewändern auf, von dessen zarter Anmut sich Athalie berührt fühlt, der ihr jedoch unversehens einen Dolch ins Herz gräbt. Durch Gebet und Opfer möchte Athalie erst ihren Hausgott Baal und dann sogar den Gott Israels besänftigen. Doch als sie in dessen Tempel tritt, erblickt sie eben jenen Knaben, den ihr der Traum gezeigt hat: Es ist Joas, der mit seinem Gefährten dem Hohenpriester am Opferaltar dient. Da Athalie als Heidin keinen Zutritt zum Salomonischen Tempel hat, wird ihr Auftritt von den Gläubigen als Sakrileg empfunden und die Zeremonie abgebrochen. Es ist der Mühe wert, sich die entscheidende Textstelle vor Augen zu halten, an der Athalie dem Abner, einem gottesfurchtigen jüdischen Hofbeamten, von ihrem entsetzlichen Traum berichtet: ATHALIE

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C 'etait pendant l 'horreur d 'une profonde nuit. Ma mere Jezabel devant moi s 'est montree, Comme au jour de sa mort pompeusement paree. Ses malheurs η 'avaientpoint abattu sa flerte. Meme eile avait encor cet eclat emprunte, Dont eile eut soin de peindre et d 'orner son visage, Pour riparer des ans l 'irreparable outrage. Tremble, m 'a-t-elle dit, fille digne de moi. Le cruel Dieu des Juifs l 'empörte aussi sur toi. Je te plains de tomber dans ses mains redoutables, Ma fille. En achevant ces mots epouvantables, Son Ombre vers mon lit a paru se baisser. Et moi, je lui tendais les mains pour I'embrasser. Mais je η 'ai plus trouve qu 'un horrible melange D 'os et de chair meurtris, et traims dans la fange, Des lambeaux pleins de sang et des membres affreux, Que des chiens devorants se disputaient entre eux. Grand Dieu ! Dans ce desordre ά mes yeux se präsente Un jeune Enfant convert d'une robe eclatante, Tels qu 'on voit des Hebreux les Pretres revetus. Sa vue a ranime mes esprits abattus. Mais lorsque revenant de mon trouble funeste, J'admirais sa douceur, son air noble et modeste, J'ai senti tout a coup un homicide acier. Que le traitre en mon sein a plonge tout entier. De tant d'objets divers le bizarre assemblage Peut-etre du hasard vous parait un ouvrage. Moi-meme quelque temps honteuse de ma peur Je l'aiprispour l'ejfet d'une sombre vapeur. Mais de ce souvenir mon äme possedee

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A deux fois en dormant revu la meme idee. Deux fois mes tristes yeux se sont vu retracer Ce meme Enfant toujours tout pret a me percer. Lasse enfin des horreurs dont j 'etais poursuivie J'allais prier Baal de veiller su ma vie, Et chercher du repos au pied de ses Autels. Que ne peut la frayeur sur I 'esprit des mortels ! Dans le Temple des Juifs un instinct m 'a poussee, Et d'apaiser leur Dieu j 'ai conqu la pensee. J'ai cru que des presents calmeraient son courroux, Que ce Dieu, quel qu 'il soit, en deviendrait plus doux. Pontife de Baal, excusez ma faiblesse. J'entre. Le peuple fuit. Le sacrifice cesse59 E S war eine grausige, finstere Nacht. Meine Mutter Jesebel kam da gegangen, Mit Schmuck wie am Tag ihres Todes behangen. Ihr Unglück hatt' ihren Stolz nicht gebeugt, Ja, sie hat in dem künstlichen Glanz sich bezeugt, Womit sie ihr Antlitz bemalt und beladen, Zu heilen der Jahre unheilbaren Schaden: „Meine Tochter, erzittre!" so warnte sie mich. „Dieser grausame Gott hat Gewalt über dich. Weh, fielest du ihm in die furchtbaren Hände!" Und als die entsetzlichen Worte zu Ende, Da schien es, als neigte ihr Schatten sich mir. Zur Umarmung streckt' ich die Hände nach ihr. Doch ich hab' nur ein gräßlich Gemenge gefunden Von Fleisch und von Knochen, im Kote geschunden, Und Glieder mit Wunden und Fetzen voll Blut, Umstritten von Hunden in gieriger Wut. Großer Gott! Da erblickt' ich im grausamen Leide Ein Kind, das umhüllt war von strahlendem Kleide, Ganz wie es die Priester im Tempel bedeckt. Dieses Bild hat mein Herz, mein gelähmtes, geweckt. Doch nachdem es mich düstrer Bedrängnis entrückte, Durch edle, bescheidene Haltung entzückte, Da fühlt' ich, wie plötzlich mit tückischer Lust Es den Stahl mir, den mordenden, stieß in die Brust. Wenn so seltsam verschiedene Bilder sich einen,

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Kann es leicht als ein Werk Euch des Zufalls erscheinen. Ich gestehe Euch selbst, daß zuerst ich voll Scham Es als Ausgeburt düsterer Wallungen nahm. Doch hab' ich, verstört von solch wirrem Geschehen, Noch zweimal im Schlaf die Erscheinung gesehen, Sah beide Mal traurig das nämliche Kind In die Brust mir das Eisen zu bohren gesinnt. Erschöpft von des Schrecknisses drohendem Wüten, Hab' ich Baal gebeten, mein Leben zu hüten, Habe Ruhe gesucht vor seinem Altar. Was vermag über Menschen nicht Furcht vor Gefahr: Den Tempel der Juden, den lang' ich gemieden, Besucht' ich, gewillt, ihren Gott zu befrieden. Ich glaubte, und sei er auch noch so ergrimmt, Er werde durch Gaben zur Milde gestimmt. War es Schwachheit, Mathan, sie sei mir verziehen! Ich komme. Die Opferung stockt, sie entfliehen.60]

Nach dem Ereignis im Tempel wird Athalie versuchen, Näheres über den geheimnisvollen Knaben in Erfahrung zu bringen. Sie fordert eine persönliche Gegenüberstellung, die jeglichen Zweifel an der Identität des Traumgesichts mit dem Kind aus dem Tempel widerlegt. Im Gespräch zeigt sich Athalie von Joas' Weisheit beeindruckt, und sie fühlt sich gefühlsmäßig zu ihm hingezogen. Sie, die weder Kinder noch Enkel zu haben meint, bietet dem Joas an, ihn an Kindes Statt in ihrem Palast aufzunehmen, was dieser ablehnt, um nicht zum Baal-Dienst verfuhrt zu werden; zugleich aber rät der Baal-Priester Mathan der Athalie dazu, den Knaben töten zu lassen. Die Entwicklung spitzt sich folglich zu, und der Hohepriester beschließt, die Salbung ohne Aufschub vorzunehmen und Joas zum neuen König von Juda zu proklamieren. Athalie aber fordert weiterhin seine Herausgabe und betritt schließlich noch einmal den Tempel. Dort wird ihr Joas als soeben inthronisierter König vorgestellt. Bewaffnete Leviten treten auf und Athalies Leibwache ergreift die Flucht. Die Königin selbst, die den neuen Herrscher verflucht, wird vom Hohenpriester den Schergen übergeben und hinter der Bühne zu Tode gebracht. Wie schon in seiner ,Phedre' verwendet Racine auch in der ,Athalie' Verfahren, um die Protagonistin weniger schuldig und damit dem Publikum sympathisch erscheinen zu lassen. Ihr Tod erweckt bei den Zuschauern - wie von Aristoteles gefordert - Furcht und Mitleid, denn sie erleben am Schicksal der Athalie zunächst eine klassische Peripetie, einen Umschwung vom Glück ins Unglück, und 60

J. Racine: Athalja. II. Aufzug. 5. Szene. In: Ders.: Dramatische Dichtungen und Geistliche Gesänge. Übers, von Wilhelm Willige. 2 Bde. Darmstadt, Berlin-Frohnau, Neuwied am Rhein 1956. Bd. II. S. 353 und S. 355.

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dann eine Anagnorisis, eine Wiedererkennungsszene, als ihr im Tempel der geheimnisvolle Knabe als König Joas präsentiert wird. Daß es hierzu überhaupt kommen kann, verdankt sich Athalies unheimlichem Traumgesicht, welches den entscheidenden Umschlag auslöst und das in einer Zone der Unentschiedenheit angesiedelt ist: Im Hinblick auf die antike Traumdeutung erweist sich Athalies Erlebnis offensichtlich sowohl als oraculum (Jezabels Drohrede) wie auch als visio (das Gewahrwerden des unbekannten Knaben im Tempel) wie auch als noch zu dechiffrierendes somnium (der verrätselt dargestellte Dolchstoß, insofern Joas die Athalie nicht von eigener Hand tötet, sondern lediglich die juristische Rechtfertigung für ihre Exekution abgibt); zugleich aber läßt sich Athalies Erleben auch physiologisch erklären und könnte von melancholischen Wallungen (.sombre vapeur) herrühren, die bei ihr - wie schon bei Saint-Amants Clidamant - einen Alptraum ( έ φ ι ά λ τ η ς ) hervorgerufen haben. Athalies Traum ist Racines eigene Hinzufugung zum biblischen Stoff. Im Traum nämlich, der in den Vorgaben nirgends erwähnt wird, verknoten sich die Handlungsstränge, und zugleich ist er der antiken Tragödientradition nachempfunden.61 Das Traumgesicht weckt in Athalie, die eine kühl kalkulierende und machiavellistisch taktierende Politikerin zu sein schien, Affekte, die sie vorher nicht gekannt hat und derer sie auch nicht mehr Herr werden kann.62 Daß sie die tiefere Bedeutung ihres Traums unbedingt erkunden will und daß sie sich, angetrieben durch ihre Affekte, in den Salomonischen Tempel begibt, stürzt sie in immer neue Verwicklungen und zuletzt in die Katastrophe. Hinzu kommt, daß Athalie zwischen aggressiven Affekten und zärtlichen Gefühlsregungen zum kleinen Joas hin- und hergerissen ist. Wie in anderen Inszenierungen des 17. Jahrhunderts der Traum den unkontrollierten Imaginationen freien Lauf läßt, so setzt er in Racines Athalie Leidenschaften in Bewegung, die sich miteinander verketten und die das Subjekt dorthin führen, wohin es aus freien Stücken nicht gegangen wäre. Im Traum manifestiert sich somit die Domäne des Unverfügbaren, der das Subjekt hilflos ausgeliefert ist. Freudianisch gesprochen: Wo Ich war, wird Es. Ironischerweise trägt Athalies prophetischer Traum alle Züge eines frühneuzeitlichen Staatstraums, und unter einem rein theologischen Aspekt könnte man durchaus meinen, daß sich durch ihren Traum hindurch die Absichten der göttlichen Vorsehung verwirklichen. Aus einer stärker weltlichen und vor allem aus einer handlungsstrukturellen Sicht entspricht jedoch Athalies emotionale Wehrlosigkeit gegenüber den Traumeindrücken ganz und gar der unentrinnbaren Leidenschaftsverfallenheit, der wir bei anderen Figuren aus Racines Tragödien begegnen. Wie sich diese in Folge ihrer Affekthörigkeit immer tiefer in ein tragisches 61

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An den Traum der Klytaimnestra in den Choephoren des Aischylos erinnert Walter Pabst (Anm. 9) S. 170. Zu Racines Dramaturgie der Leidenschaften vgl. - im Anschluß an bekannte Arbeiten von Erich Auerbach und Leo Spitzer - Wolfgang Matzat: Dramenstruktur und Zuschauerrolle. Theater in der französischen Klassik. Tübingen 1982. S. 138-210.

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Schicksal verstricken, so gerät auch Athalie in die Katastrophe, weil sie darauf beharrt, an das phantasmatische Traumbild zu glauben, das sich ihr offenbart hat. Die Katastrophe erfaßt sie nicht nur als Individuum, sondern sie erfaßt auch das von Athalie verkörperte Macht- und Staatsmodell, den Absolutismus einschließlich seiner Grundlegung im Konzept der fürstlichen Souveränität. All diese politischen Prinzipien stellt Athalies Traum zur Disposition und hebt sie aus den Angeln, so daß das Herrschaftsprojekt der Usurpatorin letztlich scheitern muß - oder anders gesagt: Gegen Ende des 17. Jahrhunderts und auf dem Gipfelpunkt der französischen Klassik ist mit dem Traum kein Staat mehr zu machen, erst recht kein absolutistischer. Die Abgründigkeit von Racines Theater, in dem theologisch fundierter Pessimismus und antiabsolutistische Machtkritik zur Deckung gelangen, zeigt sich daran, daß die ruinöse, zerstörerische Tendenz von Athalies Traum nicht etwa verworfen, sondern auf der Bühne ausgespielt und ästhetisch gefeiert wird, vielleicht sogar als geheimnisvolle Manifestation der göttlichen Providenz anzusehen ist. Diese würde sich dann im Medium haltloser Imagination oder unbezwingbarer Affektivität artikulieren. Eine eindrucksvollere Apologie des Träumens ist unter den philosophischen Vorzeichen des Rationalismus und im Zeitalter Ludwigs XIV. schwer vorstellbar.

Phantastische Topographien und bizarre Totengespräche: Zur Poetik und Politik des Traums in der italienischen Renaissanceund Barockliteratur Dorothea Scholl Habet suam species phantastica

veritatem

Giordano Bruno

1. Einleitung Innerhalb der italienischen Renaissance- und Barockliteratur gibt es weder eine einheitliche Theorie des Traums noch der literarischen Traumdarstellungen. Jede Traumdarstellung schreibt sich in verschiedene vorausgegangene Darstellungen ein und steht mit diesen mehr oder weniger in intertextuellen Bezügen. 1 Bevor wir uns der spezifischen Problematik der Traumdarstellungen in der italienischen Barockliteratur widmen, sollen zunächst einige der traditionsbildenden Darstellungen wenigstens kurz charakterisiert werden, denn ohne deren Kenntnis kann die Besonderheit der Tradition insgesamt nicht adäquat verstanden werden. Dabei muß vorausgeschickt werden, daß die für die italienische Barockspezifik konstitutiven traditionsbildenden Texte ihrerseits in der Tradition biblischer und antiker Traumkonzeptionen wie auch apokrypher und hagiographischer Visionsliteratur stehen. Die Heiligenviten und Klosterannalen des Mittelalters sowie die Schriften der Mystiker enthalten eine Fülle von Offenbarungsvisionen. 2 Viele Visionäre sahen sich als Vermittler zwischen himmlischer und irdischer Welt, als auserwählte Botschafter, denen die Gnade zuteil wurde, göttliche Weisheit zu erkennen und zu vermitteln. Die schriftlich fixierten visionären Erlebnisse des Mittelalters konnten, wie Peter Dinzelbacher ausführt, einen enormen Einfluß nicht nur auf die Lebensweise desjenigen nehmen, dem die Vision zuteil wurde, sondern - wenn

2

Die intertextuellen Bezüge zwischen den Traumdichtungen der italienischen Literatur in ihrer Entwicklung im Sinne eines close reading zu untersuchen, bleibt ein Forschungsdesiderat. Vgl. z.B. Ernst Benz: Die Vision. Erfahrungsformen und Bilderwelt. Stuttgart 1969; Peter Dinzelbacher: Vision und Visionsliteratur im Mittelalter. Stuttgart 1981.

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sie die Gründung von Klöstern und Kirchen nach sich zogen - das gesamte öffentliche Leben verändern.3 Diese religiös, politisch und gesellschaftlich relevanten Visionen weisen teilweise hohe ästhetische Qualitäten auf, obwohl sie keinen unmittelbaren künstlerischen Anspruch haben. Im Unterschied zu ihnen sind die literarisch-fiktionalen Traum- und Visionsdarstellungen zu sehen, deren handlungsbestimmender Einfluß nicht eindeutig ausgemacht werden kann. Die politische Dimension solcher Träume ist eher textimmanent auf der inhaltlichen Ebene angesiedelt. In dieser mehr säkular geprägten Literatur werden jedoch auch Strukturelemente aus der religiösen Visionsliteratur aufgegriffen. 4 Wie die Mystiker stellen sich bisweilen die Autoren literarischer Traumvisionen ihrerseits als von göttlicher Gnade überwältigt dar und erheben ebenfalls explizit oder implizit den Anspruch, Sprachrohr göttlicher Weisheit und göttlicher Weisungen zu sein. Betrachtet man die Entwicklung der Visionsliteratur in ihrer longue duräe, so stellt man fest, daß sich am Übergang vom Mittelalter zur Renaissance eine Ausdifferenzierung zwischen weltlichem und geistlichem Schrifttum abzeichnet, die sich in der Folgezeit aufgrund konkurrierender Positionen im Spannungsfeld von Literatur, Theologie und Naturwissenschaft erheblich verstärkt. Diese Ausdifferenzierung ist schon in der frühchristlichen Trennung von kanonischer und apokrypher Literatur angelegt. Es ist gerade die apokryphe Visionsliteratur, von der viele Autoren literarischer Gestaltungen von Träumen und Visionen besonders fasziniert sind. Aufgrund der Konkurrenz im Offenbarungsanspruch kommt es im Laufe der Geschichte immer wieder zu Konflikten zwischen Theologen und Literaten. Nicht selten geschah es, daß Autoren literarischer Traumvisionen von den Kirchenmännern für verrückt erklärt wurden. Einer der Vertreter des Trienter Konzils, Gabriele Paleotti, der 1589 Kardinal wurde, stigmatisierte sie in seinem ,Discorso intorno alle immagini sacre e profane' (Bologna 1582) als trübselige und stumpfsinnige Geister, die im Fieberwahn ihre Werke schaffen würden.5 Ähnlich argumentierte im jansenistisch gefärbten Frankreich des späten 17. Jahrhunderts Malebranche im Zuge seiner Polemik gegen verschiedene Barockautoren, die er als esprits visionnaires im pathologischen Sinne bezeichnet.6 3

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Peter Dinzelbacher: Vision und Traum in ihrer Bedeutung für den mittelalterlichen Menschen. In: Mittelalterliche Visionsliteratur. Eine Anthologie. Ausgewählt, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Peter Dinzelbacher. Darmstadt 1989. S. 1-14. Diese sind aber nicht immer als Topoi zu beurteilen, denn es gilt zu bedenken, daß Visionserlebnisse im allgemeinen analoge Muster aufweisen und Ähnlichkeiten in der Motivik daher nicht zwingend als topische Stilisierungen zu werten sind. Vgl. P. Dinzelbacher (Anm. 3) S. 26-27. Gabriele Paleotti: Discorso intorno alle immagini sacre e profane. In: Scritti d'arte del Cinquecento. Hg. von Paola Barocchi. Mailand, Neapel 1977. Bd. 3. S. 2657. Nicolas Malebranche: De la recherche de la verite oü l'on traite de la nature de l'esprit de l'homme et de l'usage qu'il en doit faire pour eviter l'erreur dans les sciences (1674). Hg. von Genevieve Rodis-Lewis. Paris 1962. Bd. 1. S. 327.

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Auch Savonarola bewertete Träume als Ausdruck narzißtischer, pathologischer und melancholischer Zustände. Er trennte streng zwischen Traum und Vision und verwahrte sich gegen jene, die seine prophetischen Visionen als Simulationen oder krankhafte Zustände betrachteten. 7 Auch Cardano verteidigt seine Visionen. Den Vorwurf seiner Kontrahenten und Konkurrenten, sie seien nicht ernst zu nehmen und er würde sich mit der Schilderung und Deutung seiner Träume nur wichtig machen, um sich mit der Aura des Wunderbaren zu umgeben und prophetische Weissagungsgabe für sich in Anspruch zu nehmen, konterte er: Gar sehr würde sich auch täuschen, welcher glaubte, meinen Fleiß, meiner Arbeit, meinen Studien verdanke ich dies alles; nicht den tausendsten Teil hätten die leisten können. Am schlimmsten aber tut der, der sich einbildet, ich hätte diese Dinge aus eitel Ruhmsucht erfunden und erdichtet. Davon bin ich sehr weit entfernt. Warum sollte ich die Tüchtigkeit, die mir - wenn ihr so wollt angeboren ist und die ich überdies als göttliches Geschenk betrachte, mit solch frivolen Märchen und erlogenem Zeug beschmutzen?8 Hinzu kommen Konflikte innerhalb des literarischen Feldes. Diese sind ästhetischer wie ideologischer Natur. Mit der Herausbildung einer klassizistischen Poetik stießen die literarisch gestalteten Träume und Visionen der Autoren, die sich der Ästhetik des Grotesken verschrieben hatten, auf wenig Resonanz. Sie wurden entweder attackiert oder ignoriert. Ihre Werke wurden als moralisch zügellos und ästhetisch regellos dargestellt. Sie sind zum größten Teil nicht neu aufgelegt worden und schwer zugänglich. Die Folge ist, daß diese Autoren, die meist libertinen Kreisen angehörten, bis in unsere Zeit weitgehend unbekannt sind.9 In Literatur-

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Allora lui disse: - Se dunque tu non simuli, prenunziando tu cose inusitate e inaudite, pare ad alcuni che questo proceda da spirito di melanconia, el quale ti fa pensare e parlare in questo modo, ovvero che proceda da tua sogni ο forte imaginazione -. Io risposi e dissi: Padre, io non sento in me una lume e una representazione di fantasmi Ii quali so che non sono naturali, perche, avendo io molto tempo studiato in ßlosoßa, intendo quanto si estende el lume naturale delta ragione e la forza della fantasia e so che la non si estende a quel che intendo io, e massime per le cose future contingente: e per l'ordine grande, il quale ho sempre servato nel nostro dire, e per la cognizione delle Scritture, le quale ho esposte sempre a proposito de' presenti tempi, non depravandole ne tirandole per forza, anzi senza alcuna dissonanzia, come sanno coloro che mi hanno udito; le quale cose ogni mediocre ingegno sa che non possano procedere da spirito melanconico ηέ da sogni ο forte immaginazione -. Girolamo Savonarola: Compendio di rivelazioni, testo volgare e latino e Dialogue de veritate prophetica. Hg. von Angela Crucitti. Rom 1974 (Edizione nationale delle Opere di Girolamo Savonarola. Bd. 6). S. 32. Savonarola verwahrt sich auch gegen die divinatorische Astrologie, vgl. S. 32f. G. Savonarola (Anm. 7) S. 138. Lomazzo, der in seiner Jugend den großen Gelehrten porträtiert hatte, ist einer deijenigen, an denen sich Cardanos Prophezeiungen bewahrheitet hatten. Er berichtet in seiner Vita, Cardano habe ihm seine Erblindung vorausgesagt. Vgl. Giovan Paolo Lomazzo: Rime...intitolate Grotteschi, con la vita del autore descritta da lui stesso in rime sciolte. Mailand 1587. S. 538. Armando Marchi nennt den Libertin „una figura assente, da sempre, dal panorama della letteratura italiana". Vgl. Armando Marchi: La rete di Ferrante, ο le due imposture. In: Fer-

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geschichten finden sie keine oder kaum Erwähnung, oder es wird gerade die Dimension des Traumes in ihrem Werk ausgespart, so daß der Eindruck entsteht, in der Epoche des Barock habe es außer in Texten, in denen die klassische Traumtopik in konventionell kodierter Form praktiziert wird (z.B. weissagende Träume als Prolepse im Epos oder in der Tragödie 10 ), überhaupt keine literarischen Darstellungen von Träumen gegeben. Die einzige Ausnahme ist Marino, der schon zu seinen Lebzeiten viel gepriesen und viel geschmäht wurde, und der, nachdem er klassizistischer Literaturkritik zum Opfer gefallen war, erst im 20. Jahrhundert zum Paradebeispiel italienischer Barockliteratur hochstilisiert wurde. Marinos Traumdichtungen stehen wie die seiner weniger bekannten Zeitgenossen in der Tradition der Traumdichtungen der italienischen Renaissance, in denen antike, altorientalische und mittelalterliche Quellen verarbeitet werden und in denen dem Furor poeticus und dichterischen Enthusiasmus im platonischen Sinn ein hoher Rang zukommt. Die Lyrik hatte hier einen größeren Freiraum als das Theater, das in stärkerem Maße öffentlicher Kontrolle ausgesetzt war. Die Dichtung wird in der Furor-Theorie mit göttlicher Inspiration, der Eingebung von Visionen und Träumen sowie prophetischer Begabung identifiziert. Der Dichter wird zum vates und erhält eine wichtige Rolle bei der Zukunftsschau und als Ratgeber seiner Mäzene. Doch auch hier stellte und stellt sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit. Handelt es sich nur um einen literarischen Topos oder schenkte man den Dichtern, die sich auf die Furor-Theorie beriefen, wirklich Glauben? Wurde der Topos nicht auch instrumentalisiert, um den Rang des Dichters zu erhöhen und seine soziale Stellung zu stärken? Im gesamten hier behandelten Zeitraum zeigt sich eine grundlegende Ambivalenz im Umgang mit dem Phänomen des Traums und der Vision. Während Träume und Visionen von den einen als religiöse Eingebungen legitimiert werden, deuten andere sie als Illusionen und krankhafte Wahnvorstellungen. Wahrsagungen werden teils als Aberglauben, teils als Offenbarung bewertet. Während manche Hofastrologen von der Kirche akzeptiert werden, werden sie von anderen als Scharlatane verlacht.

2. Allegorische Traumvision und Allegorese zwischen Mittelalter und Renaissance Für Brunetto Latini bietet die literarische Darstellung des Traums die Möglichkeit zur wissenschaftlichen, religiösen und moralischen Unterweisung. In seinem ,Te-

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rante Pallavicino: II Corriero svaligiato, con la Lettera dalla prigiona, aggiuntavi La Semplicitä ingannata di Suor Aracangela Tarabotti. Hg. von Armando Marchi. Parma 1984. Edizione elettronica. Ε-text Editoria. 2002. S. 5. Vgl. dort auch (S. 4) zu neueren Tendenzen in der Libertinismus-Forschung. Dabei können auch diese Träume hintergründige und transgressive Botschaften enthalten.

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soretto', einer allegorischen Traumdichtung, enthüllt die personifizierte Natur in Form einer schönen Frau dem Träumenden die Schöpfung Gottes." Latinis Schüler Dante folgt ebenfalls der Idee, daß Träume göttliche Offenbarungen seien. Dante präsentierte seine ,Göttliche Komödie' 12 als literarischen Ausdruck einer Traumvision, in der verschiedene weltliche und geistliche Herrscher vergangener und gegenwärtiger Zeiten dem Gottesgericht unterworfen werden. Im ,Convivio' (II, 1) erläutert Dante seine Hermeneutik: Wie die heiligen Schriften, so sind auch weltliche Texte polysemisch und können nach dem mehrfachen Schriftsinn ausgelegt werden. Hinter dem trügerisch schönen Schein des vordergründigen Sinnes kann sich eine tiefere Wahrheit verbergen, una veritade ascosa sotto bella menzogna.u Die göttliche Traumvision wird zur Legitimation für das Straf- und Läuterungssystem im Inferno und Purgatorio ebenso wie für das Belohnungssystem im Paradiso. Der Topos des dichterischen Enthusiasmus impliziert in diesem Fall, daß die ursprüngliche Intention des literarischen Werkes als Produkt göttlicher Inspiration über das begrenzte künstlerische und ideologische Bewußtsein des Dichters hinausgeht. Dieser selbst ist dazu aufgerufen, sein Werk mit dem Instrumentarium menschlicher Textexegese auszulegen, um dessen tieferen Sinn zu erfassen. Die Traumvision des Dichters kann nach diesem Verständnis profundere Offenbarungen enthalten als die Lehre der Theologen. Eine mehr individualpsychologische Prägung hat die literarische Darstellung von Träumen als Ausdruck von Wunsch- und Heilsvorstellungen, als Nachhall vergangener Erlebnisse oder als Vorahnung künftiger Ereignisse in Dantes ,Vita nova' und in Petrarcas ,Canzoniere'. Doch auch hier ist der religiöse Kontext entscheidend. So deutet die Erscheinung Beatrices in den Angstträumen des erkrankten Dichters den Tod der Geliebten voraus; ein zum Himmel aufsteigender Engelschor kündet von ihrer Aufnahme ins himmlische Paradies und spendet Trost (,Vita nova', XXXIII). Auch im ,Canzoniere' findet sich dieses Schema. 14 In Petrarcas Traumdichtung ,Trionfi' erscheint dem lyrischen Ich im Traum ebenfalls eine weibliche Gestalt (Laura) und wird - ähnlich wie Dantes Beatrice zur Führerin und Offenbarerin. Die Leitfiguren zeigen den „rechten Weg" aus dem Labyrinth der Welt, deren Abbild der Traum ist. Sie spenden Trost und führen den Träumenden ins himmlische Paradies. Oder aber sie geben ihm Zeichen für seine Lebensgestaltung und schützen ihn vor Unheil. Sie können die Stimme

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Vgl. Brunetto Latino: II tesoretto e II Favoletto. Hg. von Benno von Wiese. Straßburg o. J. [um 1910], (Bibliotheca Romanica. Bd. 94/95). Noch bevor Boccaccio Dantes ,Commedia' mit dem Attribut divina adelte, nannte Dante selbst dieses Werk lo sacrato poema (Paradiso XXIII, 62) und il poema sacro (Paradiso XXV, 1). Dante: Tutte le opere. Mailand 1993. S. 902. Z.B. ,Canzoniere', CCCLIX, wo Lauras Erscheinung den Träumenden tröstet. Vgl. ausführlicher in Oscar Büdel: Parusia Redemtricis: Lauras Traumbesuche in Petrarcas Canzoniere. In: Petrarca 1304-1347. Beiträge zu Werk und Wirkung. Hg. von Fritz Schalk. Frankfurt a. M. 1975. S. 33-50.

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des persönlichen Schicksals übernehmen, indem sie Glück oder unausweichliches Unglück prophezeien. Die Traumbilder in den ,Trionfi' werden über eine Abfolge allegorischer Triumphzüge vermittelt und stehen kulturhistorisch im Zusammenhang mit den nach dem Modell der antiken Triumphzüge konzipierten feierlichen Einzügen von Königen und Fürsten sowie mit religiösen Prozessionen und Karnevalsumzügen.15 Der Rückgriff auf die allegorischen Trionfi gestattet es Petrarca, mythologische und historische Gestalten in ihrer symbolischen Bedeutung für die Mächte, die die Welt regieren, in eine Synthese zu bringen. Die weibliche Führergestalt geleitet den Träumenden zur Kontemplation der Liebe (Triumphus cupidinis), der Keuschheit (pudicitiae), des Todes (mortis), des Ruhms (famae), der Zeit (temporis) und der Ewigkeit (aeternitatis), nella quale si augura dipoter un giorno veder presente il Sommo Bene}6 Das summum bonum wird von Petrarca als vollkommene Glückseligkeit im Einklang körperlicher und geistiger Schönheit nach der Auferstehung verstanden: Ο beati coloro, che nel sommo coro degli angeli e dei santi potranno godere di tale visione! Sventuratissimi coloro che avranno posto le loro speranze nelle cose che il Tempo travolge! Ma sopra tutte le anime beatissima Laura, di cui apparirä nel cielo dopo la risurezzione dei morti tutta la bellezza corporate e spirituale! Se fu giä ragione di gaudio il veder la sua bellezza in terra, che felicitä sard mai ilpoter vederla fulgente di tutta la sua luce nel cielo?11 Angesichts des summum bonum ist das weltliche Leben mit all seinen Herrschaftsstrukturen und Illusionen ein flüchtiger Traum. Wie im ,Canzoniere', wo das Einleitungsgedicht dem Leser zu bedenken gibt, daß alles, woran die Welt Vergnügen findet, nur ein kurzer Traum ist,18 steht in den ,Trionfi' die Traumthematik im Zusammenhang mit dem aus dem biblischen Buch Kohelet abgeleiteten Vanitas-Motiv, das in der Literatur des Barock von elementarer Bedeutung werden wird.19 Auch in Boccaccios ,Amorosa Visione' geleitet eine weibliche Gestalt den Träumenden durch verschiedene Sphären. Auch hier wird die Traumvision zum Ausgangspunkt, von dem aus allegorische Inhalte eingeführt werden. Diese sind zwar vordergründig noch im Sinne verschlüsselter religiös-moralischer Unterwei15

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Vgl. Werner Weisbach: Trionfi. Berlin 1919. S. 19-20 und Jakob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch [1869], 11. Aufl. Hg. von Konrad Hoffmann. Stuttgart 1988. S. 292. Francesco Petrarca: Trionfi, Introduzione e note di Carlo Calcaterra. Turin 1927. S. 170. F. Petrarca (Anm. 16) S. 170. [...] e del mio vaneggiar vergogna e 'lfrutto,/e 7pentersi, e Ί conoscer chiaramente /che quanto place al mondo e breve sogno. Francesco Petrarca: Rime e Trionfi. Hg. von Ferdinando Neri. Turin 1953. S. 31 [Canzoniere (I)]. Zur Kohelet-Rezeption in Renaissance und Barock siehe Dorothea Scholl: Vanitas vanitatum: Das Buch Kohelet in der europäischen Renaissance- und Barocklyrik und Emblematik. In: Bibeldichtung. Hg. von Volker Kapp, Dorothea Scholl. Berlin 2006 (Schriften zur Literaturwissenschaft. Bd. 26). S. 221-260.

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sung konzipiert, 20 doch nimmt nun die weltliche Liebesthematik den größeren Raum ein. Wie Dante in der ,Commedia' und Petrarca in den ,Τποηίϊ' läßt Boccaccio in der ,Amorosa Visione' auf den verschiedenen Stationen der Traumreise eine Fülle von Dichtern und Denkern aller Zeiten vorüberziehen. 21 Auch mythologische und legendäre Gestalten aus mittelalterlichen Liebesdichtungen wie Tristan und Isolde werden vor Augen geführt, um die Macht der Liebe als moralisch veredelndes Prinzip und höchstes Gut den weltlichen Mächten entgegenzusetzen. 22 Boccaccios Alptraumerzählung ,Corbaccio' weist dagegen eine satirische Umkehrung der mittelalterlichen Minnethematik auf. Die schöne Landschaft wandelt sich zu einem grauenvollen laberinto d'amore,23 in dem sich das lyrische Ich verirrt. Das höchste Gut wird zum tiefsten Abgrund, das Paradies zur Hölle. Diese Form der Alptraumvision, in der die Frau als Schreckgespenst, Hexe und satanische Alte erscheint und den Dichter in grauenvollen Träumen bedroht, breitet sich dann später vor allem in der Burleskliteratur der Renaissance und des Barock aus. 24 Die Jenseitsreisen und Traumwanderungen in der italienischen Literatur bilden phantastische Topographien, in denen schöne oder schreckenerregende Landschaften als Rahmen oder als Sinnbilder für psychische Zustände und moralische Dispositionen dargestellt werden. Doch diese loci amoeni oder terribili sind niemals ohne kulturelle Bezüge, und ich sehe darin eine besondere Eigenart der italienischen Traum- und Visionsliteratur bis hin zu Pirandellos ,Effetti di un sogno interrotto', Calvinos ,Le cittä invisibili' oder Tabucchis ,Sogni di sogni'. Innerhalb der phantastischen Topographien werden Kulturlandschaften mit wundervollen Architekturen und erlesenen Kunstobjekten vor Augen geführt, als ob der Träumer durch die Räume eines irrealen Museums geleitet würde, dessen Kunstwerke einen geheimnisvollen Sinn enthielten. 20

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Giovanni Boccaccio: Amorosa visione. Hg. von Vittore Branca. Florenz 1944. S. 10: Li mi posai, e ciascun occhio grave / al sonno diedi, per lo qual gli agguati / conobbi chiusi sotto dolce chiave. (Version A, I, w . 19-21). Z.B. Dante: Costui e Dante Aligihier ßorentino, / il qual con eccellente stil vi scrisse / il sommo ben, le pene e la gran morte; / gloria fu delle Muse mentre Visse, / ne qui rißutan d'esser sue consorte. G. Boccaccio (Anm. 20) S. 34. Canto III, w . 84—88. Vgl. z.B. Canto XXIX, vv. 37-45, G. Boccaccio (Anm. 20) S. 131: Ε dopo questa piacevole storia, / vi vidi Lancilotto effigiato / con quella che si lunga fu sua gloria. / Li dopo lui, dal suo destro lato, / era Tristane e quella di cui elli/fu piü che d 'altra mai innamorato; / e piü assai ancora dopo a quelli / η 'avea ch 'io non conobbi, ο che la mente / non mi ridice bene I nomi d 'elli. Questo luogo e da vari variamente chiamato; e ciascuno il chiama bene: alcuni il chiamano „il laberinto d'Amore", e altri „la valle incantata", e assai „ilporcile di Venere", e molti „ la valle de' sospiri e della miseria ", e oltre a questi, chi in uno modo e chi in un altro, come meglio α ciascun piace. G. Boccaccio (Anm. 20) S. 479. Poliziano, Michelangelo, Berni, die „Bernesken" und die Antipetrarkisten in Italien; Ronsard, Rene Le Pays, Pierre de Mont-Gaillard, Sigogne in Frankreich; Quevedo in Spanien, um nur einige zu nennen. Vgl. zu dieser Thematik (in der Renaissance): Disarmonia, bruttezza e bizzaria nel Rinascimento. Hg. von Luisa Secchi Tarugi. Florenz 1998.

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1499 erscheint in Venedig ein Text, dessen phantastische Topographie eine so große Wirkung hatte, daß wiederholt versucht wurde, die dort beschriebenen Architekturen, Landschaften und Kunstgegenstände in der Realität nachzugestalten: die ,Hypnerotomachia Poliphili', in der der Traum wie bei Dante, Petrarca und Boccaccio als Initiation zu verstehen ist.25 Die oben beschriebenen archetypischen Traumdichtungen geistlicher und weltlicher Visionsliteratur sind dort synthetisiert und transformiert. Die ,Hypnerotomachia Poliphili' ist zudem der Prototyp der später noch zu besprechenden Texte, in denen eine ironische reecriture von Dantes Höllenvision vorgenommen wird. Es handelt sich bei diesem Roman um die Beschreibung einer Seelenlandschaft, in der sich eine Psychomachie abspielt. Die Seele des träumenden Helden namens Poliphilo ist hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu allen Frauen und der Liebe zu einer einzigen Frau - die überdies den ambivalenten Namen Polia trägt. Auch in diese Traumdarstellung werden allegorische Triumphzüge einbezogen. Im Gegensatz zu jenen in Petrarcas ,Trionfl' sind diese jedoch allesamt erotischer Natur. Sie illustrieren den Triumph Amors als Sieger über alles, auch über die Leidenschaft zur Kunst. Poliphilo wird im Traum in das summum bonum der Liebe initiiert, die hier gleichbedeutend mit höchster Erkenntnis und vollkommener Schönheit ist. Er gelangt durch verschiedene Regionen bis hin zur ekstatischen Vision, in der die Seele ihre verlorene Hälfte wiederfindet. Neben Piaton und neuplatonischen Schriften ist der Text von Quellen orientalischer Herkunft gespeist und manifestiert die Faszination der Magie, Hieroglyphik, Alchimie, heidnischen Mysterien und okkulten Wissenschaften.26 In einer Passage der ,Hypnerotomachia Poliphili', in der ein Traum im Traum berichtet wird und die man als mise en abyme verstehen kann, da sie Aufschluß über das Traumkonzept des Romans insgesamt gibt, wird der Traum - auch der Alptraum - als nächtliche Offenbarung (;nocturna revelatione) beschrieben, in der sich das Göttliche dem Menschen zeichenhaft verschlüsselt enthüllt 27 Der Traum 25

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Zur kulturprägenden Wirkung des Romans siehe Emanuela Kretzulesco-Quaranta: Les Jardins du songe. „Poliphile" et la Mystique de la Renaissance. Paris 1976. Eine ausführliche Analyse dieses Romans habe ich in meiner Studie zum Grotesken publiziert, vgl. Dorothea Scholl: Von den „Grottesken" zum Grotesken. Die Konstituierung einer Poetik des Grotesken in der italienischen Renaissance. Münster 2004 (Ars Rhetorica. Bd. 11). S. 223287. Auch in Giovan Battista Nazaris von der ,Hypnerotomachia Poliphili' abhängigen Traumerzählung ,Deila tramutazione metallica sogni tre' (1559) zeigt sich diese Faszination. Dort wird in Form einer Vision eine Reise durch die drei Reiche der Alchimie geschildert: das Reich der Sophistik, das auf falschen Prämissen beruht, das Reich der Realität, das auf der Natur beruht, und das Reich der Philosophie, das auf der Wahrheit beruht und die Umwandlung des Menschlichen in Göttliches bewirkt. Der Held durchwandert wie Poliphilo geheimnisvolle Landschaften mit Ruinen, alchemischen Symbolen, ägyptischen Hieroglyphen, Pyramiden und Labyrinthen. Vgl. hierzu Lina Bolzoni: La stanza della memoria. Modelli letterari e iconografici nell'etä della stampa. Turin 1995 (Saggi. Bd. 797). S. 106. Francesco Colonna: Hypnerotomachia Poliphili [1499]. Hg. von Giovanni Pozzi, Lucia A. Ciapponi. Padua 1980 (Medioevo e Umanesimo. Bd. 38). Bd. 1. S. 406.

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wird zur Hieroglyphe. Die verworrenen Zeichen des Traums sind Signaturen eines umfassend Heiligen. Dieses Heilige ist jedoch nur bedingt mit der christlichen Lehre nach damaliger Konvention vereinbar. Es ist vielmehr Auswirkung einer esoterischen, aus verschiedenen philosophischen und religiösen Traditionen hervorgegangenen synkretistischen Grundüberzeugung, die, weil sie nicht konform zur konventionellen Lehre war, nur in der verschlüsselten Zeichensprache des Traums übermittelt werden konnte. Die im Roman praktizierte Entzifferung ägyptischer Hieroglyphen ist Teil dieser Zeichensprache. Amor vincit omnia, so interpretiert der Held des Romans eine der Hieroglyphen, die er auf seiner Traumwanderung entdeckt. 28 Nicht nur er, auch Polia (,Omnia') wird von Amor besiegt und in die Liebe initiiert. Die Initialen der Kapitel dieses Romans bilden ein Akrostichon: POLIAM FRATER FRANCISCUS COLUMNA PERAMAVIT. Sie ergeben zusammen gelesen den Namen des Autors, dem der Roman zugeschrieben wird: der Dominikanermönch Francesco Colonna.

3. Traumdeutungen Als geheimnisvolle, kryptische Sprache in Bildern erhält der Traum in der Renaissance eine privilegierte hermeneutische Funktion, die auch noch - trotz einer Tendenz zur Entmythologisierung - bis ins 17. Jahrhundert hinein besteht. Entgegen der skeptischen Haltung der Reformation angesichts hagiographischer Visionsberichte und entgegen der durch den Rationalismus des 18. Jahrhunderts verbreiteten Auffassung wurden in der Renaissance und im Barock den Träumen und der Phantasie eine große Bedeutung zugemessen, was nicht nur die Fülle von Neuauflagen antiker und mittelalterlicher Traumdeutungsbücher zeigt, sondern auch die damit verbundenen modernen Kommentare und selbständigen Schriften zur Prophetie, Magie, Astrologie, Melancholie, Imagination und Gedächtniskunst. Nicht nur auf der Ebene der - teilweise noch unerschlossenen oder noch nicht systematisch analysierten - Texte spiegelt sich diese Faszination am Phänomen des Traums, auch in der Kunst und Emblematik. 29 In den Traumdeutungsbüchern nahm man typisierende Kategorisierungen der Träume vor. So unterschied man beispielsweise zwischen regressiven und antizipatorischen Träumen; man unterschied zwischen Träumen mit physiologischen und Träumen mit psychologischen Ursachen; man unterschied Träume, die auf göttlichen Eingebungen beruhen von Träumen, die auf satanische Einflüsterungen zurückgeführt wurden. Man inter-

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F. Colonna (Arnn. 27) S. 278f. Siehe z.B. Marianne Zehnpfennig: Traum und ,Vision' in Darstellungen des 16. und 17. Jahrhunderts. Diss. Tübingen 1979. Zehnpfennig konzentriert sich vor allem auf Michelangelos vielfach kopierte Zeichnung „II Sogno", von der sie eine sehr detaillierte und überzeugende Deutung präsentiert. Weitere Beispiele und Literaturhinweise in D. Scholl (Anm. 25) bes. S. 171f.

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pretierte den Traum als Ich-Spaltung und unterschied auch zwischen natürlichen und künstlichen Träumen.30 Die antiken und mittelalterlichen Schriften zum Traum (z.B. Piaton, Aristoteles, Hippokrates, Arnaldus de Villa Nova, Albertus Magnus) mit ihren Kommentaren (z.B. Ciceros ,Somnium Scipionis' mit den Kommentaren von Macrobius und Cardano) waren weit verbreitet. Synesios' Buch über den Traum wurde von Marsilio Ficino ins Lateinische übersetzt und 1516 zusammen mit Iamblich, ,De mysteriis Aegyptiorum', bei Aldo Manuzio, dem Verleger der ,Hypnerotomachia Poliphili', in Venedig herausgegeben. Ebenfalls in Venedig erschien 1525 die ,Expositione de gli Insomni secondo la Interpretatione de Indy, Persy & Egyptii'. Diese Ahmad Ibn Sirin zugeschriebene Schrift wurde in der Folgezeit mehrfach aufgelegt. Auch das Traumdeutungsbuch des Artemidor von Daldis, ,Oneirocritica', das 1542 in italienischer Übersetzung ebenfalls in Venedig erschien, war sehr populär.31 Venedig ist das Refugium der Freigeister, und das bedeutet auch die Freiheit, Träume zu publizieren. Gregorio Leti läßt in seiner Traumerzählung ,Visioni politiche' (1671), auf die an späterer Stelle näher eingegangen werden soll, zwei Symbolfiguren der Gedanken- und Ausdrucksfreiheit, den römischen Pasquino und den venezianischen Gobbo di Rialto, in einen Dialog treten: Der arme Pasquino mußte aus Rom ins Exil nach Venedig fliehen, weil ihm dort die Freiheit zugestanden wird, die ihm in Rom verweigert worden ist. Wie die Hieroglyphik, die Gedächtniskunst und die Konzepte der Alchimie bot die literarische Traumdarstellung die Möglichkeit, Sprache und abstrakte Konzepte in Bilder umzuwandeln und doktrinärer Redeweise die Eindeutigkeit zu nehmen. Dieses Verfahren der kryptischen Verhüllung wurde in der Renaissance mit den Oxymora iocari serio et studiosissime ludere als ernstes und gelehrtes Spiel umschrieben, in dem göttliche Mysterien zum Schutz vor Profanierung durch die

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Zu den verschiedenen Taxinomien vgl. die - stark psychoanalytisch orientierte - Studie von Mario Hagge: II sogno e la scrittura. Saggio di onirologia letteraria. Florenz 1986. S. 10-37. Um die Fülle zu verdeutlichen und den an diesem Forschungsgebiet Interessierten die Arbeit zu erleichtern, seien hier noch weitere, teilweise unerschlossene Schriften erwähnt: Daniele Barbaro [unter dem Pseudonym Hypneo da Schio]: Predica de i sogni. Venedig 1542; Pompeo della Barba: I discorsi filosofici di Pompeo della Barba da Pescia, sopra il platonico, e diuin Sogno di Scipione, di Marco Tullio. Vinegia 1553; J. Argenterius: De somno et vigilia libri duo. Florenz 1556; Benedetto Dottori: Trattato de sogni secondo l'opinione d'Aristotile. Padua 1557; Scipione Ammirato: II Dedalone overo del poeta. Neapel 1560; Cipriano Giambelli: II Diamerone ove si ragiona della natura, e qualitä de'sogni, e della perfettione, e eccelentione, e eccellenza dell'amicitia humana. Venedig 1581; Gabriele Zinano: II sogno, overo della poesia. Reggio Emilia 1590; Celso Mancini: De somniis, ac synesi per somnia. De risu, ac ridiculis. Synaugia Platonica. Ferrara 1591; Giovanni Battista Segni: Trattato de' sogni. Urbino 1591. Hinzu kommen Schriften zur Alchimie und zur Mnemotechnik, die im einzelnen anzugeben hier zu weit fuhren würde, und die in der Forschung durch die Arbeiten von Frances Yates, Lina Bolzoni und Paolo Rossi hinreichend bekannt sind.

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,Schatten' figurativer Sprache (Figurarum umbraculis) verdunkelt werden. Mit der Theoretisierung des Grotesken gehen solche Vorstellungen dann in die IdeaLehre sowie in die Konzeptismus- und Argutia-Theorie ein, wonach das Groteske in der Malerei als ingeniöse Metapher interpretiert und mit dem concetto in der Dichtung identifiziert wird.

4. Von der Renaissance zum Barock: , Groteskenträume'33 Als kryptische Zeichensprache, durch die aus den Tiefen der Zeit mit spielerischen Mitteln geheimnisvolle Botschaften übermittelt werden, wurden in der Renaissance auch die sogenannten „grottesche" verstanden. Etwa gleichzeitig mit der Entstehung der ,Hypnerotomachia Poliphili' begann man in Rom, die Ruinen des Palastes von Kaiser Nero, die domus aurea, archäologisch zu erschließen. Die in den unterirdischen Gewölben (grotte) entdeckten Wand- und Deckenmalereien wurden grottesche und auch sogni (Träume) genannt. Unter intertextueller Bezugnahme auf Ovids ,Metamorphosen' (XI, 592-629) assimilierten verschiedene Dichter die ,Grottesken' mit den chimärischen Gestalten in der Grotte des Traumgotts, und auch Maler nahmen Bezug auf Ovids mythologische Ätiologie der Träume. Zahlreiche Künstler stiegen in die magische Unterwelt der „Grottesken" hinab, besichtigten sie, kopierten sie und entwickelten sie künstlerisch und konzeptuell weiter (Abb.). Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II., der außer einem Liebesroman auch Abhandlungen über Träume schrieb, 34 beauftragte den Maler Pinturicchio, die Räume seiner Bibliothek in Siena mit ,Grottesken' und ägyptischen Hieroglyphen auszugestalten. In der Libreria Piccolomini zeigt sich derselbe Geist wie in Colonnas ,Hypnerotomachia Poliphili'. 35 Die Tatsache, daß der Stellenwert des Traums in der italienischen Renaissance so hoch war, hängt mit dem Zeitgeist zusammen, der die Diversität und Sprunghaftigkeit menschlicher Phantasien und Phantasmen (Capricci) nicht nur toleriert, sondern sogar stimuliert. Dessen ästhetischer und kultureller Ausdruck sind die ,Grottesken'. Doch die ,Groteskenträume', in denen im synkretistischen Geist der Renaissance heidnische und christliche Mysterien zu einer Symbiose verschmelzen, wurden in nach32

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Hierzu Edgar Wind: Heidnische Mysterien in der Renaissance. Deutsche vom Autor durchgesehene und ergänzte Auflage. Frankfurt a. M. 1987. S. 195-196 und loan Peter Couliano: Eros et magie ä la Renaissance - 1484. Avec une preface de Mircea Eliade. Paris 1984. S. 65. Den folgenden Ausführungen liegen teilweise Ergebnisse meiner Studie D. Scholl (Anm. 25) zugrunde. Enea Silvio Piccolomini: De somnio quodam dialogue und Somnium de fortuna (1475). Vgl. die Abbildungen in Alessandro Cecchi: La Libreria Piccolomini nel Duomo di Siena. Florenz 1982.

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reformatorischer Zeit als Gefahr betrachtet und als Symptome der Korruption und Verweltlichung der Kirche bekämpft. Dies zeigt sich unter anderem an der Verurteilung von Michelangelos Konzept der Sixtinischen Kapelle und daran, daß viele Groteskendekorationen aus den Kirchen entweder entfernt oder übermalt wurden.

Abb.:

Groteskendekoration von Alessandro Allori (oder Mitarbeiter) in der Galerie der Offizien, Florenz (Photographie D. S.).

Als mit den tridentinischen Reformbestrebungen eine Debatte um die sich explosionsartig ausbreitenden , Grottesken' entbrennt, kommt die Frage nach der Natur dieser kryptischen Figuren und Kompositionen auf, die so monströs, heidnisch, obszön und spottlustig anmuten, und die sich wie Parasiten überall, wo es ihnen gerade beliebt, einzunisten scheinen und nicht einmal vor der Illuminierung heiliger Schriften und der Dekoration von Papstpalästen und Kirchen halt machen. Während dieser Debatte werden die grottesche von ihren Apologeten als Hieroglyphen, in denen göttliche Mysterien verschlüsselt offenbart werden, interpretiert und verteidigt, wogegen die Kontrahenten sie im negativen Sinn sogni dei pittori nennen und sie - unter Berufung auf Horaz und dessen Kritik an grotesker Literatur - als Ausdruck krankhafter Traumphantasien und Hirngespinste verstanden wissen wollen. Gegen solch pathologisierende Deutungen von Traum und Groteske in Kunst und Literatur zieht der Künstler, Kunsttheoretiker und Dichter Giovan Paolo Lomazzo zu Felde. Lomazzo bezeichnet die grottesche als Hieroglyphen, Embleme, Träume und Hirngespinste in positivem Sinn. In seinen Traktaten wie auch in

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seinen heute vergessenen literarischen Schriften, den beiden Gedichtsammlungen ,Grotteschi' (,Grotesken') und ,Rabisch' (,Arabesken') sowie der unvollendeten Prosaerzählung ,Sogni' (,Träume') unternimmt Lomazzo eine umfassende Apologie und Analyse grotesker und phantastischer Aussagemodi in Kunst und Literatur. Neben Doni, Montaigne und Marino gehört Lomazzo zu jenen, die die Transformation der ,Grottesken' aus dem Bereich der bildenden Kunst in die Literatur vollzogen und eine literarische Poetik konstituiert haben, die genau die Merkmale aufweist, die in den ,grottesken' Dekorationssystemen der Renaissance und in der Raumkonzeption des Manierismus vorhanden sind und Analogien zum Phänomen des Traums zeigen: Verfremdung des Vertrauten, Desintegration von Raum und Zeit, Fragmentarisierung, Verdichtung und Kombinatorik von Widersprüchlichem, Umwandlung und Metamorphose, Dezentrierung, Verschiebung, Verzerrung, Lust am Spielerischen und Scherzhaften, am Monströsen und an libidinalen Formen. Für die Apologeten des Grotesken des 16. Jahrhunderts wird der Traum auch deshalb so wichtig, weil er eine Sprache in Bildern ist und sich auf diese Weise Malerei und Literatur miteinander verbinden lassen. Die Maler von Grotesken werden mit Dichtern und Träumern verglichen, weil sie Dinge abbilden, die in der Phantasie existieren. Dies bringt eine Aufwertung des bildenden Künstlers mit sich, denn er tritt dadurch aus dem Bereich der artes mechanicae in den Bereich der sieben freien Künste ein. In Antonfrancesco Donis Poetik des Grotesken ist die Vorstellung, daß Dichter und Maler Luftschlösser bauen, castelli in aria, von zentraler Bedeutung. Mit der Poetik des Grotesken werden Hierarchien hinterfragt und utopische Welten geschaffen, in denen individuelle Träume und Capricci zum Ausdruck kommen. In utopischen Staatsentwürfen wie in Campanellas ,Cittä del Sole' (1602) haben individuelle Träume und Phantasien dagegen keinen Platz, weil sie das strenge kollektive Reglement stören würden. Mit der Gegenreformation wird die geistige Freiheit der Utopisten stark eingeschränkt, wie Raymond Trousson bei seiner Untersuchung der Entwicklung der literarischen Utopien festgestellt hat. 36 Die Verfechter der Poetik des Grotesken sehen in Tag- und Nachtträumen die Möglichkeit, sich von der Realität zu lösen, imaginäre Räume zu erschließen und kreative Fähigkeiten zu entwickeln. Die in der Renaissance entstandene und im Manierismus formulierte Ästhetik des Grotesken, in der das Groteske in der Kunst mit dem Dichten in der Literatur gleichgesetzt wird, bricht mit den Regeln dominanter klassizistischer Poetiken, Rhetoriken und Kunstanschauungen und ist von extremer Bedeutung für die Herausbildung der Barockpoetik.

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Raymond Trousson: Voyages aux pays de nulle part: Histoire litteraire de la pensee utopique. 2. durchgesehene und erg. Aufl. Brüssel 1979. S. 68.

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5. Schattenbilder und Fesseln: Die platonische Höhle in der Debatte um das Groteske und bei Giordano Bruno Das Konzil von Trient, das auf den reformatorischen Vorwurf der Verweltlichung und Korruption der Kirche reagiert, bekämpft die ,Grottesken' in jeder Form. Bei den Barockmalern Pietro da Cortona, Andrea Pozzo und Luca Giordano sind die ,Grottesken' in der Sakralkunst dann auch ins Christliche transformiert. Doch die Kontroverse über Träume während des Tridentinums macht auch deutlich, daß es innerhalb des Katholizismus unterschiedliche Meinungen gab. Ein Hauptproblem in der Debatte um Traum und Groteske bei der Umsetzung der Reformen des Trienter Konzils ist die Frage nach der Bewertung von Schein und Sein. Der schon erwähnte Gabriele Paleotti dämonisiert die Träume und stellt die Groteskenmaler und -dichter als im wahrsten Sinne des Wortes Wahnsinnige dar. Andere sehen in ihnen gefährliche Verführer und Betrüger, nennen sie Sophisten und interpretieren ihre Werke im Rückgriff auf Piatons ,Sophistes' und auf das Höhlengleichnis als Trugbilder, mit denen die verzerrten , Schatten' des Wahren nachgeahmt werden und in denen mit der Vorgaukelung eines schönen Scheins gefahrliche Affekte geweckt werden. Daniele Barbara, der die Grotesken „Träume der Malerei" nennt, ordnet die Dialektik der Vernunft zu, die Rhetorik der Vernunft und Empfindung, und die Dichtung dem Traum und der Sophistik: Certo, si come la fantasia nel sogno ci rappresenta confusamente le immagini delle cose e spesso pone insieme nature diverse, cost potemo dire che facciano le grottesche, le quali senza dubbio potemo nominare sogni della pittura. Simil cosa vedemo noi nell 'arti delparlare, imperoche il dialetico siforza di satisfare alia ragione, l'oratore al senso et alia ragione, ilpoeta alquantopiü al senso et al diletto che alia ragione, il sofista fa cose mostruose e tali, quali ci rappresenta la fantasia, quando i nostri sentimenti sono chiusi dal sonno,37 In den Augen ihrer Kritiker sind die Gestalter des Grotesken Träumer, die in der Höhle gefesselt sind. Sie halten die Abbilder für die Wirklichkeit und bilden diese Abbilder mit ihrer monströsen Kunst ab. Die Apologeten des Grotesken dagegen sagen: Wir bilden keine Abbilder ab, sondern Sinnbilder, unsere Nachahmung ist nicht ikastisch, sondern phantastisch, nicht mimetisch, sondern anamnetisch. Dies ist der Fall in Lomazzos, Comaninis und Zuccaris Idea-Lehre, die als dekonstruierende Zuspitzung der platonischen Ideenlehre betrachtet werden könnte. Der Groteskenkünstler und -dichter ist in der Lage, mittels Bildgrotesken und Wortmetaphern die geheimen Verbindungen des Seienden im poetischen concetto zum Vorschein zu bringen. 37

Daniele Barbaro: I dieci libri dell'architettura di M. VITRUVIO, tradotti e commentati da mons. Venezia 1567. In: Scritti d'arte (Anm. 5) S. 2634-2635.

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Giordano Brunos Analyse der Träume und Phantasmen ist in diesem Zusammenhang interessant: Ombra profonda siamo, schreibt er am Anfang von ,De umbris idearum' (15 82).38 Wir sind nur Schattengestalten, und weil wir das sind, ist selbst unser rationales Denken phantasmatisch. Die traditionelle Trennung der Seelenkräfte - memoria, imaginatio, ratio - ist damit aufgehoben. Es gibt keine Rationalität. Selbst hinter den klarsten und rationalsten Argumenten verbergen sich Phantasmen. Diese Vorstellung hat in Brunos eindringlicher Analyse schwerwiegende Konsequenzen fur den zwischenmenschlichen Umgang und ist in anthropologischer Hinsicht von elementarer Bedeutung. Verschiedene Menschen haben verschiedene Meinungen; verschiedene sagen verschiedene Dinge; so viele Köpfe, so viele Wahrnehmungen, schreibt Bruno in ,De umbris idearum'. 39 Bruno macht auf die fundamentale Verschiedenartigkeit in der subjektiven Wahrnehmung aufmerksam. Da die Ideen als Schatten, Phantasien, Träume, aufgefaßt sind, ist der Philosoph dem Dichter und Maler vergleichbar. Er muß in der Lage sein, in den menschlichen Ideen die Phantasmen zu erkennen, um sie in seiner Argumentation nutzbar zu machen. 40 In seinen späteren Schriften wie ,De magia' (zwischen 1586 und 1591) und ,De vinculis in genere' (1591) analysiert Bruno Träume und Phantasmen als Prinzipien magischer Verführung und reflektiert über das ,Fesselungsvermögen' verschiedener Anziehungskräfte und das Phänomen der Manipulation von Individuen oder Massen. Träume und Visionen sind Bruno zufolge von Geistern oder Dämonen eingegeben, die durch asketische und meditative Praktiken bezwungen und ausgetrieben werden können. Der Geist (Spiritus) ist in der Materie, er ist in allem enthalten und setzt alles in unaufhörliche Verbindung miteinander. Der , innere Sinn' bildet phantastische Erscheinungsbilder. Diese sind libidinös bedingt. Es gibt eine gewisse göttliche Kraft in allen Dingen, die Liebe selbst ist der Vater, die Quelle und die Amphitrite der Fesseln. Daher nennen ihn nicht von ungefähr Orpheus und Merkur einen großen Dämon, da er als Fessel die ganze Substanz der Dinge, ihre Konstitution und (daß ich so sage) ihre Hypostase ist. [...] Die eine Liebe und die eine Fessel machen aus allem eines; sie haben 38

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Ombra profonda siamo, non tormentateci, ο inetti. / Non voi richiede un 'opera cosi seria, ma i dotti. Giordano Bruno: ,De umbris idearum' (1582). http: www.alkemik.com/ thenolan/idearum_bruno.htm Vari uomini hanno varie opinioni; diversi dicono cose diverse; quanto sono le teste, tanti sono ipareri. G. Bruno (Anm. 38). „Dans le Sigillus sigillorum, Bruno avait dejä explique la raison profonde de Vut pictura poesis, de l'equivalence entre peinture et poesie. Zeuxis est le peintre des images interieures de la memoire, qui excelle en phantastica virtus, en puissance imaginative. A son tour, le poete possede une puissance cognitive hors du commun, dont la source est egalement spirituelle. Ί1 en resulte que les philosophes sont aussi peintres et poetes, et les poetes sont peintres et philosophes [Op. lat. II, 2, S. 133]'. En effet, puisque l'intellect est de nature fantastique, le philosophe doit etre capable de manier les fantasmes, d'etre un grand peintre de l'esprit. Aristote ne disait-il pas que 'comprendre signifie observer les fantasmes'? Le lieu oil les fantasmes se refletent [ . . . ] est le miroir du pneuma." I. P. Couliano (Anm. 32) S. 98f.

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verschiedene Gesichter im Verschiedenen, so daß dasselbe auf verschiedene Weise das jeweils Verschiedene fesselt. Daher wird derselbe Cupido der höchste und niedrigste genannt, der jüngste und der älteste, der blinde und der scharfsichtigste, der alles nach seinen Kräften macht bzw. bewirkt, daß es in diesen Kräften besteht und nicht von ihm läßt zum Zwecke der ewigen Dauer der Art. [...] Die Fessel der Fesseln ist freilich die Liebe.41 Aufgrund dieser libidinösen Prägung kann die Manipulation nur dann erfolgreich sein, wenn man die Affekte des Gegenübers genau kennt und weiß, wodurch jedes Individuum gefesselt wird, denn [verschiedene] Individuen werden von verschiedenen Objekten gefesselt42 Doch der Grund für die Anziehung kann objektiv nicht bestimmt werden.43 Da das Objekt, von dem man fasziniert ist, nicht in sich gut oder schön ist, sondern durch die Meinung anderer häufig erst aufgewertet wird,44 spielt die Imagination eine zentrale Rolle: Es kann nämlich auch die Imagination ohne Wahrheit wahrhaftig fesseln und durch die Imagination das Fesselbare wahrhaftig verpflichtet werden. Auch wenn es keine Hölle gibt, macht die Meinung und Imagination, es gäbe eine Hölle, selbst ohne die Grundlage der Wahrheit, wahrhaftig eine wahre Hölle. Es hat nämlich die phantastische Erscheinungsweise (species) ihre eigene Wahrheit [habet suam species phantastica veritatem], aus der folgt, daß sie auch wahrhaftig wirkt oder sehr mächtig dadurch das Fesselbare bindet.45 Giordano Bruno wurde 1600 in Rom auf dem Campo dei fiori als Ketzer verbrannt. Mit seiner Philosophie erfährt das Imaginäre eine philosophische Wertschätzung, die infolge der cartesianischen Abwertung der Imagination immer mehr in Vergessenheit geraten ist.46 Brunos Philosophie bietet ebenso wie die Idea-Lehre, nach der im poetischen concetto innere Bilder abgebildet und innere Zusammenhänge hergestellt werden, eine philosophische Legitimation für die , Groteskenträume'. 41

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Giordano Bruno: De vinculis in genere. In: Giordano Bruno. Ausgewählt und vorgestellt von Elisabeth von Samsonow. München 1999. S. 220-225. Solche Passagen führten zum Vorwurf des Pantheismus. G. Bruno (Anm. 41) S. 191; vgl. auch S. 167, 190, 203, 218. Die Ursache (ratio) für die Fesseln ist zum größten Teil selbst den Weisen verborgen. G. Bruno (Anm. 41) S. 196, vgl. auch S. 215-216 (Art. III-IV): Es steht dennoch aus dem Glauben heraus fest, daß er selbst [Gott] Urheber und Vervollkomner aller Schönheit und jeder Fessel ist. Brunos Analysen sind in diesem Sinne kompatibel mit der von Rene Girard entwickelten Theorie des mimetischen Begehrens, vgl. z.B. Rene Girard: Mensonge romantique et verite romanesque. Paris 1981. G. Bruno (Anm. 41) S. 212. Eine Ausnahme ist Giambattista Vico, der in der ,Scienza nuova' (1725) die poetische Imagination in ihrer kognitiven Dimension als höhere Weisheit darstellte, vgl. v. a. das zweite Buch, Deila sapienza poetica, in: Giambattista Vico: Opere. Hg. von Fausto Niccolini. Mailand, Neapel 1953. S. 492-727.

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Ein Blick auf den ,Index librorum prohibitorum' zeigt die zunehmenden Restriktionen, denen das literarisch Groteske ausgesetzt war. Auch die Bewertung der antiken Mythologie spielt hierbei eine Rolle. Während die Apologeten des Grotesken - von denen ein nicht geringer Teil dem geistlichen Stand angehörte die antiken Mythen allegorisch verstehen und verstanden wissen wollen, greifen die Gegner der Mythenallegorese die in ihren Augen unzulässige Vermischung von heidnischen und christlichen Elementen an. Gegen diese repressiven Tendenzen in der literarischen und künstlerischen Gestaltung und Deutung von Mythen versucht Lomazzo mit seiner Apologie des Grotesken, diese Kunstform als eine Kunst der Vielsinnigkeit und Vieldeutigkeit anzupreisen. Das Groteske in Literatur und Kunst erscheint als letzte Möglichkeit, den Synkretismus der Renaissance zu konservieren, weil es sich nicht auf doktrinäre Auslegungen festlegen läßt und die antike, altorientalisch ägyptische und biblische Welt in eine Synthese zu bringen vermag. In ähnlicher Weise wie später Tesauro, auf den wir noch zu sprechen kommen, verteidigt Lomazzo das Groteske als eine Kunst des Unbestimmten und Unabgeschlossenen, die in der dichterischen Eingebung (furia) des Malers oder des Schriftstellers einen göttlichen Ursprung hat. Die metaphysische Fundierung des Grotesken war in dieser Situation die letzte Möglichkeit, das Paradigma der „Groteskenträume" auf ästhetischer, ideologischer und religiöser Ebene zu retten. Diesen Weg beschreitet auch der von Lomazzo beeinflußte Hauptvertreter der italienischen Barockdichtung, Giambattista Marino.

6. Träume als göttliche ,concetti' Marino präsentiert in seinen ,Dicerie sacre' die gesamte göttliche Schöpfung als Gestaltung von „grottesche". 47 Da der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, sind die künstlerischen Hervorbringungen des Dichters ebenfalls als Groteskenschöpfungen zu verstehen. Wie die seltsamen Gebilde eines Traums rufen sie Verblüffung und Verwunderung hervor. Die im Kunstwerk gespiegelte göttliche Schöpfung wird zu einem großen Museum, dessen Werke den Betrachter mit andächtigem Staunen erfüllen. Trotz solch programmatischer Aussagen wurde Marinos Dichtung von Papst Urban VIII. abgelehnt und leistete sogar der Ausdifferenzierung zwischen weltlicher und geistlicher Dichtung Vorschub. 48 Marinos ,concetti' wurden von späteren Rezipienten nicht mehr als konstitutive Bestandteile des im menschlichen Mikrokosmos gespiegelten göttlichen Makrokosmos verstanden und auch nicht mehr im Sinne der Idea-Lehre als hieroglyphische oder emblematische Figuren, sondern nur noch in ihrer ludistischen Dimension als oberflächlich, unseriös und hoch artifiziell wahrgenommen und in ihrer ,verhee47

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Giovan Battista Marino: Dicerie sacre e la Strage de gl'Innocenti. Hg. von Giovanni Pozzi. Turin 1960. S. 95. Näheres in: Volker Kapp, Dorothea Scholl: Bibeldichtung. In: Bibeldichtung (Anm. 19) S. 20-22.

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renden' Wirkung auf die europäische Barocklyrik (,Marinismus', ,Konzeptismus', ,Argutia') rezipiert. Der Konzeptismus wurde auf das rein Spielerische reduziert und verlor seinen kognitiven Anspruch. Einer der Theoretiker des Konzeptismus, Emanuele Tesauro, verteidigt Marinos Lyrik und Prosa: [...] chipiü delicato nella Urica e nellaprosa che la Sirena Marina?49 In seiner Poetik ,11 Cannocchiale aristotelico' (1654) bezeichnet Tesauro monströse Phänomene als mysteriöse Hieroglyphen und rechnet sie zu den arguzie della Natura.50 Grotesken und Arabesken zählt er, weil sie aus dem menschlichen ingenium entstanden sind, zu den arguzie umane51 Da das menschliche ingenium am göttlichen partizipiert, particella della mente divina ist,52 sind in den Augen Tesauros besonders jene Kunstwerke scharfsinnig und ingeniös, die in der kombinatorischen Ästhetik des Grotesken die Phantasie des Lesers oder Betrachters stimulieren und in ihrer Schönheit einen mysteriösen Sinn enthalten.53 Tesauro unterscheidet jedoch zwischen einer edlen künstlerischen Disposition, die dauerhaft ist und durch den dichterischen Wahnsinn verursacht ist und einer Inspiration, die durch melancholischen Wahnsinn oder Trunkenheit verursacht ist und krankhafte Züge aufweist: Ancor tra le argutepazzie si de' numerare l'ebrieta, sogno vegghiante e furor brieve, tanto piü violento quanto piü vinolento. Pero che si come ne' sonnacchiosi il fumo dello stomacho, cosi negli ebri il vapor del vino turba i diurni fantasmi, e prendendo l'una imagine per l'altra ο confondendo l'una con l'altra, ne forma stranissimi crotteschi e ridicolose metafore.54 Bei diesen im „Wahn" entstandenen Grotesken und Metaphern handelt es sich nicht mehr um Imaginationen mit kognitiver Relevanz, sondern um eine sinnlose Vermischung. Die natürlichen Träume handelt Tesauro unter der Rubrik Argutezze Angeliche ab und charakterisiert sie als scharfsinnige Metaphern kapriziöser Geister (metafore argute di Spiriti capricciosi)55 Nebenbei bemerkt: In der Ausgabe der ,Trattatisti e narratori del Seicento', die den 36. Band der berühmten Reihe ,Letteratura italiana - Storia e testi' bildet, wird gerade dieses Kapitel ausgeklammert. Eine Analyse der Anthologien, in denen Autoren erscheinen, die sich mit Träumen auseinandergesetzt haben, wäre in dieser Hinsicht sicherlich aufschlußreich. Warum wird gerade Tesauros Engel-Kapitel ausgegrenzt? Es 49

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Emanuele Tesauro: II Cannochiale aristotelico (1654). In: Trattatisti e narratori del Seicento. Hg. von Ezio Raimondi. Mailand, Neapel 1960 (La Letteratura Italiana - Storia e testi. Bd. 36). S. 59. E. Tesauro (Anm. 49) S. 30. E. Tesauro (Anm. 49) S. 32-34. E. Tesauro (Anm. 49) S. 33. E. Tesauro (Anm. 49) S. 32-34, vgl. auch S. 21. E. Tesauro (Anm. 49) S. 39. Emanuele Tesauro: II cannocchiale aristotelico [Faksimile-Neudruck der Ausgabe von Turin 1670 (Quinta impressione)]. Hg. und eingeleitet von August Buck. Bad Homburg, Berlin, Zürich 1960 (Ars poetica Texte. Bd. 5). S. 70.

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scheint, daß Tesauro ebenso wie Marino einem Literaturverständnis zum Opfer gefallen ist, das theologische Implikationen als unmodern ansieht. Tesauro präsentiert eine Reihe von Exempla aus der Antike, in denen sich die Träume von Herrschern als politische Prophezeiungen bewahrheitet haben sollen.56 Dabei setzt er voraus, daß im Traum engelhafte Zwischenwesen eine Verbindung zwischen übersinnlicher und realer Welt herstellen und in konzeptistischen Bildern den Träumenden symbolische Hinweise auf Zukünftiges geben. So soll Hannibal kurz vor seinem Sieg über die Römer im Traum ein schöner Jüngling erschienen sein, der ihn zu einem Drachen führte, der Feuer und Gift versprühte und überall, wohin er sich wandte, schöne Landschaften in wüste Einöden verwandelte. Auf die Frage Hannibals, was das Untier bedeute, antwortete der schöne Jüngling: LA RVINA DELL 'ITALIA.51

7. Die Welt als Traum und der Traum als Theater Wie bei vielen Barockdichtern ist bei Marino die Concetto- und Traumthematik an ein Weltbild gebunden, das aus der Erfahrung der Vanitas hervorgegangen ist. Obwohl der Illusionscharakter der Träume im Barock deutlicher hervortritt, zeigt doch die Art und Weise, wie sie literarisch dargestellt werden, auf einer tieferen Ebene ihren Rückbezug zur religiösen Vanitas-Konzeption. Die Welt wird zum irrealen Theater, auf dessen Bühne sich Schauspieler wie Schatten bewegen. Marino bezieht sich wiederholt auf die Traummythologie der Antike, aber er greift auch auf biblische Archetypen zurück, wie die im Buch Kohelet artikulierte Vorstellung, daß das Leben nur ein kurzer Traum ist und man sich angesichts der Vergänglichkeit und Nichtigkeit alles Irdischen auf ewige Werte besinnen sollte: Ma cid che val, se Ί tutto e un sogno breve? Stolto colui che 'n vanitä sifida. Dritto e ben che d 'un ben che perir deve l 'un filosofo pianga e l 'altro rida; sola Virtü, del Tempo avaro e lieve puo l 'ingorda sprezzar rabbia omicida; tutto il resto il crudel, mentre che fu^ge, e rapace e vorace invola e strugge. Auch in den Predigten der Epoche wird Kohelet zitiert, um die Vergänglichkeit des Seins und die Welt als trügerischen Traum (Koh 34, 2) vor Augen zu führen, der nur unvollkommene Erkenntnis ermöglicht und im Konstrast zur klaren Vision Gottes steht: 56 57 58

E. Tesauro (Anm. 55) S. 68-70. E. Tesauro (Anm. 55) S. 70. Giovan Battista Marino: L'Adone. Hg. von Giovanni Pozzi. Tomo I. Mailand 1976. S. 536 [Adone, X, 68], Vgl. auch S. 643 [Adone X, 203].

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Ιο vi ho promessa la vista di tanti cieli, il dominio di tanto mondo, il consorzio di tanti eroi, la varietd di tante delizie, I'acquisto di tante scienze, I'ornamento di tante doti, e soprattutto la vision chiara di Dio, che solo sard bastante ad empir tutto il vostro cuore ed a satollarvelo. Erit omnia in omnibus. [1 Kor 15,28] Ed e possibile che voi non vogliate fare per tanto piu quell'istesso che faresteper tanto meno? /Ma che dico, epossibile? Ε difatto, miei signori, e di fatto. Ibeni di questo mondo, che sono tanto inferiori, „visa mendacia" (come gli possiamo chiamare con I 'Ecclesiastico), oh questi si, che si stimano, che si cercano, che si comprano a qualunque gran pagamento. Ma i beni del paradi• - 59 so non gia. 1 Kor 13,13 ist in diesem erkenntnistheoretischen Zusammenhang ebenfalls von Bedeutung. Jede Erkenntnis der Welt ist im Diesseits unvollkommen. Im Gegensatz zur Predigt, in der die irdische Schönheit zwar als etwas Wunderbares, aber Trügerisches dargestellt ist, verabsolutiert die Dichtung die Schönheit der Welt so sehr, daß das im concetto vermittelte kognitive System verschleiert wird und aus dem Bewußtsein zu entgleiten droht. Bei Marino wird der Traum zu einem Spektakel, das Staunen und Verwunderung auslöst. Im Ludwig XIII. gewidmeten ,Adone' synthetisiert Marino verschiedene antike und moderne Vorstellungen über Träume (u.a. Lukian, Ovid, Vergil, Ariost, Colonna). Der Traumgott wird - in Anlehnung an die in Ovids ,Metamorphosen' übermittelte Vorstellung, daß der Traumgott Gestalten nachahmt - zum Schauspieler, der sich in verschiedene Figuren verwandelt. Die leichten und flüchtigen Traumerscheinungen werden zu Figuren eines phantastischen Theaters, das der Betrachter bewundert; die Welt wird zum Traum, und die Realität wird substanzlos, luftig, leicht und ungreifbar. Appena ha queste note ultime espresse, che l 'amico Morfeo, che l e vicino, fabrica d 'aria e di vapori intesse simulacro leggiadro e peregrino. Di tai forme si veste e scopre in esse Di celeste beltä luce e foco spira, nel teatro del sonno Adone ammira.60 Der Bezug zwischen Traum und Theater zeigt sich auch an der Tatsache, daß der Traum in der bildenden Kunst der Epoche ikonographisch häufig durch das Emblem der Maske versinnbildlicht wird. Auch der Jesuit Daniello Bartoli, der in seiner Schrift ,La Ricreazione del savio' (1659) das Phänomen des Traums analysiert, bezeichnet den Traum als Theater und vergleicht Träume mit Groteskendekorationen. Im Unterschied zum künstlerisch modellierten Theater ist das Theater des Traums eine vollkommene 59 60

Paolo Segneri: Quaresimale. In: Trattatisti e narratori (Anm. 49) S. 691. G. B. Marino (Anm. 58) L'Adone. Τ. I. S. 166 [Adone III, 92],

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Entrückung aus der alltäglichen Welt. Die entrückte Seele wird zur fassungslosen Zuschauerin absurder Phänomene, die so grotesk sind, daß sogar so phantastische Dichtungen wie die ,Metamorphosen' Ovids, der ,Goldene Esel' des Apuleius oder Lukians ,Vera Historia' wie Erfindungen von Weisen erscheinen.61

8. Traum und Capriccio Selbst die Grotesken der Maler, die Disparates zusammenfugen und wundervolle phantastische Gebilde hervorbringen, sind in Bartolis Darstellung nicht so verrückt wie die Träume: Μ'era venuto in pensiero d'assomigliarlo all'opere del lavorare a grottesco, che tutto e, si puö dire, un musaico di spropositi insiemme commessi, tanto piü bello quanto le parti son tolte di piü lontano e in piü sciocche forme s 'adunano. [...] Ma pur anche in cid ha mestieri di senno, che come ogni albero in ogni albero non s 'innesta, cosi neanche ogni parte a ogni parte nel grottesco ben si congiunge; e capriccio vuol essere, non isciocchezza: ne vi capeggia meno la saviezza del giudicio nel disporre che la pazzia dell'ingegno nell 'inventare. Non cosi i sogni, „phantasmum deliramenta ", come Ii chiama Nemesio [Gregor von Nyssa], i quali, senza nium risguardo al dicevole, „delphinium silvis appingunt, fluctibus aprum " [Horaz, ,Ars Poetica' v. 30],62 Im Unterschied zum Traum sind die künstlerisch gestalteten Grotesken Ausdruck von sinnvollen Kompositionen im Einklang von ingenium und iudicium. Während Bartoli die künstlerische Gestaltung von Grotesken dem Capriccio zuordnet, charakterisiert er die Verbindungen, die in Träumen Zustandekommen, als vollkommen irrsinnig. Das heißt, der Traum als solcher verliert - im Gegensatz zum Capriccio - seinen kognitiven Anspruch. Auch in Marinos Sichtweise wird das Capriccio dem kognitiven Bereich der Künste zugeordnet. Im zehnten Gesang des ,Adone' beschreibt er in Anlehnung an Lukian das Land der Träume als phantastische mythologische Landschaft. Merkur führt das Liebespaar Venus und Adonis auf eine kosmische Fahrt zu den Planeten. Dort gelangen sie in die Sphäre der Künste und Wissenschaften. Diese werden wie in der zeitgenössischen Emblematik als menschliche Figuren mit symbolischen Attributen dargestellt. Auch Magie und Alchemie werden einbezo61

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Quando dunque avvien che sogniamo [...], l'anima si ritira dietro alla cortina di un sottil velo, tal che vede e non e veduta; e allora ifantasmi mattaccini escono in palco e le fanno una commedia, ma quale la farebbe una compagnia di recitanti che tuttifossero ubbriachi ο pazzi; si travisate son le figure, si strani gli abiti, si sconci i portamenti, si inaspettate e fuor di proposito le mutazioni della scena, si da folle son le azioni e scatenato il discorso, che le Trasformazioni d'Ovidio e d'Apuleio e la Vera istoria di Luciano α petto de' nostri sogni paranno invenzioni da saggio. Daniello Bartoli: La Ricreazione del savio (1659). In: Trattatisti e narratori (Anm. 49) S. 555. D. Bartoli (Anm. 61) S. 555f.

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gen (Strophen 136-138). Die Herkunft der quasi vive grottesche63 des Traums wird in dieser phantastischen Topographie ätiologisch in den Himmel verlagert. Die Gestirne beeinflussen die Temperamente, und die Phantasmen bringen verschiedene Formen hervor: tutte queste che vedi e d'altri estrani fantasmi ancor prodigiose schiere, sono i capricci degl 'ingegni umani, fantasie, frenesie pazze e chimere. V'ha molini epalei mobili e vani, girelle, argani e rote in piü moniere; altri forma han dipesci, altri d'uccelli, vari sicome son vari i cervelli.64 In Marinos Traummythologie erfährt die subjektive Wahrnehmung eine extreme Aufwertung. Die hier artikulierte Vorstellung über die absolute Verschiedenheit menschlicher Phantasmen wird im italienischen Barock geradezu zur Obsession, nachdem sie, wie wir sahen, schon vorher in der Diskussion um die ,Grottesken' und der Theorie des Capriccio formuliert und von Giordano Bruno philosophisch theoretisiert worden war. Traum, Capriccio, Phantasie und Phantasma bieten die Möglichkeit, die individuelle Wahrnehmung im Kunstwerk zu objektivieren und beim Leser Staunen hervorzurufen. Ziel des Dichters ist das Auslösen von Staunen angesichts des - fesselnden - Wunderbaren, die meraviglia: e delpoeta il fin la meraviglia / chi non sa far stupir, vada alla striglia.65 In offener Polemik zu den klassizistischen Dichtern und Theoretikern66 preist Marino Traum, Capriccio, Phantasie und Phantasma als wesentliche Bedingungen und Dimensionen künstlerischer Freiheit und Schönheit.

9. ,Sogni fantastichi' Der Bologneser Dichter und Musiker Giulio Cesare Croce ist ebenfalls ein barocker Erbe der Poetik des Grotesken. In vielen seiner Werke nehmen Träume und Visionen, capricci und bizzarie, eine privilegierte Stellung ein. In ,La girandola dei cervelli' läßt er sich über die Verschiedenheit der Temperamente und Mentalitäten aus; ,La girandola dei pazzi' ist eine Demonstration der universalen Verrücktheit. Der Lebensbaum wird dort zum Symbol des Wahnsinns, an dem jeder

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G. B. Marino (Anm. 58) L'Adone. Τ. I. S. 544 [Adone X, 103], G. B. Marino (Anm. 58) L'Adone. Τ. I. S. 553 [Adone X, 138]. Giambattista Marino: Opere. Hg. von Alberto Asor Rosa. Mailand 1967. S. 852f. [La Murtoleide, VI (Fischiata XXXIII), w . 9-11], Io pretendo di saper le regole piü che non sanno tutti i pedanti insieme; ma la vera regola, cor mio hello, e saper rompere le regele a tempo e luogo, accomodandosi al costume corrente ed al gusto del secolo. G. Marino (Anm. 65) S. 228.

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Anteil hat. Der Dichter geht schließlich dazu über, sich selbst für verrückt zu erklären und die Verrücktheit als allmächtige, über alles und jeden herrschende Göttin anzubeten: [...] guida, tiprego, il nostro beipensiero, che sempre tuoi saremo; e, se nol credi, fanne la prova, che d 'ognor vedrai: chi nasce pazzo non guarisce mai61 In seinen ,Sogni fantastichi' 68 erzählt Croce in 351 Versen über hundert Träume, die er in verschiedenen Situationen seines Lebens geträumt zu haben vorgibt, oder die ihm von anderen zu Ohren gekommen sind. Dabei lassen sich verschiedene Typen mit archetypischem Charakter erkennen: Der Typus des schönen Traums mit Glückserlebnissen in wundervollen Landschaften und prächtigen Städten und Palästen, mit heiteren Menschen in festlicher Atmosphäre. Dieser Typus wird von Bildern des Schwebens und der Leichtigkeit dominiert. Mit ihm kontrastiert Croce den Typus des schrecklichen Traums mit undurchdringlichen Wäldern, schaurigen Ruinen, Gefängnissen, Spelunken und Höhlen, und gewaltvollen oder traurigen Menschen in unheimlicher Atmosphäre. Der Übergang vom schönen zum schrecklichen Traum und umgekehrt kann fließend oder abrupt erfolgen. In den schönen Träumen stellt sich das lyrische Ich als allmächtig und vollkommen ungebunden dar, es bezwingt hohe Berge, fliegt auf einem Pferd über die Wolken, bereist viele Länder, spricht mit bedeutenden Persönlichkeiten, ist Kaiser und oberster Befehlshaber. In den Angstträumen zeigt es sich dagegen vollkommen ohnmächtig, ist der Gewalt anderer hilflos ausgeliefert, findet sich nackt, krank, verrückt, mit verdrehten, deformierten oder vervielfältigten Gliedmaßen vor, wird stranguliert und kann nicht schreien, wird bedroht und kann sich nicht wehren, ist auf der Flucht und kann sich nicht retten, stürzt in den Abgrund, verirrt sich, ist dem Ertrinken nahe, wird von wilden Tieren bedroht, verhext, lebendig begraben und wacht schweißgebadet auf. Beide Typen sind mit einem dritten Typus verknüpft: Der schöne Traum kann sich in Luft auflösen oder in einen Alptraum verwandeln und umgekehrt. In dieser Kategorie von Träumen präsentiert Croce seinen träumenden Helden in absurden Situationen, in denen Metamorphosen stattfinden: Das Papier, auf dem er schreibt, verwandelt sich in einen Papagei, seine Musikinstrumente verformen sich zu Glas, sein Geld wird zu Kohle, er wird in eine Eule verwandelt und redet mit Tieren, die anmutige Geliebte verwandelt sich in eine grausame Bestie, Gestalten lösen sich in Nebel auf.

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Giulio Cesare Croce: La girandola de' pazzi. In: Poesia del seicento. Hg. von Carlo Muscetta, Pier Paolo Ferrante. Turin 1964. Bd. 2. S. 1187f. Giulio Cesare Croce: Sogni fantastichi della notte. Opera nuoua, e curiosa, nella quale si vede quante strane chimere, & bizzarre fantasie s'appresentano al nostro intelletto, mentre si dorme. Bologna 1600.

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Den letzten Teil des Capitolo widmet Croce Beobachtungen über das Traumverhalten anderer und der Frage nach Erklärungen zum Phänomen des Traums. Zu Beginn des Capitolo hatte er die Frage nach dem Ursprung der Träume offen gelassen: Non so da che procesa ch 'ogni notte io faccio tanti sogni stravaganti, tosto che si apron le Cimerie grotte69 Am Ende äußert er die Vermutung, Träume würden vom Genuß unverdünnten Weines herrühren: So che molti vi son che a quella piva han messo man, e adutto la ragione, ma par che variamente ognun ne scriva. Chi al cibo da, chi a la complessione, la colpa, chi alpensier che s 'ha vicino; ma io, per dirvi la mia opinione, credo che sia da ber senz'acqua il vino.10 Über ihre amüsante und unterhaltende Funktion hinausgehend sind viele der Träume in Croces ,Sogni fantastichi' Wiederholungsträume und manifestieren traumatische Erfahrungen. Aus ihnen spricht die Angst vor Kriegen, Gewalt und Tod, vor magischen Einwirkungen und dem Verlust von Macht und Autonomie. Die Krise der Zeit bricht in die literarischen Traumdarstellungen ein. Der Traum wird nicht mehr so sehr als mysteriöse Vermittlung von Geheimwissen und verborgenen Wahrheiten präsentiert, sondern er wird zunehmend als Kompensation literarisch verarbeitet und gleichzeitig auch in seinem Scheincharakter hinterfragt.

10. Der Traum als Kompensation In einem Sonett apostrophiert Marino den Schlaf als Sohn des Schweigens und der Nacht und beschwört ihn, seine Grotte im Land der Chimärer zu verlassen, um ihm Vergessen zu bringen und Trost zu spenden. Ο del Silenzio figlio e de la Notte, padre di vaghe imaginate forme, Sonno gentil, per le cui tacit 'orme Son l'alme al ciel d'Amor spesso condotte, or che 'n grembo α le lievi ombre interrotte, ogni cor, fuor che Ί mio, riposa e dorme, l 'Erebo oscuro, al mio pensier conforme,

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Giulio Cesare Croce: Sogni fantastichi, vv. 1-4. In: Poesia del seicento (Anm. 67) S. 1134. G. C. Croce (Anm. 69) S. 1144-1145 [vv. 323-331],

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lascia, tiprego, e le cimmerie grotte. Ε vien col dolce tuo tranquilo oblio Ε col bei volto, in ch 'io mirar m 'appago, a consolare il vedovo desio. Che, se 'n te la sembianza, onde son vago, non m 'e dato goder, godro pur io de la morte, che bramo, almen I'imago.71 Der Schlaf mit seinen Träumen wird hier als Bruder des Todes besungen und ersehnt. Solche Evokationen des Schlafs sind in der europäischen Barockdichtung zu dieser Zeit sehr häufig anzutreffen. Einige Dichter im Umfeld Marinos sehen im Traum ihre Geliebte - vidi in sogno il mio sol d'ombre formato - , die sich ihnen hingibt, wogegen sie in der Wirklichkeit unnahbar ist.72 Für sie ist der Traum eine Kompensation für erlittene Schmach. Der Schlaf soll dem Dichter im Traum die in der Wirklichkeit unerreichbare oder abweisende Geliebte zufuhren. Die Scheinhaftigkeit der schönen und flüchtigen Bilder des Traums bieten eine Kompensation nicht nur für erotische Frustrationen sondern auch für die grausamen Erlebnisse der von Kriegen erschütterten Wirklichkeit.

11. Der Traum als literarische Gattung Im folgenden soll es weniger darum gehen, den Traum innerhalb literarischer Hauptgattungen wie Theater, Novelle, Epos und Roman zu behandeln, 73 als den Traum als literarische Gattung per se zu analysieren. Da die Gattung der ,Sogni' literaturwissenschaftlich nicht erschlossen ist, kann ich hier nur eigene, leider unvollständige Ansätze präsentieren und darauf hinweisen, daß diese Gattung gelegentlich innerhalb von , genres mineurs' wie den Parnaßreisen auftritt, in denen die Perspektive des Parnaß eingenommen wird, um verschiedene Mißstände in Gesellschaft und Politik zu kritisieren. 74 71 72

73

74

G. Marino (Anm. 65) S. 253-254 [La Lira, XXI „All Sonno Con tre seguenti"]. Giuseppe Artale: Sogno. In: Poesia del seicento (Anm. 67) Bd. 1. S. 644; Giambattista Pucci: De la pallida morte oscuro imago. In: Lirici marinisti. Hg. von Giovanni Getto. Turin 1990 (I Classici italiani TEA. Bd. 6). S. 217; Antonio Bruni: Prega il Sonno a rappresentargli bella donna. In: Lirici marinisti. S. 325f. Zur Vervollständigung sei auf folgende Publikation verwiesen, in der Träume innerhalb verschiedener Gattungen von der Antike bis zur Gegenwartsliteratur untersucht werden: Silvia Volterrani: Le Metamorfosi del sogno nei generi letterari. Introduzione di Lina Bolzoni e Sergio Zatti. Florenz 2003. Dort finden sich in dem für unseren Zeitabschnitt relevanten Sektionen Beiträge zu Colonna, Nazari, Doni, zur Tragödie, zur Novelle und zur Emblematik. Benedetto Croce war der erste, der sich mit dieser Gattung und ihrer europäischen Rezeption auseinandersetzte, vgl. B. Croce: Due illustrazioni al Viaje del Parnaso del Cervantes. I: II Caporali, il Cervantes et Giulio Cesare Cortese. II: Viaggio ideale del Cervantes a Napoli nel 1612. In: Saggi sulla letteratura italiana del Seicento. Bari 1911. S. 123-159. Vgl. neu-

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Wie in manchen Kirchen die Heiligenbilder und in den Villen, Schlössern und Galerien die Fürstenportraits mit Arabesken, Grotesken und mythologischen Szenen umrahmt sind (vgl. Abb.), so weist die literarische Gattung des Traums eine Kompositionsform auf, in der ernste und würdige Inhalte religiöser oder politischer Natur mit spielerischen, phantastischen, mythologischen und allegorischen Elementen verknüpft werden. Diesem Kompositionsprinzip folgen etwa Texte wie Cesare Caporalis ,Viaggio in Parnaso' (1582), Tommaso Garzonis ,Teatro de' vari e diversi cervelli umani' (1583), Lomazzos ,Sogni' und ,Grotteschi' (1587), Traiano Boccalinis ,Ragguagli di Parnaso' (1600), Giulio Cesare Corteses ,Viaggio di Parnaso' (1621); Girolamo Brusonis ,Sogni di Parnaso' (1650), Ferrante Pallavicinos ,11 Corriero svaligiato' (1644) und der anonyme ,11 Mercurio Postiglione' (1667) sowie Gregorio Letis ,Visioni Politiche' (1671). All diese Texte setzen sich, häufig im Plauderton, mit aktuellen Tagesereignissen oder allgemeinen politischen, wissenschaftlichen, theologischen und literarischen Problemen auseinander. Insbesondere Boccalinis ,Ragguagli di Parnaso' gelten als frühe Formen des Journalismus. Sie divulgieren Nachrichten und Anekdoten im Stil der Gazetten und wurden in ganz Europa imitiert.75 Ein Grund fur die Tatsache, daß diese Texte in der italienischen Literaturgeschichtsschreibung keine oder kaum Beachtung fanden, ist sicherlich ihr enzyklopädischer Charakter, die Unbefangenheit, mit der Ernst und Scherz miteinander verknüpft werden und ihre heteroklite - heute würde man sagen postmoderne Kompositionsform. De Sanctis sah in ihnen peinliche Dokumente, die von einer coltura verbosa e pedantesca zeugen würden, und deren Autoren nicht ernstzunehmen seien.76 Meist bildet in diesen Texten die Traumsituation den Rahmen, in den Dialoge in Form humanistischer Colloquia eingebettet sind, die dann häufig als Sogni e Ragionamenti bezeichnet werden, wie dies z.B. schon aus dem Titel von Gregorio Letis ,Visioni politiche' hervorgeht: ,Le Visioni Politiche sopra gli interessi piu Reconditi di tutti i Prencipi, e Republiche della Christianitä. Divise in varii Sogni, e Ragionamenti Tra Pasquino, e il Gobbo di Rialto. II tutto dato alia Luce per la commoditä de'curiosi.' Interessant ist übrigens auch, daß in den Sogni e Ragionamenti auf die einzelnen Repliken oft mit Lachen reagiert wird, und daß viele Autoren darauf hinweisen, sie hätten ihre Texte ,zum Scherz' konzipiert. Eine systematische kommunikationsanalytische Untersuchung dieser Texte wäre im Hinblick auf den kulturellen Stellenwert des Lachens in der Konversationskultur der Epoche sowie in mentalitätshistorischer Sicht höchst aufschlußreich. Im Hinblick auf den Über-

75 76

erdings Federica Cappelli: Parnaso bipartite» nella satira italiana del '600 (e due imitazioni spagnole). In: Cuadernos de Filologia italiana. 8. 2001. S. 133-151. Cappelli untersucht dort die Tradition der Parnaßreisen von Filippo Oriolo da Bassano und Cesare Caporali in ihrer Ausstrahlung auf Cervantes und Quevedo. Vgl. hierzu F. Cappelli (Anm. 74). Francesco De Sanctis: Storia della letteratura italiana. Florenz 1965. S. 756.

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gang vom magischen zum rationalen Weltbild zeigt sich an diesen Texten eine grundlegende Ambivalenz an der Schwelle zur Moderne: Während die einen den Traum als göttliche oder dämonische Inspiration auffassen und noch dem Glauben an das Okkulte und die Magie verhaftet sind, lösen sich die anderen von magischen Vorstellungen und entmythologisieren das Dämonische, indem sie es in einen rein ästhetischen Kontext überführen und das Okkulte oder den Hexenglauben in spielerischer Form vermitteln. Doch selbst wenn die Geister nur im poetischen Spiel heraufbeschworen werden, kann es vorkommen, daß aus dem Spiel Ernst wird: Häufig findet sich bei demselben Autor sowohl das magische als auch das rationale Paradigma (z.B. bei Cardano, Bruno, Lomazzo, Marino und Leti). Diese Zwiespältigkeit zeigt sich auch an der Dante-Rezeption. In vielen Traumvisionen wird Dantes Inferno zu einem imaginären Raum, der mehr oder weniger unter Beibehaltung der dantesken Topographie neu gestaltet wird. So rezipiert Michelangelo in seiner Vision des Jüngsten Gerichts Dantes Inferno in einer remythisierenden Form, wobei er auch - wie ja schon Dante selbst - satirische und karikaturale Elemente, die sich auf die unmittelbare Gegenwart beziehen, einbringt. 77 Andere entmythologisieren Dantes Inferno mittels Ironie, wie Federico Zuccari mit seinen Fratzenportalen (1590) am Palazzo Zuccari, der heutigen Biblioteca Hertziana in Rom, oder wie der mit Michelangelo befreundete Donato Gianotti in seinen ,Dialogi de' giomi che Dante consumö nel cercare l'inferno e'l purgatorio' (1546), oder wie Brusoni in seinem ,Camerotto' (1645), wo Dantes Hölle zur Realität für den im Gefängnis eingekerkerten Erzähler wird, der dann plötzlich ein paradoxales Lob auf den Kerker anstimmt und die Hölle sich schließlich in ein Paradies verwandeln läßt. Doni, der im , Inferno Primo de gli Scolari Ignoranti e de Pedanti', dem zweiten Buch der ,Mondi' (1552-1553) seinen Ich-Erzähler im Traum in die Hölle gelangen läßt, trägt dem Leser eine Pedantensatire vor. Auch in Quevedos ,Suenos' (1627) wird Dantes Inferno zum imaginären Raum, der mit neuen satirischen Inhalten ausgestattet wird. Am respektlosesten gegenüber Dante ist wohl die burleske r0ecriture von Dantes Inferno bei Lomazzo. Er läßt im dritten Ragionamento seiner ,Sogni' Ariost als Tourist auftreten, der eine äußerst unterhaltsame Besichtigung der Hölle unternimmt. Bei all diesen Fällen der ironischen Rezeption und riecriture handelt es sich aber weniger um parodistische Dekonstruktionen als um Neuorientierungen im Hinblick auf alte Traditionen und Glaubensvorstellungen im Horizont humanistischer dialogischer Kultur, die mit der Gattung der Sogni e Ragionamenti verteidigt wird. So nutzt beispielsweise Lomazzo im fünften Ragionamento seiner ,Sogni' die Gelegenheit, Leonardo da Vinci und Michelangelo gegen Angriffe seitens pedantischer Klassizisten und kleingeistiger Moralapostel zu rehabilitieren, die die politisch korrekte Meinung der Zeit vertreten.

77

Michelangelo karikiert nach dem Danteschen Prinzip des contrapasso in der Figur des Höllenrichters Minos den Zeremonienmeister von Papst Paul III., Biagio da Cesena, der Michelangelos Darstellung der Nacktheit in der Sixtinischen Kapelle kritisiert hatte.

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Die Gattung des Traums und der Vision gestattete es den Dichtern, ihre Phantasie frei schweifen zu lassen, wobei sie sich auch auf die Poetik des Grotesken beriefen, um Abweichungen von der klassizistischen Regelpoetik zu legitimieren. Da Träume und Grotesken jedoch - wir sahen es - im Zuge der tridentinischen Reformen mit Argwohn betrachtet wurden, erklären sich die Autoren in ihren Vorworten konform mit den Lehren der katholischen Kirche oder entwickeln verschiedene Strategien, um ihr Werk als konform erscheinen zu lassen. Eine dieser Strategien ist die Dialogform. Sie erlaubt es, Positionen zu verschleiern und bestimmte Ideen zu dezentrieren. Die Sogni e Ragionamenti gehören zum rhetorischen Verfahren der Vergegenwärtigung und weisen Analogien zur antiken Gattung der Götter-, Toten- und Hetärengespräche auf.78 In Lomazzos ,Sogni' sind die in der Tradition Lukians und Aretinos geführten Dialoge in eine Traumerzählung eingebaut und enthalten vor allem in religiöser und erotischer Hinsicht transgressive Inhalte. Lomazzo nutzt die Traumsituation der Rahmenerzählung als Grundlage fur die Dialoge, um eine irreale Atmosphäre zu schaffen und sich unangreifbar zu machen. Im Klima der tridentinischen Reformen war es jedoch selbst bei diesen Vorsichtsmaßnahmen unmöglich, einen derartigen Inhalt zu drucken. Lomazzo hätte sich mit der Veröffentlichung der Gefahr der Inquisition ausgesetzt.79 Die in seiner Jugendzeit parallel mit den ,Sogni' verfaßte Gedichtsammlung ,Grotteschi' sollte ursprünglich keine eigenständige Publikation bilden, sondern in die Rahmenerzählung der ,Sogni' integriert werden. Lomazzo veröffentlichte sie 1587 unter dem neutralen Titel ,Rime', umgeben mit einem Schutzwall allographischer Begleitschriften und autobiographischer Vorworte zur vorauseilenden Verteidigung.80 Andere Autoren entwickelten andere Strategien, um den Traum als literarische Gattung durchzusetzen, die es ermöglicht, unorthodoxe Inhalte zu vermitteln. Girolamo Brusoni macht den Leser seiner Traumerzählung ,1 Sogni di Parnaso' darauf aufmerksam, daß es sich bei diesem Text nur um einen Zeitvertreib handle und er keinen Anspruch auf Wahrheit erhebe:

7S

79

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In diesem Sinne präsentiert auch der anonyme Autor des ,Mercurio postiglione' Dialoge zwischen Jupiter, Merkur, Mars und Momos, dem Gott des Spotts und der Satire. Vgl. II Mercurio Postiglione, di questo e l'Altro mondo. Villa-Franca 1667. „Tuttavia appare poco probabile che il Libro de sogni, rimasto incompiuto, avrebbe mai potuto avere, nella Milano controriformistica di quegli anni, qualche possibilitä di pubblicazione. [...] tutta la seconda parte del Libro de sogni avrebbe ben potuto, ad abundantiam far trascinare il Lomazzo davanti all'inquisitore." Roberto Paolo Ciardi: Introduzione. In: Giovan Paolo Lomazzo: Scritti sulle arti. Hg. von Roberto Paolo Ciardi, Florenz 1973. Bd. 1. S. LVIf. Da ich Lomazzos Gesamtwerk andernorts ausführlich analysiert habe und mich hier nicht wiederholen möchte, erlaube ich mir, auf das entsprechende Kapitel in meiner Studie: Von den ,Grottesken' zum Grotesken (Anm. 25) hinzuweisen, dort Kap. 9: „>L'incertezza del mondo< - Das Groteske bei Giovan Paolo Lomazzo". S. 453-577.

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LETTORE. / Chi scrisse quest Operetta volle passarsi qualche fantasia scherzando, non scrivere da dovero, che arebbe saputo farlo in altra forma. [...] Son finalmente sogni, e sogni di Parnaso, che vuol dire ombre poetiche, e fantasie volanti.81 Angesichts der Tatsache, daß er in der literarischen Gattung des Traums schreibt, sieht Brusoni sich nicht verpflichtet, ein klassisches Stilideal einzuhalten: non essendo punto obligato ad osservanza alcuna di regole, ο di costumi chi parla, e scrive sognando,82 Die Inkohärenz des Traums legitimiert eine Sprunghaftigkeit in der literarischen Darstellungsweise. Diese antiklassizistische Haltung ist ein wesentliches Merkmal der aus der Poetik des Grotesken hervorgegangenen Barockpoetik. Doch Brusoni weist auch darauf hin, daß seine Phantasien durch Bescheidenheit und Vernunft gemäßigt seien und in keiner Weise die katholische Lehre verletzten. 83 Dennoch bietet ihm die durch den Traum verursachte Entrückung in eine mythologische Welt die Möglichkeit, transgressive Inhalte einzuführen und Ernstes und Unernestes so ineinander zu verweben, daß die Angriffsmöglichkeiten verringert werden. Die in Brusonis ,Sogni di Parnaso' mitgeteilten Traumphantasien sind vordergründig eine Auseinandersetzung mit der Literatur der Epoche, greifen aber auch politische Inhalte auf. Die Ausgangssituation ist folgende: In Trauer um seinen verstorbenen Freund Pietro Michiele schläft der Ich-Erzähler namens Filiterno im Morgengrauen erschöpft ein. Im Traum erscheint ihm die Vision einer prächtigen goldenen Stadt inmitten von wundervollen Landschaften, die sich als der Parnaß herausstellt. 84 Die einzelnen Traumphantasien sind bei Brusoni in Kapitel mit den Überschriften Fantasia prima, fantasia seconda usw. unterteilt. Gemeinsamer Nenner ist jedes Mal die Frage nach dem Verhältnis von Schein und Sein. In der ersten Traumphantasie begegnet Filiterno seiner verstorbenen Geliebten, einer französischen Gräfin, der er verschiedene seiner Werke gewidmet hatte. Sie erzählt ihm, wie sie zu Tode gekommen ist: Sie wurde von ihrem eifersüchtigen Ehemann gewalttätig ermordet und landete daraufhin auf dem Parnaß. Die Contessa geleitet Filiterno durch eine mit Lorbeer und Myrten umrahmte Allee zu einem bizarren Gebäude, das an die Gemälde Arcimboldos erinnert: Es ist ganz aus Sonetten, Madrigalen, Canzonen und Schäferidyllen konstruiert. Wie in Groteskendekorationen tummeln sich an den Fassaden Götter, Halbgötter, Nymphen und Hirten, als 81 82 83

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Girolamo Brusoni: I Sogni di Parnaso. Venedig c. 1660 [Ausgabe UB Tübingen]. S. 3. G. Brusoni (Anm. 81) S. 3f. Nessuno pertanto dovra dolersi de' suoi scherzi regolati dalla modestia, e dalla ragione, non da propria temeritä, ο da disprezzo altrui. [...]£ tanto basti in chi scrive, e a chi legge con animo ingenuo, e che sa anche ne delirij de' sogni ricordarsi di quelle convenienze, alle quali viene obbligato dal debito della Religiona Catolica, fuor delta quale non e vera fede, ne sicura speranza di salute. G. Brusoni (Anm. 81) S. 3. Eine ähnliche Ausgangssituation findet sich auch in Lomazzos Rahmenerzählung der ,Sogni' (Anm. 80), deren Manuskript Brusoni aber schwerlich gekannt haben kann.

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ob sie Marinos Pastoralidylle ,Sampogna' (,Schalmei') entsprungen wären. Diese hängt wie eine pompöse Trophäe über dem Haupteingang der rustikalen Behausung, die sich als der Palast Marinos herausstellt. Als Filiterno feststellt, daß das Gebäude schwer beschädigt ist, klärt ihn die Contessa auf: Marinos unbekümmerte Praxis des Plagiats sei nicht ohne Folgen geblieben. Wütende Dichter hätten die schönsten Teile des Gebäudes zerstört und alles, was davon übrig geblieben sei, seien nur noch alberne Worte mit übertriebenen und lächerlichen Stilfiguren. Der Protektion Ludwigs XIII. sei es zu verdanken, daß der ,Adone' nicht verbrannt worden wäre. Sie betreten das Haus und werden von einer dunklen Schönheit begrüßt, die sich als Marinos bella Mora herausstellt. Als Pietro Michiele eintrifft, verschwindet die Contessa mit ihrer Dienerin aus Filiternos Phantasie, und er begibt sich mit dem Freund in eine zauberhafte Landschaft mit schönen Statuen und einem Brunnen mit klarem Wasser. Doch Michiele warnt Filiterno vor dem schönen Schein. Er klärt ihn auf, daß das Wasser schwefelhaltig sei und übt Kritik an Marino, der mit seinen schillernden Dichtungen ihre Jugend und ihren Geschmack verdorben hätte. Zusammen mit der wieder aufgetauchten Gräfin verlassen sie den Garten Marinos und machen sich an die Besichtigung der Villen von Dante, Petrarca und Tasso. Tassos Haus liegt in einer schönen Landschaft und gleicht einer mit Raritäten aus Kunst und Natur angefüllten Wunderkammer. Im Garten befindet sich eine erfrischende Grotte mit Grotesken, die die Liebesabenteuer von Tassos ,Aminta' darstellen, und in der tutte le piii squisite delizie della Poesia vereint sind.85 In den Augen Brusonis sind die großen Dichter der italienischen Literatur Dante, Petrarca und Tasso. Mit Marino und den Marinisten, die er auch in seiner Erzählung ,La gondola a tre remi' angreift, ist das goldene Zeitalter der italienischen Dichtung zuende und es beginnt eine Phase der Dekadenz, die durch die arguzie verursacht ist.86 Der Konzeptismus wird im Zuge der Kanonisierung der großen Dichter der italienischen Literatur - obwohl er in deren Werk schon angelegt ist zunehmend als etwas Korruptes und Zeittypisches empfunden und dargestellt. In der dritten Traumphantasie dreht sich die Unterhaltung um die vergangene Liebesbeziehung Filiternos und um das weibliche Geschlecht im Allgemeinen. Die Contessa, anstatt Partei für ihre Geschlechtsgenossinnen zu ergreifen, charakterisiert alle Frauen als scheinheilige lügnerische Hexen, die unschuldige Männer ins Verderben stürzen würden.87 In der vierten Fantasia fragen die Personen auf dem Parnaß Filiterno, wie es in seiner Welt zugehe. Auch hier wird die Frage nach Schein und Sein, Wahrheit 85 86 87

G. Brusoni (Anm. 81) S. 41. G. Brusoni (Anm. 81) S.96f. [.··]/ Giuseppi, gl'Ippoliti, i Crispi, e mille altri millioni d'Innocenti malcapitati per gli infami artificij di cosifatte Streghe, vogliono, che io perdoni alia nostra Etä i suoi Vituperj per non rammentare le moderne Fauste, Fedre edEgizie. [...]. G. Brusoni (Anm. 81) S. 50.

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und Lüge, nun aber in Bezug auf die Politik, aufgeworfen. Es wird die These vertreten, daß alle Mächtigen der Welt das Volk täuschen, um ihre eigentlichen Ziele zu verbergen: [...] i Principi, e i loro Ministri spargono ad arte sovente diverse novelle nel volgo affatto contrarie ai loro occulti disegni, e alia verita delle occorrenze di Stato, che apparentemente si maneggiano, per teuere a ciancie le brigate, e approvecchiarsi a costo dell'altrui balordaggine%i Im Zentrum steht hier die Intrige um Ferrante Pallavicino, der 1644 mit dem Vorwurf der Majestätsbeleidigung und Glaubensabtrünnigkeit in Avignon geköpft wurde. 89 Brusoni, der mit Pallavicino befreundet gewesen war und wie er der Accademia degli Incogniti angehört hatte, läßt Pallavicino in eigener Sache auftreten und versucht, ihn posthum zu rehabilitieren, indem er ihn als Opfer bösartiger Intrigen darstellt und die Zuschreibung seiner Werke (,I1 divorzio celeste', 1643 und ,11 corriero svaligiato', 1644) als üble Verleumdung ausgibt. Auch in der fünften und letzten Fantasia dreht sich die Unterhaltung um die Frage nach Lüge, Wahrheit, Traum, Wirklichkeit, Fiktion, Realität, Schein und Sein. Filiterno wacht aus seinem Traum abrupt auf und stellt fest, daß ihn der Traum, in dem er zum Poeta in sogno90 geworden war, aus seinem eigenen Ich entrückt hatte. Damit wird dem zweiten Ich, das im Traum ein anderes Leben gefuhrt hatte, die Verantwortung für die in den ,Sogni di Parnaso' ausgesprochenen Thesen übertragen. Auch Gregorio Leti bedient sich in seinen ,Visioni Politiche' verschiedener Strategien, um seine Thesen, vor allem seine Kritik an den Machenschaften kirchlicher Würdenträger und politischer Machthaber, unangreifbar zu machen. Leti läßt in seinen Dialogen Pasquino auftreten, als Personifikation einer antiken Marmorfigur am Palazzo Orsini, die seinerzeit mit meist antipäpstlichen anonymen Schmähschriften beklebt wurde, aus denen die satirische Gattung der „Pasquinate" hervorgegangen ist. Marino hatte Pasquino im ,Adone' zum Sohn des Momos und der Satire gemacht.91 In den ,Visioni politiche' wird Pasquino als moderne mythologische Figur zum Symbol des Freigeistes, der Repressalien

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G. Brusoni (Anm. 81) S. 87. Brusoni ist auch der Autor einer Biographie Pallavicinos: Vita di Ferrante Pallavicino scritta da Girolamo Brusoni. Venedig 1654. G. Brusoni (Anm. 81) S. 142. [...] II nascimento di Venere, prodotta dalle spume del mare, vuol dire che la materia della genitura, come dice il filosofo, e spumosa e Tumore del coito e salso. II natal d'Amore, celebrate con festa ed applauso da tutti gli animali, da a conoscere la forza universale di questo efficacissimo affetto, da cui riceve alterazione tutta quanta la natura. Pasquino, figlio di Momo e della Satira, che per farsi grato a Venere le manda a presentare la descrizione del suo adulterio, dimostra la pessima qualita degli uomini maledici, i quali eziando quando vogliono lodare non sanno senon dir male. [...]. G. B. Marino (Anm. 58) L'Adone. Tomo I. S. 357 [Canto Settimo: Le Delizie. Allegoria],

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ausgesetzt ist.92 Er befindet sich im Exil in Venedig93 und diskutiert mit dem Gobbo di Rialto, einer von Leti ebenfalls personifizierten Statue, die einen Buckligen darstellt und sich gegenüber der Kirche San Giacometto in Venedig befindet. Sie war der Ort, von dem aus man seinerzeit politische Beschlüsse öffentlich verkündete. Leti läßt die beiden über politische Angelegenheiten und allgemeine Mißstände diskutieren. Die Welt steht auf dem Kopf; die Bösen werden fur ihre betrügerischen Machenschaften belohnt, die Guten werden bestraft und sinken ins Elend: Pas. Ε pure vediamo il Mondo a Roverso. Chi e glorioso? chi hä dell'oro? Chi e fortunato? Chi e scelerato. / Gob. Mä sei stato bandito da Roma per haver detto il vero senza interesse. Ε che veritä e stata questa cosi ignuda che ti hä fatto mendico,94 Außerdem tauchen in den ,Visioni politiche' sogenannte ombre auf, Schattengestalten aus Vergangenheit und Gegenwart, die miteinander konfrontiert werden und Totengespräche führen.95 Auf diese Weise setzt Leti die Herrscher Europas in Szene, die Fragen der europäischen Politik verhandeln. Kardinal Mazarin diskutiert mit Ludwig XIV., Ferdinand II. mit dem Papst, es treten u.a. der König von Spanien auf, Kasimir, König von Polen sowie der geköpfte König von England im Gespräch mit dem Thronfolger, seinem Sohn. Nicht selten lösen die Geistererscheinungen Schrecken aus, und dramatische Szenen spielen sich ab. Papst Alexander VII. wird in flagranti ertappt, wie er dubiose Geschäfte abwickelt, er wird der Gottlosigkeit angeklagt, doch just im Augenblick, bevor sich der Schatten verflüchtigt, fährt der Geist Alexanders des Großen in die Brust des Papstes, dessen Habgier sich ob dieser positiven Einwirkung wundersam in Großzügigkeit verwandelt, so daß nunmehr auch die Satiriker zu panegyrischen Lobrednern werden.96 Leti verwendet wie in den Pasquinate

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94 95

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Auch in anderen Werken Letis tritt Pasquino in dieser Funktion auf. GOB. Ε chi ti ha condotto in Venetia? / PAS. II desiderio di godere i ßussi fortunati di questo libero Cielo, dove stanno trapiantate quelle anime eccelse, che illustravano il Clima Romano all' hora che sotto de' suoi flori regnava l'antico secolo della vera libertä. [...] Gregorio Leti: Le Visioni politiche sopra gli interessi piü Reconditi di tutti i Prencipi, e Republiche della Christianitä. Divise in varij Sogni, e Ragionamenti Tra Pasquino, e il Gobbo di Rialto. II tutto dato alia Luce per la commodita de'curiosi. Germania 1671. S. 123. G. Leti (Anm. 93) S. 139f. Eine Beschreibung der Ausgabe der , Visioni politiche' (Germania 1671) sowie eine Inhaltsangabe hat Danilo Romei im Internet zugänglich gemacht, vgl. http://www. nuovorinascimento.org/n-nasc/bibliogr/pdf/romei/leti/visioni.pdf. Die Ausgabe der Universitätsbibliothek Tübingen (Germania 1671) enthält ab Seite 641 den anonymen (gelegentlich Pallavicino zugeschriebenen) ,11 Mercurio Postiglione' (Anm. 78). Vgl. G. Leti (Anm. 93) „Ombra terza". S. 58-66. Auch hier finden sich Analogien zu Lomazzos ,Sogni'.

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raffinierte Wortspiele: Die Barbarini sind Barbaren, 97 Papst Urban VIII. entbehrt der urbanitas: J Barbarini, Barbari, della Chiesa di Deo, innalzati dell 'inurbanitä d 'Urbano Ottavo, si sono in tal guisa renduti dovitiosi, che negotiano ogrii giorno, nuove Compre di nuove stati; ma i Papalini emoli non solo, ma Regnanti, si come quelli Comprano lo stato del Prendre di Gallicano, cosi costoro, comprono la terra di Galera nello stato Orsino? Leti bezieht sich sowohl auf regionale Begebenheiten und Verhältnisse (z.B. in Genua) als auch auf die allgemeine Situation der europäischen Fürstenhöfe und behandelt vorwiegend politische und religiöse Themen, z.B. politische Bündnisse, Ämterverteilung, Nepotismus, religiöse und konfessionnelle Unterschiede, Mißstände in Kirchen, die türkische Invasion und andere Probleme der europäischen Politik. Dabei trägt er Thesen zu Geistererscheinungen im allgemeinen vor, die seine Verschleierungstaktik unterstützen: L 'Ombre souvente apparenti, & loquaci, sono ό dalla nostra Imaginativa sognante, ό d'aria condensata, poderoso benche aerio Composto, di cui beneficio, e maleficio spirito ammantandosi, prende varie forme, e con diverse sembianze comparisce altrui, ό per allettare, ό per ispaventare, ό per ingannare, ό per rillevare veritieramente una dritta, e giusta raggione, ό per altri e diversi fini di prodigiosi e portentosi eventi" So liegt es am Leser, in der Polyphonie der verschiedenen Gespensterstimmen das Wahre vom Falschen zu unterscheiden.

12. Schlußbetrachtung Der literarisierte Traum erlaubt es, mit größerer Freiheit im Hinblick auf ästhetische und moralische Normen vorzugehen. Er bietet die Möglichkeit, unorthodoxe Ideen zu verbreiten, Kritik an weltlichen und geistlichen Machthabern zu üben und verdrängte oder verbotene Inhalte verschleiert oder verfremdet zum Vorschein kommen zu lassen. So bildet die Traumsituation den Ausgangspunkt und Rahmen für ganze Texte oder Textsammlungen. Daß diese Texte marginalisiert wurden und in Vergessenheit geraten sind, ist sowohl auf ihre Zeitgebundenheit, als auch auf ihre libertine Ausrichtung und ihre antiklassizistische Form zurückzuführen. Die Fülle vielfältiger und wechselnder Szenen und die Freiheit der Darstellung sind typisch für die Traumdarstellungen des Barock. Der Traum mit all seinen .Verrücktheiten' eröffnet die Möglichkeit, Unbekanntes, Überraschen97

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Eine der gegen Papst Urban VIII. aus der Familie der Barbarini gerichteten Pasquinate lautete: Quod non fecerunt Barbari, fecerunt Barbarini. G. Leti (Anm. 93) S. 58f. G. Leti (Anm. 93) S. 3.

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des, Ungeheuerliches und Groteskes darzustellen, Unzusammenhängendes und Disparates in einen Zusammenhang zu bringen, Geistiges zu verbildlichen, zu versinnlichen oder zu versinnbildlichen, verschlüsselte Botschaften zu übermitteln und Grenzen jeder Art zu überschreiten. Literatur als solche wird nun als Ausdruck von Träumen anerkannt und ausgegeben. Die Scheinhaftigkeit wird in diesem Fall nicht nur negativ gesehen, im Gegenteil, die Autoren profitieren sogar von der zeitgenössischen Polemik, in der Träume als Lügen und Wahnphantasien kritisiert werden, um ihre literarischen Produktionen zu verharmlosen. Um Interesse beim Leser zu wecken und auch, um sich vor der Zensur zu schützen, beruft man sich offen auf den Scheincharakter, so daß man in diesen Fällen eigentlich von einem Inauthentizitätstopos sprechen könnte: Die Leser werden von den Autoren selbst dazu aufgefordert, deren Traumphantasien als nicht ernstzunehmende Fiktionen zu betrachten, die sie nur zum Zeitvertreib und zur Belustigung imaginiert hätten. Während in den phantastischen Topographien der Traumdichtungen des Mittelalters eine eher belehrende Funktion vorherrscht, ändert sich dies seit der Renaissance dahingehend, daß die Stimmen und Autoritäten, die Lehrinhalte vermitteln, nunmehr multipliziert werden. Mit der Gattung der „Sogni e Ragionamenti" zeigt sich diese zunehmende Tendenz zum Dialogismus als Ausdruck eines Pluralismus von Phantasien, Inspirationen, Ideen und Meinungen. Dabei wird zwar die Grundstruktur der klassischen Archetpyen - Latini, Dante, Petrarca, Boccaccio, Colonna - teilweise beibehalten (Traum als Ausgangspunkt, Führerfigur, Wanderung durch phantastische Gefilde in Tiefen und Höhen). Auf ideologischer und axiologischer Ebene gibt es jedoch neue Gewichtungen und Wertungen. Die Neugestaltungen sind aber nur bedingt als Entwicklung zu einem , aufgeklärteren' Weltbild zu werten. Es ist eher so, daß in den verschiedenen Epochen verschiedene intellektuelle Grunddispositionen nebeneinander existieren, die aufeinander Bezug nehmen, und daß gerade innerhalb der „Sogni e Ragionamenti" die verschiedenen rationalen und irrationalen Positionen durchgespielt werden - dies allerdings nicht immer mit kritischer Distanz oder Ironie. Ein wesentliches Merkmal aller hier präsentierten literarischen Traumdarstellungen ist die kulturelle Dimension. Reale oder imaginäre Kunst- und Architekturwerke werden in schönen oder schrecklichen Landschaften beschrieben, utopische Welten werden geschaffen, es werden Totengespräche und mythologische Colloquia inszeniert, um vergessene Dichter und Denker wieder aufleben zu lassen und zeitgenössische Probleme zu hinterfragen. Der fiktionalisierte Traum bietet auch die Möglichkeit, kulturelle Errungenschaften zu zitieren, Kunstwerke zu beschreiben und die Fülle der neuen Entdeckungen literarisch zu verarbeiten. Innerhalb der phantastischen Topographien findet eine enkomiastische Aufwertung von Kunst, Künstler und Dichter statt. In ihrer Erinnerung ist das Reservoir der Vergangenheit enthalten, das mittels der Traumvision oder der Traumfiktion in intellektueller und ästhetischer Durcharbeitung tradiert wird. Der Repräsentationsmodus des Traums gestattet es den Autoren der Renaissance und des

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Barock, dieses Reservoir abzurufen, es im Geist der neuen Zeit umzugestalten und zu verarbeiten. Gleichzeitig sind diese Traumdarstellungen in ihrer utopischen Dimension aber auch idealisierende Korrektive, mit denen die Realität der Epoche kritisch beleuchtet wird. Der Traum wird in dieser Zeit der Krise von vielen Dichtern auch als Trost empfunden, als kleines Paradies inmitten einer infernalischen Welt voller Grausamkeit und Gewalt. Dabei tritt die Literatur in Konkurrenz mit der Realität, denn die Autoren ergriffen die Möglichkeit, in ihren Traumfiktionen Luftschlösser zu bauen und phantastische Topographien zu gestalten, die die Schönheit und den Reichtum der realen Verhältnisse übertrafen und die enkomiastisch-idealisierende Darstellung realer Gärten und Paläste in den Schatten stellten. Daß dies den Herrschern nicht immer genehm war, zeigt sich am Repräsentationsverbot amplifikatorischer Ekphrasis im absolutistischen Frankreich zur Zeit Ludwigs XIV. Dort wurde - auch aus Gründen der Konkurrenz - im Paradigma klassizistischer Literaturkritik der Versuch unternommen, die ausladenden Park- und Palastbeschreibungen der - stark von der italienischen Literatur inspirierten - Barockautoren zu unterbinden. Fuyez de ces Auteurs l'abondance sterile, / Et ne vous chargez point d'un detail inutile, schreibt Boileau 1674 in seiner Poetik.100 So geschieht es dann auch, daß die ursprünglich in libertinistischen Kreisen entstandenen Traumphantasien zweckentfremdend domestiziert werden. Dies kann man an der Colonna-Rezeption in Frankreich sehen, wo die Elemente der phantastischen Topographie der ,Hypnerotomachia Poliphili' zur enkomiastischen Ekphrasis der Schloß- und Parkanlagen Ludwigs XIV. eingesetzt werden. Die Poetik des Traums wird damit von der Politik eingeholt.

' 00 Boileau: Art poetique. Chant III. w . 59-60.

Traumleben - Traumpolitik. Calderons Konzeption des Traums in ,La vida es sueno' Gerhard Poppenberg

Spanien ist die führende politische Macht der frühen Neuzeit, mindestens bis zum Westfälischen Frieden, und bis zum Ende des 17. Jahrhunderts ist es die Leitkultur der westlichen Welt. Calderons Drama ,La vida es sueno", entstanden Mitte der dreißiger Jahre, gestattet es, einige zivilisatorische Muster dieser prämodernen Kultur zu verdeutlichen. Das Stück ist - auf analoge Weise wie Aristoteles es vom , König Ödipus' des Sophokles gesagt hat - als die Quintessenz von drei Generationen spanischer Theaterentwicklung zu verstehen und kann so in einer symptomatologischen Lektüre einiges über das spanische Theater und sein Verhältnis zur sozialen und politischen Umwelt zu verstehen geben. Es greift zahlreiche leitende Motive der spanischen und europäischen Kultur der Zeit auf und verdichtet sie in einer hochingeniösen Handlung zu einem dramatischen concepto, der einen Ausdruck für die spanische Gesellschaft der späten Habsburger bildet. Die durch den Titel des Stücks angedeutete Artikulation zweier elementarer Bereiche ist in der spanischen Kultur der Zeit auf verschiedenen Ebenen verhandelt worden. Die Malerei entwickelt den Typus des Visionsgemäldes, das in Anlehnung an das spirituelle Schrifttum der Zeit die Präsenz der anderen Welt in dieser gestaltet. 2 Der prämoderne Neostoizismus macht die Affekte als das Andere der Vernunft zu einem zentralen Thema und das zeitgenössische Theater inszeniert die Affekte, zumal im Zusammenhang der Geschlechterdifferenz, auf der Bühne, indem es die Verbindung von Liebesintrige und Staatsaktion zu einer elementaren Struktur des neuzeitlichen Theaters macht. Und allem voran bildet die Frage nach dem Verhältnis von Sein und Schein ein fundamentales Problem der Zeit. Sie wird auf verschiedenen Ebenen als die nach der Wirklichkeit des Scheinhaften und nach dem angemessenen Verhältnis zu ihm verhandelt. Das Theater und der Traum bilden dabei zwei elementare Figurationen des Scheinhaften, das in ihnen

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Pedro Calderön de la Barca: La vida es sueno. In: Ders.: Obras completes. Bd. 2. Hg. von Angel Valbuena Briones. Madrid 1987. S. 501-533. Vgl. dazu Victor Stoichita: Das mystische Auge. Vision und Malerei im Spanien des Goldenen Zeitalters. Aus dem Französischen von Andreas Knop. München 1997.

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und durch sie, wenn man sie recht versteht, als eine eigene Wirklichkeit erkennbar wird: als Welttheater und Traumleben. Entscheidend fur das Stück ist nun, daß es diese ontologische Fragestellung mit einer politischen verbindet, indem es als ein Königsdrama in der Tradition der Fürstenspiegel und im Kontext der politischen Theorie der Zeit den Weg des Prinzen Segismundo zum Thron als einen Bildungsgang in Szene setzt, bei dem gerade das Verhältnis zur Sphäre des Traums entscheidend ist. Das bedeutet weiter, daß in dem Stück nicht ein konkreter Traum zum Gegenstand eines politischen Räsonnements gemacht wird, sondern der Traum überhaupt und das Verhältnis zu ihm verhandelt werden. Es geht also nicht darum, sich zu einem bestimmten Traum deutend zu verhalten, sondern ein Verhältnis zum Traum generell zu entwickeln und zu verstehen, was die Rolle des Traums - psychologisch, ontologisch, politologisch - sein könnte und zu sein hätte. Das Stück zeigt nun, daß es mit dem, was es Traum nennt, in einer anthropologischen Elementarartikulation den ganzen Komplex des menschlichen Affektverhaltens im Verhältnis zur Vernunft anvisiert. Es stellt das Verhältnis von Traumleben und Wachleben in eine Konstellation mit der Beziehung von Affekt und Vernunft einerseits, dem Geschlechterverhältnis zwischen Mann und Frau andererseits und schließlich mit dem politischen Problem der Artikulation von Gewalt und Macht. Das Träumen, so hat die Psychoanalyse gezeigt, ist die andere Seite des Wachens und findet auch tagsüber als unbewußte Phantasie beständig statt. Die Literatur könnte man als eine öffentliche und kollektive Gestalt der Träume und unbewußten Phantasien betrachten. Und davon handelt alle große Literatur, indem sie eben dieses zum Thema macht; sie ist dann eine Art öffentliche und politische Traumdeutung. Die spanische Literatur des Siglo de Oro hat das in der Neuzeit als erste systematisch erkundet; der ,Don Quijote' ist das herausragende Beispiel, und Calderons Stück deutet schon durch seinen Titel an, daß es ihm um eine derartige Frage geht. Der Versuch, die psychischen Prozesse und Verhältnisse in Figuren, also in Bildern und Worten, Strukturen und Gedanken zu fassen, hat zunächst und vor allem im Feld der Religion stattgefunden. Als Theologie und Mystik, Ritual und Liturgie ist Religion eine Figuration der Seele. Im antiken Griechenland wird dieses figurative Weltalter der Seele im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. durch die Philosophie und die Literatur abgelöst, die nun öffentliche Gestalten der Seele bilden. Ähnliches geschieht zu Beginn der Neuzeit: Wieder sind es Philosophie und Literatur, die die Religion ablösen. Und weil Spanien im 16. und 17. Jahrhundert eine der großen Zivilisationskräfte des Prozesses der Neuzeit ist, wird diese Entwicklung hier besonders stark reflektiert. Cervantes und Gongora, Calderön und Graciän sind Agenten dieses Prozesses. Ihr Werk reagiert in je verschiedener Form auf diesen Umbruch, bei dem, einem Wort des Psychoanalytikers Donald Meitzer zufolge, „das theologische Vorspiel zur Literatur" nach und

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nach durch diese selbst abgelöst wird. 3 Spanien ist die erste Gestalt der historis c h e n Moderne; eines v o n deren elementaren K e n n z e i c h e n ist w o h l die A b l ö s u n g der religiös organisierten durch die weltlich organisierte Seele, die nun durch die Philosophie, später die W i s s e n s c h a f t einerseits und die Literatur andererseits gestaltet wird. In d e m Maße, w i e Philosophie und W i s s e n s c h a f t pathosvergessen sind - erst H e i d e g g e r hat die Gestimmtheit als ein Existential des D a s e i n s zu einer elementar philosophischen Figur gemacht - , ist e s die Literatur g e w e s e n , die den inneren Erfahrungen Gestalt z u g e b e n versucht hat. W e n n die P s y c h o a n a l y s e eine W i s s e n s c h a f t ist, dann ist sie die Gestalt einer „wissenschaftlichen Poesie" 4 , einer philosophischen Dichtung und poetischen Theorie, deren Vorspiel eben die R e l i g i o n e n waren, denn die P s y c h o a n a l y s e ist ja in großem M a ß e immer auch v o n der Literatur ausgegangen und in elementarem Sinn Literaturtheorie g e w e s e n ; ja sie ist nach w i e vor die avancierteste und k o m p l e x e s t e Literaturtheorie, die wir haben. 5 Zahlreiche Schriften i m spanischen Siglo de Oro sind Traumtexte. Manche, w i e Q u e v e d o s , S u e n o s ' , n e h m e n den Traum als eine literarische Form, als A u s drucksmittel und rhetorische Figur. Sie setzen ihn als ein lebensweltliches Phän o m e n voraus und stellen sich in die Tradition der Traumliteratur, für die der Traum einerseits ein privilegiertes Ausdrucksmittel ist, sofern er Botschaften der

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4 5

Donald Meitzer: Traumleben. Eine Überprüfung der psychoanalytischen Theorie und Technik. Aus dem Englischen von Gudrun Theusner-Stampa. Stuttgart 1995. S. 115. D. Meitzer (Anm. 3) S. 122. Die Literatur zum Verhältnis von Psychoanalyse und Dichtung ist kaum noch zu überschauen. Sigmund Freud selbst hat wesentliche Momente der Psychoanalyse auch im Zusammenhang seiner literarischen Lektüren entwickelt und sich zeitlebens immer wieder mit Texten der Dichtung auseinandergesetzt; so haben es auch die Begründer der nachfreudianischen Schulen Jacques Lacan und Melanie Klein gehalten. Die folgenden Überlegungen stützen sich maßgeblich auf die Entwicklung der Psychoanalyse, die in England in der Nachfolge von Melanie Klein stattgefunden hat. Zur kleinianischen Psychoanalyse allgemein vgl. Hanna Segal: Melanie Klein. Eine Einfuhrung in ihr Werk. Aus dem Englischen von Gerhard Vorkamp. Tübingen 2004 (Orig.: Introduction to the work of Melanie Klein. London 1973); Donald Meitzer: The Kleinian Development. Strathtay, Perthshire 1978; Melanie Klein heute. Hg. von Elisabeth Bott Spillius. Stuttgart 2002 (Entwicklungen in Theorie und Praxis. Bd. 1.). (Orig.: Melanie Klein today. London 1988); Robert D. Hinshelwood: Wörterbuch der kleinianischen Psychoanalyse. Aus dem Englischen von Elisabeth Vorspohl. Stuttgart 1993 (Orig.: A Dictionary of Kleinian Thought. London 1991). Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Kunst in kleinianischer Perspektive vgl.: Hanna Segal: Wahnvorstellung und künstlerische Kreativität. Ausgewählte Aufsätze. Übersetzt von Annegret Lösch. Wissenschaftl. Beratung durch Ruth Cycon. Stuttgart 1992 (Orig.: The work of Hanna Segal. Α kleinian approach to clinical practice. London 1981); Hanna Segal: Traum und Phantasie. Aus dem Englischen von Ursula von Goldacker. Stuttgart 1996 (Orig.: Dream, Phantasy, Art. London, New York 1991); Ronald Britton: Glaube, Phantasie und psychische Realität. Psychoanalytische Erkundungen. Aus dem Englischen von Antje Vaihingen Stuttgart 2001 (Orig.: Belief and Imagination. Explorations in Psychoanalysis. London, New York 1998); Mary Jacobus: The Poetics of Psychoanalysis. In the Wake of Klein. Oxford 2005.

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Götter oder Voraussagen der Zukunft übermittelt, also einen Wahrheitsanspruch stellt, für die er andererseits aber auch, als kategorial klar vom Wachleben unterschiedenes Phänomen einen ontologisch fraglichen und defizienten Status hat, sofern er scheinhaft und phantasmatisch ist. Andere Autoren der Zeit nehmen den Traum selbst zum Gegenstand ihrer Schriften und handeln auf je verschiedene Weise von seiner Funktion und Bedeutung. Cervantes erkundet in der letzten der exemplarischen Novellen, dem ,Gespräch der Hunde', und vor allem im ,Don Quijote' die Grenzgebiete zwischen Traum, Phantasie, Fiktion und Wirklichkeit. Sor Juana Ines de la Cruz verfolgt in ihrem ,Sueno' die Entstehung des Traums aus körperlichen Prozessen sowie seine Verwandlung in Denken und Erkenntnis. Calderon ist in der Erkundung des ontologischen und zugleich politischen Status des Traums in dem Stück ,La vida es sueno' vielleicht am weitesten gegangen, indem er die Identitätsaussage - das Leben ist Traum - zum leitenden Motiv und zum Gehalt des Stücks macht. Die Aussage bildet sowohl ein analytisches wie ein synthetisches Urteil. Die Untersuchung der ontologischen Verfassung des Lebens zeigt seinen Traumcharakter, der eine zusätzliche Bestimmung des Lebens gibt und es zum Traumleben macht. Dieses Traumleben wird zudem auf seine Auswirkungen im Feld des Politischen hin untersucht, indem seine politischen Tiefenstrukturen aufgedeckt werden. So wird Calderöns Stück zu einer geeigneten Ausgangsbasis für die Reflexionen über das Verhältnis von Traum und Politik im spanischen Leben des 17. Jahrhunderts. Der Begriff Traumleben wird von Sigmund Freud in der Traumdeutung benutzt; er meint die besondere Verfassung, die ein Mensch hat, wenn er träumt.6 Der bedeutendste Beitrag der Psychoanalyse zur Anthropologie besteht in der Einsicht in die Wirklichkeit der seelischen Vorgänge und Objekte. Die Gefühle und Leidenschaften, die Wünsche und ihre Versagungen sind die seelischen Tatsachen; sie geben dem Leben das, was man Bedeutung oder Sinn nennt, indem sie in einem komplexen Transformationsprozeß in figurative Strukturen und Gedanken verwandelt werden. So werden sie als Verstandene zu Bedeutungen, die aus dem Gefühlserleben Erfahrung machen. Solche Erfahrung von Bedeutung ist das dynamische und energetische Zentrum, das Kraftfeld des seelischen Lebens und seiner Wirklichkeit, die am Ende die Wirklichkeit überhaupt ist. Die Phantasie und das Traumleben sind bei diesem Prozeß der Erfahrungsbildung die entscheidenden Agenten. Das Traumleben ist aber nicht nur während des Schlafs in Gestalt der Träume am Werk, vielmehr ,träumen' wir auch im Wachen in Gestalt der unbewußten Phantasien und Gedanken; sie bilden die Tiefenstrukturen des bewußten Denkens und Erlebens. Calderon scheint mit seiner Gleichsetzung von Leben und Traum etwas ähnliches im Blick gehabt zu haben, indem er nicht nur den Traum als eine besondere Art von Leben begreift, sondern das Leben insgesamt als eine Gestalt des Traums. Y en el mundo, en conclusion, / todos suenan lo que son, / aunque 6

Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Frankfurt a. M. 1972 (Freud-Studienausgabe. Bd. 2).

Calderons Konzeption des Traums in ,La vida es sueno'

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ninguno lo entiende (522b). Was das bedeuten könnte, will ich im folgenden zu erörtern versuchen. * *

*

Im Stück hat Basilio, der König von Polen, durch astrologische Forschung in Erfahrung gebracht, sein Sohn Segismundo, bei dessen Geburt die Mutter gestorben ist, werde ein grausamer und schrecklicher König werden, durch den das Reich zerfallen und der zudem in seiner Ausschweifung sich gegen ihn, den Vater, erheben und ihn unterwerfen werde. Angesichts dieser Gefahr hat der VaterKönig den Sohn-Prinzen an einem geheimen Ort in der Wildnis aufwachsen lassen und bei Hofe erklärt, das Kind sei bei der Geburt ebenfalls gestorben. Ehe nun der Thron an die nächsten Anwärter der Thronfolge übergeht, den Prinzen Astolfo aus Moskau, und die Prinzessin Estrella, beides Kinder von Schwestern Basilios, soll Segismundo einer Probe unterzogen werden, die seine Tauglichkeit zum König erweisen oder ihn für immer in sein Gefängnis verbannen soll. Er wird durch eine Droge in Schlaf versetzt und in den Palast gebracht, wo er als Herrscher aufwacht und tatsächlich all seinen üblen Neigungen nachgibt und nach einer Reihe von Vergehen zeigt, daß die astrologische Prognose richtig war und Basilio den Sohn zu recht vom Hof entfernt hatte. Zurück in seinem Gefängnis, wird ihm erklärt, die - ja mit allen Anzeichen der Wirklichkeit erlebte - Episode sei ein Traum gewesen. Da aber die Existenz des rechtmäßigen Thronfolgers einmal bekannt ist, gibt es einen Volksaufstand zur Befreiung Segismundos, der in einen Bürgerkrieg ausartet, in dem das Reich tatsächlich zu zerfallen droht und Basilio schließlich von seinem Sohn unterworfen wird. Segismundo, durch den Traum der Palastprobe klug geworden, mäßigt aber seine Affekte und zügelt seinen Haß auf den Vater; die Versöhnung im Vater-Sohn-Konflikt ist zugleich die Befriedung des Bürgerkriegs. Für beide ist der Traum das Organon, das sie ins Werk setzt. Parallel dazu entwickelt sich ein zweiter Handlungsstrang, der von Anfang an mit der Segismundo-Handlung verwoben ist und sie, wie der Traum das Leben, ergänzt, indem er ihr überhaupt erst Bedeutung gibt. Rosaura ist die uneheliche Tochter einer Hofdame aus Moskau, die einst von einem polnischen Adligen verfuhrt und danach verlassen wurde. Der Tochter ist nun das gleiche Unglück mit dem Prinzen Astolfo geschehen; sie ist ihm deshalb, wie zahllose andere entehrte Frauen der spanischen Literatur des Siglo de Oro, in Männerkleidern nach Polen gefolgt, um ihre verlorene Ehre durch die Hochzeit mit ihm zurückzuerlangen. Segismundo, der sich zunächst in Rosaura verliebt hat, erkennt, daß die Wiedergutmachung der Entehrung ethisch und politisch bedeutsamer ist als die Befriedigung seines Begehrens; deshalb ist seine erste Handlung als neuer König, Rosaura mit Astolfo zu verheiraten. Der verräterische Liebhaber und die entehrte Frau auf der einen Seite und der Vater-Sohn-Konflikt auf der anderen Seite er-

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weisen sich als die Gestalten einer desintegrierten Affektkonstellation, die durch den Haß zwischen den Geschlechtern und den Generationen gebildet wird. Der abwesende Vater bei Rosaura und die abwesende Mutter bei Segismundo geben vielleicht einen ersten Hinweis auf die komplementäre Beziehung dieser beiden Affektstrukturen. Und ein Moment des Stücks scheint es zu sein, daß Segismundo und Rosaura in ihrer Entwicklung jeweils füreinander in einem Übertragungsprozeß die Funktion der Mutter und des Vaters einnehmen. Segismundo lernt durch sie zu träumen, und sie erhält durch ihn ihre Ehre zurück. * * * Die Struktur des hier vorgestellten Familiendramas gibt die Gestalt der spanischen Seele in der frühen Neuzeit. Die tote, abwesende Mutter, also die schwache Mutterfunktion, sowie der mächtige, anwesende Vater, also die starke Vaterfunktion, fuhren zu der monströsen Entwicklung, deren Gestalt Segismundo zu Anfang ist: der in Felle gekleidete wilde Mann der Calderonschen Urszene. Ausgehend davon durchläuft Segismundo eine eigenständige Entwicklung, die durch die Begegnung mit Rosaura und die emotionale Erfahrung, die das bedeutet, ausgelöst wird. Diese Erfahrung bildet ein bedeutendes Moment seiner Entwicklung, die andererseits durch sein Verhältnis zum Traum befördert wird. Die Annahme, das Leben sei Traum, das Entscheidende am Leben sei das Träumen, gibt dem Stück das leitende Konzept. Die Mutter ist bei der Entwicklung des Traumlebens „der große Modulator psychischer Schmerzen"7. Das Kind lernt von ihr psychische Funktionen, die sie ihm vorbildet, indem es die Mutter internalisiert. Es kann die eigenen emotionalen Erfahrungen nicht denken und projiziert sie in das erste Objekt, die Mutter, die für das Kind die Funktion des Denkens übernehmen und ihm die ungedachten Gefühle in Gestalt von Reverien zurückgeben muß, so daß es selbst zu träumen und zu denken lernt. Die träumerische Ahnung der Mutter bringt Gestalt in den Gefühlsschwarm des Kindes, verwandelt dessen Chaos in Kosmos. Da aber die Mutter nicht immer anwesend ist, wird die Erfahrung der Abwesenheit des Objekts zum „ersten Gedanken"8. Freud hatte in ,Jenseits des Lustprinzips' das FortDa-Spiel als eine bereits sprachliche Symbolisierungsleistung vorgestellt, mit der das Kind die Abwesenheit der Mutter bewältigt. Das Träumen ist - ausgehend von der Reverie der Mutter - die Urgestalt der Symbolisierung und des Denkens, und das Traumleben der Seele ist sein Ort. Der im Traum und in unbewußten Phantasien gebildete Sinn wird dann auf äußere Objekte und Beziehungen übertragen, die ihren Sinn demnach aus den inneren Objekten und Beziehungen erhalten. Die Landschaft ist Seelenlandschaft, die Dinge sind Seelendinge etc. Was in 7 8

D. Meitzer (Anm. 3) S. 45. D. Meitzer (Anm. 3) S. 46.

Calderons Konzeption

des Traums in ,La vida es sueno'

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der äußeren Welt Bedeutung hat, ist Übertragung der inneren Welt; der Rest ist Information. Das Traumleben mit den Träumen und unbewußten Phantasien ist das Organon des seelischen Lebens; sein Inhalt sind die Emotionen, deren Gehalt sind die Bedeutungen, die durch Denkprozesse figuriert und strukturiert und so verstanden werden. Das dergestalt Verstandene wird dann in Persönlichkeitsstruktur verwandelt und diese Verwandlung ist seelische Entwicklung. Emotionale Erfahrung wird gemacht, wenn man amazed, fasziniert, verwundert oder verzaubert ist. Solche faszinierende Verzauberung ist das Möglichkeitsfeld für die Verwandlung der Erfahrung in Struktur. Das thaumazein ist die Matrix der Verwandlung von Emotion in Bedeutung. 9 Das Begehren ist der Hunger der Seele. Es ist als Abwesenheit der Befriedigung, die zunächst durch die Brust der Mutter gegeben wird, der erste Affektkonflikt, der gelöst wird, indem das Traumleben entwickelt wird. Diese anfängliche Abwesenheit ergibt den Konflikt von Liebe und Haß als den Urkonflikt der Leidenschaften, dessen figurative Verwandlung die Urgestalt von Bedeutung ergibt. Die Bedeutungen als verstandene Gedanken, als Erkenntnisse und Weisheit sind die Nahrung des Geistes; Verstehen ist geistige Ernährung. Die Funktion, die im Leben des Kindes die Mutter und ihre Reverie hat, scheint im Stück Calderons durch den Traum selbst eingenommen zu werden; der bildet sich und seine Denkstruktur durch das Stück und seine Handlung aus. Das macht es zu einem metapsychologischen und im weiteren zu einem metapoetischen Stück. Calderön, wie zuvor bereits Cervantes, konzipiert und reflektiert ausgehend vom Traum - die Literatur in ihrer Funktion im öffentlichen Raum: als die öffentliche Gestalt des Traumlebens, durch das eine Gesellschaft sich die Reverien als Figurationen der Erfahrung und als deren gedankliche Verarbeitung und Verwandlung in Bedeutung und Struktur gestaltet. Die Literatur gibt die Figur der Erfahrung in der säkularen Welt; sie ist die öffentliche Gestalt der Seele. Figur soll dabei die durch symbolische Gestaltung und Denken in Struktur verwandelte emotionale Erfahrung heißen. Der Schluß von ,La vida es sueno' ist die Figur der Versöhnung mit dem Vater als Eintreten in dessen Rolle, die dabei aber verändert wird, indem der Haß durch Güte in Liebe, die Herrschaft der Gewalt in souveräne Macht verwandelt wird. Die andere Figur ist die wieder in ihre öffentliche Position integrierte Frau, die Segismundo als der neue Machthaber ihrem Mann zurückgibt und so ihre Ehre wiederherstellt. Calderons Stück zeigt, wie ein psychischer Konflikt, den die Psychoanalyse als den ödipalen figuriert, sich in einem komplexen Verwandlungsprozeß auflöst und so eine Entwicklung des Protagonisten bewirkt. Eine Pointe des Stücks ist es nun, daß diese individuelle Entwicklung zugleich eine gesellschaftliche und politische Dimension hat, daß seine ontologische Konzeption des Lebens als Traum zugleich eine politische Implikation hat. Der partikulare Vater-Sohn-Konflikt 9

D. Meitzer (Anm. 3) S. 78.

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wird in dem Maße, wie es sich bei den beiden um König und Thronfolger handelt, als ein politisches Dispositiv erkennbar. Der Generationskonflikt zwischen Vater und Sohn bildet den Kern einer Parabel des Politischen, die zeigt, wie die politische Ordnung ihren Grund in der familiären Ordnung hat, wie die Verfassung der Familie die Tiefenstruktur der Verfassung der Polis bildet. Freud hat in einer berühmt gewordenen Metapher die Einsicht in die Bedeutung der Träume die via regia, den Königsweg, zum Unbewußten und zur psychischen Wirklichkeit genannt10 und als deren dynamisches Zentrum den von ihm nach dem Muster des Ödipus-Mythos formalisierten Vater-Sohn-Konflikt im Verhältnis zur Frau und Mutter benannt. In dem Maße, wie die Geschichte des Ödipus nicht nur ein Familiendrama, sondern zudem ein Königsdrama ist, wird damit die politische Dimension dieser Verfassung angedeutet. Deshalb kann Calderon umgekehrt das Verhältnis von Leben und Traum erkunden, indem er einen Königsweg beschreibt, den Weg des Prinzen Segismundo zum Thron, auf dem er, nach dem Muster der auch via regia genannten Fürstenspiegel zu lernen hat, was einen guten König ausmacht; und diese Lehre besteht wesentlich darin, ein Verhältnis zum Traumleben zu erlernen. Einer weiteren Metapher Freuds zufolge ist das Unbewußte der andere Schauplatz, auf dem das Drama der Seele als der Konflikt von Gefühlen und Wünschen in Träumen und unbewußten Phantasien ins Werk gesetzt wird. Wenn das Traumleben dramatisch ist und auf dem Schauplatz der Seele das innere Drama der Gefühle und Wünsche bildet, kann umgekehrt das äußere Drama der Königsweg zum Traum und seiner Bedeutung werden. Der Traum ist der Königsweg zur Seele, indem er das Psychodrama der Gefühlskonflikte auf dem inneren Schauplatz gestaltet; das Drama ist der Königsweg zum Traum, indem es das Psychodrama auf dem äußeren, öffentlichen Schauplatz der Polis gestaltet. Aristoteles hatte den Mythos, also die Handlung des Dramas, als die Figuration der kollektiven Seele und ihrer Affektkonstellation bezeichnet; der Mythos ist der Transformationsagent von individueller und allgemeiner, partikularer und kollektiver Seele. Deshalb hat Freud die elementare Struktur des Psychischen einem Mythos ablesen können. Calderöns Stück stellt in gewisser Weise die andere Seite dieses Mythos dar. ,König Ödipus' von Sophokles und ,Hamlet' von Shakespeare, die beiden wichtigsten Referenztexte Freuds, gestalten das Verhältnis des Sohnes zur Mutter; der Vater ist tot. In ,La vida es sueno' ist die Mutter tot und der Konflikt wird aktuell zwischen Vater und Sohn ausgetragen; mit Rosaura wird eine andere Frau an Stelle der Mutter zur Gestalt des Begehrens. Die Handlung des Stücks ist durch drei Instanzen - Segismundo, Rosaura, Basilio - und auf zwei Ebenen strukturiert: Segismundo im Verhältnis zum Vater und zur Macht sowie im Verhältnis zur Frau und zum Begehren. Das ergibt die politische und die erotische Dimension der Affekte. Diesen beiden Ebenen entsprechen die beiden Schauplätze des 10

S. Freud (Anm. 6) S. 577.

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Dramas: der Turm in der Wildnis und der Hof in der Zivilisation; sie verhalten sich wie Traum und Leben zueinander, und das Stück zeigt, daß die Lösung des Konflikts in der Integration beider Bereiche zum Traumleben besteht. Der Gehalt des Stücks gibt die Verfassung der neuzeitlichen Seele. Segismundo, der Mensch - im auto sacramental, dem allegorischen Fronleichnamsspiel desselben Titels, das nach dem Drama entstanden ist, wird er zu Hombre - , steht im Spannungsfeld von Rosaura und Basilio, Begehren und Macht, Wille und Gesetz. Er muß lernen, das Begehren zu strukturieren, sich ein Gesetz zu machen und die Freiheit seines Willens zu verstehen als die Anmessung an dieses Gesetz; in den Begriffen der Psychoanalyse ist das die Integration von Lustprinzip und Realitätsprinzip, von Wunsch und Abwesenheit des Objekts, von Begehren und Ver- bzw. Entsagung. Der Agent dieser Integration ist das Traumleben, das die Versagung der Abwesenheit in eine figurative Form bringt und sie verstehbar und den Umgang mit ihr möglich macht. Eine wichtige Funktion hat dabei im Stück und in der Kultur der Zeit allgemein - ein Konzept, das heute nur noch schwer verstehbar, dessen Funktion aber immerhin nachvollziehbar ist. Das Konzept der Ehre gehört wesentlich zu dem Mythos, den Calderön ins Werk setzt. Freud beantwortet die Frage nach der Ethik und mit ihr nach der Politik des Traumlebens und der Seele durch die ödipale Situation, indem er die Aufrichtung des Gesetzes, des Über-Ichs im Verhältnis zum Begehren nach der Mutter dem antiken Ödipus-Drama als dessen Bedeutung abliest. Dieses Ethos erfährt bei Calderön - und parallel dazu geschieht bei Corneille im selben Jahr etwas ähnliches im ,Cid' - eine bedeutende Variation; die Figur der Rosaura gibt dabei vielleicht den entscheidenden Einschlag der Moderne. Auch hier erfolgt die Aufrichtung des Gesetzes im Verhältnis zum Begehren, das aber nicht die eigene Mutter zum Ziel hat oder nach deren Bild gestaltet ist, sondern sich auf die fremde Frau richtet; Rosaura ist als Frau aus der Fremde nicht die Figur der Mutter, sondern die Figuration ihrer Abwesenheit. So sind Erotik, Ethik und Politik als Begehren, Ehre und Gesetz dergestalt aufeinander bezogen, daß die Ehre das Begehren des Gesetzes und das Gesetz des Begehrens gibt. Das obrar bien findet im Stück seine Bewährungsprobe immer wieder an der Konfrontation mit dem Begehren zu Rosaura. Der von Freud so genannte Nabel des Traums, die Stelle, an der das Traumleben „unergründlich" ist, „der Nabel, durch den es mit dem Unerkannten zusammenhängt" oder „dem Unerkannten aufsitzt" 11 , ist, wie der körperliche Nabel, die Spur der alten, pränatalen Verbindung zur Mutter, die somit - das dürfte Freuds Konzeption ganz generell sein - das Unerkannte und Unergründliche überhaupt ist. Genau als dieses Unergründliche ist es aber die strukturelle und symbolische Abwesenheit der Mutter; das Unverständliche und das Nicht-Verstehen wird so das Moment der ,Mutter', die Mutterfunktion im Prozeß der Figuration: die Matrix der Sprache. 11

S. Freud (Anm. 6) S. 130, 503.

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Bedeutung ist wesentlich eine Sache der Wünsche und Affekte. An Segismundos Entwicklung läßt sich das zeigen. Der unbedingte Egoismus, der in Segismundos absolutem Wunscherfüllungswillen zum Ausdruck kommt, ist eine Art kindliches Königtum, dem jede Hemmung ein crimen laesae majestatis ist.12 Das Kind ist der König der Wünsche, der Vater der König des Gesetzes. Das ergibt die gegenstrebige Verfassung des Traumlebens, dessen Funktion es ist, die via regia zur Integration der beiden Königtümer - von Lustprinzip und Realitätsprinzip - zu bilden. Das ist der Sinn der ödipalen Konfiguration, die das Traumleben in eine Figur überfuhrt und so mit Bedeutung ausstattet. Sie ist der Agent des Denkens als Verwandlung der Wünsche und Versagungen in Figuren und Sprache. Die Wünsche und die mit ihnen einhergehenden Affekte sind die Gedanken, die in einem komplexen Transformationsprozeß über ihre symbolische Konfiguration das Denken ausbilden, das dann den Gedanken ihre Bedeutung gibt. Die Wünsche sind also die Realia des Denkens, deren Bedeutung durch die konstruierende Figuration ein nachträglicher Effekt ist. Das ergibt einen konstruktiven psychologischen und mit ihm wohl ontologischen, einen psychontologischen Realismus, denn die Wünsche sind das „Unzerstörbare"13. Die Traumgedanken sind real, die Traumgestalten sind imaginär; imaginäre Gestalten können reale Angst auslösen, weil der Affekt das Reale ist. Die Wahrheit dieses Realen bildet sich aber erst aus, wenn es durch figuratives Denken verwandelt wird. Das reine Reale der Wünsche bleibt nichtig, wenn es nicht als Bedeutung durch das Denken verstanden wird; das reine Imaginäre der Figurationen und das reine Abstrakte des Denkens bleibt gegenstands- und bedeutungslos, wenn es nicht das Denken der Wünsche und Affekte ist. Der Traum ist deshalb der Königsweg zum Unbewußten, weil er die formale Verfassung der Wunscherfüllung als Figuration am deutlichsten zeigt. Ein zureichender Begriff von psychischer Realität ist nur über eine zureichende Bestimmung der symbolischen Figuration und des unbewußten Denkens zu erlangen. Weil die Wunscherfüllung durch figurative Verwandlung der Wünsche in Bedeutungen geschieht und der Traum das Urbild dieser Tätigkeit ist, kann das Leben als Traum konzipiert werden; das ergibt den Begriff des Traumlebens. Donald Meitzer hat daraus das leitende Konzept seiner Revision der psychoanalytischen Traumtheorie gemacht. Im Rahmen dieser Konzeption sind die Gefühle der „bedeutsame Kern des Erlebens"14, sofern sie in symbolisch-figurative Formen verwandelt werden. Der Vorgang dieser Verwandlung ist das Denken, das Formen für die inneren Objekte (er)findet, die die Gefühle als Erlebnisse sind. Es besteht also wesentlich darin, Gefühle in Strukturen zu verwandeln und sie so zu Qualitäten und Bedeutungen zu machen, die psychische Entwicklung ermöglichen. Das Gefühl ist die Bedeutung der Erfahrung, die durch Figurationen und 12 13 14

S. Freud (Anm. 6) S. 260. S. Freud (Anm. 6) S. 550. D. Meitzer (Anm. 3) S. 25.

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unbewußtes Denken in Struktur verwandelt wird und so die Erfahrung zu einer inneren Wirklichkeit macht. Die Agenten der inneren Welt sind die unbewußten Phantasien; sie bilden diese Welt als eine eigene Wirklichkeit aus, die deshalb als ein eigenes Leben zu bezeichnen ist. Im Schlaf, bei abgeschaltetem Bewußtsein, treten die unbewußten Phantasien verstärkt in Aktion; das ergibt das Träumen, das in dem Maße, wie es eine eigene Wirklichkeit bildet, Traumleben genannt werden kann. Im Schlafen werden also Träume, im Wachen werden unbewußte Phantasien gebildet; beides sind Denkvorgänge, die aus Emotionen Bedeutungen bilden. Dieses Traumleben findet an einem eigenen Ort statt, den es womöglich selbst erst ausbildet, indem es stattfindet. Diesen Ort nennt die abendländische Tradition - und nicht nur sie - die Seele; sie ist „der Ort, wo Bedeutung ausgebildet wird" 15 . Wir leben demnach beständig in zwei Welten, in der inneren und der äußeren. Und beide Welten haben einen hohen Grad von Realität; ja es gibt Gründe anzunehmen, daß die innere Welt - sofern sie Bedeutung hat - die eigentlich reale ist. Der innere Schauplatz ist das „Theater für die Entwicklung von Bedeutung" 16 . Die Aktionen von psychischen Instanzen erzeugen als Psychodrama Bedeutung, wodurch Wahrnehmungen und Gefühle zu Erfahrungen gemacht werden, indem sie gedacht und so zu Strukturen der Persönlichkeit werden. Das Denken verwandelt Erfahrung in Bedeutung, die demnach durch Denken verwandelte Erfahrung ist. Das Medium dieser Verwandlung ist das Träumen und die unbewußte Phantasie des Traumlebens. In ,La vida es suefio' ist die Mutter bei der Geburt des Kindes gestorben; sie ist also absolut und strukturell abwesend. Deshalb tritt Segismundo zu Anfang als der verwilderte Mann auf, dessen Wünsche und Gefühle haltlos und unstrukturiert sind. Sein Haß auf den tyrannischen Vater und seine Liebe zu Rosaura können sich nur als aggressive Gewalt und als wildes Begehren artikulieren. Der Traum wird nun für ihn das Feld, auf dem sich diese Elemente konfigurieren und das Traumleben bilden, das dann für beide Bereiche Bedeutung hat und ihnen Sinn gibt. Das erstaunliche Moment ist nun, daß „der große Modulator psychischer Schmerzen" für Segismundo die Gestalt der Rosaura ist, genauer noch, der entehrten Rosaura. Die Ehre Rosauras wird für Segismundo zur symbolischen Figur, durch die er sein wildes Begehren in Liebe und diese gemäß den Forderungen des Realitätsprinzips in Entsagung verwandeln kann. Danach gelingt es ihm dann auch, die aggressive Gewalt gegen den Vater in souveräne Macht, den Haß in Gnade zu verwandeln; die symbolische Figuration dafür ist die Krone. Der Traum ist das Medium dieser Prozesse, honra und corona sind für Segismundo die Agenten der Strukturierung des Traumlebens, die verwandelnden Figuren für Begehren und Haß.

15 16

D. Meitzer (Anm. 3) S. 40. D. Meitzer (Anm. 3) S. 109.

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Das Stück ,La vida es sueno" 7 konstelliert von Anfang an die Phantasie, das Phantasma und den Wunsch, so daß die Annahme naheliegt, der weitere Verlauf werde das Verhältnis zwischen den Elementen dieser Konstellation entwickeln und so die Trieb- und Begehrensstruktur der Phantasie und ihrer Erzeugnisse aufzeigen. Es geht dabei also um die Phantasie und ihre Produkte im Feld von Begehren, Freiheit und Schuld; um die ethische Dimension der Wünsche und der Phantasie, um die erotische Dimension der Phantasie und der Ethik sowie um die phantasmatische Dimension von Eros und Ethos. Diese Fragen werden an ihre elementaren Ursprünge zurückverfolgt: Segismundo, der wilde Mann, in Tierfelle gekleidet, markiert die anthropologische Differenz von Animalität und Humanität; Rosaura für sich - als Frau in Männerkleidern - und Segismundos Verhältnis zu ihr markieren die sexuelle Differenz von Männlichkeit und Weiblichkeit; die Orte des Dramas, die Wildnis und der Palast, markieren die zivilisatorische Differenz von Natur und Kultur; und die Metaphorik des ganzen Szenarios schließlich, Schlund, Nacht, Jenseits und vor allem Segismundo als cadäver vivo, als lebender Toter, markieren die existentielle Differenz von Leben und Tod. Daß diese Verhältnisse archaischen, ja archetypischen Charakter haben, wird dadurch unterstrichen, daß Segismundo sich selbst nach dem Muster der antiken Götter-Genealogien als Giganten konzipiert, der Berge auf Berge türmen will, um seine Wut auszuagieren und sich zu rächen. Der anfangliche Ort des Stücks und der Figuren hat eine zweifelhafte, eine doppelte oder gespaltene Verfassung: entre asombros y quimeras (503a). Es ist ein vedado sitio, ein Tabu-Ort - und vielleicht besteht die erstaunlichste Leistung des Stücks darin, diesen Ort zu enttabuisieren und das Verbot von ihm zu nehmen, indem es zeigt, was an ihm vorgeht und wie damit auf eine ethisch verantwortliche und politisch verbindliche Weise umzugehen ist, indem das Atopische der Verwerfung in das Utopische der Integration verwandelt wird. Die Szenen im Palast zeigen die Ökonomie des Begehrens im Rahmen der höfischen Galanterie als geregelte und geordnete. Außerdem wird darin die Frage des Geschlechterunterschieds mit der Machtfrage verbunden. Astolfo und Estrella 17

Die Forschungsliteratur zu Calderön ist ebenfalls kaum noch zu überschauen. Zu Calderön allgemein vgl. für die folgenden Ausführungen: Jacinto Rivera de Rosales: Sueno y realidad. La ontologia poetica de Calderön de la Barca. Hildesheim 1998; Ciriaco Morön Arroyo: Calderön. Pensamiento y teatro. Santander 2000 [' 1982]; El mundo como teatro. Estudios sobre Calderön de la Barca. Hg. von Jose Lara Garrido. Malaga 2003 (Analecta Malacitana. Bd. 47); zu ,La vida es sueno' besonders vgl.: Jesus A. Ära Sanchez: Bibliografia critica comentada de La vida es sueno (1682-1994). New York 1996; Frederick A. De Armas: The prince in the tower. Perceptions of La vida es sueno. Lewisburg 1993; Aspects du theatre de Calderon. ,La vida es sueno'. El gran teatro del mundo. Hg. von Nadine Ly, Blanco Mercedes. Paris 2000; Enrique Moreno Castillo: Sobre el sentido de ,La vida es sueno'. Madrid 2004.

Calderöns Konzeption des Traums in ,La vida es sueno'

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haben als Cousin und Cousine beide Anspruch auf die Thronfolge; dieser Konflikt soll durch beider Heirat neutralisiert werden. So erweisen sich das Begehren und die Macht im Staate als zwei komplementäre Momente. Das ergibt das tragende concepto des Stücks: seinen Gehalt. Zugleich wird dabei deutlich, daß es sich bei dem Stück - zunächst - um ein Familiendrama, um das Drama der Familie im weitesten Sinn handelt. Der lange Monolog von Segismundos Vater, dessen Name Basilio ihn als die Gestalt des Herrn schlechthin ausweist, bildet das strukturelle Pendant zu dem des Sohns am Anfang. Er berichtet von dem Traum der Mutter, der ihr das Kind als ein Ungeheuer darstellt, und von der astrologischen Forschung des Vaters, die diese Unheilsprophetie bestätigte. Deshalb hatte man Segismundo separiert. Der Verlauf des Stücks zeigt, daß dieser Umgang mit Träumen und Wissenschaft, der sie zur spekulativen Prognose der Zukunft gebraucht, nichtig und scheinhaft ist und gerade das Unheil bildet, das er zu verhindern versucht. Segismundos Entwicklung zeigt dann, wie eine andere Form des Verhältnisses von Traum und Wissen denkbar und praktizierbar ist, indem das Verhältnis von Traum und Wirklichkeit anders konzipiert wird. Er lernt zu begreifen, daß der Traum nicht das Andere der Wirklichkeit als Unwirklichkeit, sondern eine andere Seite der Wirklichkeit ist; daß das Andere eine Gestalt des Einen ist und mit ihm ein gemeinsames Feld bildet: das Traumleben, das den Tabu-Ort verwandelt, ihn von einem verbotenen zu einem neutralen Feld macht. In der Palastprobe muß Segismundo sich zu Macht und Begehren wie unter Traumbedingungen verhalten. Er nimmt die Traumsituation als Freibrief für das absolute, durch kein Gesetz eingeschränkte Lustprinzip und lebt Machtwünsche und Begehren ohne Hemmung aus. Die Ordnung des Rechts und das Reich der Lust sind auseinandergetreten, ja die Lust wird zum Recht: nada me parece justo / en siendo contra mi gusto (515a), so wird das durch die spanische Sprache gegebene und im Siglo de Oro gern ausgebeutete Reimpaar justo-gusto eingeführt. Segismundo handelt wie ein außer Rand und Band geratener Träumer, dessen Traum in gewisser Hinsicht die Idealsituation des Träumens darstellt: den Extremfall eines ganz unzensierten Traums, der keinerlei Traumarbeit im Sinne Freuds zu leisten hat; die Wünsche artikulieren sich ganz unentstellt und unmittelbar. Der Zuschauer im Theater weiß zudem, daß Segismundo nicht träumt; so zeigt die Palastprobe, wie der Traum Wirklichkeit wird, wie die Lüste und Wünsche sich verwirklichen und wie diese Wirklichkeit, wenn sie unstrukturiert bleibt und nicht mit dem Leben zum Traumleben integriert wird, lebensfeindlich ist. Dieses unstrukturierte Begehren wird als Folge der verdrehten Familiensituation deutlich gemacht. Der entfesselte Gebrauch der Lüste beim Sohn korrespondiert einem despotischen Gebrauch des Gesetzes beim Vater. Segismundo lernt, die Traumwelt und die Lebenswelt zum Traumleben zu integrieren, bei dem der Gebrauch der Wünsche nicht haltlos zu sein braucht, um lustvoll zu sein, und bei dem el gusto und lo justo eine wirkliche Korrespondenz bilden.

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Deshalb bildet die Begegnung mit Basilio, der als Vater und König die Gestalt des Gesetzes ist, nur den ersten Höhepunkt der Probe. Der Anspruch des Sohns gegenüber dem Vater wird von diesem als Bedrohung und Gefahr wahrgenommen; deshalb tritt ihm der Sohn ,im Traum' als genau dieses gefahrliche Ungeheuer entgegen, und deshalb will Basilio den realen Anspruch zum Traum und diesen zum Schein erklären und das ganze an den Tabu-Ort verbannen. Indem Segismundo dagegen die Realität des Traums zu begreifen lernt, kann er dieses Gewaltverhältnis der Generationenfolge verwandeln. Das geschieht in seiner Beziehung zu Rosaura. Die Begegnung mit ihr bildet den anderen Höhepunkt der Palastprobe. Diese hat also zwei Zentren: Segismundos Beziehung zur Macht und zum Begehren; deren Verhältnis zueinander artikuliert sich in der Gestalt Segismundos. Rosaura wird für Segismundo zur Artikulationsgestalt von Wildnis und Palast, von Leben und Traum. In der Beziehung zu ihr entwickelt er sein Verhältnis zu Leben und Wirklichkeit. Zunächst tritt er ihr mit schrankenlosem Begehren entgegen. Der Vergewaltigungsversuch an Rosaura ist ein Angriff auf ihre Ehre - arrojare tu honra por la ventana (517a); damit stellt er die Entehrung in eine Linie mit dem Mord, den er an einem Dienstboten begangen hatte, indem er ihn aus dem Fenster warf, und macht zudem deutlich, daß es sich bei der Ehre um etwas Wirkliches handelt, das man ,aus dem Fenster werfen' kann. Die Palastprobe ist so insgesamt als eine Orgie der enthemmten und bösen, da unstrukturierten Wünsche erkennbar. Die politische Ebene der Macht und die affektiv-erotische Ebene des Begehrens sind im Medium der Ehre aufeinander bezogen; die Ehre ist die politische Seite der Erotik und die affektive Seite der Politik. Deshalb muß Clotaldo als Vater Rosauras und als Stellvertreter des Königs gegenüber Segismundo eingreifen und die Ehre Rosauras schützen. Die Szene ist die konzeptuelle - und übrigens auch arithmetische - Mitte des Stücks. Zurück in seinem Turm, träumt Segismundo ,wirklich' und weitet die Palastszene zum universellen Drama aus, das vom Sieg des Sohns über den Vater im großen Theater der Welt handelt. Das weist zugleich daraufhin, daß die Konzeption des Welttheaters, die Calderon parallel zu ,La vida es suefio' zu einem Theaterstück verarbeitet hat, der des Traumlebens korrespondiert. Als erste Konsequenz nach dem Erwachen ergibt sich: wenn die Träume so wirklich sind, kann auch die Wirklichkeit Traum sein; lo que veo sera incierto (521b). Es fehlt das Unterscheidungskriterium und damit wird alles traumhaft im Sinne von scheinhaft und nichtig. Die zweite Konsequenz ergibt sich aus einer erstaunlichen Beobachtung. Alles im Traum war flüchtig und deshalb nichtig; aber die Liebe zu der Frau war das nicht. Solo a una mujer amaba. / Que fue verdad, creo yo, / en que todo se acabo, / y esto solo no se acaba (522a). Der Affekt hat offenbar einen anderen Wirklichkeitsstatus; er bildet die psychische Realität, die jenseits oder diesseits der Unterscheidung von Traum und Wirklichkeit liegt und das Traumleben bildet. In dieser spezifischen Traumwirklichkeit, so fügt Clotaldo hinzu, ist die Frage des Gutseins nicht suspendiert, que aun en suenos / no se pierde el ha-

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cer bien (522a). Das Traumleben hat eine Ethik. Segismundo zieht daraus die letzte Konsequenz, indem er die Einsicht noch einmal ins Allgemeine erweitert. Das Leben ist Traum, alle Menschen träumen, wie sie auf dem Welttheater eine Rolle spielen. iQue es la vida? Una ilusiön, /una sombra, unaficcion, [...] que toda la vida es sueno (522b). Der letzte Akt hat die Funktion, Segismundo lernen zu lassen, diese Einsicht in den Traumcharakter des Lebens nicht im VanitasPathos verfliegen zu lassen, sondern die eigentümliche Wirklichkeit von Traum und Fiktion zu erkennen. Ausgangspunkt ist sein Verhältnis zur Frau: que fue verdad, creo yo, / en que todo se acabö / y esto solo no se acaba. Die Engführung von Psychischem und Politischem, von Traumleben und Traumpolitik geschieht zunächst auch wieder im defizienten Modus der unstrukturierten politischen Aktion. Der Aufstand der bandidos y plebeyos (523b) gegen den Tyrannen korrespondiert mit der Wut Segismundos gegen den Vater; es ist ein Aufstand en lo profundo de los monies (525a): acheronta se movet, so könnte man das Vergil-Zitat aus der ,Aeneis' variieren, das Freud zum Motto der ,Traumdeutung' gemacht hat und gegen Ende, eben an der Stelle wieder aufnimmt, an der er die Träume und ihre Deutung „die Via regia zur Kenntnis des Unbewußten im Seelenleben" 18 nennt. Die elementaren Kräfte des Volkskörpers rebellieren gegen die tyrannische Herrschaft und fordern ihren Rey natural (523b), wie Segismundo gegen den tyrannischen Vater die Herrschaft einfordert, die ihm als seinem Sohn natürlicherweise zusteht: Mi padre eres y mi Rey, / luego toda esta grandeza / me da la naturaleza /por derecho de su ley (515b). Die Konzeption des Stücks kommt nun zu sich selbst, indem die politischen Implikationen des psychischen Musters der Persönlichkeit Segismundos entfaltet werden. Wie der Einzelne und sein animalischer Körper - dem die anthropologische Differenz entstammt und der als hombre vestido de pieles zum Archetypus Calderons wird - durch die Seele und diese durch das Gesetz der Persönlichkeit strukturiert wird, so das Volk und sein anarchischer Körper durch die Seele des Staats, die als Gesetz organisierte Macht, die in der Prämoderne durch den König verkörpert wird. Dessen Seele - so läßt sich der andere der zwei Körper des Königs nennen - ist das Königtum. In Segismundos Entwicklung kommen diese beiden Momente zusammen. Er ist als Sohn die Gestalt des Einzelnen und als Thronfolger steht er für das Gemeinwesen ein. Seine individuelle Entwicklung wird mit der seines Königtums parallelisiert; und ihr Medium ist der Traum. Indem er ihn als Traumleben zu erkennen lernt, wird er fähig zu einer ihm korrespondierenden Traumpolitik. Das entwickelt sich in mehreren Schritten. Zunächst erklärt er alles wieder zum bloßen Traum, also zu nichtigem Schein. In einem zweiten Schritt nimmt er den Traumcharakter nicht als Entwertung der Ereignisse, sondern als Umwertung ihres Wirklichkeitsstatus. Wenn das Leben in seiner Traumverfassung erkannt ist, wird die Unterscheidung von Wirklichkeit und Fiktion hinfällig; das bedeutet 18

S. Freud (Anm. 6) S. 577.

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nicht, die Wirklichkeit wird zur Fiktion, sondern Traum und Fiktion werden als eigene Wirklichkeit, als die Wirklichkeit des Lebens erkannt. So kann er im Traum, in der Annahme der eigenen Wirklichkeit des Traums eine Ethik des Traumhandelns entwickeln. Sie geht aus von dem Haß und der Aggression gegen den Vater, die er zu strukturieren versucht, indem er sie in Güte verwandelt und diese zum Prinzip der Gerechtigkeit macht. Die Begründung dafür ist, die Handlungen des Traumlebens, die Traumwerke seien dauerhaft: Que estoy sonando, y que quiero / obrar bien, pues no se pierde / obrar bien, aun entre suenos (524b). Die Traumwerke sind die unverlierbare Wirklichkeit des Traumlebens, das „Unzerstörbare", von dem Freud auch in der .Traumdeutung' spricht. Das Traumleben hat seine Traumwerke, die als solche unter die Kategorien des Handelns fallen und so die Verhandlung ihrer moralischen Qualität fordern. Schon Aischylos hatte den Unentscheidbarkeitskonflikt des Tragischen, bei dem in der ,Orestie' Gesetz gegen Gesetz als Gewalt gegen Gewalt steht, mit der Begnadigung des Orest durch Athene aufgelöst. Die Gnade wird im Christentum zum ethischen Prinzip; sie ist das Organon des obrar bien und der Gerechtigkeit. Der Kreislauf der Gewalt, das Herrenrecht, Rache zu nehmen, wird durch die souveräne Macht, Gnade zu schenken, kurzgeschlossen. Die Vergebung ist das Charisma des Nomos und verwandelt das Gesetz in Güte und Gerechtigkeit. Die lange kasuistische Erörterung von Rosaura und Clotaldo über Geben und Nehmen führt das Motiv ein (526/27). Segismundos souveränes Verhalten am Ende zeigt das. Der Vater ist bis zuletzt im mythischen Kreislauf der Gewalt gefangen und kann die Macht nur als Kampf und Gewalt verstehen. Segismundo tritt aus diesem Kreislauf der Gewalt heraus und läßt Gnade walten. So wird er zum souveränen Herrscher: coronante tus hazanas, sagt schließlich der Vater. Seine Traumwerke - die Restitution von Rosauras Ehre und die Institution der souveränen Macht - bilden seine Krone, die Essenz der Traumpolitik. Bei Segismundos Traumhandeln geht es um das elementare Verhältnis zum Vater und König als Gestalt des familiären und politischen Gesetzes. Dieses Verhältnis ist zunächst das eines elementaren Hasses und der Aggression. Contra mi padre pretendo / tomar armas (524b). Das Ethos des Traums hat offenbar etwas mit dem Verhältnis der Wünsche und Affekte zum Gesetz zu tun. Der Affekt ist zunächst Haß, und daraus entsteht der Aggressionswunsch gegen den Vater und die Rebellion gegen das Gesetz. Das Ethos des Traumlebens und der Traumwerke besteht dann in der hegenden Integration der Aggression und des Hasses. Der Wunsch, den Vater zu beseitigen, ist in der Palastprobe, im Traum und nach der Befreiung am Werk. Er ist das durchgängige und elementare Wunschmotiv. Der Volksaufstand und Bürgerkrieg wird dann als die politische Gestalt dieses Wunsches erkennbar. Der vulgo ist im Staat, was die Begierden im Einzelnen sind. Der Thron ist jetzt der Schauplatz des Kampfes zwischen Sohn und Vater: el teatro funesto es / donde importuna / representa tragedias la fortuna (525a). Das nimmt die Metapher des Welttheaters wieder auf; Leben und Politik sind als

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Traum auch ein Theaterstück. Damit werden aber auch das Politische und das Seelische in der Figur des Schauplatzes korreliert. Die intention segunda, der horror segundo, dem der Thron jetzt ausgeliefert wird (525a), ist das politisch Unbewußte, das in Gestalt des Volks und Segismundos den Thron einfordert. Parallel dazu wird durch die Konzeptualisierung des aufständischen Volks als caballo desbocado der Bürgerkrieg und der Aufstand aber auch mit Rosauras Entehrung korreliert. Beides sind offenbar korrespondierende Aspekte des Politischen in seiner defizienten Gestalt. Entehrung ist die affektive Dimension des Bürgerkriegs, der umgekehrt die politische Dimension der Entehrung ist. Zum anderen ist aber auch der Vater-Sohn-Konflikt zum Bürgerkrieg geworden, der demnach ebenso die politische Dimension dieses Konflikts bildet. So werden die Entehrung der Frau und der ödipale Konflikt des Mannes als zwei Aspekte desselben erkennbar, die zuletzt als zwei Aspekte des Gesetzes aufeinander bezogen sein müssen. Die Ehre wäre das Gesetz der Frau, die ödipale Situation das Gesetz des Mannes. Das Gesetz erweist sich so in seiner Tiefenstruktur als durch die sexuelle Differenz markiert. Die dramaturgische Logik des Stücks parallelisiert Rosauras Ehrenkasus unmittelbar mit Segismundos Kampf um den Thron. Mitten im Bürgerkrieg verhandelt sie zunächst mit Clotaldo, ihrem Vater, dann mit Segismundo, dem zukünftigen König, ihren Ehrenkasus und erklärt auch ihren Kampf um die verlorene Ehre zum Krieg: todo es guerra (526a). Die Ehrlosigkeit bedeutet für sie - wie fur zahllose andere mujeres vestidas de hombre der spanischen Literatur der Zeit die Desintegration der Persönlichkeit und die Freisetzung der elementaren Zerstörungsgewalten: vulgo des Todestriebs. Sie will lieber sterben als ohne Ehre zu leben (527a). Dem Selbstzerstörerischen des durch den Ehrverlust freigesetzten Todestriebs entspricht im Politischen der ebenfalls selbstzerstörerische Bürgerkrieg. Das ungehegte, unstrukturierte Begehren und die ungehegte, unstrukturierte Macht setzen diese zerstörerischen Kräfte frei: iNo hay remedio? fragt der Vater, und die Tochter antwortet rückhaltlos: No hay remedio. Clotaldo: Piensa bien, si hay otros modos. Rosaura: Perderme de otra manera. Clotaldo: Pues has de perderte, espera, / hija, y perdämonos todos (527b). Macht und Begehren, der Kampf um die Ehre und der Kampf um den Thron sind zunächst im Zeichen des Bürgerkriegs konstelliert. Die konzeptuelle Korrespondenz dieser beiden Momente wird durch die dramaturgische Logik unterstrichen. Der Monolog Rosauras, in dem sie Segismundo ihre Geschichte berichtet, ist so lang wie der Basilios im ersten Akt, indem er Segismundos Geschichte berichtet. Beide Fälle sind offenbar die zwei Seiten einer Sache. Die Zusammengehörigkeit von Eros und Ethos, Ehre und Politik macht Rosaura deutlich, indem sie Segismundo auffordert, mi honra und tu corona zum Gegenstand des Kriegs zu machen; honra und corona bilden zwar kein Reimpaar, wohl aber eine Assonanz, und sie bildet die Engfuhrung der beiden leitenden Motive des Stücks: des Begehrens und der Macht. In beiden Fällen hat die Vaterinstanz versagt. Clotaldo verhindert Rosauras Rückgewinnung der Ehre, Basilio verhindert Segismundos

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Übernahme der Krone. Das zeigt noch einmal, daß der psychische Konflikt der Individuen zugleich ein politischer ist, ja, da es um den Bürgerkrieg und die Thronfolge geht: der Konflikt des Politischen überhaupt. Und Rosauras Ehrenkasus ist die komplementäre Gestalt dieses Konflikts. Segismundo, der seine Lektion gut gelernt hat, verbindet das wieder mit der Traumproblematik. Krone und Ehre, Traum und Leben bilden eine Konstellation, ein concepto\ Krone und Ehre bilden den Gehalt des Traumlebens. Zu fragen bleibt dann, was sie bedeuten. Zu vermuten ist, daß es die jeweils männlichen und weiblichen Figurationen der Integration und Integrität als Tiefenstruktur des Gesetzes sind. Das ist zunächst nichts als eine Behauptung, die durch die konzeptuelle Logik des Stücks nahegelegt und getragen wird. Sie bedeutet auf jeden Fall, daß in der Tiefe des Traumlebens und der Traumpolitik die sexuelle Differenz wirksam ist. Krone und Ehre sind - im Rahmen der prämodernen Figuration - die strukturierenden Gestalten dieser Differenz. Eine erneute Reflexion über Leben und Traum - dramaturgisch ein Aparte, was sie als inneren Vorgang deutlich macht - mündet wieder in dem Paar honra - corona als den Gestalten des Realen im Traumleben; sie zu verwirklichen heißt, die Ewigkeit bilden: acudämos α lo eterno (530b). Die Wirklichkeit des Traumlebens wird durch die Güte und Gerechtigkeit des Traumhandelns zur Ewigkeit. Wenn Freud 250 Jahre später die Region des Unbewußten als die acheronta deutet, könnte darin vor dem Hintergrund dieser Ausführungen zu ,La vida es sueno' auch eine implizite Deutung des Prozesses der Neuzeit enthalten sein. Segismundos Traumleben und Traumpolitik sind nicht exemplarisch geworden; deshalb kann Freud die via regia zum Traumleben als einen Weg in die Hölle konzipieren.

Unquiet Slumbers'. Traum und Politik bei Shakespeare Andreas Höfele

I In die politische Welt von Shakespeares Römerdramen und englischen Historien finden Träume Eingang als Bestandteil überlieferter Geschichte und Geschichten, aus denen die Stücke ihren Stoff beziehen. Wie diese Stücke als ganze stehen auch die in ihnen vorkommenden Träume in einer historischen Doppelperspektive, einerseits an der dargestellten Vergangenheit ausgerichtet, andererseits an einer Gegenwart, die sich in der Repräsentation des Vergangenen selbst den Spiegel vorhält. Die Träume bringen die Deutungsmuster ihrer antiken oder mittelalterlichen Herkunftskontexte mit; das Drama verrechnet diese mit den Wissensordnungen der Frühen Neuzeit. Bemerkenswert dabei ist, daß Shakespeares Träume nicht allein ihren historiographischen Quellentexten, sondern auch den Wissensordnungen der eigenen Zeit gegenüber einen beträchtlichen Gestaltungsspielraum erkennen lassen. Die im gelehrten Diskurs des 16./17. Jahrhunderts vorgenommenen Distinktionen einer .wissenschaftlichen' Traumtypologie werden in ihnen häufig gerade nicht bestätigt, sondern außer Kraft gesetzt. Die Konsequenz, mit der dies geschieht, gestattet es, bei Shakespeare von einem anderen, den gelehrten Diskurs unterlaufenden Traumwissen zu sprechen, auch wenn dieses Wissen nicht argumentativ expliziert, sondern quasi-empirisch durch die Evidenz (oder Pseudo-Evidenz) des dramatischen Realitätseffekts erzeugt wird. Grundsätzlich gilt, was Marjorie Garber in einer wegweisenden Studie bereits Mitte der siebziger Jahre feststellte: „Shakespearean dreams are always ,true'"'. Sie können es beispielsweise sogar dann sein, wenn sie erwiesenermaßen auf Lug und Trug beruhen wie etwa jene prophecies and dreams {Richard III, 1.1.54), die

Marjorie B. Garber: Dream in Shakespeare. From Metaphor to Metamorphosis. New Haven, London 1974. S. 3.

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Richard Gloucester, nachmals König Richard III. verbreiten läßt, um seinen Bruder Clarence bei König Edward anzuschwärzen: This day should Clarence closely be mewed up About a prophecy which says that G' Of Edward's heirs the murderer shall be. ( 1 . 1 . 3 8 - 4 0 ) George ist der Taufname des Herzogs von Clarence, und dieser trachtet den Thronerben keineswegs nach dem Leben. Die trügerische Prophezeiung wird aber trotzdem eintreffen, denn mit einem G beginnt schließlich auch Gloucester.2 Die vorausweisende Funktion der Träume (selbst dieses falschen) macht sie zu einem besonders effektvollen Instrument in Shakespeares Dramaturgie. Diese wartet nur in den seltensten Fällen mit überraschenden Katastrophen auf, vielmehr erzeugt sie Spannung fast ausnahmslos dadurch, daß sie den Zuschauer das Unglück der Akteure, von dem diese oft selbst noch nichts ahnen, kommen sehen läßt. Um noch einmal Garber mit dem bislang unvollständig wiedergegebenen Satz zu zitieren: „Shakespearean dreams are always ,true', when properly interpreted" (ebd.). Falsch oder sinn- und bedeutungslos sind nicht die Träume; falsch ist immer nur ihre Interpretation oder Mißachtung. Exemplarisch dafür ist der Fall Hastings', dem der warnende Traum Lord Stanleys, der diesem zur Flucht vor Richard Gloucester rät, berichtet wird: Tell him his fears are shallow, without instance. Andfor his dreams, I wonder he's so simple, To trust the mock'ry of unquiet slumbers. (3.2. 22-24) Mehr als dieser Reaktion bedarf es nicht, um Hastings als unrettbar verloren zu kennzeichnen. Eine wichtige Funktion solch warnender Träume ist es, die Fehlbarkeit menschlichen Urteilens, eine im Untergang der Mächtigen wirksame Fatalität vor Augen zu führen, wie sie als Leitidee die populären Fallbeispiele von Boccaccios ,De casibus virorum illustrium' bis zu dessen englischen Ablegern Lydgate und 2

In The Mirror for Magistrates (1559) ist diese dramatische Ironie noch nicht vermerkt, wohl aber die gefährliche Beliebigkeit einer Prophezeiung, die sich an einem einzigen Buchstaben festmacht: "George, Duke of Clarence". In: William Baldwin: The Mirror for Magistrates. Hg. von Lily Β. Campbell (1938). Reprint New York 1960. S. 227, Zeilen 181-190: A prophecy was found, which sayd a G, Of Edwardes children should destruccion be. Me to be G, because my name was George My brother thought, and therfore did me hate. But woe be to the wicked heades that forge Such doubtful dreames to brede unkinde debate: For God, a gleve, a gibet, grate or gate, A Grave, a Griffeth or a Gregory, As well as George are written with a G. Such doubtfull riddles are no prophecies.

Unquiet Slumbers: Traum und Politik bei Shakespeare

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Baldwin 3 grundiert. Die Wahrheit des prophetischen Warntraums hängt davon ab, daß der, dem sie gilt, sie nicht erkennt.

II Nirgends wird dies deutlicher als beim Fall Caesars, wo Shakespeare nicht nur die überlieferten Prodigien in einer Nacht- und Gewitterszene (1.3) effektvoll zur Geltung bringt, sondern um den Todestraum der Calpurnia einen ersten Wendepunkt der Tragödie inszeniert. Die dramaturgische Grundlinie der Szene ist in Shakespeares Quelle, Sir Thomas Norths Plutarch-Übersetzung 4 , vorgegeben: der rettende Ausweg, der sich dadurch eröffnet, daß Caesar dem Drängen Calpurnias nachgibt und beschließt, nicht in den Senat zu gehen; das Erscheinen des Verschwörers Decius Brutus, der ihn überredet, es doch zu tun. Bei Plutarch wie bei Shakespeare versteht Decius es geschickt, den Diktator bei seiner Eitelkeit zu packen. 5 Bleibt Caesar zu Hause, riskiert er, sich als Feigling und Pantoffelheld zu blamieren: it were a mock Apt to be rendered for someone to say 'Break up the Senate till another time, When Caesar's wife shall meet with better dreams'. (2.2.96-99) Der Traum Calpurnias ist bei Shakespeare signifikant verändert und erweitert. Nach Plutarch wird er in zwei Versionen bezeugt: she dreamed, lautet die eine, that Caesar was slain, and that she had him in her arms.6 Die andere, kaum weniger knapp, berichtet, Calpurnia habe a certain pinnacle, also eine Fiale, ein Türmchen oder einen Dachaufsatz, den der Senat Caesar zu Ehren an dessen Haus angebracht hatte, im Traum abbrechen sehen, and that she thought she lamented and wept for it.1

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Lydgate's fall of princes. Hg. von Henry von Bergen. London 1967; W. Baldwin (Anm. 2). Shakespeare's Plutarch. The lives of Julius Caesar, Brutus, Marcus Antonius and Coriolanus in the transl. of Sir Thomas North (1579). Hg. von Terence J. B. Spencer. London 1964. Und er rühmt sich dieser Fähigkeit bereits in 2.1.202-210: If he be so resolved I can ο 'ersway him; for he loves to hear That unicorns may be betrayed with trees, And bears with glasses, elephants with holes, Lions with toils, and men with flatterers; He says he does, being then most flattered. Let me work, For I can give his humour the true bent. And I will bring him to the Capitol. T. J. B. Spencer (Anm. 4) S. 83. T. J. B. Spencer (Anm. 4) S. 83.

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Shakespeares Version von Calpurnias Traum - nicht ihr selbst, sondern Caesar in den Mund gelegt - ist ungleich plastischer, lebhafter imaginiert und engstens mit dem bevorstehenden tatsächlichen Hergang der Ermordung verbunden: Calpurnia here, my wife, stays me at home. She dreamt tonight she saw my statue, Which like a fountain with an hundred spouts Did run pure blood; and many lusty Romans Came smiling and did bathe their hands in it And these does she apply for warnings and portents Of evils imminent. (2.2.75-81) Die Statue als Todessymbol und Hinweis auf den Tatort an Pompey 's statue, das aus vielen Öffnungen strömende Blut und die Hände, die darin gebadet werden, sind zum einen Vorwegnahme des Mordes und des sich daran anschließenden Waschrituals der Verschwörer, zum anderen aber auch Verweis auf das bevorstehende Blutbad des Bürgerkriegs. Schließlich das Kommen der lächelnden Römer - es wird nur wenige Augenblicke später zu besichtigen sein, beim Auftritt der Verschwörer, die Caesar zum Senat geleiten wollen. Der Traum Calpurnias gewinnt bei Shakespeare eine dramatische Qualität, die ihm in den beiden Versionen Plutarchs völlig abgeht. Er bestätigt die „wunderbare Kraft der Seele", von der Joseph Addison 1717 im Spectator schreibt, daß sie in der Lage sei, sich im Traum ihr eigenes Theater zu erschaffen und dabei selbst Bühne, Schauspieler und Zuschauer zu sein.8 Eine nicht minder bedeutsame Erweiterung gegenüber Plutarch stellt die Traumdeutung dar, die bei Shakespeare dem Traumbericht folgt. Es ist Decius, der mit perfidem hermeneutischem Geschick den Warntraum in ein glückliches Omen verkehrt: This dream is all amiss interpreted It was a vision fair and fortunate. Your statue spouting blood in many pipes, In which so many Romans bathed, Signifies that from you great Rome shall suck

What I would here remark is that wonderful Power in the Soul, of producing her own Company on these Occassions (!). She converses with numberless Beings of her own Creation, and is transported into ten thousands Scenes of her own raising. She is herself the Theatre, the Actors, and the Beholder. This puts me in mind of a Saying which I am infinitely pleased with, and which Plutarch ascribes to Heraclitus. That all Men whilst they are awake are in one common World; but that each of them, when he is asleep, is in a World of his own. The waking Man is conversant with the World of Nature, when he sleeps he retires to a private World that is particular to himself. There seems something in this Consideration that intimates to us a Natural Grandeur and Perfection in the Soul, which is rather to be admired than explained. In: The Spectator. No. 487. September 18, 1712. Reprinted: The Spectator. Edited with an introduction and notes by Donald F. Bond. Bd. 4. Oxford 1965. S. 229.

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Reviving blood, and that great men shall press For tinctures, stains, relics and cognizance. This by Calpurnia's dream is signified. CAESAR And this way you have well expounded it. (2.2.83-91) Zwei Szenen zuvor noch hatte Cicero den von den Zeichen und Wundem der Nacht und der Spekulation über ihre prophetische Bedeutung wie berauschten Casca nüchtern zurechtgewiesen: But men may construe things after their fashion, Clean from the purpose of the things themselves. (1.3.34f.) Ciceros construe (dt. auslegen, auffassen) aufgreifend, hat Marjorie Garber Julius Caesar als „tragedy of misconstruction" charakterisiert, und sie schreibt: "More and more it becomes evident that signs and dreams are [...] incapable of effect without interpretation. By structuring his play around them, Shakespeare invites us to scrutinize the men who read the signs - to witness the tragedy of misconstruction." 9 Decius, der den Traum deutet und damit unter seine Kontrolle bringt, wird - auch darauf hat Garber hingewiesen - von der unbeabsichtigten Wahrheit seiner Deutung eingeholt. Denn tatsächlich wird Mark Anton in seiner Forumsrede den blutigen Leichnam des Ermordeten dazu benutzen, Caesar in den Stand eines Heiligen oder Halbgottes zu erheben: "Exhibiting the bloody wounds to win the hearts of the crowd. And at the play's end Antony shares hegemony [...] with the novus homo Octavius, literal descendant of Caesar's ,blood'." 10

Ill Wenn Calpurnias Traum sich bewahrheitet, wie immer man ihn auch wenden mag, so könnte daraus der Schluß gezogen werden, Shakespeares frühneuzeitliche Dramatik bescheinige dem mantischen Traum ungebrochen jene wahrsagerische Autorität, die er aus der Antike - genauer aus der platonischen Tradition antiker Traumdeutung - mitbringt; und das Beispiel Hastings' aus ,Richard III' weise in die gleiche Richtung, nämlich auf einen eindeutig transzendenten Ursprung, sei er nun als Gott oder Fatum/Fortuna definiert." Dieser Hypothese widerspricht aber gerade - auch wenn man auf den ersten Blick vielleicht eher das Gegenteil erwarten würde - die Tatsache, daß Träume sich bei Shakespeare prinzipiell bewahr-

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M. Garber (Anm. 1) S. 52. M. Garber (Anm. 1)S. 56. Die mittelalterlichen de-casibus-, tragedies' nehmen hier keine scharfe Trennung vor.

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heiten. Spätestens seit Artemidor 1 2 unterscheidet die abendländische Traumkunde zwischen mantisch-divinatorischen und trivial-natürlichen Träumen, also zwischen solchen, bei denen die Seele zum „Gefäß für eine göttliche Botschaft" 1 3 wird, und solchen, in denen sie gleichsam bloß wiederkäut, was ihr im Wachzustand widerfahren ist. Der Traumglaube der platonischen Tradition und die Traumskepsis der aristotelisch-materialistischen 14 werden auf diese W e i s e unterm Dach einer Typologie vereint, die zwischen ihnen nicht mehr en/scheiden, sondern nur noch wnierscheiden will. In seinem Kommentar zu Ciceros ,Somnium Scipionis' beispielsweise, der im Mittelalter in hohem Ansehen stand, 15 unterscheidet Macrobius fünf Klassen von Träumen, v o n denen z w e i auf rein natürliche Ursachen zurückgehen (insomnium, visum) und drei sich aus übersinnlichen Quellen speisen (somnium, visio, oraculum). Es versteht sich, daß letztere die bedeutenden, die wichtigen sind, sozusagen die Königsklasse unter den Träumen. Nur sie gewähren - direkt oder indirekt-verschlüsselt - Zugang zu höherer Wahrheit und Einsicht, insbesondere zum Wissen über die Zukunft. Für die natürlichen Träume hingegen gilt, was Thomas K y d in einer Blankverszeile seines Dramas ,Cornelia' bündig auf die Formel bringt: We dream by night what we by day have

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thought.16

Artemidorus Daldianus: Das Traumbuch. Hg. und übers, von Karl von Brackertz. Zürich u.a. 1979. Peter-Andre Alt: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit. München 2002. S. 42. Zur Darstellung dieser beiden Traditionen vgl. Gregor Weber: Kaiser Träume und Visionen in Prinzipat und Spätantike. In: Historische Zeitschrift. 270. 2000. S. 99-117; Ders.: Kaiser, Träume und Visionen in Prinzipat und Spätantike. Stuttgart 2000; Ders.: Herrscher und Traum in hellenistischer Zeit. In: Archiv für Kulturgeschichte. 81/1. 1999. S. 1-33; Traum und Träumen. Inhalt, Darstellung, Funktionen einer Lebenserfahrung in Mittelalter und Renaissance. Hg. von Rudolf Hiestand. Düsseldorf 1994. Ambrosius Theodosius Macrobius: Commentary on the dream of Scipio. Hg. und übers, von William Η. Stahl. New York 1966. In der englischen Philologie ist die Bedeutung Macrobius' vornehmlich im Hinblick auf Chaucers Traumerzählungen diskutiert worden, z.B. Walter C. Curry: Chaucer and the Medieval Sciences (1926). New York 1960; John Livingston Lowes: Geoffrey Chaucer and the Development of his Genius. Boston, New York 1934; Dana M. Symons: Chaucerian Dream Visions and Complaints. Kalamazoo, Mich. 2004; Josephine Bloomfield: 'The Doctrine of These Olde Wyse': Commentary on the Commentary Tradition in Chaucer's Dream Visions. In: Essays in Medieval Studies. 20. 2003. S. 125-33; Ebbe Klitgard: Chaucer as Performer. Narrative Strategies in the Dream Visions. In: Revista Canaria de Estudios Ingleses. 47. 2003. S. 101-13; Ebbe Klitgard: 'Dreme He Barefot, Dreme He Shod': Chaucer as a Performer of Dream Visions. In: English Studies. A Journal of English Language and Literature. 81/6. 2000. S. 506-12; Michael St. John: Chaucer's Dream Visions. Courtliness and Individual Identity. Aldershot 2000. Thomas Kyd: Cornelia, 3.1.61-66: Corn. Myfearefull dreames doe my despairs redouble. Chor. Why suffer you vayne dreames your heade to trouble? Corn. Who is not troubled with strange visions?

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In den englischen Melancholietraktaten der Frühen Neuzeit 17 steht, wie nicht anders zu erwarten, dieser Nexus im Vordergrund - der Traum ein psychophysiologisches Phänomen im Erklärungssystem der galenischen Säftelehre. 18 Wenn nun bei Shakespeare Träume durchgängig eine wahrsagerische Potenz haben, so könnte man versucht sein, dies ebenfalls wieder als Zeichen dafür zu nehmen, daß der Dramatiker in seiner Traumauffassung, noch ganz einem magisch-religiösen Denken verpflichtet, hinter die Anfänge neuzeitlicher Weltentzauberung zurückgreift. Denn es scheint ja so, als ließe er die Klasse der natürlichen Träume, die im medizinischen Diskurs der Frühen Neuzeit in den Vordergrund treten, schlechterdings ausfallen. Tatsächlich verhält es sich aber vielmehr so, daß bei Shakespeare nicht etwa die .natürlichen' Traumursachen, wohl aber die seit der Antike eingezogenen Trennwände zwischen natürlichen und divinatorischen Träumen eliminiert sind. Die säuberliche Unterscheidung, auf die der zeitgenössische gelehrte Diskurs so großen Wert legt, läßt sich bei Shakespeares Träumen gerade nicht nachweisen. Ihre prophetische Wahrheit wird psychologisch beglaubigt; sie kommt nicht mehr - jedenfalls nicht mehr allein - von ferne und von außen, sondern ist gleich ursprünglich im Subjekt der Träumenden verankert. Das Divinatorische tritt nicht als abtrennbares überindividuell Allgemeines auf. Die Seele ist nicht mehr nur allein ,Gefäß' bedrohlicher Traumgesichte, die sie ängstigen. Es ist vielmehr genauso auch die geängstigte Seele, die diese Traumgesichte hervorbringt, aus deren imaginativer Energie sie sich speisen. Bei Calpurnias Traum deutet sich diese Verschiebung einmal in der intensivierenden Verlebendigung an, die das in der Quelle vorgefundene Motiv bei Shakespeare erfahrt, zum andern wird sie durch den Dialog zwischen Caesar und Calpurnia am Szenenbeginn angebahnt - eine Passage, in der Calpurnia die Schreckenszeichen der vergangenen Nacht resümiert: A lioness hath whelped in the streets, And graves have yawned and yielded up their dead. Fierce fiery warriors fight upon the clouds,

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Chor. That of our spirit are but illusions. Corn. God graunt these dreames to good effect bee brought. Chor. We dreame by night what we by day haue thought. The Works of Thomas Kyd. Hg. von F. S. Boas. Oxford 1901. Vgl. Robert Burton: The phantasy alone is free, and his commander, reason: as appears by those imaginary dreams, which are of divers kinds, natural, divine, demoniacal, etc., which vary according to humours, diet, actions, objects, etc., of which Artemidorus, Cardanus, and Sambucus, with their several interpretators, have written great volumes. In: The Anatomy of Melancholy (1621). Introduction by Holbrook Jackson (1932). London, New York 1961. S. 160. Vgl. etwa Timothy Brights Beschreibung und Erklärung des Nachtmahrs: Timothy Bright: A Treatise of Melancholie. London, 1586. Facsimile repr. Amsterdam, New York 1969 (The English Experience no. 212). S. 131.

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In ranks and squadrons and right form of war, Which drizzled blood upon the Capitol. The noise of battle hurtled in the air. Horse do neigh, and dying men did groan, And ghosts did shriek and squeal about the streets. Ο Caesar, these things are beyond all use, And I do fear them. (2.2.17-26) Diese Prodigien gehen weit über das hinaus, was der Zuschauer zwei Szenen zuvor bei der nächtlichen Begegnung zwischen Casca und Cicero bzw. Cassius erfahren hat. Der Eindruck hier ist der einer im Sprechakt generierten apokalyptischen Schreckensvision, die - vergleichbar den Monologen Macbeths - weniger auf irgendeine objektiv gegebene äußere Realität als auf die hellseherisch überproduktive Imagination der Sprecherin referiert. Gerade weil Calpurnia hier so eindrücklich als wortmächtige Urheberin ihrer Vision in den Blick rückt, kann die Erzählung ihres Traumes Caesar überlassen werden. Durch seine distanzierende, demonstrativ unbeeindruckte Wiedergabe (Calpurnia here, my wife, ...) wird der Traum sogar eher noch enger mit ihrer Person und seelischen Verfassung verbunden, wird er noch mehr zu Calpurnias Traum. Zugleich ist damit, daß nicht sie selbst ihren Traum kundgibt, sondern daß von anderen über ihn geredet wird, eine zweite ,Erdung', wie ich es einmal nennen möchte, des divinatorischen Traums eingeleitet. Was der Traum, namentlich der politische Traum, besagt, ist Ergebnis von Auslegung. Bedeutung wird kommunikativ erzeugt, von einer ,Interpretationsgemeinschaft', die in diesem Fall aus zwei Mitgliedern besteht - Caesar und Decius - , Calpurnia hingegen ausschließt: CAESAR How foolish do your fears seem now, Calpurnia! (2.2.105)

IV Auch den Traum, der Richard III. in der Nacht vor der Entscheidungsschlacht von Bosworth heimsucht, hat Shakespeare in seinen Quellen vorgefunden. Auch ihn baut er erheblich aus, und wieder findet dabei gegenüber der Version der Chronisten eine Vermischung und Mehrfachkodierung statt, die die Typologien der zeitgenössischen Traumlehre durchkreuzt. The fame went, berichtet Holinshed, that he had the same night a dreadfull and terrible dream: for it seemed to him being asleepe, that he did see diuerse images like terrible diuels, which pulled and haled him, not suffering him to take anie quiet or rest. The which strange vision not so suddenlie strake his heart with a sudden feare, but it stuffed his head and troubled his mind with manie busie and dreadfull imaginations. For

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incontinent after, his heart being almost damped, he prognosticated before the doubtfull chance of the battell to come.19 Richards Traum, so wie er hier dargestellt wird, ist nach der Taxonomie des Macrobius als insomnium zu klassifizieren, als natürlicher' Alptraum ohne divinatorischen Gehalt. Prognostication findet erst statt, als er vorüber ist. Interessanterweise fühlt der Chronist sich anschließend berufen, genauer zu bestimmen, um was es sich bei Richards nächtlicher Vision gehandelt hat. But I think, heißt es weiter, this was no dreame, but a punction and pricke of his sinfull conscience.20 Ohne die Komplexität des frühneuzeitlichen co/wdence-Begriffs unterschätzen zu wollen,21 scheint mir die Opposition dreame - conscience hier doch so klar markiert, daß traumtypologisch kein Zweifel bleiben kann: Was Richard sieht, kommt aus ihm selbst; den Schurken holt kurz vor Torschluß noch sein schlechtes Gewissen ein. Bei Shakespeare erleben wir diesen Traum auf offener Bühne. Er wird nicht berichtet, sondern vollzieht sich vor unseren Augen, wir träumen sozusagen mit. Was wir zu sehen bekommen, sind keine terrible diuels, es ist eine lange, feierliche Prozession von Richards Opfern, die mit den immergleichen Worten despair and die seinen Untergang herbeiwünschen, während sie seinem Gegner Richmond den Sieg verheißen: Awake, and win the day! (5.598) Auch diese Vision wird - und zwar von Richard selbst - als prick of conscience identifiziert: Ο coward conscience, how dost thou afflict me? (5.5.133)22 Aber Holinsheds Distinktion (no dreame, but a [...] pricke of [...'] conscience) ist ihr dennoch unangemessen. Das feierliche Ritual, insbesondere aber die Tatsache, daß dieselben Gestalten simultan in zwei Träumen auftreten, verbietet es, diesen Traum im Bereich privater Seelenökonomie zu verorten. Die Geister der Toten kommen nicht nur bühnentopographisch sichtbar von draußen. Sie sind Boten einer höheren Autorität; in ihnen scheint nachgerade das in den Rosenkriegen ausgeblutete England selbst Gestalt anzunehmen, für das die Vorsehung mit dem

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Holinshed's Chronicle. As Used in Shakespeare's Plays. Hg. von Allardyce, Josephine Nicoll. London, New York 1927. Holinshed folgt wörtlich der Darstellung Edward Halls (The Union of the two Noble and Illustre Families of Lancaster and York. 1548. In: Geoffrey Bullough: Narrative and Dramatic Sources of Shakespeare. Band 3. London, New York 1960. S. 291. A. Nicoll (Anm. 19) S. 169. Vgl. Μ. Garber (Anm. 1) S. 19, sowie Robert K. Presson: Two Types of Dreams in the Elizabethan Drama, and their Heritage. Somnium Animale and the Prick-of-Conscience. In: Studies in English Literature. 7. 1967. S. 239-256, bes. S. 2 4 9 252. Hierzu u.a. Brian Cummings: "The Conscience of Thomas More" (forthcoming). Siehe hierzu auch 5.5.147: My conscience hath a thousand several tongues.

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verheißenen Sieg Richmonds ein neues Kapitel aufschlägt.23 Aber was sich einerseits als Höchstmaß an Stilisiertheit und - im geradezu schematischen Ablauf des Doppeltraums - Entpsychologisierung ausnimmt, zeitigt andererseits ein Höchstmaß dessen, was dieses Stück an Psychologisierung zu bieten hat, nämlich die erste und einzige Identitätskrise des Schurken, seinen weitestgehenden (wenn auch im Vergleich mit den späteren Tragödien eher noch grobschnittigen) Vorstoß zu so etwas wie Interiorität. What do Ifear? Myself? There's none else by. Richard loves Richard; that is, I am I. Is there a murderer here? no. Yes, I am. Then fly! What, from myself? (5.5.136-139) Einer der Totengeister in Richards Traum ist der Bruder Clarence, dem im ersten Akt kurz vor seiner Ermordung ebenfalls ein Geist im Traum erschienen war; der Geist des Earl of Warwick, dessen Tod er verschuldet hat. Auch Clarences Traum, für den es in Shakespeares Quellen keine Vorlage gibt, ist beides: divinatorisch und ,natürlich'. Wie Aristoteles, Lukrez und am entschiedensten Cicero die Träume generell, so haben moderne Interpreten diesen speziellen Traum ganz auf die Seite der ,natürlich'-psychologischen Erklärung zu ziehen versucht, und das ist hier, bei Clarence, so wenig abwegig wie dort, bei den antiken Traumskeptikern. Paßgenau fugt sich beispielsweise die Rolle Richards beim geträumten Ertrinkungstod seines Bruders in die Freud'sehe Distinktion von manifestem und latentem Trauminhalt.24 Der Traum zeigt und verbirgt frappierend treffsicher, was Clarence intuitiv schon ,weiß', ohne sich dieses Wissen einzugestehen, daß nämlich Richard es ist, der ihm nach dem Leben trachtet: Methoughts that I had broken from the Tower, And was embarked to cross to Burgundy, And in my company my brother Gloucester, Who from my cabin tempted me to walk Upon the hatches;

[...] As we paced along Upon the giddy footing of the hatches, Methought that Gloucester stumbled, and in falling Struck me - that sought to stay him - overboard

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,Richard III' dürfte von allen Historien Shakespeares einer unäquivoken Affirmation des Tudor-Mythos am nächsten kommen, insofern der, wenngleich dramatisch bläßliche, Sieger Richmond am Ende als tadellose Lichtgestalt präsentiert wird. Hildegard Hammerschmidt-Hummel widmet dem Versuch, Shakespeares Träume in den Taxonomieapparat diverser moderner Traumtheorien einzupassen, ein ganzes Buch: Hildegard Hammerschmidt-Hummel: Die Traumtheorien des 20. Jahrhunderts und die Träume der Figuren Shakespeares. Heidelberg 1992.

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Into the tumbling billows of the main. Ο Lord! Methought what pain it was to drown. (1.4.9-13 [... ] 16-21) Die Plausibilität der skizzierten psychologischen Lesart soll keineswegs in Frage gestellt werden. Problematisch, weil a-historisch, wäre es nur, sie als alleingültig verabsolutieren zu wollen, zu behaupten, der Traum enthülle einzig die Wahrheit einer furcht- und schuldbeladenen Seele, nicht aber auch - im Sinne einer höheren Weissagung - die Zukunft. 25 Worauf meine Lektüre der Träume in Julius Caesar und Richard III abzielt, ist - noch einmal zusammengefaßt - dies: In allen hier besprochenen Beispielen wird eine im gelehrten Diskurs der Zeit strikt eingehaltene Unterscheidung verwischt - die Grenze zwischen genuin divinatorischen Träumen göttlichen Ursprungs und natürlichen' Träumen, in denen bloß die psycho-physische Befindlichkeit des Träumers sich ein Ventil verschafft. In der Distinktion, die Shakespeare unterläuft, ist ein klares hierarchisches Gefalle angelegt. Der divinatorische Traum ist der ungleich wertvollere; seine Zeichen und die mit ihnen bezeichneten Bedeutungen sind mit der Autorität absoluter Wahrheit ausgestattet. Hingegen ist der ,natürliche' Traum - ganz anders als im Zeitalter der Psychoanalyse, wo er bei Freud als „Via Regia zur Kenntnis des Unbewußten" 26 in höchstem Ansehen steht - von klar minderem Rang. Wenn nun Shakespeare hier eine Grenze aufhebt, so nivelliert er auch das durch sie gestützte Wertgefälle. Die Autorisierung der im Traum enthüllten Wahrheit wird doppeldeutig wie ihr Ursprung. Und damit, so ließe sich dieser Gedanke nun in einem letzten Schritt fortführen, bezeugt und erzeugt der Traum auch eine Ambiguität der Autorisierung von Herrschaft. Sobald der providentielle Wahrtraum nicht mehr eindeutig göttlicher Quelle entspringt, erfaßt diese Uneindeutigkeit auch den Legitimationsgrund der monarchischen Herrschaft, deren Geschicke der Traum offenbart. In dem Maße, in dem die Beimischung eines psychologischen Moments die transzendental fundierte Autorität des Traumes relativiert, erfährt auch die Herrscherautorität selbst eine Verdiesseitigung. Sie rückt in den Bezirk menschlicher Zuständigkeit, verfallt dem Zugriff irdischen Schaltens und Waltens. Wenn die Forschung des letzten Jahrzehnts, den konservativen Idealismus Tillyards 27 , aber ebenso auch 25

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Daß der geträumte Ertrinkungstod Clarences tatsächliche Ertränkung in the malmsey butt within (1.4.258) vorwegnimmt, läßt sich schwerlich ,psychologisch' deuten, es sei denn man gäbe der Psyche gleichsam durch die Hintertür all jene prophetischen Kräfte zurück, die man dem Göttlichen zuvor entzogen hat. Im übrigen ist es angebracht, sich zu vergegenwärtigen, daß Clarences Traum nicht nur sub specie modernitatis, sondern auch in der Nachfolge mittelalterlicher Traumerzählungen gesehen werden kann, speziell, wie R. K. Presson (Anm. 20) S. 254, jener „travel-to-hell literature in vision form", deren prominentestes Beispiel Dante liefert. Sigmund Freud: Über Psychoanalyse. Gesammelte Werke. London 1940-1952. Bd. 8. S. 32. Eustace Μ. W. Tillyard: The Elizabethan World Picture. London 1944, und Ders.: Shakespeare's History Plays. London 1944.

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manche Einseitigkeit seiner radikal materialistischen Kritiker der achtziger Jahre28 überwindend, in Shakespeares Geschichtsdramen eine Position ausmacht, die sich in ungelöster Spannung zwischen der politischen Religion eines ,Tudor Mythos' und der Realpolitik eines entsakralisierten Humanismus machiavellistischer Prägung befindet,29 so wären nach der hier vorgeschlagenen Lesart die Träume bei Shakespeare exemplarische Kristallisationen dieser Spannung. Ihnen ist genau jene Unentschiedenheit eingeschrieben, die von den Ordnungen mittelalterlichen Denkens nicht mehr und von deren neuzeitlichen Gegenentwürfen noch nicht gedeckt ist.

V Vom Traum im Theater zum Theater als Traum ist es in Shakespeares hochgradig selbstreflexiver Dramaturgie nicht weit. Als Richard III. am Morgen vor der Entscheidungsschlacht von seinem nächtlichen Alptraum berichtet, ermahnt ihn ein Gefolgsmann: be not afraid of shadows', worauf Richard erwidert: Shadows tonight Have struck more terror to the heart of Richard Than can the substance of ten thousand soldiers, (5.5. 169-172) Shadows ist die bei Shakespeare gängige Bezeichnung nicht nur für Traum, sondern auch für Theater, die knappste Chiffre, in die der im Denken der Zeit geläufige Verweiszusammenhang zwischen Bühne, Welt und Traum sich fassen läßt.30 The best of this kind, so das Urteil des Athenerherzogs Theseus im Sommernachtstraum über die Schauspiele, are but shadows (MND, 5.1.208), und Puck beschließt das Stück mit den Worten: 28

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Siehe z.B. Jonathan Dollimore: Radical Tragedy. Religion, ideology and power in the drama of Shakespeare and his contemporaries. Brighton 1984. Prägnant beschrieben ist diese Position bei Jean E. Howard und Phyllis Rackin: Engendering a Nation. A feminist account of Shakespeare's English histories. London, New York 1997. S. 11-19. Der berühmteste Beleg dieses Zusammenhangs bei Shakespeare findet sich in der Rede Prosperos in ,The Tempest': Our revels now are ended. These our actors, As Iforetold you, were all spirits, and Are melted into air, into thin air; And like the baseless fabric of this vision, The cloud-capped towers, the gorgeous palaces, The solemn temples, the great globe itself: Yea, all which it inherit, shall dissolve; And, like this insubstantial pageant faded, Leave not a rack behind. We are such stuff As dreams are made on, and our little life Is rounded with a sleep. (4.1.148-158)

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If we shadows have offended, Think but this, and all is mended: That you have but slumbered here, While these visions did appear; And this weak and idle theme No more yielding but a dream. (Epilogue, 1-6) Was auf der Bühne auch geschehen mag, es ist nur Traum und darum nichtig weak and idle. Allerdings trifft dies, wie wir gesehen haben, auf die Träume, von denen die Akteure in Shakespeares Stücken heimgesucht werden, gerade nicht zu. Wann immer eine Person bei Shakespeare Träume als Schäume abtut, können wir damit rechnen, daß sie sich irrt. Auf diesem Hintergrund nimmt sich die ostentative Bescheidenheit Pucks doppelbödig aus - im Topos der Verharmlosung eine verkappte Geste der Selbstermächtigung. Gerade in dem von Puck so betonten oder überbetonten - Mangel an Substanz liegt ja - siehe Richard - die beunruhigende Wirksamkeit des Traumes begründet. Nimmt man also die Träume in den Stücken zum Maßstab, so wäre durch die Identifikation des Stücks als Traum nicht etwa Wirkungslosigkeit, sondern ein analoges Wirkungspotential des Theaters reklamiert. Auch Shakespeares Könige sind bloß shadows. Das Theater überantwortet sie den imaginary forces31 - der Einbildungskraft und Verfügungsgewalt - eines öffentlich ausagierten Traumes, der sich in der Kollusion zwischen common players und einem Publikum von commoners (gemeinem Volk) vollzieht. In diesem 32

Traum wird der König zum Sujet, zum subject seiner subjects. Denn im Kommerztheater des frühneuzeitlichen London ist der Kunde König, die Hoheit auf der Bühne eine Majestät von Publikums Gnaden. Und in diesem Publikum gewinnt jenes vielköpfige Monstrum, jene Hydra of diversly enclined spectatours Gestalt, auf die sich das schärfste Mißtrauen des königlichen Autors und Akteurs James I. richtet. For kings, schreibt James in seiner absolutistischen Programmschrift Basilikon Doron, are as it were set [...] upon a publike stage, in the sight of all the people.33 Die Zuschauer aber sind diversly enclined, verschiedenen Sin31

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Or may we cram Within this wooden Ο the very casques That did affright the air at Agincourt? Ο pardon: since a crooked figure may Attest in little place a million, And let us, ciphers to this great account, On your imaginary forces work. Suppose within the girdle of these walls Are now confined two mighty monarchies, Whose high upreared and abutting fronts The perilous narrow ocean parts asunder. (Henry V, Prologue, 12-22.) Paul Yachnin: The Powerless Theatre. In: English Literary Renaissance. 21. 1991. S. 49-74. The Political Works of James I. Ed. with an introduction by Charles Howard Mcllwain. Harvard 1918. S. 5.

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nes, ihr Eigensinn bleibt letztlich unberechenbar. Wie das Schauspiel der Majestät - dasjenige der echten und dasjenige der gespielten oder geträumten - in ihren Köpfen ankommt, entzieht sich staatlicher Exekutive. In mindestens einem Fall jedoch nicht unserer Kenntnis. Einer aus der vielköpfigen Menge nämlich hat zu Protokoll gegeben, welche Freiheit sich die träumende Imagination eines Untertans mit der königlichen Hoheit erlaubte: "I dreamt that I was with the Queen, and that she was a little elderly woman in a coarse white petticoat all unready; and she and I walked up and down through lanes and closes, talking and reasoning of many matters. At last we came over a great close where were many people, and there were two men at hard words. One of them was a weaver, a tall man with a reddish beard, distract of his wits. She talked to him and he spoke very merrily unto her, and at last did take her and kiss her. So I took her by the arm and put her away; and told her the fellow was frantic. And so we went from him and I led her by the arm still, and then we went through a dirty lane. She had a long white smock, very clean and fair, and it trailed in the dirt and her coat behind. I took her coat and did carry it up a good way, and then it hung too low before. I told her she should do me a favour to let me wait on her, and she said I should. Then said I, Ί mean to wait upon you and not under you, that I might make this belly a little bigger to carry up this smock and coats out of the dirt.' And so we talked merrily and then she began to lean upon me, when we were past the dirt and to be very familiar with me, and methought she began to love me. And when we were alone, out of sight, methought she would have kissed me."34 Diesen Traum notiert der Astrologe und Arzt Simon Forman, der nebenbei auch ein recht eifriger Theaterbesucher war,35 am 23. Januar 1597 in sein Tagebuch. Er ähnelt, wie Louis Montrose Mitte der achtziger Jahre in einer sehr bekannt gewordenen Interpretation gezeigt hat,36 in frappierender Weise jener nächtlichen Vision, auf die sich der erwachende Athener Handwerksmann Bottom in Shakespeares Sommernachtstraum keinen anderen Reim zu machen weiß, als daß er sie zum Traum erklärt: It shall be called 'Bottom's Dreambecause it hath no bottom. (4.1,208f.) Wie Zettels Traum, in dem der zum Esel mutierte Weber mit der Feenkönigin Titania intim werden darf, kreist auch der Traum Simon Formans um die erotische Männerphantasie einer beherrschten Herrscherin. „Both Forman's private dream-text and Shakespeare's public play-text", schreibt Montrose, „em-

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Zitiert nach Alfred L. Rowse: The Case Books of Simon Forman. London 1974. S. 31. Zur Person Formans vgl. Lauren Kassell: Medicine and Magic in Elizabethan London. Simon Forman: Astrologer, alchemist, and physician. Oxford 2005, und Judith Cook: Dr. Simon Forman. A most notorious physiciaa London 2002. Louis A. Montrose: Ά Midsummer Night's Dream' and the Shaping Fantasies of Elizabethan Culture. Gender, Power, Form. In: Rewriting the Renaissance. Hg. von Margaret W. Ferguson, Maureen Quilligan, Nancy J. Vickers. Chicago 1986. S. 65-87.

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body a culture-specific dialectic between personal and public images of gender and power; both are characteristically Elizabethan cultural forms." 37 Bekanntlich wurde Elisabeth I. von Höflingen und Dichtern gern zur Feenkönigin verklärt - am aufwendigsten in Edmund Spensers allegorischem Epos gleichen Titels 38 - und so ist es nicht allein die zeitliche Nähe der beiden Texte, deren Entstehung höchstens anderthalb Jahre auseinanderliegt, 39 sondern vor allem die Affinität der Trauminhalte, an der Montrose eine mustergültige Probe aufs Exempel jener Zirkulation gesellschaftlicher Energie vornimmt, die dank Stephen Greenblatt zur Leitmetapher des seinerzeit neuen New Historicism avancierte. 40 A Midsummer Night's Dream, so das in charakteristischer Manier chiastisch formulierte Fazit dieser Lektüre, „is, then, in a double sense, a creation, of Elizabethan culture: for it also creates the culture by which it is created, shapes the fantasies by which it is shaped, begets that by which it is begotten." 41 Für unsere Überlegungen zu Traum und Politik ließe sich an dieses prominente Beispiel die Vermutung anknüpfen, daß jene Ambiguisierung von Autorität, der wir als Wirkungsprinzip der Träume in Shakespeares Dramen begegnet sind, auch dann - und man darf wohl sagen: gerade auch dann - in Erscheinung tritt, wenn man die Dramen selbst - wie sie es ja ausdrücklich immer wieder selbst verlangen - als Träume begreift. Damit soll dem Theater Shakespeares nun nicht eine Grundtendenz, geschweige denn Grundintention, radikaler Subversivität unterstellt werden. Was sich im institutionellen Rahmen und unter den restriktiven Bedingungen eines grosso modo staatstragenden Unterhaltungsbetriebs gleichwohl aber doch auszubilden vermochte, ist die Lizenz, im Schutze erklärter Nichtigkeit (deren Kennwort ,Traum' lautet) die Gewichte der Welt spielerisch zu verschieben. Eine Stelle, die vom Wissen um diese stets prekäre Lizenz diktiert zu sein scheint, findet sich im Begrüßungsdialog Hamlets mit seinen beiden Kommilitonen Rosenkranz und Güldenstern, die seit neuestem für die Staatssicherheit arbeiten. Denmark's a prison, konstatiert der Prinz, worauf sich folgendes Wortgeplänkel entspinnt: ROSENCRANTZ HAMLET

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Why, then your ambition makes it one; tis too narrow for your mind. Ο God, I could be bounded in a nutshell and count myself a king of infinite space, were it not that I have bad dreams.

L. A. Montrose (Anm. 36) S. 66f. Edmund Spenser: The Faerie Queene. Hg. von Albert C. Hamilton. London, N e w York 1977. Zum Personenkult und den diversen mythologisch-sakralen Rollen Elisabeths I. vgl. Roy Strong: The Cult of Elizabeth. Elizabethan portraiture and pageantry. London 1977. A Midsummer Night's Dream wird üblicherweise auf 1595/6 datiert. Eingeführt wird der Ausdruck in Stephen Greenblatt: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England. Oxford 1988. L. A. Montrose (Anm. 36) S. 87.

180 GUILDENSTERN HAMLET ROSENCRANTZ HAMLET

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Which dreams indeed are ambition; for the very substance of the ambitious is merely the shadow of a dream. A dream itself is but a shadow. Truly, and I hold ambition of so airy and light a quality that it is but a shadow's shadow. Then are our beggars bodies, and our monarchs and outstretched heroes the beggar's shadow. Shall we to th 'court? For by my fay, I cannot reason. (2.2.246-258)

Samuel Taylor Coleridge, einer der größten Shakespeare-Interpreten des 19. Jahrhunderts, kommentierte die Passage mit dem entwaffnenden Bekenntnis: I do not understand this.42 Was insofern völlig angemessen erscheint, als es den Sprechern kaum anders ergehen dürfte. Das Wortgefecht, bei dem die Spitzel den Prinzen mit dem gefahrlichen Lockwort ambition zu ködern versuchen (gefährlich, denn nähme Hamlet es auf, würde er sich eines umstürzlerischen Thronanspruchs gegen Claudius bezichtigen), ergibt eine von Sentenz zu Sentenz, von Platitüde zu Platitüde automatisch sich fortpflanzende Dynamik, bei der unter dem alles auflösenden Regiment von shadow zuletzt Bettler und Monarchen die Plätze tauschen. Hamlets schlechte Träume werden zur Metaphernmaschine - ihr Produkt ist ein Welttheater en miniature, welches das oberste zuunterst kehrt. Als Brecht dem bürgerlichen Theaterpublikum seine ganze Verachtung bekunden wollte, verglich er es mit lauter Schlafenden, aber solchen, die unruhig träumen?3 Mit Puck würden wir diesen Vergleich für das Theater Shakespeares durchaus gelten lassen, aber doch einwenden wollen, daß die Träumer, gerade die unruhigen, keineswegs zu verachten sind.

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Coleridge on Shakespeare. A Selection of the Essays Notes and Lectures of Samuel Taylor Coleridge on the Poems and Plays of Shakspeare. Hg. von Terence Hawkes. Harmondsworth, Middlesex 1959. S. 167. Bertolt Brecht: Kleines Organon für das Theater. Frankfurt a. M. 1961. §26, S. 19.

Kunstgeschichte

Traum und Politik in der Malerei und Graphik des 16. und 17. Jahrhunderts Jan Harasimowicz

Somnium, visio, oraculum, insomnium und visum - mithilfe solcher, dem Nährboden des ,Commentarium in Somnium Scipionis' von Macrobius entsprossenen Begriffen, der aus der neoplatonischen Perspektive vollzogenen Auslegung des nicht erhalten gebliebenen Fragments ,De re publica' von Cicero, wurde im ausgehenden Mittelalter und in der Frühen Neuzeit das ,Reich der Träume' beschrieben. 1 Für die Menschen der damaligen Zeit war es sicherlich nicht weniger wichtig als die real existierende Welt, die doch auch nicht ewig ist und - genau so wie Träume - vergeht. Die Bedeutungsgrenzen dieser Begriffe waren unscharf; dazu führten manche Verfasser von Traumtraktaten des 16. Jahrhunderts völlig neue, eigene Kategorien ein. Das wachsende Interesse an Träumen und ihrer Auslegung im 15. und 16. Jahrhundert wurde weitgehend durch die Verbreitung der Bibel beeinflußt, die in zahlreiche Nationalsprachen übersetzt und in steigenden Auflagen gedruckt wurde. Suggestive Traumbeschreibungen, die im Alten Testament enthalten sind, regten die Vorstellungskraft und organisierten sie, indem sie neue, nach ihrem Vorbild modellierte Visionen hervorriefen. Besondere Bedeutung wäre in dieser Hinsicht dem Jakobstraum von der Himmelsleiter zuzumessen, der ausdrücklich die Verbindung der irdischen mit der Himmelswelt, ,Diesseits' und Jenseits' zeigte und damit die Möglichkeit, daß sich ein Mensch, eine menschliche Seele allmählich Gott nähert. 2 Die Jakobsleiter erfuhr zahlreiche mehr oder weniger

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Francesco Gandolfo: II ,Dolce Tempo'. Mistica, Ermetismo e Sogno nel Cinquecento. Rom 1978; Wolfgang Haubrichs: Offenbarung und Allegorese. Formen und Funktionen von Vision und Traum in frühen Legenden. In: Formen und Funktion der Allegorie. Symposion. Wolfenbüttel 1978. Hg. von Walter Haug. Stuttgart 1979 (Germanistische Symposien Berichtsbände. Bd. 3). S. 2 4 3 - 2 6 4 ; Marianne Zehnpfennig: ,Traum' und ,Vision' in Darstellungen des 16. und 17. Jahrhunderts. Hannover 1979; Peter Dinzelbacher: Visionen und Visionsliteratur im Mittelalter. Stuttgart 1981; I sogni nel Medioevo. Hg. von Tullio Gregory. Roma 1985; Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien. Hg. von Agostino Paravicini Bagliani, Giorgio Stabile. Stuttgart, Zürich 1989. Hans Martin von Erffa: Ikonologie der Genesis. Bd. 2. München, Berlin 1995. S. 2 8 3 - 2 9 3 .

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gelungene malerische und graphische Auslegungen, mehr noch - sie wurde sogar zum Element, das die architektonische Form mancher Sakralbauten mitgestalten konnte. Oliver King, in den Jahren 1495-1503 Bischof im südenglischen Bath und Wells, der in einer Nacht die gleiche Leiter wie der biblische Patriarch im Schlaf sah, ließ an die Fassade des gerade in seinem Auftrag umgebauten Doms in Bath zwei in Stein gehauene Jakobsleitern mit auf- und absteigenden Engeln anbringen.3 Auf den Traum von der Himmelsleiter greift auch die Scala Santa im römischen Lateran zurück. Angeblich sollte es zwar - so die Legende - die originale Treppe aus dem Haus des Pontius Pilatus in Jerusalem sein, die Christus auf dem Weg zum Verhör bestieg, das große Deckenfresko im nördlichen Nebenaufgang mit der Darstellung des Jakobstraums vereinigt jedoch die biblische ,Reliquie' mit der biblischen , Vision' in einer unzertrennlichen Einheit.4 Mit dem Traum, den gleichzeitig zwei Personen träumten, Papst Liberius und der Patrizier Johannes, steht eng die Errichtung eines anderen berühmten römischen Bauwerks in Beziehung - der Basilika Santa Maria Maggiore.5 Die Mutter Gottes ließ in diesem Doppeltraum an der Stelle, die eben in dieser Nacht - es war die Nacht vom 4. zum 5. August - mit Schnee bedeckt wurde, eine Kirche zu ihren Ehren errichten. Am nächsten Morgen, als der Patrizier dem Papst seinen Traum erzählte und als es sich erwies, daß dieser genau das Gleiche träumte, begaben sich die beiden an die von Mutter Gottes genannte Stelle. Sie umgingen die dort ruhende Schneedecke und markierten den Grundriß der neuen Kirche. Um das Jahr 1295 wurde die Fassade der Basilika mit vier großen, ihre Gründungslegende darstellenden Mosaiken von Filippo Rusuti geschmückt: der Traum des Papstes Liberius, der Traum des Patriziers Johannes, das Treffen zwischen Johannes und dem Papst im Lateran sowie das Abstecken des Grundrisses der Kirche auf dem schneebedeckten Feld. Stifter der heute hinter der im 17. Jahrhundert dazu gebauten Säulenhalle versteckten Mosaiken war Kardinal Pietro Colonna, der sowohl für sein künstlerisches Mäzenatentum als auch für seine Vorliebe für Traumvisionen bekannt war.6 Diese Beispiele für die raumgestalterische Kraft des Traumgeschehens ändern selbstverständlich nichts an der Tatsache, daß die sogenannten Flächenkünste (Malerei, Graphik und Relief) diejenigen Gattungen der bildenden Kunst waren, 3 4

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Werner Schäfke: Englische Kathedralen. 2. Aufl. Köln 1985. S. 196f. Anna Bertani Ciafrone: La Scala Santa tra storia e la tradizione. In: Alma Roma. 38. 1997 [1998], S. 69-82; Laura Donadono: La Scala Santa a San Giovanni in Laterano. Roma 2000; Nadja Hirsch: Die Scala Santa im mittelalterlichen Lateranpalast: Eine neue Lektüre der Quellen. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte. 66. 2003. S. 524-532. Carlo Cecchelli: I mosaici di Santa Maria Maggiore. Torino 1956; Carlo Berteiii: Römische Träume. In: Träume im Mittelalter (Anm. 1) S. 91-112, hier S. 101-107. Ludwig Möhler: Die Kardinäle Jakob und Peter Colonna. Ein Beitrag zur Geschichte des Zeitalters Bonifaz' VIII. Paderborn 1914 (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte. Bd. 17); Richard Neumann: Die Colonna und ihre Politik von der Zeit Nikolaus IV. bis zum Abzüge Ludwigs des Bayern aus Rom. 1288-1328. Langensalza 1916 (Sammlung Wissenschaftlicher Arbeiten. H. 29); C. Berteiii (Anm. 5) S. 96-101.

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in denen Träume die bedeutendste Rolle spielten. Nur sie und nicht etwa die stark naturabhängige Skulptur konnten die Unterschiede zwischen der ,Erscheinung' und der ,Realität' hervorheben. Ist nämlich die Realität des Bildes selbst, das mit seiner scheinbaren Dreidimensionalität trügt, eine Fiktion, dann gibt es keine besseren Mittel als Malerei und Graphik, um Phantasie- und Scheingebilde zu zeigen. 7 Es ist eben die Malerei, die, indem sie sich als Thema - unter anderem Träume und Visionen auswählt, die Natur verbessern oder sogar, wie es Leonardo da Vinci behauptete, übertreffen kann. Die gemalten Traumvisionen erfüllten verschiedene Funktionen. Entscheidend waren dabei sowohl der Gegenstand und die Umstände des einschlägigen Traums als auch die Person, der er zuteil wurde, sowie der Ort, an dem dessen Verbildlichung angebracht wurde. Von der Vielfalt dieser Funktionen zeugt am deutlichsten die berühmteste Traumvision des Hochmittelalters - der Traum des Papstes Innozenz III., beschrieben anhand eines direkten päpstlichen Berichtes durch Thomas von Celano, den ersten Biographen des heiligen Franziskus und anschließend durch den heiligen Bonaventura. 8 In diesem Traum erblickte Papst Innozenz III. die einstürzende Lateranbasilika, durch einen armen Mönch {pauperculus, poverello) gestützt, in dem er den ihm mittlerweile vertraut gewordenen heiligen Franziskus von Assisi erkannte. Um die Wende des 13. zum 14. Jahrhunderts erfreute sich dieses Bild, unter anderem dank dem berühmten Fresko von Giotto in der Oberkirche in Assisi (Abb. 1), großer Beliebtheit und wurde zu einer der Säulen der ,Gründungslegende' des Franziskanerordens. Von der Kraft dieser Vision zeugt der durch den Konkurrenzorden der Dominikaner unternommene Versuch ihrer Neufassung: nach Constantin von Orvieto war deijenige, der den einstürzenden Lateran im päpstlichen Traum stützte, nicht der heilige Franziskus, sondern der heilige Dominicus. 9 Eine politische Instrumentalisierung des franziskanisch ausgelegten Traums von Papst Innozenz III. schlechthin war dagegen die Erfassung seines Bildes in Form eines Großmosaiks an der Fassade von Santa Maria in Aracoeli in Rom. Diese 1249 von Papst Innozenz IV. den Franziskanern geschenkte Kirche befindet sich auf dem die ganze Stadt überragenden Kapitolshügel. Das Mosaik mit dem armen Mönch, der die Kirche rettete, heute fast nicht mehr sichtbar, wurde an den Palazzo Senatorio errichtet, den damaligen

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M. Zehnpfennig (Anm. 1) S. 51f. Julian Gardner: Päpstliche Träume und Palastmalerei. Ein Essay über mittelalterliche Traumikonographie. In: Träume im Mittelalter (Anm. 1) S. 113-124; Jürgen Werinhard Einhorn: Das Stützen von Stürzendem. Der Traum des Papstes Innozenz III. von der stürzenden Lateranbasilika bei Bonaventura. Vorgeschichte und Fortwirken in literatur- und kunstgeschichtlicher Sicht. In: KunstErziehung. Literatur, Kunst und Schulpraxis in franziskanischer Perspektive. Festgabe zum 65. Geburtstag. Hg. von Dieter Berg. Werl 1999. S. 165-184. C. Berteiii (Anm. 5) S. 91 f.; J. Gardner (Anm. 8) S. 117.

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Sitz der römischen Kommune. Sie sollte die Minderbrüder vor der ganzen Stadt als Mittler und Bürgen des sozialen Friedens und der Eintracht empfehlen. 10

Abb. 1: Traum des Papstes Innozenz III. Fresko von Giotto bzw. Pietro Cavallini in der Oberkirche in Assisi. Um 1300.

Neben päpstlichen Träumen hatten kaiserliche Träume die größte Bedeutung, obgleich die beiden bekanntesten Traumvisionen des mächtigsten Herrschers im hochmittelalterlichen Europa - Karls IV. von Luxemburg - lange vor der Thronbesteigung entstanden sind; in bildlicher Form wurden sie mehrere Jahre später, um das Jahr 1472, wahrscheinlich im politischen Auftrag der Moralisten der nachhusitisehen Zeit Registriert'. Die erste dieser Visionen, von stark politischer' Natur, sollte der siebzehnjährige Karl am Tag von Mariä Himmelfahrt 1333 im italienischen Dorf Terenzo bei Parma erblickt haben." Wie er in seiner Autobiographie schreibt, sah er im Schlaf, wie ihn ein Engel an den Haaren hochhob und an eine durch irgendwelche Truppen belagerte Burg führte. Bald bemerkte er einen anderen Engel vom Himmel absteigen, der mit einem glühenden Schwert den Leib eines Ritters durchstach und sein Geschlechtsteil abschlug. In

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C. Berteiii (Anm. 5) S. 92-97; J. Gardner (Anm. 8) S. 119. Peter Dinzelbacher: Der Traum Kaiser Karls IV. In: Träume im Mittelalter (Anm. 1) S. 161-170; Frantisek Kavka: Karel IV. Historie zivota velkeho vladare. Prag 1998. S. 59f.

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diesem Ritter erkannte er - zu seinem Erstaunen - Guigo, den Verbündeten seines Vaters Johann von Luxemburg, Dauphin aus Vienne. Der Engel warnte ihn damals, daß er selbst und sein Vater, falls sie das sündenvolle Leben fortführen sollten, auf die gleiche Art und Weise bestraft werden könnten. Zum Trost fugte er hinzu, daß es dem sündigen Guigo noch vor seinem Tod gelang, zu beichten und sich mit Gott auszusöhnen. Dieser Traum erschütterte Karl dermaßen, daß er nach Jahren - bereits als Kaiser - in Terenzo eine neue Kirche mit den Pfründen für drei Priester stiftete und in der Hauptstadt Prag zahlreiche Änderungen in der Liturgie einführte, die eine Verstärkung der Marienverehrung bezweckten. 12 Das im gesellschaftlichen Bewußtsein des Spätmittelalters vorherrschende Sündengefühl und die Angst vor dem Zorn Gottes schufen günstige Grundlagen für apokalyptische Visionen, die - hauptsächlich aufgrund der Prophezeiung Daniels aus dem Alten Testament - durch einen chiliastischen Zweig der Reformation, Schwärmerei genannt, entfaltet wurden. Die allgemeine Endzeiterwartung wurde durch fieberhaftes Ausschauhalten nach den in der Heiligen Schrift verkündeten ,Zeichen am Himmel und auf Erden', die der Wiederkehr Christi vorausgehen sollten, begleitet. Da man das ganze Jahr 1524 lang die große Flut befürchtete, sollte es keinen verwundern, daß sogar ein derart rational denkender Mensch wie Albrecht Dürer am Donnerstag nach Pfingsten im Traum sah, wie Wasserkaskaden vom Himmel herunterfielen und alles um sich herum überfluteten. 13 Wieder wach, registrierte er diesen Traum in dem berühmten Aquarell aus den Sammlungen des Kunsthistorischen Museums in Wien und schrieb darunter: Im Schlaf habe ich dieses Gesicht gesehen, wie viele, große Wasser vom Himmel fielen. Und das erste traf das Erdreich ungefähr vier Meilen von mir mit einer solchen Grausamkeit und einem übergroßen Rauschen und Zerspritzen und ertränkte das ganze Land. Darüber erschrak ich so schwer, daß ich daran erwachte, ehe dann die anderen Wasser fielen. Und die Wasser, die dann fielen, die waren fast ebenso groß und fielen teils näher, teils weiter entfernt, und sie kamen von so hoch oben herab, daß sie wie in Gedanken langsam fielen. Aber als das erste Wasser, das das Erdreich traf, schier herankam, da fiel es mit einer solchen Geschwindigkeit und einem solchen Wind und Brausen, daß ich derart erschrak, als ich erwachte, daß ich am ganzen Körper zitterte und lange nicht zu mir selbst kam. Aber als ich am Morgen aufstand, malte ich hier oben, wie ichs gesehen habe. Gott wende alle Dinge zum bestenM 12 13

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P. Dinzelbacher (Anm. 12) S. 161f. Friedrich Winkler: Die Zeichnungen Albrecht Dürers. Bd. 4: 1520-1528. Berlin 1939. S. 103f. Nr. 944; Jean Michel Massing: Dürer's Dreams. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes. 49. 1986. S. 238-244; Hartmut Böhme: Albrecht Dürers Traumgesicht von 1525. In: Grenzüberschreitungen. Friedenspädagogik, Geschlechter-Diskurs, LiteraturSprache-Didaktik. Festschrift für Wolfgang Popp. Hg. von Gerhard Härle. Essen 1995. S. 17-35. Nach F. Winkler (Anm. 13) S. 103f.

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Dieses einzigartige Traumerlebnis ist neben den berühmten ,Vier Aposteln' des gleichen Nürnberger Meisters - ein vielsagendes Zeugnis der Befürchtungen und Ängste, die kultivierte und sensible Menschen, der Notwendigkeit der Änderungen bewußt, jedoch von Skrupeln erfüllt oder sogar unfähig dazu diese Änderungen aktiv zu unterstützen, angesichts des Reformationsumbruchs verspürten. Diejenigen, die an der Spitze der Reformation standen und die Grundlagen der neuen Kirche schufen, hatten auch Traumvisionen, wenn sie auch nicht in Reaktion auf allgemeine, ,kosmische', sondern auf konkretere, politische' Gefahren entstanden sind. Es geht hier in erster Linie um den sogenannten Traum Philipp Melanchthons aus dem Jahr 1547, der durch Lucas Cranach den Jüngeren verewigt wurde (Abb. 2).15 Der Reformator sah in diesem Traum den griechischen Krieger Ajax mit Lanze und dem typischen großen Schutzschild, wie er auf seinen Abb. 2: Der Traum Philipp MelanchSchultern einen grasbewachsenen Hügel thons. Holzschnitt von Lucas trägt, auf dessen Spitze die Gestalt des Cranach dem Jüngeren. auferstandenen Christus sichtbar ist. Dem 1547. Heiland zu Füßen stellen drei Engel - wie eine Trophäe - ,das goldene Kreuz'. Der Wortkommentar zu diesem Holzschnitt - wahrscheinlich durch Melanchthon selbst gedichtet (er beginnt mit Aiax sah ich stehen...) - kündigt zahlreiche furchtbare Kriege an; die Gotteskirche soll jedoch - wie Christus der Sieger auf der Bergspitze - unversehrt bleiben. Hauptbürge für diese Unantastbarkeit sollte zweifelsohne der mutige Ajax sein. Mit wem konnte jedoch jener antike Krieger zu dieser Zeit, gleich nach der Niederlage des Schmalkaldischen Bundes bei Mühlberg, gleichgesetzt werden? Nicht doch mit dem besiegten und festgenommenen sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich, wohl auch nicht mit seinem Bezwinger, dem sächsischen Fürsten Moritz, dessen politische Wende sich damals noch keinesfalls abzeichnete. Der wahrscheinlichste Ajax aus dem Traum Melanchthons scheint Kaiser Karl V. zu sein, dessen 15

Katalog der Lucas-Cranach-Ausstellung. Weimar und Wittenberg, Juli bis Oktober 1953. Bearb. von Walther Scheidig. [o. O.] 1953. S. 103. Nr. 301; Friedrich W. H. Hollstein: German Engravings, Etchings and Woodcuts ca. 1400-1700. Vol. VI: Cranach-Drusse. Amsterdam 1954. S. 126; M. Zehnpfennig (Anm. 1) S. 17-20.

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Bemühungen um den Erhalt der konfessionellen Einheit des Reiches der ,Praeceptor Germaniae' hoch zu schätzen wußte, indem er ihnen beispielsweise in dem durch die meisten der Lehre Luthers treuen Theologen abgelehnten, so genannten ,Leipziger Interim' vom Dezember 1548 entgegenkam.

Abb. 3:

Der Traum des Kurßirsten Friedrich des Weisen von Sachsen. Eine späte Kopie eines 1617 zum ersten Mal erschienenen Holzschnitts unbekannter Herkunft. 18. Jh.

An politischen Träumen' fehlte es auch in der bildenden Kunst der 2. Hälfte des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts nicht, daß heißt zu Zeiten der ausgeprägten Profilierung der drei Hauptkonfessionen des Abendlandes: Katholizismus, Luthertum und Calvinismus. 1 6 Dies bedeutet selbstverständlich nicht, daß jede von Visionen durchdrungene Darstellung aus dieser Zeit ihren Ursprung in einem Traum haben mußte. Vorzügliches Beispiel für einen vermeintlichen Traum' liefert das Bild ,Verehrung des Allerheiligsten Namens Jesu' von Domenikos Theotokopoulos, ,E1 Greco' genannt, im spanischen El Escorial (1576-1579). 1 7 Die Erde, auf der u.a. Papst Pius V., der spanische König Philipp II., der Doge von Venedig Mocenigo, Admiral Don Juan de Austria und Marcantonio Colonna knien, vereinigt sich hier mit Himmel und Hölle in der ewigen Anbetung des

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Jan Harasimowicz: Sztuka jako medium nowozytnych konfesjonalizacji. In: Sztuka i dialog wyznan w XVI i XVII wieku. Materiafy Sesji Stowarzyszenia Historyköw Sztuki. Wroclaw, listopad 1999. Hg. von Dems. Warschau 2000. S. 51-75. Jose Gudiol: Domenikos Theotokopoulos. El Greco 1541-1614. Genf [o.J.]. S. 47f. Nr. 29. Abb. 38.

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Namens Jesu, und zwar im Sinne des Briefes des heiligen Paulus an die Philipper. Heute betrachtet man diese Anbetung als Danksagung für den großen Sieg der vereinigten christlichen Flotten bei Lepanto im Jahre 1571. Wir haben es hier also zweifellos mit einer politischen Allegorie, jedoch nicht mit einem politischen Traum zu tun, auch wenn noch in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts der hervorragende Kenner der Kunst El Grecos Manuel Cossio diese Komposition nach dem ersten Escorial-Bilderkatalog - ,Traum Philipps IL' betitelte.18 Ungefähr zur gleichen Zeit wie das Bild im Escorial, das heißt in den Jahren 1570-1580, entstand im Kreis der lutherischen Orthodoxie eine apologetische Legende von einem prophetischen Traum, den in der Nacht vom 30. zum 31. Oktober 1517 der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise auf dem Schloß Schweinitz bei Wittenberg träumte.19 Er sah im Schlaf einen ihm unbekannten Mönch, der mit einer riesigen Gänsefeder Thesen an die Kirchentür schrieb. Diese Feder wurde durch die Ohren eines vor Schmerz brüllenden Löwen gefuhrt und reichte bis Rom, wo sie dem Papst (es ist leicht zu erkennen, daß es sich um Leo X. handelt) die Tiara hinunterstieß. Nachdem die durch den Kurfürsten selbst und andere Reichsfürsten unternommenen Versuche zur Rettung der Papstkrone mißlungen waren, fragte Friedrich den Mönch, wo er diese merkwürdige Schreibfeder her hätte. Der Mönch antwortete, diese Feder stamme von einer einhundert Jahre alten Gans, die jämmerlich verbrannt wurde, und er hätte sie als Geschenk von einem seiner Lehrer bekommen. Nach einer Weile entsprossen dieser Feder einige Dutzend kleinere Federn, die gelehrte Männer aus Wittenberg eifrig auszurupfen begannen. Dieser Vision, die der bekannte sächsische Theologe Matthias Hoe von Hoenegg zum ersten Mal im Jahre 1604 im Druck veröffentlichte, wurde eine bildliche Form im Jahre 1617, zum 100. Jahrestag des Thesenanschlags, verliehen. Es war ein Kupferstich von Konrad Grahle, durch Peter Kirchbach mit einem 20

gereimten Traumbericht versehen. Bald entstand auch eine vereinfachte Holzschnitt-Ausführung (Abb. 3) und sogar einige - wenn auch nicht besonders zahlreiche - Ölbilder.21 Der Traum des Kurfürsten Friedrich des Weisen wurde auf diese Weise zu einer der wichtigsten , Gründungslegenden' des Luthertums, die in 18

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Manuel B. Cossio: Dominico Theotocopuli. El Greco. Oxford 1955. Nr. 20 (,Sueno de Felipe II'). Ernst Benz: Der Traum Kurfürst Friedrich des Weisen. In: Humanitas - Christianitas. Walther von Loewenich zum 65. Geburtstag. Witten 1968. S. 134-149; Hans Volz: Der Traum Kurfürst Friedrich des Weisen vom 30./31. Oktober 1517. Eine bibliographischikonographische Untersuchung. In: Gutenberg-Jahrbuch. 45. 1970. S. 174-211. Ruth Kastner: Geistlicher Rauffhandel. Form und Funktion der illustrierten Flugblätter zum Reformationsjubiläum in ihrem historischen und publizistischen Kontext. Frankfurt a. M., Bern 1982 (Mikrokosmos. Bd. 11). S. 278-283, 353-359; Illustrierte Flugblätter aus den Jahrhunderten der Reformation und der Glaubenskämpfe. Hg. von Wolfgang Harms. Bearb. von Beate Rattay. Coburg 1983. S. 90-95. Nr. 43, 44, 44a. Sergiusz Michalski: Sen elektora Fryderyka M^drego ο Lutrze. Obraz-unikat w kolekcji polskiej. In: Curia Maior. Studia ζ dziejöw kultury ofiarowane Andrzejowi Ciechanowieckiemu. Warschau 1990. S. 53-57.

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ihrer Funktion dem mittelalterlichen Traum des Papstes Innozenz III. ähnelte. Es sollte also nicht verwundern, daß man auf sie mit besonderer Vorliebe zum Anlaß der Jahrestage der Reformationswende in den Jahren 1717 und 1817 zurückgriff.

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Der Traum Ferdinands II. Kupferstich von Caspar Dooms auf dem Flugblatt Denchviirdiges Geheimnuß: Einer allbereit erfulleten [,,,] Prophecey. 1620.

Die Erfassung des Traums des Kurfürsten Friedrich des Weisen in Form eines illustrierten Flugblattes ließ die antikatholische Botschaft dieser Allegorie im aktuellen politischen Kampf gegen die Kaiserpartie nutzen. Diese blieb natürlich nichts schuldig und antwortete bereits nach drei Jahren mit einem anderen Flugblatt mit der Darstellung des Traums Ferdinands II. 22 Auf der einschlägigen Radierung, mit einem umfangreichen Wortkommentar versehen, sehen wir links den sitzend schlafenden Kaiser (Abb. 4). Über seinem Kopf befindet sich der nimbierte Reichsadler, und neben dem Sessel steckt die Reichsfahne mit der Devise: IN HOC SIGNO VINCES. Dem Kaiser rechts zur Seite steht Christus, der mit einer Rute das Ungeziefer auf die andere Bildseite fortjagt, wo die Heere der im Jahre 1619 kraft des Aktes Confoederatio Bohemica vereinigten schlesischen, mährischen, lausitzer, böhmischen und österreichischen Stände eine Schlachtordnung formen. Unten schnellen ihnen die Soldaten Bethlen Gabors mit der Fahne Siebenbürgens zu Hilfe, oben findet der Prager Fenstersturz statt, mit dem der Böhmische Aufstand, der erste Aufzug des Dreißigjährigen Krieges, begann. In Kopfhöhe Ferdinands, als ob hinter seinem Rücken, kommen die durch den Fürsten Maximilian geführten treuen bayerischen Truppen den Rebellen entgegen. 22

Illustrierte F l u g b l ä t t e r ( A n m . 2 0 ) S. 156f. N r . 75.

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Abb. 5: Der Schlaf des Kurfiirsten Johann Georg I. von Sachsen. Kupferstich unbekannter Herkunft auf dem Flugblatt Prophecye Gevonden inde Cancelerye van zijne Majesteyt van Bohemen. 1631.

In dem nach dem Vorbild einer biblischen Prophezeiung stilisierten Flugblatt legitimierte die Habsburger Partei die in Frage gestellte Herrschaft Ferdinands, der - um daran zu erinnern - einer steiermärkischen Nebenlinie der Familie entstammte. Sie kündigte auch die unvermeidliche Niederlage der rechtswidrigen Rebellion an. Ähnlich prophetische Töne schlug zehn Jahre später die protestantische Partei in einem Flugblatt mit der Darstellung der Prophezeiung für das Jahr 1632, die angeblich bereits 1623 in der böhmischen Hofkanzlei wieder entdeckt wurde (Abb. 5).23 Im Mittelschiff der gotischen Kirche sehen wir hier ein großes Himmelbett, auf dem, im tiefen Schlaf versunken, der sächsische Kurfürst Johann Georg I. ruht, und am Fußende des Bettes liegt der schwedische Löwe mit Schwert und Lilie, mit Vorderpfoten an den Wappen der Verbündeten - Venedig, der Hansestädte und der Schweiz - gestützt. An den Seiten des Bettes versammelten sich Vertreter verschiedener Konfessionen sowie die wichtigsten Anführer der Union, mit Gustav II. Adolf, König von Schweden, an der Spitze. Rechts vom Kurfürsten kniet das personifizierte Deutschland, mit einem Schwert durchbohrt.

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Illustrierte Flugblätter (Anm. 20) S. 204f. Nr. 99.

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Sowohl dieses, als auch die sonstigen Gestalten scheinen ihr Bestes zu tun, um Johann Georg I., damals immer noch Anhänger des Kaisers, aus dem tiefen Schlafzustand zu wecken und zum Bündnis mit Schweden zu überzeugen. Es geht hier also weniger um eine Traumvision, sondern eher um den Schlaf selbst. Mit der Müßigkeit und der Passivität gleichgesetzt, wird er als den Interessen nicht nur der lutherischen Mitbekenner des Kurfürsten, sondern auch Europas und der ganzen Welt tief widersprechend gezeigt.

Abb. 6: Ein weißer Hund, der zwei Feinde der Kirche verjagt. Detail der Gew ölbefresken von Cosmas Damian Asam in der Kirche der ehemaligen Zisterzienserabtei Fürstenfeld bei München. 1723-1731.

Der politische Schlaf und die politischen Träume' auf den illustrierten Flugblättern des 17. Jahrhunderts waren als Werkzeug der Propaganda ihres künstlerischen Wertes beraubt. Es kam jedoch vor, daß auch herausragende Künstler, die große Anerkennung bei ihren Mitmenschen genossen, nach dem in den geistigen Zusammenhang des ausdrücklich politisch geprägten Bildprogramms eingeführten Traummotiv griffen. Zu ihnen gehörte zweifellos Cosmas Damian Asam, Maler zahlreicher Fresken in den Barockkirchen Süddeutschlands. Einer seiner bekanntesten Gemäldezyklen befindet sich in der Kirche der ehemaligen Zisterzienserabtei Fürstenfeld bei München, in den Jahren 1701-1741 im Auftrag des Abtes Balduin Helm erbaut. 24 Die in den Jahren 1723-1731 geschaffenen Fresken Asams vereinigen in einem umfangreichen Programm Szenen aus dem 24

Brigitta Kiemenz: Klosterkirche Fürstenfeld. Zwischen Zeit und Ewigkeit. Mit einem Beitrag von Thomas Bachmair. Regensburg 2004.

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Leben Mariä und Jesu mit den Szenen aus dem Leben Bernards von Clairvaux, des Schutzheiligen des Zisterzienserordens. Am Gewölbe des ersten Jochs des Hauptschiffes, über der Orgelempore, ist in der Mitte ein Fresko sichtbar, das die Verkündigung Mariä darstellt, rechts vom Traum der schwangeren Mutter des heiligen Bernard von Clairvaux von der Geburt des bellenden Hundes, links von der Darstellung des weißen Hundes, der zwei Feinde der Kirche verjagt, begleitet (Abb. 6). Einer der Angreifer, im Kämpfergewand, versucht der Personifizierung ,Ecclesias' den Kelch mit Hostie wegzureißen, der andere, der einem Narren ähnelt, greift nach dem Schlüssel des Petrus. An den Seiten des Freskos, in den Stichkappen des Gewölbes, befinden sich zwei Embleme: An der Nordseite beleckt ein Hund den Körper eines Aussätzigen, mit der Lemma ULCERA SANO [ich heile Geschwüre], an der Südseite erschreckt der gleiche Hund zwei Einbrecher, mit der Lemma PROCUL ESTE REBELLES [geht weg, Hetzer].25 Der Traum der schwangeren Mutter des heiligen Bernard von der Geburt des bellenden Hundes war in mittelalterlichen Legenden von Heiligenleben nichts Außergewöhnliches; einen sehr ähnlichen Traum hatte zum Beispiel die schwangere Mutter des heiligen Dominikus.26 Sie träumte nämlich von einem kleinen Hund mit einer Fackel im Maul; dies wurde später als Ankündigung feueriger Predigten ihres Sohnes bzw. des Scheiterhaufens, auf die er - als Hauptinquisitor der Kirche - Ketzer bringen sollte, ausgelegt. Der Hund aus dem Traum der Mutter des heiligen Bernard wurde üblicherweise in ähnlichem Sinne interpretiert das neugeborene Kind würde das Haus Gottes wie ein Wachhund behüten. Die Hervorhebung dieses Motivs aus dem Leben des heiligen Bernards, von durchaus gegenreformatorischer Bedeutung, war um das Jahr 1730, am Vortag der Aufklärungszeit, sicherlich ein Anachronismus, der den tiefen geistigen Konservatismus des bayerischen Katholizismus, grundsätzlich ohne geistige Wettbewerber, bestätigte. Die Betonung des Wachhundmotivs in einem Zisterzienserkloster in Schlesien, das unaufhörlich mit dem Protestantismus konfrontiert wurde, wäre kaum denkbar, zumal die evangelischen Kirchenordnungen für die schlesischen Fürstentümer Liegnitz und Brieg die Lektüre der Schriften des heiligen Bernard geradezu empfahlen und die evangelischen Kirchenbauten in Schlesien von Bildern aus dem Kreis der durch seine Theologie inspirierten Brautmystik erfüllt waren.27 Andererseits würden hochgebildete Menschen des 18. Jahrhunderts das Erscheinen eines bellenden Hundes im Traum eher nicht als ,Zeichen Gottes', sondern als eine ,Nachtmahr' auslegen, wie die vom onirischen Bild Johann Heinrich

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Cornelia Kemp: Angewandte Emblematik in süddeutschen Barockkirchen. München, Berlin 1981 (Kunstwissenschaftliche Studien. Bd. 53). S. 193-195. Nr. 68. Ingeborg Walter: Der Traum der Schwangeren vor der Geburt. Zur Vita Sixtus' IV. auf den Fresken in Santo Spirito in Rom. In: Träume im Mittelalter (Anm. 1) S. 125-136, hier S. 130-132. Abb. 6. Jan Harasimowicz: The Role of Cistercian Monasteries in the Shaping of the Cultural Identity of Silesia in Modern Times. In: Acta Poloniae Historica. 72. 1995. S. 49-63.

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Füsslis (1781) und den auf seiner Basis geschaffenen Stichen, 28 oder als eines der Monstren, die - wie die berühmten ,Caprichos' Francisco Goyas (1796-1799) belehren - von dem im Schlaf versunkenen Verstand produziert werden. 2 9

Abb. 7: Der Traum Raphaels. Kupferstich

von Marcantonio

Raimondi.

1506-1508.

Die von Phantasie-Tieren oder geradezu Monstern erfüllten Träume und Visionen, die in der Regel zu den schlechten Träumen, ,Teufelsträumen' gezählt werden, 30 waren in der Kunst längst bekannt - um nur das verbreitete Motiv der Versuchung des heiligen Antonius zu erwähnen. Besonders gern griffen danach die Künstler des Nordens, aber auch die italienische Renaissance kennt einige Bilder und Radierungen, die die von merkwürdigen, aus dem Wasser auftauchenden Wesen erfüllte Nachtwelt darstellten. Der größten Beliebtheit erfreuten sich zwei Kupferstiche, ,Traum Raphaels' genannt, von Marcantonio Raimondi (15061508, Abb. 7)31 und Giorgio Ghisi (1561, Abb. 8). 32 28

M

Christian Frommert: Momente der Beunruhigung. Über Johann Heinrich Füsslis .Nachtmahr'. In: Arte Fakten. Kunsthistorische Schriften. Romantik. Hg. von Ludger Fischer. Anweiler 1987. S. 45-68. Sabine Heiser: Der Traum des Künstlers. Zu Francisco Goyas Capricho 43 .El sueno de la razön produce monstruos'. In: Aus Albrecht Dürers Welt. Festschrift für Fedja Anzelewsky. Hg. von Bodo Brinkmann, Hartmut Krohm. Michael Roth. Turnhout 2001. S. 153-161. M. Zehnpfennig (Anm. 1) S. 20. Günther Tschmelitsch: Zorzo, genannt Giorgione. Der Genius und sein Bannkreis. Wien 1975. S. 189-192; Innis H. Shoemaker, Elizabeth Broun: The Engravings of Marcantonio Raimondi. Lawrence (Kansas) 1981. S. 74f. Nr. 12: Horst Bredekamp: Traumbilder von

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Jan

Harasimowicz

Abb. 8: Der Traum Raphaels bzw. Allegorie des menschlichen Lebens. Kupferstich von Giorgio Ghisi. 1561.

Der Stich Raimondis, der wahrscheinlich an das nicht erhaltene, nur aus Überlieferungen bekannte Bild Giorgiones anknüpft, zeigt zwei nackte, im Schlaf versunkene weibliche Gestalten, die einander zwillingsartig ähnlich sind und zueinander gerichtet liegen. Aus dem daneben verlaufenden Fluß kriechen Monster wie aus den Bildern von Bosch hervor, im Hintergrund sind eine in Flammen aufgehende Stadt und in Panik weglaufende Menschen sichtbar. Diese, alles in allem ziemlich geheimnisvolle Darstellung wird üblicherweise - aus der Perspektive der okkulten Seinstheorie - als Bild der im Schlaf erfolgten Trennung des Körpers von der Seele (anima corporalis) ausgelegt.33 Man vermutete auch, daß diese weibliche Doppel-

32

33

Marcantonio Raimondi bis Giorgio Ghisi. In: Zauber der Medusa. Europäische Manierismen. Katalog der gleichnamigen Ausstellung der Wiener Festwochen. Hg. von Wemer Hofmann. Wien 1987. S. 62-71. Gioconda Albricci: 11 ,Sogno di Raffaello' di Giorgio Ghisi. In: Arte cristiana. Rivista internazionale di storia dell'arte e di arti liturgiche. 71. 1983. S. 215-222; The Engravings of Giorgio Ghisi. Hg. von Suzanne Boorsch. Catalogue raisonne von Michal R. E. Lewis. New York 1985. S. 114-120. Nr. 28; H. Bredekamp (Anm. 31) S. 65-71; Claudio Salsi: ,11 sogno di Raffaello' di G. Ghisi. Nuove indagini iconografiche. In: Grafica d'arte. IV/13. 1993. S. 3-10; L'opera incisa di Giorgio Ghisi. Hg. von Paolo Bellini. Bassano del Grappa 1998. S. 180-191. Nr. 41; Claudio Salsi: Nuove scoperte per PAUegoria della vita umana di Giorgio Ghisi. In: Grafica d'arte. XIII/51. 2002. S. 4-14. GJabriele] W[erner]: Der Traum (Raffaels) 1507-1508. In: Zauber der Medusa (Anm. 31) S. 321 f. Nr. VII. 29.

Traum und Politik in der Malerei und Graphik des 16. und 17. Jahrhunderts

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gestalt die mythologische Hekuba aus der ,Aeneis' sein könnte, die sich selbst in einem prophetischen, den Niedergang von Troja ankündigenden Traum sieht.34 Bisher wurden in dieser Radierung keine politischen Inhalte erkannt. Der Kupferstich Giorgio Ghisis, der in mehreren, durch diverse erhaltene Ausfuhrungen belegten Stufen entstand, wurde dank dem an der zweiten Ausführung angebrachten Schild mit der Inschrift: RAPHAELUS URBINATUS INVENTUM mit dem Vornamen Raffaels in Verbindung gebracht. Es ist offensichtlich kein Werk des Meisters aus Urbino und auch kein Traum. Die an der linken Seite sichtbare Gestalt eines älteren bärtigen Mannes, der sich an einen Baumstamm stützt, erinnert zwar an einen Philosophen aus der ,Schule von Athen', sie wird jedoch von unruhiger, von wilden Tieren und Seemonstern erfüllten Naturkraft deutlich nördlicher Provenienz umgeben. Der Mann streckt seine Hand in Richtung der an der rechten Seite sichtbaren weiblichen Gestalt, die die üppige Pflanzendecke betritt und sich mit ihrer Hand an die Palme stützt. Im Hintergrund erstreckt sich eine idyllische Landschaft mit aufgehender Sonne und Regenbogen. Als Schlüssel zur meistverbreiteten, virgilisch-neoplatonischen Auslegung dieser Radierung, die ihr den heutzutage üblich genutzten Namen ,Allegorie des menschlichen Lebens' verlieh, dienten zwei Zitate aus der ,Aeneis', die sich an den Schildern zu Füßen der beiden Gestalten befinden: SEDET AETERNUM / QUE SEDEBIT INFOELIX [Hier sitzt und wird ewig sitzen der Unglückselige] (an dem Mann) und TU NE CEDE MALIS, SED / CONTRA AUDENTIOR ITO [Weiche den Übeln nicht] (an der Frau). Diese Zitate schließen jedoch andersartige Auslegungen nicht aus, die zum Beispiel die in der Zeit der Renaissance sehr beliebten ,Metamorphosen' Ovids mitberücksichtigen würden. Die Gestalten aus der Radierung wären dann als Somnus (Nachtgott des Schlafes), Iris (Götterbotin) und das Ganze als Kampf des Tages gegen die Nacht, der Jugend gegen das Älterwerden, der Wahrheit gegen den Schein zu identifizieren. 35 Eine wichtige Rolle fällt in dieser Auslegung dem Hahn, dem Morgenboten, zu, dessen Krähen, durch eine Giftschlange gefährdet, ein kleiner Eros mit Schießbogen von dem Gipfel des Palmbaums aus beschützt. Diese und noch andere Auslegungen, ob ,alchimisch' oder psychologisch', wurden in letzter Zeit durch politische' Interpretationen vervollständigt. 36 Die Entstehung der Radierung im Jahre 1561 sowie ihre von Symbolik durchdrungenen Hauptelemente - der alte Mann im Hintergrund, die junge, starke Frau im Vordergrund, Regenbogen, Palme und der krähende Hahn - lassen das von Ghisi geschaffene Bild auf die Situation in Frankreich nach dem Tode Heinrichs II. zurückfuhren und es als politisches Manifest der Partei der Königswitwe Kathari34

35 36

Gustav Friedrich Hartlaub: Giorgione im graphischen Nachbild. In: Pantheon. 18. 1960. S. 76-80. H. Bredekamp (Anm. 31) S. 65-71. Penny Roberts, Peter Davidson: Valois Monarchy and Visual Propaganda. A suggested Reading of Giorgio Ghisi's ,Dream of Raphael or Allegory of Life'. In: Emblematica. An Interdisciplinary Journal for Emblem Studies. 10/2. 1996 [2000], S. 4 1 5 ^ 2 2 .

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na de Medici zu betrachten. Obwohl sie als Vertreterin des minderjährigen Karls IX. herrschte, war ihre Position unter den Valois - als Ausländerin und dazu noch keiner Königsfamilie entstammend - nicht besonders stark. Es ging also um die Hervorhebung der Rolle Katharinas als Beschützerin der Ehre Frankreichs, der Bürgin für das Weiterbestehen der königlichen Familie, der Friedensfürbitterin. In der Radierung mit der göttlichen Venus verglichen, Mutter-Ernährerin der Königsfamilie, widersteht sie der das Land überwältigenden Verzweiflung, erinnert an die mit Karl, dem neuen Aeneas, verbundenen Hoffnungen. Vielleicht - so die Autoren dieser Auslegung - war diese Propaganda übermäßig ,gelehrt', zu wenig überschaubar, daher verzichtete man auf ihre Durchsetzung. Politische Inhalte in der ihr folgenden Ausführungen verschwanden allmählich, schließlich fügte man Inschriften hinzu, die ihre Bedeutung verallgemeinerten - sie wurde zur ,Allegorie des menschlichen Lebens'. Ich möchte die hier angeführte Auslegung nicht völlig ablehnen. Sie stützt sich auf einige rationale Voraussetzungen, sie setzt auch zu Recht allmähliches Auslöschen oder sogar Verschwinden der ursprünglichen Bedeutungen voraus. Sie hebt auch die früheren Interpretationen nicht auf, denn in einem Werk können virgilische und ovidische, alchimische und psychologische Inhalte ausgezeichnet ihren Platz finden, mehr noch, sie können einander ergänzen und auslegen. Die gesamte reichhaltige Literatur, die um das Werk Ghisis angewachsen ist, zeigt ausdrücklich, wie wenig sich ein zeitgenössischer Kunsthistoriker, von ikonologischer Methode Erwin Panofskys durchdrungen, von alten ,Traumauslegern' unterscheidet. Da es an Radierungen und Gemälden, die derartigen Interpretationen unterzogen werden können, nicht mangelt, werden wir - den Spuren des biblischen Daniel folgend - Besorgnisse und Ängste unserer Zeit auf damalige, mit Malerpinseln und Radiernadeln festgehaltene Träume noch öfters extrapolieren.

Abbildungsnachweis* Abb. 1.: Traum des Papstes Innozenz III. Fresko von Giotto bzw. Pietro Cavallini in der Oberkirche in Assisi. Um 1300. Abb. 2.: Der Traum Philipp Melanchthons. Holzschnitt von Lucas Cranach dem Jüngeren. 1547. Abb. 3.: Der Traum des Kurfiirsten Friedrich des Weisen von Sachsen. Eine späte Kopie eines 1617 zum ersten Mal erschienenen Holzschnitts unbekannter Herkunft. 18. Jh. Abb. 4.: Der Traum Ferdinands II. Kupferstich von Gaspar Dooms auf dem Flugblatt Denckwürdiges Geheimnuß: Einer allbereit erfiilleten [,,,] Prophecey. 1620.

Traum und Politik in der Malerei und Graphik des 16. und 17.

Jahrhunderts

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Abb. 5.: Der Schlaf des Kurfiirsten Johann Georg I. von Sachsen. Kupferstich unbekannter Herkunft auf dem Flugblatt PROPHECYE Gevonden inde Cancelerye van zijne Majesteyt van Bohemen. 1631. Abb. 6.: Ein weißer Hund, der zwei Feinde der Kirche verjagt. Detail der Gewölbefresken von Cosmas Damian Asam in der Kirche der ehemaligen Zisterzienserabtei Fürstenfeld bei München. 1723-1731. Abb. 7.: Der Traum Raphaels. Kupferstich von Marcantonio Raimondi. 1506-1508. Abb. 8.: Der Traum Raphaels bzw. Allegorie des menschlichen Lebens. Kupferstich von Giorgio Ghisi. 1561.

* Alle Vorlagen wurden der Diathek des Kunsthistorischen Instituts an der Universität Wroclaw entnommen.

Geschichte

... oder Daniel würde zum Lügner, das ist nicht möglich. Zur Deutung des Traums des Nebukadnezar im frühneuzeitlichen Reich Wolfgang E. J. Weber 1. Einleitung Zu den biblisch überlieferten Träumen, die die jüdisch-christlichen Vorstellungen der Antike, des Mittelalters und der Frühen Neuzeit über den Verlauf der Geschichte am stärksten beeinflußten, gehört der im Buch Daniel des Alten Testaments überlieferte Traum des babylonischen Königs Nebukadnezar II. (605-562 v. Chr.). Die entscheidenden Passagen dieses Traumes lauten wie folgt: Im zweiten Jahr seiner Herrschaft hatte Nebukadnezar einen Traum, über den er so erschrak, daß er aufwachte. Und der König ließ alle Zeichendeuter und Weisen und Zauberer und Wahrsager zusammenrufen, daß sie ihm seinen Traum sagen sollten. Und sie kamen und traten vor den König. Und der König sprach zu ihnen: Ich hab einen Traum gehabt; der hat mich erschreckt, und ich wollte gerne wissen, was es mit dem Traum gewesen ist. Da sprachen die Wahrsager zum König auf aramäisch: Der König lebe ewig! Sage deinen Knechten den Traum, so wollen wir ihn deuten. Der König antwortete und sprach zu den Wahrsagern: Mein Wort ist deutlich genug. Werdet ihr mir nun den Traum nicht kundtun und deuten, so sollt ihr in Stücke gehauen und eure Häuser sollen zu Schutthaufen gemacht werden. Werdet ihr mir aber den Traum kundtun und deuten, so sollt ihr Geschenke, Gaben und große Ehre von mir empfangen. Darum sagt mir den Traum und seine Deutung. Sie antworteten noch einmal und sprachen: Der König sage seinen Knechten den Traum, so wollen wir ihn deuten. Der König antwortete und sprach: Wahrlich, ich merke, daß ihr Zeit gewinnen wollt, weil ihr seht, daß mein Wort deutlich genug ist. Aber werdet ihr mir den Traum nicht sagen, so ergeht ein Urteil über euch alle, weil ihr euch vorgenommen habt, Lug und Trug vor mir zu reden, bis die Zeiten sich ändern. Darum sagt mir den Traum; so kann ich merken, daß ihr auch die Deutung trefft. Da antworteten die Wahrsager vor dem König und sprachen zu ihm: Es ist kein Mensch auf Erden, der sagen könnte, was der König fordert. Ebenso gibt es auch keinen König, wie groß oder mächtig er

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sei, der solches von irgendeinem Zeichendeuter, Weisen oder Wahrsager fordern würde. Denn was der König fordert, ist zu hoch, und es gibt auch sonst niemand, der es vor dem König sagen könnte, ausgenommen die Götter, die nicht bei den Menschen wohnen. Da wurde der König sehr zornig und befahl, alle Weisen von Babel umzubringen. Und das Urteil ging aus, daß man die Weisen töten sollte. Auch Daniel und seine Gefährten suchte man, um sie zu töten. Da wandte sich Daniel klug und verständig an Arjoch, den Obersten der Leibwache des Königs, der auszog, um die Weisen von Babel zu töten. Und er fing an und sprach zu Arjoch, dem der König Vollmacht gegeben hatte: Warum ist ein so strenges Urteil vom König ergangen? Und Arjoch teilte es Daniel mit. Da ging Daniel hinein und bat den König, ihm eine Frist zu geben, damit er die Deutung dem König sagen könne. Und Daniel ging heim und teilte es seinen Gefährten Hananja, Mischael und Asarja mit, damit sie den Gott des Himmels um Gnade bäten wegen dieses Geheimnisses und Daniel und seine Gefährten nicht samt den andern Weisen von Babel umkämen. Da wurde Daniel dies Geheimnis durch ein Gesicht in der Nacht offenbart. Und Daniel lobte den Gott des Himmels, fing an und sprach: Gelobet sei der Name Gottes von Ewigkeit zu Ewigkeit, denn ihm gehören Weisheit und Stärke! Er ändert Zeit und Stunde; er setzt Könige ab und setzt Könige ein; er gibt den Weisen ihre Weisheit und den Verständigen ihren Verstand, er offenbart, was tief und verborgen ist; er weiß, was in der Finsternis liegt, denn bei ihm ist lauter Licht. Ich danke dir und lobe dich, Gott meiner Väter, daß du mir Weisheit und Stärke verliehen und jetzt offenbart hast, was wir von dir erbeten haben; denn du hast uns des Königs Sache offenbart. Da ging Daniel hinein zu Arjoch, der vom König Befehl hatte, die Weisen von Babel umzubringen, und sprach zu ihm: Du sollst die Weisen von Babel nicht umbringen, sondern führe mich hinein zum König, ich will dem König die Deutung sagen. Arjoch brachte Daniel eilends hinein vor den König und sprach zu ihm: Ich habe einen Mann gefunden unter den Gefangenen aus Juda, der dem König die Deutung sagen kann. Der König antwortete und sprach zu Daniel, den sie Beltschazar nannten: Bist du es, der mir den Traum, den ich gesehen habe, und seine Deutung kundtun kann? Daniel fing an vor dem König und sprach: Das Geheimnis, nach dem der König fragt, vermögen die Weisen, Gelehrten, Zeichendeuter und Wahrsager dem König nicht zu sagen. Aber es ist ein Gott im Himmel, der kann Geheimnisse offenbaren. Der hat dem König Nebukadnezar kundgetan, was in künftigen Zeiten geschehen soll. Mit deinem Traum und deinen Gesichten, als du schliefst, verhielt es sich so: Du, König, dachtest auf deinem Bett, was dereinst geschehen würde; und der, der Geheimnisse offenbart, hat dir kundgetan, was geschehen wird. Mir aber ist dies Geheimnis offenbart worden, nicht als wäre meine Weisheit größer als die Weisheit aller, die da leben, sondern damit dem König die Deutung kundwürde und du deines Herzens Gedanken erführest. Du, König, hattest einen Traum, und siehe, ein großes und hohes und hell

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glänzendes Bild stand vor dir, das war schrecklich anzusehen. Das Haupt dieses Bildes war von feinem Gold, seine Brust und seine Arme waren von Silber, sein Bauch und seine Lenden waren von Kupfer, seine Schenkel waren von Eisen, seine Füße waren teils von Eisen und teils von Ton. Das sahst du, bis ein Stein herunterkam, ohne Zutun von Menschenhänden; der traf das Bild an seinen Füßen, die von Eisen und Ton waren, und zermalmte sie. Da wurden miteinander zermalmt Eisen, Ton, Kupfer, Silber und Gold und wurden wie Spreu auf der Sommertenne, und der Wind verwehte sie, dass man sie nirgends mehr finden konnte. Der Stein aber, der das Bild zerschlug, wurde zu einem großen Berg, so dass er die ganze Welt füllte. Das ist der Traum. Nun wollen wir die Deutung vor dem König sagen. Du, König, bist ein König aller Könige, dem der Gott des Himmels Königreich, Macht, Stärke und Ehre gegeben hat und dem er alle Länder, in denen Leute wohnen, dazu die Tiere auf dem Felde und die Vögel unter dem Himmel in die Hände gegeben und dem er über alles Gewalt verliehen hat. Du bist das goldene Haupt. Nach dir wird ein anderes Königreich aufkommen, geringer als deines, danach das dritte Königreich, das aus Kupfer ist und über alle Länder herrschen wird. Und das vierte wird hart sein wie Eisen; denn wie Eisen alles zermalmt und zerschlägt, ja, wie Eisen alles zerbricht, so wird es auch alles zermalmen und zerbrechen. Dass du aber die Füße und Zehen teils von Ton und teils von Eisen gesehen hast, bedeutet: das wird ein zerteiltes Königreich sein; doch wird etwas von des Eisens Härte darin bleiben, wie du ja gesehen hast Eisen mit Ton vermengt. Und dass die Zehen an seinen Füßen teils von Eisen und teils von Ton sind, bedeutet: zum Teil wird's ein starkes und zum Teil ein schwaches Reich sein. Und dass du gesehen hast Eisen mit Ton vermengt, bedeutet: sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander vermischen, aber sie werden doch nicht aneinander festhalten, so wie sich Eisen mit Ton nicht mengen läßt. Aber zur Zeit dieser Könige wird der Gott des Himmels ein Reich aufrichten, das nimmermehr zerstört wird; und sein Reich wird auf kein anderes Volk kommen. Es wird alle diese Königreiche zermalmen und zerstören; aber es selbst wird ewig bleiben, wie du ja gesehen hast, dass ein Stein ohne Zutun von Menschenhänden vom Berg herunterkam, der Eisen, Kupfer, Ton, Silber und Gold zermalmte. So hat der große Gott dem König kundgetan, was dereinst geschehen wird. Der Traum ist zuverlässig, und die Deutung ist richtig. Da fiel der König Nebukadnezar auf sein Angesicht und warf sich nieder vor Daniel und befahl, man sollte ihm Speisopfer und Räucheropfer darbringen. Und der König antwortete Daniel und sprach: Es ist kein Zweifel, euer Gott ist ein Gott über alle Götter und ein Herr über alle Könige, der Geheimnisse offenbaren kann, wie du dies Geheimnis hast offenbaren können. Und der König erhöhte Daniel und gab ihm große und viele Geschenke und machte ihn zum Fürsten über das ganze Land Babel und setzte ihn zum Obersten über alle Weisen in Babel. Und Daniel bat den König, über die einzelnen Bezirke im

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Lande Babel Schadrach, Meschach und Abed-Nego zu setzen. Daniel aber blieb am Hof des Königs.1 Welche Deutungen hat diese Narration über vier Monarchien, die bis zum Ende der Welt zu erwarten seien, im frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation erfahren? Eine systematische Untersuchung dieser höchst spannenden Frage ist bisher noch nicht unternommen worden, nicht zuletzt wegen des doch ganz erheblichen Aufwands, den diese mit sich bringen würde. Aber immerhin liegen bereits bedeutende Teilstudien vor, so zuletzt die eindrucksvollen Beiträge von Mario Miegge, Klaus Koch und Stefan Bodo Würffei im bahnbrechenden Sammelband von Mario Delgado, Klaus Koch und Edgar Masch, erschienen 2003, sowie im Kontext anderweitig perspektivierter Studien erarbeitete Streubefunde, die es in der vorliegenden kurzen Bestandsaufnahme mithin zusammenzufügen gilt.2 Über diese nunmehr vorliegenden Ansätze wird der Historiker im Übrigen auch nachdrücklich auf die Differenziertheit und Komplexität der Rezeption und Verarbeitung des Motivs verwiesen, die jeder Deutung vorausgeht. Anders formuliert: Er wird veranlaßt, genauer danach zu fragen, wer denn unter welchen Umständen wie und zu welchem Zweck auf dieses Motiv zurückgriff und es entsprechend einsetzte. Dazu ist vorab festzustellen, daß sich gerade ab dem beginnenden 16. Jahrhundert diese Ansätze deutlich vervielfältigten und zunehmend unabhängig von einander fortentwickelten, mit der Folge der Entstehung einer höchst komplexen Diskurs- und Deutungslandschaft, die nicht zuletzt durch massive Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen geprägt war. Jenseits der in der vorliegenden Literatur mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck kommenden Fortschrittsperspektive - Überwindung der wortwörtlichen, konkreten, ,fleischlichen' Auffassung der ,Prophecey' Daniels durch Historisierung oder sogar Säkularisie-

2

Das Buch Daniel, Kap. 2, in: Luther-Bibel 1984 www.bibel-online.net/buch/27.daniel/ 2.html (zuletzt aufgerufen am 30.04.2007), vgl. für die römisch-katholische Überlieferung Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes. Deutsche Ausgabe mit den Erläuterungen der Jerusalemer Bibel. Hg. von Diego Arenhoevel. 12. Aufl. Freiburg i. Br. 1978, S. 1251-1253. Europa, Tausendjähriges Reich und Neue Welt. Zwei Jahrtausende Geschichte und Utopie in der Rezeption des Danielbuches. Hg. von Mario Delgado, Klaus Koch, Edgar Masch. Freiburg/Schweiz, Stuttgart 2003, darin: Mario Miegge: „Regnum quartum fertum" und „lapsis de monte". Die kritische Wende in der Danielrezeption im 16. Jahrhundert und ihre Folgen in Theologie und Politik. S. 239-251; Klaus Koch: Europabewußtsein und Danielrezeption zwischen 1648 und 1848. S. 326-384; Stefan Bodo Würffei: Reichs-Traum und Reichs-Trauma. Danielmotive in deutscher Sicht. S. 405^t25. Soeben erschienen ist ferner Peer Schmidt: Zwischen Danielsprophetie, Romideen und „Servitut". Deutsche und spanische Antworten auf die universalmonarchische Legitimation Karls V. In: Johann Friedrich I. - der lutherische Kurfürst. Hg. von Volker Leppin, Georg Schmidt, Sabine Wefers. Gütersloh 2006. S. 31-54. Auf die weitere vorliegende Literatur wird - soweit im Rahmen dieses lediglich um einige eher unbekannte Quellen ergänzten Überblicks erforderlich - in den folgenden Fußnoten verwiesen.

Zur Deutung des Traums des Nebukadnezar

im frühneuzeitlichen

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rung - öffnen sich also andere Perspektiven, die sich diesem Modell keineswegs fugen, sondern Persistenzen und von jeder kritischen Diskussion scheinbar unberührte Reaktualisierungen eines schier unerschöpflichen mythisch-historischutopischen Komplexes belegen. Ich versuche in diesem Überblick, wenigstens punktuell auch diesem Aspekt gerecht zu werden.

2. Adaption und historisch-chiliastischmessianistische Aufladung des ,römischen Modells': Spätmittelalter und Reformation Wie schon vor Jahrzehnten Werner Goez herausgearbeitet hat, gehen die für das Reich wichtigsten Interpretationen der Danielvision bereits auf die Spätantike und das Mittelalter zurück. 3 Schon damals wurden die Identifikation des jüngsten, vierten Reiches mit dem Römischen Reich und das Konzept der translatio als spezifische Form der Aufeinanderfolge der Reiche entwickelt und die prinzipiell selbstverständliche, sowohl jenseitig-heilsgeschichtlich-göttliche als auch diesseitig-irdisch-menschliche Wertigkeit des zugleich historischen und prophetischprognostischen Offenbarungskomplexes bestätigt und gefestigt. Daß es bei der Identifikation dieser Reiche auf deren Status als hegemoniale, mit der höchsten Monarchenwürde, also aus damaliger Sicht: dem Kaisertum ausgestattete Imperien ankam, so daß neben diesen Reichen andere regna existieren konnten, die aber als heilsgeschichtlich weniger bedeutsam zu gelten hatten, war ebenfalls eine ganz frühe Errungenschaft. Darüber hinaus bekräftigte schon insbesondere die Welt- und Reichschronistik der ausgehenden Stauferzeit die von der Erfahrung der Krise nahe gelegte Vermutung, daß auch Ende des vierten, des Römischen Reiches und damit das Ende der irdischen Welt nahe sei. Die Historiographie versuchte deshalb zunehmend nachdrücklicher, entsprechende Kriterien für den Erweis dieses nahen Weltendes zu entwickeln. Das Spätmittelalter, insbesondere das bekanntermaßen besonders fromme 15. Jahrhundert, 4 verknüpfte diese Ansätze fortschreitend dichter, wobei es durchaus auch zu kritischen Reflexionen kam, bezog sie immer konsequenter auf das zeitgenössische Reich und verschaffte der Danielprophetie damit einen deutlich erhöhten Stellenwert im christlich-histo-

3

4

Werner Goez: Translatio imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Tübingen 1958; Werner Goez: Die Danielrezeption im Abendland. Spätantike und Mittelalter. In: Europa (Anm. 2) S. 176-196. In beiden Beiträgen finden sich auch die notwendigen Hinweise auf Varianten und Alternativmodelle, auf die im vorliegenden Rahmen nicht näher eingegangen werden kann. Vgl. jetzt: Die ,Neue Frömmigkeit' in Europa im Spätmittelalter. Hg. von Marek Derwich, Martial Staub. Göttingen 2004.

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rischen Ideenhaushalt dieses zunehmend von anderen europäischen Mächten herausgeforderten Reiches. So bezieht sich beispielsweise kein Geringerer als der Begründer der spätmittelalterlichen Reichsrechtslehre Peter von Andlau in seinem um 1460 verfaßten Traktat ,Libellus de Cesarea Monarchia' mehrfach an prominenter Stelle auf diesen Bibeltext. In diesen von mir geschilderten vier Weltreichen vollzog sich der Ablauf der Weltherrschaft, und so wird sie weiterhin ablaufen bis zum Ende der Zeiten, und es wird kein weiteres Weltreich nach dem römischen geben. Diese Weltreiche verkörpern jene Statue, die, wie bei Daniel 2 steht, Nabuchodonosor, der König von Babylon, in einer Traumvision sah. Dies jedenfalls sei, so fährt der mithin keineswegs unkritische Autor fort, die Meinung des Hieronymus und des Augustinus, die in ihrer Auslegung diese Vision auf die Weltreiche bezogen, wobei sie unter dem Kopf der Statue das Reich der Assyrer verstanden wissen wollten, unter den Armen und der Brust aus Silber das der Meder und Perser, unter dem Bauch und den Lenden aus Erz das der Griechen; die eisernen Beine und die teils eisernen, teils tönernden Füße deuteten sie auf das römische und zugleich letzte Reich.5 Entsprechend meint der elsässische Jurist am Ende feststellen zu können, daß das Römische Reich bis in seine Tage nun seit 2145 Jahren existiere. Es hat zwar eine wechselvolle Geschichte durchgemacht, im Verlauf der Zeit an Stärke und Ausdehnung eingebüßt, und es geht seinem Untergang entgegen, blieb aber trotzdem immer unbesiegt und wird bis zum Ende der Welt bestehen bleiben. Das Szepter wird dem christlichen Imperium nicht entrissen werden, bevor der Antichrist kommt, der erbittertste Feind unseres Glaubens. Methodius formulierte ähnlich: Wie zu Beginn nichts stärker war als das Römische Reich, so wird es am Ende nichts Schwächeres geben. Denn solange ihm die Völker gehorchen, wird der Antichrist nicht kommen. Diese Frage des Gehorsams bzw. der Stärke des Reiches ist somit das wichtigste Beurteilungskriterium der Nähe oder Ferne der Welterfüllung, wobei Andlau wie seine prominenten Vorgänger nicht zögert, sie als unmittelbar bevorstehend anzusetzen: Wie nahe aber das Ende der Welt und des Reiches ist, kann man wohl aus dem heutigen Gehorsam - nämlich wachsenden Ungehorsam - der Provinzen schließen. Nachdem der Untergang der irdischen Welt sich allerdings in einem endzeitlichen, von Satan verursachten Zerstörungssturm vollziehen würde, so daß kein Fleisch gerettet würde, würden nicht nach dem Zeugnis des Markus und Matthäus die Tage abgekürzt werden, bestand für Kaiser und Reich die heilsgeschichtliche Verpflichtung, 5

Peter von Andlau: Kaiser und Reich. Libellus de Caesarea Monarchia. Hg. von Rainer A. Müller. Frankfurt a. M., Leipzig 1998 (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens. Bd. 8). S. 45.

Zur Deutung des Traums des Nebukadnezar im frühneuzeitlichen

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des Reiches Macht und Herrlichkeit nach Kräften aufrechtzuerhalten und zu vermehren. 6 Auch die sogenannte Reichsreform war also göttlich aufgegeben. Wie stark die Danielprophetie in das Reichsverständnis der Reichseliten eingedrungen war, belegen nicht nur Andlaus Traktat und verwandte akademische Schriften der Zeit, sondern auch einschlägige Zitate und Anspielungen amtlicher Reichstexte, darunter Begleittexte zu Reichstagen und Reichstagsabschiede, sowie sonstiger politisch-juristischer Publizistik. Daß auch der berühmte ,gemeine Mann' erfaßt war, zeigen entsprechende Stellen und Bruchstücke in Flugblättern, Gedichten, Liedern und weiterem Volksschrifttum. Zu vermerken ist auch die starke Präsenz des Komplexes in den zeitgenössischen astrologisch-historischen Prognose- und Prophetietexten. 7 U m und nach 1500 scheint die Erwartung des Weltendes, nahegelegt durch Bedrohungen, Niederlagen und innere Schwächen des Reiches, einen Höhepunkt erreicht zu haben und zum Fokus des gesamten Diskurses geworden zu sein. Die Frage danach, ob die herkömmliche Interpretation, bei dem vierten und letzten Reich handele es sich um das gegenwärtige römische, zutreffe, wird offenbar nirgends mehr durchdiskutiert. Bezeichnenderweise dient diese Interpretation vielmehr sogar dazu, sich vorzumachen, daß das Reich seiner aktuellen Bedrohung durch die Türken nicht unterliegen könne, weil es heils- wie diesseitsgeο schichtlich eben gar nicht durch ein Türkisches Reich abgelöst werden kann. Auch Philipp Melanchthon und Martin Luther standen ganz im Banne dieser Vorstellung und dachten sie systematisch durch. 6

P. v. Andlau (Anm. 5) S. 309, 311. Nur sehr magere Hinweise zur Verankerung der Reichsreform in der Geschichtstheologie bieten die Texte und Kommentare des Sammelbandes Quellen zur Reichsreform im Spätmittelalter. Ausgewählt und hg. von Lorenz Weinrich. Darmstadt 2001 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte. Freiherr vom Stein Gedächtnisausgabe. Bd. 39) und Tilman Struve: Reform oder Revolution? Das Ringen um eine Neuordnung in Reich und Kirche im Lichte der „Reformatio Sigismundi" und ihrer Überlieferung. In: Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins. 126. 1978. S. 73-129; aufgeschlossener für diese Dimensionen demgegenüber Heinz Angermeier: Die Reichsreform 1410-1555. München 1984. Eine im Zusammenhang mit der Vierreichelehre stehende Konzeption war die sogenannte Quaternionentheorie, vgl. Ernst Schubert: Die Quaternionen. Entstehung, Sinngehalt und Folgen einer spätmittelalterlichen Deutung der Reichsverfassung. In: Zeitschrift für Historische Forschung. 20. 1993. S.l-63.

7

Vgl. Johannes Schilling: Der liebe Jüngste Tag. Endzeiterwartung um 1500. In: Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Hg. von Manfred Jakubowski-Tiessen u.a. Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte. Bd. 155). S. 15-26, sowie Helga Robinson-Hammerstein: 1500. Prognostik, Jubeljahr und habsburgisch-burgundische Propaganda. In: Ebd. S. 53-71. Arno Seifert: Der Rückzug der biblischen Prophetie von der neueren Geschichte. Studien zur Geschichte der Reichstheologie des frühneuzeitlichen Protestantismus. Köln, Wien 1990. S. 11-20 („Die Entdeckung des türkischen Antichrist") bes. S. 16; vgl. auch im vorliegenden Beitrag unten Abschnitt 4. Zur Rezeption und Fortführung des prophetischapokalyptischen Denkens in der Reformation vgl. jetzt Renate Dürr: Prophetie und Wunderglaube. Zu den kulturellen Folgen der Reformation. In: Historische Zeitschrift. 281. 2005. S. 3-32.

8

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Weil das Römische Kayserthum das letzte ist, so wird und kann der Türcke nimmermehr so mächtig werden als das Römische Reich gewesen ist, sondern würden nicht vier, sondern noch ein Kayserthum auf Erden kommen, darum muß der Türcke kein Kayser werden, noch ein neu oder eigen Kayserthum aufrichten, wie er 's wohl im Sinn hat. Aber es wird und muß ihm gewißlich fehlen, oder Daniel würde zum Lügner, das ist nicht möglich,9 Von Luther stammt zudem im wesentlichen das Modell, nichtsdestotrotz einerseits das Osmanische Reich, andererseits das Papsttum mit dem am Weltende bevorstehenden Wüten des Antichristen in Verbindung zu bringen, wodurch sich die Erwartung eines bevorstehenden Weltendes noch weiter verschärfte. Auch Luthers Konkurrenten Calvin und Zwingli äußerten sich ähnlich, wiewohl sie im Gegensatz zu Luther und dem reichs- und kaisertreuen Luthertum die Sakralität von Kaisertum und Reich grundsätzlich in Zweifel zogen.10 Die neue lutherische Historiographie zögerte nicht, sich diese Ideen als konzeptionelle Leitlinien ihrer Werke anzueignen. Die bereits geübte Gliederung von Chroniken und Historien nach den vier Monarchien wurde verfeinert, im Hintergrund sowohl bei Johann Cario(n) als auch bei Johannes Sleidan wirkte Philipp Melanchthon mit, der allerdings in humanistischer Manier auf genaue, widerspruchsfreie chronologische Ordnung und möglichste Benutzung zuverlässiger Autoren drängte.11 Die Bestätigung der Geschichtsbetrachtung und Geschichtsprophetie Daniels wurde mit dem Bestreben verbunden, den genauen Zeitpunkt des Abfalls der Papstkirche vom reinen, einzig legitimen Urchristentum genauer zu bestimmen und unzweideutig nachzuweisen, um dem Hauptvorwurf des römischen Gegners begegnen zu können, daß es sich umgekehrt beim Luthertum bzw. dem Protestantismus um neue, d.h. aber zeitgenössisch: per definitionem ketzerische Kirchen handle. Den größten Erfolg konnte auf dieser Ebene bekanntlich Johann Sleidans ,De quattuor summis imperiis' von 1556 verzeichnen, das nach 9

10 11

So zusammenfassend ein Nachfolger Luthers, der Wittenberger Theologe Johannes Wilhelm Jan (1681-1725): Dissertatio historico-politica de quatuor monarchiis. Wittenberg 1712. S. 69f.; mit Bezug auf Luther: In Luthers Biblia, das ist, die gantze Heilige Schrifft Deutsch. Wittenberg 1533, hat bekanntlich das Danielbuch entsprechende Aufnahme gefunden; die Statue ist allerdings nicht abgebildet; vgl. Ernst Walter Zeeden: „... denn Daniel lügt nicht". Daniels Prophetie über den Gang der Geschichte in der Exegese des Kirchenvaters Hieronymus und Martin Luthers. Von der Dominanz der Tradition über das Bibelwort. In: Recht und Reich im Zeitalter der Reformation. Festschrift für Horst Rabe. Hg. von Christine Roll. Frankfurt a. M. 1996. S. 356-385. Nach K. Koch (Anm. 2) S. 342 lieferte Jan „die letzte belangreiche exegetische Verteidigung der reichstheologischen Rezeption" der Danielprophetie. A. Seifert (Anm. 8) S. 11-27, 49-64. Chronica durch Magistrer Johann Carion fleißig zusammengezogen. Wittenberg 1532; insgesamt sind über siebzig Auflagen des vielfach übersetzten Werkes nachzuweisen. Johannes Sleidanus: De quattuor summis Imperiis libri tres. Straßburg 1540; letzte in deutschen Beständen nachweisbare Ausgabe: Wittenberg 1705. Vgl. zusammenfassend jetzt: Markus Völkel: Geschichtsschreibung. Köln 2006. S. 201f. u.ö.

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unzähligen Ausgaben im 16. und 17. Jahrhundert noch Anfang des 18. Jahrhunderts eine wesentlich erweiterte Neuauflage erfuhr. Die reformatorische Hauptinterpretationsrichtung der Danielprophetie, die Gleichsetzung des vierten Weltreiches mit dem Römischen Reich der Deutschen, die Weigerung, dem Osmanischen Reich Weltreichstatus zuzugestehen, und die Einschätzung des Osmanischen Reiches einerseits und des Papsttums andererseits als endzeitkündende, antichristliche Bedränger des letzten Reiches, hielt sich also durch - ungeachtet der historisch-wissenschaftlichen Debatte der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, auf die gleich einzugehen sein wird. Mehr noch, sie erfuhr auf der Ebene der kirchlichtheologischen Publizistik sukzessive Erhärtung, wie die sich seit dem Anbruch des letzten Drittels des 16. Jahrhunderts vervielfachende entsprechende Predigtund sonstige Traktatdrucke in deutscher Sprache belegen. Ich nenne davon hier nur ein Beispiel, Christian Langes ,Colossus Babylonicus. Das ist RegentenBild', gedruckt Leipzig 1621.12 Der lediglich knapp 30 Seiten umfassende Traktat, der eine weitere Entwicklung bereits voraussetzt, nämlich die Konzeption einer ausführlichen anatomia statuae Danielis, erarbeitet offenbar von Lorenz Faust 158613, bietet zunächst einen Abdruck der Danielstelle, an deren Ende es unmissverständlich heißt: Und das ist gewiß der Trawm, und die Deutung ist recht. Nachdem den Zuhörern auf diese Weise das Standbild vor das innere Auge gebracht ist, wollen wir jetzo [...] das Bild [...] als ein recht Regentbild anschawen und hören, was wir dabey von dem Stande der Christlichen Obrigkeit zu lernen haben. An der forma oder ,Gestalt' insgesamt entwickelt der Prediger Vorstellungen wahrer Majestät, Würde und Autorität für von Gott zur Obrigkeit berufene, nicht sich selbst dazu drängende Männer. Die obrigkeitliche Haushaltsrechnung wird mit der Abrechnung Gottes im Jüngsten Gericht in Bezug gesetzt, der Umgang mit den subditi als Verbindung von christlicher Milde und nötiger Strenge konzipiert. An der materia, das ist die Stück, so an diesem Bilde namhafftig gemacht werden, also caput aureum, pectus et brachia argentea, venter aeneus und pedes ferrei luto mixti, sowie an den corporalia werden entsprechend Mahnungen

12

Christian Lange: Colossus Baylonicus. Das ist: RegentenBild Zur christlichen Rathauspredigt aus dem Propheten Daniele am 2. Vom Ampt der christlichen Obrigkeit tractiret und gehalten zu Leipzig in S. Nicolas Kirch Montag nach Quinquagesima. Leipzig 1621; zum Autor waren keine näheren Informationen eruierbar. Vgl. ferner beispielsweise Georg Negrino: Daniel. Der aller weyseste und heiligste Prophet, ausgelegt in funffzig Predigten. Ursel 1574, und die einschlägigen Beiträge des Polycarp Leyser (1552-1610) schon etwas früher: Commentarii in Danielem Prophetam. Frankfurt am Main 1609; Schola Babylonica. Frankfurt am Main 1609, und Colossus Babylonicus. Frankfurt am Main 1609, dessen Werke besonders bei den protestantischen Beamten und Minister verbreitet waren. Für eine Aneignung und Instrumentalisierung zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges siehe im vorliegenden Beitrag weiter unten.

13

Vgl. zusammenfassend und mit einer entsprechenden Abbildung Ciaire Gantet: Visions et visualisations de la Reforme: la Songe de Frederic le Sage et le Songe de Nabuchodonosor. In: La Reforme dans l'espace germanique au XVIe siecle: Images, representations, diffusion. Montbeliard 2004. S. 149-170, hier S. 157-161.

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zu guter Überlegung politischen Handelns, richtig verstandener Tapferkeit und Ausdauer, Sorge für die Finanzen, zur Mäßigkeit usw. entwickelt. Parallel zur Adressierung an die Obrigkeit werden aber auch die Untertanen angesprochen. Diesseitige Belohnung für beide Seiten werde ein geruhig und stilles Leben in Frieden, aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit sein; andeutungsweise wird der Obrigkeit zudem eine lange Regierungszeit in Aussicht gestellt. Die Bezüge zur Geschichtstheologie bleiben sehr locker; hier kommt es also auf die Chance an, eine bekannte Bibelfigur zum aktuellen moralisch-christlichen Belehrungszweck zu nutzen, nicht aber, historische oder gar wissenschaftliche Überlegungen anzustellen.14

3. Historisierung und Differenzierung: Humanismus, Rezeption Bodins und disziplinäre Autonomisierung der juristischpolitischen Reichsdiskussion Bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts finden sich vereinzelt Stellen in humanistischen historiographischen Werken, die ein gesteigertes Bedürfnis nach genauerer historischer Verortung der in der Danielprophetie genannten Reiche und/oder Konkretisierung der traditionellen Translatiovorstellungen erkennen lassen. Diese Bedürfnisse gehen mit mehr oder weniger deutlichen kritischen Erörterungen der bisher errechneten Dauer der Weltgeschichte oder der dieser zugrundeliegenden Methode, biblische chronologische oder chronologisch umsetzbare Angaben in Jahreszählungen zu konkretisieren, einher. Erst die Rezeption von Jean Bodins in dessen ,Methodus ad facilem historiarum cognitionem' von 1566 gemachten kritischen Bemerkungen öffnete im Reich jedoch eine gleichwohl schmale, kritische, und historisch-wissenschaftliche Diskussionslinie.15 Die Einsprüche des französischen humanistischen Juristen und Anhängers einer durchsetzungsfähigen Krongewalt gegen die traditionelle Auffassung waren wissenschaftlich wie politisch-patriotisch motiviert und die Konsequenz seines größten Verdienstes, nämlich erstmals konsequent zwischen der historia sacra bzw. der Heilsgeschichte und der historia humana, der auch menschlich bedingten, diesseitigen, irdischen Geschichte zu unterscheiden. Aus dieser Prämisse leitete er die weiteren Postulate ab, daß die Heilsgeschichte nur theologisch gedeutet werden könne, was auch ihre weitgehende Unzugänglichkeit für menschliche Erkenntnis meinte, daß die menschliche Geschichte jedoch nüchtern anhand der vorliegenden Zeugnisse und Überreste, unter Anwendung der 14 15

Ch. Lange (Anm. 12) S. 3, 6, 9, 23 u.ö. Vgl. A. Seifert (Anm. 7) S. 65-69; M. Miegge (Anm. 2) S. 240, 243 u.ö.; allgemeiner M. Völkel (Anm. 11) S. 341-343.

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besten Mittel der vom Humanismus entwickelten Quellenkritik, zu analysieren sei. Diese nüchtern empirisch-methodische Geschichtsforschung diene nichtsdestotrotz dem Gebot Gottes, weil Gott es den Menschen aufgegeben bzw. sie dazu eingeladen habe, durch Wissenschaft, konkret empirisch-historische Wissenschaft sowie vergleichende Rechtswissenschaft, zur Erkenntnis von Gottes Ordnung und Willen vorzustoßen. In Bezug auf die hier zur Debatte stehende Danielprophetie unternahm er einerseits nichts anderes, als sich kritisch die Überlieferung vorzunehmen, die bis zu seiner Zeit vorliegenden Interpretationen auf Belegbarkeit, Beweismethode und Schlüssigkeit zu vergleichen und die Aussagen des Textes mit der gegebenenfalls aus anderen Quellen bekannten historischen Empirie abzugleichen. Mit anderen Worten, er reduzierte den Status des Textes in bewährter humanistischer Manier von einem heiligen, unbezweifelbaren Offenbarungszeugnis zur historischen Quelle. 16 In der deutschen Rezeption wurden Bodins Einwände in folgendem Satz zusammengefaßt: verba Danielis obscura et ambigua in varios sensus torqueri posse intellexi.17 In dieser Formulierung darf mit Recht schon der Vorwurf des Sakrilegs erahnt werden, weil biblische Zeugnisse zwar als interpretationsfähig und gegebenenfalls -bedürftig, aber nicht in dieser Weise tendenziell grundsätzlich verwerfbar angesehen werden durften. Inhaltlich spielten für die Debatte der weltpolitisch-historische Status des Osmanischen Reiches sowie ansatzweise der Reiche der Neuen Welt und die Verfassung bzw. der Vorranganspruch des Römischen Reiches der Deutschen die entscheidende Rolle. Außerdem kam Bodin zugute, daß sich bereits ältere Interpretatoren mit der Frage befaßt hatten, ob und wie denn gegebenenfalls das Alte Israel in das Vier-Weltmonarchien-Schema einzuordnen sei. Bodin verwies auf die unbezweifelbare Stärke und Ausdehnung der Türkei seiner Zeit und unterstrich, daß dieses Imperium nach den üblichen Kriterien des Diskurses als weiteres Weltreich, nicht als bloßes regnum untergeordneter Qualität gewertet werden müsse. Als bedenklich hob er ferner hervor, daß wie bereits angesprochen, die Reiche der Neuen Welt bei Daniel nirgends vorkämen, was dessen Glaubwürdigkeit nicht gerade untermauere. Fast noch schwerer mußte wiegen, daß Bodin auch in seinem politiktheoretischen Hauptwerk, den ,De republica libri sex' (1579), das Reich als Aristokratie bezeichnete und den Kaiser als schwach beurteilte, mit anderen Worten dessen Charakter als Weltmonarchie und die höhere Dignität des Kaisertums in Zweifel zog.18 Diese Argumentation mußte das Selbstverständnis der Reichselite ins Mark treffen.

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17 18

Vgl. knapp zusammenfassend Mario Turchetti: Jean Bodin. Methodus ad facilem historiarum cognitionem (1566). In: Hauptwerke der Geschichtsschreibung. Hg. von Volker Reinhardt. Stuttgart 1997. S. 55-58. J. W. Jan (Anm. 9) S. 73. Vgl. zuletzt zur Rezeption Bodins im Reich: Peter Schröder: Reich versus Territorien? Zum Problem der Souveränität im Heiligen Römischen Reich nach dem Westfälischen Frieden. In: Altes Reich, Frankreich und Europa. Politische, philosophische und historische Aspekte

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So verwundert nicht, daß ungeachtet der teilweisen Sympathie, welche die Tendenz fand, die Stellung des Kaisers zu schwächen - auch in der engeren Verfassungsdebatte formierte sich bekanntlich eine fiirstenaristokratische, kaiserkritische Richtung19 - , schon bald mehrere Vertreter der Tradition öffentlich gegen diese Zweifel zu Felde zogen. Der Wittenberger Historiker Andreas Franckenberger (1536-1590) steuerte 1580 den Traktat ,De amplitudine et excellenti historiae Propheticae dignitate' bei, der weniger auf Sachargumente als auf eine Wiederherstellung der Autorität Daniels abzielte. Ein Jahr später publizierte Matthäus Dresser (1536-1607), Professor in Leipzig, eine ,Oratio de quattuor monarchiis sive summis imperils, a Daniele Propheta expositis, contra veterem Iudaeorum errorem, hoc tempore a Ioanne Bodino Gallo in Methodo historico renovatum', die unter verändertem Titel und leicht abgewandelt jetzt mit größerem Publikumserfolg nochmals 1587, 1591 und 1606 erschien. Fünf Jahre später, 1586, legte der Straßburger Theologe Johannes Pappus (1549-1610) seine viel beachtete ,De monarchiis sive quattuor summis Imperils capita disputationis publicae' vor. Bis zur eigenständigen Fortführung der kritischen Debatte mußte angesichts der sich zuspitzenden Konfessionskonflikte, die jede wissenschaftliche Aussage als politische Stellungnahme erscheinen ließen, allerdings noch einige Zeit vergehen. Zunächst traten in der Epoche des großen Krieges 1618-1648 theologischzeitkritische Aneignungen und Instrumentalisierungen in den Vordergrund. Als Beispiel sei der 1637 erschienene Traktat - ursprünglich eine Predigt - ,Vergleichung Deß Teutschlandes mit dem Könige Nebucadnezar, In Erklärung deß Propheten Daniels, bey jetzigen hochbetrübten Zustande deß lieben Teutschlandes, zu Erweckung wahrer Bußfertigkeit, miteingefiühret' des Hamburger Pastors zu St. Katharinen, Jakob Gross, herangezogen. Angespielt wird auf den Niedergang des Reiches Nebukadnezars von einem blühenden Großreich zu einem Ort der Verwüstung, nicht jedoch explizit auf des Königs angebliche persönliche Verwandlung in ein aus verschiedenen Tieren zusammengesetztes Monster, ein sonstiges wildes Tier oder genauer ein Wildschwein. Das Exempel deß Nebucadnezars auff das liebe Teutschland könne gezogen werden [.. fürnemlich auff dreyerley weise. 1. ratione gloriae [...], 2. respectu miseriae [...] unnd 3. respectu culpae. Zunächst wird in leuchtenden Farben die Größe, Würde und der Reichtum des alten Deutschland geschildert, welche der Größe eben Nebukadnezars entsprochen hätten. Dann folgt eine ebenso farbige wie düstere Schilderung des aktuellen Deutschland im Zustand der Kriegsverwüstung, gefolgt von dem fast noch ausführlicheren Schreckensgemälde der Sünden, die diesen Zustand hervorgebracht hätten. Wie Nebukadnezar sei Deutschland plötzlich seiner Vernunfft be-

19

des französischen Deutschlandbildes im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. von Olaf Asbach u.a. Berlin 2001 (Historische Forschungen. Bd. 70). S. 123-143. Zusammenfassend Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Erster Band 1600-1800: Reichspublizistik und Policeywissenschaft. München 1988. S. 170-190.

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raubet worden und habe sich der Sünde ergeben, mit eben der Folge unaufhörlicher kriegerischer Selbstzerfleischung und fast vollständiger Verelendung. Zu dieser Sünde zählt u.a. die Duldung von atheisten unnd Epicurer[a\, aber auch, daß die Teutschen sich arm und kranck fressen und saujfen sowie in der Kleidung statt auf alte Teutsche Erbarkeit auf Allmodische Muster aus dem Ausland setzten. Angeprangert wird außerdem, daß an diesem Orte frembden Religionen, und wider das wahre Wort Gottes streittenden und in einer volckreichen Gemeine zum auffstand leicht außschlagenden Secten [...] öffentliche ubung verstatte[t] werde. Wiederherstellung des alten, guten Zustands ist natürlich nur bei Rückkehr zum wahren Glauben und zu dessen unablässiger Praxis zu gewärtigen. Daß der Autor diese ,Verheißung' nicht mehr unmittelbar mit der Danielprophetie in Zusammenhang bringt, sondern allein an die Gnade Gottes, die wunderbare Wege gehe, koppelt, zeigt die Grenzen dieser Aneignung und Instrumentalisierung, die jedoch die Verbreitung des Ideenkomplexes bestätigt, weil sonst nicht an ihn hätte angeknüpft werden können. 20 Wer den wissenschaftlich-kritischen Faden wieder aufnahm, waren in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts indessen keine Geringeren als der Mediziner, Jurist und Historiker Hermann Conring (1606-1681) und der Reichspublizist, also Öffentlich-Rechtler des Reiches, Ulrich Huber (1636-1694). Sie setzten an der kritischen Rekonstruktion der antiken bzw. alttestamentarischen Chronologie sowie an der historischen Verortung der für die Aufeinanderfolge der vier Weltreiche namhaft gemachten Ablösungsvorgänge an, mit dem Ergebnis des Nachweises erheblicher Unstimmigkeiten und demzufolge neuerlicher Erschütterung der historischen Aussagekraft des Alten Testaments im Ganzen. Hermann Conring ging sogar soweit, eine Gegenwartsbedeutung der Bibelstelle für das Reich völlig in Abrede zu stellen. Die theologische Wahrheitsfahigkeit der Bibel sahen sie dadurch jedoch nicht gefährdet. Ihre Motivation dürfte auch nicht, wie Klaus Koch im Falle Conrings vermutet, die im Hinblick auf das Kaiseramt und den Reichszusammenhalt als solche doch höchst bedenkliche Bestrebung gewesen sein, das habsburgische Kaisertum jeglicher sakraler Verbrämungen zu entkleiden, um die Lage der eigenen Gruppe, also der Protestanten, zu verbessern. Vielmehr ist zumindest auch einerseits ein Interesse an der historischen Wahrheit, andererseits ein echtes pragmatisch-funktionales Reforminteresse zu vermuten: Der Blick auf die tatsächlichen Funktionsbedingungen und Mechanismen des Reiches der Gegenwart sollte geschärft werden. Und das Hauptanliegen an dieser Stelle blieb in erster Linie, die rechtlichen Verhältnisse zu klären und zu stärken.21 20 21

Jakob Gross: Vergleichung Deß Teutschlandes [...]. Hamburg 1637. S. 9, 13, 18 und S. 23. Hermann Conring: Exercitatio de imperatore Romano-Germanico. Helmstedt 1641; De Germanorum Imperio liber unus. Helmstedt 1643; Ulrich Huber: De genuina aetate Assyriorum et regno Medorum dissertationes VI. Franecker 1663; Institutiones historiae civilis. 3 Bde. Franecker 1703, vgl. die Auswertungen bei A. Seifert (Anm. 8) S. 101-114, und K. Koch (Anm. 2) S. 345. Vgl. zur historisch-politischen Position Comings auch HansJürgen Becker: Diplomatik und Rechtsgeschichte. Comings Tätigkeit in den bella

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Daß die Differenzierung der Wahrnehmung und Kritik auch an anderer Stelle kräftig voranschritt, belegt ein einschlägiger Beitrag in den ,Relationes curiosae', einer frühen Wissenschaftspopularisierenden Zeitschrift, des Hamburger Verlegers und Publizisten Ernst G. Happel. Im dritten Teil des Jahrgangs 1687 wird die Frage erörtert, ob Nebucad Nezar wahrhafftig sey verwandelt worden. Der Verfasser des Beitrags, üblicherweise Happel selbst, bekräftigt die Auffassung, daß Gott in seiner Allmacht natürlich zu derartiger Umwandlung fähig sei. Er lehnt jedoch die besondere Meynung ab, als habe Gott umb den menschlichen Leibes des Königes die Gestalt eines wilden Thieres gewickelt, darinnen er als ein wildes Thier erschienen wäre. Denn die biblischen Zitate und empirischen Schlußfolgerungen, die die Vertreter dieser Meinung zu deren Untermauerung heranzögen, „beweisen nichts und ist demnach die Meinung falsch, wie von vielen Theologen erwiesen". Der wissenschaftskundige Vielschreiber plädiert also auch für eine nicht wörtlich-,fleischliche' Bibelauffassung, sondern für deren symbolisches Verständnis.22 Einen noch weiter gehenden Schritt unternahm außerhalb Deutschlands schon 1593, wie Arno Seifert eruiert hat, der Hugenotte Jacques Cappel (1570-1624) in seinen ,Observationes ad selecta veteris testamenti loca' und anderen einschlägigen Schriften, indem er in der Nachfolge seines Glaubensgenossen Franciscus Junius (Francois du Jon; 1545-1602; ,Animadversiones ad tres libros de translat i o n Imperii Romani a Graecis ad Francos'. Leiden 1602) das vierte Reich, also das antike römische Imperium, mit der Geburt Christi bzw. der Christianisierung Roms enden ließ. Im Hintergrund stand hier sehr nachvollziehbar das eben erwähnte, konfessionell bedingte Interesse, dem habsburgisch beherrschten Kaiserreich jegliche biblische oder heilsgeschichtliche Legitimität zu entziehen. Im Reich, dem eine größere calvinistische Gläubigengemeinschaft bekanntlich fehlte und dessen Legitimität und historisch-politische Positionierung überkonfessionell christlich-heilsgeschichtlich fundiert erschien, fand diese Hypothese kaum Anklang; sie wurde jedoch bezeichnenderweise eher ignoriert als argumentativ widerlegt.23

22

23

diplomatica um das Recht der Königskrönung, um die Reichsfreiheit der Stadt Köln und um die Jurisdiktion über die Stadt Lindau. In: Hermann Conring (1606-1681). Beiträge zu Leben und Werk. Hg. von Michael Stolleis. Berlin 1983. S. 335-353. Relationes curiosae. Dritter Theil. 1687. S. 488. Ich danke Herrn Flemming Schock M.A., Augsburg, für diesen Hinweis. A. Seifert (Anm. 8) S. 125 und S. 140; K. Koch (Anm. 2) S. 363; die genannten Beiträge von Cappel und Junius konnten von mir nicht eingesehen werden. Die Untersuchung von H[ans]W[eghorst]: An Imperium Romano-Germanicum sit IV. Monarchia a Daniele praedicta. Disquisitio curiosa eruditorum cennsurae exposita. Köln 1684, zeichnet einen Teil der wissenschaftlichen Kontroverse nach, ohne sich letztlich wirklich selbst festzulegen.

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Auf den Historisierungsansatz des Helmstedter Polyhistors Hermann von der Hardt (1660-1746) von 1708 hat nach Arno Seifert wieder Klaus Koch aufmerksam gemacht. Hardt versuchte, die Glaubwürdigkeit der Danielprophetie gegen die auch auf der Ebene einschlägiger Dissertationen (vgl. Abb. 1) wachsenden historischen Zweifel dadurch zu retten, daß er mit durchaus plausiblen Gründen die Vier-Reiche-Folge nicht mehr als Abfolge welthistorischer EpoItinj -ÖD chen interpretierte, sondern als DISSERT ATIONIS HiSTOHCO-PHILOLOGLCvE Sequenz von vier babylonischpersischen Königen zwischen Nebukadnezar und Kyros. „Die Monarchienlehre war nach ihm nachträglich von Juden zur DifΤ Ε Τ Ρ Α M I T ΑΛΛΩ, famierung der Europäer erfunden Q Y A T l l O R MONARCHIARUM 24 worden". S l M U L A C R O , PARS f RIO 8f Bereits ebenfalls seit dem ausQuam, Ε Α Ν Σ Π Ι Τ Τ ΕΠΙί 0 ΘΕΟΣ, gehenden 16. Jahrhundert setzte Süb Ρ R A S I D I Ο sich indessen eine weitere DiffeVIR.I Nobil,.implajhii, Coitfuhufimi, ExctUmliff. D11.CHRISTIANI ROSTE USCHERI renzierung durch. Die in dieser j . U. L. Gymn. PatriL Infpeftons, & Juris Zeit als Krisenbekämpfungswis' ^ atque Hiftoriarum Profefloris Publici, PRjfcCEPTORiS fui ac PATRONI omni obsenschaften entstehenden neuen I• * frrvintiä attatem colendi. Disziplinen des Öffentlichen in Atheitti Gedanenfis AUDITOMO MAJORI Rechts (ius publicum) und der A C. eh m zsxrm. ill XXIX Mart'· hern miunmi public* ftÄ^lltl Politikwissenschaft (politico)25 jOH. CHRISTOPH. ROSTE USCHER US , schlossen die Frage der RichtigGid»iieiifi»>.^utor& Rcipandens. Iroprimcbac DAV ι D - F R~ID Ε RIC U S R HE Tili S. keit der Danielprophetie und damit die Frage danach, was sie für das politische Handeln bedeuten Danziger Dissertation zur DanielpropheAbb. 1: konnte, sukzessiv aus ihrem Erörtie 1678 [Titelblatt], terungsbereich aus, indem sie diesen immer strikter auf die Gegenwart bzw. die aktuellen Bedürfnisse und Anforderungen des Reiches und seiner Komponenten bezogen. Ihre Vertreter versprachen sich wie Conring, der sich ebenfalls maßgeblich als Politikwissenschaftler betätigte, davon eine klarere Diagnose und entsprechend verbesserte, funktionsgerechte Therapien für die Gebrechen und Mängel des Reichssystems und der im Reich situierten Territorien und Städte. Nur noch äußerst selten wird deshalb in den Werken des modernen ius publicum wie der modernen politico dieser his-

COLOSSO DANIELIS

24 25

A. Seifert (Anm. 8) S. 140-142 u.ö.; K. Koch (Anm. 2) S. 343. Vgl. im Überblick M. Stolleis (Anm. 9) und Wolfgang Weber: Prudentia gubernatoria. Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1992 (Studia Augustana. Bd. 4); umfassend Merio Scattola: Dalla virtü alia scienza. La fondazione e la trasformazione della diseiplina politica nell' etä moderna. Mailand 2003.

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torisch-politisch-religiöse Komplex beschworen, der zuvor, in der spätmittelalterlichen Staatsrechtslehre und der noch nicht disziplinär verfaßten politischen Debatte, eine so große Rolle gespielt hatte. Diese Legitimations- und Geschichtsfigur, die den vielleicht wichtigsten Pfeiler für die behauptete wie geglaubte besondere Sakralität des Reiches darstellte26, begann damit aus dem unmittelbaren Denk- und Handlungsbereich der politischen Eliten des Reiches auszuwandern. 1664 wandte sich vor diesem Hintergrund ein anonymer Autor ausdrücklich gegen jegliche Einschätzung des Osmanischen Reiches unter derartigen geschichtstheologischen Prämissen und rief dazu auf, stattdessen auf Vernunft, Logik und damit die richtig verstandene Staatsräson zu setzen, um das Reich und Europa von dieser Bedrohung zu befreien.27 Gleichsetzungen der türkischen Sultane mit Nebukadnezar, verbunden mit entsprechenden geschichtstheologischen Andeutungen, waren damit nicht ausgeschlossen. Diese Lösung variierte beispielsweise der sächsische Jurist und Historiker Johann Dietrich von Gülich in seiner 1688 erschienen Schrift ,Nebucadnezar redivivus: Oder der zum Kaiser gebohrne und deß kaiserlichen Throns wieder entsetzte Türkische Kaiser Mahomet' 28 . Auf den übrigen Ebenen, derjenigen der Theologie und nicht zuletzt der Ebene des gemeinen Mannes, blieb die Danielprophetie mithin noch lange präsent und mentalitätsprägend. Wirklich zahlreiche, thematisch eindeutige theologische Traktate fehlen allerdings; auch das theologische Interesse wandte sich mithin spätestens nach 1650 eher anderen Gefilden zu.29 Zwei Gründe sind dafür zu benennen. Mit dem Pietismus trat die Vorstellung in den Vordergrund, die Danielprophetie sei auf das innergeschichtlich sich ausbreitende Reich Gottes zu beziehen, also überhaupt nicht politisch aufzufassen. Ansätze zu dieser Interpretation finden sich erneut bereits im Mittelalter; neuzeitlich wurden jedoch offenbar die ,Observationes ad Danielem' des von Bremen in die Niederlande gewechselten Theologen Johannes Coccejus (1603-1669) entscheidend.30 Zu denjenigen, die diese neue Perspektive wieder auch prognostisch-chronologisch umzusetzen versuchten, gehörte der Württemberger Johann Albrecht Bengel (1687-1752), der 26

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Vgl. exemplarisch: Deutsche Politica: In sich begreiffend 1. Politische Wissenschaften, vom Ursprung und Nutzen der weltlichen Gesezze, guter Polizey, und des Regier-Standes, 2. Politische Historien von den 4 Monarchien, und wie die letzte römische Monarchia durch Carolum Magnum in Deutschland auffgerichtet [...]. Braunschweig, Helmstedt 1665. Probe: Derer zu femern Nachdencken movierten Politischen und Historischen Discursen: Wie nemblich der Author solcher Discursen von des Tyrannischen Türckens jetzigem Einbruch [...] geurtheilet und gehalten, Auch desselben Staats-Ration zu kriegen [...]. S. 1. 1664 [unpaginiert], besonders Proba des XI. und letzten Discurses. Publiziert in Osterrode. Die Abhandlung ist stärker, als der Haupttitel andeuten könnte, historisch-empirisch angelegt, reiht sich also in die beliebte zeitgeschichtlich-staatsräsonale Traktatistik des ausgehenden 17. Jahrhunderts ein. Vgl. M. Miegge (Anm. 2). Ein bisher noch nicht untersuchter Nachzüglerbeitrag ist Johann Andreas Schmidt (Praes.), Christopher Maier (Resp.): Statua Nebucadnezaris ad Dan. C. III. v. I. Diss, theol. Jena 1693. K. Koch (Anm. 2) S. 346f.

Zur Deutung des Traums des Nebukadnezar im frühneuzeitlichen Reich

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den Übergang zum tausendjährigen Endreich der wahren Christen für das Jahr 1836 vorausberechnete. 31 Der zweite Grund für das Zurücktreten ernsthafter theologischer Befassung mit der Danielprophetie dürfte in der Relativierung der biblischen Offenbarung überhaupt im Zuge der Naturtheologie und dann der Vernunfttheologie anzusiedeln sein.

4. Die Vier-Monarchienlehre als geschichtsdidaktisches Konzept: Giovanni Maria Nossenis ,Chronologia und Beschreibung des grossen Bildes welches dem König Nebukadnezar im Traum erschienen' (Dresden 1611 und 1612) Wir hatten bereits erwähnt, daß die historisch-kritische Zersetzung der traditionellen Interpretation im akademischen Diskurs an der Präsenz und Akzeptanz des Modells außerhalb dieses Diskurses offenbar wenig änderte. Ein Beispiel dafür, daß dies selbst für die Fürstenerziehung galt, bietet das einschlägige Geschichtswerk des italienischen Bildhauers, Architekten und Malers Nosseni (1544-1620), der nach der Entdeckung von marmorähnlichem Gestein zum Ausbau der Residenz nach Sachsen gerufen worden war. 32 Der Titel (Abb. 2) des erstmals 1611, dann in erweiterter Form 1612 erschienenen, über 400 Seiten starken Werkes macht bereits das Programm deutlich: Chronologia Und Beschreibung des grossen Bildes/ welches dem König Nebuchadnezar im Traum erschienen/ dessen bedeutung [sie] der Prophet Daniel offenbaret/ nach den vier Monarchien und fürnemsten Regimenten der Welt/ Und dann ein richtig Verzeichnis aller Potentaten/ Könige und Keyser/ welche solche vier Monarchien Regiret haben: Item derselben Thaten zu Friedens und Kriegeßzeiten/ Beneben aller Ertzväter/ Propheten/ und Hohenpriester Geburt und Geschichten, welche unter jedem Könige biß auff Christi Geburt gelebet; Auch aller Bäpste zu Rom/ und Türckischer Sultanen Leben und Thaten/ Hiebevor in einem kurtzen Tractetlein in Druck gegeben/ Itzo aber durch den Autorem mit vielen nützlichen Historien gemehret und verbessert/ Auch Aus allen füremsten Auetoribus und bewerten Büchern nach der Jahrzahl der Welt vor

31 32

K. Koch (Anm. 2) S. 348f. Monika Meine-Schawe: Giovanni Maria Nosseni: ein Hofkünstler in Sachsen. In: Jahrbuch des Zentralinstituts für Kunstgeschichte. 5/6. 1989/1990[1990], S. 283-325; vgl. auch die buchwissenschaftlichen und biographischen Erläuterungen unter http://www.bsb-muenchen. de/foerder/p56.htm (zuletzt aufgerufen am 6.11. 2006).

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Chronologia

und nach Christi Geburt zusammen gezogen und in ein ordentlich Register bracht.

Das Herzog Johann Georg zu Sachsen gewidmete Werk möchte also zunächst die Danielprotug&ctadfcimcfft im Crattm a-fcguttas/btfftH fa> fnema in tTOji» Txtntil cffmiwrrt/ 6ra Wrt SiowK. phetie vorstellen, um dem andjfη we fdm» (itn 3 cgm i nw tu Da E ' klw schließenden historischen Über^tti» ixttt« ein r i i t i g D t a Ä « aifff blick eine entsprechende Glieptumom/XiMet is» Sttfir/tstlc&t (Mt Mr SfioeM» tymSUgira Qatm/ y.rva t>rrfctto!Sfe«m JU derung zu verschaffen, die sich [κι wiDftritfceüw chronologisch-annalistisch an ©tmien atter S t ü t e r / φϊορ&ίκη/ m pneftt? Kimtit SX'orfrärttr }\!tit ί'Ί ί'\ \ v ^ )Ml UtuifT: 3(|οΗιιφ